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German Pages 260 [257] Year 1975
BEITRÄGE ZUR ENTSTEHUNG DES STAATES
BAND 1
VERÖFFENTLICHUNGEN des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR HERAUSGEGEBEN VON
JOACHIM HERRMANN
BEITRÄGE ZUR ENTSTEHUNG DES STAATES
HERAUSGEGEBEN VON
JOACHIM HERRMANN UND
IRMGARD SELLNOW
2., unveränderte Auflage
AKADEMIE-VERLAG 1974
BERLIN
Redaktion: Burkhard Böttger
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 Copyright by Akademie-Verlag Lizenznummer: 202 • 100/280/74 • P 81/74 Einband und Schutzumschlag: Nina Striewski Offsetdruck und buchbinderische Verarbeitung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza/DDR Bestellnummer: 752 223 6 (2153/1) • LSV 0415 Printed in G-DR EVP 2 6 , -
Vorbemerkungen
In den „Veröffentlichungen des Zentralinstituts iür Alte Geschichte und Archäologie" werden in lockerer Folge Arbeiten erscheinen, die größere Bereiche der frühen Geschichte und Kulturgeschichte der Menschheit zum Gegenstand haben. Es ist dabei an Handbücher und Gesamtdarstellungen ebenso wie an Problemuntersuchungen, die aus der Sicht verschiedener Fachrichtungen in interdisziplinärer Zusammenarbeit betrieben werden, und an Werke über die regionale Geschichte und Kulturgeschichte gedacht. Dem hier vorgelegten ersten Band „Beiträge zur Entstehung des Staates", von Vertretern mehrerer Einzeldisziplinen wie Rechtsgeschichte, Indologie, Sinologie, Altorientalistik, Griechische Geschichte, Ur- und Frühgeschichte und Völkerkunde ausgearbeitet, wird die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der Ur- und Frühgeschichte Polens aus der Feder von Witold Hensel folgen. Weiterhin sind ein zweibändiges Handbuch zur Geschichte und Kultur der Germanen in Mitteleuropa, ein Abriß zur Weltgeschichte bis zur Herausbildung des Feudalismus sowie eine zweibändige Kulturgeschichte der griechischrömischen Antike in Vorbereitung — Vorhaben, die das angestrebte Profil der Veröffentlichungsreihe ebenso deutlich erkennen lassen wie das Verhältnis, in dem diese Schriftenreihe zu den anderen, vorwiegend von den Arbeitsergebnissen einzelner Disziplinen getragenen Veröffentlichungsreihen des Zentralinstituts steht, insbesondere zu den „Schriften zur Ur- und Frühgeschichte", den „Schriften zur Geschichte und Kultur des Alten Orients" sowie den „Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike". Joachim Herrmann
Inhalt
Vorwort
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Werner Sellnow (Berlin) Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung
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Burchard Brentjes (Halle) Zu einigen Schlußfolgerungen aus den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels zur Entstehung des Staates im Alten Orient
27
Horst Klengel (Berlin) Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien
36
Thomas Thilo (Berlin) Zum Problem der Staatsentstehung in China
56
Walter Buben (Berlin) Über den Beginn des altindischen Staates
73
Heinz Kreißig (Berlin) Die Bedeutung der sogenannten Richterzeit für die Staatsentstehung bei den Hebräern
82
Heinz Geiß (Berlin) Die Herausbildung des Staates in der minoischen Periode — Möglichkeiten und Tendenzen
92
Gabriele Bockisch und Heinz Geiß (Berlin) Beginn und Entwicklung der mykenischen Staaten
104
Gabriele Bockisch (Berlin) Die Entstehung des Staates der Lakedaimonier
123
Irmgard Sellnow (Berlin) Zur Bolle der Volksmassen im Prozeß der Staatsentstehung. Ein Beitrag auf der Grundlage ethnographischen Materials
134
Bruno Krüger (Berlin) Auflösungserscheinungen gentilgesellschaftlicher Produktionsverhältnisse bei den germanischen Stämmen in den Jahrhunderten um die Zeitenwende
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Inhalt
Joachim Herrmann (Berlin) Allod und Feudum als Grundlagen des west- und mitteleuropäischen Feudalismus und der feudalen Staatsbildung 164 Sergej Sergeeviö Sirinskij (Moskau) Objektive Gesetzmäßigkeiten und subjektiver Faktor bei der Entstehung deB altrussischen Staates 202 Bruno Widera (Berlin) Die Entstehung des russischen Staates Kiewer Bus
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Irmgard Sellnow (Berlin) Bürgerliche Theorien über Staat und Staat6entstehung
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Vorwort»
Die in diesem Band zusammengefaßten „Beiträge zur Entstehung des Staates" sind aus Referaten und Diskussionen hervorgegangen, die während eines Kolloquiums des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR im November 1970 gehalten worden sind. Das Kolloquium war dem Gedenken des 150. Geburtstages von Friedrich Engels und des 100. Geburtstages von Wladimir Iljitsch Lenin gewidmet. An der Veranstaltung nahmen über 100 Wissenschaftler verschiedener Disziplinen teil, deren Forschungsgegenstand die vorkapitalistischen Gesellschaftsordnungen sind. Es kam Veranstaltern und Teilnehmern darauf an, die Ergebnisse von Forschungen zur Staatsentstehung über die verschiedensten Gebiete der Welt auf der Grundlage eines fast täglich und oftmals unerwartet anwachsenden Quellenmaterials zur Diskussion zu stellen. Die Frage des Staates und der Staatsmacht ist in der Gegenwart der Drehpunkt aller politischen Geschichte und war es seit der Herausbildung der Klassengesellschaft überhaupt. Der Staat ist nicht einfache Reflexion c-3r sozialökonomischen Entwicklung der Gesellschaft, der Basis der Gesellschaft, also der objektiven Voraussetzungen und Grundlagen der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern Institutionalisierung des subjektiven Faktors der Qecs'bchaft — der Klassen und des Klassenkampfes. „Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Stoat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittels seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klassen." 2 Der Staat, in den Ausbeutergesellschaften Machtorgan der herrschenden Klasse, spielte und spielt folglich eine höchst aktive Rolle in der Gesciichte eine revolutionäre Rolle in der Aufstiegsphase einer Gesellschaftsordnung, als 1
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Auf der Grundlage der Ausführungen zur Eröffnung des Kolloquiums „Probleme der Staatsentstehung" am 17. und 18. November 1970 in Berlin sowie des Schlußwortes. F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: MarxEngels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 166 f.
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Vorwort
Mittel zur Durchsetzung der sozialen Revolution gegenüber den Überresten der politisch überwundenen alten Gesellschaft. Der Staat verkörpert aber auch die reaktionärsten Züge und Bestrebungen der herrschenden Klasse, setzt sie in brutale Gewalt um gegenüber den unterdrückten, aufstrebenden Klassen und gegenüber den Elementen einer neuen Gesellschaftsordnung, die im Schöße der alten sich zu bilden beginnen, und gegenüber revolutionären Klassen. Die bestimmenden Wirkungen, die vom Staat als der wichtigsten Institution des gesellschaftlichen Überbaus auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie der Ideologie, der Kultur- und Kunstentwicklung, der Denk- und Lebensweise der Gesellschaft ausgehen, sind daher darauf gerichtet, die gesellschaftliche Bewegung und Entwicklung im Interesse der herrschenden Klasse zu leiten, zu kanalisieren oder wenigstens die Herrschaft dieser Klasse zu stabilisieren. Der Staat steht mithin im Zentrum der Entwicklung der Gesellschaft bis in unseTer Zeit, und die Verschleierung seines wahren Wesens war eines der Hauptanliegen der herrschenden Ausbeuterklassen der Vergangenheit und ist es in der Gegenwart stärker denn jemals zuvor. Lenin betrachtete „die Frage des Staates (als) eine der verwickeisten und schwierigsten . . . und von den bürgerlichen Gelehrten, Schriftstellern und Philosophen wohl am schlimmsten verwirrte . . ." 1 . Diese Kompliziertheit veranlaßte F. Engels u. a. nach den praktischen Erfahrungen der Pariser Kommune, den Klassenkämpfen der siebziger und achtziger Jahre im neugeschaffenen Bismarckreich unter dem Sozialistengesetz und unter den Bedingungen der bonapartistischen Sozialgesetzgebung Bismarcks zu einer zusammenhängenden, tiefgreifenden historischen Untersuchung über das Wesen des Staates in seinem Buch über den „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" im Jahre 1884. „Für unsere Gesamtanschauung wird das Ding, denke ich, besondere Wichtigkeit haben . . . " , schrieb F. Engels an Kautsky am 20. 4.1884. 2 W. I. Lenin bezeichnete gerade unter dem Gesichtspunkt der Analyse der Staatsfrage dieses Buch von F. Engels als „eines der grundlegenden Werke des modernen Sozialismus" 3 . Je klarer die revolutionären Klassen in der Geschichte die Frage des Staates, seinem wahren Wesen entsprechend, behandelten, d. h. die bisher herrschenden Klassen politisch entmachteten und ihren eigenen Staat errichteten, um so tiefgreifender und wegweisender für die menschliche Geschichte wurde in der Regel ihre Revolution. J e größer die Utopie und Unkenntnis in der Staatsfrage, um so verkrüppelter, oftmals mit Niederlagen endend, verliefen die revolutionären Erhebungen der objektiv zur Herrschaft berufenen Klassen. Die zentrale Bedeutung der Staatsfrage in der proletarischen Revolution veranlaßte W. I. Lenin, im Revolutionsjahr 1917 in Vorbereitung der Großen 1 2 3
W. I. Lenin, Uber den Staat, in: Werke Bd. 29, Berlin 1970, 460. Marz-Engels, Werke Bd. 36, Berlin 1967, 142. Lenin, Über den Staat, 463.
Vorwort
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Sozialistischen Oktoberrevolution das Werk „Staat und Revolution" auszuarbeiten, die Ergebnisse der Arbeiten von Marx und Engels über Geschichte und Wesen des Staates dem kämpfenden Proletariat in Erinnerung zu bringen und für die Fortführung der bürgerlich-demokratischen Revolution in die proletarische Revolution weiterzuentwickeln. Unter den Bedingungen der Gegenwart, in der die Zahl der Völker ständig zunimmt, die den Weg des antiimperialistischen Kampfes und der sozialistischen Revolution, ausgehend von verschiedenen Traditionen und unter verschiedenen Bedingungen, beschritten haben, ist die Erkenntnis des Wesens des Staates durch die revolutionäre Weltbewegung eine dringende Aufgabe. Die verschiedenen Beiträge des Bandes setzen sich die Herausarbeitung der Genesis des Staates, seiner Organe und seiner Bedeutung im Übergang zur Klassengesellschaft in den verschiedenen Gebieten der Erde und unter verschiedensten historischen Bedingungen sowie die Bestimmung der Rolle des Staates für den Geschichtsprozeß der frühen Klassengesellschaften zum Ziel. Sie versuchen, neue Erkenntnisse aus der Untersuchung des historisch-konkreten Geschichtsprozesses und in der historischen Verallgemeinerung vorzulegen. Dieses Anliegen schließt ein, daß sich die Autoren bewußt der Kritik und der Diskussion ihrer Auffassungen aussetzen. Für Lenin galt die Frage des Staates als „eine so fundamentale Frage der gesamten Politik", daß „jeder Mensch, der sie ernsthaft durchdenken will . . . , mehrmals an sie herantreten" 1 muß. Die „Beiträge zur Entstehung des Staates" wollen in diesem Sinne verstanden sein. Joachim Herrmann
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Lenin, Über den Staat, 461.
Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung von
W E B N E B SELLNOW
(Berlin)
Das Problem der Staatsentwicklung hat fast ständig im Mittelpunkt der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen gestanden. Die Wichtigkeit, die man der Entstehung des Staates beimaß, wurde von den verschiedenen Klassen verschieden gewertet. Die Völker des alten Orients hatten in den Stiftern des Staates und des Rechts den Göttern verwandte Heroen gesehen. Die katholische Kirche lehrte, daß der Staat seine Legitimation von Gott erhalten habe, und unterschied sich damit kaum von den archaischen Theodizeen. Demgegenüber waren die philosophischen Denker der antiken Staaten bestrebt, eine rationale Erklärung für die Entstehung der Staaten zu finden; und ebenso gab es viele katholische Denker des Mittelalters, die dem Glauben zuwider auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Erklärung waren. Aber alle diese Versuche mußten notwendigerweise an den historisch bedingten Grenzen der Erkenntnistheorie, der Erkenntnismöglichkeit und der begrenzten Erfahrung Halt machen. Die Stufenleiter ihrer Ergebnisse wurde zu notwendigen Sprossen in der Vorgeschichte der Wissenschaft des dialektischen und historischen Materialismus. Die Klassiker des dialektischen und historischen Materialismus haben, wie die Klassiker der bürgerlichen Philosophie, auf den engen Zusammenhang hingewiesen, der zwischen der Geschichts- und Gesellschaftserkenntnis und der praktischen und historischen Staatswissenschaft besteht. Hegel hatte sein ganzes gewaltiges Lehrgebäude im Staate enden lassen. Er ließ die ganze Menschheitsgeschichte in seinen als notwendig und vernünftig gedachten Idealstaat einmünden. Später, nach der Kapitalisierung der größten Staaten der Erde, verzichtete die offizielle Gesellschaftswissenschaft auf die Frage nach der Legitimation des Staates und damit auch nach der historischen Begründung und der Zukunft des Staates. Die Existenz des bürgerlichen Staates genügte dem Positivismus vollauf, um seinen Ausbau und seine praktische Politik durchzusetzen. Die Empirie schien über die Geschichte zu siegen. Dieser Zustand in der Geschichtsbetrachtung dauerte jedoch nicht lange an. Mit der Existenz des bürgerlichen Staates erschien der unabweisbare Gegner: das Proletariat. Dieses Proletariat mußte den historischen Charakter des bürger-
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W E R N E R SELLNOW
liehen Staates nachweisen, wenn es diesen Staat zerstören wollte; und dieser Nachweis mußte aus der Geschichte entnommen werden. Damit war von selbst die Frage nach der Entstehung des Staates abermals in den Vordergrund gerückt. So kam es, daß Marx und Engels inmitten der heftigsten Klassenkämpfe ihre Studien über die Entstehung der Gesellschaft und des Staates bis zu einer neuen Geschichtsauffassung, dem historischen Materialismus, vorantrieben, um die historische Entwicklung der unterdrückten Klassen, und hier besonders der Arbeiterklasse, sowie die unumgängliche Auflösung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und ihres Staates zu beweisen. Wir müssen uns nun fragen, warum wir unseren jetzigen Diskussionen um die Staatsentstehung eine solche Bedeutung beimessen und warum die Lösung dieser Frage so wichtig ist, ob dieses oder jenes historische Moment, dieses oder jenes historische Faktum für die Erkenntnis der Staatsentstehung noch wesentliches beizutragen vermag.Untersuchungen zur Entstehung von Staaten setzen ein System von Erkenntnisgruppen voraus. Neben der Ethnologie, der Archäologie, der Linguistik und vielen anderen SpezialWissenschaften wird aber allzu häufig dieses System der Erkenntnistheorie nicht zur Anwendung gebracht. So werden z. B. Logik, Dialektik und Methodologie der Geschichtswissenschaft als bekannt vorausgesetzt und mit dem zu untersuchenden Gegenstand zusammen nicht weiter entwickelt oder mechanistisch angewendet, jedoch wird dabei nicht beachtet, daß z. B. die bewußte Anwendung logischer Prinzipien nicht nur die Geschichtswissenschaft bereichert, sondern auch die Logik selbst. Die Schwierigkeit beginnt schon mit der Anwendung der Begriffe. Die Begriffe „Staat", „Recht", „Religion", „Eigentum" usw. werden manchmal ohne genaue Prüfung der historischen Epochen oder Erscheinungen verwendet, womit die größten Irrtümer verbunden sein müssen, bevor die eigentliche Untersuchung überhaupt begonnen hat. Marx schrieb einmal, daß die englischen Ökonomen wiederholt das Werkzeug für eine Maschine und die Maschine für ein zusammengesetztes Werkzeug gehalten hatten. Hinzu kam noch, daß sie als Kriterium für die Werkzeuge den Menschen als Bewegungskraft und für die Maschine Naturkräfte wie Tier, Wasser, Wind usw. annahmen, was überraschenderweise einen mit Ochsen bespannten Pflug des Sklavenzeitalters als eine Maschine und den Rundwebstuhl, der von der Hand eines Arbeiters betrieben wurde, als ein bloßes Werkzeug klassifizierte. Dieser gleiche Webstuhl aber würde sich in dem Augenblicke, wo er mit Dampf bewegt wurde, in eine Maschine verwandeln.1 Hätten die englischen Denker die Begriffe der Ökonomie mit historischen Entwicklungsgesetzen verbunden und dann in eine logische Bestimmung gebracht, wäre ihnen eine solche nur mechanisch-materialistische Begriffsbestimmung nicht unterlaufen, dann wäre ihr Ausgangspunkt, nämlich die Physik, in ein System von Prinzipien und Begriffen einbezogen worden. i Marx-Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1962, 391-392.
Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung
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Besonders Lenin war es, der auf Logik und Dialektik hinwies. Er hat die Dialektik als eine Lehre „von der Entwicklung in ihrer vollständigsten, tiefgehenden und von Einseitigkeit freiesten Gestalt" bezeichnet und als „die Lehre von der Relativität des menschlichen Wissens, das uns eine Widerspiegelung der sich ewig entwickelnden Materie gibt" 1 . Um einen Gegenstand wirklich zu erkennen, setzte Lenin an anderer Stelle dieses Problem fort, „muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und,Vermittlungen' erfassen und erforschen", außerdem aber verlange die dialektische Logik die Betrachtung der Gegenstände in ihrer Entwicklung und Veränderung. Das dritte Kriterium Lenins, das bej der Behandlung gerade historischer Begebenheiten, wie es die Entstehungsgeschichte des Staates darstellt, besonders zu beachten ist, besteht in der möglichst vollständigen Definition des Gegenstandes oder der historischen Vorgänge. Nach Lenin sollte in dieser Definition die „ganze menschliche Praxis", was in diesem Falle eine Zusammenfassung möglichst aller materiellen und geistigen institutionellen Fakten und Einrichtungen bedeutet, enthalten sein, um die praktische Determination des Zusammenhanges eines Gegenstandes mit seinen Zwecken und Bedürfnissen aufzuklären. Lenin hatte seine Dialektik in folgenden Punkten zusammengefaßt: Sie ist Bewegung des Lebens und des Geistes; sie enthält das „Zusammenfallen der Begriffe des Subjekts", d. h. des Menschen mit der Realität und bildet den „Objektivismus in höchster Potenz" 2 . Die Dialektik der Geschichte hat zudem noch einen spezifischen Aspekt. Sind in der Naturwissenschaft Regelmäßigkeiten der zeitlichen Abläufe zu beobachten und ist daher das Problem der Gesetzmäßigkeit und Klassifizierbarkeit der Ordnungen leichter verifizierbar, so fällt dieses typische Merkmal für die Geschichtswissenschaft fort. Friedrich Engels ging auf diese Frage einmal näher ein. „In der Geschichte der Gesellschaft dagegen", schrieb er, „sind die Wiederholungen der Zustände die Ausnahme, nicht die Regel, sobald wir über die Urzustände der Menschen, das sogenannte Steinalter, hinausgehen; und wo solche Wiederholungen vorkommen, da ereignen sie sich nie genau unter denselben Umständen. So das Vorkommen des ursprünglichen Gemeineigentums am Boden bei den sogenannten Kulturvölkern und die Form seiner Auflösung"3. Diesen Umstand der Geschichte, nämlich die Unwiederholbarkeit der gleichen historischen Erscheinungen, haben die klassischen Vertreter des Agnostizismus und des Skeptizismus, besonders Kant und Hume, zum Ausgangspunkt ihrer Begründung von der Nichterkennbarkeit der Geschichte genommen. Kant hatte, von der Relativität der Erkenntnis der Wahrheit ausgehend, nur die absolute Wahrheit als unerkennbares Ding an sich formuliert, während die englischen Skeptiker von Locke bis Hume entweder nicht über die Erfahrung oder nicht über die relative Wahrheit hinausgehen wollten. Lenin. Werke Bd. 19, Berlin 1968, 4 - 5 . Lenin, Werke Bd. 38, Berlin 1970, 221. 3 Marx-Engels, Werke Bd. 20, Berlin 1962, 83. 1
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WiäRfiKB SSLLNOW
Kant verzichtete auf die absolute Wahrheit und der Skeptiker Hume auf die objektive. Lenin hat aber, Marz und Engels folgend, gerade auf der Anerkennung der objektiven in der relativen Wahrheit bestanden. Er forderte dies innerhalb der Erkenntnistheorie, aber auch für die Dialektik der Geschichte. Er sah ein besonderes Kennzeichen des Reformismus innerhalb der Arbeiterbewegung darin, die Kriterien der Wahrheit in der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung zu leugnen1. Nach dem heutigen Stande der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften zu urteilen, wird auch hier die Planbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung mehr und mehr anerkannt. Jedoch geschieht dies weniger aus Gründen einer verbesserten Einsicht in die theoretischen Ergebnisse des historischen Materialismus und der Anerkennung der historischen Gesetzmäßigkeit, sondern aus der Situation ihrer eigenen kapitalistischen Gesellschaft heraus. Die Vergesellschaftung der Produktion hat einen solchen Grad erreicht, daß ohne eine systematische Ordnung in Baum und Zeit die wirtschaftlichen und politischen Bewegungen sich nicht mehr durchführen lassen. Diesem Umstand folgend muß in der Praxis von der Regulierbarkeit der Entwicklung ausgegangen werden, wobei sich aber die bürgerliche Geschichtswissenschaft immer noch auf einem Stande vor Hegel befindet, der diese Einsicht in die Dialektik bereits vor 150 Jahren nicht aus spontanem Druck, sondern durch wissenschaftliche Einsicht gewonnen hatte. Um so mehr gehen nun heute die Auseinandersetzungen um die Triebkräfte der historischen Entwicklung weiter. Lenin bemerkte schon, daß die bürgerliche Wissenschaft ökonomische, politische und moralische Faktoren für die Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung ins Feld führt. Heute, unter der Bedingung der technischen Revolution, der Einbeziehung der Kybernetik und und neuer technischer Errungenschaften, werden die Entwicklungstendenzen einseitig aus diesen Bereichen entnommen, um aus der Regelmäßigkeit technischer Vorgänge gesellschaftliche Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Bekanntlich liegen hier einige der theoretischen Begründungen der Konvergenztheorie. Die einseitige Hervorhebung der Produktivkräfte oder Produktionsmittel ohne die Anerkennung der Wirksamkeit und Priorität der Produktionsverhältnisse für die gesellschaftliche Entwicklung führt in der Untersuchung des Staates zu einem Auseinanderreißen der wichtigsten Faktoren der Produktionsweise und im Gefolge davon zu einer Verschiebung des Verhältnisses von Basis und Überbau in der Weise, daß Staat und Recht unmittelbares Ergebnis technisch-materieller Entwicklungstendenzen werden, wobei die Klassenbeziehungen völlig ignoriert werden — eine theoretische Position also, die schon vor 70 Jahren von den Katheder Sozialisten eingenommen wurde. Gerade diese bürgerlichen Theoretiker gaben vor, von der Wirtschaft auszugehen, wobei sie aus dem Begriff „Wirtschaft" absichtlich die Eigentums1
Lenin, Werke Bd. 33, Berlin 1966, 463.
Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung
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beziehungen herausließen, um so aus der Wirtschaft einen technologischen Funktionalismus zu machen. Lenin hatte schon in seinen ersten Arbeiten um 1895, also zur Zeit der Kathedersozialisten, dem entgegengehalten, daß die Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung das „Ergebnis eines bestimmten Systems von Produktionsverhältnissen" darstellen. Die Lehre von den Produktionsverhältnissen als Basis der gesellschaftlichen Entwicklung ist zugleich die Lehre von den Widersprüchen und Klassenkämpfen als letztlich treibendem Element der gesellschaftlichen Entwicklung. Lenin stellte einmal fest, daß die ökonomische Struktur der Gesellschaft, d. h. das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsmitteln zu den Produktionsverhältnissen, den Inhalt darstellt, während das innere Gefüge der Politik und die Ideologie die entsprechende Form dieser ökonomischen Struktur ausdrückt; und er wies ferner darauf hin, daß die konkrete Orientierung in der historischen Untersuchung nicht nur bei einer „Einschätzung der Klassen" bleiben könne, sondern auch die Institutionen zu berücksichtigen habe. 1 Die entscheidendste und wichtigste Institution, die es unmittelbar mit den Produktionsverhältnissen, den Klassen, dem Staat und dem Recht zu tun hat, ist ohne Zweifel das Eigentum. Entscheidende gesellschaftliche Widersprüche, selbst solche zwischen den herrschenden Klassen, gingen von Eigentumsverhältnissen aus oder aber endeten mit Eigentumsveränderungen. Der Übergang von der klassenlosen zur Klassengesellschaft und von einer Form der Klassengesellschaft zu einer anderen Form ist zugleich die Geschichte des Entstehens und Vergehens des Privateigentums. „Die Grundlage des Privateigentums bildet die im Entstehen begriffene Spezialisierung der gesellschaftlichen Arbeit und die Veräußerung der Produkte auf dem Markt" 2 , schrieb Lenin zu dieser Frage. Die materielle Vereinzelung der Warenproduzenten fand ihren Ausdruck in der Institution des Privateigentums. 3 „Das Privateigentum", schrieben Marx und Engels zum gleichen Problem, „entfremdet nicht nur die Individualität der Menschen, sondern auch die der Dinge" 4 . Das Verhältnis, das sich zwischen den Eigentümern sowohl untereinander als auch gegenüber den Nichteigentümern herausbildete und das letztlich in Klassen seinen Niederschlag fand, dieses Verhältnis wird das Eigentumsverhältnis genannt. 5 Das Eigentum, und insbesondere das Privateigentum, trat in seinen frühesten Formen keineswegs als eine Institution auf, die dem gentilgesellschaftlichen Gemeinwesen diametral entgegenstand. Es gab vielmehr sehr viele objektive Momente, wie z. B. die Spezialisierung der Handfertigkeiten und der Werkzeuge, die Teilung der Berufe, die Verfestigung von Nutzungsland und Gütern usw., die Lenin, Werke Bd. 24, Berlin 1959, 14. Lenin, Werke Bd. 1, Berlin 1961, 145. 3 Ebenda. < Marx-Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1958, 212. 5 Lenin, Werke Bd. 30, Berlin 1972, 449. 1
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Staatsentstehung
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eine bestimmte Höhe der Produktion bedingten. Das separierte Eigentum bildete sodann eine dauernde ökonomische Grundlage innerhalb der verschiedensten Formen des Gemeinwesens, „wie sie ihrerseits bestimmte Formen des Gemeinwesens zur Voraussetzung haben". Die Umbildung von persönlichem Eigentum in Privateigentum konnte nach Marx nur durch Usurpation geschehen sein1, wobei nicht unbedingt an eine blutige Okkupation gedacht werden muß. In den meisten Fällen waren in der betreifenden Zeitspanne z. B. die tributalen Abgaben nicht durch gemeinsames Übereinkommen, sondern durch direkte oder indirekte Gewalt beschlossen und eingetrieben worden. Das Entstehen von Privateigentum mußte auf gesellschaftlichen Grundlagen beruhen, die den gentilen Verhältnissen entsprachen. Die Entwicklung der Werkzeuge und der gesellschaftlichen Kooperation in der Arbeit, bei der Jagd, im Fischfang, in der Errichtung der Wohnstätten usw. hatten mit Notwendigkeit die Herausbildung spezifischer Verhältnisse nach sich gezogen, die in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung geregelt wurden. Lenin schrieb dazu, daß in diesen Verhältnissen, die ja der Bedürfnisbefriedigung der gentilen Menschen dienten, die Erklärung „für alle Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, der menschlichen Bestrebungen, Ideen und Gesetze" zu suchen sei2. Die Entwicklung der Produktivkräfte erzeugte eben solche Verhältnisse, die nach und nach sich fest verankerten und deren Separation die ganze Gesellschaft in Interessengruppen mit gesonderten materiellen Grundlagen zerschnitt. Wenn solche Verhältnisse und Einrichtungen beständig blieben und fest verankert wurden, dann, so schrieb Engels, „stellt sich das Bedürfnis ein, die täglich wiederkehrenden Akte der Produktion, der Verteilung und des Austausches der Produkte unter einer gemeinsamen Regel zu fassen, dafür zu sorgen, daß der einzelne sich den gemeinsamen Bedingungen der Produktion und des Austausches unterwirft". 3 Diese Regeln, die sich hier unter den Augen der Gesellschaft herausbildeten, wurden gemäß der Evolution der Produktion verändert, modifiziert und letztlich neu bestimmt. Solange die gesamte Gesellschaft auch ein Gesamtbedürfnis innerhalb dieser Verhältnisse fand, solange bedurften diese Regeln weder einer Legitimation noch einer speziellen Sanktion. Bei der langsamen Entwicklung der urgesellschaftlichen Verhältnisse wurden diese Regeln so sehr von dem gesellschaftlichen Bewußtsein aufgenommen und getragen, daß die Datierung dieses Anfanges der Regeln heute nicht mehr nachweisbar ist. Die ältesten Völker hatten den Beginn solcher Regeln häufig in magische und übernatürliche Fernen gerückt und sich nur noch in ihren Riten der Urheber erinnert. Diese Beziehungen, die sich in dieser Zeit herausbildeten, wurden deshalb in Regeln gefaßt, weil sie sich innerhalb der Gesellschaft zu Verhältnissen entwickelten. Diese Verhältnisse stellen Beziehungen von unterschiedlichen Inter1 Marx-Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1958, 348. 2 Lenin, Werke Bd. 2, Berlin 1970, 8. 3 Marx-Engels, Werke Bd. 18, Berlin 1962, 276.
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essengruppen mit einer relativen Selbständigkeit dar. Die Kontinuität der Verselbständigung war eine Voraussetzung für die Notwendigkeit ihrer Regelung. Die gentile Gesellschaftsform konnte diese Regelung nur solange in der traditionalen Weise vornehmen, wie die Gruppierungen selbst mit der Gentilordnung übereinstimmten. Nun blieben diese Verhältnisse nicht auf der traditionalen Gesellschaftsform stehen. Die Entstehung von Privateigentum bewirkte, daß sich aus gentilen Verhältnissen politische Verhältnisse entwickelten; politische Verhältnisse deshalb, weil die Spaltung der alten Gemeinschaft zugleich ihre Auflösung bedeutete. Der aufkommende Widerspruch in den alten Verhältnissen änderte nicht nur den Charakter dieser Verhältnisse, sondern auch die Organisationsform. Die Verhältnisse wurden politischer Natur, weil der Widerspruch unter den Interessengruppen die Gesellschaft in ihrer entscheidendsten Sphäre, nämlich in der gesellschaftlichen Produktion, traf und die Umwandlung der Gruppen in Klassen nach sich zog. Solange nun die entstandenen Klassen noch innerhalb der alten Gentilordnung wirkten, reichten die alten Normierungen aus. Die neue Klasse der Privateigentümer muß am Anfang natürlich an Zahl und Einfluß gering gewesen sein und wird noch in der Verwendung des Mehrprodukts zumindest zum Teil älteren gentilen Bedürfnissen gedient haben. Sehr häufig war die Möglichkeit, das Mehrprodukt produktiv anzuwenden, überhaupt nicht gegeben, und folglich diente es der individuellen Konsumtion und der gentilen Repräsentation nach außen und innen. Dennoch war der Beginn der Ausbeutung entweder durch Anwendung von wirtschaftlich abhängigen Gentilgenossen in der Produktion, durch Auferlegung tributaler Abgaben oder durch Erwerbung von Beute an Menschen und Grund und Boden usw. gegeben, und die damit entstehenden Verhältnisse waren nun nicht mehr lange mit den Normen gentiler Prägung zu vereinbaren. Da die Masse der Gentilgenossen die Sanktion der neuen Verhältnisse infolge vorangegangener struktureller Auflösung nicht verhindern konnte, wurde es auch möglich, die alten traditionalen Normen durch positive Normen zu ersetzen. Unter dem Begriff „positive Normen oder Gesetze" darf nicht der moralische Begriff im Gegensatz zu „negativ" verstanden werden. Dieser Begriff ist aus der Rechtsterminologie entnommen und besagt, daß diese Normen von einer gesetzgebenden Körperschaft oder einem Gesetzgeber stammen, meistens in einem System von Rechten enthalten sind, sich an einen namentlich genannten Personenkreis wenden und eine bestimmte Dauer besitzen. Da solche positiven Normen durchgesetzt werden sollen und müssen, gibt es einen Apparat, der jeden Verletzer dieser Normen mit Sanktionen bedroht und bestraft. In der Gentilgesellschaft gab es vor ihrer Verfallzeit keinen besonderen stabilen Apparat, der die traditionalen Normen durchsetzte. Diese traditionalen Normen waren von der Gemeinschaft anerkannt und wurden bei Verletzung durch die Gemeinschaft exekutiert. Es kam dabei vor, daß zur Schlichtung von Streitigkeiten ein Gremium gewählt oder ausgesucht wurde, das Urteile im o*
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Sinne der traditionalen Ordnung aussprach. Es kam auch vor, daß zur Exekution von Urteilen zeitweilig besondere Männer ausgewählt und mit Machtvollkommenheiten versehen wurden. Aber alle diese Gentilmitglieder, die in dieser Art von Gerichten und Polizeidiensten tätig wurden, blieben bis zur Auflösung dieser Gentilformationen nur sporadische Erscheinungen und traten nach dem speziellen Fall wieder in die Masse der Gentilmitglieder zurück. Anders war es in der Zeit der Auflösung der Gentilgesellschaft. Weder die Widersprüche noch das Privateigentum blieben sporadischer Natur. Im Gegenteil, einmal ins Leben gerufen, begannen sie sich zu verfestigen. Da es zumeist mit einer besonderen Erbregelung und der Dauernutzung von Land, Wasser, Früchten usw. begann, lief die Herausbildung des Privateigentums mit der Heraussonderung der Einzelfamilie parallel. So kam die Umgestaltung von traditionalen Normen zu gentilpolitischen Normen, die das Privateigentum und alle mit ihm im Zusammenhang stehenden Verhältnisse begünstigten, keineswegs überraschend und keineswegs unbemerkt. Und genauso führte die Gesellschaft von nun an Institutionen ein, die diese Normen ausarbeiteten, die die Widersprüche mittels dieser gentilpolitischen Normen schlichteten und durch besondere Helfer zur Anwendung brachten. Diese Institutionen wurden zu gentilpolitischen Institutionen und bildeten die notwendigen Zwischenstufen zur Herausbildung des Staates. Die Umbildung der gentilen, auf blutsverwandtschaftlichen Beziehungen beruhenden Gesellschaft zur politischen Gesellschaft, die durch sachlich bedingte Widersprüche sowie diesen Widersprüchen angepaßte gesellschaftliche Organisationsformen charakterisiert ist, wurde nicht minder auch durch historische Gegebenheiten, wie z. B. durch interethnische Beziehungen, Dauer und Stabilität ethnischer Verbände (z. B. bei Inselvölkern), freie oder unfreie Lebensweise (Kolonialismus) usf. mitbestimmt.. Aus allen diesen Gründen und Ursachen entwickelten sich die Institutionen des Staates und des Rechts nicht gleichzeitig und auch nicht gleichmäßig, sondern ungleich und in verschiedenen Formen und Erscheinungen. Da die bisherige Entwicklung immer mit dem Hauptzweck, nämlich der Sicherung des Lebens der gentilen Gemeinschaft, Hand in Hand gegangen war, so traten auch die neugebildeten Institutionen des Staates und des Rechts sowohl als Vollzieher gesamtgesellschaftlicher Belange als auch als Erweiterer gesellschaftlicher Interessen auf. In seiner Polemik gegen Bulganow wies Lenin mit allem Nachdruck den Rousseauschen paradiesischen Zustand zurück 1 und verwies gerade auf die ökonomische Lage der Gentilzeit. Die Hauptschwierigkeit in der Beurteilung des Überganges zum Staat bildet die Einschätzung der Macht oder Gewalt. Die bürgerliche Wissenschaft hatte zwei Hauptrichtungen hervorgebracht. Die eine Richtung sah in der Urgemeinschaft einen harmonischen Edelzustand, die andere von vornherein einen patriarchalischen Staatsverband. Die erste Richtung schob die Entwicklung zum Staat 1
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auf die psychische Entartung der Menschen, die andere ging von dem Ordnungsprinzip aus und ließ den Staat aus der väterlichen Gewalt der Familien hervorgehen. Beide Richtungen gingen von der Existenz von Klassenstaaten als dem Normalzustand aus. Nach der ersten bürgerlichen Ansicht wurde der Staat notwendig, um den Verfall der Gesellschaft aufzuhalten, nach der zweiten, um ihn nicht eintreten zu lassen. Später haben die bürgerlichen Ethnologen die Entstehung des Staates sehr wohl mit der Existenz des Privateigentums in Verbindung gebracht, aber dann die Untersuchung nicht auf die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung gestützt. Sie hatten das Privateigentum mit der These von der Präformation der monogamen Ehe an den Anfang gestellt. Nun ist es aber eine nicht zu bestreitende Tatsache, daß es in jeder Gesellschaftsform, und auch in der gentilen, eine öffentliche Gewalt gegeben hatte. Lenin schrieb einmal, wie wichtig „die Herrschaft der Sitten", die Autorität, Achtung und Macht, die die „Ältesten der Geschlechterverbände" besaßen, in dieser Zeit waren. 1 Diese öffentliche Gentilgewalt bildete sich unter dem Einfluß des entstehenden Privateigentums und ihrer klassenmäßigen Repräsentanten in eine Privatgewalt, eine Klassengewalt um. Es waren die neuen Verhältnisse innerhalb der gesellschaftlichen Produktion, die eine Änderung der Machtverhältnisse nach sich zogen. Die neuen Produktions- und Eigentumsverhältnisse bedingten neue Machtverhältnisse. Lenin, auf Marx fußend, hat auch auf diesen Qualitätswechsel der Macht hingewiesen. Es ist also nicht das Kennzeichen des Staates, daß er eine Gewalt zur Seite hat. „Zwangsgewalt", schrieb Lenin, „gibt es in jeder menschlichen Gesellschaft, in der Gentilverfassung so gut wie in der Familie; einen Staat jedoch hat es hier nicht gegeben" 2 . Es gibt natürlich keinen Staat ohne Gewalt, aber nicht jede Gewalt ist mit der Staatsgewalt gleichzusetzen oder zieht sie zwangsläufig nach sich. Da es nicht die Natur des Menschen ist, die einen Staat notwendig macht, und sich andererseits die öffentliche Gewalt auch nicht von selbst umgestaltet, muß die Notwendigkeit des Staates eben dort liegen, wo auch die Notwendigkeit für die bisherige öffentliche Gewalt lag, nämlich in der Produktion und ihren Verhältnissen. Die gentile Gewalt war nicht notwendig, um eine sogenannte Ordnung zu erhalten, sondern die gentile Ordnung war notwendig, um die materielle Sicherheit der Gemeinschaft zu gewährleisten. Änderte sich die materielle Basis der Gemeinschaft, so änderte sich auch die Lebensweise und -Ordnung und damit der Inhalt und die Form der Gewalt. Es lohnt sich, hier ein Zitat aus einem Brief von Karl Marx an Annenkow aus dem Jahre 1846 zu bringen. Seinerzeit schrieb Marx: „Was ist die Gesellschaft, welche immer auch ihre Form sei? Das Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen. Steht es dem Menschen ' Lenin, Werke Bd. 29, Berlin 1970, 464. 2 Lenin, Werke Bd. 1, Berlin 1961, 434.
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frei, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs (commerce) und der Konsumtion. Setzen Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der Konsumtion voraus, und Sie erhalten eine entsprechende soziale Ordnung, eine entsprechende Organisation der Familie, der Stände oder der Klassen, mit einem Wort, eine entsprechende Gesellschaft (société civile). Setzen Sie eine solche Gesellschaft voraus, und Sie erhalten eine entsprechende politische Ordnung (état politique), die nur der offizielle Ausdruck der Gesellschaft ist" Um also die Staatsorganisation stabilisieren zu können, bedarf es einer ganzen Reihe vorgebildeter gesellschaftlicher Zustände, Bewegungen und Einrichtungen. Selbstverständlich wurde hier und dort, besonders unter dem Einfluß höher entwickelter Nachbarn oder eines kolonialen Einflusses, der Versuch unternommen, den Staat zu bilden, ohne daß die nötigen Voraussetzungen bereits vorhanden waren. Aber die Geschichte lehrt den baldigen Verfall solcher Staaten und die Wiederherstellung entwicklungsbedingter Einrichtungen. Bei der Entstehung von Staaten mußte auf jeden Fall eine Klassenscheidung vorhanden sein. Lenin äußerte sich dazu in folgender Weise: „Kennzeichen des Staates ist also das Vorhandensein einer besonderen Klasse von Personen, in deren Händen sich die Macht konzentriert. Eine Gemeinschaft, in der alle ihre Mitglieder der Reihe nach der .Organisation der Ordnung' vorstünden, würde natürlich niemand als Staat bezeichnen können"2. Diese Klassenentwicklung ist aber nicht auf eine reine Willensbildung oder eine bloße Zusammenfassung von Menschen zurückzuführen, sondern auf die Ökonomie der Gesellschaft. Marx, Engels und Lenin haben sich übereinstimmend über diese Entwicklungszusammenhänge immer wieder geäußert und versucht, gerade hier der bürgerlichen Theorie gegenüber den materialistischen Standpunkt durchzusetzen. Die Herausbildung von prästaatlichen Institutionen begann fast ebenso unauffällig wie die von Privateigentum. Das Privateigentum trat über das Familieneigentum, das persönliche Eigentum und die Berechtigung einzelner Personen der Familien zur Nutzung von Gemeineigentum seinen Weg an. Die Evolution der Arbeitsteilung, zunächst mit der einfachen Form der Bearbeitung desselben Stück Landes anfangend und gefolgt von der langsamen Separierung der einzelnen Familienverbände, führte im Laufe der Entwicklung unmittelbar zur Dauernutzung von Grund und Boden und damit auch zur Intensivierung des Bodenbaues und der Herausbildung besonderer interfamiliarer Formen der Zusammenarbeit sowie zu neuen Formen der Stammeskooperation. Diese Entwicklung wurde durch die Ausbreitung von Handel und Handwerk noch weiter gefördert; daraus ergab sich die Notwendigkeit, die Frage der produktiven Konsumtion neu zu regeln. Das konnte die Gesamtbewirtschaftung von Wasser, 1 2
Marx-Engels, Werke Bd. 27, Berlin 1963, 452. Lenin, Werke Bd. 1, Berlin 1961, 434.
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Land, Wäldern und Weiden betreffen, aber auch den Bau von Verkehrswegen und -mittein, den Handel mit jeweils bestimmter Produktion, die Verteilung von Kriegsbeute usw. Die Gruppe von Menschen, die sich mit solchen Aufgaben befaßte, tat dies am Anfang sowohl mit der Zustimmung der Lokalgemeinschaft als auch mit völliger Legitimation aller Mitglieder des Stammes Verbandes. Mit der Existenz des Privateigentums, unabhängig davon, ob der Ausgangspunkt die Vorherrschaft einer besonders hervorgehobenen Familie, eine besonders günstige Verkehrslage oder das Vorkommen von Erden, Metallen oder Hölzern auf ihrem Grund und Boden war, begann sogleich eine Monopolisierung in Produktion und Handel. So bildete sich auch die prästaatliche Organisation, ganz gleich, ob es sich um Funktionen der Wirtschaft, der Ideologie oder der Politik handelte, zu einer Monopolinstitution um, deren Absetzung und Beeinflussung durch die Masse der Stammesangehörigen nach und nach unmöglich wurde. Diesen Zeitraum der historischen Entwicklung haben sowohl Marx und Engels als auch Lenin wie folgt dargestellt. Marx schrieb: „Die bisherigen Produktionsverhältnisse der Individuen müssen sich ebenfalls als politische und rechtliche Verhältnisse ausdrücken. Innerhalb der Teilung der Arbeit müssen diese Verhältnisse gegenüber den Individuen sich verselbständigen"An anderer Stelle stellte Marx fest: „Daß man in der Tat unter ,Staat' die Regierungsmaschine versteht oder den Staat, soweit er durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eigenen Organismus bildet . . ." 2 . Engels bemerkte dazu: „Wir sahen, daß ein wesentliches Kennzeichen des Staates in einer von der Masse des Volks unterschiedenen öffentlichen Gewalt besteht" 3 . Lenin formulierte folgendes: „Wenn wir die sogenannten religiösen Lehren, Spitzfindigkeiten, philosophischen Konstruktionen, die mannigfaltigsten Meinungen, die die bürgerlichen Gelehrten austüftelten, beiseite lassen und der Sache wirklich auf den Grund gehen, so sehen wir, daß der Staat auf nichts anderes hinausläuft als eben auf einen solchen, aus der menschlichen Gesellschaft herausgehobenen Regierungsapparat. Mit dem Aufkommen einer solchen besonderen Gruppe von Menschen, die nur damit beschäftigt ist zu regieren und die zum Regieren einen besonderen Zwangsapparat, einen Apparat zur Unterwerfung des Willens anderer unter die Gewalt benötigt — Gefängnisse, besondere Formationen von Menschen, das Heer usw. —, taucht der Staat auf" 4 . Es wurde schon gesagt, daß bereits präformative Einrichtungen verschiedentlich Staats- und Rechtscharakter trugen. Diese Einrichtungen waren jedoch noch immer in der Gesamtverfassung der Gentilgemeinschaft tätig. Obwohl sie schon einen Staatscharakter trugen, stellten sie dennoch noch nicht den Staat selbst dar. Gewiß bildeten sie nicht mehr Organisationen der Gentilgemeinschaft, 1 Marx-Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1958, 347. Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 29. 3 Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 115. 4 Lenin, Werke Bd. 29, Berlin 1970, 456. 2
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auch dann nicht, wenn sie der Form nach traditionaler Herkunft waren. Sie entsprachen jedoch deshalb noch nicht Staatsorganisationen, weil sie entweder nur vereinzelt oder nur sporadisch tätig wurden. Man könnte sie deshalb als gentilpolitische Einrichtungen bezeichnen, während die alten Einrichtungen gentiltraditionale Einrichtungen darstellten. Diese gentilpolitischen Institutionen unterschieden sich von den staatlichen Institutionen in mehrfacher Hinsicht. Zum ersten mußten diese letzteren Einrichtungen ausschließlich Instrumente der Klasse der Privateigentümer, zweitens positiv gesetzt sein und drittens ein System von Einrichtungen bilden, die sowohl die Ökonomie als auch die Politik und Ideologie in den gesellschaftsentscheidenden Positionen beherrschten. Die Widersprüche zwischen den Klassen mußten den Stand der Unüberwindbarkeit erreicht haben. Erst von dieser Epoche an kann man von einem Staat sprechen. Der Inhalt des Staates besteht von nun an ausschließlich in der Aufrechterhaltung des Privateigentums und der Sicherung des Akkumulationsradius auf erhöhter Reproduktionsleiter, der Aufrechterhaltung des Klassenwiderspruchs und der Ausbeutung. Hierzu haben Marx, Engels und Lenin gleichfalls ihre Ansichten niedergelegt. Engels schrieb: „Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaume zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflkt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch zur politisch herrschenden Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse" 1 . Lenin, bezugnehmend auf Engels' „Ursprung der Familie" und auf die Beziehung von Staat und Klassen hinweisend, stellte fest: „Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind" 2 . Und an anderer Stelle fügte Lenin hinzu: „Die Geschichte zeigt, daß der Staat als besonderer Apparat der Zwangsanwendung gegen Menschen erst dort und dann entstanden, wo und wann die Teilung der Gesellschaft in Klassen in Erscheinung trat — also eine Teilung in Gruppen von Menschen, von denen die einen sich ständig die Arbeit der andern aneignen können, wo der eine den andern ausbeutet"3. Diesen Ausbeutungszustand aufrechtzuerhalten und die Klassen- und Produktionsverhältnisse zu stabilisieren, bedurfte der Staat eines vorgebildeten Instruments. Dieses wichtige Instrument sowohl zur Aufrechterhaltung der Klassenordnung als auch des gesamten gesellschaftlichen Verkehrs war das Recht. Das Recht ist eine Zwangsnorm, aber nicht jede Zwangsnorm ist zugleich eine Rechtsnorm. Der Zwang ist nicht die Haupteigenschaft des Rechts. Das Charakteristikum des Klassenrechts besteht in der Normierung zum Schutze des Eigentums und damit der Produktionsverhältnisse. Das Eigentum selbst ist » Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 166-167. Lenin, Werke Bd. 25, Berlin 1960, 399. 3 Lenin, Werke Bd. 29, Berlin 1970, 465. 2
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ein Verhältnis von Menschengruppen untereinander. Es setzt diese Menschengruppen in ein bestimmtes Verhältnis zu Sachen und Leistungen. Die Gegenstände selbst, um die es sich hier handelt, sind klassenneutral. Der Grund und Boden, der Pflug oder ein kompliziertes Werkzeug konnten in der privaten oder der gesellschaftlichen Produktion ausgenutzt oder tätig werden. Wird das Produkt dieser Tätigkeit zur Ware, dann geht es in die gesellschaftlichen Widersprüche ein, weil es als Privateigentum auf dem Markt erscheint und von den Gesetzen der Warenproduktion beherrscht wird. Das Privateigentum an einer Sache besteht in einem gesellschaftlichen Verhältnis deshalb, weil seine Anerkennung durch Gesetze sanktioniert wird, d. h. weil die Nichteigentümer gezwungen werden, das Privateigentum als solches anzuerkennen und der Staat eine allgemeine Prävention gegen alle Nichteigentümer über die Gesetze, hinter denen die Staatsgewalt steht, erläßt. Das Privateigentum setzt Privateigentümer und Besitzlose voraus. Diese Beziehungen zwischen diesen beiden Klassen werden u. a. über das Recht ausgedrückt. Jeder Schritt, den das Privateigentum innerhalb der Welt der Privateigentümer geht, wird über das Privat- oder Zivilrecht geregelt. Jeder Schritt, den das Privateigentum als gesellschaftliches Verhältnis gegen die Besitzlosen geht, wird über das Staatsrecht geregelt, und jede Verletzung des Privateigentums setzt das Strafrecht in Tätigkeit. Vom Recht kann also nur gesprochen werden, wenn der Staat existiert, der in der Lage ist, die positive Gesetzgebung durch Gewalt durchzusetzen. Um es gleich zu sagen: die Verletzung der Gesetze hebt das Recht und den Rechtscharakter dieser Normativität nicht auf. Die gentilen Normen konnten daher erst Rechtsnormen werden, als der Klassencharakter der Normativität erreicht, ein System von rechtlichen Verbindlichkeiten gegeben und die Symbiose zwischen den Klassen der Privateigentümer und dem Staat sowie den Gesetzen ein allgemeines, stabiles, wirksames und die Gesellschaft bestimmendes Ganzes wurde. Waren diese Elemente verbunden, trat die Klassengesellschaft ins Leben. Sie trat in verschiedenen Formen und nach sehr verschiedenen und komplizierten Zwischengliedern auf und bestimmte von nun an den Weg der Geschichte. Mit der Entstehung des Staates waren die gentilen Organisationsformen aber keineswegs von der Bildfläche verschwunden. Sie bestanden in ihrer Organisation, mit ihrer Ideologie und mit ihren Traditionen weiter. Ihre gesellschaftliche Bedeutung war indessen nach zwei Seiten hin völlig verändert. Erstens war die Grundlage der Gentilgemeinschaft nicht mehr die Grundlage der neuen Staatsgesellschaft, weil nicht das Gemeineigentum, sondern das Privateigentum bestimmend wurde und damit die Produktion selbst sich verändert hatte. Zweitens ging von der alten Gentilverfassung nicht mehr die gesellschaftsentwickelnde Dynamik aus, denn diese wurde von den sozialen Kräften der neuen Gesellschaftsformation in Bewegung gesetzt. Die unterdrückte Klasse, worunter sich auch der größte Teil der ehemaligen Gentilangehörigen befand, blieb zwar Produzent der materiellen Güter, war aber nicht Aneigner und Verwerter des
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Mehrproduktes, das sich in den Händen des Staates beziehungsweise der herrschenden Klasse befand. Gerade weil die alten Formen der Gentilgesellschaft noch vorhanden waren, mußte der Staat die antagonistischen Widersprüche im Zaume halten. Auch war es nicht sogleich zu einer Trennung der gentilen Organisationen von den neuen Staatsorganisationen gekommen. Die Frage der formalen Trennung ist überhaupt nicht das Kennzeichen und nicht das Kernproblem dieser Entwicklungsstufe, sondern die Tatsache der Ausbeutung durch das Staats- und Gesellschaftsprinzip. Der Schnittpunkt liegt nicht in der Abgrenzung der antagonistischen Organisationen, sondern in den veränderten Distributions- und Ausbeutungsmethoden. Diese konnten sowohl unmittelbar durch Gewaltorgane, durch rigorose Kontributionen und Abgaben als auch durch die älteren Formen der Opfer, Geschenke, Dotationen, freiwilligen Dienste usw. praktiziert werden. Deshalb bleibt die Frage nach der Verwertung des Mehrproduktes, die Frage nach der Form der gesellschaftlichen Produktion, den Formen der privaten Aneignung, den Zwecken und Zielen der Staatsmacht und des Rechts und letztlich den Absichten und Wirkungen der religiösen und ideellen Vorstellungen der Hauptgesichtspunkt bei der Beurteilung des Schnittpunktes der Staats- und Rechtsentstehung in den konkreten Fällen.
Zu einigen Schlußfolgerungen aus den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels zur Entstehung des Staates im Alten Orient von
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(Halle)
Die Entstehung des Staates im Alten Orient ist insofern von besonderer Bedeutung, als nach unserem derzeitigen Wissen im Stromtal von Euphrat und Tigris erstmals der Übergang der Menschheit von der Urgesellschaft zur Klassengesellschaft erfolgte — und erstmals der Staat entstand. Dieser Vorgang vollzog sich verhältnismäßig parallel bei den Sumerern und Elamitern im 4. Jahrtausend und kam in den ersten Jahrhunderten des 3. Jahrtausends zum Abschluß. Er ging in Nordmesopotamien, in Syrien und Palästina, Ägypten, Kleinasien, Südturkmenien und Indien um jeweils 200-300 Jahre nach den Sumerern vor sich, und der Prozeß erhielt je nach den lokalen Voraussetzungen andere Schattierungen und Färbungen — eine Tatsache, die sich noch stärker bei jenen Völkern ausprägte, die als „Barbaren" im Laufe der Geschichte in schon klassengesellschaftliche Gebiete eindrangen, nun zum Bestandteil einer Klassengesellschaft wurden und den Staat ausbildeten, kurz, die die historischen Entwicklungen, zu denen die Südmesopotamier drei Jahrtausende Zeit gehabt hatten, in wenigen Jahren oder Jahrzehnten nach vollziehen mußten. Daß ihre Antwort auf diese historische Provokation je nach ihrem eigenen Entwicklungsstand verschieden ausfiel, wird nicht verwundern. Da sich dieser Vorgang der Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates in Asien und Afrika sowie die Einbeziehung bisher urgesellschaftlicher Gruppen bis in unsere Tage erstrecken und somit über 5000 Jahre und Hunderte von Übergangsformen erfassen, sind sowohl das Studium der Einzelform und seiner Resultate wie die allgemeine historische Gesetzmäßigkeit zu berücksichtigen, wenn man sowohl dem konkreten Fall wie der Gesamtgeschichte gerecht werden will. Das Studium der Übergangsform ist um so wichtiger, als es uns nicht nur eben diese Übergangsform, sondern auch zum Teil das Wesen und die Form der sich daraus ergebenden Klassengesellschaft verständlich macht. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung der konkreten Bedingungen des Übergangs von der Urgesellschaft zur Klassengesellschaft haben uns schon Marx und Engels gelehrt. Karl Marx unterschied in seiner Arbeit „Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen" neben einer „naturwüchsigen Form", zu der er die „meisten asiatischen Grundformen" rechnet — also nicht nur einer Grundform in Asien —, eine auf dem Parzelleneigentum beruhende
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Form, zu der er außer Griechen und Römern auch solche Stockorientalen wie die Juden zählt 1 , und eine germanische Form — wobei er betonte, daß die „verschiedenen äußerlichen, klimatischen, geographischen, physischen etc. Bedingungen sowohl wie von ihrer besonderen Naturanlage abhängen — ihrem Stammcharakter — wie mehr oder minder diese ursprüngliche Gemeinschaft modifiziert wird" 2. Friedrich Engels untersuchte leider in seinem „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" orientalische Verhältnisse nicht — überließ sie uns, die wir ja auch unterdessen ungleich mehr Material über den Orient besitzen als er. Wir können daher aus seinem letztgenannten Werk keine Analyse direkt übernehmen, da er hier vor allem Indianer, Griechen, Römer und Germanen untersuchte, müssen aber seine Grunderkenntnisse, seine Arbeitsmethode studieren und auf die altorientalischen Verhältnisse anwenden. Wenn wir von diesem Standpunkt an den „Ursprung" herangehen, finden wir Entscheidendes, um unsere Aufgaben zu lösen. Im I X . Abschnitt gibt Engels die historische Definition des Staates: „Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungene Macht; ebensowenig ist er „die Wirklichkeit der sittlichen Idee", „das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft", wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der „Ordnung" halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat" 3. Und dann folgen zwei Merkmale, deren erstes wir in Lenins „Staat und Revolution" nicht finden: „Gegenüber der alten Gentilorganisation kennzeichnet sich der Staat erstens durch die Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Gebiet . . .", und erst dann folgt der von Lenin betonte Gedanke: „Das zweite ist die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung. Diese besondre, öffentliche Gewalt ist nötig, weil eine selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung unmöglich geworden seit der Spaltung in Klassen" 4 . Für Lenin, der die Revolution gegen den Machtapparat „Staat" vorbereitete, stand der andere Aspekt, die „Einteilung nach dem Gebiet", gar nicht zur Diskussion. Diese Seite des Staates bleibt ja auch in der klassenlosen Gesellschaft K. Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen. Berlin 1952, 11. F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentunis und des Staats. Berlin 1946, 6. 3 Ebenda, 143. Ebenda, 143. 1
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erhalten, für die „die über der Gesellschaft stehende Macht" zur Dämpfung der Klassengegensätze längst überflüssig geworden ist. — Aber für uns, die wir als Historiker den Übergang von der gentil organisierten klassenlosen Urgesellschaft zum regional organisierten Staat der Klassengesellschaft studieren wollen, sind beide Aspekte wichtig, müssen wir doch, um die Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates zu belegen, die Organisation der Menschen nach dem Gebiet und die Existenz einer besonderen bewaffneten Macht nachweisen. Friedrich Engels hat drei Hauptformen der Staatsentstehung unterschieden, wobei er, wie schon gesagt, auf eine Analyse orientalischer Staatsbildungen verzichtete. Er schrieb: „Die drei Hauptformen, in denen der Staat sich auf den Ruinen der Gentilverfassung erhebt, haben wir oben im Einzelnen betrachtet. Athen bietet die reinste, klassischste Form: hier entspringt der Staat direkt und vorherrschend aus den Klassengegensätzen, die sich innerhalb der Gentilgesellschaft selbst entwickeln. In Rom wird die Gentilgesellschaft eine geschlossene Aristokratie inmitten einer zahlreichen, außer ihr stehenden, rechtlosen, aber pflichtenschuldigen Plebs; der Sieg der Plebs sprengt die alte Geschlechtsverfassung und errichtet auf ihren Trümmern den Staat, worin Gentilaristokratie und Plebs bald beide gänzlich aufgehn. Bei den deutschen Überwindern des Römerreichs endlich entspringt der Staat direkt aus der Eroberung großer fremder Gebiete, die zu beherrschen die Gentilverfassung keine Mittel bietet" 1 . Drei Hauptformen in knapp 1000 Jahren, die zudem eng miteinander verbunden waren, das ist m. E. eine Engeische Feststellung, die von vornherein für den Riesenraum von Korea bis Guinea und den fünf bis sechsfachen Zeitraum einfach ausschließt, daß es dort nur eine Form des Übergangs gegeben habe, ja, die geradezu verlangt, nach den verschiedenen Hauptformen und ihren Derivaten zu suchen, um der Geschichte und der Methode des historischen Materialismus gerecht zu werden. Schon ein allgemeiner Überblick über die drei großen Stromtalkulturen des 3. Jahrtausends v. u. Z. läßt weitgehende Unterschiede erkennen, die zum größten Teil aus den unterschiedlichen Bedingungen des Übergangs ihrer Träger zur Klassengesellschaft und zum Staat resultieren. In Mesopotamien ist die Lebensform der Menschen, in der sich der Übergang von der Urgemeinschaft zur Klassengesellschaft vollzieht, die Stadt - und das Ergebnis sind die vielen gleichartigen sumerischen Stadtstaaten, die erst im letzten Drittel des Jahrtausends ihre Unabhängigkeit verlieren. In Ägypten herrschte die als Staat organisierte Ausbeuterklasse über die Vielzahl der Dörfer, schuf die Residenz als ihre Zentrale — viele kleine Residenzen als Sitz der staatlich-organisierten Ausbeuter, so daß Ägyptens Staat als Großstaat existierte oder nicht existierte. In Indien blühte jene uns noch am wenigsten verständliche Induskultur, die zwei Großstädte mit gesonderten Residenzen über viele Dörfer herrschen sah. i Ebenda, 142.
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Wie sind diese Unterschiede zu verstehen ? Natürlich können hier nur die allgemeinen Züge verfolgt werden. Die s u m e r i s c h e Staatsentstehung wird durch folgende Merkmale bestimmt: Sie vollzieht sich auf der Basis der in den Bergländern Vorderasiens bereits ausgebildeten „militärischen Demokratie" mit vollzogener Arbeitsteilung in Bauern, Hirten und Handwerker sowie mit bereits entwickelter sozialer Differenzierung, die eine Häuptlingsschicht hervorhob. Die Herausbildung der „militärischen Demokratie" in den Bergländern Vorderasiens läßt sich an den Fundorten Chatal-Hüyük (voll entfaltete Urgesellschaft um 6500 v. u. Z.), Hacilar I I (Dorf mit Arbeitsteilung in Handwerker und Bauern um 5250 v. u. Z.) und Mersin XVI (eine Festung mit gleichgestellten Bauernsoldaten, Häusern und einem Palast um 4500 v. u. Z.) studieren. Die sumerische Staatsentstehung hatte die Irrigation S dmesopotamiens zur Voraussetzung, da die ab 5500 v. u. Z. erfolgende Besiedlung der Gebiete unterhalb der 200 mm Isohyete nur mit Be- bzw. Entwässerungsackerbau möglich war. Dieser Bewässerungsackerbau war nur unter dem Aufwand größerer geistiger Arbeit bei der Produktionsvorbereitung und -Organisation möglich, da das Hochwasser von Euphrat und Tigris die Unkundigen vernichtete. Er schuf zugleich mit dem bewässerten Boden ein hocheffektives Produktionsmittel, das dem Boden des Berglandes weit überlegen war. Die Überbesiedlung der Bergzonen und die hohe Produktivität des Stromlandes, dessen Fruchtbarkeit für eine gewisse Zeit nur durch die Arbeitskräfte begrenzt wurde, ließ vielerlei Gruppen zuwandern und die Einwohnerzahl rasch ansteigen. Bevölkerungsmischung und -Zuwachs erforderten eine regionale Organisierung. Die Priester Avurden als Träger des zur Produktion notwendigen Wissens zu Organisatoren. Die Tempel fungierten als Gemeindespeicher, Produktionsleitung und Organisationszentrum, logischerweise auch als geistiges Zentrum, als Kultort. Sie werden zu Zentren der Siedlungen. Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gemeinschaften standen unter Leitung der Priester und führten in der Regel zur Vereinigung der Siedlungen, zur Vermehrung der Zahl der Tempel und zur Unterordnung der Gefangenen unter die Priester. Aus dem Gemeineigentum des Stammes am Boden wird das fiktive Eigentum des Stammgottes am Boden, das an die zur Kultgemeinde gehörenden Mitglieder auf Zeit als Besitz verteilt wird. Diese Verteilung geschieht mehr und mehr nach Klassengesichtspunkten, so daß zum Hauptklassengesetz der Gegensatz zwischen Parzellenbesitzern und meist auch Handwerkern und Großgrundbesitzern wird, die zugleich die Gemeindefunktionen in ihrer Hand vereinigen. Daneben entwickelt sich der Klassengegensatz zwischen Sklaven und Großgrundbesitzern, der nicht zum beherrschenden Element wird. Der Staat als Machtorgan entwickelt sich in Südmesopotämien als Machtorgan der herrschenden Klasse (u. a. Priester) gegen die Masse der Stadtbewohner und kommt in einer Befestigung der Tempel innerhalb der Städte, in der Aufstellung bewaffneter Organe und im Auftreten des Gefesselten, Geblendeten usw. in der
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Kunst zum Ausdruck. Erst in dem schon entwickelten Staat trennen sich die religiösen und weltlichen Funktionen, neben den Tempel tritt der Palast. Archäologisch sind diese Grundzüge in etwa folgenden Etappen faßbar: Besiedlung des nördlichen Mesopotamiens oberhalb der 200 mm Isohyete, d. h. auf der Grundlage des Regenfeldbaues, ab etwa 5800 v. u. Z., Ausbildung sozial differenzierter Arbeitsteilung organisierter Gesellschaften in der Halaf- und Samarra-Kultur bis etwa 5000. Vordringen in das südwestmesopotamische Stromtal ab etwa 5500 v. u. Z. Mit verschiedenen Keramiktypen werden verschiedene Gruppen erkennbar, die alle etwa gleichzeitig den Bewässerungsackerbau meistern. Entstehung von Ansiedlungen, als deren Kern Tempel herausragen. In Eridu ist das Aufsteigen des Tempels von einer kleinen Hütte (um 5000) zur befestigten Anlage um 3500 v. u. Z. und zur Festung um 3000 v. u. Z. gut zu verfolgen. Die Unterordnung des Handwerks unter die Tempel ist seit etwa 4000 v. u. Z. zu beobachten. Der Abschluß der Staatsbildung in Südmesopotamien ist um 3000 v. u. Z. erfolgt. Die Tempel von Uruk und Eridu sind nun innerhalb der Städte befestigt. Auf Staatssymbolen und Herrschersiegeln demonstriert die herrschende Klasse ihre Macht über Menschen, indem sie die Blendung Gefangener durch Bewaffnete vor einem Priester, den Priester als Kontrolleur der Produktion sowie die eigene Gesellschaft in drei Stufen, angedeutet durch unterschiedliche Kleidung, darstellt. Der in der Susiana und in Südmesopotamien zu beobachtende Abbruch der meisten Dörfer und die Konzentration der Bevölkerung in den Städten erfolgte um 2900—2800 v. u. Z., die Trennung von Palast und Tempel in Kisch um 2600 v. u. Z. Durch Kaufurkunden ist das Aufkommen des Privateigentums an Grund und Boden ab 2600 v. u. Z. belegt. Die Staatsentstehung in Sumer vollzog sich also in einem zweitausendjährigen Prozeß, der weitgehend durch den Bewässerungsackerbau und die daraus resultierende lebensnotwendige, beherrschende Rolle der geistig-technischen Leitung der Produktion bedingt war. Schon in Nordmesopotamien, oberhalb der 200 mm Isohyete, fehlt diese Rolle der Priesterschaft — und mit ihr auch die Beschleunigung der Entwicklung durch den produktiveren Bewässerungsackerbau. Hier dominiert seit der Halafzeit (5500—5000) der „Palast", d. h. also der Häuptling, der sich den Kult unterordnet, wie z. B. in Arpachiyah zu sehen ist. Das beste Beispiel der langsameren und auch anders gerichteten Entwicklung Nordmesopotamiens in den hier zur Debatte stehenden Jahrtausenden ist Tepe Gawra, das nach einer glänzenden Periode der Halafzeit eine Stagnation der Kultur erlebt, in der es zudem durch Eroberung mehrfach die Bevölkerung wechselt und in der allmählich Häuptlingssitz und Tempel nebeneinander aufwachsen. Das erste befestigte Gebäude ist ein Rundturm mit Beratungs-, Kultund Wohnräumen in der Schicht X I A. Es fehlt auch jene Konzentration der Gesellschaft auf ein Zentrum wie im Süden; so lassen sich in der Schicht XII mehrere Großbauten — ich möchte sie Adelshäuser iiennen — zwischen vielen ärmlichen Bauten nachweisen.
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Erst etwa 200 Jahre nach den südmesopotamischen Staaten läßt sich in der Schicht IX der Palast als befestigte Anlage mit einem eigenartigen tiefen Keller und verstärkten Mauern — m. E. das älteste Verließ, das älteste Gefängnis, das wir haben — erkennen. Daneben, völlig getrennt, steht der Tempel. Hier in Nordmesopotamien ging die Staatswerdung offenbar im Stamm vor sich — ähnlich wie in Syrien oder Palästina, wo wir ja schon aus dem 8. Jahrtausend v. u. Z. befestigte Großsiedlungen wie Jericho kennen, hinter dessen steinerner Stadtmauer mit 8 m breiten Türmen schon damals 2000—3000 Menschen Platz hatten. Aber die ständigen Bevölkerungsbewegungen vom 8. bis 4. Jahrtausend v. u. Z. schienen hier bis in den Beginn des 3. Jahrtausends die Staatsbildung verhindert zu haben; wer sich von Feinden oder Ausbeutern bedroht sah, floh südwärts und ging nach Afrika. Noch im späten 3. Jahrtausend v.u. Z. fungierten in Palästina wie in Khirbet Kerak die Tempel als Gemeindespeicher. In Ä g y p t e n wurden andere historische Voraussetzungen und ökonomische Grundsätze wirksam: Die Erschließung des Niltals verlangte ursprünglich keine Irrigation, sondern nur die Beobachtung der Ausdehnung und Dauer der Überschwemmung —, ein bei der natürlichen Enge des Tals wesentlich einfacher zu beobachtender Prozeß. Die Besiedlung des Stromtals erfolgte in mehreren Wellen von Asien her, nachdem dort bereits die Zeit der „militärischen Demokratie" ihren Höhepunkt längst überschritten hatte, während die Neusiedler auf der Anfangsstufe der agrarischen Stammesorganisation standen (ab 4500 v. u. Z.). Die bis in das frühe 3. Jahrtausend passierbare Sahara ließ bedrohte Gruppen abziehen —, ein hemmender Faktor, den auch seit etwa 3500 v. u. Z. ansteigender Einfli ß aus Vorderasien nicht ausglich. Nach 2900 v. u. Z. unterwarf eine mit vorderasiatischem Kulturgut und Erfahrungen angereicherte Volksgruppe die Bauernstämme und zwang sie zur Auslieferung eines Teils des Mehrproduktes. Für die prinzipielle Erkenntnis ist es unwesentlich, ob es sich bei den sich als Staat konstituierenden Fremden um mit asiatischem Gut angereicherte Libyer oder um Südmesopotamier handelte. Ich halte sogar eine mehrfache und daher gemischte Überschichtung für wahrscheinlich. Die Staatsbildung ähnelt der von Engels beschriebenen „deutschen" Staatsbildung, bei der nach seinen Worten „der Staat direkt aus der Eroberung großer, fremder Gebiete" entspringt, während die sumerische Staatsbildung eher der attischen Form entspricht, und ich habe sie an anderer Stelle1 mit der Reform Solons verglichen. Archäologisch läßt sich diese Entwicklung u. a. durch folgende Denkmäler erfassen: In den noch späturgemeinschaftlichen Kulturen der Negade II—Zeit tritt u. a. der Messergriff von Djebel el-Arak auf, der auf der einen Seite eine Menschenjagd und den Kampf mesopotamischer gegen ägyptische Boote und auf der anderen den triumphierenden mesopotamischen Priesterfürsten zeigt. Eines der ersten Denkmäler ägyptischer Staatlichkeit stellt die Narmerpalette dar. 1
B. Brentjes, Von Schanidar bis Akkad. Leipzig-Jena-Berlin 1968, 169f.
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Unter ihren beherrschenden Motiven ist der Schlangendrache vorderasiatischer Herkunft. In Ägypten fehlen die Mesopotamien charakterisierenden Städte. Staatliche Zentren bilden die Residenzen, wie sie uns z. B. in Gestalt der einen Palastkomplexe nachbildenden Anlage der Stufenpyramide von Sakkara bekannt ist. Die Königsgräber der ersten Dynastien im Stil mesopotamischer Tempel (Uruk IV) enthalten Darstellungen von Gefangenen und Unterjochten. Auch M e s o p o t a m i e n hat Überschichtungen durch Fremdstämme erlebt. Selbst die Sumerer ernteten anscheinend, was andere vor ihnen gesät hatten. Die Regel war in Mesopotamien jedoch die Infiltration späturgemeinschaftlicher bzw. frühstaatlicher Völker in staatliche Organisationen, die sich je nach den Bedingungen vollzog. Die zu Beginn des 2. Jahrtausends einwandernden Amurru rissen die Herrschaft z. B. in Babylon an sich, nachdem sie jahrzehntelang als Saisonarbeiter, Söldner usw. ins Land gekommen waren. Offenbar nicht in geschlossenen Stammesgruppen ankommend — wie einige Jahrhunderte nach ihnen die Kassiten — gingen sie in der akkadischen Bevölkerung auf. Als geschlossenen Sippenverbänden gelang es den Kassiten, die Akkader zu unterwerfen. Sie bildeten die Grundherrenschicht, die den Boden mit allen Produzenten als Sippeneigentum besaß. Wollte z. B. der König Land in Privateigentum vergeben, mußte er es von den Sippenvorstehern der Grundbesitzer kaufen und konnte es dann mit den ansässigen Bauern verschenken. Eine dritte Form ist die Staatsbildung der P e r s e r und Meder, die die ökonomische Struktur der unterworfenen Gebiete unberührt ließen, den Verwaltungsapparat aus Aramäern und Elamitern bildeten, den Machtapparat aber den Persern und Medern vorbehielten. Nur Angehörige der beiden Stämme konnten leitende Staats- und Armeefunktionen innehaben, und sie allein verfügten über den Großgrundbesitz. Die persische Staatsbildung ähnelt damit der frührömischen Entwicklung, von der Friedrich' Engels schrieb, hier „wird die Gentilgesellschaft eine geschlossene Aristokratie inmitten einer zahlreichen, außer ihr stehenden, rechtlosen, aber pflichtenschuldigen Plebs"1 - nur daß bei den Persern statt der Plebs geschlossene Völkerschaften standen und Perser und Meder eine geschlossene Aristokratie bildeten. Archäologisch deutlich wird diese Überschichtung u. a. durch das Nebeneinander von Kult- und Residenzstädten wie Persepolis und straff gegliederten Wohnstädten von der Struktur Babylons. Es könnten noch weitere Formen aufgeführt werden, die sich in ihren Besonderheiten gleichfalls erklären lassen, wie die eigenartige Staatsverfassung der Elamiter mit einem mutterrechtlich organisierten Staat, die Burgen-Staatlichkeit Mykenes oder die Palaststadt der Kreter, so daß wir zu einer Vielzahl konkreter Staatsbildungen und dementsprechend differenzierter Ausgangsstrukturen der alten Klassengesellschaft kommen, zwischen denen zum Teil größere Unterschiede bestehen als zwischen den drei von Engels genannten Haupti F. Engels, a. a. 0., 142. 3
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formen, der attischen, der römischen und der germanischen, die damit ihre Sonderstellung verlieren und sich einpassen in den Strom des weltgeschichtlichen Übergangs von der auf der Basis des Sammeins und der Jagd entwikkelten Urgesellschaft zu der auf der Basis des Ackerbaus entwickelten vorkapitalistischen Klassengesellschaft. Für uns ergeben sich hieraus einige konkrete Schlußfolgerungen: 1. Die Phase der „militärischen Demokratie" ist in ihrer inneren Entwicklung und ihren Besonderheiten regional zu erfassen. 2. Nicht das Auftreten von Arbeitsteilung, Unterdrückung, Sklaven und Klassenspaltung allein erweist die Existenz des Staates. Erinnert sei an Friedrich Engels' Schlußvermerk zum Abschnitt IV im „Ursprung der Familie": „Wir sehn also in der griechischen Verfassung der Heldenzeit die alte Gentilorganisation noch in lebendiger Kraft, aber auch schon den Anfang ihrer Untergrabung : Vaterrecht mit Vererbung des Vermögens an die Kinder, wodurch die Reichtumsanhäufung in der Familie begünstigt und die Familie eine Macht wurde gegenüber der Gens; Rückwirkung der Reichtumsverschiedenheit auf die Verfassung, vermittelst Bildung der ersten Ansätze zu einem erblichen Adel und Königtum; Sklaverei, zunächst noch bloß von Kriegsgefangenen, aber schon die Aussicht eröffnend auf Versklavung der eignen Stammes- und selbst Gentilgenossen ; der alte Krieg von Stamm gegen Stamm bereits ausartend in systematische Räuberei zu Land und zur See, um Vieh, Sklaven, Schätze zu erobern, in regelrechte Erwerbsquelle; kurz, Reichtum gepriesen und geachtet als höchstes Gut, und die alten Gentilordnungen gemißbraucht, um den gewaltsamen Raub von Reichtümern zu rechtfertigen. Es fehlte nur noch eins: eine Einrichtung, die die neuerworbenen Reichtümer der einzelnen nicht nur gegen die kommunistischen Traditionen der Gentilordnung sicherstellte, die nicht nur das früher so geringgeschätzte Privateigentum heiligte, und diese Heiligung für den höchsten Zweck aller menschlichen Gemeinschaft erklärte, sondern die auch die nacheinander sich entwickelnden neuen Formen der Eigentumserwerbung, also der stets beschleunigten Vermehrung des Reichtums mit dem Stempel allgemein gesellschaftlicher Anerkennung versah; eine Einrichtung, die nicht nur die aufkommende Spaltung der Gesellschaft in Klassen verewigte, sondern auch das Recht der besitzenden Klasse auf Ausbeutung der nichtbesitzenden, und die Herrschaft jener über diese. Und diese Einrichtung kam. Der Staat wurde erfunden"1. 3. Erst der Nachweis der „Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Gebiet" und der „Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung"2 erlaubt, von der Existenz des Staates zu sprechen. Daß sich diese Elemente historisch, d. h. in bestimmten Fristen, herausbilden und nicht wie Athena dem Schädel des Zeus auf einmal und abgeschlossen entspringen, ist selbstverständlich. 1
Ebenda, 84.
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Ebenda, 142.
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4. Wenn der Staat wie in Athen oder in den sumerischen Städten „direkt und vorherrschend aus den Klassengegensätzen, die sich innerhalb der Gentilgesellschaft selbst entwickeln", resultiert, geht seine Ausbildung allmählich, Schritt für Schritt, aber in klarer, sozial bestimmter Form vor sich. 5. „Entspringt der Staat" hingegen „direkt aus der Eroberung großer fremder Gebiete, die zu beherrschen die Gentilverfassung keine Mittel bietet", wie es Engels bei den Germanen schildert und wie es sich in abgewandelter Form bei der Staatsentstehung der Ägypter, der Chou und der Hethiter vollzog, ist der Staat als „besondere öffentliche Gewalt" schwerer zu erweisen, sondern entsteht aus dem sich als Machtorgan gegen die Unterdrückten als ,Staat' organisierenden Heerbann der Unterdrücker. Es gelten hier vielfach in verschiedenen Formen die Engelsschen Bemerkungen zur „Staatsbildung der Deutschen": „Weil aber mit dieser Eroberung weder ernstlicher Kampf mit der alten Bevölkerung verbunden ist noch eine fortgeschrittenere Arbeitsteilung, weil die ökonomische Entwicklungsstufe der Eroberten und die der Eroberer fast dieselbe ist, die ökonomische Basis der Gesellschaft also die alte bleibt, deshalb kann sich die Gentilverfassung lange Jahrhunderte hindurch in veränderter, territorialer Gestalt als Markverfassung forterhalten und selbst in den späteren Adels- und Patriziergeschlechtern, ja selbst in Bauerngeschlechtern wie in Dithmarschen eine Zeitlang im abgeschwächter Form verjüngen" 1 . Am nächsten kommen diesem germanischen Beispiel das chouzeitliche China, dann die Hethiter des Alten Reiches, weniger schon das frühzeitliche Ägypten und eventuell Sparta. Diese aus der „Eroberung großer fremder Gebiete" resultierende Staatlichkeit tritt rascher in Erscheinung, ist stabiler, aber auch zur Stagnation tendierend. 6. Kulturell bedeutender und für die Menschheitsentwicklung fruchtbarer ist der sumerisch-attische Weg der Stadt, da er im Prozeß der inneren Kämpfe um die Ausbildung der neuen Ordnung zum Durchdenken und Formulieren der Verhältnisse zwingt. Als oberster Grundsatz muß jedoch über allen Studien zur Staatsentstehung die eindeutige Erkenntnis W. I. Lenins im Anschluß an die Engelsschen Ausführungen stehen: „Hier ist mit voller Klarheit der Grundgedanke des Marxismus über die historische Rolle und die Bedeutung des Staates zum Ausdruck gebracht. Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können"2. Nicht die Existenz eines Adels oder besserer Waffen in der Hand eines Teils des Volkes machen den Staat aus, sondern die Existenz unversöhnlicher Klassengegensätze und ihr Produkt, bestimmt, sie zu dämpfen, nämlich der Staat als Machtorgan einer herrschenden Klasse gegen eine ausgebeutete und unterdrückte muß erwiesen werden. 1 Ebenda, 142. W. I. Lenin, Staat und Revolution. In: Ausgewählte Werke in 2 Bänden. Bd. 2. Moskau 1947, 161.
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Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien von HOBST KLENGEL (Berlin)
Seit mehr als einem Jahrhundert haben archäologische und philologische Forschungen in ständig wachsendem Maße unsere Kenntnisse über die Geschichte der Völkerschaften, die im orientalischen Altertum an Euphrat und Tigris lebten, erweitert. Sie haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß heute ein im wesentlichen gesichertes, wenn auch in manchen zeitlichen und räumlichen Bereichen noch lückenhaftes Bild gezeichnet werden kann. Dabei drang die Forschung in immer weiter zurückliegende Perioden vor und bezog die vorschriftliche Zeit Mesopotamiens, also den Zeitraum vor dem ausgehenden 4. Jahrtausend, in ihre Arbeit ein. Gerade während der letzten Jahrzehnte hat die vorderasiatische Archäologie der Untersuchung der prähistorischen und frühgeschichtlichen Entwicklung besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das damit stark vermehrte Material machte es möglich, nicht nur die materielle Kultur Mesopotamiens in vorstaatlicher Zeit klarer zu erfassen, sondern auch einige Rückschlüsse auf den entsprechenden gesellschaftlichen Überbau zu ziehen. In diesem Zusammenhang ist die Herausbildung der Klassengesellschaft und des Staates von besonderer Bedeutung. Wie bereits W. Sellnow in seinem Beitrag gezeigt hat, haben die Klassiker des Marxismus-Leninismus in ihren Arbeiten wiederholt auf diese welthistorisch relevante Problematik hingewiesen.1 Eine wichtige Rolle spielte dabei die Frage der politischen Gewalt und ihr Verhältnis zur Gesellschaft. Dabei war es ihnen zu ihrer Zeit jedoch noch nicht möglich, diese Probleme auch am Beispiel Mesopotamiens darzustellen; hierfür fehlte es damals an den quellenmäßigen Voraussetzungen. Die Aufgabe, das aus der archäologischen und philologischen Tatsachenforschung seitdem zur Verfügung gestellte historisch verwertbare Material mit den von Marx, Engels und Lenin erkannten Gesetzmäßigkeiten in der gesellschaftlichen Entwicklung zu vergleichen und mit den Methoden der marxistischen Geschichtswissenschaft auch die Frage der Entstehung des Staates in Mesopotamien zu untersuchen, blieb späteren Generationen vorbehalten.2 Dabei sind vor allem durch die sowje1 2
Siehe oben S. 13-26. Vgl. zur Problematik zuletzt E. Hoffmann, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 16 (1968), 1272 f.
Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien
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tische Geschichtsforschung erste wesentliche Resultate erzielt worden.1 In den meisten Darstellungen der mesopotamischen Frühzeit wird allerdings der Staatsentstehung als einem Prozeß entweder keine Beachtung geschenkt oder aber nur auf die bereits „klassisch" gewordene Untersuchung von Th. Jacobsen, Early Political Development in Mesopotamia2, verwiesen. Die Frage der Staatsentstehung in Mesopotamien — hier als Bereich zwischen dem iranischen Hochland im Osten und der syrisch-arabischen Wüstensteppe im Westen verstanden — kommt insofern eine überregionale Bedeutung zu, als sich hier, soweit wir bislang sehen können, dieser Prozeß zum ersten Male vollzog. Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Erwägungen erscheint es notwendig, das zur Verfügung stehende Material kurz zu charakterisieren: a) Der archäologische Befund, d. h. das nicht-inschriftliche Material. Diese Quellen gestatten oft Rückschlüsse nicht nur auf den Stand der Entwicklung der Produktivkräfte, auf Bevölkerungsdichte und Siedlungsweise, sondern auch auf die jeweiligen Produktionsverhältnisse. Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß sich Veränderungen im Überbau im archäologischen Befund nur bedingt und unter bestimmten Voraussetzungen widerspiegeln; der Interpretation bleibt ein häufig allzu breiter Raum überlassen. b) Die inschriftlichen Zeugnisse. Diese setzen in Mesopotamien zunächst in Form einer piktographischen Fixierung ökonomischer Vorgänge am Ende des 4. Jahrtausends ein. 3 Sie gewinnen jedoch erst im zweiten Viertel des 3. Jahrtausends an Aussagekraft und stellen dann weitgehend Feldkaufurkunden dar/1 Aus der Frühdynastisch-III-Zeit (etwa 26./25. Jahrhundert) steht schließlich ein umfangreiches inschriftliches Material zur Verfügung, darunter auch Königsinschriften. 5 Diese inschriftlichen Zeugnisse sind für die Frage der Staatsentstehung in zweierlei Hinsicht auswertbar: einmal als Dokumente ihrer eigenen Abfassungszeit, zum anderen als Reflexion älterer Zustände; in letzterem Fall bleibt allerdings unsicher, wie weit diese frühen Verhältnisse zurückdatiert 1
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Hervorzuheben sind vor allem die Arbeiten von I. M. Diakonoff, vgl. insbesondere seine Untersuchungen über die Entstehung des despotischen Staates in Mesopotamien [1956] (in: Ancient Mesopotamia, Moskau 1969, 173ff.) sowie die Gesellschaftsstruktur im Vorderen Orient bis zur Mitte des 2. Jahrtausends v. u. Z. (BecraHK apeBHeft HCTopmi 4/1967, 13ff.; 3/1968, 3ff.; 4/1968, 3ff.). Vgl. ferner A. I. Tjumenev, in: Ancient Mesopotamia, 70 ff. Zeitschrift für Assyriologie, N F 18 (1957), 91 ff. Uruk (Südmesopotamien), Schicht IV a; s. A. Falkenstein, Archaische Texte aus Uruk. Berlin 1936. An einer Lesung dieser bislang ältesten Inschriften wird gegenwärtig von verschiedenen Seiten gearbeitet, vgl. etwa A. A. BaftMaH, IlepeAHea3naTCKHft cöopmiK II. MocKBa 1966, 3 ff. Vgl. zuletzt die Bearbeitungen von D. 0 . Edzard, Sumerische Rechtsurkunden des III. Jahrtausends. München 1968, Anhang S. 167-198. Besonders gut bekannt sind auf Grund dieser Inschriften die Verhältnisse im südmesopotamischen Lagaä; vgl. etwa H. M. ^BAKOHOB, OSmecTBeHHbiit H rocyflapcTBeHHHü cxpoft RpeBHero flBypenbH, IIIyMep. MocKBa 1959. Tontafelarchive fanden sich an mehreren Orten Mittel- und Südmesopotamiens wie Ur, Suruppak, Umma, Lagaä, Nippur, Kiä und Adab.
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werden dürfen. Zu dieser Quellengruppe können auch die sumerischen literarischen Überlieferungen wie Mythen, Epen und Götterlieder gerechnet werden, die uns zwar erst in einer späteren Niederschrift vorliegen, deren Entstehung jedoch bis in die hier zu behandelnde Zeit zurückverlegt werden kann. 1 Die Verwertbarkeit der Textzeugnisse für das Problem der Staatsentwicklung wird jedoch nicht nur durch chronologische Schwierigkeiten eingeschränkt, sondern auch dadurch, daß Darstellungsweise und Terminologie dieser Quellen mit einer oft nicht nur schwer verständlichen, sondern auch nicht immer klar erfaßbaren Weltbetrachtung verbunden sind. Ihre Übertragung in unsere eigenen Kategorien und ihre Nutzbarmachung für moderne Fragestellungen sind daher oft sehr kompliziert, und es erscheint Zurückhaltung geboten, um nicht zu voreiligen Schlußfolgerungen zu gelangen.2 c) Das ethnologische Vergleichsmaterial. Ausgehend von den Gesetzmäßigkeiten in der gesellschaftlichen Entwicklung sowie davon, daß sich diese Gesetzmäßigkeiten zeitlich oft sehr unterschiedlich durchsetzen, können sozialökonomische Prozesse aus rezenterer Zeit als Analogien dienen und bei der Interpretation primären Quellenmaterials herangezogen werden. Zu berücksichtigen sind dabei jedoch Unterschiede in den Faktoren, die die miteinander verglichenen Vorgänge bestimmten, wie etwa in den ökologischen Bedingungen, in der Entwicklung der Produktivkräfte, im Grad der Beeinflussung durch höherentwickelte Gesellschaften usw. Dieses ethnologische Material kann demnach unter bestimmten Bedingungen zum besseren Verständnis von Vorgängen beitragen, die sich in weit zurückliegenden Perioden vollzogen, vermag die Primärquellen jedoch nicht zu ersetzen. Dieser knappe Überblick dürfte bereits erkennen lassen, daß das zur Verfügung stehende Material nicht ausreicht, um den Prozeß der Staatsentstehung in Mesopotamien in seinen einzelnen Etappen und allen Aspekten fundiert darzustellen. Im folgenden sollen daher nur einige Erwägungen angestellt werden, bei denen im gegebenen Rahmen ohnehin auf die Darstellung von Details verzichtet werden muß. Unter den Voraussetzungen für die Herausbildung des Staates wäre zunächst die Erzeugung eines kontinuierlichen und höheren Mehrprodukts zu nennen. Dabei kommt einem Prozeß besondere Bedeutung zu, der in der wissenschaftlichen Literatur oft als „neolithische Revolution" bezeichnet wird. 3 Es handelt 1
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Diese literarischen Texte bilden die wesentliche Grundlage für die eingangs erwähnte Arbeit von Th. Jacobson (s. S. 37 Anm. 2). Auch hier sollte das Prinzip gelten, alles in seinem Zusammenhang und nicht isoliert zu betrachten; die willkürliche Auswahl von einzelnen Textzeugnissen kann kaum als Stütze einer These dienen. Es handelt sich um einen Vorgang, der in seinem Ergebnis zu einer durchgreifenden Veränderung der menschlichen Gesellschaft führte, nicht aber eine Revolution im Sinne einer plötzlichen und gewaltsamen Umgestaltung darstellte. Eine Untersuchung der Problematik auf der Grundlage der jüngsten archäologischen Entdeckungen s. bei B. M. MaccoH,
Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien
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sich dabei um den Übergang von der Aneignung fertiger Naturprodukte durch Sammeln, Jagen und Fischfang zur eigentlichen Nahrungsproduktion durch Ackerbau und Viehzucht. Dieser Prozeß hat sich in Vorderasien bereits sehr früh vollzogen und ist auf Grund eines ständig anwachsenden archäologischen Materials etwa seit dem 9. Jahrtausend zu verfolgen.1 Was Mesopotamien betrifft, so entstanden die frühesten Ackerbauersiedlungen in seinem östlichen Randgebiet, in den Gebirgen und deren Vorland, wo ein ausreichendes jährliches Niederschlagsmittel Regenfeldbau gestattete. Dem Übergang zur landwirtschaftlichen Produktion kamen in Vorderasien auch insofern günstige Umweltbedingungen entgegen, als hier eine Kombination von domestizierbaren Tieren und kultivier baren Pflanzen vorhanden war; die natürliche Selektion wurde offenbar durch eine bewußte Selektion seitens der Menschen gefördert.2 Die Entdeckung von Getreideresten in Sanidar im nördlichen Iraq, die nach C14Untersuchungen wohl dem 9. Jahrtausend zugehören, weist auf die Nutzung von Wildgetreide.3 In Karim Sahir fanden sich in einer Freilandsiedlung Mahlsteine, sichelartige Steinklingen, Beile und andere Feuersteinartefakte.4 Hausgrundrisse fehlen noch; wahrscheinlich kann ohnehin noch nicht mit einer ständigen Seßhaftigkeit gerechnet werden. Siedlungsplätze wie Garmo östlich von Kerkük, dann auch Hassüna südlich von Mösul zeigen dagegen bereits Grundrisse von Lehmhäusern mit mehreren Räumen, und die Dicke der Siedlungsschichten und ihre große Zahl könnten darauf deuten, daß diese Plätze längere Zeit hindurch immer wieder oder sogar ständig bewohnt wurden.5 Angebaut wurden Emmer und zweizeilige Gerste, und die Funde von Knochen verschiedener Tiere — darunter von Schafen, Ziegen und Schweinen — verweisen auf Viehzucht. In Hassüna, das im Gegensatz zu Garmo bereits eine bemalte Keramik kannte, wurde das geerntete Getreide in gerillten Tonplatten ausgehülst, in Zisternen gelagert, mit Basaltsteinen zerrieben und dann verbacken. In hölzerne Sicheln wurden Mikrolithen eingesetzt, und vielleicht existierte bereits eine Vorform des Pfluges, wie die Ausgräber aus schaufeiförmig gearbeiteten Feuersteinen schließen möchten. In Teil es-Sawwan bei Sämarrä (6. Jahrtausend) wurden nicht nur die Überreste von Weizen, sondern Bonpocw HCTOpHH 6 (1970), 73ff.— Einige Fragen der prähistorischen Entwicklung Vorderaeiens konnte ich mit Dr. S. Fröhlich diskutieren, dem dafür an dieser Stelle gedankt sei. 1 Vgl. vor allem R. M. Adams, The Evolution of Urban Society. Chicago 1965, sowie J. Mellaart, The Earliest Settlements in Western Asia, from the 9th to the End of the 6th Millenium B. C. Cambridge 1967; s. ferner den Überblick bei A. Falkenstein, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 22 ff. sowie B. Brentjes, Von Schanidar bis Akkad. Leipzig-JenaBerlin 1968. 2 Zu den Kulturpflanzen s. jetzt I\ H. JIucHquHa, CoBeTCKafl apxeoJiorHH 3/1970, 53ff. 3 Zu Sanidar s. R. S. Solecki, Sumer 8 (1952), 127ff.; ders., Sumer 9 (1953), 60ff.; ders., Sumer 14 (1958), 104ff.; ferner Sumer 17 (1961), 124f. 4 R. J. Braidwood, Sumer 7(1951), 99ff.; R. J. Braidwood-B. Howe, Prehistoric Investigations in Iraqi Kurdistan. Chicago 1960. * Vgl. S. Lloyd - F. Safar, Journal of Near Eastera Studie« 4 (1945), 255ff.
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auch von Rindern entdeckt, und hier, im Flußtal des mittleren Tigris, scheint es sogar schon Ansätze einer primitiven künstlichen Bewässerung gegeben zu haben.1 In dieser Zeit, die auch an einer Reihe weiterer Plätze dokumentiert ist, tauchen die ersten Stempelsiegel auf, die zur Kennzeichnung von Gruppen- oder persönlichem Eigentum dienten.2 Diese frühe Entwicklungsstufe der mesopotamischen Gesellschaft, die hier nur knapp hinsichtlich eines Wachstums der Produktivkräfte sowie des Übergangs von der schweifenden zur ortsgebundenen Lebensweise skizziert worden ist, beruhte im wesentlichen auf einer kombinierten Ackerbau-Viehzuchtwirtschaft. Die Viehzucht bildete eine notwendige Ergänzung zum Ackerbau, der wegen des möglicherweise ausbleibenden Regens allerdings noch keine zuverlässige ökonomische Basis zu bilden vermochte. Im Viehzüchternomadentum wurde dieser Wirtschaftszweig die eigentliche Grundlage, doch ist die erste gesellschaftliche Arbeitsteilung, die zwischen Ackerbau und Viehzucht, offenbar nicht sofort und mit der Konsequenz vollzogen worden, daß sich ein reines Hirtennomadentum ausgesondert hätte. Es handelte sich vielmehr um das Dominieren der Viehzucht bei Fortbestehen eines wenigstens periodischen Bodenbaus. Das vollnomadische Beduinentum ist erst das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses, nicht sein Ausgangspunkt. Durch die mit dem Weidewechsel verbundene Viehzucht vermochten der Produktion Bereiche erschlossen zu werden, die dem Ackerbau unzugänglich waren. Die Weidegebiete wurden in die Erzeugung des Mehrprodukts einbezogen, zugleich aber gewiß neue Bereiche entdeckt, in denen Ackerbau getrieben werden konnte. Die Viehzucht bot zudem die erste Möglichkeit einer Schatz- und Eigentumsbildung, der Entstehung eines individuellen Eigentums an Herdentieren bei Gemeineigentum an Weide und Wasser. Ohne den Kontakt mit dem seßhaften Bodenbau zu verlieren, durchlief das Viehzüchtertum in der Folgezeit eine langsamere Entwicklung als die seßhafte Landwirtschaft der Dorfgemeinden. Die begrenzten Möglichkeiten zu einer erweiterten Reproduktion und die durch das Nomadenleben im Steppengebiet oder Buschland festere gentile Struktur verhinderten trotz einer sozialen Differenzierung den Übergang zum Staat. Dieser erfolgte nicht allein später als bei den Seßhaften, sondern auch nur in enget Verbindung mit ihnen. Für die Frage nach der Entstehung des Staates im frühen Mesopotamien ist der Viehzüchternomadismus daher von untergeordneter Bedeutung.3 Die Weiterentwicklung der kombinierten Ackerbau-Viehzuchtwirtschaft in Mesopotamien über das von Garmo und Hassüna repräsentierte erste Stadium « F. El Wailly, Sumer 19 (1963), lff.; F. El Wailly — B. Abu es-Soof, Sumer 21 (1965), 17ff.; G. Wahida, Sumer 23 (1967), 167ff.; B. Abu al-Soof, Sumer 24 (1968), 3ff. 2 Vgl. B. Abu al-Soof, Sumer 24 (1968), 14, Taf. XIV 3, ferner E. Porada, in: R. W. Ehrich, Chronologies in Old World Archaeology-Chicago 1966, 140ff. 3 Zur Entstehung des Nomaden-und Beduinentums in Vorderasien vgl. zuletzt (mit Lit.) J . Henninger, Über Lebensraum und Lebensform der Frühsemiten. Köln-Opladen 1968, sowie H. Klengel, Zwischen Zelt und Palast. Die Begegnung von Seßhaften und Nomaden im alten Vorderasien. Leipzig 1972.
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hinaus läßt sich anhand einer ganzen Reihe von Fundplätzen verfolgen. Sie werden gewöhnlich der Kultur von Sämarrä am mittleren Tigris oder von Teil Halaf im Zuflußgebiet des Habür zugewiesen. 1 Angebaut wurden vor allem Weizen, Gerste und Flachs, gehalten wurden Schafe, Ziegen und auch die anspruchsvolleren Rinder. Die Ackerbauern erschlossen sich zu dieser Zeit immer weitere Räume Mesopotamiens. Dabei wurden allmählich auch jene Gebiete mit einbezogen, deren agrarische Nutzung die Fähigkeit des Menschen voraussetzte, das Land durch Anlegung von Kanälen zu ent- und bewässern. Insbesondere wurden nunmehr die unterhalb der 200-Millimeter-Isohyete gelegenen Sumpfgebiete und Trockenböden des südlichen Mesopotamien der Landwirtschaft erschlossen. In den Regenfeldbaugebieten war das Mehrprodukt noch begrenzt und von einer ganzen Reihe natürlicher Faktoren abhängig, vor allem von Schwankungen in der Intensität und im Rhythmus der Niederschläge. Das Problem des Überlebens wurde hier gegebenenfalls durch einen Ortswechsel oder den Wechsel des dominierenden Wirtschaftszweiges gelöst. Diese Ausweichmöglichkeit dürfte sich negativ auf das Wachstumstempo der Produktivkräfte ausgewirkt haben. Die Verlagerung des Zentrums der historischen Progression aus den Regenfeldbaugebieten in den Irrigationsbereich, wie sie sich im archäologischen Befund ab etwa 5000 abzeichnet 2 , führte dagegen zu einer starken Beschleunigung sowohl der ökonomischen als auch gesellschaftlichen Entwicklung. Die Ausgrabungen an nordmesopotamischen Ruinenplätzen wie Teil Halaf, Teil Arpatsije sowie vor allem Tepe Gawra3 haben erkennen lassen, daß sich hier der sozialökonomische Fortschritt zwar in gleicher Richtung vollzog, jedoch etwas langsamer als im Irrigationsbereich. Im Zusammenhang mit dem Bewässerungsbodenbau führten Intensität, Kollektivität' und Kontinuität der Arbeit zu einem wesentlich höheren Mehrprodukt. Die dabei geforderte Kommandogewalt, die diese Arbeiten leitete und koordinierte, wurde anfangs noch von den Institutionen der einzelnen Gemeinwesen ausgeübt. 4 Die Weiterentwicklung der Produktivkräfte dürfte in erster Linie im Fortschritt der Erfahrungen des Menschen sowie der Irrigationstechnik zu suchen sein. Forschungen in dem erst später als das südliche Mesopotamien in die Bewässerungslandwirtschaft einbezogenen Dijäla-Gebiet östlich von Baghdäd haben gezeigt, 1
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Vgl. vor allem E. Herzfeld, Die Ausgrabungen von Samarra V. Berlin 1930; H. Schmidt, Teil Qalaf I. Berlin 1943. Vgl. jetzt dazu die Übersichten bei R. M. Adams, The Evolution of Urban Society. Chicago 1965, sowie M. E. L. Mallowan, The Development of Cities from al-'Ubaid to the End of Uruk 5. Cambridge 1967. Zur Bedeutung der Irrigation für die Steigerung der Erträge — die Gerste mutierte zu 6zeiliger Form — s. H. Helbaek, Iraq 22 (1960), 186 ff. M. E. L. Mallowan - J. G. Rose, Iraq 2 (1935), lff. (Arpatäije); E. A. Speiser, Excavations at Tepe Gawra I. Philadelphia 1935; A. J. Tobler, Excavations at Tepe Gawra II. Philadelphia-London 1935. Damit soll betont werden, daß die Notwendigkeit einer Kooperation in der Bewässerungswirtschaft nicht a priori eine Staatsgewalt erforderte. Die Äußerung von Marx in seiner Arbeit über die britische Herrschaft in Indien: „Die unbedingte Notwendigkeit einer
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daß man hier zunächst weitgehend natürliche Wasserläufe nutzte, dann aber immer länger werdende Kanäle abzweigte.1 Zudem kann angenommen werden, daß der Pflug, der durch Piktogramme erst für das Ende des 4. Jahrtausends sicher nachgewiesen ist, ein wesentlich höheres Alter hat.2 Diese Bedingungen begünstigten die Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates. Sie waren die Ursache dafür, daß der Staat zuerst im Bewässerungsfeldbaugebiet und erst später in den übrigen Bereichen Mesopotamiens entstand. Wir können uns daher im folgenden auf dieses Gebiet konzentrieren.3 Die Erschließung des südlichen Mesopotamien für den seßhaften Ackerbau wird archäologisch vor allem in den Kulturen von Eridu und el-Obed faßbar, die an einer Reihe von Plätzen durch lange Schichtenfolgen eine dauerhafte Besiedlung erkennen lassen.4 Voraussetzung war einerseits ein höheres Maß an Naturbeherrschung, zum anderen aber wohl eine steigende Bevölkerungszahl, die die zwar effektive, jedoch arbeitsaufwendige Kultivierung der Sumpf- oder Trockenböden Südmesopotamiens notwendig machte. Es entstanden lokale Bewässerungssysteme, die sich an Wasserläufen aufreihten und jeweils mehrere Ansiedlungen (Dorfgemeinden?) einbezogen.5 Zentren solcher Irrigationssysteme6 waren städtische Siedlungen, wie sie teils durch Ausgrabungen untersucht, teils durch siedlungsgeographische Erkundungen festgestellt worden sind.7 Das Anwachsen sowohl der Zahl als auch der Größe dieser Städte im sparsamen und gemeinschaftlichen Verwendung des Wassens, die im Okzident, z. B. in Flandern und Italien, zu freiwilligem Zusammenschluß privater Unternehmungen führte, machte im Orient, wo die Zivilisation zu niedrig und die territoriale Ausdehnung zu groß war, um freiwillige Verbände ins Leben zu rufen, das Eingreifen einer zentralisierenden Staatsgewalt erforderlich" (Marx-Engels, Werke Bd. 9, Berlin 1960, 129) trifft voll auf die spätere Entwicklung auch Mesopotamiens zu, bezieht sich aber deutlich nicht auf kleine lokale Bewässerungssysteme. 1 R. M. Adams, Land Behind Baghdad. Chicago-London 1965, 33—45. 2 Zum Pflug s. zuletzt A. Salonen, Agricultura Mesopotamica. Helsinki 1968, 37—107. 3 Um Mißverständnisse auszuschließen, sei darauf hingewiesen, daß hier nicht davon aust gegangen wird, daß nur die Bewässerungswirtschaft zur Entstehung des Staates führte, sondern daß sie vielmehr die Ursache dafür war, daß sich der gesellschaftliche Differenzierungsprozeß beschleunigte und früher als im ßegenfeldbaugebiet zum Staat führte. Es wurde damit auch nicht ausgeschlossen, daß andernorts bestimmte natürliche Bedingungen gleichfalls die Staatsentstehung begünstigten. « Vgl. etwa N. al-Asil - S . L l o y d - F . Safar, Sumer 3 (1947), 84 ff!; S. Lloyd - F.Safar, Sumer 4 (1948), 115ff.; F. Safar, Sumer 5 (1949), 159ff. (Eridu); H. R. Hall - C. L. Woolley, Ur Excavations I : AI - 'Ubaid. Oxford 1927; C. L. Woolley, The Antiquaries Journal 4 (1924), 329ff. (el-Obed). Vgl. S. Lloyd, Iraq 22 (1960), 23ff. sowie J . Oates, Iraq 22 (1960), 32 ff. 5 Vgl. die Untersuchung des Dljäla-Gebietes, s. R. M. Adams, Land Behind Baghdad. Chicago-London 1965, Karten. 6 Die Untersuchungen im Dljäla-Gebiet (s. Anm. 5) haben gezeigt, daß diese „Zentren" nicht notwendigerweise auch geographisch im Zentrum liegen mußten. 1 Vgl. jetzt vor allem R. M. Adams — H. J . Nissen, The Uruk Countryside. Chicago 1972.
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südlichen Mesopotamien hat dem Zeitraum von etwa 5000 bis etwa 3000 die Bezeichnung einer Periode der „städtischen Revolution" (V. G. Childe) eingetragen oder besser: der Evolution städtischer Zentren, der Urbanisation. 1 Als Beispiel für das Größenwachstum dieser Siedlungen kann die Ortschaft an der Stelle des Teil TJqair, die mit etwa 7 Hektar die bislang größte bekannte Siedlung der Obed-Zeit darstellt, mit dem frühdynastischen Uruk verglichen werden, das 435 Hektar umfaßte. 2 Für die Entstehung des Staates hat die Urbanisation als solche nur eine sekundäre Bedeutung besessen. Wesentlich war die soziale Differenzierung in der Gesamtgesellschaft, die unter den neuen Bedingungen, der Erzielung eines höheren Mehrproduktes, rasche Fortschritte machte. Aber es wäre unrichtig, die Bolle der Stadt bei der Herausbildung der Klassengesellschaft und des Staates in Mesopotamien gering einzuschätzen. Die Stadt wurde nicht nur Träger der kulturellen Entwicklung, sondern auch Zentrum der Akkumulation und Distribution, Vermittler zwischen den einzelnen Produzentenkollektiven, Stätte der Spezialisierung und ökonomischen Verselbständigung von Handwerk und Handel. In den Städten dürften ferner die gentilen Bindungen gegenüber denen des Zusammenwohnens oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht rascher zurückgetreten sein als in den dörflichen Gemeinden. In Verbindung mit dem Kultzentrum entstanden Großwirtschaften, die in der Lage waren, neu entwickelte Gerätschaften — wie etwa den Pflug oder Werkzeuge aus Metall — sowie Erkenntnisse in der Bewässerungstechnik in der Praxis einzusetzen. Schließlich war in der Stadt auch jene Schicht konzentriert, die wir als die „Gebildeten" dieser Zeit ansprechen können und die durch ihre Leitung und Lenkung des Gemeinwesens ebenfalls produktiv waren. Importe wie Silex aus Arabien, Obsidian aus Armenien oder Anatolien, Asphalt aus Hit oder Kerkük sind in den zur Obed-Kultur gehörenden städtischen Siedlungen ausgegraben worden, und man geht wohl nicht fehl, die Anwendung dieser Materialien in erster Linie auf die Städte zu beschränken. Daß der Handel den Persischen Golf mit einbezog, kann aus dem Fund eines Segelbootmodells aus Ton in Eridu geschlossen werden, das ein seetüchtiges Fahrzeug darstellt. 3 Der archäologische Befund der auf die Obed-Zeit folgenden Uruk-Periode, benannt nach dem südmesopotamischen Uruk/Warka, in dem die Forschungen 1
Der Urbanisation war im Jahre 1958 in Chicago ein Symposium des Oriental Institute gewidmet, s. C. H. Kraeling — R. M. Adams (Ed.), City Invincible. Chicago 1960. Als Kennzeichen einer „Stadt" gegenüber einem „Dorf" usw. kann nicht die Ummauerung, das Vorhandensein eines Marktes oder die Größe dienen, sondern der Umstand, daß diese Siedlung das Zentrum für eine Reihe weiterer Siedlungen darstellte. Diese Stellung als Zentrum, gewöhnlich verbunden mit einem gemeinsamen Kultplatz bzw. Tempel, bedingte dann wiederum ein Wachstum der Siedlung sowie auch meist die Existenz eines Marktes. * Vgl. A. Falkenstein, Cahiers d'Histoire Mondiale I 4 (1954), 787. Zu Teil Uqair s. S. Lloyd - F. Safar, Journal of Near Eastern Studies 2 (1943), 131 ff. 3 Vgl. A. Falkenstein, Cahiers d'Histoire Mondiale 14 (1954), 787 sowie S. Lloyd-F. Safar, Sumer 4 (1948), 118 pl. V.
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nicht nur ein besonders umfangreiches, sondern auch stratigraphisch gut abgegrenztes Material aus den Schichten VI—IV erbracht haben, führt bereits in das ausgehende 4. Jahrtausend. 1 Die Tongefäße dieser Zeit sind großenteils auf der Scheibe gedreht, die Bauten wuchsen zu monumentalen Formen, und das gesteigerte und komplizierter gewordene Wirtschaftsleben machte eine Schrift erforderlich, deren bislang früheste Beispiele in Uruk IV a entdeckt wurden. Neben Ton und Rohr begann Kupfer eine immer größere Rolle als Rohstoff zu spielen. Aus der nachfolgenden sogenannten „frühdynastischen Zeit" (bis etwa 2350) ist das archäologische Material, das an den verschiedenen Plätzen Mesopotamiens ergraben wurde und für eine Beurteilung des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte und der materiellen Kultur herangezogen werden kann, so umfangreich, daß in diesem Rahmen eine Darstellung kaum möglich und sinnvoll wäre. Hervorzuheben sind die Entwicklung der Metalltechnik, das Wachstum der Tempel und das erste Auftreten von Anlagen, die wir als Paläste ansprechen dürfen, ferner die Ummauerung der städtischen Zentren.2 Es sind das Befunde, zu deren Verständnis man die Entwicklung berücksichtigen muß, die sich im politischen Bereich vollzogen hat. Die Herausbildung einer gegenüber der Gesellschaft verselbständigten politischen Gewalt erfolgte während der zerfallenden Urgesellschaft notwendigerweise in Auseinandersetzung mit den gentilen Traditionen und Institutionen. Dieser Prozeß begann zunächst in den einzelnen Gemeinwesen und erhielt dann bei dem mehr oder weniger gewaltsamen Zusammenschluß mehrerer Gemeinwesten eine neue Qualität. F. Engels hat im „Antidühring" diesen Vorgang wie folgt dargestellt: „In jedem solchen Gemeinwesen bestehen von Anfang an gewisse gemeinsame Interessen, deren Wahrung einzelnen, wenn auch unter Aufsicht der Gesamtheit, übertragen werden muß: Entscheidungen von Streitigkeiten, Repression von Übergriffen einzelner über ihre Berechtigung hinaus, Aufsicht über Gewässer, besonders in den heißen Ländern, endlich . . . religiöse Funktionen. Sie sind selbstredend mit einer gewissen Machtvollkommenheit ausgerüstet und die Anfänge der Staatsgewalt. Allmählich steigern sich die Produktivkräfte; die dichtere Bevölkerung schafft hier gemeinsame, dort widerstreitende Interessen zwischen den einzelnen Gemeinwesen, deren Gruppierung zu größeren Ganzen wiederum eine neue Arbeitsteilung, die Schaffung von Organen zur Wahrung der gemeinsamen, zur Abwehr der widerstreitenden Interessen hervorruft. Diese Organe, die schon als Vertreter der gemeinsamen Interessen der ganzen Gruppe jedem einzelnen Gemeinwesen gegenüber eine besondere, unter Umständen sogar gegensätzliche Stellung haben, verselb1
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Vgl. die vorläufigen Berichte von J. Jordan, A. Nöldeke, E. Heinrich und H. J. Lenzen über die Ausgrabungen in Uruk-Warka, Bd. Iff. Ein guter Überblick findet sich bei M. E. L. Mallowan, The Early Dynastie Period. Cambridge 1968. Zur historischen Entwicklung vgl. C. J. Gadd, The Cities of Babylonia. Cambridge 1964, sowie D. O. Edzard, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 57-90.
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ständigen sich bald noch mehr, teils durch die in einer Welt, wo alles naturwüchsig hergeht, fast selbstverständlich eintretende Erblichkeit der Amtsführung, teils durch ihre mit der Vermehrung der Konflikte mit anderen Gruppen wachsende Unentbehrlichkeit. Wie diese Verselbständigung der gesellschaftlichen Funktion gegenüber der Gesellschaft mit der Zeit sich bis zur Herrschaft über die Gesellschaft steigern konnte . . ., wieweit sie sich bei dieser Verwandlung schließlich auch der Gewalt bediente, wie endlich die einzelnen herrschenden Personen sich zur herrschenden Klasse zusammenfügten, darauf brauchen wir hier nicht einzugehen. Es kommt hier nur darauf an, festzustellen, daß der politischen Herrschaft überall eine gesellschaftliche Amtstätigkeit zugrunde lag, und die politische Herrschaft hat auch dann nur auf die Dauer bestanden, wenn sie diese ihre gesellschaftliche Amtstätigkeit vollzog."1 Diese Gesetzmäßigkeit in der gesellschaftlichen Entwicklung beim Übergang zur Klassengesellschaft und zum Staat, wie sie hier von F. Engels klar formuliert worden ist, kann auch für das frühe Mesopotamien übernommen werden, von dem man zu der Zeit, in der Engels die zitierten Zeilen niederschrieb (1877), noch so gut wie nichts wußte. Daß das zur Verfügung stehende Quellenmaterial auch heute noch nicht gestattet, diesen Prozeß lückenlos und beweiskräftig zu belegen, wurde bereits eingangs betont. Die Resultate der Untersuchungen, die Th. Jacobsen im wesentlichen auf Grund der literarischen Überlieferung vornahm2, stehen zu dieser Verallgemeinerung eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses jedenfalls nicht in Widerspruch. Im folgenden soll versucht werden, einige Erwägungen zu bestimmten Aspekten dieses Prozesses anzustellen. Was die „Verfassung" der frühen Gemeinwesen Mesopotamiens betrifft, so kann sie auf Grund ihrer Widerspiegelung in der sumerischen Mythologie sowie des Fortlebens einiger ihrer Bestandteile in historischer Zeit etwa wie folgt skizziert werden: Es existierte eine „Versammlung", bestehend aus den freien männlichen (waffenfähigen, d. h. erwachsenen) Gemeindemitgliedern. Diese Versammlung hatte zunächst real, später wenigstens formell die höchste Gewalt inne, konnte diese aber auch — besonders in Notsituationen und bei kriegerischen Unternehmungen — an eine Einzelperson delegieren. Die Versammlung entschied über Krieg und Frieden und alle Angelegenheiten von Bedeutung. Sie repräsentierte die Gemeinschaft, ohne die der einzelne nicht existieren konnte. Ein Rat der „Ältesten", wie er im inschriftlichen Material historischer Zeit oft bezeugt ist 3 , spielte eine Rolle bei der Entscheidungsvorbereitung sowie als Leitung der Gemeindeangelegenheiten zwischen den Versammlungen. In letzterer Funktion wurde der Rat allmählich von einer Einzelperson zurückgedrängt, dem Anführer o. ä. Dieser wurde zunächst nur zeitweilig berufen, strebte aber danach, sein Amt erblich und permanent zu machen. Der Prozeß der Staatsentstehung ist eng mit der Konzentration politischer Gewalt in den 1 Marx-Engela, Werke Bd. 20, Berlin 1968, 166 f. Vgl. dazu auch 169 f. 2 Zeitschrift für Assyriologie, NF 18 (1957), 91 ff. 3 Vgl. H. Klengel; Orientalia NS 29 (1960), 357 ff.
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Händen dieses Anführers verbunden, die durch eine Reihe von Faktoren begünstigt wurde. Der wichtigste dieser Faktoren war die mit dem Wachstum der Produktivkräfte verbundene Steigerung der Arbeitserträge, die wiederum ein Anwachsen der Bevölkerungszahl herbeiführte. Es kam dadurch allmählich zu einem engeren Kontakt zwischen den einzelnen Gemeinwesen, wobei zu betonen ist, daß in Mesopotamien sowohl im Bereich des Bewässerungsfeldbaus als auch des Regenfeldbaus zunächst noch genügend Landreserve vorhanden war, die dem Ackerbau erschlossen werden konnte. Die wachsende Bevölkerungszahl führte daher nur nach einem längeren Prozeß der Ausdehnung der Gemeindeländereien zu verstärkten Reibungen mit den Nachbargemeinden; wir können einige dieser Auseinandersetzungen dann im Inschriftenmaterial der frühdynastischen Zeit erkennen.1 „Die Erde an sich — so sehr sie Hindernisse darbieten mag, um sie zu bearbeiten, sich wirklich anzueignen — bietet kein Hindernis dar, sich zu ihr als der unorganischen Natur des lebendigen Individuums, seiner Werkstätte, dem Arbeitsmittel, Arbeitsobjekt und Lebensmittel des Subjekts zu verhalten. Die Schwierigkeiten, die das Gemeinwesen trifft, können nur von anderen Gemeinwesen herrühren, die entweder den Grund und Boden schon okkupiert haben oder die Gemeinde in ihrer Okkupation beunruhigen. Der Krieg ist daher die große Gesamtaufgabe, die große gemeinschaftliche Arbeit, die erheischt ist, sei es um die objektiven Bedingungen des lebendigen Daseins zu okkupieren, sei es um die Okkupation derselben zu beschützen und zu verewigen."2 Die Leitung der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Nachbargemeinden wurde einem Anführer übertragen, der wohl einerseits dazu besonders befähigt war, andererseits — wenn wir hier eine Analogie zu rezenteren Beispielen zugrunde legen dürfen, die die Völkerkunde geliefert hat — einer angesehenen und wohlhabenden Familie entstammte.3 Es ist anzunehmen, wenn auch nicht zu beweisen, daß diesem militärischen Anführer größere Anteile aus der Beute zufielen. Der gewaltsame Zusammenschluß mehrerer Gemeinwesen oder Kooperationssysteme ermöglichte es dem Anführer, sich aus dem Verband einer Gemeinde zu lösen und als übergeordnete Instanz in dieser neuen Einheit eine permanente Funktion auszuüben. Die Entfremdung der politischen Gewalt gegenüber der Gemeinde, deren Beauftragung sie ihren Ursprung verdankte, wurde dadurch gefördert — auch wenn der Anführer Besitzer des Produktionsmittels Boden zunächst nur als Mitglied einer bestimmten Gemeinde war. Der äußere Widerspruch zu anderen Gemeinden oder- Stämmen war ein Faktor, der es dem militärischen Anführer erleichterte, aus einem auf Zeit gewählten Heerführer zu einem erblichen Herrscher zu werden. Das Hervor1
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Bekanntestes Beispiel sind die wiederholten Kämpfe zwischen Umma und Lagaä, s. dazu zuletzt C. J . Gadd, The Cities of Babylonia. Cambridge 1964, sowie D. 0 . Edzard, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 83f. K. Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen. Berlin 1952, 9. Vgl. auch Th. Jacobsen, Zeitschrift für Assyriologie, N F 18 (1957), lOOff. - Wenn dabei von Wohlhabenheit gesprochen wird, so impliziert das nicht a priori eine Durchbrechung des Gemeineigentums am Produktionsmittel Boden; vgl. dazu noch unten.
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treten der Anführer zeigt sich um etwa 3000 in den bildlichen Darstellungen auf Rollsiegeln1, und noch vor der Mitte des 3. Jahrtausends treten Herrscher mit eigenen Inschriften als früheste historische Persönlichkeiten auf. 2 Ihre eigenen Mittel sowie die Kriegsbeute ermöglichten es ihnen vielleicht, eine besondere Gefolgschaft zu halten. 3 ,Die Zunahme der kriegerischen Auseinandersetzungen spiegelt sich im archäologischen Befund des frühdynastischen Mesopotamien vor allem in der beginnenden Ummauerung der städtischen Zentren wider. Bekanntestes Beispiel dafür ist die große Stadtmauer von Uruk, deren Bau im Gilgames-Epos einen literarischen Widerhall gefunden hat. 4 Die Leitung der militärischen Unternehmungen war jedoch nur ein Moment r das die Herausbildung und vor allem die Verselbatändigung der politischen Gewalt begünstigte. Diese Seite allein vermag noch nicht zu erklären, warum es zur Überwindung des Stadiums der zerfallenden Urgesellschaft kam, das wir als „militärische Demokratie" bezeichnen können. 5 Die Leitung der Produktion des Lebensunterhaltes, wahrgenommen zunächst vom Ältestenrat allein, erforderte mit wachsender Ausdehnung und Effektivität der Produktion einen höheren Arbeitsaufwand. Das war insbesondere im mesopotamischen Süden mit seiner Bewässerungslandwirtschaft der Fall, wo die einzelnen Arbeitsphasen, vor allem die Zuführung des Wassers, eine kontinuierliche Koordinierung erforderten. Gegenüber der Leitung kriegerischer Aktionen war das ein ständiges Erfordernis ; mit der Vergrößerung der Kooperationseinheiten oder ihrem gewaltsamen Zusammenschluß mit anderen wuchs die Kompliziertheit der ökonomischen Aktivitäten und deren Organisation. Sie konnten kaum noch von dem Ältestenrat der einzelnen Gemeinwesen wahrgenommen werden, sondern forderten eine 1 Vgl. allgemein A. Falkenstein, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 42. Bislang älteste Original-Inschrift eines Herrschers Mesopotamiens ist die des Mebaragesi von Ki5, s. D. 0. Edzard, Zeitschrift für Assyriologie, NF 19 (1959), 9ff. (28./27. Jahrhundert). 3 Vgl. Th. Jacobsen, a. a. 0 . 4 Umwallungen gab es bereits bei neolithischen Zentren der Regenfeldbaugebiete wie f a t a l Hüyük in Anatolien, Ugarit/Räs Samrä in Nordsyrien, Jericho in Palästina sowie Teil es- Sawwan nahe Sämarrä am mittleren Tigris. Die Art der Befestigungen zeigt, daß sie nicht zum Schutz gegen wilde Tiere dienten, sondern gegen feindliche Menschengruppen. Für sich allein stellt die Umwallung bzw. Ummauerung einer Siedlung keinen Hinweis auf die Existenz einer staatlichen Autorität dar. 5 Der Begriff „militärische Demokratie" bedürfte hinsichtlich seiner Anwendung auf die mesopotamische Frühzeit noch einer genaueren Überprüfung und zeitlichen Abgrenzung. Er bezeichnet den Überbau der letzten Phase der zerfallenden Urgesellschaft und überdeckt sich etwa mit der von Th. Jacobsen dargestellten „primitiven Demokratie" sowie der von W. Sellnow (S. 19f.) charakterisierten „gentilpolitischen" Entwicklungsstufe, ohne daß eine völlige Gleichsetzung mit diesen Begriffen möglich ist. Wenn wir die Zeit der „militärischen Demokratie" bis zum voll ausgebildeten Staat, d. h. in Mesopotamien der Monarchie, hin ausdehnen (vgl. dazu auchl. M. Diakonoff, in: Ancient Mesopotamia, 185), würde dabei die von Th. Jacobsen beschriebene „primitive Monarchie" (a. a. 0., 112 ff.); mit eingeschlossen sein.
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Zentralisierung sowie einen mit dieser zentralen Institution verbundenen Apparat. Der erhöhte Arbeitsaufwand für die Leitungstätigkeit machte die Freistellung der damit von der Gemeinde beauftragten Personen von der unmittelbaren Produktion notwendig. Für diesen zusätzlichen Aufwand — wohl auch für die Repräsentanz der Gemeinde sowie die Gewährung des Asyl- und Gastrechts — konnte dem Leiter aus dem gesellschaftlichen Mehrprodukt ein besonderer Anteil zugewiesen werden. Diese Abgabe, die auch für die Durchführung größerer Vorhaben, wie etwa Kanalbauten, verwendet werden sollte und gewiß auch wurde, stellte kein Ausbeutungsverhältnis dar, sondern entsprach den Interessen der Gemeinschaft. Sie wurde erst im Laufe der weiteren Entwicklung in ein Ausbeutungsverhältnis umgeformt, wenn ein immer größerer Teil der höher werdenden Abgaben nicht in die gesellschaftliche Reproduktion floß, sondern der privaten Konsumtion oder Akkumulation des Leiters und der mit ihm verbundenen Personen zugeführt wurde. J e größer das Mehrprodukt war, desto lohnender wurde die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und um so mehr strebte die herrschende Schicht danach, die Verfügungsgewalt über dieses Mehrprodukt zu erhalten. Dabei entwickelte sich einerseits eine Ausbeutung seitens des Staates, andererseits eine Ausbeutung durch Einzelpersonen, die sich mittels eines ökonomischen Zwanges das von Abhängigen und Sklaven erarbeitete Mehrprodukt aneigneten. Es war das ein Prozeß, den wir aus den Quellen nur hinsichtlich seiner Ergebnisse, nicht aber seines Verlaufes kennen. Der Anführer und die — mit ihm teilweise verbundene — Aristokratie, die sich in den Gemeinden herausgebildet hatte, wurden in ihrem Bestreben, sich einen immer größeren Anteil am gesellschaftlichen Mehrprodukt zu sichern, durch das noch existierende Gemeineigentum gehindert. Da die Existenz dieses Gemeineigentums die Anwendung des ökonomischen Zwanges einschränkte, gewann die außerökonomische Gewalt bei der Erlangung dieses größeren Anteils am Mehrprodukt besondere Bedeutung. Die Entstehung des Staates in Mesopotamien, ein komplizierter und vielschichtiger Prozeß von längerer Dauer, wird nur verständlich, wenn die Entwicklung auf dem Gebiet der Ideologie berücksichtigt wird. Die Durchbrechung der gentilen Traditionen auch in diesem Bereich war eine Voraussetzung für die Entstehung der gegenüber der Gesellschaft verselbständigten politischen Gewalt und den Übergang zum Staat. Die Gleichberechtigung innerhalb einer Kultgemeinde mußte überwunden werden und eine Einzelperson oder Personengruppe sich als Repräsentant der Gemeinde im Kult und „erster Diener" der Götter etablieren. Diese Entwicklung läßt sich im Quellenmaterial des frühen Mesopotamien nicht genauer verfolgen. Königsinschriften sowie bildliche Darstellungen der frühdynastischen Zeit deuten auf den Anspruch des Herrschers, das von ihm regierte Gemeinwesen auch gegenüber der Gottheit zu repräsentieren und zugleich der zu sein, durch den sich der göttliche Wille offenbarte. Er vermochte dadurch seiner eigenen Befehlsgewalt den Anschein des Vollzugs göttlicher Weisungen zu geben und auch die Verfügung über jenen Teil des gesellschaftlicher? Mehrprodukts zu gewinnen, der den
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Göttern zum Opfer dargebracht wurde. Die entstandene Ordnung wurde als „heilig" nicht nur deklariert, sondern gewiß auch so verstanden, und Dienst am Herrscher war zugleich Dienst zum Wohl der Gemeinschaft. Der Umstand, daß in der Frühdynastisch-II- und -HI-Periode „Gefolgschaftsbestattungen" in Mesopotamien nachweisbar sind1, zeigt deutlich, daß es dem Anführer der vorstaatlichen Zeit gelungen war, auch auf religiösem Gebiet eine besondere Stellung zu okkupieren. Der archäologische Befund einschließlich der frühdynastischen Periode Mesopotamiens macht insbesondere das Wachstum der Tempel augenfällig.2 Sie zeugen einerseits von der Vergrößerung der Kultgemeinden und deren höherem Mehrprodukt und lassen außerdem eine einheitliche Planung und Leitung dieser für den Gott gedachten kollektiven Arbeitsleistung vermuten. Das bislang klarste Beispiel haben hier die Ausgrabungen im südmesopotamischen Eridu geliefert, die die Entwicklung des Tempels ab etwa 5000 über viele Schichten hinweg verfolgen lassen. Das von einem Doppelwall umgebene Tempeloval von JJafägl, das in frühdynastischer Zeit errichtet wurde, umschloß ein Areal von 8000 Quadratmetern; insgesamt mußten für die Anlage etwa 64000 m 3 Erde ausgehoben werden — eine Leistung, die nur durch das koordinierte Zusammenwirken vieler Arbeitskräfte möglich war. Der große Hof des Heiligtums konnte mit seinen 56 x 38 m zahlreiche Gläubige aufnehmen, während das Allerheiligste nur wenigen Personen Platz gewährte.3 Das kann zusammen mit den inschriftlichen Nachrichten aus frühdynastischer Zeit sowie auch bildlichen Darstellungen als ein Hinweis darauf gewertet werden, daß die ursprüngliche Gleichheit innerhalb der kultischen Gemeinschaft zerbrochen war. Die Priesterschaft vermochte sich zu verselbständigen und ihre Position sowohl ideologisch als auch ökonomisch auszubauen. Ihr kam dabei zunutze, daß sie die „gebildete" Schicht dieser Zeit repräsentierte, deren Kenntnisse auch im Produktionsprozeß benötigt wurden. Die Entwicklung der Produktivkräfte und — damit verbunden — die kontinuierliche Erzeugung eines erhöhten Mehrproduktes, die beginnende Verselbständigung einer politischen Gewalt gegenüber der Gesellschaft sowie auch Veränderungen im religiös-kultischen Bereich, wie sie kurz skizziert wurden, waren Voraussetzungen für die endgültige Durchbrechung und Ablösung der urgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Dieser Prozeß vollzog sich in den einzelnen Bereichen Mesopotamiens zeitlich unterschiedlich und auch mit verschiedenen Ausprägungen, in denen jeweils der eine oder andere Aspekt stärker hervortrat. In den historisch progressivsten Gebieten, denen mit künstlicher 1
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Dazu überblicksweise zuletzt M. E . L. Mallowan, The Early Dynastie Period. Cambridge 1968, 42 f. Vgl. die Übersicht bei H. J . Lenzen, Zeitschrift für Assyriologie, NF 17 (1955), Iff. Vgl. P. Delougaz, The Temple Oval at Khafajah. Chicago 1940; M. E. L. Mallowan, The Early Dynastie Period. Cambridge 1968, 28f.
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Bewässerung, war er spätestens am Ende der frühdynastischen Zeit abgeschlossen, also etwa um die Mitte des 3. Jahrtausends; Relikte der urgesellschaftlichen Ordnung haben auch später noch fortbestanden und sogar durch die Zuwanderung von gentil organisierten Gruppen immer wieder eine Stützung erfahren. Der Staat entstand in dem Maße, in dem es die mit der Leitung der Produktion, der Kriege und des Kultes beauftragte Schicht vermochte, die objektiven Bedingungen und Möglichkeiten zu nutzen, sich in eine herrschende Klasse umzuwandeln und die zur Sicherung ihrer Herrschaft notwendigen Organe zu schaffen. Erst auf der Grundlage veränderter Eigentumsverhältnisse konnten sich die einzelnen Elemente des Staates zu einem System verbinden. Die Entstehung von Klassen — bestimmt jeweils durch ihren Platz in dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß und ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, vor allem dem Boden — sowie andererseits des Staates als gegenüber der Gesellschaft verselbständigte politische Gewalt und Machtinstrument der herrschenden Klasse ist als ein dialektisches Verhältnis aufzufassen, bei dem Fragen nach Prioritäten schwer zu beantworten sind. Das ursprüngliche Gemeineigentum, von dem wir auch bei einer Betrachtung der Eigentumsverhältnisse im frühen Vorderasien ausgehen dürfen, ist in einem langwährenden, sich jedoch beschleunigenden Prozeß zersetzt worden. Diese Entwicklung läßt sich in den Quellen, die aus Mesopotamien zur Verfügung stehen, erst in ihrer letzten Phase klarer erfassen, beim Übergang zur altorientalischen Klassengesellschaft. Vielleicht darf man annehmen, daß die Herausbildung eines Eigentumsverhältnisses gegenüber dem Herdenvieh auch auf die Beziehungen zum Boden als wichtigstem Mittel der Produktion nicht ohne Einfluß geblieben ist. 1 Die Nutzung bestimmter Bodenparzellen durch einzelne Gruppen der Gemeinschaft über einen längeren Zeitraum hin scheint zunächst zum individuellen Eigentum an Boden geführt zu haben; es wurde jedoch durch das noch existierende Gemeineigentum vermittelt und eingeschränkt. Die Veräußerlichkeit von Boden wurde damit nicht ausgeschlossen; gerade die ältesten bislang lesbaren mesopotamischen Schrifturkunden (1. Hälfte des 3. Jahrtausends) stellen Kaufverträge über Felder dar.2 Aus diesen Urkunden wird zugleich eine soziale Differenzierung deutlich, wie sie auf Grund des archäologischen Befundes sowie von Analogien aus den Verhältnissen bei Nomadenstämmen neuerer Zeit auch für die Perioden vor dem Einsetzen von Schriftquellen angenommen werden darf.3 Die ungleichmäßige Verteilung des gesell« 1
Es ist wohl kein Zufall, daß in den frühen Urkunden Eigentumsrechte an Boden eher für das enger mit der (Nomaden-)Viehzucht verbundene mittlere als für das südliche Mesopotamien nachweisbar werden. 2 D. 0 . Edzard, Sumerische Rechtsurkunden des III. Jahrtausends. München 1968, 167-198. 3 Für den archäologischen Befund mit seinen Unterschieden in Hausbau und Grabausstattung vgl. den Überblick bei M. E. L. Mallowan, The Development of Cities. Cambridge 1967, sowie ders., The Early Dynastie Period. Cambridge 1968. Für die Situation bei Beduinenstämmen im Übergang zur Seßhaftigkeit vgl. zuletzt L. Stein, Die Sammar-
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schaftlieh produzierten Mehrproduktes an die einzelnen Mitglieder der Gemeinwesen, die mit Leitungsfunktionen betraut waren, wirkte ihrerseits wieder auf die Eigentumsverhältnisse an Boden zurück. Es bildete sich ein Sondereigentum des Anführers und der Aristokratie heraus, offenbar einerseits durch Inanspruchnahme der Landreserve der Gemeinde, andererseits durch besondere Landzuweisungen aus dem bereits agrarisch genutzen Land.1 Diese Felder kamen zu jenen hinzu, die die einzelnen Familien bereits als Mitglieder der Gemeinde besaßen. Wie die altsumerischen Urkunden bezeugen, vermochten Wohlhabende, darunter auch der Herrscher selbst, ihren Landbesitz durch Feldkäufe zu erweitern.2 So trat allmählich ein mit der werdenden Staatsgewalt verbundenes Eigentum dem Gemeineigentum gegenüber, das in sich selbst aber bereits nicht mehr einheitlich war, sondern sich zu einem immer größer werdenden Teil aus dem Eigentum von kleinen Produzenten zusammensetzte. Für die Bearbeitung dieses Eigentums des Anführers und der Aristokratie reichten die in den eigenen Familien oder Sippen verfügbaren Arbeitskräfte nicht mehr aus. Da andererseits, soweit wir sehen können, Sklaven zwar schon existierten, jedoch noch nicht in größerem Umfang in der unmittelbaren landwirtschaftlichen Produktion eingesetzt wurden,3 mußte die sich herausbildende herrschende Klasse versuchen, Arbeitskräfte durch ökonomischen oder aber außerökonomischen Zwang zu gewinnen. Auf die Rolle, die der außerökonomische Zwang bei der Vergrößerung des Anteils am Mehrprodukt spielte, ist bereits hingewiesen worden; hier müssen wir nun auf die Durchbrechung urgesellschaftlicher Traditionen in der Ideologie, d. h. der Religion, zurückkommen. Es wurde bereits erwähnt, daß der Anführer, der im folgenden als Herrscher bezeichnet werden soll und kann, auch Kompetenzen auf dem religiös-kultischen Gebiet für sich in Anspruch nahm. Als Vertreter des Gemeinwesens gegenüber der Gottheit einerseits und Stellvertreter der Gottheit gegenüber der Gemeinde andererseits repräsentierte er in seiner Person die Gemeinschaft. Er wurde die „zusammenfassende Einheit", die „als der höhere Eigentümer oder als der einzige Eigentümer erscheint, die wirklichen Gemeinden daher nur als erbliche Besitzer." 4 Diese Rolle des Herrschers als „höhere Einheit" ermöglichte die VerÖerba. Berlin 1967,127—186. — A. A. BattiuaH in: nepeflHea3iiaTCKHÖ cßopHHK II. MocKBa 1966, 9f., möchte eine ungleichmäßige Verteilung von Boden auch den piktographischen Urkunden des frühen 3. Jahrtausends entnehmen. Zum Inhalt der Urkunden aus früh-. dynastischer Zeit vgl. den Überblick bei D. O. Edzard, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 78 ff. 1 2
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So H. M. JJbHKOHOB, BecTHHK APEBHEIT HCTOPHH 4/1968, 3ff. D. 0 . Edzard, a. a. 0 . Neben Feldkäufen handelt es sich in den hier interessierenden Urkunden aus frühdynastischer Zeit vor allem um Hauskäufe. Sklaven waren anfangs wohl ausschließlich fremdstämmige Gefangene. Sie werden in den Keilschrifttexten durch die Kombination der Zeichen „Fremdland" und „Mann" bzw. „Frau" bezeichnet. Zur Darstellung von Gefangenen auf Siegeln aus Uruk IV s. H. J . Lenzen, Zeitschrift für Assyriologie, N F 15 (1950), 9, Abb. 4 u. 5. K . Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen. Berlin 1952, 7.
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fügung über einen größeren Teil des Mehrproduktes, der in Form von Abgaben eingezogen wurde. „Das Surplusprodukt — das übrigens legal bestimmt wird infolge der wirklichen Aneignung durch Arbeit — gehört damit von selbst dieser höchsten Einheit." 1 Sie wird ferner zur Legitimation der Heranziehung von Arbeitskräften nicht nur zu den gemeinsamen, „öifentlichen" Arbeiten gedient haben, sondern auch für die Bestellung von Feldern der sich ausdehnenden eigenen Wirtschaft des Tempels bzw. Herrschers.2 Das Königtum selbst war „vom Himmel herabgekommen", wie es in der sumerischen Königsliste heißt, die damit gewiß eine verbreitete Vorstellung widerspiegelt.3 Wie die Urkunden bereits aus der frühdynastischen Zeit bezeugen, bedeutet die Rolle des Herrschers als fiktiver Obereigentümer jedoch nicht, daß er das auch in der Realität war, d. h. daß er sich zum gesamten Grund und Boden seines Bereiches als wirklicher Eigentümer verhielt/* Das Tempel- bzw. Königsland machte vielmehr nur einen Teil des bewirtschafteten Bodens aus. Die zuvor skizzierte Entwicklung, die zur Herausbildung und Festigung einer vom König repräsentierten Staatsgewalt führte, ist nicht reibungslos verlaufen. Sie mußte sich vielmehr gegen den Widerstand durchsetzen, der ihr einerseits von den Dorfgemeinden und ihrer Aristokratie, andererseits in wachsendem Maße von der Priesterschaft der großen Tempel entgegengestellt wurde. In diesen Auseinandersetzungen wurde der Herrscher von mehreren Faktoren begünstigt: Einmal entsprach die von ihm angestrebte Zentralisierung der Gewalt und Kontrolle der Entwicklungstendenz der Produktivkräfte, insbesondere im Bereich des Bewässerungsbodenbaus. Sodann traten ihm die Dorfgemeinden und auch die Priesterschaft offenbar nicht geschlossen entgegen, sondern ein Teil ihrer Vertreter verbündete sich mit dem Herrscher, um ihre eigenen Sonderinteressen mit Hilfe der in den Händen des Königs bereits konzentrierten politischen Macht zu realisieren. Ferner vermochte der Herrscher seine Rolle als „höhere Einheit" auszunutzen, als Repräsentant der Gemeinschaft sowie als Anführer in den immer häufiger werdenden und größere Ausmaße annehmenden militärischen Auseinandersetzungen. Im Kampf gegen die alte Aristokratie, die mit der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung „demokratischer" Verhältnisse de facto reaktionäre Ziele verfolgte, dürfte sich der König 1
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Ebenda. Eine Rolle spielte bei der Durchsetzung des politischen Machtanspruchs des Herrschers auch die Vorstellung vom Hirten und seiner Herde, vgl. dazu I. Seibert, H i r t Herde—König. Berlin 1969, 2 - 6 . Die Verköstigung der Arbeitskräfte wurde seitens des Tempels übernommen; vgl. die Verpflegungsliste aus Uruk III bei A. Falkenstein, Archaische Texte aus Uruk. Leipzig 1936, 48. Th. Jacobsen, The Sumerian King List. Chicago 1939, Kol. I 1. So auch H. M. ^JBHKOHOB, BecTHHK HpeBHeit HCTopmi 4/1967, 22. Die schwierige Frage nach dem „Eigentum" im Altertum, vor allem im Alten Vorderen Orient, ist zuletzt von B. A. MeHaßfle, in: Bonpocw ApeBHeft MCTOPHM (KaBKaacKO-EjmwHeBoeroHHbiit cöopHHK III). T6HJIHCH 1970, 31 ff., diskutiert worden.
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mit den breiten Schichten der einfachen Bevölkerung verbündet haben. 1 Da diese alte Aristokratie sich im wesentlichen, was die Ausübung politischer Macht betraf, auf ihre Repräsentanz in den „demokratischen" Institutionen, vor allem dem Ältestenrat, gestützt haben dürfte, mußte der Herrscher versuchen, diesen Institutionen ihre Befugnisse zu nehmen bzw. sie auf unwesentliche Kompetenzen einzuschränken. Ein Zwischenstadium in dieser Auseinandersetzung wird in einer literarischen Überlieferung Mesopotamiens angezeigt, der sumerischen Erzählung von Gilgames und Aka 2 : Gilgames von Uruk wurde demnach von Aka, dem Herrscher von Kis, zur Unterwerfung aufgefordert. Gilgames brachte die Angelegenheit vor die Ältesten Uruks, die ihm rieten, der Forderung des Gegners zu entsprechen. Da Gilgames selbst für die bewaffnete Auseinandersetzung war, legte er die Frage, ob Unterwerfung oder Krieg vorzuziehen sei, einem anderen Gremium vor, der Versammlung der waffenfähigen Männer; diese stimmten ihm zu, und der Kampf gegen Aka wurde aufgenommen. Die epische Erzählung zeigt einerseits Ältestenrat und Volksversammlung — die hier ebensowenig wie anderenorts eine Versammlung des gesamten Volkes darstellte — noch in Funktion. Sie werden aber vom König einberufen und von ihm gegeneinander ausgespielt; der König vermag sich über den Rat der Ältesten hinwegzusetzen. Zugleich wird nunmehr betont, daß der König sein Amt nicht einer Wahl durch die „demokratischen" Institutionen verdankte, sondern den Göttern selbst. 3 Da das Königtum, wie es in der bereits erwähnten sumerischen Königsliste heißt, „vom Himmel herab" gekommen war, oblag es auch allein den Göttern, dieses Amt zu besetzen. Ein Frevel gegenüber dem Königtum war damit zugleich zur Sünde wider die Götter und ihren Ratschluß erklärt. Diese ideologische Stütze einer Herrschaft bedurfte der Anerkennung und Propagierung durch die Priesterschaft, und es kam für den König darauf an, sich die Mitwirkung der Priesterschaft zu sichern bzw. diese seinem Willen zu unterwerfen. Der König wurde in seinem Bestreben, sich gegenüber den Gemeinden und ihren Organen zu verselbständigen, von der Entwicklung begünstigt, die innerhalb der Gemeinden vor sich ging. E s handelte sich im wesentlichen um die Zersetzung der Dorfgemeinden, um ihre Umwandlung aus einem kollektiven Eigentümer von Boden in ein Kollektiv von Eigentümern/ 1 Dieser Prozeß, dessen Ergebnis dann in der altbylonischen Zeit (etwa 1. Hälfte des 2. Jahrtausends) deutlich in den Keilsch'rifttexten faßbar wird, kann in diesem Rahmen nicht dargestellt werden; es muß hier genügen, die Tendenz der Entwicklung anzudeuten und auf ihre Bedeutung für die Verselbständigung der politischen Gewalt des Herrschers hinzuweisen. Sie kam dem König insofern entgegen, als Vgl. auch I. M. Diakonoff, in: Ancient Mesopotamia, 192. Übersetzung bei S. N. Kramer, in: Ancient Near Eastern Texts Relating to the Old Testament, edited by J . B. Pritchard (2nd edition). Princeton 1955, 44-47; zur Interpretation vgl. Th. Jacobsen, Zeitschrift für Assyriologie NF 18 (1957), 116ff. 3 Th. Jacobsen, a. a. 0., 116. 1
2
4
M. M. flbHKOHOB, BeCTHHK JlpeBHett HCTOpilH 3/1968, 5.
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er als „oberste Einheit" in diese neuen Eigentumsverhältnisse leichter eingreifen konnte, um seine eigene Wirtschaft zu erweitern und seinen Grundbesitz auszudehnen. Für die Auseinandersetzung des Herrschers mit der Priesterschaft oder besser der Aristokratie der Tempel gibt es Hinweise sowohl im archäologischen Befund als auch in der inschriftlichen Überlieferung. In der späteren frühdynastischen Periode wird eine räumliche Trennung und gegenseitige Abgrenzung von Tempel und Palast sichtbar; die frühesten Palastbauten lassen sich bisher in Eridu, Kis und Mari erkennen1. In den Inschriften hat diese Auseinandersetzung ihre deutlichste Widerspiegelung in den „Reformen" des Urukagina/Uruinimgina (um 2360) gefunden; sie zeigen eine zeitweilige Zurückdrängung der ökonomischen und politischen Macht des Herrschers2, der versucht hatte, Tempelland in Königsland umzuwandeln. Diese Erscheinungen sind vor dem Hintergrund des Kampfes um die Verfügungsgewalt über das ständig wachsende Mehrprodukt sowie um den Boden als Hauptproduktionsmittel zu betrachten. Der König mußte versuchen, zur Stützung und Weiterentwicklung seiner politischen Macht seine eigene Wirtschaft (das „große Haus", sumerisch e.gal) auszudehnen. Je mehr sich die Möglichkeit verringerte, diese Expansion der königlichen Hauswirtschaft auf Kosten des „Reserve"-Landes vorzunehmen, das noch nicht in eine individuelle Nutzung übergegangen war, desto mehr mußte sie danach streben, Tempelland, in Königsland umzuwandeln. Dieser Prozeß wurde durch machtpolitische Veränderungen, die zum Teil mit dem Zustrom von Nomadengruppen ins mesopotamische Kulturland in Verbindung standen, zweifellos gefördert. Er wurde ferner begünstigt durch die Rolle, die der König als oberster Repräsentant der Gemeinschaft auch gegenüber der Gottheit, als oberster Kultfunktionär, spielte. In der Zeit, die der frühdynastischen Periode unmittelbar folgte, setzte sich das Königtum ökonomisch, politisch und auch ideologisch durch. Die Staatsmacht bedurfte, als sich die von ihr beherrschten politischen Einheiten vergrößerten, in wachsendem Maße eines eigenen Apparates. Während sich der Staat noch formte und sich antagonistische Klassen ausprägten, vollzog sich innerhalb der politisch führenden Schicht der herrschenden Klasse ein Umbildungsprozeß. Die alte Aristokratie wurde weitgehend durch Personen ersetzt, die durch den König beamtet worden waren und ihre Machtposition der Verbindung mit dem Herrscher verdankten, nicht gentilen Traditionen oder einem unabhängig vom Herrscher erworbenen Vermögen. Das bedeutet nicht, daß diese neue Führung der herrschenden Klasse sich nicht aus der alten rekrutieren konnte; wesentlich ist der inhaltliche Wandel. Die erwähnte Beauftragung durch die Gesellschaft, d. h. die Gemeinde oder den Stamm, wurde hier nunmehr ersetzt durch eine Beauftragung seitens des Herrschers. 1 Vgl. D. O. Edzard, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 77; M. E. L. Mallowan, The Early Dynastie Period. Cambridge 1968, 6. 2 Zur Interpretation in diesem Sinne s. I. M. Diakonoff, in: Ancient Mesopotamia, 190.
Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien
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Der Staat ist in Mesopotamien also innerhalb eines Entwicklungsprozesses entstanden, der in seinen Anfängen zeitlich schwer zu fixieren ist; es wurde bereits betont, daß hier zwischen den einzelnen Bereichen Mesopotamiens, vor allem zwischen denen mit Irrigation und denen mit Regenfeldbau, differenziert werden muß. Aus einem frühen Stadium der Herausbildung einer staatlichen Gewalt hat sich dann vor allem in der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends der Staat in seiner vollentwickelten Form ausgeprägt, war dann aber auch weiterhin Umbildungen unterworfen, die hier nicht mehr Gegenstand der Darstellung sein können. Während der sogenannten frühdynastischen Zeit müssen sich die Gegensätze zwischen den Klassen so weit verschärft haben, daß sie auch durch ideologische Verhüllungen, d. h. vor allem religiöse Verbrämungen, nicht mehr überbrückt werden konnten. Die Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze führte einerseits zur Entstehung des Staates, während andererseits „das Bestehen des Staates beweist, daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind." 1 Diese Feststellung ist für das frühe Mesopotamien auch insofern von Bedeutung, als die Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze, konkret widergespiegelt im Kampf der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter, im archäologischen und inschriftlichen Material dieser Zeit nur in schwachen Ansätzen erkennbar wird. Sie reichen nicht aus, um ein klares Bild vom Stand der Entwicklung und von den Formen dieser Auseinandersetzungen zu erhalten. Hier gewinnt erst das Quellenmaterial, das für spätere Perioden mesopotamischer Geschichte vorliegt, an Aussagekraft. » W. I. Lenin, Werke Bd. 25, Berlin 1960, 399.
Zum Problem der Staatsentstehung in China von
THOMAS THILO
(Berlin)
1.
Das Problem der Staatsentstehung in China hat trotz seiner großen Bedeutung und trotz seines zwangsläufigen Auftauchens in allgemeinen Darstellungen der alten chinesischen Geschichte bis heute keine spezielle Untersuchung erfahren.1 Es gehört zweifellos zu den schwierigsten und unklarsten der Sinologie. Daran haben auch die vielen neuen Erkenntnisse, die die chinesische Altertumsforschung in den letzten Jahrzehnten erbracht hat, nichts zu ändern vermocht. Wenn im folgenden versucht wird, den Stand unserer Kenntnisse über dieses Problem kurz zu umreißen und auf einige Aspekte hinzuweisen, die bei seiner Behandlung eine Rolle spielen, so geschieht das im vollen Bewußtsein der Kompliziertheit dieses Problems und des hypothetischen Charakters der meisten Aussagen dazu.2 Gerade für China hat die Frage nach der Entstehung des Staates sehr große Bedeutung, da die Geschichte der chinesischen Gesellschaft in hohem Grade durch das Eingreifen des Staates in die verschiedensten Lebensbereiche, durch ein im Vergleich zu anderen Ländern äußerst großes Gewicht der staatlichen Zentralgewalt gekennzeichnet ist. Dieser Tatsache hat unter den älteren bürgerlichen Sinologen vor allem Otto Franke Rechnung zu tragen versucht. Er hat seine großangelegte fünfbändige „Geschichte des chinesischen Reiches" vornehmlich als eine Geschichte des chinesischen Staates aufgefaßt.3 Die Schwierigkeiten, die er bei der Behandlung der Entstehung des Staates hatte 4 , sind heute keinesfalls geringer; auch heute noch sind wir in großem Maße auf Hypothesen angewiesen. Doch unsere Hypothesen unterscheiden sich grundsätzlich von denen Frankes. Franke betrachtete als Ausgangspunkt der Ent1
2 3
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Die Arbeit von H. G. Creel, The Origins of Statecraft in China. Vol. I : The Western Chou Empire. Chicago u. London 1970, ist mir nicht zugänglich. Aus ihrem Titel geht nicht hervor, ob sie sich mit dem hier behandelten Problem befaßt. Herrn G. Schmitt bin ich für zahlreiche hier verwertete Hinweise zu Dank verpflichtet. 0 . Franke, Geschichte des chinesischen Reiches. Eine Darstellung seiner Entstehung, seines Wesens und seiner Entwicklung bis zur neuesten Zeit Bd. 1. Das Altertum und das Werden des konfuzianischen Staates. Berlin 1930, X X . Ebenda, 61-93.
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stehung des Staates den „Staatsgedanken", der „seine Wurzel in der Betrachtung des Kosmos, insonderheit des gestirnten Himmels und der ihm gegenüberliegenden Erde" hat. 1 Dieser „Staatsgedanke" wurde in der Dynastie der Xia zum ersten Male verwirklicht ; unter den Shang wird „das Staatswesen auf den Linien weiter entwickelt, wie sie der kosmische Gedanke unter den Hia ( = Xia) vorgezeichnet hatte . . ., dieser Gedanke wird sogar immer mehr die Scheidelinie von Kulturvolk und Barbarentum, er ist durch seinen stark religiösen Einschlag die werbende Kraft für das Reich gewesen." 2 Mit dieser idealistischen Auffassung, es handele sich um eine „durch fremde Einflüsse zu Stande gekommene Theorie, an die man die wirklichen Verhältnisse anzupassen versucht und die man allmählich durch die erwähnte Politisierung' der alten Mythen und Legenden zu festigen strebt",3 wird das wirkliche Verhältnis von Basis und Überbau in sein Gegenteil verkehrt. Der idealistische Ausgangspunkt hat die Bedeutung der Frankeschen Arbeit, der zweifellos umfangreichsten bürgerlichen Darstellung der chinesischen Geschichte, die in den letzten Jahrzehnten erschienen ist, erheblich geschmälert. So sind auch seine Theorien vom „Staatsgedanken" ohne spürbaren Einfluß geblieben. In den jüngeren bürgerlichen Darstellungen der chinesischen Geschichte, die nach dem Erscheinen von Frankes Arbeit publiziert worden sind, 4 wird das Problem der Entstehung des Staates als solches meist umgangen; bestenfalls wird angedeutet, daß man über die Entstehung des Staates der Xia oder der Shang nichts Sicheres wisse. Diese Arbeiten gehen weniger von theoretischen, sich aus den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten weltgeschichtlicher Entwicklung ergebenden Fragestellungen aus als vielmehr von dem, was durch archäologisches oder tradiertes schriftliches Quellenmaterial mehr oder weniger direkt belegbar ist. Die theoretisch begründete Frage nach der Entstehung des Staates wird nicht als Frage nach einem Prozeß gestellt, der sich aus vielen einzelnen Entwicklungen zusammensetzt und der zu dem überaus komplizierten System gesellschaftlicher Verhältnisse führt, das uns als „Staat" entgegentritt. Solch ein Prozeß kann nur erschlossen werden, wenn man die einzelnen Entwicklungen eineri Ebenda, 79. 2 Ebenda, 91. » Ebenda, 82. 4 Z. B. H. G. Creel, The Birth of China. London 1936; ders., Studies in Early Chinese Culture. Baltimore 1937; W.Eberhard, Chinas Geschichte. Bern 1948; W.Eichhorn, Kulturgeschichte Chinas. Eine Einführung. Stuttgart 1964 ( = Urban-Bücher 76); H. Franke und R. Trauzettel, Das chinesische Kaiserreich. Frankfurt/Main-Hamburg 1968 ( = Fischer Weltgeschichte Bd. 19) ; A. F. P. Hulsewé, China im Altertum. In: PropyläenWeltgeschichte Bd. 2. Hochkulturen des mittleren und östlichen Asiens. Berlin—Frankfurt—Wien 1962, 479-571; H. Maspero, La Chine Antique. Nouvelle Édition. Paris 1955; H. Maspéro und É. Balâzs, Histoire et institutions de la Chine ancienne des origines au XII e siècle après J.-C. Texte révisé par P. Demiéville. Paris 1967; J. Needham, Science and Civilization in China. Vol. 1. Introductory Orientations. Cambridge 1954, 73—149; E. 0 . Reischauer und J. K. Fairbank, East Asia. The Great Tradition. Boston 1958;. daneben gibt es noch zahlreiche andere Arbeiten.
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seits für sich, dann aber auch als Teil des großen Prozesses der Staatsentstehung untersucht. In Geschichtsdarstellungen, die sich auf die Beschreibung dessen beschränken, was aus den Quellen direkt belegbar ist, wird man daher im allgemeinen kaum Erörterungen über die Entstehung des Staates erwarten können, da sich die Quellen ihrer Natur gemäß höchstens auf die einzelnen Entwicklungen, nicht aber auf den aus diesen zusammengesetzten Gesamtprozeß beziehen. In marxistischen Darstellungen der alten Geschichte Chinas wird die aus den grundlegenden Ausführungen von Engels und Lenin 1 abgeleitete Frage nach der Entstehung des Staates vor allem im Zusammenhang mit dem Problem des Beginns der Klassengesellschaft in China berührt. Beide Fragen sind zweifellos eng miteinander verbunden, wenn auch nicht identisch. Die Ausführungen zur Staatsentstehung in Darstellungen der altchinesischen Geschichte von marxistischen chinesischen Gelehrten 2 kranken im allgemeinen daran, daß auf Grund einiger weniger „Belege" vorschnelle Schlußfolgerungen gezogen werden. Die Problematik der Quellen wird dabei oft ebensowenig berücksichtigt wie die Kompliziertheit des Gegenstandes. Diese Arbeiten wirken zumeist nicht recht überzeugend. Dennoch ist einiges von dem Material, das sich in diesen Darstellungen findet, auch für unsere Erörterung der Problematik von Nutzen. In der sowjetischen sinologischen Literatur existierten längere Zeit hindurch schematisierende Auffassungen über das Entstehen der Klassengesellschaft und des Staates in China3, bis Ende der 50er Jahre eine neue Phase der Behandlung dieser Probleme begann. Diesen neueren Arbeiten, in denen auch die Ergebnisse der chinesischen Altertumsforschung berücksichtigt werden, verdanken wir schon sehr wesentliche Erkenntnisse. 4 Unter den Gründen, die für das Fehlen einer gesonderten Untersuchung des Problems der Staatsentstehung durch marxistische Wissenschaftler angeführt werden können, ist auf chinesischer Seite vor allem die einseitige 1
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F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. In: MarxEngels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 25—173; ders.', Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In: Marx-Engels, Werke Bd. 20, Berlin 1968,1-303; W. I. Lenin, Staat und Revolution. In: W. I. Lenin, Werke Bd. 25, Berlin 1960, 393-507. Z. B. Fan Wenlan, Zhongguo tongshi jianbian (Abriß der chinesischen Geschichte) Bd. 1. Revidierte Ausgabe Peking 1 9 4 9 ; ders., JIpeBHfm HCTOPHH K H T M OT nepBoßbmroocmiiHHOro CTPOH Ro 0ßpa30BaHHH ij6HTpajiH30BaHH0r0 (JieojiajibHoro rocy«apcTBa ( = russ. Ubersetzung des vorhergehenden Werkes). MocKBa 1958; Lü Zhenyu, Jianming Zhongguo tongshi (Kurzgefaßte chinesische Geschichte). Peking 1955; Wang Yuzhe, Zhongguo shanggu shigang (Historischer Abriß des chinesischen Altertums). Shanghai 1959. Vgl. 10. M. CeiweHeB, CoBeTcraie HCTOPHKH O CTaHOBjieHHH KJiaccoBoro oßmecTBa B ApeBHeM Kirrae. In: Haponw A3HH H AijipHKH 1/1966,151f. Vgl. R. Felber, Neue sowjetische Arbeiten zur Geschichte des älteren China. In: Zeitschrift für Geschichtswissepschaft 15 (1967), H. 5, 875—882; weiterhin den sehr kritischen Artikel von CeMeHeB, a. a. 0., 151—161.
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Konzentration auf den Streit um die Periodisierung zu nennen.1 Die sowjetischen Spezialisten der altchinesischen Geschichte, insbesondere M. V. Krjukov, haben sich demgegenüber spezielleren Fragen, besonders solchen der Sozialstruktur, zugewandt in der richtigen Erkenntnis, daß man vor der Behandlung solch allgemeiner Fragen wie der Periodisierung noch viele konkrete Probleme untersuchen und lösen müsse.2 Daher ist es auch verständlich, daß sie sich mit einem solch umfassenden Problem wie dem der Staatsentstehung noch nicht in einer umfangreicheren speziellen Untersuchung auseinandergesetzt haben. Eine solche wird zunächst durch die Quellenlage erschwert. Die Quellen, auf die wir uns bei unseren Überlegungen zur Staatsentstehung in China stützen, kann man in 3 Gruppen teilen, von denen jede auf ihre Weise problematisch ist. Als erste seien die archäologischen Quellen genannt.3 Die Grabungen, die nach der Gründung der Volksrepublik China, d. h. nach 1949, in allen Teilen des Landes durchgeführt wurden und über die wir bis zum Zeitpunkt des Beginns der sogenannten „Kulturrevolution" wenn auch nicht vollkommen, so doch relativ gut informiert sind, haben das Bild der chinesischen Vor- und Frühgeschichte, das uns die Grabungen aus der Zeit vor 1949 vermittelt hatten, ganz erheblich vervollkommnet und zum Teil auch korrigiert. Bei den Ergebnissen dieser neueren Grabungen ist aber zu berücksichtigen, daß fast nur an solchen Stellen gearbeitet wurde, wo irgendwelche Bauten oder Anlagen errichtet werden sollten und wo daher zuvor die Bodendenkmäler geborgen werden mußten. Nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten vorgenommene Grabungen hat es nur an ganz wenigen Stellen, z. B. im Gebiet der alten Hauptstädte Chang'an und Luoyang, gegeben. Zudem weiß man, daß der Boden Chinas noch allenthalben voll von Resten der Vorzeit ist, die nur gehoben zu werden brauchten. Die überlieferte Literatur enthält viele Hinweise auf Stellen, an denen sich Grabungen zweifellos lohnen würden. Daher ist das Bild, das uns die Archäologie bietet, sowohl zufällig als auch vorläufig. Der Wert unserer Schlußfolgerungen wird also entsprechend begrenzt sein. Hinzu kommt noch, daß keine absoluten Datierungen vorliegen und wir nur mit relativen Daten arbeiten können.4 1
Vgl. Zhongguo gudaishi fenqi wenti taolunji. (Sammelband zur Diskussion über die Periodisierung der alten Geschichte Chinas, hrsg. von der Redaktion der Zeitschrift Lishi yanjiu). Peking 1957; Jiang Quan, Zur Frage der Periodisierung der Sklaverei und des Feudalismus in der Geschichte Chinas. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 7 (1959), Sonderheft „Neue chinesische Geschichtswissenschaft"; M . B . K P J O K O B , ®opMH comiaJibHOÄ opraHHaauHH APEBHHX KHTaßijen. MocKBa 1967, 17f.; R. Felber, Bemerkungen zur Erforschung des Systemcharakters der ersten Klassengesellschaft in China. Ethnographisch-archäologische Zeitschrift 10 (1969), 468f.
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V g l . KPMKOB, a . a. 0 . ,
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Vgl. Xin Zhongguo de kaogu shouhuo (Ergebnisse der Archäologie im Neuen China). Hrsg. vom Archäologischen Institut der Academia Sinica. Peking 1962. Vgl. Chang Kwang-chih, Relative Chronologies of China to the End of Chou. In: Chronologies in Old World Archaeology, edited by Robert W. Ehrich. Chicago and London 1965, 503-526.
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Die zweite Quellengruppe sind die Inschriften. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat man in dem Dorf Xiaotun" bei Anyang in der Provinz Henan Knochen und Schildkrötenpanzer mit eingeritzten Inschriften gefunden. Nach eingehendem Studium stellte sich heraus, daß es sich um Knochen handelt, die in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends v. u. Z. zu Orakelzwecken verwendet worden waren. Aus den Rissen, die sich in den über Feuer gehaltenen Knochen bildeten, las; man die Antworten auf Fragen, die dem Orakel gestellt wurden, ab. Oft wurden sowohl Fragen als auch Antworten auf dem Knochen vermerkt. Bei der Benutzung dieser ungemein wertvollen Quellen, die die frühesten erhaltenen Zeugnisse chinesischen Schrifttums überhaupt darstellen, muß man einerseits berücksichtigen, daß die philologische Interpretation dieser in einer sehr frühen Schriftform abgefaßten Texte noch sehr unsicher und in vielen Fällen .unmöglich ist. Andererseits sollte man nicht vergessen, daß es sich um sakrale Texte handelt, die zweifellos die Realität nicht objektiv widerspiegeln. Die tradierte Literatur des chinesischen Altertums bildet die dritte Quellen gruppe. Sie ist von der chinesischen Philologie immer wieder bearbeitet und kommentiert worden. Hier liegen besondere Schwierigkeiten darin, daß man Texte über die Vor- oder Frühzeit nur mit größter Vorsicht und kritischem Sinn benutzen darf, da vieles mythologischen Charakters ist, durch die lange Überlieferung entstellt wurde, im Sinne späterer Realitäten und Denkgewohnheiten umgedeutet wurde und zudem sehr schwer zu datieren ist. Insgesamt muß man feststellen, daß gerade die Fragen, die für die Untersuchung der Staatsentstehung von erstrangiger Bedeutung sind, wie die Entwicklung der Sozialstruktur, der Eigentumsverhältnisse, der Ausbeutungsverhältnisse, der frühesten Formen der Staatsgewalt usw., mit den für die frühesten Perioden der chinesischen Geschichte vorliegenden Quellen nur sehr unzureichend beantwortet werden können und daß die Quellen oft verschiedene Interpretationsmöglichkeiten bieten. 1
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Die früheste Periode der chinesischen Geschichte, in der wir eine Klassengesellschaft mit etabliertem Staat zu erkennen glauben, ist die Shang-Zeit. Diese Ansicht wird von den meisten Sinologen geteilt. Allerdings gibt es auch abweichende Auffassungen. 2 Zum Beispiel hatte Guo Moruo in der ersten Ausgabe seiner „Forschungen zur Gesellschaft des chinesischen Altertums" 3 noch die Shang-Zeit als Ende der Urgesellschaft angesehen und den Beginn 1 Vgl. CeMeHeB, a. a. 0. (s. S. 58 Anm. 3), 151. 2 Vgl. Felber, a.a.O. (s. S. 59 Anm. I),468f,und474f.; KpiOKOB, a. a. 0. (s. S. 59 Anm. 1),1S. 3 Guo Moruo, Zhongguo gudai shehui yanjiu („Forschungen zur Gesellschaft des chinesischen Altertums"). Neuauflage Peking 1960.
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einer „Sklavenhaltergesellschaft" in die West-Zhou-Zeit gesetzt, diese Ansicht später aber widerrufen und auch die Shang-Zeit zur „Sklavenhaltergesellschaft" erklärt. 1 Hou Wailu2 hält zwar die Gesellschaft der Shang-Zeit für eine frühe Sklavenhaltergesellschaft3, aber ohne Staat 4 ; der Staat ist nach ihm erst mit der Errichtung des „fengjian"-Systems (Verteilung von Territorialherrschaften in der West-Zhou-Zeit) entstanden.5 Auch in der Sowjetunion wird von einzelnen Wissenschaftlern die Ansicht vertreten, die Gesellschaft der Shang-Zeit sei noch keine Klassengesellschaft gewesen und habe noch keinen Staat gekannt.6 Diese Divergenzen der Auffassungen zwingen uns, zunächst auf die Verhältnisse der Shang-Zeit einzugehen, um dann auf Grund dieser die Probleme der Staatsentstehung zu betrachten. 7 Es steht außer Zweifel, daß sich der Staat in China zuerst in dem „Kerngebiet" der chinesischen Kultur, dem Gebiet am Mittel- und Unterlauf des Huanghe und dem Mündungsgebiet seiner Nebenflüsse, d. h. etwa dem Süden der heutigen Provinzen Shenxi und Shanxi und den Provinzen Henan und Shandong, herausgebildet hat. In den folgenden Ausführungen wollen wir uns auf dieses Gebiet beschränken. Die allmähliche Ausstrahlung der Entwicklung auf die anderen Gebiete Chinas können wir hier nicht verfolgen. Der Beginn der Shang- oder auch Yin-Zeit ist nach den tradierten Quellen in der Zeit vor 1514 v. u. Z., möglicherweise noch vor 1722 v. u. Z., zu suchen.8 Aus ihrer ersten Periode stehen uns außer dem tradierten Quellenmaterial archäologische Quellen ohne Inschriften zur Verfügung; solche sind uns erst aus dem letzten Abschnitt dieser „Dynastie", als die Residenz bei Anyang lag, bekannt. Der Beginn dieser letzten Periode wird von den tradierten Quellen unterschiedlich in die Zeit zwischen 1397 und 1291 v. u. Z. gelegt, ihr Ende soll zwischen 1122 und 1018 v. u. Z. liegen.9 Vgl. u. a. Guo Moruo, Shi pipanshu („Zehn kritische Schriften"). Peking 1956, i—70; ders., Nulizhi shidai („Die Zeit der Sklaverei"). Peking 1956, 4—12. a Hou Wailu, Zhongguo gudai shehui shilun („Über die Geschichte der Gesellschaft des chinesischen Altertums"). Peking 1956. 4 Ebenda, 116. 5 Ebenda, 119. 3 Ebenda, 5 1 - 5 9 . 6 Vgl. CeMeHeB, a. a. O. (s. S. 58 Anm. 3); JI. C. BacHJibeB, ArpapHue 0TH0meHHH H oöiitfiHa B npeBHeM Kirrae. Mocraa 1961; ders., CouHajitHan crpyKTypa h AHHaMHKa RpeBHeKHTaücKoro oßmecTBa. In: IIpoÖJieMti HCTOPHH HOKANHTAJIHCNMECKHX o6mecTB. Kmira 1. MocKBa 1968, 455-515. 7 Die folgenden Bemerkungen zur Shang-Zeit stützen sich im wesentlichen auf Chang Kwang-chih, The Archaeology of Ancient China. New Häven and London 1963; Chen Mengjia, Yinxu buci zongshu („Zusammenfassende Darstellung der Orakelmschriften von den Yin-Ruinen"). Peking 1956; Cheng Te-k'un, Archaeology in China. Vol. I I : Shang China. Cambridge 1960; Xin Zhongguo de kaogu shouhuo (s. S. 59 Anm. 3); diese Arbeiten enthalten auch die Angaben der Ausgrabungsberichte und Inschriftsammlungen. 8 Chang Kwang-chih, Relative Chronologies . . . (SJ S. 59 Anm. 4), 506. « Ebenda, 506. 1
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Die Existenzgrundlage der Gesellschaft jener Zeit bildete die Landwirtschaft. Verschiedene Hirsearten, Gerste, Weizen und Sorghum waren Hauptnahrungsmittel. Die Felder wurden mit steinernen Spaten oder Hacken und hölzernen Grabgabeln bearbeitet, auch Knochen- und Muschelgeräte wurden verwendet. Zur Ernte benutzte man Sicheln aus Stein oder Muscheln. Aus den Orakelinschriften geht hervor, daß die landwirtschaftlichen Arbeiten in hohem Grade vom Eintreffen oder Ausbleiben des natürlichen Niederschlags abhängig waren und häufig durch Überschwemmungen gefährdet wurden. Arbeiten zum Schutz vor Hochwasser wurden zweifellos durchgeführt; Maßnahmen zur künstlichen Bewässerung lassen sich für die Shang-Zeit aber noch nicht nachweisen. 1 Das Handwerk erreichte bereits einen hohen Entwicklungsstand. Hier ist zunächst die Herstellung von Bronzewaffen und -geräten, vor allem der kunstvoll gestalteten Ritualgefäße, zu nennen. Die Bronzewerkstätten lagen außerhalb der Städte konzentriert an bestimmten Stellen. Die Zahl der von diesen eingenommenen Häuser, die zahlreich gefundenen Schmelzgefäße und Gußformen und vor allem die kunstvoll gearbeiteten Produkte selber beweisen die große Bedeutung und das hohe Entwicklungsniveau dieses Produktionszweiges. Ähnlich den Bronzewerkstätten gab es auch Werkstätten für Knochengeräte und Keramik. Diese Handwerkszweige der Shang-Zeit zeigen, daß die gesellschaftliche Arbeitsteilung weit fortgeschritten war. Innerhalb der Produktionszweige lassen sich eine Aufteilung in bestimmte Arbeitsgänge und differenzierte Organisationsformen erkennen. Zahlreiche Produkte, vor allem Haarnadeln aus Knochen und bestimmte Gefäßtypen, wurden serienmäßig in großen Mengen hergestellt. Außer den genannten Hauptzweigen des Handwerks gab es noch die Bearbeitung von Gold und Jade, die Steinschnitzerei und die Herstellung von Schmuck aus Muscheln. Diese Werkstätten konzentrierten sich vornehmlich in der Umgebung der Hauptstädte, von denen eine, „Shang" genannt, bei Anyang mit Sicherheit identifiziert werden konnte. Eine andere, vermutlich mit der aus der Tradition bekannten Hauptstadt Ao aus der Vor-Anyang-Periode identisch, befand sich nahe der heutigen Stadt Zhengzhou in der Provinz Henan. Beide Städte geben durch ihre Anlage, die Größe der Häuser, deren Bauweise, die bei den Häusern befindlichen Opfergruben etc. einen Hinweis auf die Arbeitsorganisation und damit auf gewisse soziale Voraussetzungen, die zur Fertigstellung dieser Anlagen vorhanden gewesen sein müssen. Sie lassen darauf schließen, daß hier der Sitz der Herrscher war. Von den Gräbern der Shang-Leute wurden weit über 2000 an verschiedenen Orten ausgegraben. Die Ausstattung mit Beigaben ist unterschiedlich. Gewöhnlich wurden verschiedene keramische Gefäße beigegeben; in größeren Gräbern findet man auch Bronzewaffen. Die kleinsten Gräber blieben oft ohne 1
V g l . M. B . Kpi0K0B, HHTCKAN IJHBHJMAALJHH H SacceflH penn X y a H x a . BecTHHK neropnn MwpoBoö KyjibTypH 1960, Nr. 4, 41—56.
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Beigaben. Nur bei Anyang wurde eine Gruppe von besonders großen und reich ausgestatteten Gräbern gefunden, die von den chinesischen Archäologen als die Gräber der Shang-Könige angesehen werden. Außer den besonders großen Ausmaßen und der reichhaltigen Ausstattung — in einem Grab in Hougang bei Anyang wurden 1878 verschiedene, z. T. besonders wertvolle Gegenstände gefunden — fällt bei diesen Gräbern die große Zahl von geopferten Menschen auf, die dem Bestatteten mit ins Grab gelegt wurden. Sie beläuft sich in einzelnen Fällen bis weit über 100. Kennzeichnend sind auch die Tausende von Opfergruben, in denen Menschenopfer, Gefäße und Geräte ohne bestimmte Anordnung, ganze Streitwagen mit Pferden usw. enthalten waren. Solche Gruben liegen nicht nur in der Nähe des Friedhofs der Herrscher, sondern auch in der Umgebung der Häuser, die ihnen als Wohnsitz dienten. Diese Gruben standen zweifellos mit dem zur Shang-Zeit hochentwickelten Ahnenkult in Verbindung, der in zyklischer Folge Opfer an die vergötterten Vorfahren erforderte. Aber auch dem obersten Himmelsherrn Shangdi und den unter ihm stehenden verschiedenen Gottheiten des Himmels und der Erde opferte man häufig. Über einige Details dieser Opfer sind wir durch die Orakelinschriften recht gut informiert. Das Orakel wurde bei allen Handlungen des Herrschers, die irgendwie von größerer Bedeutung waren, befragt, so vor Opfern, Kriegszügen, Jagden, Tributlieferungen, dem Beginn der Feldbestellung u. a. m. Für die Opfer gab es einen speziellen Kalender, der sich von dem für die Landwirtschaft benutzten unterschied. Schriftliche Zeugnisse der Shang-Zeit sind uns nur in Verbindung mit den Opfern bekannt. Inwieweit die Schrift auch für andere Zwecke benutzt wurde, wissen wir nicht. Hier sei angemerkt, daß die Schrift bereits eine relativ hohe Entwicklungsstufe erreicht hatte; von ihrer vorausgegangenen Entwicklung kennen wir aber bisher nichts. Es steht außer Zweifel, daß die Gesellschaft der Shang-Zeit, so wie wir sie aus den Funden von Anyang, insbesondere den krassen Unterschieden in der Grabausstattung, erkennen können, bereits in Klassen gespalten war. An der Spitze des Systems stand der „König" oder „Anführer", chinesisch „Wang". Sein Sitz war in der Spätperiode der Shang bei Anyang. Ihm als Oberhaupt unterstand das Territorium des Reiches, dessen Ausmaße man heute nicht genau umreißen kann, das aber zumindest den größten Teil des Gebietes östlich des Taihangshan-Gebirges umfaßt haben dürfte. Unter ihm standen als nächste die sogenannten „Fürsten", offenbar Herrscher über Teile des Territoriums. Diese Gruppe von Machthabern hatte, soweit aus den unterschiedlichen Bezeichnungen ihrer einzelnen Vertreter hervorgeht, offenbar keinen einheitlichen Status. Es handelte sich dabei anscheinend zum größten Teil um Häupter von unterworfenen Sippen oder Stämmen, die dem ShangHerrscher botmäßig gemacht worden waren. Sie unterstanden dem Befehl des Wang, mußten ihm bei Hofe ihre Aufwartung machen und hatten seine Aufträge, insbesondere die Aufforderung, bestimmte Kriegszüge zu unternehmen, auszuführen. Häufig bekriegten sie sich gegenseitig, und häufig unternahm
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der Wang gegen einzelne „Fürsten" Strafexpeditionen. Sie hatten an den Wang landwirtschaftliche Produkte, Schildkrötenpanzer für Orakelzwecke, Rinder, Pferde und andere Tiere als Tribut zu liefern. Diese Tributlieferungen bildeten wahrscheinlich (neben den landwirtschaftlichen Erträgen des Gebietes in der Umgebung der Residenz) die Haupteinnahmequelle des Herrscherhauses und damit die Form, in der das Mehrprodukt der unterworfenen Bevölkerung abgeschöpft wurde. Daneben gab es bereits einen Handel, der aber offenbar nur darauf gerichtet war, das Herrscherhaus oder andere Vertreter der herrschenden Klasse mit speziellen Gütern zu versorgen. Meist wird es sich um solche Dinge gehandelt haben, die im Machtbereich der Shang nicht oder nicht in ausreichender Menge zu haben waren, wie z. B. die vor allem an der südchinesischen Küste vorkommenden Schildkröten und die als Zahlungsmittel benutzten Kaurimuscheln. Wir dürfen annehmen, daß der Handel im Dienste der herrschenden Klasse die wichtigste Form des Kontaktes mit den ethnischen Gruppen war, die außerhalb des Machtbereiches der Shang lebten. Im Dienst des Wang und auch der sogenannten „Fürsten" stand eine Gruppe von Personen, die von den chinesischen Gelehrten als „Beamte" bezeichnet werden. Es sind zahlreiche Bezeichnungen dieser Leute bekannt, aber leider wissen wir kaum etwas Genaues über ihren Status. Sie tragen häufig Sippennamen. Zu ihnen sind u. a. die Orakelpriester und wahrscheinlich auch alle anderen Personen, die in direkter Abhängigkeit vom jeweiligen Herrscher Dienste ausübten, zu rechnen. Wahrscheinlich muß man auch die Aufseher über das Hofhandwerk hierzu zählen. Ebensowenig läßt sich mit Sicherheit ausmachen, welchen Status die große Masse der in der Landwirtschaft Arbeitenden hatte. Sie wurden „Leute" (ren), „die Vielen" (zhong) oder „die vielen Leute" (zhongren) genannt. Von einigen chinesischen Historikern wurde (vor allem seit 1949) die Behauptung vertreten, daß es sich hier um Sklaven handelte. Diese Behauptung, die wohl mehr der Absicht entsprang, in der chinesischen Geschichte die gleiche Abfolge der Gesellschaftsformationen zu finden wie in Europa, als einer sachgemäßen Interpretation des Materials, ist bis heute nicht bewiesen.1 Aus den Orakelinschriften geht jedenfalls nicht hervor, daß diese Leute Sklaven waren. Bei dem zweifellos noch voll intakten Gemeineigentum am Grund und Boden der dörflichen Kommunen ist die Arbeit von Sklaven in der Landwirtschaft kaum in größerem Umfang denkbar; im Hofhandwerk arbeitende Sklaven und Haussklaverei hat es aber gegeben. Die „Leute", die „Vielen" oder „die vielen Leute" der Quellen dürften vielmehr in Dorfkommunen lebende Bauern gewesen sein, die ihren in Gemeinschaftseigentum befindlichen Boden gemeinsam bebauten2 und denen von ihrem jeweiligen 1
2
Vgl. T. Pokora, Existierte in China eine Sklavenhaltergesellschaft? Archiv Orientilni 31 (1963), 353-363. Vgl. Bacujibeß, ArpapHue OTHOuieHHH (s. S. 61 Anm. 6), 58f.
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Obersten die verschiedensten Pflichten, u. a. Abgabenleistung und Kriegsdienst, auferlegt wurden. Das Verwandtschaftssystem der Shang basierte vermutlich auf der sogenannten zongzu-Organisation1, einem Kollektiv verwandter Familien, das eine territoriale und kultische Einheit bildete, aber soziale Differenzierungen aufwies und hierarchisch, aufgebaut war. Die zongzu-Organisation war offenbar die unterste gesellschaftliche Einheit und bildete möglicherweise auch die Organisationsform der dörflichen Kommunen. Vielleicht dürfen wir in dieser Organisation eine Weiterentwicklung der urgesellschaftlichen Sippenorganisation unter den Bedingungen bereits existierender Klassengegensätze sehen. Im Rahmen einer solchen Organisation dürften Abgabenleistungen und Dienstpflicht den Beteiligten noch keineswegs als Formen der Ausbeutung erschienen sein. Die Abstammung wurde in väterlicher Linie gerechnet, daneben scheinen sich aber noch starke Reste matriarchalischer Formen erhalten zu haben. So wurden z. B. den weiblichen Ahnen und Vorfahren des jeweiligen Herrschers große Opfer dargebracht, aus denen man auf die Position dieser Frauen schließen kann. Die Thronfolge war so geregelt, daß nach dem Tode des Herrschers zunächst nacheinander seine jüngeren Brüder an die Reihe kamen und dann erst der älteste Sohn eines dieser Brüder, auf den dann wieder dessen jüngere Brüder folgten. Nur die letzten vier Könige traten in direkter Folge Vaterältester Sohn die Macht an. Sehr große Bedeutung hatte im Leben der Shang-Leute der Krieg. Vom Wang oder in seinem Auftrag von den sogenannten „Fürsten" sind zahllose Kriegszüge durchgeführt worden. Dabei sollten wohl zunächst neue Territorien, natürlich mit den darauf lebenden Menschen, erobert werden. Aus den Orakelinschriften geht hervor, daß manche Gebiete, gegen die zuerst als Feindesland Kriegszüge unternommen wurden, später zum Shang-Gebiet gehörten. Das Territorium des Shang-Staates hat auf diese Weise eine große Ausdehnung erfahren. Die Häupter der eroberten Stämme wurden als Unterworfene des Shang-Herrschers in ihren ursprünglichen Positionen belassen. Ein zweites Ziel der Kriege war die Eroberung von Menschen zu Opferzwecken. Dann gab es Feldzüge zur Bestrafung abgefallener Stämme oder zur Vergeltung von Unbotmäßigkeit und auch bloße Verteidigungskriege. Der Staat der Shang, so unvollständig und vage er uns auch in den Quellen entgegentritt, scheint doch bereits ein etabliertes und funktionierendes Gebilde gewesen zu sein, zwar noch sehr primitiv und mit starken gentilgesellschaftlichen Traditionen behaftet, aber doch schon als System faßbar. 2 Innerhalb eines offenbar modifizierten Sippensystems hatten sich bereits Klassen herausgebildet, es existierte ein Ausbeutungssystem, die Verwaltung 1
V g l . die g r u n d l e g e n d e A r b e i t v o n M . B . K p i 0 K 0 B , «JopMM couHajibHoft o p r a H H 3 a i j n n . . .
(s. S. 59 Anm. 1), dazu R. Felber, Neue Forschungen zur sozialen Organisation im alten China. In: Mitteilungen des Instituts für Orientforschung 15 (1969), 151—158. 2
Vgl. M . B . KpMKOB, P o « H r o c y ^ a p c T B O B KHI>CKOM K i r r a e . I n : BeCTHHK RpeBHeii HCTopmi
2/1961, 21 f.; Felber, Bemerkungen . . . (s. S. 59 Anm. 1), 474f. 5
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des Reiches wurde teils von den „Fürsten" der Stämme, teils von „Beamten" ausgeübt, die Einteilung des Reiches nach territorialen Gesichtspunkten war zumindest so weit fortgeschritten, daß es eine feste Residenz gab und die unterworfenen Stämme mehr oder weniger fest umrissene Siedlungsgebiete besaßen. Wir dürfen annehmen, daß das Territorium des Reiches — wie in den späteren Perioden chinesischer Geschichte — als dem Wang auf Grund seiner politischen und religiösen Stellung zukommend, d. h. ihm gehörend, betrachtet wurde. 3. Aufschlüsse über den Prozeß, der dieses gesellschaftliche System hervorgebracht hat, kann uns mangels direkter Quellen nur die Interpretation der Ergebnisse der prähistorischen Archäologie und des in den tradierten Quellen enthaltenen, zum größten Teil vermutlich mythologischen Materials geben. Dabei sind wir, wie bereits angedeutet, in hohem Grade auf Hypothesen angewiesen. Somit kann es sich z. Z. zunächst nur darum handeln, ein abstraktes Modell dieser Vorgänge zu entwerfen, nicht aber um eine konkrete „Geschichte der Staatsentstehung". Es gibt eine ganze Reihe von Aspekten, die in einem solchen Modell berücksichtigt werden müßten. An erster Stelle steht dabei die Entwicklung der Produktivkräfte, die so weit vorangeschritten sein mußte, daß die kontinuierliche Erzeugung eines Mehrproduktes möglich wurde. Ein Blick auf die Ergebnisse der prähistorischen Archäologie zeigt uns, daß die Produktivkräfte am Ende des Neolithikums und zu Beginn der Bronzezeit in Nordchina bereits eine beachtliche Höhe erreicht hatten. 1 Das späte Neolithikum tritt uns in dem hier behandelten Gebiet am Mittelund Unterlauf des Huanghe in den Funden der Longshan-Kultur entgegen. Die ökonomische Basis dieser Kultur ist durch die Verwendung von geschliffenen Steingeräten und von Geräten aus Muscheln, Knochen und Holz für die Bodenbearbeitung, den Anbau von Hirse, Weizen und — in den südlichen Gebieten — Reis sowie durch die Zucht von Schweinen, Hunden, Rindern, Schafen, stellenweise auch Pferden und Hühnern, gekennzeichnet. Sie weist vor allem eine hochentwickelte Keramikherstellung auf, für die die Töpferscheibe verwendet wurde und zu deren bemerkenswertesten Produkten überaus feine, dünnwandige, glänzend schwarze Gefäße gehören, die sogenannte „Eierschalenkeramik". Der hohe Stand dieser Technik hat die chinesischen Archäologen bewogen, hier bereits von einer Spezialisierung dieses Produktionszweiges zu sprechen. 1
Vgl. Cheng Te-k'un, Archaeology in China. Vol. I : Prehistoric China. Cambridge 1959, 87—110; ders., Archaeology in China. Vol. II (s. S. 61 Anm. 7); XinZhongguo de kaogu shouhuo (s. S. 59 Anm. 3), 14—21 und 43—50; Chang Kwang-chih, The Archaeology of Ancient China (s. S. 61 Anm. 7), 7 7 - 1 0 9 und 130-174.
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Diese Kultur steht mit der Vor-Anyang-Periode der Shang-Kultur in genetischer Beziehung! Beide weisen feste Siedlungen auf, die z. T. von Mauern umgeben waren. Lebenswichtig war der Zugang zum Wasser: Die Siedlungen liegen stets in der Nähe von Flußläufen. Dies bedeutete aber für die Menschen jener Zeiten auch eine große Gefahr, da die Flüsse nach jedem größeren Regen über die Ufer treten oder ihr Bett verändern konnten. Wir sind berechtigt zu vermuten, daß man bereits vor der Anyang-Periode gelernt hatte, sich vor diesen unregelmäßigen Überschwemmungen zu schützen. Diesem Zweck dürften u. a. Umwallungen der Siedlungen gedient haben, vielleicht auch die Anlage von Entwässerungsgräben, wie sie in der Shang-Hauptstadt bei Anyang gefunden wurden. Der Kampf mit dem Hochwasser muß in jener Zeit eine gewaltige Bedeutung gehabt haben, und so nimmt es nicht Wunder, wenn ihm auch in der Mythologie in der Gestalt des Großen Yu ein Denkmal gesetzt wurde. Ihm wird vor allem das Verdienst zugeschrieben, statt des früher üblichen Eindämmens die Methode des Ableitens des Wassers angewandt zu haben, die ihm im Gegensatz zu seinen Vorgängern zum Erfolg verhalf.1 Die zunehmende Fertigkeit im Kampf mit dem Hochwasser hatte nicht nur für die Steigerung der Produktivität, sondern auch für die Dauer der Benutzung der Siedlungen große Bedeutung. Der in den Quellen erwähnte mehrfache Wechsel der Residenz durch die Shang-Herrscher hängt u. U. — wie schon mehrfach vermutet — mit den Verheerungen durch Hochwasser zusammen; feste Siedlungen und ein festes und sicheres Regierungszentrum sind natürlich für die Etablierung einer Staatsgewalt eine wichtige Voraussetzung. Die Entwicklung der Produktivkräfte führte schließlich zur Entdeckung der Metallbearbeitung, d. h. zur Herstellung und Verwendung von Bronzegeräten. Nach den neueren Ergebnissen der Archäologie scheint die Technik der Bronzeherstellung in China selbständig gefunden worden zu sein.2 Wenn, auch die Bronzegeräte nicht für die landwirtschaftliche Produktion benutzt wurden, so bedeuteten der Besitz von Bronzewaffen doch große militärische Macht und die Verwendung bronzener Ritualgefäße Reichtum und größere magische Macht.3 Die Entwicklung der Produktivkräfte verlief im einzelnen zwangsläufig ungleichmäßig, so daß die verschiedenen Stämme der prähistorischen Zeit 1 Zur Bedeutung der Sicherung vor Hochwasser und der Überlieferungen um Yu vgl. KpiOKOB, HtHCKas qiiBHjm3aijHH. . . (s. S. 62 Anm. 1) und Xu Xusheng, Zhongguo gushi de chuanshuo shidai („Das mythologische Zeitalter der alten Geschichte Chinas"). Erweiterte Auflage Peking i960, i28—162 (mit Quellenangaben). Die Mythen um den Kampf mit dem Hochwasser und die Leistungen von Yu dürften wegen ihrer spezifisch chinesischen Gestalt kaum ein bloßer Teil des weltweit verbreiteten Sintflutmythos sein, wie Kaizuka Shigeki in seiner Arbeit Chügoku no rekishi. Jö (Geschichte Chinas Bd. 1). Tokyo 1964 ( = Iwanami shinsho 534), 53 behauptet. 2 Vgl. Cheng Te-k'un, Archaeology in China. Vol. II (s. S. 61 Anm. 7), 157 und 161 f.; Chang Kwang-chih, The Archaeology of Ancient China (s. S. 61 Anm. 7), 140f. 3 Vgl. Xu Xusheng, Zhongguo gushi de chuanshuo shidai (s. S. 67 Anm. 1), 126 f. 5»
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sich nicht nur ethnisch, sondern auch hinsichtlich des Standes der Produktivkräfte unterschieden haben dürften. Aus dem Material der Mythologie ist die Existenz einer großen Zahl von Stämmen vermutet worden, die in drei Stammesbünden zusammengefaßt waren und miteinander langwierige kriegerische Auseinandersetzungen hatten. 1 Auch die Archäologie läßt eine größere Zahl ethnischer Gruppen am Ende des Neolithikums vermuten. Die LongshanKultur tritt in einer Vielzahl von lokalen Variationen auf, die sich nach dem gegenwärtigen Forschungsstand in vier Typen zusammenfassen lassen. 2 Die Beziehungen zwischen diesen vier Typen sind noch unklar; insbesondere ist unsicher, ob es sich hierbei um zeitlich oder räumlich verschiedene Ausprägungen ein und derselben Kultur handelt oder ob es sich um jeweils selbständige Kulturen handelt, die nur lose miteinander verbunden waren. Dennoch ist die gesellschaftliche Entwicklungsstufe der vier Typen im wesentlichen die gleiche: ein auffallend höherer Stand der Produktivkräfte als in den voraufgehenden Perioden, beginnende gesellschaftliche Arbeitsteilung und eine offenbar veränderte Sozialstruktur, die von den chinesischen Wissenschaftlern als beginnendes patriarchalisches System bezeichnet wird. Stellenweise finden sich Anfänge einer sozialen Schichtung. 3 Leider liegen noch keine brauchbaren Berichte über die Siedlungen der Longshan-Kultur vor, aber einige interessante Erscheinungen, die Schlüsse auf die Sozialstruktur erlauben, traten z. B. bei Grabfunden eines dieser vier Kultur-Typen zutage, wo man auffällige Unterschiede in der Grabausstattung, sowohl was die Größe der Gräber als auch was die Beigaben betrifft, fand. Die Menge der Beigaben beträgt z. B. in einem großen Grab 160 Stück, während andere, kleine Gräber völlig ohne Beigaben sind. 4 Über die zeitliche Stellung dieser Funde und über deren Zuordnung zu einem der vier Typen gibt es noch unterschiedliche Meinungen. Von den chinesischen Archäologen ist der Versuch gemacht worden, innerhalb der vier Typen der Longshan-Kultur nach Anzeichen zu suchen, die eine Identifizierung eines dieser Typen mit der aus den überlieferten Quellen bekannten „Xia-Dynastie" erlauben.5 Diese „Dynastie" soll nach der Tradition vor der Shang-Dynastie geherrscht haben. Über sie sind einige Überlieferungen erhalten, so z. B. eine Liste der Herrscher im 2. Kapitel des „Shiji". Trotz verschiedener Untersuchungen vor allem in den traditionell den Xia zugeschriebenen Gebieten in Henan ist es bisher aber nicht gelungen, diese Dynastie mit einer der neolithischen Kulturen zu identifizieren. Da aber die für die Shang-Dynastie überlieferten Angaben durch die Funde von Anyang im wesentlichen bestätigt wurden, besteht kein Grund, prinzipiell die Möglichkeit eines wahren Kerns in den Überlieferungen über die Xia zu verneinen. Man » Ebenda, 37-127. Vgl. Xin Zhongguo de kaogu shouhuo (s. S. 59 Anm. 3), 15-21. u Vgl. Chang Kwang-chili, The Archaeology of Ancient China (s. S. 61 Anm. 7), 93 und 95. 4 Vgl. Xin Zhongguo de kaogu shouhuo (s. S. 59 Anm. 3), 19f. 5 Ebenda, 43 f. 2
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muß jedoch berücksichtigen, daß die Darstellung in den historischen Quellen von späteren Vorstellungen ausgeht und die Verhältnisse der Frühzeit in den Begriffen der späteren Zeit beschreibt, d. h. aus einer möglicherweise lokal begrenzten Stammesherrschaft eine „Dynastie" im Sinne der späteren Geschichte macht. Von großer Bedeutung ist für unser Problem, daß die Überlieferung für die Zeit vor den Xia berichtet, daß der jeweilige Herrscher den Geeignetsten aus seinen Untergebenen auswählte und vor seinem Tode diesem die Macht übergab. Auch Yu, der Vater des Begründers der „Xia-Dynastie", dem die Tradition übermenschliche Leistungen beim Kampf gegen das Hochwasser zuschreibt, hatte zunächst einen als Herrscher besonders Geeigneten zum Nachfolger ausersehen. Dann aber errang sein Sohn Qi nach komplizierten und langwierigen Auseinandersetzungen mit anderen Sippen den Thron. Von da an blieb die Thronfolge erblich, das Machtmonopol einer Sippe. Die Erblichkeit der Stellung eines Herrschers war mit der Entwicklung entsprechender ideologischer und religiöser Formen verbunden. In der LongshanKultur finden wir bereits die Verwendung von Schulterblattknochen von Schweinen, Rindern und Schafen zu Orakelzwecken. Tönerne Phalli wurden häufig gefunden und lassen sich rückschließend auf Grund von späteren Materialien als Zeichen eines Ahnenkults identifizieren. Da die ältesten uns bekannten schriftlichen Zeugnisse, die Orakelinschriften, die große Bedeutung der Schrift für religiöse Praktiken belegen, ist zu vermuten, daß schon bei der Erfindung der Schrift neben wirtschaftlichen Gründen auch religiöse Zwecke eine Rolle gespielt haben. Die für die Shang-Zeit bezeugte Erhebung der Sippenahnen des Herrschers in einen gottähnlichen Status, die diesen zugeschriebene transzendente Macht und das Vorrecht der Nachkommen auf direkte Kommunikation mit den Ahnen durch Opfer und Orakel dürften ebenfalls ihre Wurzeln in der der Shang-Zeit vorhergehenden Periode gehabt haben. Entscheidend dürfte aber für die Entstehung der erblichen Stellung eines Führers einerseits die sich auch im Mythos um Yu andeutende Rolle der betreffenden Sippe im wirtschaftlichen Bereich — hier •>'••! der Bekämpfung des Hochwassers —, andererseits die führende Stellung und ständige Bewährung in den permanenten Kriegen mit anderen Stämmen gewesen sein. Beide Sphären des gesellschaftlichen Lebens jener Zeit gaben den Führern die Kommandogewalt über Organisation und Einsatz einer großen Menge von Personen und vermutlich auch Vorrechte beim Genuß der Ergebnisse der von ihnen geleiteten Aktionen. Die Produktion und Aneignung eines Mehrprodukts schuf auch die Möglichkeit, benachbarte Stämme nicht mehr einfach zu vertreiben oder zu vernichten, sondern sie sich zu unterwerfen und auszubeuten. Wenn der Übergang zur Ausbeutung fremder Stämme in den Quellen auch nicht faßbar ist, so muß man doch auf Grund späterer historischer Zustände einen solchen Übergang annehmen. Unterschiede in der ökonomischen Entwicklung zwischen den
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verschiedenen Stämmen, z. B. der Besitz von Bronzewaffen, hatten hierbei gewaltige Bedeutung. Der ökonomisch und militärisch stärkste Stamm wurde Sieger und errichtete eine Oberhoheit über die unterworfenen Stämme. Wie wir aus den zahlreichen Orakelinschriften über Strafexpeditionen gegen abtrünnige Stämme entnehmen dürfen, war dies ein sehr langwieriger Prozeß mit vielen Rückschlägen. Vermutlich war auch das, was in den späteren Quellen als „Xia-Dynastie" auftaucht, einer dieser sich gegenseitig bekriegenden Stämme. Die Shang sollen den Xia zunächst botmäßig gewesen sein und sich dann gegen sie erhoben haben. In der Shang-Zeit finden wir dann einen Zustand vor, wo der Wang eine große Zahl solcher fremden Stämme unterworfen, ihre Führer mit Titeln ausgestattet hat, die Ausdruck ihrer Botmäßigkeit sind, von ihnen Tribute erhält und mit ihrer Hilfe sein Territorium weiter vergrößert. Bei der gewaltsamen Unterwerfung fremder Stämme trat zunächst wohl der ganze erobernde Stamm als Ausbeuter auf. Er bediente sich vermutlich (wie auch die Könige der Shang) der führenden Personen der unterworfenen Stämme, die — sofern sie „guten Willen" zeigten — in ihren Positionen belassen und als lokale Machthaber anerkannt wurden, um die neue Herrschaft zu sichern. Dabei dürfte sich bei diesen Führern der eroberten Stämme eine Wandlung vollzogen haben, in deren Verlauf sie von Führern des Kampfes gegen die fremden Eroberer zu Mitgliedern der herrschenden Klasse wurden, die die gleichen Klasseninteressen hatten wie die Eroberer. Durch die sich nach der Eroberung vollziehende Integration in das Wirtschaftssystem, die zweifellos nicht nur Tributlieferungen betraf, sondern z. B. auch die Einbeziehung in die Arbeiten zur Flußregulierung im Rahmen einer koordinierten großen Kooperation, dürfte sich auch bei den Unterschichten der Eroberer wie der Eroberten eine Angleichung vollzogen haben, wenn wir auch darüber nichts Sicheres wissen. Auch nach der Eroberung gehörte der Boden weiterhin den bäuerlichen Gemeinden, die ihn bebauten. Das Mehrprodukt, das unter den neuen Bedingungen durch verbesserte Möglichkeiten zur großen Kooperation, Verminderung der kriegerischen Auseinandersetzungen usw. vielleicht sogar eine Steigerung erfahren hatte, wurde nun aber nicht mehr nur von der herrschenden Gruppe des eigenen Stammes abgeschöpft, sondern mußte zu einem Teil an den Eroberer abgeführt werden. Dieser war als Führer des siegreichen Stammes Herr über das ganze Territorium. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, hier die Quelle des in den Texten der Zhou-Zeit eindeutig belegten Obereigentums des Königs am Grund und Boden zu finden. Neben diesen Hinweisen auf allgemeine Aspekte seien aber noch gewisse Besonderheiten genannt, die bei dem Prozeß der Staatsentstehung in China eine Rolle gespielt haben dürften und die dem entstehenden Staat ein eigenes Gepräge gaben, das ihn von anderen, etwa denen Vorderasiens, unterscheidet.
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Zu diesen sind u. a. die Seßhaftigkeit und die Ausrichtung der Gesellschaftsstruktur auf den Ackerbau zu zählen. Weiterhin haben wir es hier — im Unterschied etwa zu Mesopotamien — nicht mit Stadtstaaten zu tun, sondern mit einem großen, von verschiedenen Stämmen besiedelten Territorium, das eine relativ gleichmäßige hohe ökonomische Entwicklungsstufe aufweist und das durch Eroberung nach und nach unter eine einzige politische Macht gebracht wird. Hier dürften auch die Wurzeln der späteren chinesischen Ideologie der unumschränkten Macht des obersten Herrschers zu suchen sein, dem alle Untertanen bedingungslos „unterworfen" sind. Auch die führenden Sippen der eroberten und eingegliederten Stämme sind, obwohl zur herrschenden Klasse zu rechnen, Unterworfene des obersten Herrschers. Seine Position ist durch die Ideologie, die ihn als Beauftragten der obersten Gottheit darstellt, mit überweltlichen, transzendenten Zügen ausgestattet. Zweifellos hielten sich noch lange Zeit hindurch urgesellschaftliche Traditionen, die im Verlauf der weiteren Entwicklung teils überwunden, wie etwa die Sippenstruktur, teils aber in veränderter Form beibehalten wurden, wie etwa der Ahnenkult. Es ist jedoch auffallend, daß sich in den chinesischen Quellen zur ShangZeit keine eindeutigen Hinweise auf die Existenz einer Volksversammlung finden, durch die der Herrscher hätte in seinen Handlungen eingeschränkt oder kontrolliert werden können. Aus den Ansprachen einiger Herrscher, die uns das in sehr viel späterer Zeit niedergeschriebene Shujing überliefert, kann man zumindest nicht ersehen, daß diejenigen, an die sich die Reden richteten (wer immer es gewesen sein mag; am ehesten scheint die Vermutung begründet, es habe sich um führende Vertreter von Adelssippen gehandelt), irgendeinen tatsächlichen Einfluß auf die Entscheidungen des Herrschers gehabt hätten. Die Orakelinschriften geben uns ebenfalls keine Hinweise auf derartige Institutionen. 1 Es scheint so, als sei die Phase der militärischen Demokratie bereits sehr früh überwunden worden, so daß sich — im Gegensatz zu anderen Teilen Chinas2 — in den uns überlieferten Quellen über das hier behandelte Gebiet keine verläßlichen Hinweise auf Einrichtungen jener Zeit mehr finden. Will man der Überlieferung glauben und den Übergang zur Erblichkeit der führenden Stellung mit dem Beginn der „Xia-Dynastie" annehmen, so kommt man zu dem Schluß, daß so wichtige Elemente der militärischen Demokratie wie z. B. die „Auswahl der Tüchtigsten", d. h. ein Wahlkönigtum, bereits in sehr früher Zeit, viele Jahrhunderte vor dem Einsetzen schriftlicher Quellen, verschwunden waren. Dies sind zweifellos nur einige der Aspekte, die in einem Modell des Prozesses der Staatsentstehung in China berücksichtigt werden müßten. Fast alle hier angedeuteten Entwicklungen verdienen noch gesonderte eingehende Unter1 2
Vgl. HpiOKOB, Pop. H rocyflapcTBO . . . (s. S. 65 Anm. 2), 21. Vgl. E. Schwarz, Uber Spätformen der Militärischen Demokratie und gentilgesellschaftlicher Verhältnisse im Chu-Staat. Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 10 (1969), 479-485.
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suchung, bevor man ein solches Modell als wissenschaftlich gesichert ansehen kann. Zudem sollte man berücksichtigen, daß es noch Jahrhunderte gedauert hat, bis in China der bürokratisch verwaltete Territorialstaat seine volle Ausbildung erlangte. Die Entwicklung vor und in der Shang-Zeit hat aber als qualitativer Sprung von der Urgesellschaft zur Klassengesellschaft, als erster Ansatz zur Schaffung von Machtorganen einer herrschenden Klasse eine große Bedeutung in der Entwicklung auf dieses Ziel hin.
Über den Beginn des altindischen Staates v o n W a l t e r R ü b e n (Berlin)
Der Staat begann in Indien 1 im Chalkolithikum um 3000 v. u. Z., im Indusgebiet ungefähr gleichzeitig und vermutlich in genetischem Zusammenhang mit dem Staat in Sumer, und hatte wohl auch ähnlichen Charakter, d. h. er war eine indische Variante des altorientalischen Staates. Seine Geschichte ist noch ziemlich unbekannt. Er zerfiel um 2000. Relativ reiches Material gibt es dagegen über die Entstehung des nächsten, des eisenzeitlichen Staates im Gangesgebiet in den Jahrhunderten nach 1000 v. u. Z. Er entwickelte sich aus der zerfallenden Urgesellschaft sowohl der dort ansässigen Dravida (der heutigen Uraon) und Munda (u. a. der heutigen Santal) als auch der als Eroberer einbrechenden Ärya. Sie alle hatten die Stufe der militärischen Demokratie erreicht. Einigermaßen ausreichend greifbar ist uns einstweilen aber nur die der Ärya. Bei allen hatte sich privates Eigentum zu entwickeln begonnen, wenn es auch durch gentile Bindungen noch sehr eingeschränkt war. Ausbeutung und gesellschaftliche Differenzierung gingen mit ersten Formen priesterliehen und kriegerischen Adels einher. Auf den im Gangestal neu entstehenden Staat wirkte aber auch der zerfallene der Indusgesellschaft mehr oder weniger ein. Hier sei vor allem die Herausbildung des Regierungsapparates behandelt. Die mit ihren Pferdestreitwagen nach Indien erobernd einbrechenden Ärya lebten in ihrer I. Periode etwa 500 Jahre lang halbnomadisch im Panjab. Sie betrieben Rinderhaltung und Pflugbau von Gerste. Ihre damalige Gesellschaft ist im Rgveda widergespiegelt. Entsprechend dem zeitweiligen Nomadisieren und dem Kampf der arischen Stämme um Weiden, Ackerland und Beute, vor allem an Herden, waren die arischen Stämme militärisch organisiert. Ein Dorf, soweit man von einem solchen bei der nur zeitweisen Seßhaftigkeit sprechen kann, stand als noch einigermaßen erhaltene gentile militärische Einheit unter einem Dorfführer, der vielleicht schon der reichste Bauer oder Herdenbesitzer war. Der Dorf1
Die folgende Darstellung stützt sich auf W. Rüben, Die gesellschaftliche Entwicklung des alten Indien, insbesondere B d . I I : Die Entwicklung von Staat und Recht. Berlin 1968.
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führer unterstand im Kriege dem König, dem Heerführer; im Frieden war der Dorfführer vermutlich ein sehr unabhängiger primns inter pares unter den anderen Herdenbesitzern seines Dorfes. Er war kein Beamter und hatte keine staatliche Funktion, etwa als Eintreiber von Steuern für den König. Es gab Privateigentum und damit Arme und Reiche, vor allem, was das Vieh betraf, weniger den Boden, denn bei der nur zeitweiligen Seßhaftwerdung nahm sich vermutlich jede Familie von dem eroberten, nur dünn besiedelten Steppenboden für ihren Gersteanbau nach ihren Kräften. Es gab demgemäß noch keine antagonistischen Widersprüche zwischen den armen und reichen BauernHerdenbesitzern, den Priestern und dem König samt seinen Leuten. Private Ausbeutung Ärmerer, Abhängiger, durch Reichere spielte schon eine gewisse Rolle, staatliche Ausbeutung durch Steuern existierte aber noch nicht. Wohl leistete jeder Ärya, d. h. jede Familie der Bauern*Herdenbesitzer, dem König eine Abgabe, ein „Opfer" (bali). Bali bedeutet zugleich die Gabe an die Götter, die die Ärya ebenso zu unterhalten hatten wie ihren König. Der König hatte nämlich die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten wie die Götter die kosmische Ordnung; dafür bedurften sie beide der Unterhaltung durch die Ärya. Darauf wiederum beruhte angeblich die Überlegenheit der Ärya über ihre Feinde, insbesondere die Barbaren, die Nichtärya. Diese Abgabe war aber weder für Götter noch für Könige der Höhe oder dem Termin nach festgelegt, sie war freiwillig, nur durch Sitte und Moral vorgeschrieben, nicht durch staatliches gesetztes Recht. Es gibt keinen Hinweis, daß der König mit einem Machtapparat die Durchsetzung dieser Moral und Sitte als positives Recht erzwungen hätte. Die Einzelheiten des Einziehens dieser Abgaben sind noch weitgehend unbekannt; der König erhielt sie anscheinend durch seine Boten, von ihm geschickte Abhängige, Vorläufer von Beamten oder Männern des späteren Despoten. Sie führten ihm außerdem Personen vor, die er zu sprechen wünschte, und überbrachten nach einer Textstelle auch Muster an Handwerker, damit diese für den König solche Dinge herstellten. Die Abgaben und die Beuteanteile des Königs wurden in seinem Schatzhaus bzw. Speicher aufbewahrt und von einem anderen Manne des Königs vermutlich zusammen mit dem privaten Eigentum vor allem an Herden verwaltet. Von königlichem Boden ist nicht die Rede, obgleich der König Äcker gehabt haben dürfte wie jeder wohlhabende Ärya. Aber er hat keine private oder staatliche große Landwirtschaft mit Sklaven oder sonstigen Abhängigen betrieben. Die Vorräte im Speicher und Schatzhaus -wurden u. a. für Gastmähler des königlichen Hofes verwendet, an dem ausgewählte reiche Herdenbesitzer teilnahmen, die sich zu einer Art Gefolgschaft des Königs und Kriegsführers entwickelten. Solche Gastmähler und Gefolgschaften dienten wohl gleichzeitig der Beratung politischer Fragen. Es gab drei Termini für Versammlungen, die wir noch nicht unterscheiden können; vielleicht gehörten dazu i)orf- und Heeres- bzw. Stammesversammlungen. Die beiden letztgenannten Versammlungen dienten wohl u. a. einer Rechtsprechung. Diese wird damals noch im Grunde, wie es in der Urgesellschaft
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vor deren Zerfall üblich gewesen war, nach traditionellen Sitten, Tabus und Weisheitssprüchen von den jeweils versammelten Familienvätern als gentilpolitischer Rechtsinstitution, nicht von Juristen, gehandhabt worden sein; vielleicht haben Priester als angebliche Kenner der traditionellen Ordnung der Gesellschaft, die gleichzeitig die des Kosmos war, dabei schon eine besondere Rolle gespielt. Als eigentlicher Hüter dieser Ordnung galt der Heerführer-König, der für sie — z. B. für Regen — kultisch verantwortlich war. Seine Funktion im Frieden war ferner vor allem die des Richters, soweit sich nicht noch jeder Familienvater selber sein Recht verschaffte, wie es in der Gentilgesellschaft mit Blutrache oder Bestrafung von Ehebrechern üblich gewesen war. Als Richter hatte der König seine Späher, die überall die Einhaltung der mikro-makrokosmischen Ordnung beobachteten und dem König Verstöße meldeten. Schon in der militärischen Demokratie des Rgveda kann man vermutlich drei Arten der Durchsetzung des Rechts durch die Familienväter, durch den König als Richter und durch die Priester als Sühner unterscheiden, die Keime sozusagen eines privaten, staatlichen und priesterlichen Rechts, die sich im indischen Staat der folgenden Perioden weiterentwickelt haben. Weil der König auch für die magische Erhaltung der kosmischen Ordnung verantwortlich war, hatte er seinen Hofpriester für das Vollziehen gewisser Riten neben sich. Daneben verfügte er über seine Späher für die Erhaltung des Rechts, der mikrokosmischen Ordnung, und seine Boten für das Einholen der Abgaben, die auch als Gesandte an Könige anderer Stämme dienten. Er hatte als Abhängige ferner seinen Wagenlenker, seine Barden, vielleicht Handwerker wie den Wagenbauer, Hirten und vermutlich Knechte für die Landwirtschaft, für seinen Speicher, seinen Hof, die Küche und die Gastmähler. Er besaß Sklavinnen aus Kriegsbeute und sicher auch Sklaven patriarchalischer Art. Er war ein großer Herdenbesitzer mit mehreren Äckern, ein primus inier pares der Ärya; er war vor allem der Kriegsführer und als solcher Befehlshaber der Dorfführer. Ferner fungierte der König als Führer seines Stammes, manchmal eines Stammesbundes, im Kriege und bei der Wanderung, war aber kein Herrscher eines Territorialstaates. Eine Entwicklung dieser Gesellschaft in dem halben Jahrtausend im Panjab ist noch nicht beobachtet worden. Der Zerfall der arischen Urgesellschaft schritt langsam voran. In der nächsten, der II. Periode von etwa 1000 bis 550 v. u. Z. wanderten Könige dieser Art bzw. Adlige, Besitzer großer Herden mit ihren Gefolgschaften oder wandernde Adelssippen, aber nicht mehr Stämme, weiter nach Osten in das Gangesgebiet, wurden dort seßhaft und bildeten mit den einheimischen Munda und Dravida Völkerschaften. Diese gentilen Vorärya lebten mit ihrem Bewässerungsanbau von Reis in einer Dorfgemeinde, die als Urform der typisch indischen Dorfgemeinde damals schon Nachbarngemeinde war. Sie wurden von den Ärya unterworfen, ihr Reisanbau wurde mit dem Gersteanbau der erobernden Ärya und dem Weizenanbau der Indusgesellschaft zu einer komplizierten Landwirtschaft vereinigt, die dann zunehmend die Grundlage des indischen eisen-
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zeitlichen Staates bildete. Sie lieferte ständig ein derart hohes Mehrprodukt, daß Ausbeutung möglich wurde. Es gab bei den Ärya undVorärya privates Eigentum an Produktionsmitteln, das bei den arischen Halbnomaden an Vieh und Produktionsinstrumenten, weniger an Boden relativ ausgeprägt war. Es gab die Teilung der Arbeit des Bauern, Hirten, Handwerkers und Händlers. Es gab den Beginn des Gegensatzes von Kopfarbeit der Priester und Könige (die sich auf die Regierungstätigkeit umstellten) und Handarbeit der anderen, ja, es gab seit etwa 600 v. u. Z. den Gegensatz zwischen Stadt und Dorf. Die Stadt war vor allem Sitz des Regierungsapparates mit seiner Kopfarbeit. Die Massen der Produzenten, die Bauern und Handwerker, wurden die Ausgebeuteten; die zum Kriegeradel aufrückenden reichen Herdenbesitzer und die zum Priesteradel aufsteigenden Priester wurden die Stände der Ausbeuter in der staatlichen, auf nichtökonomischem Zwang beruhenden Ausbeutung. Diese beiden Adelsschichten bildeten als die reichsten Herdenbesitzer, als die ökonomisch Herrschenden auch die politisch herrschende Klasse mit dem König als ihrer Spitze. Sie waren zugleich die Oberschicht des Regierungsapparates. Eigentum an Boden wurde wie Eigentum überhaupt den Unterworfenen schlechthin abgesprochen, aber auch nicht für die Ärya, weder für deren Hirten-Bauern (Vaisya) noch für deren Kriegeradel, als privates Eigentum ausdrücklich in Anspruch genommen; offenbar legte das beginnende positive Recht auf Probleme des Grundeigentums wenig Gewicht; wichtig war für die Ausbeuter nur, daß die Unterworfenen den Boden bearbeiteten, man ihnen aber den Ertrag ihrer Arbeit nehmen konnte. Die sich entwickelnde Gangesgesellschaft war eine neue indische Variante der altorientalischen Klassengesellschaft. Die Dorfgemeinde der Vorärya, nicht der Ärya, wurde ihrem Wesen nach die feste Grundlage des Despotismus als Staatsform. Der Gegensatz der Massen der Produzenten, der Bauern und Handwerker, als potentiell rechtloser Untertanen, sozusagen als latenter Sklaven des Despoten, zu diesem bzw. zum Staat oder zu der adligen Ausbeuterklasse war der typisch altorientalische Grundwiderspruch. Diese Entwicklung der zerfallenden Urgesellschaft zur altorientalischen Klassengesellschaft war gesetzmäßig und damals ein Fortschritt. Die Dorfgemeinde blieb bis heute im Wesen unverändert, mit ihr erhielten die Volksmassen gentile Bindungen mancher Art lebendig. Sie hatten kein Interesse am Übergang zur Klassengesellschaft, aber ihre Produktionsleistung machte die Ausbeutung möglich, und diese wiederum ermöglichte den Ausbeutern, eine ständige Steigerung der Produktion zu erzwingen. Die Keime der neuen Gesellschaftsformation waren in der alten, u. a. in der Nachbarngemeinde, langsam herangereift. Die arischen Eroberer spielten die Rolle der Auslöser des Neuen. Welchen Platz die Adelsschichten der Dravida und Munda dabei einnahmen, ist noch nicht deutlich genug erkennbar; sie verschmolzen offenbar mit denen der Ärya in den beiden Adelsgeschlechtern der „Sonne" und des „Mondes" und im Brahmanenstand. Weder vorarischer noch arischer Adel fungierte
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als Organisator der Bewässerungsanlagen; beide wuchsen nicht aus solcher urgesellschaftlich notwendigen Funktion in ihre Regierungsfunktion in Klassengesellschaft und Staat hinein, wie es doch sonst im alten Orient die Regel war. Bei unserer besseren Kenntnis der arischen Quellen tritt vor allem der Übergang von der rgvedischen zur Gangesgesellschaft hervor, der vom Heerführer der Ärya im Panjab zum Despoten im Gangesgebiet. Das Ausbeuten bezeichneten die Priester damals brutal als „Fressen" des Volkes. Aufstände wurden von ihnen erwähnt, Klassenkämpfe nahmen also manchmal scharfe Formen an. Umfangreiche priesterliche, theologische Texte, die Brähmanas und Upanishaden, sind — abgesehen von Keramik — die einzigen uns erhaltenen Zeugnisse der damaligen Gesellschaft. Die Priester wurden die Ideologen des beginnenden despotischen Staates. Die Brahmanen erhielten als Priester und Theologen vom Despoten das Privileg der damals keimhaft für den neuen Staat beginnenden Rechtsetzung und Rechtsprechung. Sie lehrten, die Gesellschaft als eine von vier Ständen, dreier arischer, der der Brahmanen, Ksatriyas und Vaisyas, und des nichtarischen, der unterworfenen Voräryas, der Südras, also eines Lehr-, eines Wehrstandes und zweier Nährstände zu verstehen und verdeckten damit die Klassengegensätze. Der damals beginnende altindische Despotismus brauchte die sich als Stand organisierenden Priester und Theologen als seine Ideologen — weitgehend ähnlich den feudalen Europäern zum Unterschied von den antiken Griechen. Auch jene glaubten im Gegensatz zu den Griechen an den priesterlichen Lehrstand als den höchsten über dem Wehr- und Nährstand. Die Brahmanen sind in anderer Weise den Leviten der Israeliten und den Mobeden der Iranier, den Priestern des alten Orients überhaupt, an die Seite zu stellen. In den Texten dieser Brahmanen finden sich auch traditionelle, mehr oder weniger übereinstimmende Listen der Männer und Frauen, die zum Hofstaat des Königs gehörten, der sogenannten „Juwelen" 1 . Als solche werden der Kronprinz, der Bruder, die Hauptfrau und ein paar Nebenfrauen des Königs aufgezählt. Als erster solcher Mann des Königs galt diesen Theologen natürlich der Hofpriester. Ihm folgte als nächster der Heerführer. Diese Rangfolge offenbart eine wichtige Neuerung: Der König führte das Heer nicht mehr selber, sondern regierte. Wohl aber galt der Dorfführer in dieser Liste weiter als Mann des Königs, nicht etwa des Heerführers; dieser sollte offenbar nicht allzu mächtig werden. Der Dorfführer war jetzt aber auch im Frieden ein Mann des Königs, d. h. der Staat beanspruchte jetzt, den Dorfschulzen, der doch nur der erste der Bauern seiner Dorfgemeinde war, als Beamten auszunutzen. Weitere Männer des Königs waren sein Wagenlenker, sein Barde, sein Fleischzerleger und Austeiler bei den königlichen Gastmählern des Adels, der Würfelwerfer bei den Würfelspielen dieses Hofstaates, der Zimmermann 1
Ebenda, 52fF.; Klaus Mylius, Indien in mittelvedischer Zeit. Habil.-Schrift Leipzig 1967 (Manuskript), 397ff.; K. P. Jayaswal, Hindu Polity. 3. Aufl. Bangalore 1955, 196ff.; vgl. 188: auf sie als „Königsmacher" ist bereits in AV III, 5, 6—7 hingewiesen.
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und der Wagenbauer des Königs, der traditionelle Bote und ein anderer, nichtarischer Bote. Unklar ist, ob gewisse Termini als „Richter" und als „Dorfrichter" zu übersetzen sind. Späher finden sich in dieser Liste nicht, wohl aber werden gelegentlich religiöse Entsühner in der Umgebung des Königs erwähnt. Dieser königliche Hofstaat ähnelt weitgehend noch der Gefolgschaft des rgvedischen Kriegsführers, nur ist der Heerführer jetzt ein Mann des Königs. Aber er ist kein Kriegsminister; Minister werden überhaupt in dieser Literatur nicht erwähnt. Der König beriet sich vermutlich bei seinen Gastmählern und besonderen Anlässen mit den ersten seiner Männer — den Prinzen, seinen Brüdern, dem Hofpriester und dem Heerführer — über politische Fragen. Die alten Heeres- oder Stammesversammlungen existierten im territorialen Staat nicht mehr. In HofVersammlungen wurde anscheinend nur über theologische und dann über philosophische Fragen diskutiert. Der Despotismus mit seinen priesterlichen Ideologen begann erst keimhaft, öffentliche Arbeiten, wie Bau von Bewässerungsanlagen, Straßen oder Festungen bzw. Palästen oder Tempeln, gab es noch nicht. Städtebau begann erst gegen Ende der Periode. Zur damaligen Entwicklung der Steuer und des Finanzwesens über die rgvedische Gesellschaft hinaus ist noch nicht viel zu sagen. Ähnlich steht es mit dem Rechtswesen. Die theologischen dogmatischen Texte bezeugen nur sporadische juristische Gedanken. — Vom Einfall der Ärya nach Indien bis zum Ende dieser Periode waren an die 1000 Jahre vergangen. Vor allem in den letzten drei Generationen begann dann etwas wichtiges Neues: die Erlösungsreligion des Hinduismus und die Philosophie in den Upanishaden; man möchte annehmen, daß sich damals auch der Staat entsprechend entwickelt hat. Das Entstehen der Erlösungsreligion bezeugt auf jeden Fall, daß damals die Ausbeutung der Sudras ähnlich hart war wie die der Sklaven bei den Griechen zur gleichen Zeit. In der nächsten, der III. Periode von etwa 550 bis 350, entwickelte sich der Staat weitgehend in zwei Formen. In den dezentralisierten Staaten, den sogenannten Aristokratien, bildeten Tausende von stadtsässigen kleinsten „Königen", d. h. Adligen, jeder mit vermutlich nur wenigen Dorfgemeinden, mit je einem Speicherverwalter und Heerführer, die herrschende Schicht. Sie schufen sich eine kleine Exekutive für Krieg und Frieden; ihr Staat brauchte zwar weder für gemeinsame Steuereinziehungen aller Adligen noch für Heeresverwaltung einen ausgebildeten Regierungsapparat, wohl aber für ein oberstes Gericht. Anders verhielt es sich mit den unter einem Despoten zentralisierten Despotien. Die führende unter ihnen, Magadha, entwickelte sich allmählich zu hoher Zentralisierung bis zu einem Großreich, das fast ganz Indien umfaßte. Ihre Theoretiker, die Staatslehrer, stellten eine Liste von 18 sogenannten „würdigen Männern" (tirtha)1 zusammen, die den Beamtenapparat bildeten: 1
Buben, a. a. O., 124; F. Wilhelm, Die achtzehn Würdenträger. Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 1969, Suppl. I, 894-897; Kuben, a. a. O., 203.
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die Ratgeber, vom Despoten aus den besten aller Beamten ausgewählt, den Hofpriester, den Heerführer (diese beiden in Fortführung der Liste der „Juwelen" als religiöser und militärischer Stützen des Thrones), den Kronprinzen, den Torhüter, den Palastwächter, weiter den Schatzverwalter, den Steuereinnehmer und den Bergwerksleiter als drei Finanzbeamte, zwei Arten Richter, mehrere Arten Truppenkommandeure von Festungen und Grenzabschnitten und die sogenannt en Aufseher, die als Leiter der Zweige der staatlichen Wirtschaft aufzufassen sind. Wenn wir auch noch nicht alle Bezeichnungen dieser Liste der „würdigen Männer" verstehen, so zeigt sie doch, daß sich der Staat mit seiner Staats» Wirtschaft, seinem Finanz-, Gerichts- und Heereswesen aus dem keimhaften Zustand der I I . Periode bedeutend entwickelt hatte. Verschwunden ist der Dorfführer, offenbar weil das neue stehende Heer als Machtinstrument des Staates gegen die Volksmassen den militärischen Dorfschulzen der zerfallenden Gentilgesellschaft nicht mehr verwenden konnte. Weggefallen sind auch diejenigen „Juwelen", die ihre Funktionen bei den königlichen Gastmählern der I I . Periode gehabt hatten. Der Despotenhof kannte solche aristokratischen Versammlungen nicht mehr. Diese Liste der 18 „würdigen Männer" wurde dann in der IV. Periode in dem Staatslehrbuch Kautalyas, das den Staat der Mauryas um 300 v. u. Z. widerspiegelt, die Grundlage einer Gehaltsliste aller vom Staat „zu Unterhaltenden", d. h. der Beamten. Noch vor den Hofpriester und den Heerführer sind dort die Opferpriester und Lehrer des Despoten gestellt. Hinzugekommen sind weiter eine Fülle von kleineren Beamten mit niedrigeren Gehältern, wie die Hüter der Material- und Elefantenwälder, der Arzt, Pferdedresseur, Astrologe, Wahrsager, die sogenannten Leute des Hofpriesters, weiter die Rechner, Schreiber usw. und schließlich die Gaukler, Fein- und Grobhandwerker bis zu den „Bergwerksgräbern", die nicht mehr zum Regiprungsapparat gehören. Die Fülle der „Aufseher" wird von Kautalya im Abschnitt über die staatliche Wirtschaft ausführlich geschildert. In der Gehaltsliste erscheinen weiter die Königin und der Wagenlenker, die schon in der Liste der „Juwelen" aufgezählt worden waren. Es werden aber auch drei Arten von Boten, d. h. Gesandten des Despoten, und eine ganze Reihe von Spitzeln und Geheimagenten aufgezählt. Sie alle waren spezialisierte Nachfolger der Boten und Späher der rgvedischen vorstaatlichen Gesellschaft, die aber unter den „Juwelen" und „würdigen Männern" aus irgendeinem Grunde nicht genannt worden waren. Diese Beamten waren nicht in Ressorts von Fachministern gegliedert, denn es gab immer noch keine Ministerien oder Minister. Der Despotismus wollte offenbar die Zusammenballung der Macht in den Händen eines Kriegs-, Finanz-, Wirtschafts-, Innen-, Außen- oder Justizministers vermeiden. Auch dem Heerführer stellten Beamte einzelner Truppenarten ein Heer nur für den Kriegsfall zur Verfügung; viele Beamte, u. a. der Wirtschaft, hatten für ihr Gebiet Polizeifunktionen, so daß eine allgemeine, zentralisierte Polizei nicht benötigt wurde. Es gab auch keinen Ministerrat, sondern der Despot wählte
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sich aus den Beamten die nach seiner Ansicht „besten" für jeweilige Beratungen; er war als Despot an ihre Meinung nicht gebunden. An diesem Staatsaufbau hat der große Mauryakönig Asoka nicht gerüttelt, obgleich er als frommer Buddhist besondere Moralbeamte einführte. Auch die Eroberer — die Griechen, Öaka, Pahlava und Kushan — haben ihn in den folgenden Jahrhunderten nicht geändert. Erst unter den Guptas sind zwischen 300 und 500 u. Z. einige Neuerungen festzustellen: erstens eine Art Außenminister als ein Beamter für Krieg und Frieden, wie er in Inschriften genannt wird, zweitens eine Art Provinzeinteilung des Großreichs unter Gouverneuren, die, wie manche Forscher nach einigen Inschriften meinen, mehr oder weniger den Charakter von Feudalherren annahmen. Im dritten Viertel des 5. Jh. erscheint zuerst in südindischen Inschriften der Titel sämanta, den man mit „Feudalherr" zu übersetzen pflegt. 1 In der hochbedeutenden Dichtung dieser Gupta-Periode ist vor 500 u. Z. von dieser Neuerung ebensowenig zu spüren wie in der Rechts- und Staatslehre dieser Jahrhunderte. Kälidäsa verwendete z. B. in Raghuvamsa XVII, 68 noch den alten Fachausdruck „würdiger Mann".2 Das Problem eines indischen Feudalismus bedarf auch in dieser Hinsicht noch einer eingehenden Untersuchung. Die alten Inder wurden sich des Übergangs von der Urgesellschaft zur Klassengesellschaft und zum Staat sofort, wenn auch natürlich nicht mit einer wissenschaftlichen Soziologie, bewußt. Konservative Brahmanen stellten es als Theologen aus der Sicht der erfolgreichen arischen Eroberer so dar, als wenn man einen Oberherrn vor allem als Kriegsführer benötigt hätte, als handelte es sich immer noch um Urgesellschaft. Die Volksmassen aber litten unter der neuen Ausbeutung, und ihnen erklärten diese Ideologen der neuen herrschenden Klasse unter Verwendung des damals aus Kleinasien übernommenen Vierweltaltermythus, daß die Menschen ihrer Natur nach langsam immer schlechter geworden wären, bis nach dem Übergang von einem einstigen paradiesischen (urgesellschaftlichen) zum jetzigen, schlimmsten Zeitalter eines Tages ein Heiland kommen und das paradiesische wiederherstellen würde, so daß ein Zyklus von solchen vier Weltaltern ewig dem anderen folge. Unmittelbar nach dem Entstehen des Staates entwickelte sich in Indien ferner eine Staats- und eine Rechtslehre. Damit hob sich die Gangesgesellschaft weit über die Indusgesellschaft empor. Dasselbe wird auch von dem Staat der Maurya-Gupta gegenüber den älteren Staaten der altorientalischen Klassengesellschaft wie dem der Indusgesellschaft oder Sumer gelten, wenn es auch noch nicht im einzelnen nachweisbar ist. Daß es sich hierbei um den Übergang zum Staat handelte, haben sowjetische Indologen als erste 3 erkannt und Indologen der DDR und einige indische Kommunisten übernommen und 1 R. Sh. Sharma, Indien Feudalism: c. 300-1200. University of Calcutta 1965, 24 f. Rüben, a. a. 0., 202 Anm. 14; 272 Anm. 80; Wilhelm, a. a. O., 897: noch im 10. Jh. 3 S. u. a. in deutseh: Geschichte Indiens. Große Sowjet-Enzyklopädie. Berlin 1954, 44 (in russisch 1953 2. Aufl.): im 10.-7. Jh. Entstehung einer Reihe kleiner Sklavenhalterstaaten.
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fortgefühlt. 1 Die übrige Indologie sah zwar ein Zunehmen der Macht des Königs, stand aber allgemein auf dem Standpunkt, der nur einmal mit vermutlich antimarxistischer Absicht ausgesprochen wurde, daß es immer Staaten gegeben habe.2 1
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W. Ruben, Einführung in die Indienkunde. Berlin 1954, 112ff.; s. o. S. 73 Anm. 1; Weltgeschichte in Daten. Berlin 1965, 185f.; Mylius, a. a. 0., 367ff. - D. D. Kosambi, The Culture and Civilisation of Ancient India in Historical Outline. London 1965, 96ff.: From tribe to society, new classes, private property, universal monarchy, dictatorial absolute monarchy, new social stage und andere Begriffe ohne Systematik. — Debiprasad Chattopadhyaya, Lokayata. New Delhi 1959, 125ff.: Übergang vom Stamm zum Staat um 3000 v. u. Z.; 469ff.: zu Buddhas Zeit. W. Rau, Staat und Gesellschaft im alten Indien. Wiesbaden 1957, Iff. — Jayaswal, a. a. O., 183, spricht schon beim RV von monarchy, bei der II. Periode nur von einem „great change" (197), B.Keith (Cambridge History of India 1,1922,130) vom Wachsen der Macht und Erblichkeit des Königs, danach R. C. Majumdar (An Advanced History of India. London 1953, 44) vom Ausbau des Verwaltungsapparates. — A. L. Basham, The Wonder that was India. London 1954: kleine Königtümer, die ihren Stammescharakter gänzlich verloren hatten (ohne dies verständlich zu machen). — R. Thapar u. P. Spear, Indien. Zürich 1965, 39: Entstehen der Idee des Königtums; Stammeshäuptling wird König; 40: Einführung eines rudimentären Verwaltungssystems; 41: Arier kamen mit drei Klassen nach Indien. — A. T. Embree u. F. Wilhelm, Indien. Frankfurt a. M. 1967: Wilhelm spricht 37 f. bald von Staaten, bald vön Stämmen.
6 Staatsentstehung
Die Bedeutung der sogenannten Richterzeit für die Staatsentstehung bei den Hebräern von
HEINZ KREISSIG
(Berlin)
Die Zeit, die im sogenannten Richterbuch des Alten Testaments (sptym) behandelt wird, umfaßt die Ereignisse nach der Seßhaftwerdung der Hebräer in Kanaan und Jordanien (der sogenannten Landnahme), d. h. etwa die beiden letzten Jahrhunderte des 2. Jahrtausend v. u. Z., gehört also archäologisch gesehen in Eisen I Palästinas1. Um die Frage zu beantworten, ob diese Gesellschaft schon in einem Staat bzw. in Staaten lebte oder nicht, wenn aber noch nicht, welche Etappe wir auf dem Wege dieser Gesellschaft zur Staatswerdung vor uns haben, müssen wir ihre soziale Situation untersuchen. Die Darstellung des Buches J'osua, wonach die Hebräer nach dem „Auszug aus Ägypten" und einer 40-jährigen Wüstenwanderung Kanaan in einem Feldzug unter Jehösu'a, dem Sohn Nün's, erobert hätten, gehört nach heute allgemeiner Anschauung ins Reich der ätiologischen Sagen. Offenbar sind die hebräischen Stämme zu verschiedenen Zeiten und unterschiedlichen Bedingungen von Osten und Süden her nach Kanaan eingesickert und haben dort zu siedeln begonnen. Selbstverständlich dürfen im Verlaufe dieses Prozesses auch kriegerische Auseinandersetzungen mit den verstreuten kanaanäischen Stadtstaaten nicht ausgeschlossen werden. Da wir aber auf die spätere tendenziöse Berichterstattung der Hebräer angewiesen sind, bleibt unsere Kenntnis dieser Vorgänge vorläufig im Dunkeln. Bei der Untersuchung der sozialen Situation der Hebräer nach Beendigung der Wanderbewegung gilt es festzuhalten, daß die Darstellung des Verhältnisses zwischen hebräischer und kanaanäischer Bevölkerung den gleichen Tendenzen unterworfen ist. Sie versucht glauben zu machen, daß eine kanaanäische Bevölkerung, wenn überhaupt, nur als besiegte, abhängige Bevölkerung existiert. Tatsächlich gibt es aber autonome kanaanäische Städte bis in die Regierungszeit Davids hinein. Unsere Quelle, das Buch sPtym, ist — mit Ausnahme des zeitgenössischen Deborah-Liedes — etwa 200 Jahre nach den geschilderten Ereignissen entstanden, weist einige spätere Glossen auf und ist deuteronomistisch überarbeitet. Es geht aber auf z. T. sehr alte mündliche Traditionen zurück. Eine vielleicht zeitgenössische Quelle, das i M. Noth, Die Welt des Alten Testaments. 4. Aufl. Berlin 1962, 110.
Richterzeit und Staatsentstehung bei den Hebräern
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sogenannte Bundesbuch, das in das Buch Exodus eingegangen ist, scheint wenigstens zum Teil ein kanaanäisches Stadtrecht gewesen zu sein und ist insofern nur mit Vorsicht für die Hebräer der Vorkönigszeit zu gebrauchen1. Ganz kurz vorweggenommen sei der Versuch einer Darstellung der kanaanäischen Gesellschaft, wie die Hebräer sie vorfanden. Die Kanaanäer im Landesinneren lebten in autonomen Stadtstaaten. Die Städte waren mit einer Mauer umgeben und hatten in der Mitte einen „Turm", also ein besonders befestigtes Zentrum. Die Stadt war Sitz der aristokratischen Führung, zumeist eines Despoten und einer bevorrechtigten, zum Herrscher in Beziehung stehenden Schicht von Würdenträgern und teilweise auch Fernhandelskaufleuten. Das umliegende Land war Eigentum dieser Herren; die erblich auf ihrem Anwesen sitzenden Bauern befanden sich in außerökonomischer Abhängigkeit. Die mit den archäologischen Funden übereinstimmende hebräische Quelle für diese Lage, das Buch Josua, nennt die Vorsteher dieser Städte melelj, was mit „König" wohl annähernd richtig wiedergegeben wird, spricht aber auch von Königsstädten (Jericho, Jerusalem, Hebron u. a.) im Gegensatz zu solchen, die — wie gibe'ön — keinen König hatten. Hier in Gibeon hatten josbe gibe'ön, die Bewohner der Stadt, mit Josua Frieden geschlossen. Sie scheint also in einer demokratischen Form der „höheren Einheit" regiert worden zu sein, von den zeqenlm, den Ältesten (Jos. 9, 3.10; 10, 1—3). Interessanterweise wird von Gibeon noch betont, daß alle Männer gibborim waren, d. h. waffenfähig. Das könnte bedeuten, daß hier das Land zwar familiär genutzt, aber noch formales Gemeindeeigentum war; anders wäre diese Betonung ziemlich sinnlos, da ja auch die abhängigen Bauern Kriegsdienst zu leisten hatten. Für sie wird aber niemals der Ausdruck gibborim gebraucht, mit dem die Vorstellung des „gewaltig", auch „überlegen sein" verbunden ist 2 . Nach Beendigung der sogenannten Landnahme, über deren einzelne Etappen wir, wie gesagt, so schlecht unterrichtet sind, daß ich es für müßig erachte, den existierenden Hypothesen hier eine weitere — unbeweisbare — hinzuzufügen, stellt sich die Situation der Hebräer folgendermaßen dar: Räumlich gesehen wohnen die Hebräer in Stämmen beieinander. Das von einem Stamm (matt? oder sebet) besiedelte Gebiet wird als nah a lä bezeichnet, so daß sich die Zusammensetzung nah a lat matt? ergibt (Jos. 15, 20). nah a lä, deutsch gewöhnlich als „Erbbesitz" wiedergegeben, ist jedoch auch das Erbeigentum des einzelnen. So wurde Josua in nah a latö, seinem Erbeigentum, beigesetzt (Jud. 2,9). Und dafür, daß das Stammesland — wahrscheinlich ' A. Alt, Die Ursprünge des israelitischen Rechts, in: Kleine Schriften zur Geschichte Israels. Berlin 1962, 146-190, bes. 163; G. von Rad, Theologie des Alten Testaments I. Unveränd. Nachdruck der 4. Aufl. Berlin 1963,43 f.; H. Ringgren, Israelitische Religion. Stuttgart 1963, 41. 2 Vgl. hierzu G. Wallis, Geschichte und Überlieferung. Gedbnken über alttestamentliche Darstellungen der Frühgeschichte Israels und der Anfänge seines Königtums. Berlin 1968, 46; M. Noth, Geschichte Israels. 5. unveränd. Aufl. Berlin 1961, 132. 6»
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ohne Zwischenstufe — in Familieneigentum überging, haben wir eine Reihe von Zeugnissen. Der Judäer Kaleb schenkt seiner Tochter Aksa ein Stück Land mit Wasserquellen in der Negeb (Jud. 1, 14f.; daß Kaleb vermutlich keine historische Persönlichkeit ist, besagt insofern nichts, als jedenfalls die Möglichkeit einer solchen Handlung vorausgesetzt wird); Goal und seine Brüder besitzen Weinberge (Jud. 9, 27); in der Geschichte von Jephta verweigern die Brüder diesem das Erbe an Grund und Boden (Jud. 11,2); im Bundesbuch gibt es sowohl Eigentümer von Vieh (Ex. 20, 29), von Zisternen (Ex. 20, 33) als auch von Feldern (Ex. 22, 5). Es geht hier unübersehbar um Erbeigentum in der Familie. Aber zwischen Stamm und Familie gibt es eine Zwischenformation. In der Zeit der Wanderung war diese Formation die mispahä, gewöhnlich als Geschlecht oder Sippe wiedergegeben, und wahrscheinlich stand sie vor der „Landnahme" überhaupt anstelle des sebet. Die mispahä existiert auch weiterhin. Nachweisbar ist sie als militärische Einheit der Tausendschaft, 'eleP. Als Gideon vor dem Auftrag erschrickt, die Hebräer gegen die Midianiter zu führen, sagt er: 'alpi haddal bim e nassi — meine Tausendschaft ist die geringste im Stamm Manasse. Die Tausendschaft ist also — ohne daß man die Zahl hierbei strapazieren dürfte — identisch mit der mispahä. Aber daneben hat sich eine andere Formation entwickelt, die lokaler Art und nicht identisch mit der Sippe ist, diese aber an Bedeutung bereits weit übersteigt: die in einer Stadt oder einem Dorf zusammenwohnende Gemeinde. Sie wird zwar immer von Familien ein und desselben Stammes gebildet, aber nicht von Familien derselben Sippe. Im Gegenteil haben wir Zeugnisse, daß einzelne Familien von einer in die andere Stadt umsiedeln, wie Goal, der nach Sichern zieht (Jud. 9, 26), daß in einer Stadt Angehörige verschiedener mispahöt leben, so ebenfalls in Sichern die Sippe der Mutter Abimeleks neben anderen ba' a le ä®^em. Die soziale Organisationsform aber - und das ist das wichtigste in diesem Zusammenhang ist die lokale Gemeinde und nicht mehr die mispahä! Es gibt keine Führer oder Ältesten der Sippe, sondern nur „höhere Einheiten" der Städte: Oberste (sarim) und Älteste (zeqenim) von Sukkot (Jud. 8, 14), sarim von Penuel (Jud. 8, 8), von Sichern (Jud. 9, 30), von Gilead (Jud. 10,18), wo auch Älteste bezeugt sind (Jud. 11, 8). Mit der Seßhaftwerdung hat also die Sippe fast ohne Übergang ihre Bedeutung verloren zugunsten der lokalen Ansiedlung, bei der auf Sippen keine Rücksicht genommen wurde. Selbst als militärische Einheit scheint die Bedeutung der Sippe etwas zweifelhaft, wenn wir hören, daß z. B. einzelne hebräische Städte — und nicht Sippen oder Tausendschaften — Gideon und seinem gesamthebräischen Heere die Unterstützung verweigern (Jud. 8, 6ff.). Schauen wir uns also den Sozialaufbau einer hebräischen Gemeinde an. Wir finden für sie die Begriffe 'ir und hawwä. 'Ir ist die Stadt, hawwä das Dorf, eigentlich „da, ,wo man lebt", bei den Nomaden z. B. das Zeltdorf. Wir sahen bereits, daß es in den Städten Oberste und Älteste gibt: sarim und zeqenlm, die zweifellos nicht identisch sind, wie die Behandlung der Begriffe
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in Jud. 8 , 1 4 erweist: wajjiktob 'elayw et-sare sukköt w e 'et-z e qeneha. Aber damit sind die Möglichkeiten der sozialen Gliederung nicht erschöpft. Der Stamm Juda, der im gleichnamigen Gebirge siedelte, gab nach der Legende dem Kaleb, einem Feldherrn Josuas, die kanaanäische Stadt Hebron, wajjitnü, sie gaben, kann nur in dem Sinne verstanden werden, daß Kaleb in einer despotischen Form der „höheren Einheit" die Stadt beherrschte (dabei ist zu beachten, daß der Begriff „Despot" hier durchaus in seinem ursprünglichen, keineswegs nur pejorativen Sinn gebraucht wird). Als solcher Oberherr — seinen Titel erfahren wir nicht — vergibt er Land an Stammesangehörige weiter. Das Land, das er als Herr von Hebron zu vergeben hat, reicht aber bis in die Negeb, ist also ein Territorium von beachtlichem Ausmaß. In diesem Gebiet werden sogar weitere Städte unterworfen. Ähnliches wird in einer ätiologischen Sage von den Söhnen des Jair aus Gilead berichtet: Die 30 Söhne Jairs besaßen 30 Städte, die man hawwöt Jairs (am besten vielleicht mit „Wohnorte" zu übersetzen) nannte. Diese Benennung der Städte nach dem Vater scheint mir folgende Vorstellung zu beweisen: Wie Kaleb hatte Jair ein Territorium als Despot zugeteilt erhalten, das er weiter vergab (übrigens wie Kaleb auch zunächst an seine Nachkommen); die Herren der einzelnen Orte blieben aber von Jair abhängig, so daß dessen Name bei den hawwöt verblieb. Diese Situation dürfte sich in Gilead besonders deshalb leicht erhalten haben, weil die „Städte" in dem relativ dünn besiedelten Gebiet die Größe heutiger Dörfer kaum überschritten haben werden. Wir haben also auch in Gilead einen Einzelherrscher über ein Territorium sowie ihm untergeordnete Herren einzelner Städte. Für sie alle ist keine „Amtsbezeichnung" überliefert, es ist auch gar nicht sicher, ob es überhaupt solche gegeben hat. sar, hör, rös, ba'al und andere Begriffe werden nicht deutlich unterschieden, sondern allgemein für die bevorrechtigte Schicht gebraucht, die vermutlich ihre Vorrechte noch aus der Zeit der Wanderung ableitete, sie nun aber bereits in privilegiertem Landeigentum vergegenständlicht hatte. — Natürlich ist Jair wie Kaleb ein Stammesheros und keine historische Person. Aber solche Sagen entstehen nur auf der Basis der Umwelt und widerspiegeln so reale Situationen (vgl. Nu. 32, 41). Wir haben also zumindest in bestimmten Gegenden oder wenigstens bei den Stämmen Juda und Manasse eine Art hierarchischer Gliederung nach oben vor uns. Die Basis bilden aber weder Sippe noch Stamm, sondern das Territorium. Weitaus schwieriger ist es, aus den Quellen das Verhältnis zwischen der privilegierten Klasse und der breiten Masse der Bevölkerung herauszulesen. Als Israel stark geworden war, machte es die Kanaanäer fronpflichtig, heißt es in einer späteren Glosse zum Richterbuch (Jud. 1, 28), die dieses Verhältnis im großen und ganzen richtig — wenn auch im Rahmen eines längeren Prozesses — wiedergibt. Wie aber sieht es in bezug auf die hebräischen Bauern aus ? Genau besehen, gibt es nur eine Stelle, die hierüber etwas aussagt. Wenn auch die Erzählung über den Ephraimiten Micha nicht ursächlich zum Richterbuch gehörig erscheint, so schildert sie doch Ereignisse der gleichen Zeit und
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dürfte auch nicht viel jünger sein. Nachdem die Daniten dem Mann Micha — er wird immer nur mit 'is bezeichnet, war also offenbar nicht von adliger Abstammung — sein Heiligtum weggenommen und sich entfernt hatten, geschah folgendes (Jud. 18, 22): „die Männer, die in den Häusern (wohnten), die bei dem Hause Michas (standen), wurden zusammengerufen". Das Verb, auf das es hier ankommt, ist in der vorliegenden Form niz' a qü. Luther übersetzt sehr schön „wurden zuhauf gerufen", während die Zürcher Bibel die Bedeutung verwischt und sagt: sie taten sich zusammen. niz' a qü ist aber die Niphal-Form von z'q „schreien, rufen". Die Männer lassen sich also rufen, d. h. sie werden gerufen, sie werden aufgeboten, und zwar von Micha. Wenn nun auch das noch als Nachbarschaftshilfe ausgelegt werden könnte, dann zweifellos nicht mehr die Frage der Daniten an Micha: mä-l e Jjä kl niz' a qta — was willst du, daß du zusammenberufen ( = aufgeboten) hast? Micha selbst hat die Männer aufgeboten; die in den Häusern bei seinem Hause wohnten, waren von ihm abhängig. (Gestützt wird diese Annahme weiter dadurch, daß die im Deutschen beiläufige Formulierung „bei dem Hause Michas" wiedergegeben wird mit 'im-bet mlfcä. 'im hat aber im Gegensatz zu dem allgemeinen b e die Bedeutung von „im Besitz von", „innerhalb von" gleich dem lateinischen penes. Das Grundwort 'mm heißt „sich zusammenschließen". Die b e i dem Hause Michas Wohnenden sind also die dort Zusammengeschlossenen, die Häuser b e i dem Hause Michas sind im Eigentum von Micha.) Offenbar verfügt auch Micha über ein kleines Gebiet, das er oder einer seiner Vorfahren für irgendwelche Verdienste erhalten hatte, samt den dort siedelnden Bauern, die zu seinen Abhängigen wurden. Ich meine, daß wir diesen Status auch für die hebräischen Bauern in den Gebieten annehmen dürfen, von denen die Erzählungen über Jair und seine Söhne und über Kaleb berichten. Sicher ist diese Abhängigkeit noch patriarchalisch aufzufassen, doch gibt eine Beobachtung zu denken. Die in den kanaanäischen Städten vorgefundenen migdal oder millo' — mit Burg und Turm sicher sehr ungenau übersetzt, millo' ist wörtlich die „Aufschüttung" — werden von den Hebräern ebenfalls benutzt, und in ihnen sitzen die ba' a lim, die Bevorrechteten der Stadt (Jud. 9, 6). Sollten sie sich außerhalb doch nicht ganz sicher fühlen? Zumindest dürfte das gegenüber ihren kanaanäischen Untergebenen der Fall gewesen sein. Daß von einem gewissen Solidaritätsgefühl der kanaanäischen und hebräischen Abhängigen nichts berichtet wird, ist natürlich nicht verwunderlich, und man sollte es nicht ohne weiteres ausschließen. Ungewiß ist, wie man die 'abdim Gideons (Jud. 6, 27) einordnen soll. Sklave kann man zwar immer mit 'ebed wiedergeben, aber nicht jeder 'ebed ist Sklave. Wir haben also im Hebräischen dasselbe Dilemma vor uns wie im Griechischen und Lateinischen: das meistgebrauchte Wort — 'ebed, öovAog, servus — umfaßt sowohl Sklaven wie auch nichtversklavte Abhängige, die vor allem an eine Person, nicht so sehr an ein Produktionsmittel, gebunden sind. Das gleiche gilt übrigens für na'ar, das hebräische Äquivalent zu nah;. Da es unwahrscheinlich ist, daß Gideon das heimliche Opfer mit nichthebräischen Sklaven
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bringt, muß man auf jeden Fall die Existenz von Hebräern annehmen, die bereits ganz von Produktionsmitteln getrennt sind, wobei es dahingestellt bleiben muß, ob sie als Sklaven oder in Tagelohn oder in einem der Leibeigenschaft vergleichbaren Status arbeiten. Zusammengefaßt erhalten wir in einem hebräischen Stamm also folgende Ordnung:
Gebieter über . ein Territorium
Gebieter über eine Stadt
Stamm
Amphiktyonie
oder
Despot oder Oberste oder Älteste von Städten
oder Oberste und Älteste einer Stadt.
Eigentümer von Land
Eigentümer von Land
Untereigentümer von Land
Eigentumslose
Untereigentümer von Land
Eigentumslose
Die mispahä, die Sippe, findet in diesem sozialen Schema keinen Raum mehr. Die Familie, im Hebräischen bet-'ab, Haus des Vaters, findet sich in allen Stufen, einschließlich der Untereigentümer, der Abhängigen, die ja erblich auf ihrem Boden sitzen. Beschlüsse der Stämme — das ist zu ergänzen — scheinen (es gibt keine Aussage darüber) von den Häuptern der Territorien und Städte gefaßt worden zu sein. Zwar gibt es auch eine Versammlung aller Hebräer, qahal 'am ha'elohxm (Jud. 20, 2), aber auch da führen wohl die pinnöt kal-ha am, die Ecksteine des Volkes, also die Anführer, das Wort, und außerdem handelt es sich bei der einzigen Quellenstelle um eine Heeresversammlung in einem legendären Zusammenhang. Immerhin führt uns diese Frage nun zu einer Erscheinung dieser Zeit, die mit dem Begriff säßet verbunden ist, einem Begriff, der mit „Richter", zweifellos fehlübersetzt ist — wobei aber sogar die Möglichkeit besteht, daß die Kompilatoren des sogenannten Richterbuches bereits in Unkenntnis der historischen Sachlage zwei Funktionen gewissermaßen auf einen Nenner gebracht haben,
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die nichts miteinander zu tun haben. Die Vorstellung von 12 Richtern, die auf Josua gefolgt seien, hat Bernhard Stade schon vor nahezu 100 Jahren für unhaltbar erklärt 1 . Heute sieht man überwiegend nur in den sogenannten kleinen Richtern, von denen das Richterbuch nicht viel mehr erzählt, als wie viele Jahre sie gerichtet haben, die eigentlichen söptim. Ihr Richteramt bestand wohl in der Auslegung der Kultgesetze der hebräischen Amphiktyonie; denn das weltliche Richteramt lag in den Händen der Ältesten in den lokalen Gemeinden. Diese Richter interessieren uns im gegebenen Zusammenhang kaum, wohl aber die sogenannten großen Richter. Sie werden heute in der Literatur meist als charismatische Führer bezeichnet 2 — eine richtige Auslegung, die uns aber nicht viel weiterhilft. Feststeht allein so viel, daß in Zeit äußerer Not sich einige (oder alle?) Stämme einem Mann und seiner Führung unterordneten. Auf welche Weise er in das Amt des qa^n, des Anführers, gelangt, auf dem Wege der Wahl, der Berufung (durch welches Gremium?), womöglich der Usurpation, wissen wir nicht. Nach der Erzählung wurde Jephta von den Ältesten von Gilead gebeten, und das Volk, ha'am, machte ihn zum Oberhaupt, lerö's üleqa§!n. Aber Jephta war nur der Anführer von Gilead im Kampf gegen die Ammoniter, von den anderen Stämmen ist keine Rede — im Gegenteil, er kämpfte sogar gegen Ephraim. Die ganze Erzählung ist legendarisch und verworren. Barak jedoch führte ein Heer aus mehreren Stämmen, und Gideon sowie seine Söhne herrschten über „ganz Israel". Gideon, der nicht nur relativ viele 'abdlm, sondern auch einen großen Harem besaß, also trotz seiner Bescheidenheit ein großer Grundherr war, führte die Hebräer gegen die Midianiter und besiegte sie. Aus der Kriegsbeute erhielt er allen Goldschmuck, den die Hebräer erbeutet hatten (Jud. 8, 24—26). Danach sagten die Israeliten zu ihm: Herrsche über uns, du und dein Sohn und der Sohn deines Sohnes (Jud. 8, 22). Nach der Erzählung des Richterbuches soll Gideon zwar die Herrschaft abgelehnt haben, doch gibt es genug Anzeichen dafür, daß das Königtum der Hebräer in Gideon einen ersten Repräsentanten vor Saul gehabt hat, wenn auch nur im Rahmen des Stammesverbandes Joseph. Gideon stellte in seiner Heimatstadt Ophra ein Heiligenbild, ein Ephod, auf, d. h. Gideon setzte dem zentralen Heiligtum der hebräischen Amphiktyonie, der sogenannten Lade, ein eigenes Heiligtum entgegen, und „ganz Israel", sagt der spätere Verfasser des Richterbuches, trieb dort Abgötterei. Zum zweiten, und das ist wichtiger, gelten nach Gideon seine Söhne (es sollen 70 gewesen sein) als d i e Herrscher, obwohl Gideon noch viele Jahre nach seinem Midianitersieg gelebt hat. Zum dritten trägt ein Sohn Gideons von einer Nebenfrau aus Sichern den redenden Namen °abimele^, und das heißt „mein Vater ist König". Dieser Abimelek nun läßt sich in Sichern von den dortigen ba' a lim und kal-bet millo5, den Bewohnern des Millo, zum König machen: wajjamli^ü 'et-' a bimelek lemele^. Hier wird 1 1
B. Stade, Geschichte des Volkes Israel. Berlin 1881, 66. Noth, Geschichte, 97.
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erstmalig für einen Hebräer das Wort melelj = König gebraucht, während für Gideon und seine Söhne das allgemeine msl = herrschen verwendet wurde. Doch läßt der Kontext vermuten, daß sich Abimelek als Nachfolger Gideons wie auch seiner eigenen ermordeten Brüder betrachtete. Es ist zwar kaum anzunehmen, daß Abimelek über mehr geherrscht hat als über einige Städte des Stammes Manasse, bevor er gestürzt wurde, doch ist wichtig, daß wir in der Familie Gideons ein ausgeprägtes Königtum vorfinden. Abimelek setzte z. B. einen paqTd über Sichern, während er in Ophra residierte (Jud. 9, 28). Die Bedeutung von paqid — die Zürcher Bibel übersetzt „Vogt" — wird deutlich, wenn man es auf den Stamm pqd zurückführt, der neben „beaufsichtigen" aüch „mustern, ausheben" beinhaltet. Gerade in diesem Sinne hat die L X X hier inioxonoc,. Abimelek stützte sich als erster hebräischer Fürst auf eine Söldnertruppe, und er ließ sich von dem Geld der Grundherren von Sichern aushalten. Am Ende der „Richterzeit" steht das Königtum Sauls, das aus dem Krieg gegen die Philister erwächst. Aber ich glaube gezeigt zu haben, daß die Tendenzen dahin über einen längeren Zeitraum gingen. Am Anfang stand die lokale Gemeinde, autonom in einem Stammesverband, dessen Bedeutung in Friedenszeiten nicht über Kultfragen hinausging. Die Entwicklung des Grundeigentums führte zur Territorienbildung unter einem Despoten. Die Grundlage hierfür war zweifellos eine Form des Bewässerungsbodenbaus. Die Bedeutung, die in den Quellen wiederholt Zisternen beigemessen wird, macht diese Annahme zur Gewißheit. Während Zisternen nach den Geboten des Bundesbuches im Privatbesitz waren, dürfte die Bewässerung der Felder nur ^auf dem Wege möglich gewesen sein, wie sie heute noch im Hauran beobachtet werden kann: durch die Stauung der Gebirgsbäche, die ja normalerweise das ganze Jahr über Wasser führten und aus den Becken auf die Felder geleitet werden konnten. Die Verteilung des Wassers — ganz besonders in den häufigen Dürrejahren — erforderte die Organisation und Leitung einer höheren Einheit. Hat nun eine solche Art der Despotie ohnehin die Tendenz zur Vergrößerung ihres Territoriums zum Zusammenschluß mehrerer Territorien, so machte die Notwendigkeit der Verteidigung gegen die Nachbarn im Osten — zum großen Teil halbseßhafte Viehzüchtervölker — diesen Prozeß unumgänglich. Der Kampf gegen die infolge ihrer Eisenwaffen und Kriegswagen technisch überlegenen Philister bildete den letzten Anstoß für das Gesamtkönigtum der hebräischen Stämme. Nun sind Königtum und Staat auch in diesem frühesten Entwicklungsstand einer Klassengesellschaft, auf dem sich die Hebräer zu jener Zeit befanden, nicht identisch. Kriterien des Staates, der nach Lenin „dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können", entsteht 1 , gibt es im Gegensatz zur Gentilordnung im wesentlichen i Lenin, Werke Bd. 25. Berlin 1960, 399.
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zwei: 1. die Einteilung der Gesellschaftsmitglieder nach dem Gebiet, 2. die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst organisierenden Bevölkerung, einer öffentlichen Gewalt, die sich von der Masse des Volkes unterscheidet und sich ihr mehr und mehr entfremdet1. Betrachten wir die sogenannte Richter zeit der Hebräer unter diesen Gesichtspunkten, kommen wir m. E. in bezug auf die Staatsentstehung zu folgenden Ergebnissen: Die in die Zeit der gentil organisierten Gesellschaft der Wanderungszeit zurückreichende soziale Differenzierung hat sich nach der Seßhaftwerdung zu Klassen entwickelt. „ . . . nach ihrem . . . Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum . . . " 2 können wir unterscheiden eine Klasse privilegierter Bodeneigentümer — dazu gehören die „Despoten" kleinerer Territorien, die sarim, horim und ähnliche bevorrechtigte Schichten, die in den Städten wohnen — und eine Klasse von Untereigentümern, bestehend aus Kanaanäern und Hebräern, die erblichen Familienbesitz haben, von den obengenannten jedoch insofern abhängig sind, als sie das Mehrprodukt erarbeiten und damit die Existenz jener andern Klasse überhaupt möglich machen. Zum dritten gibt es eine Schicht Eigentumsloser, die in Schuldsklaven und Tagelöhner unterteilt werden können, wobei die Quellen im einzelnen eine sichere Unterscheidung nicht gewährleisten (Ex. 20, 2). Männliche Sklaven außerhalb der Schuldsklaverei sind abgesehen von einer ziemlich sagenhaften freiwilligen Sklaverei nicht nachweisbar, dagegen Sklavinnen (Ex. 20,7). Die Klausel des Bundesbuches, wonach Schuldsklaven nach 6 Jahren freizulassen sind, beweist, daß auch die herrschende Klasse kein Interesse an einer Beseitigung des Bauerntums und seiner Überführung in eine allgemeine Sklaverei hatte. Einer solchen Tendenz standen die Interessen der auf Bodenbewässerungsbau basierenden Produktion und der Verteidigung entgegen. Wenn ich vorhin von einer im allgemeinen „patriarchalischen" Form der Abhängigkeit sprach, so widerspricht das nicht der Unversöhnlichkeit des Klassenantagonismus. Tatsächlich wird diese im Verlauf der hebräischen Geschichte sehr schnell sichtbar. Gemeint ist, daß die gentile Tradition das Bewußtsein für die neue Situation bei den abhängigen Bauern noch hemmte, insofern der Klassenkampf sich nur in einer Spannung, aber noch nicht in Auseinandersetzungen kundtat. Mein Hinweis auf das Wohnen der bevorrechtigten Familien im migdal von Sichern kann jedoch — wenn auch keinesfalls mit Sicherheit — auch auf das Vorhandensein solcher Auseinandersetzungen gedeutet werden. Die Voraussetzung, ja die Notwendigkeit, den Staat als Organ der Unterdrückung der einen Klasse durch die andere zu schaffen, ist also gegeben. 1 Marx-Engels, Werke Bd. 21. Berlin 1962, 115 und 165. Lenin, Werke Bd. 29. Berlin 1970, 410.
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Ich hoffe gezeigt zu haben, daß das Jahrhundert vor dem fertigen Staat der Hebräer im Königtum Sauls ein einziger Prozeß ist, diesen Staat zu schaffen. Die Einteilung der Gemeinschaftsmitglieder nach dem Gebiet statt nach der Gentilordnung ist bereits im Zuge der „Landnahme" perfekt geworden. Die Einrichtung einer öffentlichen, sich der Gesellschaft entfremdenden Macht ist in nuce in den kleinen Despoten, aber auch in den sarim der Städte gegeben und in mehr als einer Keimform in dem Königtum Gideons und Abimeleks sichtbar. Ein latenter Widerstand gegen die Bildung kleiner Einzelstaaten bestand auf der einen Seite im Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Stämme und in der Amphiktyonie und auf der andern Seite in der Notwendigkeit der gemeinsamen Verteidigung gegen die Nachbarn. Diese Komponenten haben bewirkt, daß schließlich der Zusammenschluß aller Hebräer in einem staatlichen Gebilde Wirklichkeit wurde. Die Auffassung Otto Eißfeldts, wonach nur die Auseinandersetzungen mit den Nachbarn, besonders den Philistern, den Staat (im Königtum Sauls) geschaffen haben1, ist entschieden abzulehnen. Die Geschichte aller Stämme vor einer Staatsbildung ist eine Geschichte von Kämpfen mit Nachbarstämmen um Weiden, vorübergehende Siedlungsgebiete, Quellen usw. Erst die Klassenbildung im Innern auf der Basis der differenzierten Eigentumsbildung macht den Staat notwendig. Der Krieg kann dabei wesentliche Impulse geben, aber nicht zum allein entscheidenden Faktor werden. Ich möchte also abschließend die sogenannte Richterzeit — eine, wie wir gesehen haben, absolut unzutreffende Bezeichnung für diese Periode — definieren als den Prozeß der Staatsbildung bei den Hebräern, und ich glaube, daß die Ausdrucksformen dieses Prozesses bei den Hebräern nichts Einmaliges oder Besonderes darstellen, sondern im Prinzip die gleichen wie in allen Gebieten der altorientalischen Produktionsweise gewesen sind. 1
0. Eißfeldt, The Hebrew Kingdom. Cambridge Ancient History II 34. Cambridge 1965,34.
Die Herausbildung des Staates in der minoi sehen Periode — Möglichkeiten und Tendenzen1 von
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(Berlin)
Zu Beginn seien einige Bemerkungen über Art und Beurteilung der inschriftlichen Quellen gestattet, die — soweit möglich — über die archäologischen Zeugnisse hinaus für unsere Untersuchungen herangezogen werden sollen; denn sie dürften nicht unwichtig sein für das Verständnis der nachfolgenden Ausführungen. Gegen Ende der Zeit der Jüngeren Paläste — in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts v. u. Z. also — haben wir auf Kreta zwar in den Linear B-Tafeln reiches Quellenmaterial, doch wird die Ventrissche Entzifferung dieser Schrift bis jetzt noch nicht allgemein als gesichert angesehen. 2 Auf Grund dieser Tatsache kann man die Entwicklungen in diesem halben Jahrhundert entweder mit Anerkennung der Entzifferung 3 odei5 ohne diese beurteilen. In unseren Untersuchungen gehen wir generell davon aus, daß uns die Bedeutung der Texte im einzelnen noch unklar ist und wir uns daher hauptsächlich auf deutbare Ideogramme verlassen müssen; in bestimmten Fällen wird jedoch auch auf Interpretationen, die auf der Entzifferung basieren, hingewiesen. Zu Beginn der Jüngeren Paläste dagegen finden wir ebenfalls bereits zahlreiche Tontafeln, deren Inschriften jedoch in Linear A-Schrift geschrieben sind4 und wofür eine Entzifferung (trotz zahlreicher Versuche) bis jetzt noch aussteht. Für die Zeit der Älteren Paläste besitzen wir auch schon inschriftliche 1
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Die Herausbildung des Staates auf dem griechischen Festland in der mykenischen Periode wird gesondert behandelt. Nach Ansicht einer Reihe von Forschern bieten die bisher mit dieser Entzifferung gewonnenen Ergebnisse kein ermutigendes Bild, da sich der weitaus größte Teil der Texte noch immer hartnäckig jeglicher Interpretation entzieht und die übrigen Deutungen, die sich häufig nur auf einzelne Wörter beziehen, ebenfalls Anlaß zu mehr oder minder großen Zweifeln geben. Über den gegenwärtigen Stand dieser Problematik sei u. a. auf A. Heubeck, Aus der Welt der frühgriechischen Lineartafeln. Göttingen 1966, und W. Ekschmitt, Die Kontroverse um Linear B. München 1969, verwiesen. Zur Textinterpretation auf Grundlage der Entzifferung vgl. u. a. L. R. Palmer, The interpretation of Mycenaean Greek texts. Oxford 1963. Die überwiegende Zahl stammt aus Phaistos. — Die bis 1961 bekannt gewordenen Texte sind ediert bei W. C. Brice, Inscriptions in the Linear Script of Gass A. Oxford 1961.
Die Herausbildung des Staates in der minoischen Periode
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Zeugnisse sowohl in kretischer Hieroglyphenschrift1 als auch bereits in der frühen Form der Linear A-Schrift2, für die jedoch ebenfalls noch keine Entzifferung vorliegt. Die Verwendung des inschriftlichen Materials dieser Zeit bereitet somit nicht wenig Schwierigkeiten, und so dürfte es denn — auch unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Frage nach der Herausbildung des Staates in diesem Raum bisher nur wenig Beachtung zuteil wurde und somit die vorhandenen Quellen kaum entsprechend aufbereitet sind — angebracht sein, aus dem zur Verfügung stehenden Material nur sehr vorsichtige Folgerungen zu ziehen. Die eben geschilderte Quellensituation insgesamt läßt es außerdem geraten erscheinen, bei unseren Untersuchungen den Weg vom relativ Bekannten zum Unbekannteren zu gehen, also mit der letzten großen Entwicklungsphase auf Kreta, der Zeit der Jüngeren Paläste (ca. 1700 bis ca. 1400 v. u. Z. = Mittelminoisch III bis einschließlich Spätminoisch II)3, zu beginnen. Hier tritt uns vor allem der Palast von Knossos in seiner höchsten Entfaltung entgegen, und alle Begleitumstände lassen erkennen, daß dieser Palast ein Zentrum darstellte, in dem viele gesellschaftliche und kulturelle Fäden — wenn nicht gar alle — der Insel zusammenliefen. Damit erhebt sich zugleich die wichtige Frage, ob der Palast von Knossos zu dieser Zeit das einzige Zentrum Kretas war oder ob es gleichzeitig noch andere, mehr oder weniger ebenso bedeutende Paläste, also unabhängige Zentren gewisser Macht, gab. Der archäologische Befund ergibt, daß lediglich im letzten Abschnitt dieser Phase, also nach 1500 v. u. Z., gewisse Wahrscheinlichkeiten für solch eine überragende Stellung des Palastes von Knossos bestehen, da nach einer großen Erdbebenkatastrophe als Folge des Vulkanausbruches auf Thera gegen Ende des 16. Jahrhunderts die großen Zentren im Osten der Insel, Mallia und Kato Zakro4, zerstört und nicht wieder aufgebaut worden waren. Über den Fortbestand von Phaistos mit dem nahegelegenen Hagia Triada sowie dem bisher noch kaum ausgegrabenen Kydonia (dem modernen Khania)5 bestehen gegenwärtig noch Unklarheiten.6 Es wäre demnach damit zu rechnen, daß auch 1
Zusammenstellung aller Funde bei A. J. Evans, Scripta Minoa I. Oxford 1909. Vgl. G. Pugliese Carratelli, Nuove Epigrafi Minoiche di Festo. Annuario della Scuola Archeologica di Atene 35-36 (1957-58), 363-388. 3 Die hier und im folgenden gegebenen Zeitangaben basieren im großen und ganzen auf den Datierungen von A. J. Evans. Dies schien uns vertretbar — obwohl die Periodeneinteilungen seinerzeit ziemlich schematisch vorgenommen worden sind —, da sich die Forscher bis heute noch nicht auf eine andere, allgemein verbindliche Einteilung geeinigt haben (z. Z. existieren mindestens acht verschiedene Chronologien). 4 Vgl. S. Hood, The home of the heroes. London 1967, 99, 107 und N. Piaton, First excavations at Kato Zakro: Part I. The Illustrated London News, 29. Febr. 1964, 312ff. 5 Vgl. S. Hood, a. a. O., 109. 6 Vgl. S. Hood, ebenda: „But the palace of Phaistos may ha veeontinued in use; and massive foundations of a palace-like building were sunk deeip into the ruins of the destroyed palace at the nearby Hagia Triada." 2
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nach der großen Katastrophe Knossos, dessen Palast dabei offenbar weniger in Mitleidenschaft gezogen worden war, nicht alleiniger Machthaber war, sondern daß vielmehr Verhältnisse bestanden, die denen- vor dieser großen Katastrophe nicht unähnlich waren.1 Zu dieser Zeit waren nach den Erdbebenzerstörungen um 1700 v. u. Z. zwar neben Knossos auch die Paläste von Phaistos (dem früheren Konkurrenten von Knossos) und Hagia Triacla sowie von Mallia2 wieder aufgebaut3, doch ist Knossos hierbei Phaistos überlegen, und man gewinnt den Eindruck, als ob die Adelsschicht von Knossos „die Initiative zur Wiederherstellung der kretischen Macht ergriffen hätte'"4, wobei dann zum Bau des Neuen Palastes auch die anderen Paläste einen — wie auch immer gearteten — Beitrag geleistet hätten. Wie dem auch sei, über das tatsächliche Verhältnis der Palastherren zueinander sagt das nicht viel aus, und so muß die Frage, ob es sich hier um einen Zusammenschluß unter der Oberhoheit von Knossos gehandelt haben kann oder ob die Herren der einzelnen Paläste ihre Selbständigkeit mehr oder weniger voll behielten, vorläufig unbeantwortet bleiben — wenn auch das Straßennetz, das alle Zentren miteinander verband5 und in Knossos mündete, eine gewisse Vormachtstellung von Knossos anzudeuten scheint.6 Diese Annahme gewinnt noch an Wahrscheinlichkeit, wenn man sie unter dem Aspekt der Sicherung des „Überseehandels" betrachtet. Jeder einzelne der Palastherren wird wohl kaum in der Lage gewesen sein, die Handelsrouten zur See entsprechend abzusichern. Eine solche Zusammenfassung der Macht in den Händen von Knossos jedoch dürfte es gewesen sein, die den Griechen in ihrer Erinnerung bewahrt blieb und die z. B. Thukydides folgendermaßen charakterisierte7: „Von den Persönlichkeiten der Überlieferung ist Minos der erste, der über eine Flotte verfügte und den größten Teil des heutigen griechischen Meeres beherrschte. Seine Macht erstreckte sich auf die Kykladen8; auf den meisten dieser Inseln gründete er die ersten Kolonien . . . Soweit er konnte, säuberte er die Meere J
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Vgl. S. Hood, ebenda: „Crete may therefore have retained something of the same character as it had before the catastrophe, with large palaces at the chief cities . . . " In diese Zeit fällt auch die Entstehung des Palastes von Kato Zakro, vgl. N. Piaton, Unique and beautiful objects from Kato Zakro: Part II.Hlustrated London News, 7. März 1964, 351. S. Marinatos (Kreta und das mykenische Hellas. München 1959, 31 f.) ist der Ansicht, daß dieser Wiederaufbau sich erst im 16. Jahrhundert v. u. Z. vollzogen habe. S. Marinatos, a. a. O., 32. H. E. L. Mellersh, Minoan Crete. New York 1967, 37, und R. F. Willetts, Everyday life in Ancient Crete. London-New York 1969, 46, 138. S. Marinatos, a. a. O., 32, geht etwas weiter: „Das wäre in der Tat der Anfang der kretischen Vereinigung und der Alleinherrschaft des knossischen ,Minos' in Kreta . . . Die beiden anderen Paläste . . . beweisen allerdings einen hohen Grad von Selbständigkeit, so daß die Alleinherrschaft zumindest in der ersten Phase keine absolute gewesen sein wird." Thuk. I, 4 —. Die Stelle ist frei übersetzt. Vgl. auch Herodot 1, 171.
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von Piraten; was nur zu begreiflich ist, denn auf diese Weise sicherte er sich seine Einkünfte." Gerade dieser letzte Satz des Thukydides dürfte als durchaus legitimes Anliegen des Herren von Knossos anzusehen sein, denn wie sollte der Außenhandel florieren, wenn die Handelsstraßen — in diesem Falle die Seewege — unsicher waren? Doch wird aus dem Zitat des griechischen Historikers nicht nur die Seemacht Kreta deutlich, sondern vor allem die Handelsmacht, die diese Insel darstellte. Wie sahen nun die Ressourcen der Herren von Knossos — und derer anderer Paläste — aus, die es zu sichern galt, und welche ökonomischen Voraussetzungen waren vorhanden, um solch blühende Handelsverbindungen einschließlich der Gründung von Faktoreien in Übersee (ob es wirklich Kolonien waren, scheint zumindest fraglich) 1 aufbauen zu können? Da die für eine solche ausgedehnte Handelstätigkeit unerläßliche straffe Organisation staatliche Machtmittel voraussetzt, soll versucht werden, zunächst die dafür notwendigen materiellen Grundlagen der herrschenden Klasse aufzuzeigen, verbunden mit der Frage, in welchem Maße ein staatliches Monopol für den Handel, und zwar Außen- wie auch Binnenhandel, vorhanden war — in der Hoffnung, daß das vorhandene Quellenmaterial brauchbare Unterlagen liefern kann. Beginnen wir mit der materiellen Grundlage der herrschenden Klasse Kretas, die uns zu diesem Zeitpunkt voll ausgebildet — darauf deuten alle Anzeichen hin — entgegentritt. Sie dürfte aus dem jeweiligen Fürsten oder König 2 und einer offenbar sehr wohlhabenden Adelsschicht bestanden haben, die offensichtlich aus dem ländlichen Grundbesitz hervorgegangen war. Mit diesem ländlichen Grundbesitz ist zugleich eine der materiellen Grundlagen erfaßt, nämlich die daraus resultierenden Erzeugnisse der Landwirtschaft. Es gibt zahlreiche kleine dörfliche Siedlungen3 — leider wissen wir hier noch sehr wenige Einzelheiten —, die offenbar in einer Art Verwaltungsbezirk zusammengefaßt sind, in deren Mittelpunkt sich ein sogenanntes „Herrenhaus" befand. Diese „Herrenhäuser" lagen durchschnittlich ca. 15 km voneinander entfernt und waren vermutlich auch Sitz eines höheren Beamten (mit weltlicher und wohl auch geistlicher Funktion). 4 Außerdem dienten sie offenbar auch als Erfassungsstelle für die landwirtschaftlichen Produkte, wie die großen Magazine und der Reichtum an Vorratspithoi andeuten. 5 Schwerpunkt dieser Landwirtschaft und damit eine der Hauptquellen für den Wohlstand (doch wohl vor allem der herrschenden Klasse) muß die Viehzucht gewesen sein, wobei die Schafe gegenüber den übrigen Hausvieharten 1
Anders z. B. F. Matz, Kreta und Frühes Griechenland. 3. Aufl. Baden-Baden 1965, 157f., und S. Hood, a. a. O., 74f. 2 Die Art seiner Stellung kennen wir nicht; die Frage nach der Möglichkeit eines Priesterkönigtums muß erst noch untersucht werden. 3 Vgl. S. Hood, a. a. 0., 85. 4 Vgl. S. Marinatos, a. a. 0., 37 f. 5 Vielleicht handelte es sich auch um Staatsdomänen ?
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weitaus dominieren.1 Die auf den Tontafeln genannten Herdengrößen sind erstaunlich: Werden im Durchschnitt zwischen 100 und 200 Tiere notiert, so finden wir auch Summen, die die Zahl 2000 weit übersteigen, ja, auf einem Fragment sind sogar 19000 Schafe verzeichnet — Zahlen also, die sich wohl nur auf jährliche Abgaben beziehen können. Leider sagen all diese Listen nicht aus, inwieweit einzelne Bauern Abgaben in dieser Höhe leisteten oder ob es allein Abgaben eines „Verwaltungsbezirkes", der bereits erwähnten „Herrenhäuser", an den Palast gewesen sind. Über die Erzeugnisse des Ackerbaus dagegen erhalten wir nur karge Auskünfte: Neben Weizen, Gerste (Wein ist nur selten erwähnt) scheinen noch besonders Feigen und vor allem Oliven (meist als öl abgeliefert) kultiviert worden zu sein. — Eine Besonderheit stellt in diesem Zusammenhang das Herrenhaus von Vathypetron2 dar, von dem der größte Teil der Bauten in eine landwirtschaftliche und gewerbliche Anlage umgestaltet wurde3 — mit Oliven- und Weinpressen sowie einem Handwerkertrakt, einschließlich eines Brennofens für Keramik. Damit haben wir zugleich das Stichwort für eine weitere materielle Grundlage: das Handwerk. Wie die zahlreichen Funde, besonders an Keramik und Metallerzeugnissen — unter denen die der Goldschmiedekunst besonders hervorragen — sowie der Glyptik, eindeutig beweisen, war das Handwerk in seinen Differenzierungen nicht nur voll entwickelt, sondern es stand auch in höchster Blüte. Die weitgehende Differenzierung ließe sich auch aus den bisher vorliegenden Interpretationen der Linear B-Tafeln auf Grund der Ventrisschen Entzifferung entnehmen4 — allerdings muten einige hieraus erschlossene Berufe etwas seltsam an. Im Gegensatz zur sonst weitgehenden Zentralisierung in den Palästen waren die Handwerker offenbar größtenteils entfernt von diesen Zéntren angesiedelt, wie neben dem eben erwähnten Vathypetron auch die Grabungen in Gournia, der einzigen vollständig ausgegrabenen Stadt, zeigen, in der nach Ausweis der vielen in situ gefundenen Werkzeuge ein weiteres Handwerkerzentrum gelegen haben muß.5 In welchem Maße Sklaven an der Erarbeitung des Mehrproduktes in diesen Produktionszweigen beteiligt waren, ist schwer festzustellen. Hier wären wir allein auf die Entzifferungsergebnisse angewiesen, doch auch dann sind — im Gegensatz zu Pylos — für Knossos nur wenige Belege für die Existenz von Sklaven bekannt, von denen die Mehrheit in Zusammenhang mit der Viehwirtschaft steht, während wir nicht wissen, ob Sklaven auch bei den HandVgl. M. Ventris und J . Chadwick, Documents in Mycenaean Greek. Cambridge 1956, 201 ff.; L. R. Palmer, a. a. O., 177ff., und A. Heubeck, a. a. O., 74ff. 2 Vgl. S. Marinatos, a. a. O., 38. 3 Wohl erstmalig auf europäischem Boden. 4 Vgl. M. Ventris und J . Chadwick, a. a. O., 133ff.; L. R. Palmer, Minoans and Mycenaeans. London 1961, 102ff. und ders., The interpretation of Mycenaean Greek texts, 137ff. 5 Über Heleia ist leider zu wenig bekannt, da nur noch eine gepflasterte Ladenstraße zu sehen ist — doch scheint es, daß diese Stadt der Bedeutung von Gournia nicht nachstand (Vgl. R. Bryans, Kreta. München 1970, 134). 1
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werkern beschäftigt waren. 1 Feststehen dürfte jedoch, daß Sklaven in Kreta nicht Grundlage der Produktion sind und daher — wie in der altorientalischen Produktionsweise — auch nicht die Produktionsverhältnisse bestimmen. Es kann sich lediglich um patriarchalische Sklaverei (evtl. gekaufte?) gehandelt haben. 2 Die Erzeugnisse dieser Produzenten sind die ökonomische Basis der herrschenden Klasse — die kaum nennenswerte Metallgewinnung (vornehmlich von Kupfer in den Asterousi-Bergen) 3 wird vermutlich nicht den Eigenbedarf gedeckt haben 4 —, und so werden sie auch, teilweise sicherlich über die oben erwähnten „Landgüter" bzw. „Herrenhäuser", an den Palast abgeliefert und dort registriert. Die uns erhaltenen Tontafeln — sowohl in der Linearschrift A als auch in B — geben ein lebendiges Bild von der Akribie, mit der dies geschieht, wobei für den Eindruck gleichgültig ist, ob diese Schriften entziffert sind oder nicht. Die in den riesigen Magazinen bzw. den Vorratspithoi des Palastes gespeicherten Güter stehen nun dem Herren dieses Palastes zur weiteren Verfügung, und er ist es auch, der ganz offensichtlich die Organisation des Handels insgesamt in den Händen hat. Allerdings ist hierbei noch nicht geklärt, in welchem Umfang die Adelsschicht (die ja auch die Hofgesellschaft bildete) 5 an diesem Handelsmonopol beteiligt war. Eine Betätigung als Kaufmann, wie es z. B. vermutlich die gleiche Klasse später in Mykenai tat, erscheint nicht ausgeschlossen, auch wenn der kretische Adel seine Ressourcen wahrscheinlich vor allem aus der landwirtschaftlichen Produktion zog, entweder direkt oder indirekt, indem er seinen Grundbesitz unter Einziehung entsprechender Naturalabgaben — also durch Parzellierung — verpachtete. Entsprechende Aufzeichnungen auf den Knossos-Tafeln fehlen leider (im Gegensatz zu denen des griechischen Pestlandes). Aus den Vieh-Tafeln ließe sich möglicherweise auf Grund von jeweils verhältnismäßig niedrigen Zahlenangaben schließen, daß es sich hier um Erzeugnisse einzelner Bauernwirtschaften handelte, von denen wir nur vermuten können, daß sie teilweise auch freien Bauern gehört haben. — Alles Material deutet darauf hüi ; daß ein festgefügtes Herrschaftssystem alle Ressourcen des Landes zentral straff zusammenfaßte und auf dieser Basis das staatliche Monopol sowohl des Binnen- als auch des Außenhandels innehatte. Daß gerade der Außenhandel in großem Maßstab betrieben wurde, zeigen nicht nur die zahllosen, über die ganze Ägäis — ja sogar bis Sizilien verstreuten Funde minoischer Erzeugnisse, sondern auch die minoischen Handelsfaktoreien auf Kythera, den Kykladen (Keos, Phylakopi auf Melos und Thera), auf Rhodos und in Kleinasien, z. B. in Milet. 1
Vgl. L. R. Palmer, Mycenaeans and Minoans, 105 und 116. 2 Vgl. R. F. Willetts, a. a. 0., 43, 102. 3 Vgl. S. Hood, a. a. O., 60. 4 Dazu noch R. F. Willetts, a. a. 0., 99. s Vgl. F. Matz, a. a. O., 150. 7
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Daß ein derartiges Handelsimperium nicht nur ein ausgebautes Straßennetz im Landesinneren braucht (das vorhanden war, wie wir gesehen haben), sondern auch nur mit einer dominierenden Flotte funktionieren kann, bedarf wohl kaum besonderer Erwähnung. Gerade hier aber beginnen die Schwierigkeiten: Die antiken Schriftsteller erwähnen zwar übereinstimmend die Seemacht des Minos, doch außer auf — wenn auch verhältnismäßig vielen — Siegeln treten uns keinerlei Darstellungen dieser Seemacht entgegen. Dabei muß man nicht nur aus den eben angeführten Gründen mit ihrer Existenz rechnen, sondern auch deswegen, weil keine uns bekannte kretische Siedlung einschließlich der Paläste Befestigungsanlagen kennt, auch nicht die unmittelbar am Meer gelegenen, wie Amnisos und das bereits erwähnte Gournia. Einen solchen Zustand aber — auf dem griechischen Festland undenkbar — kann man sich eigentlich nur leisten, wenn durch eine entsprechende Flotte — die die Gewässer um Kreta abzusichern in der Lage ist — keinerlei Gefahr von See her droht.1 Trotz allem hat es den Anschein, als ob die Kreter — ganz im Gegensatz zu Mykenai — mit militärischen Dingen nicht viel im Sinn gehabt haben, wenn man den uns erhaltenen künstlerischen Zeugnissen trauen darf. Nirgends finden wir Darstellungen von Kriegern oder kriegerischen Szenen; eine Ausnahme bildet lediglich das Freskofragment „Captain of the Blacks", bei dem eine Figur mit rötlicher Hautfarbe an der Spitze einer offenbar schwarzhäutigen Truppe einherläuft. (Die sogenannte „Prinzenvase" wird wegen ihrer unsicheren Deutung hier nicht herangezogen.) Diesem dergestalt unkriegerischen Eindruck widersprechen jedoch die zahlreichen sogenannten „armoury tablets" aus den Linear B-Archiven von Knossos.2 Hier werden nicht nur Pfeile, Speere sowie Brustpanzer und Helme registriert, sondern erstaunlicherweise auch Streitwagen in verschiedenen Fertigungsstadien (ihre Zahl übersteigt vierhundert) einschließlich weiterer Wagenräder und der dazugehörigen Pferde — wobei immer noch offenbleibt, wie man auf dieser so gebirgigen Insel Streitwagen (und noch dazu in dieser Menge) überhaupt verwenden konnte.3 1
Zu diesem Problem bietet H . E. L. Mellersh (a. a. O., 29) eine nicht uninteressante Variante: „. . . it does not have to be imagined that the Minoan kings, though they were . . . at the head of a thalassocracy, did as that word implies completely ,rule the waves' . . . and the Minoans . . . are not likely to have possessed an invincible and militant,fleet' as did . . . the Athens of Pericles . . . The Minoan sailor . . . was not likely to have been the member of a Minoan ,navy'. Even when putting down other nations' piracy he probably had professional soldiers on board, as was the sailors' usual practice almost up to Nelson's time". Fraglich ist jedoch hierbei, wie derart bewaffnete Kauffahrteischiffe in der Lage waren, die Gewässer um Kreta so wirksam zu schützen, wie es offenbar der Fall gewesen ist. Ungeklärt bliebe auch die Herkunft der notwendigen Soldaten, denn auch dafür besitzen wir ja praktisch keinerlei Hinweise.
2 Vgl. M. Ventris und J. Chadwick, a. a. 0., 360-372, 379fF., und L. K. Palmer, The interpretation of Mycenaean Greek texts, 314 If. und 331 ff. — Für die Linear A-Texte haben wir keinerlei Parallelen. 3
A. Heubeck (a. a. 0., 81) meint dazu: „Die Parallele zu den gleichzeitigen Verhältnissen im Hethiter- und Ägypterland . . . läßt uns im Wagen in allererster Linie ein Kriegs-
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Dem aus all diesen Funden resultierenden Widerspruch ist bisher von der Forschung — abgesehen von Vermutungen — nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. 1 Ob allerdings ohne neue Funde hier weitere Klärung zu bringen ist, muß wohl dahingestellt bleiben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann jedenfalls die Frage nach einer kretischen Flotte sowie nach einem kretischen Heer nicht beantwortet werden; denn bei dem oben erwähnten Fresko z. B. könnte es sich ebensogut um eine Art von Palastwache gehandelt haben. Welcher Art war nun dieses gesellschaftliche Gebilde, dessen Grundzüge zu skizzieren hier versucht wurde? Die allgemeinen Merkmale eines Staates dürften gegeben sein: Wir haben privates Eigentum an den Produktionsmitteln (an Grund und Boden sowie vermutlich auch an Bodenschätzen, Z.B.Kupferminen usw.), auch wenn dessen Umfang uns unbekannt ist; allerdings kennen wir nicht die Stellung der unmittelbaren Produzenten (Bauern, Handwerker usw.) zu diesen offensichtlich auftretenden Privateigentümern. Wir haben ausgebildete Klassen — Bauern, Handwerker und (wenn auch in geringem Umfange) Sklaven. Bei der herrschenden Klasse kann nicht geklärt werden, ob der Herr von Knossos sowie die Herren der Paläste von Mallia (einschließlich Hagia Triada), Phaistos und Kato Zakro 2 die einzigen Kaufleute Kretas waren oder ob sich Mitglieder des Adels auf eigene Rechnung an diesem Handel beteiligen konnten, auch wenn sie z. B. nur die Handelsschiffe stellten. Wir haben eine Regierung, vermutlich ein Königtum 3 , dessen besondere Merkmale wir allerdings nicht kennen 4 , und wir haben einen allem Ansohein nach gut funktionierenden Verwaltungsapparat (der die Aneignung des Mehrproduktes organisiert und offenbar auch einen Teil der Verpflegung zentral lenkt) 5 , mittel erblicken. Wie in jenen Ländern ließen sich auch in den Ebenen von Kreta . . . die massierten Wagengeschwader wirkungsvoll im Kampf einsetzen." Abgesehen davon, daß derartige Einsatzmöglichkeiten auf Kreta unwahrscheinlich erscheinen, erhebt sich doch die entscheidende Frage, gegen wen auf der Insel diese Wagen eingesetzt werden sollten. Solange uns für diesen Fragenkomplex kein weiteres Material zur Verfügung steht, müssen wir uns wohl oder übel mit einem „non liquet" begnügen. 1 R. F. Willets (a. a. 0., 138) bemerkt dazu: „There is evidence to indicate t h a t . . . Minoan society in the later Bronze Age. . . was beginning to assume certain characteristics which included a marked turn in the direction of militarism . . ." und S. Hood (a. a. 0., 113) schreibt (allerdings nur über die 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts): „A war-minded and militaristic spirit pervades the age. This element of militarism . . . at Knossos has also been regarded as indicating the presence of conquerors from the mainland. But a military • flavour is apparent throughout the declining world of the Near East of the time." 2 Deren Hafen der wohl wichtigste Umschlagplatz Kretas für den Export und Import von und nach dem Nahen Osten wie auch Ägypten war. 3 Vgl. S. Hood, a. a. 0., 81: „. . . indeed it may have been the queen, not the king, who sat on the stone chair in the Throne Room . . . " Vgl. S. Hood a. a. 0., 84: „. . . but of the system of government in Crete, apart from the kingship implied by the palaces, nothing certain is known." 5 Ob dies nur für den jeweiligen Palast zutrifft oder auch etwa für bestimmte Gruppen von Produzenten (Handwerker o. ä.), läßt sich nicht sagen. 7*
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ermöglicht durch das Vorhandensein einer dafür brauchbaren Schrift. Konnten wir das Bestehen einer Armee nicht mit Sicherheit feststellen, so ließen doch alle Indizien auf die Existenz einer Flotte schließen, die offensichtlich stark genug war, die kretische Insel hinreichend zu schützen.1 Über Gerichte, Gefängnisse sowie polizeiähnliche Formationen läßt sich mangels entsprechender Quellen nichts aussagen, und ebensowenig haben wir Nachrichten über irgendwelche beratende bzw. gesetzgebende Organe (Rat der Alten oder Volksversammlung).2 Wenn wir den Charakter dieses Staates nach unseren bisherigen Kenntnissen und im Vergleich mit seiner Umwelt zu definieren versuchen, so scheint dieser nach allem, was bisher hier dargelegt wurde, den Produktionsverhältnissen der sogenannten altorientalischen Produktionsweise ziemlich nahe gestanden zu haben.3 Auf einen Punkt soll noch hingewiesen werden: All diese, uns oft in Erstaunen versetzende Pracht der Paläste, der sogenannten „Herrenhäuser" und wohl auch mancher „Bürgerhäuser" in den städtischen Zentren dürfte vermutlich in ziemlichem Gegensatz zu den Verhältnissen auf dem Lande gestanden haben (wenn auch nach S. Marinatos4 das Lebensniveau ganz allgemein gesehen offenbar vergleichsweise höher. war als in neueren Zeiten in einigen Gebieten des Orients). Demgegenüber haben aber Pendleburys Untersuchungen auf der Hochebene von Lassithi und Karphi ein eher ärmliches und primitives Bild für die ländlichen Verhältnisse entworfen.5 Solche Zustände und die Tatsache, daß die herrschende Klasse sich das Mehrprodukt der Bauern und Handwerker wie doch wohl auch den Handelsgewinn angeeignet hat, dürften im Laufe der Zeit zu einem Widerspruch geführt haben. Hier nun muß nochmals darauf verwiesen werden, daß alle Paläste dieser Zeit keinerlei Spuren von Befestigungen aufweisen, obwohl sie teilweise mitten in den um sie herumgewachsenen städtischen Siedlungen lagen6, die teilweise nicht klein waren.7 Mit einer ernsthaften Auseinandersetzung scheint man also nicht 1
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Anders M. I. Finley (Early Greece: The Bronze and Archaic Ages. London 1970, 39): „There can be no dispute either about the wealth and power of Cnossus or about Minoan seamanship . . . However, the further step to a wide-ranging maritime empire, in the usual sense of that word, is neither ¡simple nor self-evident, and it can be argued that the whole notion is very weakly based"; und 41: „Yet another puzzle is presented to us by the openess of the Cretan palaces . . . Minoan thalassocracy cannot be the explanation, often as it may be proposed." Den Beweis für die letztere Behauptung bleibt der Verf. dann leider schuldig. Hierzu jedoch der Hinweis bei S.Hood, a.a.O., 84: „ . . . a series of basement rooms by the palace of Mallia have been interpreted as a meeting place for a council of deputies tir elders." Vgl. dazu Weltgeschichte Bd. 1. Berlin 1961, 488. — Für ein endgültiges Urteil, soweit dies überhaupt bei der Quellenlage möglich ist, über den Charakter dieses Staates sind jedoch noch weitere Untersuchungen notwendig. S. Marinatos, a. a. 0 . , 18 und 38. Vgl. auch 0 . Reverdin, Kreta. Luzern 1960, 74. So ganz besonders Kato Zakro, wo der Palast am Ausgang eines Tales zwischen den beiden Teilen der Stadt lag; vgl. N. Piaton, a. a. O., 313. A. J . Evans schätzte z. B. die Einwohnerzahl von Knossos auf ca. 80000—100000.
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gerechnet zu haben. Über die weitere Entwicklung, die aus diesem Grundwiderspruch resultiert hätte, ist uns leider nichts überliefert, da dieser durch die plötzliche und völlige Vernichtung der verbliebenen Paläste — die überraschend gekommen sein muß und über deren Ursachen wir nichts wissen — ein abruptes Ende gesetzt wurde. In der vorausgehenden Phase der „Älteren Paläste" (ca. Ende des 21. Jahrhunderts bis ca. 1700 v. u. Z. = Mittelminoisch I und II) begegnen wir nun doch veränderten Verhältnissen, aber auch den Anfängen dessen, was wir in der späteren Phase in voller Blüte sehen. In der frühminoischen Zeit, in der der Übergang zur Metallbearbeitung erfolgt war, gab es bereits ein ausreichendes Mehrprodukt an Nahrungsmitteln, um eine Spezialisierung auf verschiedene Handwerkszweige zu ermöglichen.1 In diesem Stadium scheint der Ostteil der Insel die Führung übernommen zu haben, wobei vermutlich zwei Faktoren eine Rolle spielten: die beginnende Ausbeutung heimischer Kupferadern sowie die Handelsverbindungen mit der Ägäis, mit Syrien, Ägypten und Libyen. 2 Mit dieser ökonomischen Entwicklung ging ein Anwachsen der Bevölkerung einher, und so entstanden wohlhabende Gemeinwesen z. B. in Palaikastro, Pseira, Mochlos und Gournia. Gegen Ende des 3. Jahrtausends v. u. Z. steht dann Kreta in seiner gesellschaftlichen Entwicklung am Übergang von der überkommenen Gentilgesellschaft zu einem organisierten Königtum in der Form von Palastherren — wobei uns die Funde leider keine weiteren Einzelheiten über dieses Übergangsstadium zu vermitteln vermögen. Dieser tiefgreifende Umschwung scheint übrigens verhältnismäßig rasch vonstatten gegangen zu sein.3 War man bereits vorher dazu übergegangen, große Gebäude aus Stein zu errichten, die schon aus mehreren Etagen bestanden, so entstanden jetzt, zu Beginn des zweiten Jahrtausends, die ersten großen Paläste in Knossos, Phaistos und Mallia. Ob zwischen den einzelnen Herren der Paläste — die ihren jeweiligen Bezirk wohl straff zusammengefaßt hatten — irgendein Abhängigkeitsverhältnis bestanden hat, wissen wir nicht; manche Forscher neigen dazu, für diese Zeit eine Art Staatenbund anzunehmen/1 An eine Art Oberhoheit von Knossos innerhalb eines solchen Bundes zu denken, erscheint fragwürdig5, da Abgesehen von diesem Mehrprodukt als notwendiger Voraussetzung dafür erforderte die Metallbearbeitung bereits von sich aus eine entsprechende Spezialisierung; Vgl. M. I. Finley, a. a. O., 8. 2 Vgl. R. F. Willetts, a. a. 0., 35, 99 und 102. 3 Cum grano salis erinnert dieser Vorgang an das plötzliche Aufblühen der SchachtgräberKultur rund 500 Jahre später auf dem griechischen Festland — hier wie dort geht keine unmittelbare Einwanderung fremder Stämme voraus (auch wenn man im Verlauf der frühminoischen Periode überhaupt mit neuen Einwanderern rechnet). « So z. B. S. Hood, a. a. 0., 53. 5 Anders S. Hood, a. a. O., 54: „Over the cities Knossos no doubt enjoyed some sort of hegemony, or shared a hegemony with other large centres like Phaistos and Kydonia as legends hint." 1
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die Grabungen der letzten Zeit gezeigt haben, daß zumindest die Paläste von Phaistos und Knossos ebenbürtig nebeneinander bestanden — ja, Phaistos scheint sogar das mächtigste Zentrum der Kamares-Kultur ( = Mittelminoisch II, ca. 1850 bis ca. 1700 v. u. Z.) gewesen zu sein.* Die seit frühminoischen Zeiten - wie bereits erwähnt - bestehenden Handelsverbindungen zur Ägäis, zu Vorderasien und Ägypten werden immer stärker intensiviert, und das erfordert schließlich entsprechende Organisationsformen. So ist es eigentlich nur folgerichtig, wenn um diese Zeit auch die ersten schriftlichen Zeugnisse auftauchen: zunächst solche in kretischen Hieroglyphen mit ihrer dann mehr linearen Form und wenig später bereits in der sogenannten Protolinearen 2 , einer Früh- oder Vorform der späteren Linearschrift A. Daß mit diesen Schriften bereits Buohungen der verschiedensten Art niedergeschrieben sind (die wir leider nicht lesen können), dürfte unter solchen ökonomischen Gegebenheiten nur natürlich sein.3 Auf Grund solch intensiver Handelsbeziehungen und auch der Tatsache, daß in dieser Phase ebenfalls keine Befestigungen zu erkennen sind, nimmt man allgemein an, daß bereits um diese Zeit eine kretische Flotte das Ägäische Meer beherrscht hat. 4 Eine solche Tatsache wäre allerdings ein schwer erklärbares Phänomen, wenn man für diese Zeit mit einer wie auch immer gearteten Konföderation rechnet. Wie dem auch sei, es bleibt erstaunlich, daß es Kreta bereits kurz nach dem Übergang zur Palastwirtschaft gelang, seinen Außenhandel in diesem Ausmaß aufzubauen. Ganz offensichtlich haben die Herren der in Kreta neu entstandenen Paläste — wie auch immer sie untereinander verbunden gewesen sein mögen — die „Gunst der Stunde" genutzt, da die damalige Welt sich mitten in einem großen Umbruch befand: Um das 21. Jahrhundert v. u. Z. begannen die großen Wanderungsbewegungen, deren Ausläufer einmal zum griechischen Festland gelangten, zum anderen auf Kleinasien übergriffen (wo dann u. a. das Hethiterreich entstand) und schließlich auch Ägypten zu Anfang des 18. Jahrhunderts erreichten. Dies bedeutete aber, daß diejenigen Reiche, die an einem ausgedehnten Überseehandel interessiert gewesen wären, für geraume Zeit mit ihren eigenen Problemen so beschäftigt waren, daß sie Kretas Handelsexpansion nicht verhindern konnten. Über die gesellschaftliche und ökonomische Struktur dieser Zeit geben die zur Verfügung stehenden Funde keine definitiven Auskünfte; selbst eine Entzifferung der vorhandenen protolinearen Schrift wie der kretischen Hieroglyphen könnte hier nicht weiterhelfen. Des öfteren wird die Auffassung vertreten, daß es damals bereits eine beträchtliche Menge von Sklaven gegeben habe, 5 1
Vgl. S. Marinatos, a. a. O., 12. Gefunden 1953 von D. Levi bei Nachgrabungen in Phaistos und von ihm ins beginnende zweite Jahrtausend v. u. Z. datiert. 3 Bemerkenswert jedoch ist, daß bereits hier das Dezimalsystem verwendet wird. * So u. a. F. Matz, a. a. O., 77. * Was dann zur Bezeichnung „frühe Sklavenhalterstaaten" führt; vgl. Weltgeschichte Bd. 1. Berlin 1961, 469.
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da anders die großen Palastbauten nicht hätten durchgeführt werden können.1 Dem wird allerdings entgegengehalten, daß dies ein enormes landwirtschaftliches Mehrprodukt voraussetzen würde2; man könne eher an eine Art von Verpflichtung zu Dienstleistungen für diese Vorhaben denken. An Sklaverei wird daher lediglich die patriarchalische Form vorausgesetzt. Auf Grund der vorhandenen Indizien können wir annehmen, daß sich zu Anfang des zweiten Jahrtausends bereits eine Klassengesellschaft herauszukristallisieren beginnt, wir also für diese Zeit den Beginn der Herausbildung des Staates3 ansetzen dürfen. * Vgl. Weltgeschichte Bd. 1. Berlin 1961, 474. 2 So u. a. R. F. Willetts, a. a. O., 43. 3 Neue Funde werden vielleicht für diese so überaus wichtige Frage weiteres Material liefern.
Beginn und Entwicklung der mykenischen Staaten von
G A B B I E L E BOCKISCH
und
HEINZ GEISS
(Berlin)
1. Die frühesten Siedlungen Während auf Kreta die ältesten Siedlungsschichten noch ungenügend erforscht sind, ist auf dem griechischen Festland eine ausgedehnte neolithische Kultur in ihren Entwicklungsphasen gesichert, deren hauptsächliche Fundorte in Thessalien, der fruchtbaren und wasserreichen Ebene zwischen Larissa und Volo, liegen.1 Durch die Verbreitung des Bodenbaus und der Viehzucht, die das griechische Festland im 6. Jahrtausend erreichte, begann sich auch hier die Arbeitsteilung in Feldbauern, Viehzüchter, Jäger und Fischer durchzusetzen. Da fast alle neolithischen Haustiere und Kulturpflanzen keine auf dem europäischen Kontinent beheimatete Ausgangsform besitzen, dürfte diese Entwicklung nicht autochthon, sondern vom Vorderen Orient aus veranlaßt worden sein. Zwar ist die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in den neolithischen und frühbronzezeitlichen Kulturen des griechischen Festlandes ungeklärt, doch scheint ein Zusammenhang mit der ältesten Bevölkerung Anatoliens und Kleinasiens zu bestehen, was wiederum für eine Wanderungsbewegung bzw. schrittweise Ausdehnung der dortigen Feldbauern und Viehzüchter in die von Jägern und Sammlern besiedelten Gebiete des griechischen Festlandes sprechen würde.2 Die ersten nachweisbaren Siedlungen innerhalb der sich entfaltenden bäuerlichen neolithischen Kultur Thessaliens bestanden aus runden Hütten mit geflochtenen Zweigen und Lehmbewurf. Nach ihrer Größe zu urteilen, waren sie für eine Sippe bestimmt. Der Anbau von Getreide und Hülsenfrüchten 1
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VI. Milojöiö, Die deutschen Ausgrabungen in Thessalien. Historia 4' (1955), 466—473 (Es gibt nur wenige griechische Sagenkreise, die nicht durch die Herkunft ihrer Helden nach Thessalien weisen. Olymp: Sitz der griechischen Götter; Ossa: Sage von Kronos, Vater des Zeus; Pelion: Heimat der Kentauren, von denen Cheiron der Erzieher des Asklepios, Herakles und Achilles war; Pindos: hier kämpften die Götter gegen die Titanen; Iolkos: Stadt des Iason, Hafen der Argonauten; Pherai: Stadt des Peleus, Geburtsort des Achilles; Agrissa: Stadt der Lapithen, die die Kentauren besiegten; Trikkala: hier lebten die heilkundigen Asklepiaden). H. Quitta, Der Balkan als Mittler zwischen Vorderem Orient und Europa. In: Evolution und Revolution im Alten Orient und in Europa. Berlin 1971, 47 f., 59f.
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wie die Zucht von Ziegen und Schafen waren bekannt. Das Material der benutzten ObsidianWerkzeuge stammte aus Ungarn, von der Insel Melos und aus Anatolien, so daß ein einfacher Produktenaustausch vorzuliegen scheint. Die noch vor 5000 einsetzende Protosesklo-Kultur ist gekennzeichnet durch die nun auf dem griechischen Festland vorkommende handgefertigte und gebrannte Keramik. Die kugelförmigen schwarzen und roten Gefäße mit geglätteter Oberfläche haben seit 4500, dem Beginn der Sesklo-Kultur, eine polychrome Bemalung, deren Motive Web- und Flechtmustern ähneln. Sie beweisen, daß eine neue handwerkliche Fertigkeit bekannt wurde, nämlich die Herstellung von gewebten Stoffen mittels eines einfachen Rahmens. Um die Mitte des 4. Jahrtausends, in der Endphase der neolithischen SeskloKultur, entwickelt sich mit der monochromen Urfirniskeramik eine technische Neuerung, die über die in der Bronzezeit verwandte Glasurfarbe bis zu dem für die griechische Keramik typischen Firnis führte. Ebenso treten die Gefäßformen wie Hydrien, Kannen, Amphoren, Kratere, Becher, Schalen, Pithoi und die verschiedensten Arten des Küchengeschirrs auf, die zu den bleibenden Gattungen der griechischen Töpferware gehören. Die verbesserte Technik der Keramik deutet auf die Verwendung einer primitiven Töpferscheibe, der metallische Glanz auf eine Nachahmung der Metallgefäße und damit auf das Bekanntwerden der Metalle als Werkstoif hin.1 Die aus der Keramik ablesbare Entwicklung findet ihren Niederschlag in den dörflichen Siedlungen. Die Rundbauhütte weicht Häusern mit einem rechteckigen Grundriß, einem Steinfundament und Mauern aus strohuntermischtem Lehm oder luftgetrockneten Ziegeln, mit hölzernen Tragpfosten für das Dachgebälk. Da aber die einzelnen Häuser sich weder in der Ausstattung noch in der Größe voneinander unterscheiden, ist anzunehmen, daß die Dorfgemeinde noch die Arbeit wie auch die Verteilung des Mehrprodukts gemeinsam vollzog. Auffallend sind die spärlichen Waffenfunde, von denen die Steinbeile auch als Werkzeuge und die Schleudern und Bogen als Jagdwaffen zu deuten sind. Die weiblichen Idolfiguren aus Ton und Stein weisen auf einen Fruchtbarkeitskult hin.2 In der zweiten Hälfte des 4. Jahrtausends wanderte eine Bevölkerungsschicht nach Griechenland ein, deren Herkunftsgebiet nach Ausweis der gleichzeitig auf der Keramik auftretenden Spiral- und Mäandermuster nach Mittel1
2
E. G. Holmberg, The neolithic pottery of the mainland. Göteborg 1964, 6f., 33f. (grundlegend für die Chronologie, die anhand der Siedlungshorizonte der Agrissa-, Gremnos- und Otzaki-Magula bei Larissa aufgestellt wurde); E. Kunze, Orchomenos 2. München 1931, 47-52; 3, 14;F.Matz, Kreta und frühes Griechenland. 3. Aufl. Baden-Baden 1965,20,24; P. Demargne, Die Geburt der griechischen Kunst. München 1965, 32. H. D. Hansen, Early civilisation in Thessaly. Baltimore 1933, 72; G. Weicker, Asine. Die Antike 15 (1939), 265-267 (Frühhelladikum ab 3500, zu früh angesetzt); VI. Milojöic, Die deutschen Ausgrabungen in Thessalien. Historia 4 (1955), 467 (mit der Feststellung, daß das Megaron-Haus vor der Dimini-Wanderung auf dem griechischen Festland erscheint); Matz, Kreta und frühes Griechenland, 21 f.; Demargne, Die Geburt, 32f.
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europa weist.1 Die Wanderungsbewegung erfolgte in mehreren Wellen und erreichte über Thessalien Mittelgriechenland, die Peloponnes und die Kykladen. Die dadurch entstandene Dimini-Kultur stellt die Endphase des Neolithikums auf dem griechischen Festland dar und geht um 2500 allmählich in die bronzezeitliche frühhelladische Kultur über. Die einwandernden Stämme, die sich in ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten bereits weitgehend mit dem Feldbau beschäftigt hatten, gerieten in kriegerische Auseinandersetzungen mit der ansässigen Bevölkerung der Sesklo-Kultur. In dieser Wanderungsbewegung, die fast 200 Jahre dauerte, entwickelte sich ein Kriegeradel, der die Verteidigung kleinerer Stammesgebiete leitete, von den Dorfgemeinden landwirtschaftliche und gewerbliche Produkte erhielt und diese Leistungen als bestehende Abgaben beibehielt.2 Von Beginn der frühhelladischen Phase an finden wir auf dem griechischen Festland Burgen, die Akropolen, angelegt an Plätzen, von denen aus eine Landschaft überblickt werden konnte. Die Anlage und der allgemeine Typus dieser Hochsiedlungen erlauben uns, in ihnen Herrscherburgen zu sehen. Die Lage an natürlichen Verkehrsadern wie auch die Funde zeigen, daß ein Produktenaustausch nicht nur zwischen diesen einzelnen Zentren, sondern über die Inselbrücke der Kykladen mit den Kulturen Anatoliens entstanden war. Die Burgen haben mehrere konzentrische Mauergürtel, deren innerer Bing gleichzeitig die Stützmauer für die höher gelegene Terrasse war. Innerhalb der Mauergürtel sind handwerkliche Produktionsstätten festzustellen, die sich aus den Dörfern in die Burgsiedlungen verlagert hatten. Die Akropolis diente auch als Fluchtburg. Es scheint hier eine Entwicklungsphase vorzuliegen, in der sich keimhaft die Entstehung einer Klassengesellschaft vorbereitet. Während sich aber in Mesopotamien und Ägypten, deren mächtige Befestigungsanlagen und stadtartige Siedlungen aus dem Spätneolithikum und der frühen Bronzezeit 1
2
H. Goldman, Excavations at Eutresis in Boeotia. Cambridge/Mass. 1931, 229f.; E. J. Holmberg, Excavations at Asea in Arcadia. Göteborg 1939, 22 (die Keramik weist ab FH III auf eine Verbindung mit Anatolien und einen beginnenden Produktenaustausch hin); Matz, Kreta und frühes Griechenland 3, 43, 47,50f. (zur sog. Urfirniskeramik; lehnt eine Überbewertung der Dimini-Wanderung ab); P. Kretschmer, Die vorgriechischen Sprach- und Volksschichten. Glotta 30 (1943), 236-239 (bezeichnet die Stämme der Dimini-Wanderung als protoindoeuropäisch); Demargne, Die Geburt, 37 (zum Aufkommen des Mäander- und des Spiralbandmotivs in der Keramik, die als Nachahmung des Metalldrahtdekors zu deuten sind und auf den Übergang zur Bronzezeit hinweisen). F. Schachermeyr, Zur Indogermanisierung Griechenlands. Klio 32 (1939), 131 (grundlegend für die Chronologie, doch in der Interpretation der Einzelfakten Vertreter der nordischen Bassentheorie, Überbewertung der Indogermanen); S. Fuchs, Die griechischen Fundgruppen der frühen Bronzezeit. Berlin 1937,140f. (zur Einwanderung von Stämmen der sog. Streitaxtkulturen zwischen 2300 und 2200; S. 18 entspricht nicht den archäologischen Ergebnissen, denn Zerstörungshorizonte weisen auf kriegerische Auseinandersetzungen mit der ansässigen Bevölkerung hin).
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vergleichweise betrachtet werden können, die Staatsentstehung als ein relativ kontinuierlicher Prozeß vollzog, wird am Ende von Frühhelladisch I I (gegen Ende des 3. J a h r t a u s e n d s d i e hier aufgezeigte Entwicklung durch schwere Zerstörungen, welche die gesamten Siedlungen umfassen, zunächst unterbrochen. 2 Diese Zerstörungen wurden durch den Einbruch jener Stämme verursacht, die man heute gewöhnlich als Achäer bezeichnet. 3 Ihre Einwanderung kann nur am Ende des 3. Jahrtausends erfolgt sein, denn von da ab bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts — zu der Zeit also, in der wir die mykenische Kultur bereits voll ausgebildet vorfinden — sind keinerlei Spuren einer nochmaligen Wanderungsbewegung nachweisbar. Die Zuweisung dieser Stämme zum indo-europäischen Sprachenkreis wird aus der Tatsache wahrscheinlich, daß im gleichen Zeitraum auf der anderen Seite der Ägäis, in Kleinasien also, Völkerstämme mit verwandten indo-europäischen Sprachen, wie z. B. Hethiter und Luwier, einwanderten, wobei u. a. Troja I I und auch Beycesultan zerstört wurden. 4 Die auf das griechische Festland einwandernden Achäer vernichteten offensichtlich nicht völlig die dort ansässige Bevölkerung, die dem 1
S. Hood, The home of the heroes. London 1967, 33, 65 (nennt als Zeitpunkt „a Century ore more before 2000 BC."); ähnlich M. I. Finley, Early Greece: The bronze and archaic ages. London 1970, 13, der dieses Ereignis um 2200 oder 2100 ansetzt. 2 In der frühhelladischen Phase bilden sich weitere Siedlungsgebiete in Makedonien, Böotien, Attika, der Nordpeloponnes (Korinth), in der Argolis und auf den Kykladen heraus. G. Thomson, Forschungen zur altgriechischen Gesellschaft 1. Berlin 1960, 297 (zur Entstehung einer herrschenden Schicht); E.Kunze, Orchomenos 2, 3; bes. 3. München 1934, 92—94 (vermutet zu Beginn des FH eine durch die Leitformen des Askos, der Schnabelkanne und des Krateros ausgewiesene Wanderungsbewegung von Anatolien her, die vor allem die Kykladen berührte; S. 91 zum Produktenaustausch); E. J . Holmberg, Excavations at Asea in Arcadia. Göteborg 1939 (die Siedlung ist erst ab FH I nachweisbar; zeigt vorwiegend Megaronhäuser in einer dörflichen Siedlung); C. W. Biegen, Zygouries. Cambridge 1928, bes. 3f., 209f. (befestigte Siedlung mit 90 cm starken Wällen aus unbehauenen Steinen, reiche Funde, die bisher in dieser frühen Zeit auf der Peloponnes nicht vermutet wurden); H. Goldman, Excavations at Eutresis in Boeotia. Cambridge/Mass. 1931, bes. 227—236 (grundlegend zur Siedlungsgeschichte); N. Valmin, Das adriatische Gebiet in der Vor- und Frühbronzezeit. Lund 1939 (zu den Siedlungstypen in der Ägäis und den adriatischen Gebieten; S. 136f. zur Entstehung der bis in die klassische Zeit der griechischen Geschichte typischen Akropolen); Fuchs, Die griechischen Fundgruppen, 54f.; Quitta, Der Balkan als Mittler, 163. 3 Holmberg, Excavations at Asea, 26; H. D. Hansen, Early civilisation in Thessalia. Baltimore 1933, 115 (Zerstörungsschichten in Korakou, Zygouries, Asine, Eleusis, Eutresis); Kunze, Orchomenos 3,96 (die ältere Bevölkerung zog sich in die Gebirge zurück); Valmin, Das adriatische Gebiet, 228f., 153,169 (handgefertigte Keramik noch bis zum SH nachweisbar, was dafür spricht, daß die ältere Bevölkerung nicht völlig vernichtet wurde); O. Müller, in: Tiryns 3. Augsburg 1930, 203f. (in dem Zerstörungshorizont am Ende des FH treten neue Keramiktypen auf); Goldman, Excavations at Eutresis, 231. 4 Hierzu M. I. Finley, Early Greece, 13f. und 16; S. Hood, Home of the heroes, 66, ist wiederum sicher, daß diese Einwanderer von Anatolien kamen.
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ägäischen Kultur- und Sprachkreis angehörte (von ihrer Existenz zeugen vor allem die vorgriechischen geographischen Bezeichnungen auf -nth- und -ss-i im Gegensatz zu späteren Bildungen), sondern überlagerten sie. Sie übernahmen wahrscheinlich bereits vorhandene primitive Organisationsformen (einige solcher Bezeichnungen im späteren Griechisch deuten darauf hin) und mit Sicherheit die vorhandenen, den ihren wohl überlegenen Errungenschaften der materiellen Kultur (auch davon zeugt noch nach vielen Jahrhunderten eine ganze Reihe von entsprechenden Benennungen)2, woraus sich allmählich das formte, was uns dann so plötzlich als mykenische Kultur entgegentritt. Auf sprachlichem Gebiet werden sich ähnliche Entwicklungen vollzogen haben: Die Sprache der Einwanderer dürfte mit dem vorhandenen ägäischen Substrat eine Mischung eingegangen sein, vielleicht ungefähr vergleichbar mit der Herausbildung des Englischen aus normannischem Superstrat über angelsächsischem Substrat, wobei hier allerdings die jeweiligen Verhältnisse von Eroberer und unterworfener Bevölkerung gerade umgekehrt waren. Das Endprodukt einer solchen sprachlichen Entwicklung tritt erst Jahrhunderte später auf den Linear B-Tafeln schriftlich fixiert in Erscheinung. Leider besitzen wir für diesen sich vollziehenden Prozeß keinerlei Dokumente, im Gegensatz zu den späterhin zahlreichen Linear B-Texten aus Pylos, Mykene und Theben. Die Ventrissche Entzifferung der Linear B-Schrift geht jedoch von der Annahme aus, die mit dieser Schrift wiedergegebene Sprache sei reines, wenn auch sehr altertümliches Griechisch, ja die Möglichkeit einer Mischung zwischen Super- und Substratsprache wird ausdrücklich abgelehnt.3 Entbehrt die schroffe Ablehnung eines solchen möglichen, ja wahrscheinlichen Prozesses einer akzeptablen Grundlage — immerhin ist noch nicht geklärt, welche der in Frage kommenden Varianten des Indo-europäischen diese Einwanderer am Ende des 3. Jahrtausends überhaupt gesprochen haben; schließlich war irgendeine Art von „Urgriechisch", wie es von der Entzifferung angenommen wird, nur eine der Möglichkeiten —, so bieten die mit der Entzifferung, die allein auf der Theorie eines solchen „Urgriechisch" aufbaut, bisher gewonnenen Ergebnisse kein allzu ermutigendes Bild: Der weitaus größte Teil der Texte entzieht sich immer noch hartnäckig jeglicher Deutung, und die restlichen Deutungen geben doch Anlaß zu teilweise erheblichen Zweifeln. Interpretationen, die auf der Ventrisschen Entzifferung beruhen, sollten daher nur mit äußerster Vorsicht herangezogen werden; als alleiniges Beweismittel können sie kaum angesehen werden, auch wenn eine große Zahl von Forschern die mit der Ventrisschen Entzifferung gewonnenen Lesungen als gesicherte Ausgangsbasis für weitere Schlüsse ansieht. 1
2 3
A. Heubeck, Praegraeca. Erlangen 1961, 88, gibt einen informativen Überblick über solche Bildungen. M. I. Finley, Early Greece, 15, äußert ähnliche Vermutungen. M. Ventris und J. Chadwick, Documents in Mycenaean Greek. Cambridge 1956, 70ff.
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Die auf Zerstörungshorizonte folgenden Schichten erbrachten die mit der Töpferscheibe hergestellte minyische Keramik, deren dunkle Linear-Muster auf hellem Grund bis in die mykenische Zeit für das griechische Festland typisch bleiben. Die Töpferscheibe, der Webstuhl und die sich ausbreitende Schafzucht weisen in die Gebiete des alten Orients. Dort in Anatolien ist die minyische Keramik vor dem Einbruch der achäischen Stämme in das griechische Festland nachweisbar. Doch kann man heute noch nicht sagen, ob der Wanderungsweg aus der ungarischen Tiefebene über Thrakien nach Kleinasien und von dort über die Inselbrücke der Kykladen nach dem griechischen Festland ging oder ob die Heimat der achäischen Stämme im armenischen Hochland lag und von dort ihre Ausbreitung nach Anatolien erfolgte. 1 Die einwandernden Stämme waren wahrscheinlich nach Sippenverbänden gegliedert, die von einem Kriegeradel gelenkt wurden. Die Bewaffnung mit Streitaxt, Pfeil und Bogen war der ansässigen Bevölkerung überlegen. Dazu kam das Pferd, das entscheidende Neuerungen in Kriegstechnik und Beförderung brachte. 2 Aus der Tatsache, daß bereits vorhandene befestigte Besiedlungsplätze (Tiryns an der Südküste der Argolis) weiter verwendet wurden, gleichzeitig 1
Holmberg, Excavations at Asea, 26 (die neu aufkommenden Keramikformen und -muster haben ihren Ursprung in den östlichen Gebieten; unklar, ob sie durch einen Produktenaustausch oder eine Wanderungsbewegung verbreitet wurden); G. B. Haley, C. W. Biegen, The coming of the Greeks. American Journal of Archaeology 32 (1928), 141 f. (um 1900 Einwanderung der Achäer); Goldman, Excavations at Eutresis, 231 f. (die minyische Keramik ist um 2000 in Anatolien nachweisbar. Die zu Beginn des MH in Griechenland einwandernden Stämme kamen wahrscheinlich aus dem Gebiet von Anau in Turkestan und aus Nordwestkleinasien, Wanderung über Land — durch Makedonien — und über die Inselbrücke der Ägäis möglich); W. Porzig, Sprachgeographische Untersuchungen zu den Achäern. Indogermanische Forschungen 71 (1964), 166—169 (Zusammensetzung aus ostgriechischen ( = achäischen), äolischen und westgriechischen Stammesgruppen); Hansen, Early civilisation in Thessaly, 144f. (ab 1900 ist in allen bisher erforschten Siedlungshorizonten die minyische Keramik feststellbar); A. Heubeck, Praegraeca. Erlangen 1961, bes. S. 20 (Zusammenfassung der archäologischen und sprachwissenschaftlichen Materialien. Da um 2000 Troja V zerstört wurde und in den Siedlungshorizonten von Troja VI ebenfalls die minyische Keramik vorkommt, müßte in Kleinasien und auf dem griechischen Festland die eingewanderte Bevölkerung die gleiche ethnische Zusammensetzung besitzen, deren Gleichsetzung mit Achäern bzw. Griechen aber problematisch ist); Matz, Kreta und frühes Griechenland, 162 (Minyer der Sage in Böotien lokalisiert. Leitformen der minyischen Keramik sind Kelche mit hohen Standringen und Kantharoi mit großen Vertikalhenkeln); Demargne, Die Geburt, 81 (schnell rotierende Töpferscheibe); Fuchs, Die griechischen Fundgruppen, 13 (die Behauptung, daß die handgefertigte Urfirnis- und die auf der Töpferscheibe gefertigte minyische Keramik die Hinterlassenschaft zweier „artverschiedener Völker" seien, ist abzulehnen).
2
C. W. Biegen, Prosymna. Cambridge 1937,365 (erste Darstellung von Pferd und Wagen in Terrakotta auf dem griechischen Festland); Demargne, Die Geburt, 80 (zu Bogen und Streitaxt, die mit der achäischen Wanderung aufkommen).
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neue Burganlagen erscheinen (Lerna an der Südkäste der Argolis, Malthi in Messenien), wird die Existenz eines Stammesadels ersichtlich, eine Erscheinung, die bereits in der Dimini-Kultur zu beobachten war.1 In der mittelhelladischen Phase vollzog sich in einem Zeitraum von 2000 bis ca. 1600 die kriegerische Landnahme und Seßhaftwerdung der achäischen Stämme, zugleich auch die Auflösung ihrer gentilen Organisation, deren einzelne Etappen aber nicht mehr zu verfolgen sind. Nur aus den Eigentumsverhältnissen des mykenischen Staates kann man für diese frühe Zeit folgende Schlußfolgerungen ziehen: Bei der Landnahme erhielt die Sippe der achäischen Stammesfürsten einen größeren Landanteil, der in der Regel in den an die einzelnen Burgen angrenzenden Dorfsiedlungen bestand. Da die Achäer als Eroberer in das griechische Festland kamen und in eine anhand der Zerstörungshorizonte nachweisbare kriegerische Auseinandersetzung mit der ansässigen Bevölkerung gerieten, ist es durchaus möglich, daß diese zu Abgabenleistungen an die Burgherren gezwungen wurde. Die Sippen der Bauern und Viehzüchter siedelten in Dörfern, deren Siedlungsdichte sich gegenüber der frühhelladischen Phase vergrößerte. Wir nehmen weiterhin an, daß in diesen Dorfgemeinden der' Parzellenbodenbau kleinerer Familienkollektive überwog. Für einen Parzellenbodenbau bereits in dieser Zeit spricht auch die geographische Beschaffenheit des griechischen Festlandes, das größere zusammenhängende Flächen für Feldbau und Viehweide nur im Eurotastal, in Böotien und in der Argolis besitzt.2 Vom Beginn des zweiten Jahrtausends an verläuft die Entwicklung auf Kreta und dem griechischen Festland unterschiedlich. Während sich auf Kreta 1
Matz, Kreta und frühes Griechenland 3 , 160 (Herrenhäuser und befestigte Siedlungen in Malthi in Messenien, in Asine in der Argolie, in Brauron in Attika, auf Ägina); Demargne, Die Geburt, 80 (keine Anhaltspunkte dafür, daß um die Burgen Stadtanlagen entstanden wie rings um die Palastanlagen auf Kreta); zu der ältesten mittelhelladischen Burganlage vgl. Tiryns 3, 203.
2
W i r können den Widerspruch noch nicht lösen, der sich daraus ergibt, daß wir ein Ü b e r wiegen des Parzellenbodenbaus und gleichzeitig eine Staatsform vom T y p der altorientalischen Despotie in den mykenischen Staaten feststellen. I n diesem Zusammenhang möchten wir auf eine von H . Heichelheim geäußerte Theorie hinweisen (Wirtschaftsgeschichte des Altertums. Leiden 1938, Neudruck Leiden 1969, 75f.), die überzeugend, doch bei dem Mangel an beweiskräftigen Materialien für die mykenischen Gebiete bisher nicht zu belegen ist. H . nimmt in den Gebieten ohne Bewässerungsbodenbau die Herausbildung einer Feldgraswirtschaft an, bei der das Ackerland periodisch aus der Viehweide herausgesondert wird, und kommt zu folgender Schlußfolgerung: „Bei der geregelten Feldgraswirtschaft ist es bemerkenswerter Weise die politische Gewalt, die die jährliche Neuverteilung des Bodens nach einem oft viele Generationen überdauernden System an die anbauberechtigten Familien durchfahrt. Die Staatsspitze besitzt hier ein deutliches Obereigentum über den nur prekär und nur auf Zeit in Einzelnutzung zu vergebenden Ackergrund. Die wilde Feldgraswirtschaft dagegen vollzieht sich noch ohne eine solche Ordnung. Hier bilden sich mit der Zeit feste Bodenkomplexe von Acker-, . Garten- und Weideländereien im Besitze von Großfamilien heraus."
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bereits um 2000 die Staatsbildung vollzieht, verbleibt das griechische Festland zunächst in einer noch gentilen Organisation der achäischen Stämme, die erst zur Staatsbildung übergehen, als sich auf Kreta schon der Niedergang der Palast Wirtschaft bemerkbar macht. 2. Die früh- und mittelmykenischen
Burgen
In der früh- und mittelmykenischen Phase vollzieht sich auch auf dem griechischen Festland die Herausbildung des Staates. Sie wird gekennzeichnet durch die Anlage von Schacht-, dann Kuppelgräbern, die in Verbindung zu bedeutenden Burganlagen, zu dörflichen Siedlungen in deren näherer Umgebung und zu Nekropolen stehen und auf die Herausbildung einer despotischen Königsgewalt hinweisen. Außerdem entsteht ein zunächst noch begrenzter Produktenaustausch in Konkurrenz zu Kreta, dessen Organisation von den Burgen aus geleitet wird. Ein weiteres Kennzeichen für die Auflösung der ursprünglichen Sippenordnung sind kriegerische Überfälle zunächst auf die Gebiete außerhalb Griechenlands, wobei der Hauptanteil der Beute dem Stammesfürsten zufällt, dann auf benachbarte Burgen (Theben), die zu deren Unterwerfung und zur Herausbildung größerer Territorien führten. Diese unterscheiden sich von den kleineren Burggebieten der vorangehenden Phase vor allem dadurch, daß sie von einer staatlichen Gewalt geleitet werden. Mykene in der Argolis ist die größte Burganlage, die sich wie Knossos auf Kreta wohl zu dem beherrschenden Zentrum innerhalb der mykenischen Kultur entwickelte. Die Schachtgräberanlagen, die um 1600 aufkommen, weisen auf die Herausbildung einer privilegierten Schicht innerhalb des Stammesadels hin, die als Heerführer in Raubkriegen ihre Machtposition festigte. Die ersten dieser Schachtgräber mit relativ geringen Beigaben hat der zwischen 1951 und 1954 entdeckte Plattenring B. Die Schachtgräber sind rechteckige, mit Steinen ausgelegte Gruben von beträchtlicher Größe, die sich innerhalb oder bei der Burganlage befanden. Da sie die fürstliche Sippe jeweils in einer Grabanlage vereinen, ist zu schließen, daß die Gentilordnung innerhalb der herrschenden Schicht zumindest noch kultisch intakt war. Ähnliche über Generationen benutzte Grabanlagen, allerdings in einfacherer Ausführung und ohne kostbare Grabbeigaben, gibt es auch in den Siedlungen am Fuße der Burgen. 1 1
E. F. Bruck, Totenteil und Seelgerät. München 1926, 6—12 (in den Schachtgräbern wird noch ein Sippen verband der fürstlichen Familie sichtbar; soziale Unterschiede in den weniger reich ausgestatteten Gräbern der Nekropolen in Burgnähe); S. Hood, The Home of the heroes, 70 f. (Schachtgräber für königliche Bestattungen); zu den Burganlagen vgl. G. E. Mylonas, Ancient Mycenae. London 1957, 181; Demargne, Die Geburt, 185. Zu den Schachtgräbern vgl. Schachermeyr, Die ägäische Frühzeit 2. Anzeiger für die Altertumswissenschaft 6 (1953), 212f. (Grabkreise bereits vom Ende des MH an); A. W. Persson, Neue königliche Gräber in Dendra. In: Bericht über den 6. internationalen Kongreß für Archäologie, Berlin 1939, 294—296 (nimmt an, daß die Kammergräber, die im 16. Jh.
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Die berühmten Schachtgräber, die Schliemann im Plattenring A der Burg von Mykene auffand, stammen aus der Zeit zwischen 1570 und 1560. Die noch primitive Ausführung der baulichen Anlage wie auch der an der gleichzeitigen minyischen Keramik ablesbare unentwickelte Stand des mykenischen Handwerks stehen im Gegensatz zu den Grabbeigaben aus Edelmetall, vor allem den Waffen, für die es auf dem griechischen Festland keine gleichzeitigen Parallelen gibt. Die Diademe und Szepter, die Gebrauchs- und Schmuckgegenstände sind mit Ornamenten der kretischen Kamareszeit verziert. Ihre Ausführung weist nach Kreta als Ursprungsland hin, doch sind dort derartige Leistungen des Kunsthandwerks nur in keramischer Imitation, nicht aber aus Edelmetallen bekannt. Auch eine Kunstfertigkeit mykenischen Handwerks, wie sie die goldenen Totenmasken und ReliefOrnamente goldener Beschläge aufweisen, ist vorher nicht bekannt. Es besteht die Möglichkeit, daß kretische Handwerker nach Mykene kamen. Als mögliche Erklärung sei auf das S. llOf. Gesagte hingewiesen. Söldnerdienste mykenischer Krieger in Ägypten sind unbewiesen, zumal Funde ägyptischer Herkunft aus der Schachtgräberzeit, abgesehen von Fayenceperlen, nicht nachweisbar sind. Ebenso ist ungeklärt, ob die Kenntnis des Streitwagens als neuer Kriegswaffe, der auf den Grabstelen der Schachtgräber um 1570 erstmalig abgebildet ist, von Kreta oder von Ägypten aus in den Bereich der mykenischen Burgen gelangte. Während die Stammesfürsten in der frühmykenisehen Phase noch über keine ausgeprägte politische Macht gegenüber den unmittelbaren Produzenten verfügten, ist eine Entstehung von Klassen und einer staatlichen Gewalt in der mittelmykenischen Phase (15.—14. Jahrhundert) anhand der Funde der materiellen Kultur festzustellen. Eine weitere Spezialisierung der handwerklichen Berufe, die ihre Fertigkeit in Anlehnung an kretische Vorbilder entwickelten, führt zu einem begrenzten Warenhandel. Mykenische Produkte beginnen in die kretischen Handelsfaktoreien auf Melos, Rhodos und in Milet einzudringen. Wie die nun verstärkt einsetzende Bronzeverarbeitung annehmen läßt, war bereits Ende des 15. Jahrhunderts der Hauptweg der Metalle nach dem Westen, der über See von Kypros längs der Küste Kleinasiens führte, in mykenischer Hand. Der Landweg über die Dardanellen ging über Troja, dessen Konkurrenz für Mykene lästig wurde. Mit der weiterentwickelten Arbeitsteilung und dem allmählichen Übergang vom Produktenaustausch zu einem Warenhandel mit weitentfernten Gebieten zerfällt auf dem griechischen Festland endgültig die Sippenordnung. Die Entstehung staatlicher Institutionen und der Palastwirtschaft werden in auf dem griechischen Festland erscheinen, aus dem ägyptischen Felsengrab entlehnt sind, während die Schachtgräber in den Kistengräbern ihre Vorläufer haben); Matz, Kreta und frühes Griechenland, 163—166 (interpretiert unrichtig die 1951 entdeckten 14 Schachtgräber als Nebenlinie des Fürstenhauses von Mykene); G. Karo, Die Schachtgräber von Mykenai. München 1930—1933 (Standardwerk; S. 317 unbewiesen, daß die Beute schon in dieser Zeit aus Kaubzügen in das Hethiterreich, besonders aus Troja stamme).
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ähnlicher Weise wie auf Kreta verlaufen sein. Inwieweit die auf Kreta ausgebildeten Organisationsformen im 15. Jahrhundert von Mykene übernommen wurden, ist nicht endgültig zu klären. Überfälle und Raubzüge der mykenischen Stammesfürsten erfolgten nicht nur nach Kreta, sondern auch in die Burgen innerhalb des griechischen Festlandes. Dafür spricht die Zerstörung der Burg von Theben, der Kadmea, die im 15. Jahrhundert erfolgte. Da die Burg von Mykene von 1400 an zum ökonomischen und kulturellen Zentrum innerhalb der mykenischen Kultur wurde, ist es wahrscheinlich, daß zumindest die Zerstörung der Kadmea auf Machtkämpfe zwischen den Stammesfürsten zurückzuführen ist. 1 Die in der spätmykenischen Phase ab 1400 erfolgten Umbauten haben die älteren Schichten der mykenischen Burgen zerstört, so daß mittelmykenische Anlagen nicht erhalten blieben. Ebenso ist keinerlei epigraphisches Material überliefert, so daß wir nur aus den Funden mykenischer Handwerksprodukte auf eine fortgeschrittene Arbeitsteilung und nur aus den um 1500 einsetzenden Kuppelgräbern auf eine Ausbildung der staatlichen Gewalt schließen können. Die Kuppelgräber waren für die Bestattung des Stammesfürsten bzw., wie aus den Grabbeigaben hervorgeht, der Fürstin bestimmt. Wie auf Kreta sind auch in Mykene von Frauen vollzogene Kulthandlungen nachweisbar, jedoch können über die politische Macht der Burgherrinnen wie über die Stellung der Frau innerhalb der mykenischen Gesellschaft nur Mutmaßungen geäußert werden. 2 Die Kuppelgräber, 1
Persson, Neue königliche Gräber, 192 (Haunebt' in den ägyptischen Inschriften ist Mykene, das um 1545 Thutmose mit Soldtruppen gegen die Hyksos unterstützt haben soll); Schachermeyr, Welche geschichtlichen Ereignisse führten zur Entstehung der mykenischen Kultur? Archiv orientälni 17 (1949), 331—345 (ebenso); A. Furumark, The Mycenaean pottery. Stockholm 1941; ders., The chronology of the Mycenaean pottery. Stockholm 1941 (grundlegend, gibt beweiskräftige Aussagen für das mykenische Handwerk); G. Rodenwaldt, Der Fries des Megarons von Mykenai. Halle 1921, lf., 21 f., 48f. (die mykenische Freskomalerei beginnt ab 1600 unter kretischem Einfluß, doch ist die Alltagskleidung auf dem Festland der griechische Chiton); Matz, Kreta und frühes Griechenland, 181—184 (zum Raubzug nach Kreta und dem gleichzeitigen Beginn des mykenischen Kunsthandwerks; S. 225 zum mykenischen Metallhandel); A. Wiesner, Fahren und Reiten. Leipzig 1939, 23—26 (der Streitwagen, ein zweirädriger Wagen für den Wagenlenker und den Krieger, der mit Stoßlanze und Reflexbogen bewaffnet ist, wird in Mykene um 1600 nachweisbar); Schachermeyr, Die ägäische Frühzeit, 231f. (ebenso); ders., Zur Indogermanisierung Griechenlands, 269 (in den mykenischen Grabfunden überwiegen Dolche und Pfeilspitzen; Langschwerter und Speere sind selten. Anfänge der Belagerungstechnik werden an einem Trichtergefäß kretischer Herkunft, das im 4. Schachtgrab von Mykene gefunden wurde, ersichtlich); zum Streitwagen vgl. noch F. Alt, Die Herkunft der Hyksos. Berlin 1954, 15, 38 f. (Hyksos als „Erfinder" des Streitwagens, der nach deren Invasion in Ägypten um die Wende vom 17. zum 16. Jh. erstmalig nachweisbar ist); W. Bissing, Das angebliche Weltreich der Hyksos. Archiv für Orientforschung 10 (1956), 328f. (bezweifelt diese These).
2
Zum Kult in Mykene vgl. Schachermeyr, Die ägäische Frühzeit, 212f. (Grabstelen, Totenkult an den Gräbern, Vorläufer des späteren griechischen Heroenkults); Matz,
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Staatsentstehung
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deren Vorläufer auf Kreta zu finden sind, befinden sich nicht mehr wie die Schachtgräber im Burgareal, sondern in dessen unmittelbarer Nähe. Sie wurden teilweise gleichzeitig mit den Erweiterungen oder Umbauten der Burganlagen errichtet und besitzen Dimensionen, die ihren Bau bereits zu Lebzeiten des Stammesfürsten wahrscheinlich machen. Da gleichzeitig die Kammergräber weiterbestehen, deren Anlage ebenfalls in Burgnähe meist innerhalb einer Nekropole nachweisbar ist, kann man vermuten, daß diese für den Stammesadel bestimmt waren, der in einer analogen Entwicklung zu Kreta zum Hofadel wurde.1 Wenn auch die in der mittelmykenischen Phase vom Stammesfürsten bzw. Despoten repräsentierte staatliche Gewalt die Bauern zu Abhängigen, d. h. zu Untereigentümern des von ihnen bearbeiteten Bodens, machte, so blieb im Bereich der mykenischen Staaten der von Einzelfamilien betriebene Parzellenbodenbau bestehen; ebenso sind innerhalb der zentral organisierten Palastwirtschaft relativ unabhängige dörfliche Siedlungen möglich2. Die Ergebnisse der archäologischen Forschung, die erst am Ende des 19. Jahrhundert mit den Ausgrabungen Schliemanns in Mykene einsetzte und zur Entdeckung der linearen Schriftsysteme durch Evans führte, zwingen uns zu der Aussage, daß auf Kreta und auf dem griechischen Festland im 2. Jahrtausend Staaten bestanden. Diese neueren Materialien standen Engels noch nicht zur Verfügung, als er allein auf Grund der literarischen Überlieferung, besonders aber der Homerischen Dichtung, zu der Schlußfolgerung kam, daß die Griechen der Heroenzeit der Oberstufe der Barbarei angehörten3 und mit dem Übergang zur Zivilisation durch „Heerführer, Rat, Volksversammlung" die „Organe der zu einer militärischen Demokratie fortentwickelten Gentilgesellschaft" ausbildeten. Diese Phase, in der „der Krieg und die Organisation zum Krieg jetzt regelmäßige Funktionen des Volkslebens geworden sind", in der „die Raub-
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Kreta und frühes Griechenland, 182 (zum Unterschied von Kreta kein Epiphanieglauben nachweisbar). Vgl. dazu H. Reusch, Die zeichnerische Rekonstruktion des Frauenfrieses im böotischen Theben. Berlin 1956. Matz, Kreta und frühes Griechenland3, 199 f. (Kuppelgräber haben zwar ihren Ursprung auf Kreta, kommen aber im wesentlichen auf dem griechischen Festland vor: in Mykene, Pylos, im böotischen Orchomenos das sog. Schatzhaus des Minyas); R. Hampe, Die homerische Welt. Gymnasium 63 (1956), 20 (von den neun erhaltenen Kuppelgräbern von Mykene wurden je drei in verschiedenen Regionen zu verschiedenen Zeiten errichtet, gegen 1500, zwischen 1460 und 1400 und zwischen 1400 und 1300. Die Annahme, daß drei gleichberechtigte Fürstengeschlechter in Mykene herrschten, ist unbewiesen); Schachermeyr, Zur Indogermanisierung Griechenlands, 268 (zur technischen Leistung bei dem Bau der Kuppelgräber); Demargne, Die Geburt, 105, 215 (Errichtung der Kuppelgräber zu Lebzeiten des Fürsten). Schachermeyr, Zur Indogermanisierung Griechenlands, 268f. (aus den Nekropolen von Prosymna, Asine und Mykene ist zu entnehmen, daß die um die Burgen siedelnde Bevölkerung aus Freien bestand. Als Beweis führt Sch. die Waffen in den Grabbeigaben an. Die Hörigen wohnten in Weilern in Burgnähe). F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 29 f.
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kriege die Macht des obersten Heerführers wie die der Unterführer erhöhen", wird nach unserer Meinung in der frühmykenischen Zeit der sogenannten Schachtgräber sichtbar. Der „Krieg als Erwerbszweig"1 führte hier zu Plünderungszügen nach Kreta und vermutlich auch zur Zerstörung der Burg von Theben, während die Weiterentwicklung der Arbeitsteilung wie die Herausbildung eines spezialisierten Handwerks und die Sonderstellung der fürstlichen Sippe auf die endgültige Auflösung der gentilen Stammesorganisation hinweisen, die dann nach 1400 zur Durchsetzung einer staatlichen Gewalt führt. 3. Die spätmykenischen Burgen Nachdem Kreta nach 1400 als ökonomischer und politischer Machtfaktor endgültig ausgeschieden war, verlagerte sich das Zentrum der Ägäis nach dem griechischen Festland. In die Zeit von 1400 bis 1200 fällt die höchste Entfaltung der mykenischen Staaten, die danach den Zerstörungen durch die große Wanderungsbewegung zum Opfer fielen. Außer den Zeugnissen der materiellen Kultur aus den Burganlagen, den kleineren Siedlungen und den Handelsfaktoreien steht uns nun auch umfangreiches epigraphisches Material zur Verfügung. Die Inschriften finden sich auf den Tontafeln aus Pylos, Mykene und Theben sowie auf den — vergleichsweise heranzuziehenden — aus Knossos. Obwohl die Palastarchive aus den jeweiligen Zerstörungsschichten stammen und weder die Linear-B-Schrift gesichert gelesen noch deren sprachlicher Charakter geklärt ist, erlaubt eine Vielzahl deutbarer Ideogramme dennoch gewisse Aussagen über die sozial-ökonomische Basis, aus der man die Struktur des mykenischen Staates erschließen kann. Die bisherige Deutung sämtlicher uns überlieferter Zeugnisse rechtfertigt auch auf dem griechischen Festland die Einordnung des Staates in den Bereich der altorientalischen Gesellschaft. Doch in einer im Vergleich zu Kreta unterschiedlich verlaufenden Entwicklung, die neben dem geographischen Milieu ihre Ursache in der Gentilordnung der gegen Ende des 3. Jahrtausends einwandernden achäischen Stämme hat, erfaßte die mykenische Palastwirtschaft nicht sämtliche unmittelbare Produzenten. Vor allem in der Landwirtschaft, der Basis der Produktion, erhielten sich dörfliche Siedlungen, deren Leistungen an den Palast eher aus einem von diesem organisierten binnenländischen Produktenaustausch als aus einer Abgabeleistung resultieren. Diese Besonderheit in den mykenischen Eigentumsverhältnissen läßt sich nun aus einer bestimmten Gruppe der Tontafeln aus dem Palast von Pylos erschließen2 (analoge Aufzeichnungen aus den Archiven von Knossos sind bis jetzt noch nicht zutage gekommen). Wir glauben, einige der mit der Ventrisschen Entzifferung gewonnenen Lesungen hier verwenden zu dürfen, da zum großen 1 2
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Ebenda, 163f. L.R.Palmer, Theinterpretationof MycenaeanGreek texts. Oxford 1963,183undl86-224 (behandelt ausführlich den gesamten Fragenkomplex).
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Teil hier einmal bereits Ideogramme sowie der übrige in schriftliche Befund ganz offenkundige Differenzierungen deutlich werden lassen und zum anderen bei Homer geschilderte Verhältnisse gewisse Bückschlüsse ermöglichen. Die E-Tafeln aus Pylos befassen sich mit ziemlicher Sicherheit in irgendeiner Form mit Landbesitz, wie aus dem dabeistehenden Hauptideogramm geschlossen werden kann. Dieses Ideogramm bedeutet als größte Mengen- bzw. Gewichtseinheit von Weizen zusammen mit nachfolgenden kleineren Maßangaben ganz offensichtlich die jeweilige Saatkorneinheit für ein Land von bestimmten Ausmaßen.1 Dieses Land wiederum scheint unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen unterworfen gewesen zu sein, wie die immer wiederkehrenden Zeichengruppen innerhalb dieser Texte beweisen:
gegenüber Die erste Zeichenfolge wird mit Ventris als ke-ke-me-na-Land gedeutet, das das Gemeindeland dörflicher Siedlungen bezeichnet, während die zweite Folge als ki-ti-me-na-Land privates Land kennzeichnet. Letzteres besaßen Grundeigentümer, die ihr Landeigentum Untereigentümern übergaben, die Abgaben leisteten. Das ki-ti-me-na-Land hat seinen Ursprung vermutlich in der Erschließung neuen Ackerlandes, die von den Palästen aus geleitet wurde. Der Klassenstruktur, die in Mykene aus Obereigentümern, Untereigentümern und Eigentümern am Gemeindeland bestand, entspricht die politische Organisation. Der mykenische Staat war eine Monarchie vom Typ des altorientalischen Despotismus, die durch den Palastherrn, den wanax, repräsentiert wurde. Dieser und der lawagetas verfügten über ein temenos, ein Landeigentum, dessen Ertrag ihnen zur persönlichen Verfügung stand. Ähnliche Verhältnisse finden wir in der Ilias, wo vom temenos verschiedener Helden die Rede ist 2 , und dann auch noch in der Odyssee bei der Nausikaa-Geschichte.3 Da der Titel wanax auch den Göttern zukam und in der späteren Zeit der griechischen Geschichte ein temenos das den Göttern geweihte Landstück darstellte, können wir auch bei dem mykenischen König priesterliche Funktionen vermuten. In dem wanax ist ein Obereigentümer des Palastes bzw. der Burgen und der dort tätigen Produzenten zu sehen. Die Funktion des lawagetas bleibt E. L. Bennett jr., American Journal of Archaeology 60 (1956), 113—117 (hat versucht, die jeweiligen Größenordnungen zu bestimmen). 2 II. 6, 190-195 Bellerophontes; 9, 578ff. Meleager; 12, 313 Sarpedon; 20, 184f. Äneas; 20, 389ff.Otrynteus; und in der Schildbeschreibung 18, 550 der generelle Ausdruck XC/XEVOQ 1
ßaaiXr)iov.
3
Od. 6, 291 ff. ist die Rede vom temenos des Alkinoos, das unmittelbar an einem Heiligtum der Athene liegt; vgl. Od. 11, 185, wo von den temenea des Odysseus die Bede ist.
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ungeklärt. E r könnte der Vertreter des Priesterkönigs und zugleich der Vertreter des laos (des Adels) sein, doch erscheint eine Art Gewaltenteilung in dieser frühen Zeit unsicher. Unter den in den Archiven erwähnten telestai.könnte man die Eigentümer des ki-ti-me-na-Landes verstehen, die in den Burgen den Hofadel stellten. Daneben gibt es noch verschiedene Titel, von denen der des ko-re-te und der basileus eine Art lokalen Herrschers darstellen, die ihre Funktion in den ländlichen Siedlungen ausüben. Es scheint, als ob der ko-re-te als Vertreter der telestai für die Abgaben aus dem ki-ti-me-na-Land verantwortlich war. Der basileus ist zweifellos der Stammes- oder Dorfälteste des ke-ke-me-naLandes. Hier hat sich auch der Ältestenrat erhalten, was auf ein Weiterleben der militärischen Demokratie in der Organisation des von der Palastwirtschaft nicht vollständig integrierten mykenischen damos (Volksmassen) hinweisen könnte. Die Existenz eines landwirtschaftlichen Produzenten, der innerhalb seiner dörflichen Siedlung ein freier Ackerbauer blieb, stellt die hauptsächlichste Triebkraft dar, die über die mykenische Zeit hinaus für die sozialökonomische Entwicklung der griechischen Geschichte . bestimmend wurde. Das landwirtschaftliche Mehrprodukt, das teils in der Form von Abgaben, teils durch einen von den Burgen aus organisierten binnenländischen Produktenaustausch abgeschöpft wurde, diente der Hofhaltung des wanax. zur Ernährung des Hofadels, der Bediensteten, der in den Burgen konzentrierten Handwerker, zur Vorratswirtschaft und zum Handel mit auswärtigen Gebieten. In dem Archiv von Pylos erscheinen Rechnungen, in denen Gruppen von je 7 bzw. je 9 Ortschaften mit der Anzahl der zu liefernden Produkte und der Höhe der tatsächlich erfolgten Lieferung verzeichnet sind. Diese Einteilung spiegelt auch die Homerische Dichtung wider. Nestor, der Burgherr von Pylos, soll 90 Schiffe nach Troja geführt haben, 10 aus jedem Gebiet (II. 2, 561—602). Telemachos traf bei seiner Ankunft in Pylos auf 9 Gruppen zu 500 Männern, die Poseidon ein Stieropfer brachten (Od. 3, 5—12). Wenn es auch verlockend wäre, diese 9 Ortschaften dem ke-ke-me-na-Land und die 7 den ki-ti-me-na-Land zuzuordnen, so sind doch die überlieferten Materialien zu spärlich und in ihrer Deutung (vgl. S. 122) noch -aa -unsicher, um eine derartige Aussage zu stützen. 1 1
Dazu vgl. die grundlegende Materialsammlung C. Gallavotti, A. SacconJ, Inßcriptiones Pyliae ad Mycenaeam aetatem pertinentes. Rom 1961; L. R. Palmer, The Interpretation of Mycenaean Greek texts. Oxford 1963, und ders., Mycenaeans and Minoans. 2. Aufl. London 1965 (zur Topographie des Gebietes von Pylos, in dem P. den Palast des Nestor vermutet; Forschungsbericht über die Entzifferung der Linear-B-Tafeln; S. 89f.; 105 zu der Gruppe der 7 und der 9 Siedlungen in Pylos anhand der sog. E-Tafeln; P. sieht S. 96—103 richtig die Existenz des persönlich freien Demos zum Unterschied von den orientalischen Staaten, nimmt aber in einem unrichtigen historischen Vergleich an. daß die mykenische Gesellschaft „baronial" — feudal — organisiert war); J . Chadwick, Linear-B. 2. Aufl. Cambridge 1967 (S. 15 zum basileus, ko-re-te und zum Ältestenrat; S. 114 zum ke-ke-me-na- und zum ki-ti-me-na-Land; S. 114f. zur Arbeitsteilung, zu den Berufsgruppen und den nachweisbaren Sklaven; S. 112—114: Knossos und Pylos waren Monar-
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Die Vielfalt entsprechender Ideogramme auf den Tontafeln läßt eine differenzierte Arbeitsteilung in die verschiedensten Berufe erkennen. Die Handwerker bekamen aber nur zum Teil ihre Verpflegung direkt vom Palast. Sie besaßen offenbar Land, dessen Ertrag ihnen zustand, jedoch läßt sich nicht erkennen, wer in diesem Fall das Land bearbeitete. Die mykenischen Paläste verfügten wahrscheinlich auch über Sklaven, doch war die Sklaverei keineswegs ein bestimmendes Element innerhalb der Produktion. Im Archiv von Pylos sind zahlreiche Frauen verzeichnet, die zu mehreren Dienstleistungen wie zum Spinnen von Wolle, Kornmahlen und Wassertragen herangezogen wurden. Nach Ventrisscher Lesung wären ihre Herkunftsgebiete Gegenden, in denen mykenischer Warenhandel nachweisbar ist, so daß diese Sklavinnen geraubt oder auch als Ware gehandelt sein können. Die mykenischen Burgen führten landwirtschaftliche Produkte und Erzeugnisse des Handwerks aus. Diese Waren können aber keineswegs den beträchtlichen Import nicht nur an metallischen Rohstoffen, sondern auch an Luxusartikeln wie Elfenbein, Gewürzen und Bernstein gedeckt haben. Den mykenischen Burgen müssen daher für uns nicht erkennbare Reichtumsquellen zur Verfügung gestanden haben, die vermutlich wie bei Kreta aus hohen Gewinnen aus dem Zwischenhandel, vor allem aber aus Piraterie und Raub stammten. Mykenische Schiffe sind auch nach dem Westen vorgedrungen, und zwar weiter, als es von den Kretern bekannt ist. Eine Einfuhr mykenischer Waren ist auf Sizilien und in Süditalien, ja bis Ischia und zu den Liparischen Inseln erwiesen. Diese Route weist darauf hin, daß die Mykener im damals beginnenden chien ; zu wanax, lawagetas und telestai) ; T. B. L. Webster, Von Mykene bis Homer. München 1960,372 f. (vergleicht den Palast von Pylos mit eirtem orientalischen Herrschersitz, nimmt eine Art von Tempelsklaverei in Verbindung mit dem mykenischen wanax an, in dem er einen Priesterkönig vermutet) ; M. P. Nilsson, The Mycènaean origin. Berkeley 1932, 241 (temenos als persönliches Eigentum des wanax); J . Wackernagel, Sprachliche Untersuchungen zu Homer. Göttingen 1916, 209f. (zum Titel des wanax, der im Gegensatz zu dem des basileus nach der Wanderungsbewegung um die Jahrtausendwende als politisches Amt nicht mehr nachweisbar ist); Demargne, Die Geburt, 267 (zu wanax, basileus und Demos, stimmt freien „bürgerlichen" Grundeigentümern zu) ; R. Hampe, Die Homerische Welt. Gymnasium 63 (1966), 42—44 (zu den basileis, die nach H. „lokale Häuptlinge" waren) ; J . Tegyey, Die Organisation des pylischen Staates. Acta antiqua 15 (1967), 257f. (möglicherweise wurden die pylischen „Provinzen" von Beauftragten des wanax verwaltet); Thomson, Forschungen zur altgriechischen Gesellschaft 1, 305 (weist auf Relikte der Stammesorganisation in Pylos hin) ; M. Lejeune, Textes mycéniens relatifs aux esclaves. Historia 8 (1959), 129—144 (mit aus der Interpretation der Linear-BTafeln entnommenen Listen über Sklaven in Privateigentum, Sklaven der Paläste sowie Sklaven von nicht näher zu bestimmenden Gruppen) ; W. Beringer, Zu den Begriffen für „Sklaven" und „Unfreie" bei Homer, Historia 10(1961), 259f. (in der Zeit'zwischen 1200 und 700 v. u. Z. gab es noch keine entwickelte Sklaverei; S. 283: dmoai sind keine Konkubinen, sondern Abhängige und abgaben-und arbeitspflichtige Frauen; S. 290: auf dem griechischen Festland scheint das Produktionsverhältnis zwischen Herrenfamilien und der Masse von abhängigen „Dienern" zu überwiegen).
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westlichen Zinnhandel, dessen Ursprungsländer Spanien und die Britannischen Inseln waren, als Zwischenhändler auftraten. Auf den Inseln der Ägäis gab es mykenische Handelsfaktoreien auf Melos, Delos, Paros, Naxos, Thera, Rhodos, Kos, Samos, Kypros — in Kleinasien in Milet, Kolophon, spärlicher belegt in Ephesos und Phokaia. Diese Ausdehnung des mykenischen Warenhandels, der sich bis nach Ägypten und Syrien (Ugarit) und in Kleinasien von Milet aus in die Troas und nach Kilikien erstreckte, bildet den historischen Hintergrund des Trojanischen Krieges. Allerdings darf man die Homerische Ilias nicht als einen authentischen Bericht darüber betrachten, sondern eher als den Versuch der Mykener, sich der Skamandrosebene und des wichtigen Umschlaghafens Trojas am Ende der Kupferstraße zu bemächtigen. Außerdem scheinen die Mykener zu einer Kolonisation in den Gebieten übergegangen zu sein, in denen sie bereits Handelsstützpunkte besaßen, und dadurch in kriegerische Auseinandersetzungen mit der in Kleinasien ansässigen Bevölkerung geraten zu sein.1 1
Palmer, Mycenaeans and Minoans, 108, 120—130 (Landwirtschaft ist der wichtigste Produktionszweig, Maße und Gewichte lassen aber auf einen ausgedehnten Handelsverkehr mit entfernten Gebieten schließen); Chadwick, Linear B 2 , 221 f. (zu den sog. Saatkorneinheiten als Maß oder Gewicht unbekannter Größe); A. Akerström, Das mykenische Töpferviertel. In: Bericht über den 6. internationalen Kongreß für Archäologie, Berlin 1939, 296f. (zum keramischen Handwerk); L. B. Brea, Sicilia. 2. Aufl. Milano 1960, 151 (zu den mykenischen Funden auf Sizilien und in Unteritalien aus der Zeit von 1300 bis 1230); Demargne, Die Geburt, 174f., 218, 243—250 (mykenische Funde auf den Inseln der Ägäis, in Kleinasien, im Westen bis zu den Liparischen Inseln); K. Bittel, Zur ältesten Besiedlungsgeschichte. Istanbuler Forschungen 17 (1950), 14, 21—25 (rechnet mit einem Widerstand der ansässigen Bevölkerung in der Troas gegen die Siedlungs- und Kolonisationsversuche der Mykener); Excavations at Phylakopi in Melos. London 1904, 177f., 185 (Töpfermarken mit linearen Schriftzeichen erweisen Handelsverbindungen, wenn nicht sogar die Anwesenheit der Mykener auf Melos); Weickert, Neue deutsche Ausgrabungen in Milet. In: Neue deutsche Ausgrabungen, Berlin 1959, 192—194 (Kolonisation der Mykener in Milet); M. P. Nilsson, Homer and Mycenae. London 1933, 248f. (bei Homer ist Agamemnon der König von Mykene; Homer beschreibt Mykene in der Blütezeit, daher kann das Homerische Troja nicht Troja VII sein, sondern nur Troja VI); A. Furumark, Nestor's cup. Eranos 44 (1946), l f . (Schliemann identifizierte den Goldbecher aus Mykene mit dem Nestorbecher in der Beschreibung Homers, doch diese Becherform ist ein weitverbreiteter Typ der mykenischen Keramik); T. B. L. Webster, Von Mykene bis Homer, 371—381 (die Homerische Dichtung beschreibt Ereignisse aus mykenischer Zeit, doch die Orte und Burgpaläste existierten nicht mehr, als die Epen niedergeschrieben wurden; die Handlung ist mit Beilexen aus der Zeit der Wanderungsbewegung um die Jahrtausendwende vermengt); V. Burr, Neon katalogos. Leipzig 1944 (der Achäerkatalog in der Ilias entstammt der Blütezeit der mykenischen Burgen und ist mit späteren Zusätzen versehen); zum Problem eines Achäerreiches in Kleinasien, das noch immer nicht endgültig gelöst ist, vgl. mit den Verweisen auf die ältere Literatur P. Kretschmer, Achäer in Kleinasien. Glotta 33 (1954), lff. (hält die Gleichung Ahhijava = Achäer nach den hethitischen Lautgesetzen für erwiesen); weiter G. Steiner, Saeculum XV/4 (1964), 365-392 (gibt den damaligen Stand der Forschung über die Ahhijava-Fragej
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Die Ursachen einer derartigen ökonomischen und kriegerischen Expansion liegen in der Entwicklung auf dem griechischen Festland begründet. Die mykenische Kultur hatte ihren Mittelpunkt in der Argolis und erstreckte sich auf die Umgebung von Korinth, auf Achaia, Elis, Arkadien, Messenien und Lakonien und darüber hinaus auf Attika, Böotien, Euböa, Phokis, Ätolien, Akarnanien und Thessalien. Von den 390 Siedlungsplätzen, die bisher als mykenisch gesichert sind, stammen diejenigen aus Arkadien, Achaia und Elis erst aus dem Ende der Schachtgräberzeit, in der sich die Staatsbildung auf dem griechischen Festland vollzog. Die einzelnen Landschaften werden von Burganlagefi, dem Sitz der jeweiligen Territorialgewalt, beherrscht. Die wichtigsten Palast- und Burganlagen, deren historische Tradition die griechischen Sagenkreise widerspiegeln, waren Mykene, Tiryns und Medeia in der Argolis, Vaphio in Lakonien, Pylos in Messenien, Iolkos (Orchomenos) in Thessalien, Gla am Kopaissee und die Kadmea von Theben in Böotien sowie die älteste Burganlage der Akropolis von Athen in Attika. Die befestigten Burganlagen sind nur zu erklären, wenn man Kriege zwischen den einzelnen Territorialgewalten annimmt. Da auf dem griechischen Festland mit wenigen Ausnahmen, wie z. B. bei der Entsumpfung des Kopaissees und der künstlichen Bewässerung des Eurotastales, die Voraussetzung einer kooperativen Arbeit mit zentraler staatlicher Leitung fehlte, kam es nicht zur Entstehung von größeren Territorialstaaten wie etwa im Orient, sondern zur Herausbildung kleinerer staatlicher Territorien, die durch die einzelnen Burganlagen gekennzeichnet sind. Eine gemeinsame Aktion der Burgherren, wie sie die Ilias widerspiegelt, ist bei einem Raub- und Eroberungskrieg in entferntere Gebiete durchaus anzunehmen. Die Anlage der mykenischen Burgpaläste ist vor allem in Mykene und in dem in seiner Nähe gelegenen Tiryns erhalten. Beide Burganlagen stammen in dem bis heute sichtbaren Zustand aus der Zeit um 1350, der Blütezeit des mykenischen Staates. Die ausgedehnten Befestigungsanlagen wurden nach 1250 verstärkt und teilweise erneuert. In Mykene umfassen mächtige Festungsmauern mit Laufgängen und Kasematten ein Areal von 300 x 200 m, das die Palastanlage und den Schachtgräberbezirk einschließt. Der Eingang zur Burg ist das berühmte Löwentor, das nach den Merkmalen der Architektur gleichzeitig mit dem sogenannten Kuppelgrab des Königs Atreus entstanden ist. Im Mittelpunkt der Palastanlage steht das dreiteilige Megaron, das aus einer Vorhalle mit 2 Säulen, einem Vorraum und dem Hauptsaal besteht, in dem sich der heilige Herd befindet. Tiryns ist ähnlich angelegt. Während aber in Mykene die Wohnbezirke der Bediensteten und der Handwerker außerhalb der Burg blieben, besitzt Tiryns eine Ober-, Unter- und Fluchtburg, die Schutz vor feindlichen Überfällen bot. Die Burganlagen sind reich mit Stuckfassaden, Stuckfußböden und Wandfresken ausgestattet, deren Motive kretische Vorlagen nachahmen. sowie mit reicher Literatur M. C. Astour, Hellenosemitica. Leiden 1965, 16f., 62ff., 351 und 356.
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Während die Palastwirtschaft auf Kreta innere Auflösungserscheinungen zeigte, die sich in der Akkumulation des Mehrprodukts in den Palästen und infolgedessen in einer Verarmung der von den Palästen abhängigen Bevölkerung äußerten, kann eine derartige Feststellung für die mykenischen Burgen und deren Wirtschaftsorganisation nicht getroffen werden. Wenn auch die Organisation des Warenhandels und der Warenproduktion in den mykenischen Burgen ebenfalls in der Hand der Hofaristokratie gelegen zu haben scheint, so führte hier die Möglichkeit zur Bereicherung und zur Schaffung eines privaten Eigentums nicht zur Auflösung der zentral gelenkten Palastwirtschaft, da die Möglichkeit der Kolonisation in Gebiete bestanden zu haben scheint, die außerhalb des ökonomischen und politischen Einflusses der jeweiligen Burgherren lagen. Der besondere Widerspruch innerhalb der mykenischen Gesellschaft lag eher in der Existenz der von dem Dorfältesten (basileus) und dem Ältestenrat gelenkten dörflichen Siedlungen neben der Staatsorganisation vom Typ der altorientalischen Gesellschaft, die diese Siedlungen nicht in die Palastwirtschaft integrieren konnte. Die Teilnahme der basileis an den von den Burgen aus organisierten Expansionen diente der Bereicherung der örtlichen Herrschaften, so daß sich hier eine Dezentralisation durch die Entstehung kleinerer Herrschaften abzeichnete, deren Wurzeln aber andersgeartet als in Kreta sind. 1 Das Aufgebot der gesamten waffenfähigen Mannschaft eines Territoriums und eine gemeinsame Aktion mehrerer Burgen, wie wir es ab 1250 beobachten, waren eine zwingende Notwendigkeit zur Verteidigung gegen die einbrechenden Stämme der großen Wanderungsbewegung. In der Endphase des mykenischen Staates erkennen wir eine zunächst nur auf dem Gebiet der Kriegstechnik faßbare Neuerung, die für den weiteren Verlauf der griechischen Geschichte bestimmend werden sollte, nämlich die allmähliche Zurückdrängung des Streitwagenkämpfers zugunsten der schwerbewaffneten Fußtruppen. Die sogenannte Kriegervase sowie eine Grabstele, die auf der Burg von Mykene gefunden wurden, zeigen Reihen marschierender i Demargne, Die Geburt, 203 f., 205, 217 (zu der Burg von Mykene, zu Tiryns, zu Attika und Böotien); M. P. Nilsson, The Mycenaean origin of Greek mythology. Berkeley 1932 (zu den Schauplätzen der griechischen Sagenkreise und den durch die archäologische Forschung erwiesenen mykenischen Siedlungen); P. Alin, Das Ende der mykenischen Fundstätten. Lund 1962 (verzeichnet über 390 mykenische Siedlungen); zu den Burganlagen in der Blütezeit der mykenischen Staaten vgl. A. G. B. Wace, Mycenae. Princeton 1949; G. E. Mylonas, Ancient Mycenae. London 1957 (Überblick über die Bauphasen der Burganlage, Kunsthandwerk, Mythologie, Geschichte); Hampe, Die Homerische Welt, 20 (zu den Kuppelgräbern von Mykene); L. R. Palmer, Military arrangement for the defense of Pylos. In: Actas del Primer Congreso Español de Estudios Clasicos. Madrid 1958 (zu der Kadmea in Theben und den Zerstörungen um 1400); Tiryns 2. 3. Athen 1912 (zusammenfassender Bericht der Grabungen, Siedlungsgeschichte); Pers^on, The Royal tombs. Lund 1931; ders., Neue königliche Gräber in Dendra, 294f. (zu den Kuppelgräbern in Dendra, Grab IV um 1400 datiert und als Grab einer Königin gedeutet).
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Soldaten, zu deren Waffen Wurfspeer, Schwert und Schild gehörten. Fußvolk hat es auch vorher gegeben, doch war es nicht entscheidend bei einer Schlacht, die die adligen Einzelstreiter unter sich ausfochten. Es leuchtet ein, daß bei der geographischen Beschaffenheit des griechischen Festlandes in den alten Formen des Streitwagen- und Einzelkampfes keine Verteidigung organisiert •werden konnte. Inwiefern dieses Hervortreten der Fußtruppen auf eine ökonomische Stärkung der bäuerlichen Produzenten bzw. eine Krise der Palastwirtschaft in Mykene hindeutet, vermögen wir nicht zu sagen, da die Burgen in dieser Zeit zerstört wurden. Die aus dem archäologischen Material erkennbare Entstehung einer Truppengattung, in der wir wohl die Vorläufer der späteren Hoplitenphalanx sehen dürfen, wurde durch epigraphische Zeugnisse aus Pylos bestätigt (nach Ventrisscher Lesung): Pylos erwartete einen Angriff vom Korinthischen Golf her, beorderte zur Verteidigung Ruderschifife, aus dem ke-ke-me-na-Land Fußtruppen und aus dem ki-ti-me-na-Land Streitwagenkämpfer, die die Küstenwache und den Verbindungsdienst übernehmen. Ein erster, um 1250 erfolgter Angriff vermutlich illyrischer Stämme wurde von den mykenischen Burgen abgewehrt, doch die Verwüstungen bereiteten ihren Untergang wirksam vor. Die Burg von Mykene erlag um 1100 den von Norden her einfallenden Stämmen der Nordwestgriechen und der Dorer. Mit der Zerstörung der mykenischen Burgen wurde in dem griechischen Siedlungsgebiet auch die Staatsform des altorientalischen Despotismus vernichtet.1 Danach entstanden in der Zeit der großen Wanderungsbewegungen allmählich die Voraussetzungen, auf denen die antiken Produktionsverhältnisse und die Polis beruhten, in die aber, wie wir ausführten, bestimmte, von den mykenischen Staaten ausgebildete Elemente einflössen. 1
Matz, Kreta und frühes Griechenland3, 220—226 (zum Aufkommen der schwerbewaffneten Fußtruppen im 12. J h . ; die ersten Zerstörungen zwischen 1240 und 1230 sind eine Folge der Südwanderung der illyrischen Stämme); Chadwick, Linear B 2 , 104—106 (zur Verteidigung von Pylos); Palmer, Military arrangements, 50f., 143f., 154 (Verteidigung und Fall von Pylos); P. Alin, Das Ende der mykenischen Fundstätten, Lund 1962, bes. 148—150 (verzeichnet alle bisher bekannten Siedlungen mit den datierbaren Zerstörungshorizonten zwischen 1230 und 1125); S. Hood, The Home of the heroes, 123-130 (behandelt die verschiedenen Theorien über die Wanderungsbewegungen seit dem 13. Jh.).
Die Entstehung des Staates der Lakedaimonier von GABRIELE BOCKISCH (Berlin)
Zu einem ungewissen, jedoch im Vergleich zu den übrigen hellenischen Staaten frühen Zeitpunkt soll der Gesetzgeber Lykurg aus Delphi die Rhetra geholt und mit diesem Gesetzesspruch den Staat Sparta oder, wie er sich in den Urkunden nennt, den Staat der Lakedaimonier gegründet haben.1 Die Quellen über Lykurg sind reichhaltig, berichten aber so viel Widersprüchliches, daß Plutarch die Vita dieses Mannes mit folgenden Worten beginnen läßt: „Von dem Gesetzgeber Lykurg läßt sich überhaupt gar nichts mit Bestimmtheit sagen, da die Historiker bezüglich seiner Herkunft, seiner Reisen und besonders der von ihm eingeführten Gesetze wie der Verfassung sehr voneinander abweichen; am wenigsten ist man über die Zeit, in der dieser Mann gelebt hat, einer Meinung. Einige behaupten, er habe zur gleichen Zeit mit Iphitos gelebt und mit diesem den Waffenstillstand während der Olympiaden angeordnet. Unter diesen, befindet sich auch der Philosoph Aristoteles, der sich auf einen in Olympia aufbewahrten und mit Lykurgos' Namen bezeichneten Diskus beruft. Andere jedoch, die die Zeit nach der Genealogie der spartanischen Könige berechnen, wie Eratosthenes und Apollodoros, machen ihn um viele Jahre älter als die erste Olympiade. Timaios vermutet sogar, es hätten zwei Männer namens Lykurgos zu verschiedenen Zeiten gelebt, der ältere nicht lange nach Homer". 2 Soweit Plutarch, dessen legendenhafte Lebensbeschreibung des Gesetzgebers eine der Quellen zur Entstehung des Staates der Lakedaimonier darstellt. Die Überlieferung zu Lykurg setzt erst im 5. Jahrhundert mit Herodot 3 1
Vgl. G. Bockisch, Harmostai. Klio 46 (1965), 131 Anm. 3; die Form Lakedaimonioi ist erstmalig in dem Vertrag zwischen Lakedaimon und Tegea überliefert (H. Bengtson, Die Staatsverträge des Altertums 2. München 1962, 11 Nr. 112); nach weiteren, von Lakedaimon mit den peloponnesischen Staaten geschlossenen Bündnissen ist der offizielle Name oi Aa>cedaifi6viot xat oi ovfipaxoi (vgl. U. Kahrstedt, Griechisches Staatsrecht 1.
Göttingen 1922, 81). 2 Plut. Lyk. 1. 3
Herodot. 1, 65f.; zur Lykurgtradition ausführlich K . J. Naumann. Die Entstehung des spartiatischen Staates in der lykurgischen Verfassung. Historische Zeitschrift 96 ( N F 60) (1906), 12f.
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und Thukydides 1 ein; die Verfassungsurkunde, deren Wortlaut Plutarch bewahrt hat, geht auf Aristoteles zurück. 2 Zwar bot auch Ephoros 3 ein delphisches Orakel über die Verfassung Spartas, aber dieses Orakel ist nicht anders zu beurteilen als die Propagandaschriften über den Staat der Lakedaimonier, die dem Sokratesschüler Kritias, dem Historiker Xenophon und sogar dem 395 verbannten Spartanerkönig Pausanias zugeschrieben werden.4 Diese Publizistik und die philosophischen Erörterungen um die beste Verfassung sind Widerspiegelungen der Krise der hellenischen Poleis, in deren Folge Lakedaimon die anfänglich im Peloponnesischen Krieg errungene Hegemonie verlor. 5 In den literarischen Quellen des 4. Jahrhunderts, die über den Staat der Lakedaimonier berichten, lassen sich zwei Tendenzen erkennen: einmal die Kritik an Lakedaimon, die das rücksichtslose Verhalten gegenüber den hellenischen Staaten aus der historischen Entwicklung zu erklären versucht — hierzu gehören u. a. Aristoteles und Isokrates in seinen frühen Reden1' —, zum anderen der Kreis der attischen Lakonerfreunde um Piaton, für die Lakedaimon der in frühester Zeit entstandene Musterstaat war. 7 Die am Beispiel Lakedaimons und wegen der ähnlichen sozial-ökonomischen Verhältnisse Kretas diskutierte Idealverfassung führte über die Philosophenschule der Kyniker zu Sphairos von Borysthenes und den vergeblichen sozialen Reformen der Lakedaimonierkönige Agis und Kleomenes, die ein Interesse daran hatten, Landaufteilung und Schuldenstreichung damit zu begründen, daß es sich um eine Rückkehr zur lykurgischen Verfassung handele. Diese Reform' Thuk. 1, 6. 18. Dazu grundlegend P. Cloché, Aristote et les institutions de Sparte. Les Etudes Classiques 11 (1942), 289-313. 3 Ephoros bei Strab. 8, 5, 4c 365f und Diod. 7, 12, 6; von Plut. Lyk. 6 dem Tyrtaios zugeschrieben. Ephoros bei Strab. 8, 5, 5c 366; vgl. noch G. Bockisch, a. a. 0 . , 207. 5 G. Bockisch, Die sozialökonomische und politische Krise Spartas im 4. Jahrhundert. In: Hellenische Poleis. Hrsg. v. E. Ch. Welskopf (im Druck). 6 Den Wechsel von einer Kritik an Sparta zu einer Haltung, die den untergehenden Staat positiv beurteilt, erkennt man deutlich im Vergleich von Isokr. Paneg. (um 370), Archidam. (um 365) und Panath. (um 340); dazu K. J . Neumann, a. a. 0 . , 8 f. ; V. Ehrenberg, Spartiaten und Lakedaimonier. Hermes 59 (1924), 24: „Das meiste verdanken die späteren Quellen einer immer reicher wuchernden Legèndenbildung, die nicht zuletzt von jenen Lehren genährt wurde, denen die spartanische Verfassung zur absoluten oder relativen Norm geworden war." ' Vgl. z. B. Plat. Nom. 3, 5f. = 683 D - 6 8 4 E ; 3, 11 = 6 9 1 D - 6 9 2 A; 9 , 2 = 855 A; Fr. Ollier, Le mirage Spartiate. Paris 1943, 55f. zu Piaton und Aristoteles; E . Schwartz. Die messenische Geschichte bei Pausanias. Philologus 92 (NF 46) (1937), 19—46 zu Paus. 4. 1—29, 5 ; F. Kiechle, Messenische Studien. Diss. Erlangen 1957, lf. mit dem Hinweis darauf, daß die Bewunderung für Spartas Eunomia erst nach der Gründung eines messenischen Staates durch Theben nach der Schlacht bei Leuktra im Zusammenhang mit den philosophischen humanitären Ansichten des 4. Jahrhunderts zu einer teils kritischen, teils uneingeschränkt positiven Haltung gegenüber Sparta führte.
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bewegung des 3. Jahrhunderts v. u. Z. hat ebenfalls das uns überlieferte Lykurgbild geprägt. 1 Die kurze Darlegung des Quellenstandes zeigt somit, daß sich die Widersprüche nicht nur aus der Anwendung verschiedener chronologischer Systeme, sondern vor allem aus der am Ende des 5. Jahrhunderts v. u. Z. beginnenden Diskussion um die Stabilität einer demokratischen oder oligarchischen Verfassung ergeben.2 Die Frage, die wir an die Überlieferung zu stellen haben, lautet, wie sich der Staat der Lakedaimonier entwickelt hat und ob wir überhaupt von der Zeit der Einwanderung der dorischen Stämme bis zum zweiten messenischen Krieg — in einem Zeitraum von fast 500 Jahren — Indizien finden, die die Niederlegung einer Verfassüngsurkunde, die später mit dem Gesetzgeber Lykurg in Verbindung gebracht wurde, in Sparta rechtfertigen. Das erste, durch die bei den Ausgrabungen als unterste Schicht zutage getretene protogeometrische und geometrische Keramik gesicherte Datum ist die um 950 erfolgte Festsetzung eines Teiles der dorischen Stämme in Sparta auf einem engen Raum zwischen dem Eurotas und dem heutigen Magulabach.3 Es ist anzunehmen, daß die Dorer als Eroberer die vordorische Bevölkerung in dem Gebiet Lakoniens unterwarfen und zu Abgabeleistungen zwangen. 4 Für die weitere Entwicklung war die Tatsache entscheidend, daß sich in den Stürmen der Wanderungsbewegung ein submykenischer Nachfolgestaat in der Eurotasebene gefestigt hatte. 5 Als die Dorer in dieses Gebiet vorstießen, waren sie nicht in der Lage, den Widerstand zu überwinden, den ihnen die Hügelburg von Amyklai entgegensetzte. Die Dorer, die sich in dem nur wenige Kilometer von Amyklai entfernten Sparta niedergelassen hatten, befanden sich in einem bis um 800 dauernden Kriegs- und Belagerungszustand, in dem sie gentile Einrichtungen der Wanderungszeit bewahrten. Von diesen sind vor allem das Heerkönigtum, der Kriegeradel, aus dem sich der Ältestenrat der Stämme bildete, und die Volksversammlung der wehrfähigen Krieger zu nennen. Je länger Amyklai bestand, desto stärker erhielten sich die primitiven Organisationsformen einer militärischen Demokratie, und nur so ist es zu erklären, daß sich diese Elemente bei der Staatsbildung bereits derart gefestigt hatten, daß sie als typische Merkmale der Verfassung des späteren lakedaimonischen Staates erhalten blieben.6 1
2 K. Neumann, a. a. O., 5. Ebenda, 4. R. M. Dawkins, The history of the sanctuary. In: The sanctuary of Artemis Orthia at Sparta. London 1929, 17f., 49f. 4 V. Ehrenberg, Der griechische und hellenistische Staat. Leipzig 1932 (Einleitung in die Altertumswissenschaft 3,3), 15. Der Meinung, daß die Heiloten „ausschließliches Eigentum des Staates" seien, ist zu widersprechen; die Heiloten waren wie der Kleros Eigentum des Spartiaten und besaßen auf dem Landstück ein von dem privaten Eigentumsrecht des 5 Spartiaten abgeleitetes Besitzrecht. Ältestes Zeugnis bei Pind. 1, 65; 7, 14. « Isokr. 6, 81; Plat. Nom. 2, 666 E; Plut. Lyk. 24 vergleichen Sparta mit einem axqatinedov, einem Heerlager; zu den gentilizischen Elementen vgl. Ehrenberg, Der griechische und der hellenistische Staat, 5 f.
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Die erste Phase der Staatsbildung, d. h. die Formierung der Klassenstruktur auf der Grundlage des Bodeneigentums, beginnt mit der Eroberung Amyklais um 800. Den Dorern von Sparta gehörte von dieser Zeit .an das Gebiet des Eurotastales bis zum Vorland des Parnongebirges und ein Teil Südmesseniens, also das Gebiet, das später als Kernland des lakedaimonischen Staates Lakonien genannt wurde. Ein Teil der achäischen Bevölkerung Amyklais wanderte aus; denn auf sie ist der spätere Anspruch Spartas zurückzuführen, Kolonien auf Melos, Kreta, Thera und Kypros gegründet zu haben. Ein Teil der Amyklaier wurde in den dorischen Stammesverband aufgenommen; Amyklai erscheint mit seinem Kult des Hyakinthos als kome Spartas, das von dieser Zeit an aus fünf komai besteht.1 Eine offene Siedlung Sparta setzt nun folgende Bedingungen voraus: 1. eine befriedete oder, besser gesagt, völlig unterworfene Umgebung, ohne die ein nicht ummauertes Sparta undenkbar ist, 2. die Aufgabe der Phylenorganisation zugunsten einer regionalen Organisation und 3. eine Landaufteilung und damit im Zusammenhang die Herausbildung der Heilotie. Letztere, die Heilotie in Lakonien, deren Ursachen einerseits in der bereits erfolgten Unterwerfung der vordoriechen Bevölkerung durch die Dorer, andererseits — als mögliche Hypothese — in den Formen der landwirtschaftlichen Organisation Amyklais lagen,2 muß wohl in der Zeit um 800 entstanden sein, da am Ende des 8. Jahrhunderts nach dem ersten messenischen Krieg die Heilotie als Institution voll ausgebildet ist. Da die Heilotie als ein Abhängigkeitsverhältnis der bäuerlichen Produzenten als Besitzer des Hauptproduktionsmittels Boden gegenüber den Grundeigentümern bis in die hellenistische Zeit erhalten blieb, soll sie kurz charakterisiert werden: Der Heilot ist ein Höriger und nicht der Eigentümer seines Ackerlandes. Er besitzt nur ein erbliches Nutzungsrecht, ein Untereigentum; das Obereigentum steht dem Grundherrn zu, an den der Hörige einen Teil seines Ertrages abgibt. Von dieser Abgabe lebt der Grundherr mit seiner Familie, der seinerseits wieder eine bestimmte Naturalleistung an den Staat zu liefern hat. Der Grundherr braucht nicht selber Landwirt zu sein und kann unter der Voraussetzung, daß eine straffe Organisation zur Überwachung der Heiloten besteht, in einer Stadt leben, so daß ein städtischer Adel der Grundeigentümer möglich wird.3 Im Zusammenhang mit der Entstehung der Heilotie wird eine erste, später dem Lykurg zugeschriebene Landaufteilung stehen, die jedoch keine fiktive Gleichheit der Spartiaten schuf, 1
Xen. hell. 4, 5,14; Paus. 3, 2,1 ff.; 3, 16, 9; Strab. 8, 364; weitere, besonders inschriftliche Quellen bei Ehrenberg, Spartiaten und Lakedaimonier, 26—29.
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S. o. S. 115f. zu den Eigentumsverhältnissen der mykenischen Palastwirtschaft.
3 K . J. Neumann, a. a. O., 27, 35f., 46f.
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sondern dem Kriegeradel, der die Eroberung Amyklais maßgeblich geleitet hatte, die besten und fruchtbarsten Landlose zuwies.1 Der lakedaimonische Staat der Frühzeit scheint also die gleichen Merkmale aufzuweisen wie die übrigen archaischen Staaten Griechenlands: den Hauptanteil am Ackerboden besaß eine aristokratische Schicht, das Mehrprodukt wurde durch eine abhängige Bevölkerung erarbeitet, außerdem bestand noch eine breite Schicht freier Bauern, deren Stellung durch die Grundeigentümer ökonomisch gefährdet war. Wenn man die Staatsentstehung in Sparta um 800 ansetzt, so erhebt sich gleichzeitig die Frage, ob die dem Lykurg zugeschriebene Verfassungsurkunde, die Rhetra, ebenfalls aus dieser Zeit stammt. Hören wir dazu zunächst die Bestimmung, wie sie Plutarch als ein dem Lykurg von Delphi erteiltes Orakel überliefert hat: 1. Nachdem für Zeus Syllanios und Athena Syllania ein Heiligtum errichtet, Phylen und Oben eingeteilt und eine Gerusia (Ältestenrat) unter Einschluß der Archagetai (Könige) eingerichtet worden ist, soll 2. in bestimmten Abständen die Apella (Volksversammlung) abgehalten werden, die 3. das Recht zur Bestätigung oder Ablehnung hat. Dann folgt noch ein Zusatz, den Plutarch als eine spätere Änderung ansieht: Wenn aber die Versammlung des Damos (des Volkes) irrt, sollen die Geronten und die Archagetai beiseitetreten, d. h. sie auflösen, weil sie nicht zum besten des Staates beraten hat. 2 Eine Möglichkeit zur Datierung bietet die Berufung auf Delphi, die auch die anderen Quellen erwähnen. Nun wissen wir einerseits, daß Sparta mit Delphi von alters her befreundet war, andererseits aber Delphi als Orakelstätte nicht vor 750 bestand. 3 Eine weitere Datierungsmöglichkeit zeigt ein Gedichtfragment des Tyrtaios, das die Rhetra mit folgenden Worten wiedergibt : Sie hörten auf Apollon und brachten von Delphi heim seine verläßlichen Worte. Die von den Göttern geehrten Könige sollen im Rat den Weg zeigen, sie und die Alten, denen das liebliche Sparta am Herzen liegt. Nach ihnen daB Volk, das mit geraden Entscheidungen antworten soll.4 Da Tyrtaios um 650 lebte, so steht uns für die Abfassung der Rhetra der Zeitraum zwischen 750 und 650 zur Verfügung. Entscheidend ist aber die Bestimmung der Rhetra, daß der Volksversammlung das Recht zur Zustimmung 1
Vgl. Aristot. pol. 2, 6; Plat. Nom. 5, 10 = 740 E; neuerdings A. Hönle, Olympia in der Politik der griechischen Staatenwelt. Diss. Tübingen 1968, die das Datum der ersten Olympiade im Jahre 776 und damit auch die Verbindung zwischen Lykurg bzw. Sparta und Iphitos bzw. Elis für gesichert hält. 2 Plut. Lyk. 6. 3 Ausführlich zur Quellenlage K. J. Neumann, a.a.O., 59; W. G. Forrest, Wege zur hellenischen Demokratie. München 1966, 123f., der völlig richtig feststellt, daß die Datierung der Verfassung in das frühe 8. Jahrhundert aufgegeben werden muß. « Plut. Lyk. 6.
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oder Ablehnung bei allen Beratungen zukommt. Außerdem ist der ebenfalls von Plutarch gegebene Hinweis wichtig, daß die neue Verfassung eine Bürgerschaft der Spartiaten von 9000 Homoioi, also gleichberechtigten und mit einem gleichen Eigentum versehenen Politen, anerkannte. Diese Zahlenangaben werden durch die Angabe der Heeresstärke Lakedaimons bei Herodot sowie durch den Reformversuch des 3. Jahrhunderts gestützt, der die Bürgerzahl zur Zeit der lykurgischen Verfassung wiederherstellen wollte. Diese Zahl von 9000 Spartiaten als Mitglieder der Volksversammlung der wehrfähigen Bürger kann sich aber nur auf das Hoplitenheer beziehen, das wir in dieser Stärke erst nach Beendigung des ersten messenischen Krieges annehmen dürfen.1 Wenn wir zuvor feststellten, daß der archaische Staat Sparta die gleichen Merkmale aufweist wie die anderen vergleichbaren Staaten dieser Zeit und wir die Formierung einer Hoplitenphalanx genauso wie in den anderen griechischen Staaten erkennen können, so müssen sich" bei der endgültigen Formierung der Klassenstruktur in Sparta Vorgänge abgespielt haben, die den Entwicklungsweg dieses Staates von den übrigen als Poleis gekennzeichneten Staaten trennen. Als eine Vergleichsmöglichkeit kann Korinth dienen, das wie Sparta von den Dorern erobert und besiedelt wurde. Doch Sparta war im Gegensatz zu Korinth von einer größeren Anzahl nichtdorischer Gemeinden umgeben, die es allmählich in einen Zustand der Heilotie herabdrückte. Sparta kam dadurch zu einem relativ frühen Zeitpunkt zu einer Organisationsform der Erarbeitung des Mehrprodukts durch eine unterworfene Bevölkerung, die es ausbeuten konnte und vor der es sich gleichzeitig schützen mußte. Die Folge war die Formierung einer Klassenstruktur, die wir als Spartiaten und Heiloten fassen und die ihrerseits wieder bei der Staatsentstehung um 800 ihren Niederschlag findet. Sparta machte im Verlaufe des 8. Jahrhunderts eine Krise durch, die aber nicht wie in den meisten Poleis zu Kolonisation, Tyrannis oder demokratischen Reformen führte. Sparta eroberte gegen Ende des 8. Jahrhunderts Messenien und konnte durch diesen im Krieg errungenen Landerwerb die Forderung der freien dorischen Bauern nach Landeigentum und ihren Kampf um politische Rechte durch die Aufnahme in die Schicht der Spartiaten befriedigen. Während sich in Korinth eine Schicht von Handel- und Gewerbetreibenden gebildet hatte, deren Forderung nach politischen Rechten den Klassenkampf der bäuerlichen Kleineigentümer verschärfte, scheint dieser kommerzielle Faktor in Sparta zu fehlen, so daß hier die Formierung des Demos nicht derartige radikale Formen annahm, die in Korinth zur Kolonisation in auswärtige Gebiete und zur Tyrannis führten. In Sparta wurde die Aristokratie nicht ökonomisch und politisch entmachtet, sondern die freien Bauern formierten sich mit der Aristokratie zur exklusiven Schicht der Spar1
K. J. Neumann, a. a. O., 37f.; J. Kroymann, Sparta und Messenien. Berlin 1937, XIII— XIX zur Datierung des ersten messenischen Krieges, dessen Beginn mit dem Fehlen der messenischen Sieger in den Olympiadenlisten ab 736 gegeben ist.
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tiaten, die insgesamt den Demos in dem Staat der Lakedaimonier bildeten. Die Spartiaten gehörten zu der Schicht der sich vorwiegend auf Landwirtschaft und ergänzenden Handel beschränkenden Grundeigentümer, die in den Gebieten, in denen sich die antiken Klassen nicht voll entwickelt hatten, vorwiegend mit abhängigen Besitzern arbeitete. Diese Arbeit mit abhängigen Besitzern blieb als wesentliches Produktionsverhältnis in allen Gebieten erhalten, in denen die Bedingungen zur kollektiven Bearbeitung des Ackerlandes gegeben waren.1 Wenn wir allerdings im einzelnen die Ursachen darlegen wollen, die in Sparta zu einer stasis, zu einem Aufstand der freien Bauern gegen die Aristokratie, führten, sind wir nur auf Vermutungen angewiesen. Es ist dabei durchaus wahrscheinlich, daß sowohl bei der Landnahme der Dorer als auch nach der Eroberung Amyklais der Kriegeradel die größten und fruchtbarsten Landstücke für sich in Anspruch nahm, während den übrigen Mitgliedern der einzelnen Phratrien die minder fruchtbaren Gebiete zufielen. Außerdem besteht die Möglichkeit, daß die kleinen Bauern in die Gefahr gerieten, analog der Schuldknechtschaft in das Ausbeutungsverhältnis der Heilotie zu geraten. Sicher ist nur, daß nach dem ersten messenischen Krieg eine Landaufteilung erfolgte, durch die ein Kreis von 9000 Spartiaten geschaffen wurde, und daß durch die Beitragsregelung zu den gemeinsamen Mahlzeiten, den Syssitien, Vorsorge getroffen wurde, daß ein Spartiat, der diese Pflichten nicht mehr wahrnehmen konnte, seine Rechte als vollberechtigtes Mitglied des lakedaimonischen Damos verlor.2 Diese Schlußfolgerung kann man sowohl aus der Verringerung der Anzahl der vollberechtigten Spartiaten als auch aus dem Erbrecht ziehen, dessen gesetzliche Änderung aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges überliefert wurde. Von seinem Kleros mußte jeder Spartiat die Naturalabgaben für sich und seine Söhne entrichten. Falls der Kleros nicht so viele Erträge hervorbrachte, daß für alle Söhne die Abgaben geleistet werden konnten, verloren vermutlich jüngere Söhne das Politenrecht und gehörten dann zu der Schicht der minderberechtigten Spartiaten. Ein Spartiat war zwar der private Eigentümer seines Kleros, doch unterlag dieses Eigentum gewissen Beschränkungen. Der Kleros war nicht das Eigentum eines Spartiaten und dessen Familie, sondern das Eigentum einer Spartiatenfamilie, zu der mehrere Generationen Vgl. Ehrenberg, Spartiaten und Lakedaimonier, 31 ff.; die Heiloten siedelten in Dörfern, in denen mehrere Spartiatenfamilien Klerosanteile besaßen. Der gesamte Kleros verteilte sich auf verschiedene Dörfer (vgl. Xen. hell. 3, 3, 4—11); zu einer Gütergemeinschaft bei den Spartiaten s. Aristot. pol. 2, 2 (5), 5f. = 1263a 3 5 - 4 1 ; Xen. Lak. pol. 6, 3f.; Plut. apophth. Lak. 23. Es wäre denkbar, daß Bewässerungsbodenbau im Eurotastal im Zusammenhang mit den auf der Peloponnes besonders häufigen Erdbeben eine Oberleitung der Grundeigentümer und eine kollektive Arbeit der bäuerlichen Produzenten über längere Zeit erforderte. 2 Thuk. 1, 18, 1 f.; Plut. Lyk. 2. 5. 6f.; K. J . Neumann, a, a. 0 . , 7 - 1 2 ; F. Kiechle, a. a. O., 10, 13, 58. 1
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Staatsentstehung
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gehören konnten. Dieser Besonderheit des Spartiateneigentums entsprach auch das eingeschränkte Verfügungsrecht. Die Spartiaten durften den Kleros nicht verkaufen oder durch Kauf vergrößern.1 Da den Spartiaten aber jeglicher Gelderwerb oder eine gewinnbringende Beschäftigung etwa im Handel oder im Gewerbe verboten war, konnten sie sich auch kein privates Eigentum außerhalb des Kleros verschaffen.2 Der Differenzierungsprozeß innerhalb der Spartiaten, den man nur teilweise auf Mißernten und Bevölkerungsverluste durch Erdbeben und Kriege zurückführen kann, machte sich dann am Ende des 5. Jahrhunderts verstärkt bemerkbar, als die entwickelten WareGeld-Beziehungen auf das erstarrte Wirtschaftssystem Spartas übergriffen.3 Erst zu dieser Zeit soll der Ephor Epitadeus ein Gesetz veranlaßt haben, wonach jeder Spartiat seinen Kleros bereits bei Lebzeiten einem anderen Spartiaten vererben oder verschenken durfte.4 Diese Lockerung des Erbrechts, die die Bindung an das Familieneigentum aufhob, förderte aber nur den Prozeß der Verarmung innerhalb der Spartiaten, deren Zahl sich im 3. Jahrhundert auf weniger als 1000 verringerte.5 Die Staatsbildung in Sparta, die durch die dem Lykurg zugeschriebene Verfassungsurkunde abgeschlossen wurde, sowie die durch die historische Möglichkeit zur 1
Aristot. pol. 2, 6 (9), lOf. = 1270a 16-18; zum Verkaufsverbot vgl. G. Busolt, Griechische Staatskunde. 3. Aufl., 2. Hälfte. München 1926, 634 Anm. 3. 2 Xen. Lak. pol. 7, l f . 3 Vgl. dazu ausführlich Bockisch, Harmostai, 203—205. 4 Plut. Agis 5; vgl. dazu Aristot. Ath. pol. 35, 2; Plut. Solon 21, 3 f. mit ähnlichen Bestimmungen für den Verkauf des Grundeigentums in Athen. Zu Epitadeus s. Busolt/ Swoboda, Griech. Staatskunde 2, 635 und 636 Anm. 1. Ungeklärt bleibt, ob Epitadeus das Gesetz auch auf die dg^ata fiolga, auf die ursprünglichen Kleroi, die innerhalb der Spartiaten nach der Eroberung Amyklais verteilt wurden, ausgedehnt hat. 5 Aristot. pol. 2, 6 (9), 13f. = 1270 b 4—6; vgl. die Reaktion der Spartaner nach der Gefangennahme der Spartiaten auf Pylos-Sphakteria (Thuk. 4,108, 7; 4,117, 2; 5,15, 1); nach Aristot. pol. 2, 6 (9), 11 f. = 1270 a 23-31 besaßen um 360 die Erbtöchter 2/5 der Kleroi, und die Spartiaten konnten nur noch 1000 Reiter und Hopliten zu dem Heeresaufgebot der Lakedaimonier stellen. Nach Plut. Agis 5 gab es im 3. Jahrhundert noch 700 Spartiaten, und von diesen besaßen 100 einen eigenen Kleros; zu der Abnahme der Spartiaten von etwa 8000 zur Zeit der Perserkriege bis auf die von Aristoteles und Plutarch angegebenen Zahlen vgl. die Berechnungen bei V. Ehrenberg, Der Staat der Griechen 1. Leipzig 1957, 24; die Zahl der Spartiaten betrug zu Beginn des Peloponnesischen Krieges 5000, um 371 aber nur noch 2500—3000, während gleichzeitig die" Zahl der minderberechtigten Bürger von 500 auf 1500—2000 stieg; dem gegenüber standen 40000—60000 Periöken und 140000—200000 Heiloten. Uber die Auswirkungen des Gesetzes des Epitadeus berichtet Plutarch, Agis 5. Danach konnten die Reichen durch die Bestimmungen des Erbgesetzes ihre Verwandten z. B. durch die Heirat einer Erbtochter aus dem Erbteil verdrängen. Auch das bei Aristot. pol. 2, 4 (7), 3 = 1266 b 8 - 1 3 ; 2, 6 (9), 13f. = 1270 b 1—6 überlieferte Gesetz, daß ein Spartiat mit drei Söhnen vom Kriegsdienst, mit vier Söhnen von den Abgaben befreit wurde, brachte kein Anwachsen der Zahl der Spartiaten, da der Kleros vermutlich nicht dazu ausreichte, daß diese Söhne für sich und ihre Kinder die traditionellen Abgaben leisteten.
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Eroberung entstandene Ausbeutung der Heiloten führten in Sparta zunächst zu einer hohen kulturellen Blüte, die bis zumEndedes7. Jahrhunderts andauerte.1 Um 680 erwuchs Sparta in Argos ein Konkurrenzstaat. Als Sparta sein Gebiet auf die Kynuria auszudehnen versuchte, geriet es in einen Krieg mit Argos, das zusammen mit Elis und Achaia die Messenier unterstützte, die in dem Krieg zwischen Argos und Sparta einen Aufstand versuchten. In der Not des Zweifrontenkrieges mit Messenien und Argos fand ein entscheidender Wandel in der Innen- und Außenpolitik Spartas statt. Nach dem zweiten messenischen Krieg, der um 640 beendet wurde, fiel die messenische Bevölkerung endgültig in den Status der Heilotie. Doch gleichzeitig war die Periode der von Sparta ausgehenden Eroberungen vorüber. Sparta schloß als stärkste Landmacht auf der Peloponnes mit den anderen Staaten mit Ausnahme von Achaia und Argos Bündnisverträge, so daß sich im Verlaufe des 6. Jahrhunderts der von Sparta geleitete Peloponnesische Bund herausbildete.2 Die Bevölkerung der um 640 eroberten Kynuria wurde zu Perioiken, die zu einem Bestandteil des Staates der Lakedaimonier gehören. Innerhalb dieses Staates bilden die Spartiaten zwar die herrschende Schicht, doch sie gehören wie die Perioiken zu den Lakedaimoniern, in deren Namen die Behörden Spartas Krieg erklären sowie Staatsverträge schließen. Die Perioiken dienten als Lakedaimonier wie die Spartiaten in der Hoplitenphalanx, sie hatten aber in der Volksversammlung der Spartiaten weder Sitz noch Stimme und somit keinerlei Mitspracherecht in den Angelegenheiten des Staates. Die Perioiken wohnten in kleineren, als Poleis überlieferten Siedlungen, in denen sich der Handel und das Gewerbe konzentrierten. Die Perioikenpoleis waren zwar in ihren inneren Angelegenheiten autonom, doch in bezug auf den Gesamtstaät der Lakedaimonier von Sparta und den Spartiaten abhängig, die sogar Aufsichtsbeamte, die Harmosten, in die Perioikenpoleis sandten.3 Die Perioikie wird zwar als ein Merkmal des Staates der Lakedaimonier erst nach Beendigung des zweiten messenischen Krieges faßbar, es scheint aber, daß diese Institution auf die bereits bei der Einwanderung der Dorer existierenden kleineren Gewerbezentren zurückzuführen ist, auf die die Form der Grundherrschaft und der Heilotie nicht anwendbar war.4 » Vgl. W. G. Forrest, a. a. 0., 139-141, Abb. Zum Peloponnesischen Bund s. ausführlich K. Wickert, Der peloponnesische Bund von seiner Entstehung bis zum Ende des archidamischen Krieges. Diss. Erlangen 1964; V. Ehrenberg, Neugründer des Staates. München 1925, bes. 50f. mit der geistreichen, aber unhaltbaren Hypothese, daß der Gesetzgeber der Rhetren erst im 6. Jahrhundert gelebt und die Gestalt eines alten Gesetzgebers zu Hilfe genommen habe, um den spartiatischen Kosmos nach einem Plan zu ordnen; vgl. ders., Der Gesetzgeber von Sparta. In: Epitymbion H. Swoboda dargebracht, Reichenberg 1927, 19—27, mit der Einschränkung S. 20, daß die Rhetra vor das 6. Jahrhundert und vor das Aufkommen des Ephorats als der wichtigsten Behörde zu datieren ist. 3 G. Bockisch, Harmostai, 131-137. 4 K. J. Neumann, a. a. O., 51—53; F. Kiechle, a. a. O., 70f., hält es auch für möglich, daß
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Der Staat der Lakedaimonier hat sieh über einen längeren Zeitraum hinweg kontinuierlich entwickelt. Als einzelne Phasen können wir den Fall Amyklais um 800 mit der ersten, dem Lykurg zugeschriebenen Landaufteilung, die Beendigung des ersten messenischen Krieges um 720 mit der wahrscheinlichen Niederlegung der sogenannten lykurgischen Verfassung und die Beendigung des zweiten messenischen Krieges um 640, nach dem als weiterer Bestandteil die Perioikie faßbar wird, erkennen. Die Klassenstruktur bestand aus Lakedaimoniern als den herrschenden Schichten der Spartiaten und Perioiken, denen die Heilotie als hauptsächliches Produktionsverhältnis gegenüberstand. Zum Staatsapparat gehörten folgende Elemente: 1. Die Phylen und Oben Die gentile Phylenorganisation ist nach Aussage der Quellen bereits um 800 überwunden. Wenn wir auch aus einem Tyrtaiosfragment entnehmen können, daß das Heer der Lakedaimonier noch im zweiten messenischen Krieg in den drei Phylenabteilungen kämpfte, so dürfte die entscheidende Neuerung bei der Herausbildung des Staates die Einteilung Spartas in die Oben sein, in der wir die Verwaltungseinheit der fünf spartanischen komai erblicken können, i 2. Das Doppelkönigtum, dessen Entstehung wohl ungeklärt bleiben wird. Seine Beibehaltung ist auf die dauernden Kriege und Eroberungen, die dieser Staat bis in die Mitte des 7. Jahrhunderts machte, zurückzuführen, zumal die Könige die obersten Heerführer blieben. 2
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Sparta den Poleis, die im zweiten messenischen Krieg neutral geblieben waren, den Status von Perioiken zubilligte; F. Gsohnitzer, Abhängige Orte im griechischen Altertum. München 1958 (Zetemata 17), 63—65, glaubt eher an einen Differenzierungsprozeß der Lakedaimonier in Spartiaten und Perioiken, die Bürger von Lakedaimon blieben, aber wegen der Entfernung ihrer Siedlung das Bürgerrecht in Sparta nicht wahrnehmen konnten. K. J . Neumann, a. a. O., 38—46, bes. 42 mit einer Erklärung, die allerdings nicht zu beweisen ist: „Die Phyleneinteilung trifft die Spartiaten, die in den einzelnen Komen, den neuen Phylen, ihren Wohnsitz haben. Aber diese Spartiaten haben ihren Klaros auf dem Lande, und durch das Medium der Grundherrschaft werden die Oben des Landes mit den Phylen der Stadt verbunden. Auf diese Weise können die ländlichen Oben Unterabteilungen der Phylen der Stadt Sparta sein. Man sieht deutlich, die neue Phylenordnung organisiert die Grundherrschaft im Staate." Vgl. dazu die Entgegnungen von V. Ehrenberg, Spartiaten und Lakedaimonier, 24—26, und H. Berve, Sparta. Historische Vierteljahrsschrift 25 (1929), 3, daß der Spartiat mit einer der fünf Komen verbunden ist, „die dadurch Träger einer personalen Gliederung, der fünf Oben, werden". Zur Entstehung des Doppelkönigtums vgl. den Mythos von den göttlichen Zwillingen Kastor und Polydaikes (Pollux), die sich die Herrschaft teilten (Isokr. 6, 18. 20; Paus. 3, 1 f.) sowie die Vermutung, daß das Doppelkönigtum durch eine Teilung des Stammes bei der Besiedlung Lakoniens und Messeniens entstanden sei (K. J . Neumann, a. a. O., 25f.). Eine weitere Möglichkeit ist die Annahme, daß das Doppelkönigtum durch Aufnahme des basileus von Amyklai entstanden sein könnte; vgl. Herodot. 5,72, daß Kleomenes aus dem Hause der Europontiden in Athen behauptet hätte, er sei kein Dorer, sondern ein Achäer.
Die Entstehung des Staates der Lakedaimonier
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3. Der Ältestenrat, die Gerusia, die aus 30 Mitgliedern einschließlich der beiden Könige bestand und der die beratende Funktion gegenüber den Ephoren und der Volksversammlung zukam.1 4. Die Appella, die Volksversammlung der vollberechtigten Spartiaiten, deren Rechte im Laufe der Zeit so eingeschränkt wurden, daß sie nur in der Form einer Akklamation ihre Zustimmung oder Ablehnung zu den von der Gerusia und den Ephoren vorgebrachten Entscheidungen äußern konnte.2 5. Das Ephorat, das in der bei Plutarch überlieferten Rhetra noch nicht genannt wird. Nach der Überlieferung beginnt die Ephorenliste im Jahre 753. Da die fünf Ephoren gewählt wurden und dieses Amt auch verarmten Spartiaten zustand, könnte man vermuten, daß die Ephoren sich aus den Vertretern des Damos in den fünf komai Spartas entwickelten. Das Ephorat wurde vom 6. Jahrhundert an zur wichtigsten Behörde, der unter anderem die Rechtsauslegung und die Aufsicht gegenüber den Königen, der Gerusia und der Apella zustand.3 Der Staat der Lakedaimonier, geprägt durch die Heilotie und verdienstvoll durch seine Hoplitenphalanx, bildete vom Ende des 6. Jahrhunderts als Abwehr gegen etwaige Neuerungen seitens der Staaten, die allmählich die antike Demokratie und die Sklaverei als bestimmendes Produktionsverhältnis entwickelten, jene erstarrten Lebensformen aus, die als spartiatischer Kosmos von Piaton bewundert, von Aristoteles als lächerlich benannt und von Isokrates mit folgenden Worten gekennzeichnet wurden: Die Lakedaimonier sind von dem, was die Athener unter Paideia (Bildung und Kultur) verstehen, weiter entfernt als die Barbaren, da sie noch nicht einmal lesen und schreiben können.4 Als die Lakedaimonier nach Beendigung des Peloponnesischen Krieges mit persischer Hilfe und durch Unterstützung der Oligarchen in den Poleis die Hegemonie über die griechischen Festlandsstaaten errungen hatten, beschleunigte dieser Sieg den Niedergang des lakedaimonischen Staates; denn Lakedaimon war in den veralteten Formen eines Staatsaufbaus stehengeblieben, den es im 8. Jahrhundert ausgebildet hatte. Das Übergreifen der speziell antiken Eigentumsform sowie des relativ entwickelten Ware-Geld-Verhältnisses wirkte hier nur zersetzend; da es sich nicht durchsetzen konnte, ergaben sich keine progressiven Auswirkungen mehr auf das Gesamtgemeinwesen.5 » Aristot. pol. 2, 6 (9), 1 6 - 1 8 = 1 2 7 0 b 35-1271 a 12. 2 Arist. pol. 2, 6 (9), 14 = 1270 b 6 - 1 0 sowie 2 6 - 2 8 ; D. Butler, The competence of the demos in the Spartan Rhetra. Historia 11 (1962), 395. 3 Zur Quellenlage vgl. G. Dum, Entstehung und Entwicklung des spartanischen Ephorats. Innsbruck 1878; zu den Kompetenzen der Ephoren vom Ende des 4. Jahrhunderts an vgl. G. Bockisch, a. a. 0 . , 199 f. * Isokr. 12, 209: ähnlich Plut. Lyk. 16. 5 Dazu ausführlich G. Bockisch, Die sozialökonomische und politische Krise in Sparta im 4. Jh.. In: Hellenische Poleis (im Druck).
Zur Rolle der Volksmassen im Prozeß der Staatsentstehung. Ein Beitrag auf der Grundlage ethnographischen Materials von
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(Berlin)
Neben Archäologie, Orientalistik, alter Geschichte und Mediävistik beschäftigt sich auch die Ethnographie mit dem Problem der Staatsentstehung. Im Unterschied zu den übrigen genannten Disziplinen hat es die Ethnographie immer mit mehr oder weniger rezenten Vorgängen zu tun. Sie muß demzufolge die Wirksamkeit einer Reihe von Gegebenheiten berücksichtigen, die in den älteren Geschichtsperioden noch keine Rolle spielen konnten. Aber dies ist ein gradueller und kein prinzipieller Unterschied. Historische Vorgänge wiederholen sich bekanntlich niemals in der gleichen äußeren Art und Weise. In jedem Falle ist daher das widerspruchsvolle Aufeinanderwirken der verschiedenen, die Entwicklung bedingenden Faktoren konkret zu untersuchen, und in jedem Falle werden sich dabei die allgemeinen historischen Gesetzmäßigkeiten letztlich durchsetzen. Der Gegenstand ethnographischer Forschungen, sofern es sich um das Problem der Staatsentstehung handelt, bringt es mit sich, daß es dabei nicht um die Zentren der historischen Progression geht. Dieser Umstand wird jedoch durch einen Vorteil aufgewogen: die vollständigere Information über • die einzelnen wirkenden Faktoren. Dies gilt insbesondere für die Rolle des Volkes im Prozeß der Staatsentstehung, über die vor allem in den ältesten Zentren des Übergangs zur Klassengesellschaft die Quellen wenig aussagen. Eine Kenntnis über diese Seite der Staatsbildung ist jedoch aus mehreren Gründen von Bedeutung. So z. B. wird nur unter Einbeziehung dieses Gesichtspunktes der antagonistische Charakter des Fortschritts deutlich. Indem die Volksmassen aktive Mitgestalter der neuen Gesellschaftsformation sind, schaffen sie gleichzeitig die Bedingungen für ihre eigene Unterdrückung. Ein Vergleich der Rolle der Volksmassen in den verschiedenen historischen Entwicklungsetappen zeigt weiterhin, daß auch der Klassenkampf eine Entwicklungsgeschichte gehabt hat und jede neue Etappe objektiv und subjektiv neue Möglichkeiten eröffnete. Schließlich aber ist die Untersuchung der Rolle der Volksmassen unbedingt erforderlich, wenn man der Gefahr entgehen will, den historischen Fortschritt einzig und allein den Aktivitäten der herrschenden Klasse zuzuschreiben. Trotz ihrer besseren Quellenlage zu den sozialökonomischen Beziehungen sind jedoch auch die ethnographischen Materialien, die über den Anteil des
Zur Bolle der Volksmassen im Prozeß der Staatsentstehung
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Volkes an der Staatsentstehung etwas aussagen können, nicht allzu häufig. Ein gutes Beispiel dafür, das den folgenden Ausführungen zugrunde gelegt sein soll, findet sich jedoch in dem Versuch einer Staatsbildung bei den südafrikanischen Zulu. In Afrika südlich der Sahara erfolgte bekanntlich die Staatsbildung erheblich später als in anderen Gebieten der Erde. Sie begann im 8. J h . v. u. Z. in Nubien, wo in unmittelbarer Nachbarschaft Ägyptens das Königreich Napata entstand. Sie setzte sich im 3. J h . u. Z. in Aksum und im 4. J h . u. Z. in der Bildung des westafrikanischen Staates Alt-Ghana fort. Im 6./7. Jh. erfolgte in Ostafrika die Gründung des Monomotapareiches, und im 13./14. J h . entstand das Kongoreich. Südafrika wurde von diesen historischen Prozessen zunächst nicht berührt. Dieses Gebiet war zur genannten Zeit von einer Bevölkerungsgruppe besiedelt, die man unter dem Sammelbegriff „Khoisan" zusammenfaßt. Zu einer heute noch nicht genau fixierbaren Zeit setzten jedoch in Afrika Wanderbewegungen ein, die große Bevölkerungsverschiebungen zur Folge hatten. Diese Wanderbewegungen führten in einer West-Ost-Bewegung zur Ausbreitung der Bantu über den gesamten mittleren und fast den ganzen südlichen Teil des Kontinents. Zu Beginn unserer Zeitrechnung hatten die Bantu noch nicht den Zambesi erreicht.1 Sie treten uns jedoch erstmalig archäologisch faßbar in den untersten Schichten der Kultur von Zimbabwe, die eindeutig von den Bantu hervorgebracht worden ist 2 , entgegen. Da die Träger der Zimbabwe-Kultur ihr Siedlungsgebiet unmittelbar südlich des Zambesi nicht veränderten, erfolgte die Besiedlung des südlichen Teils von Afrika durch andere Bantu-Gruppen, unter denen die Nguni-Gruppe, zu der auch die Zulu gehören, eine besonders wichtige Bolle gespielt hat. Vor rund 1000 Jahren aus dem Gebiet der großen Seen aufbrechend, ließen sich die Vorfahren der Nguni zunächst am oberen Limpopo bzw. oberen Vaal nieder, von wo aus Teile dieser Gruppe erneut aufbrachen und nach Südosten zogen. Bereits 1589 bezeugen portugiesische Berichte ihre Existenz an der Küste des Indischen Ozeans.3 Allerdings waren sie zu dieser Zeit noch nicht seßhaft geworden, und demzufolge hatten sich auch die späteren Stammesgruppierungen noch nicht herausgebildet. Dieser Prozeß ist erst für das 17. J h . bezeugt4; zuvor müssen also diese Bäntugruppen noch mehr oder weniger undifferenziert nebeneinander bestanden haben. Das späte 17. und frühe 18. J h . muß als die Periode der Konsolidierung dieser Stammesgruppen angesehen werden. Am Ende des 18. J h . aber setzte jener Prozeß bei den Zulu ein, dem hier unsere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. Die Zulu verdankten — wie übrigens die Bantu insgesamt — ihre Überlegenheit gegenüber der älteren Vorbevölkerung einem fortgeschritteneren Stadium der R. Cornevin, Histoire de l'Afrique I. Paris 1962, 377. A. AnHMaH, ^OHCTopHHecKafl A$pHKa. MocKBa 1960, 349. 3 A. T. Bryant, The Zulu People. Pietermaritzburg 1949, 23. Ebenda, 24. 1
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Entwicklung der Produktivkräfte. Sie besaßen nicht nur seit langem die Kenntnis der Eisengewinnung und -bearbeitung1 (woraus überlegene Waffen und dauerhaftere Werkzeuge resultierten), sondern betrieben mit ihrer kombinierten Bodenbau-Viehzucht-Wirtschaft eine Wirtschaftsform, die gegenüber der Jagdwirtschaft der Buschmänner bzw. der Nomaden Viehzucht der früher hier ansässigen Hottentotten ein weitaus höheres Produktionsergebnis erbrachte. Aus den Überlieferungen der Bantustämme wissen wir, daß das ausgehende 18. Jh. bei ihnen eine Periode des Zusammenschlusses mehrerer Stämme bei gleichzeitigem Kampf um die Vorherrschaft war. Zu dieser Zeit hatte sich im südlichen Afrika in großer Breite bei den eingewanderten Bantustämmen ein Entwicklungsniveau herausgebildet, das die Erzeugung eines Mehrproduktes mit relativer Konstanz ermöglichte. Obgleich sich damit auch im Innern der Gemeinwesen, und zwar primär auf der Basis der Viehleihe, soziale Unterschiede herausbildeten2, so setzte der offene Kampf um die Verteilung des Mehrproduktes aber zunächst zwischen den verschiedenen Gemeinwesen ein. Der Krieg wurde buchstäblich zu einem Erwerbszweig, und die damit verbundenen Erfordernisse griffen tief in viele Sphären des gesellschaftlichen Lebens ein. Die kriegerischen Auseinandersetzungen um die Aneignung des Mehrproduktes begannen auf einer Entwicklungsstufe, auf der die Gentilorganisation noch weitgehend intakt war. Infolgedessen kam die Kriegsbeute auch noch der Masse der Krieger in irgendeiner Form zugute. Zwischen den Kriegsanführern, in denen man die ersten Vertreter einer sozialen Oberschicht erblicken muß, und den Kriegern bestand demzufolge zunächst eine weitgehende Übereinstimmung der Interessen. Außerdem besaß die breite Masse der Krieger in der allgemeinen Volksversammlung3 ein wirksames Instrument zur Darlegung lind Durchsetzung ihres Willens. Trotz dieser Interessengleichheit im Ausgangspunkt wurde jedoch ein Prozeß in Bewegung gesetzt, der sich im Endergebnis gegen die Interessen des einen Teils, der Volksmassen, richten sollte, ohne daß aber die letzteren von einem bestimmten Punkte an die Möglichkeit erhalten hätten, an dem Gang der Ereignisse etwas ändern zu können. Die Geschichte der Zulu zeigt in seltener Deutlichkeit, wie sich im einzelnen ein solcher Prozeß vollziehen konnte. 1 2
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R. Cornevin, a. a. 0., 377f. Vgl. hierzu die aufschlußreichen Beobachtungen von Holden und Bryant. Stellte der zuerst genannte im 19. Jh. fest — und zwar auf Grund einer Erhebung über die Anzahl der Frauen in den Zulufamilien —, daß 2/3 aller Zulu in bescheidenen Verhältnissen lebten, während 35% als wohlhabend anzusehen waren und 1% als reich gelten konnte ( W . C. Holden, PastandFutureofthe Kaffir Races. London o. J., 139), schätzte Bryant im 20. Jh. den Anteil der bescheiden lebenden Zulu auf etwa 90% (a. a. 0., 438). Wenn auch die Überlieferungen der Zulu keine direkten Hinweise auf die Existenz einer solchen Institution enthalten, so darf man aber durch ihre Überreste, wie sie bei den Zulu des frühen 19. Jh. anzutreffen waren, darauf schließen, daß sie früher einmal bestanden hat (vgl. E. J. Krige, The Social Systems of the Zulus. London 1937, 220).
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Der erste entscheidende Schritt wurde mit dem Zusammenschluß mehrerer Stämme getan. Wir wissen aus zahlreichen anderen Beispielen, daß ein solcher Zusammenschluß zunächst freiwillig und temporär erfolgte. Er erwuchs aus der Notwendigkeit, im allgemeinen Kampf der Stämme um die Aneignung des Mehrproduktes sich eine gute Ausgangsposition, die vor allem in einer Stärkung der militärischen Macht bestand, zu sichern. Die Überlieferungen der Zulu reichen nicht weit genug zurück, um dieses Stadium erkennen zu lassen. Sie treten in die überlieferte Geschichte ein zu einem Zeitpunkt, als sie sich neben etwa 30 anderen Stämmen unter der Oberhoheit des damals mächtigsten Stammes, der Tetwa, befanden.1 Bei diesem Verband handelte es sich schon nicht mehr um einen freiwilligen oder temporären Zusammenschluß, sondern um eine Unterwerfung einer Reihe von Stämmen unter die Gewalt des mächtigsten mit dem Ziel einer Vergrößerung der politischen und militärischen Macht. Wenn auch die -Zusammenfassung der unterworfenen Stämme noch loser Natur war, so wurden in dieser Periode aber dennoch einige wesentliche Veränderungen herbeigeführt, worunter die Veränderung der Heeresverfassung die größte Bedeutung für die weitere Entwicklung erlangen sollte. Wie bei allen benachbarten Bantustämmen, so hat sicher auch bei den hier behandelten Stammesgruppen die Heeresverfassung ursprünglich auf der Sippenorganisation beruht. Dieses Organisationsprinzip erwies sich aber angesichts des permanenten Kriegszustandes als nicht mehr ausreichend. Während die einzelnen Stämme und Sippen im täglichen Leben ihre alten Rechte und ihre alte Selbständigkeit behielten, ließ sich in Kriegszeiten bzw. im Heer dieses Prinzip nicht mehr aufrechterhalten. Hier wurde das Prinzip der Zusammenstellung der einzelnen Heeresabteilungen entsprechend dem Alter der Krieger und unabhängig von ihrer Sippenzugehörigkeit durchgesetzt.2 Da diese Maßnahme nur einen Teilbereich des bisherigen Grundprinzips der sozialen Organisation änderte und darüber hinaus zu einer Erhöhung der militärischen Schlagkraft beitrug3, wurde diese Neuregelung von den Kriegern allgemein akzeptiert. Niemandem wurde bewußt, welche entscheidende Wende damit vollzogen wurde. Den Tod des bisherigen Anführers des Stammesverbandes nutzten die Zulu, um die Macht an sieb zu reißen. Begünstigt durch die persönlichen Fähigkeiten ihres Anführers mit Namen Shaka, begann damit eine Entwicklung, die das bisher Dagewesene weit in den Schatten stellte. Das persönliche Ansehen Shakas als Kriegsanführer und das allgemeine Streben nach Aneignung des von den Nachbarstämmen erzeugten Reichtums durch erfolgreiche Kriegszüge er< A. T. Bryant, Olden Times in Zululand and Natal. London 1929, 101. 2 J . Y . Gibson, Story of the Zulus. London 1922, 12. 3 Die unmittelbaren Folgen dieser Neuregelung der Heeresverfassung bestanden in der Möglichkeit zur Schaffung größerer Heeresabteilungen und der Bildung von Kolonnen, in denen jeweils diejenigen Krieger zusammengefaßt wurden, die für eine bestimmte Aufgabe besondes geeignet waren.
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laubten die Durchführung einer Beihe weiterer einschneidender Maßnahmen. Dazu gehörten: eine entscheidende Verbesserung der Kriegstaktik 1 , Todesstrafe für alle diejenigen, die sich feige während des Angriffs verhalten hatten, 2 und die Einführung einer Art von stehendem Heer. 3 So wesentlich und tiefgreifend diese soeben angeführten Veränderungen auch waren, so wurden sie aber in ihrer Wirkung von einer anderen noch übertroffen: von der neuen Handhabung bei der Verteilung der Kriegsbeute und der Behandlung der besiegten Stämme. Galt es vor Shaka als Regel, dem besiegten Gegner einen Teil der Herden zu belassen, um ihn nicht aller Existenzmittel zu berauben 4 , ließ Shaka den Unterlegenen nichts, weder Vieh noch Frauen. Es blieb daher weiter nichts übrig, als sich dem Sieger völlig zu unterwerfen.5 Mehr als 100 Stämme hat Shaka auf diese Weise seinem Gemeinwesen eingegliedert.6 Diesem großen und plötzlichen Zustrom von Stammesfremden war die Gentilverfassung nicht gewachsen. Sie mußte neuen Organisationsprinzipien weichen. Die Aufteilung des Landes in Distrikte, die gleichzeitig die Grundlage für die Aufstellung der Heeresverbände bildeten, bedeutete eine weitere entscheidende Einengung der gesellschaftlichen Macht und Wirkungsmöglichkeit der Sippenverbände. An der Spitze jedes Distriktes stand ein Oberhaupt, das jeweils ernannt wurde, und zwar ausschließlich unter dem Gesichtspunkt seiner militärischen Fähigkeiten. Die Ernennung geschah durch das Oberhaupt des gesamten Gemeinwesens, das man seit Shaka als König bezeichnen kann. 7 Parallel mit der Unterhöhlung der Sippenorganisation ging ein steter Ausbau der Machtfülle des Königs einher. Die alte Stammesdemokratie in Gestalt der allgemeinen Volks- bzw. Kriegerversammlungen, der gemeinsamen Verantwortung für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung sowie der Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfe wich einem System, in dem zunächst einmal die politische Macht in den Händen des Kriegerkönigtums konzentriert wurde. Die Zulukönige sicherten sich ihre Machtposition, indem sie an die Stelle der allgemeinen Volksversammlung die Tätigkeit eines engeren sowie eines erweiterten 1
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Hatten schon die Tetwa die regellos angreifenden Kriegerhorden durch disziplinierte Kolonnen abgelöst, ersetzte Shaka den Wurfspeer in der Ausrüstung dieser Verbände durch den kurzen Stoßspeer, wodurch erst der volle militärische Nutzen aus dem Kolonnenangriif gezogen werden konnte (vgl. J . Y . Gibson, a. a. 0 . , .17). Ebenda, 18; N. Isaacs, Travels and Adventures in Eastern Africa. London 1836, vol. I, 122f., 137, 346. Dies geschah durch die Einrichtung von Kriegerkraalen, in denen sich unter der Aufsicht von Kriegsanführern ständig eine bestimmte Anzahl von Kriegern aufhalten mußte (A. T. Bryant, Olden Times, 123ff). Ebenda, 102. 5 Ebenda, 132;
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H a p o / j u A$PHKH. IT OH peaaKqnett 3 . A . Ojit^eporre, H. H. ÜOTexHH. MocKBa 1954, 5 4 5 .
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A. Kropf, Das Volk des Xosakaffern im östlichen Südafrika nach seiner Geschichte, Eigenart, Verfassung und Religion. Berlin 1889, 168; N. Isaacs, a. a. 0 . , vol. II, 256f.; A. T. Bryant, Zulu People, 461, 464.
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Rates setzten, deren sämtliche Mitglieder von ihnen selbst ernannt wurden oder deren Einsetzung von ihnen zumindest kontrolliert wurde. Da die engsten Ratgeber zugleich Exekutivfunktionen ausübten, konnte es unter den ausschlaggebenden Oberhäuptern niemanden geben, der nicht unbedingt zuverlässig hinter der neuen Ordnung gestanden hätte. Für die Masse des Volkes repräsentierte diese neue Ordnung eine außerordentlich erfolgreiche Periode kriegerischer Aktivitäten. Die Raubzüge in die Gebiete der militärisch schwächeren Nachbarn erbrachten einen großen Zuwachs an Vieh, das bei diesen Stämmen zu dieser Zeit als der größte und erstrebenswerteste Reichtum galt. Diesen eroberten Viehreichtum eigneten sich die Zulukönige z. T. selbst an. Von den geraubten Herden wurden überall im Lande große Viehkraale angelegt und der Obhut von Heeresabteilungen oder mehreren zuverlässigen Kriegern anvertraut.1 Ein anderer Teil der Kriegsbeute wurde jedoch besonders tapferen Kriegern überlassen2, so daß die Kriegszüge auch noch der individuellen Bereicherung eines Teils der Krieger dienten. Darin liegt jedoch bei weitem noch nicht die ganze Erklärung für das Verhalten der breiten Masse des Volkes im Prozeß der Umgestaltung ihrer traditionellen klassenlosen Gesellschaft. Wichtig war z. B. die Tatsache, daß die Zulukönige mit dem von ihnen angeeigneten Reichtum 3 gegenüber der Gesellschaft erhebliche Verpflichtungen hatten, die nicht nur in der Bewirtung von Fremden bestanden, sondern die Unterstützung aller Notleidenden, vor allem bei Hungersnöten, einschlössen4. Auch die Bereitstellung der Mittel für die großen Zeremonien und von Zeit zu Zeit die Überlassung von Schlachtvieh an alle Krieger gehörten zu den Verpflichtungen des Königs.5 So mußte der in den Händen des Königs befindliche Reichtum vielen noch als eine Form des gesellschaftlichen Reichtums erscheinen. In Wirklichkeit war er dies jedoch nicht mehr, war doch der König niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig, was er mit dem in seinen Händen befindlichen Reichtum tat. Die Verhältnisse zwangen jedoch den König, der öffentlichen Meinung in einigen entscheidenden Punkten Rechnung zu tragen und in der materiellen Sicherung des Lebens der Mitglieder des Gemeinwesens in bestimmter Weise alten Traditionen zu folgen. Zum Verständnis für die Haltung des Volkes in diesen Umgestaltungsprozessen ist jedoch noch ein weiterer Umstand von Bedeutung: die Erhaltung der Sippenorganisation unterhalb der Ebene der Distriktverwaltung. Noch im 19. Jh. kannte jedes Mitglied des Gemeinwesens seine Sippenzugehörigkeit. Auch war die alte Sippenexogamie ebenso erhalten geblieben wie die Tradition 1
Vgl. N. Isaacs, a. a. 0., vol. I, 311. J. Shooter, The Kafirs of Natal and the Zulu Country. London 1857, 268; E. J. Krige, a. a. O., 264; N. Isaacs, a. a. 0., vol. I, 219, 346. 3 Dieser Reichtum bestand nicht nur aus Beutevieh, sondern resultierte auch aus „Geschenken" bzw. den Arbeitsleistungen ihrer Untertanen auf Feldern, deren Ertrag sich die Zulukönige ebenfalls aneigneten (E. J. Krige, a. a. O., 221, 232). 5 Ebenda, 193, 247, 253, 265. '< Ebenda, 241.
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der gegenseitigen Unterstützung.1 Dadurch aber wurde die sich ankündigende neue Qualität der sozialökonomischen Beziehungen noch weitgehend verschleiert. Noch immer dominierten im Alltagsleben die traditionellen Regeln, und noch wurde davon ein großer und vor allem wesentlicher Teil der sozialen Beziehungen dir Individuen bestimmt. Hinzu kam, daß von der ideologischen Seite her die neuen Verhältnisse eine starke Unterstützung fanden. So z. B. galt als höchste Tugend die Tapferkeit im Kriege. Tapfere Krieger erhielten als eine Art öffentlicher Auszeichnung einen besonderen „nom de guerre". 2 Alte Männer, die keine Kriegsdienste mehr leisten konnten, genossen dagegen keinerlei gesellschaftliches Ansehen.3 Als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wurde nur der Krieger angesehen.4 Diese Normen waren so sehr im Bewußtsein der Menschen verankert, daß auch tiefe Eingriffe in die persönliche Lebenssphäre — wie z. B. das allgemeine Heiratsverbot für diejenigen Krieger, die den Kern des Heeres bildeten und die im Interesse einer hohen Schlagkraft und ständigen Einsatzbereitschaft des Heeres von der unmittelbaren Produktion weitgehend freigestellt werden mußten 5 — widerstandslos hingenommen wurden. Bei diesem Stand der Dinge ist es sicher nicht verwunderlich, wenn es dem Kriegerkönigtum gelingen konnte, eine beachtliche Machtposition zu erringen. Verschiedentlich nahm diese Macht bereits despotische Züge an. So z. B. ließ Shaka nach dem Tode seiner Mutter alle diejenigen töten, die nach seiner Auffassung ihre Trauer nicht genügend zum Ausdruck gebracht hatten, und außerdem wurden nach Augenzeugenberichten 10 junge Mädchen mit der Toten lebendig begraben.6 Diese despotischen Eingriffe erschütterten jedoch das Ansehen des Zulukönigs, und als dann auf seinen Befehl noch zwei unglücklich verlaufende Kriegszüge unternommen werden mußten, obgleich das Heer erschöpft war und ausreichende Verpflegung nicht zur Verfügung stand7, hatte Shaka bei seinen Kriegern den Rückhalt verloren. In den letzten von Shaka befohlenen Krieg, der bei außerordentlich verlustreichem Verlauf keine Erfolge brachte, zog das Heer nur widerstrebend. Um eine sich ankündigende Krise des Königtums abzuwenden, wurde Shaka von seinen beiden Brüdern sowie seinem ersten Ratgeber gemeinsam getötet. In diesen Vorgängen offenbarte sich deutlich die Höhe der politischen Entwicklung. Die breite Masse des Volkes hatte durch die Beseitigung der demokratischen Organe der Stammesverfassung die Möglichkeiten verloren, unmittelbaren Einfluß auf die Verwaltung des Gemeinwesens zu nehmen. Infolgedessen erhielt die Häuptlingsinstitution einen neuen Charakter. Erwachsen aus der Gentil- bzw. Stammesverfassung und ihrem Wesen nach ursprünglich Be« Ebenda, 34, 156; A. T. Bryant, Zulu People, 584. N. Ieaacs, a. a. 0., vol. I, 346. 3 Ebenda, 73. 4 Ebenda. 5 W. C. Holden, a. a. 0., 346; A. Kropf, a. a. 0., 141; A. T. Bryant, Olden Times, 124; ders., Zulu People, 188. 6 J . Shooter, a. a. O., 244 f. ' A. T. Bryant, Olden Times, 626.
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auftragter und Repräsentant der Gemeinschaft gleichberechtigter, weil sozial gar nicht oder nur wenig differenzierter Stammesmitglieder, hatte sie unter den geschilderten Bedingungen politischen Charakter erhalten. Dies war gleichbedeutend mit einer weitgehenden Verselbständigung der entscheidenden gesellschaftlichen Machtinstitutionen gegenüber der Masse der Mitglieder des Gemeinwesens. Die Folgen davon waren sowohl politischer als auch ökonomischer Art. Die politischen Folgen führten bis zur Ausbildung despotischer Züge, und die wirtschaftlichen Folgen erbrachten die Konzentration großer Teile des Reichtums in den Händen der neuen Führungsschicht. Dabei wirkten politische und ökonomische Veränderungen wechselseitig aufeinander ein. Einerseits versetzte die neu errungene politische Machtposition ihre Träger in die Lage, sich den verfügbaren Reichtum anzueignen, und andererseits stärkte die damit verbundene Verbesserung ihrer Lage die politische Position der Führungsschicht. So kam es, daß sich eine soziale Oberschicht bei den Zulu in deutlich erkennbaren Umrissen herausbildete, die den vorhandenen Machtapparat ihren Bedürfnissen entsprechend umgestaltete und ihm dabei einen neuen Charakter zu verleihen begann. Nach den bisherigen Darlegungen könnte es scheinen, als seien die Ursachen aller dieser Veränderungen der Krieg und die mit seiner Organisierung zusammenhängenden Erfordernisse. Zweifellos gingen davon starke Impulse aus, und eine Reihe gesellschaftlicher Institutionen leitete sich direkt daraus ab. Auch in der Ideologie fand dies, wie schon erwähnt wurde, eine Widerspiegelung. Dennoch war der Krieg nicht Ursache, sondern Folge der hier geschilderten Entwicklung. Wie Engels im Antidühring hervorhob, ist „die Gewalt nur das Mittel, der ökonomische Vorteil dagegen der Zweck . . . " 1 Hauptziel der Raubzüge des Zuluheeres war die Aneignung des wichtigsten Mehrproduktes, das die auf etwa gleicher materieller Basis wie die Zulu selbst produzierenden Nachbarstämme erzeugten, nämlich des Viehes. Der Krieg wurde also in den Dienst ökonomischer Zwecke gestellt 2 , und das Ziel war die Aneignung des Mehrproduktes. Dem gleichen Ziele dienten auch Veränderungen in der eigenen ökonomischen Basis des Zulu-Gemeinwesens. Ungleichmäßigkeiten in der Verteilung von Vieh als der wichtigsten Form gesellschaftlichen Reichtums und Integration von Kriegsgefangenen als Haussklaven in die Gesellschaft führten zur Herausbildung einer Schicht von Ausgebeuteten, die allerdings noch nicht sehr zahlreich war und die bei den noch immer vorhandenen patriarchalischen Verhältnissen auch noch keine zugespitzten Antagonismen erzeugte. Die soziale Differenzierung war jedoch schon tiefgreifend genug, um das Wirkungsfeld der Reste der Gentilorganisation einzuengen. Diese Umwandlung ist von der gleichen Bedeutung wie die vorher geschilderte. Aber auch hierbei wurde den Betroffenen nicht sofort der ganze Umfang der Folgerungen bewußt, da sich die neuen » Marx-Engels, Werke Bd. 20, Berlin 1962, 148. 2 Ygl. hierzu ebenda.
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Verhältnisse, auch die neuen Eigentumsverhältnisse, noch vielfach unter cler Hülle alter Normen herausbildeten. Konkret gesprochen hieß dies — um die wichtigste Erscheinung zu nennen — die in Form der Viehleihe verhüllte Ausbeutung eigener Stammesangehöriger. Dabei mußte der verarmte Stammesgenosse die Sorge für das Vieh des Reichen gegen Überlassung des Milchertrages übernehmen. Das war eine noch milde Form der Ausbeutung; aber sie installierte und verfestigte im Laufe der Zeit die Institution des Privateigentums in der Gesellschaft und unterwarf vor allem erstmals auch die eigenen Gentilund Stammesgenossen einer solchen Ausbeutung. Der ausbeuterische Charakter der Viehleihe wurde jedoch verhüllt durch den Umstand, daß sie sich unter der Hülle der alten gentilen Hilfe vollzog. Die allmähliche Entwicklung der Ausbeutung und die Heraushebung einer sozialen Oberschicht — beides untrennbar verbunden mit der Untergrabung der Gentilorganisation — mußten trotz der Erhaltung zahlreicher traditioneller Normen und Regeln in der Zulu-Gesellschaft offene Widersprüche erzeugen. Diese Widersprüche entzündeten sich zunächst nicht am Kernpunkt der gesamten gesellschaftlichen Umwälzungen, an der Veränderung der Eigentumsverhältnisse, sondern an anderen Erscheinungen. Der oben erwähnte Mord an Shaka, an dem lediglich Mitglieder der Oberschicht beteiligt waren mit dem Ziel, einer drohenden generellen Ablehnung der neuen Verhältnisse durch einen Wechsel der Personen an der Spitze des Gemeinwesens zuvorzukommen, ist z. B. Ausdruck der ins Bewußtsein der Menschen tretenden gesellschaftlichen Widersprüche. Die allgemeine Ablehnung richtete sich vor allem gegen zweierlei: gegen die permanenten und mit wachsender Entfernung auch immer unglücklicher verlaufenden Kriegszüge mit ihren zahlreichen Lasten und Opfern sowie gegen die despotischen Übergriffe des Königs. Es war ein langer Entwicklungsprozeß, ehe die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen organisierte Formen annahmen und die Einsicht in gesellschaftliche Vorgänge tief genug war, um den Kampf gegen die wirklichen Ursachen aufnehmen zu können. Wichtig war aber in jedem Falle, daß die im Prozeß der Ausbildung einer Klassengesellschaft notwendigerweise auftretenden Widersprüche den Menschen bewußt wurden, ihre Reaktion hervorriefen und somit den Klassenkampf bzw. seine Anfänge bewirkten. Bei den Zulu war jener Punkt erreicht, der die offene Auseinandersetzung zwischen den in der Herausbildung befindlichen Klassen unausweichlich machte. Mit der Zuspitzung dieser Auseinandersetzungen aber wäre bei ihnen — bei ungestörter Entwicklung — die volle Ausbildung des Staates zur gewaltsamen Niederhaltung der bestehenden Widersprüche notwendig geworden. Da aber diese Vorgänge parallel liefen mit der kolonialen Unterwerfung Südafrikas durch Holländer und Engländer, konnten die letzteren mit den unter den Zulu vorhandenen Widersprüchen arbeiten und sie zur beschleunigten kolonialen Eroberung dieses Gemeinwesens nutzen.1 1
Nachdem 1828 Dingaan der Nachfolger Shakas geworden war und zunächst erfolgreich den Abwehrkampf gegen die vordringenden Buren organisierte, ergriff im Jahre 1840 sein
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Will man Entwicklungshöhe und Kausalität im Prozeß der Staatsbildung bestimmen, muß man also mit der Analyse gesellschaftlicher Widersprüche beginnen. Was für den Marxisten eine Selbstverständlichkeit ist, wird in der bürgerlichen Literatur nicht bewältigt. Niemand kann die Tatsache gesellschaftlicher Auseinandersetzungen übersehen; ihre Bewertung ist jedoch an die methodologischen Grundlagen sowie theoretischen Ausgangspunkte gebunden. Die Untersuchung der Staatsentstehung bei den Zulu hat daher in der bürgerlichen Literatur zu einer völlig anderen Beurteilung als in der hier vorliegenden Darstellung geführt. Im ausgehenden 19. und frühen 20. Jh. überwog der Versuch, den grausamen, „unzivilisierten" Charakter der Zulu nachzuweisen. Die dahinter stehende Absicht war nicht schwer zu erkennen. Sie rechtfertigte die koloniale UnterWerfung als einen für die davon Betroffenen geradezu segensreichen Akt, indem sie die Kolonialherren als Friedensbringer deklarierte. Zweifellos hat bei dem Versuch der Zulu, eine Vielzahl kleiner und ehemals unabhängiger Stämme zu einem Gemeinwesen neuer Qualität zusammenzufassen, die Anwendung von Gewalt eine erhebliche Rolle gespielt. Aber dies ist eine weltweite Erscheinung bei Völkern gleicher Entwicklungsstufe gewesen. War während der englischen Kolonialherrschaft das Interesse an historischen Fragen mit der Vorherrschaft der funktionalistischen Schule in den Hintergrund gedrängt worden, ändert sich dies unter den heutigen Bedingungen. Das wiedererwachende Selbstbewußtsein afrikanischer Völker rückt die Beschäftigung mit historischen Fragen stark in den Vordergrund und schließt auch jene Gebiete ein, die heute noch koloniale Verhältnisse aufweisen. Eine Wiederholung der alten Thesen aber verbieten die neuen politischen Gegebenheiten. Es muß also nach neuen Erklärungen gesucht werden. Eine neue Interpretation der Staatsentstehung bei den Zulu ist inzwischen von der Konflikttheorie her, die heute in der bürgerlichen soziologischen Literatur eine große Rolle spielt, vorgetragen worden. Da an dieser Stelle auf die verschiedenen Spielarten, die diese Theorie im einzelnen aufweist, nicht eingegangen werden kann, sei lediglich festgestellt, daß von der Basis einer funktionalistischen Grundanschauung her ihre Verfechter den sozialen Konflikten eine „systemstabilisierende" Funktion zuschreiben.1 Nicht Fortschritt im Sinne der Ausbildung qualitativ höherer Gesellschaftsformationen wird also nach dieser Auffassung im Endergebnis durch gesellschaftliche Auseinandersetzungen bewirkt, sondern Stabilisierung und damit Erhaltung der alten Ordnung. Dabei wird keinerlei qualitative Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten sozialer Widersprüche und Auseinandersetzungen vorgenommen. Der „KonBruder Mpande mit militärischer Hilfe der Buren die Macht und mußte deren Oberhoheit anerkennen. Als später die Engländer den Kampf um die koloniale Eroberung dieses Gebietes aufnahmen, bestachen sie einen hohen Würdenträger der Zulu, so daß ein Teil des Heeres nicht in die entscheidende Schlacht eingriff und demzufolge 1879/80 von ihnen ein vollständiger Sieg errungen werden konnte, i Vgl. M. Gluckman, Order and Rebellion in Tribal Africa. London 1963, 8,112, 217, 219.
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flikt" zwischen Bruder und Schwester rangiert daher auf gleicher Ebene wie der Kampf um die Macht zwischen Angehörigen der sozialen Oberschicht.1 Gegenüber älteren strukturalistisch-funktionalistischen Auffassungen liegt in der Konflikttheorie ein gewisser Fortschritt. Die ältere Betrachtungsweise hatte zu einer statischen Gesellschaftstheorie geführt und konnte die vorhandenen Widersprüche mit ihrer Theorie nicht vereinbaren. Sie klassifizierte sie daher als unnormal und als krankhafte Abweichungen, die meist individuell bedingt gewesen sein sollen. Wenn demgegenüber Vertreter der Konflikttheorie die gesellschaftlichen Widersprüche als „normal incident of the political processes" bezeichnen 2 , dann kommen sie damit der Realität einen Schritt näher. Dieser Schritt wird jedoch sofort wieder fragwürdig, wenn der Konflikt gleichsam zu einem Strukturelement der Gesellschaft gemacht wird und die Zulu infolge ihrer Handhabung sozialer Konflikte zu einem Gesellschaftstyp gezählt werden, in dem zwar Rebellionen, aber keine Revolutionen möglich seien.3 Mit Hilfe der Konflikttheorie ist es also nicht möglich, die historischen Vorgänge, die sich bei den Zulu zu Beginn des 19. Jh. vollzogen, in ihrem Wesen zu erfassen. Das verbietet allein schon die Grundthese, wonach „Konflikte" eine strukturerhaltende Funktion haben können oder überhaupt haben. Von dieser Position aus kann man selbstverständlich den revolutionären Charakter der Umwälzungen bei den Zulu nicht erfassen. Dieser Ausgangspunkt verführt und zwingt dazu, die sekundären Veränderungen (wie z. B. den Personenwechsel in der Auseinandersetzung um die politische Macht) in den Mittelpunkt zu rücken. Auf diese Weise wird die Geschichte zu einer „balance of conflict and collaboration in social systems". 4 In dieser Umsetzung schließt sich die ethnologische Variante der Konflikttheorie direkt an die Grundauffassungen der soziologischen Variante an. Während es in der letzteren das erklärte Ziel ist, Konflikte zu regulieren, zu kanalisieren und zu kontrollieren5, will die erstere als Teil der allgemeinen Geschichtstheorie diese Funktion gesellschaftlicher Konflikte historisch vertiefen und verankern. Mit diesem Versuch ist jedoch die historisch orientierte Konflikttheorie gezwungen, den Geschichtsprozeß außerhalb des qualitativen Wandels von einer Gesellschaftsformation zur anderen darzustellen. Sowenig wie die Qualität bei der Wertung der Konflikte bzw. Widersprüche innerhalb einer gegebenen Gesellschaft beachtet wird6, ebensowenig werden die quali2 i Ebenda, 117, 131. Ebenda, 48. :i 4 Ebenda, 8. Ebenda, 49. r > R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit. München 1961, 110. 6 Vgl. z. B. R. Dahrendorf (a. a. 0., 202), der meint: „Wenn zwei Bewerber sich um eine Position bemühen, liegt also ebenso ein Konflikt vor, wie wenn zwei Parteien an die Macht streben, zwei Arbeitsmarktpartner um die Verteilung der Profite ringen, zwei Mannschaften um die Meisterschaft spielen, zwei kriminelle Gangs sich ein Terrain streitig machen, zwei Nationen einander auf dem Schlachtfeld begegnen, zwei Personen einander nicht ertragen können . . ."
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tativen Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaftsformationen berücksichtigt. So kann man am Ende den gesellschaftlichen Widersprüchen ihre Funktion als vorwärtstreibendes Element der historischen Entwicklung absprechen und sie in das jeweils gegebene gesellschaftliche System als zugehörigen Strukturbestandteil einordnen. Für die Staatsentstehung heißt dies, die neue Qualität gesellschaftlicher Beziehungen, wie sie sich in der Ausbildung einer Klassengesellschaft dokumentiert, völlig zu eliminieren und statt dessen die dabei empirisch feststellbaren gesellschaftlichen Widersprüche einer zeitund qualitätslosen Kategorie des „Konfliktes" zuzuordnen. Vom Standpunkt der marxistisch-leninistischen Theorie ist das hier vorgestellte Beispiel der Zulu für den Prozeß des Überganges von der Urgesellschaft zum Staat in folgenden Punkten von allgemeinem Interesse: 1. Voraussetzung für den bei den Zulu feststellbaren Prozeß des Übergangs von der Urgemeinschaftsordnung zum Staat war ein relativ konstant erzeugbares Mehrprodukt, das die soziale Differenzierung im Innern ihres Gemeinwesens erlaubte, die weitgehende Freistellung einer Anzahl von Kriegern von der unmittelbaren Produktion ermöglichte und angesichts einer ähnlichen Entwicklung der Produktivität der Arbeit bei den Nachbarstämmen den nahezu permanenten Krieg im wahren Sinne des Wortes zum Erwerbszweig werden ließ. 2. Der offene Kampf um die Verteilung des gesellschaftlichen Mehrproduktes setzte zuerst zwischen den verschiedenen Gemeinwesen ein. Da die Aneignung des Mehrproduktes auf dem Wege des Raubkrieges vor allem in den Anfangsphasen noch eine Bereicherung für mehr oder weniger alle Stammesmitglieder erbrachte oder zumindest die Möglichkeit dafür zu eröffnen schien, wurden die Kriege zunächst mit voller Billigung der Allgemeinheit geführt, wurden die gesellschaftlichen Institutionen den Bedingungen des Krieges angepaßt. 3. Die Geschichte des Zulu-Gemeinwesens zeigte sehr deutlich, daß die Aneignung des Mehrproduktes vorwiegend auf der Basis des Raubkrieges keine ausreichende Grundlage für die Herausbildung eines stabilen Staates war und sein konnte. Die Ursache für die im Laufe der Zeit mehr und mehr unglücklich verlaufenden Kriegszüge bestand in der Tatsache, daß es in der näheren Nachbarschaft nichts mehr zu rauben gab. Wenn die neue und noch junge soziale Oberschicht ihre bevorrechtete wirtschaftliche Position behaupten wollte, ging dies nur über die verstärkte Ausbeutung des eigenen Volkes. 4. Die qualitativen Veränderungen in den Institutionen und den Eigentumsverhältnissen wurden der breiten Masse der Stammesgenossen erst in einem späteren Stadium der Entwicklung bewußt. Im Falle der Zulu geschah dies, als sich bei ihrem König despotische Züge zeigten und die Kriegszüge anfingen, einen unglücklichen Verlauf zu nehmen. Inzwischen waren jedoch die neuen politischen Machtverhältnisse so fest verankert, daß es zu keiner Wiederherstellung der ursprünglichen Verhältnisse kommen, konnte, sondern lediglich zu einem Wechsel der Personen in der Führung des Gemeinwesens. Der Abbau 10
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der demokratischen Institutionen der Gentil- bzw. Stammesverfassung beraubte die Masse der Mitglieder des Gemeinwesens der Möglichkeit, ihren Willen durchzusetzen. 5. Damit war jedoch noch keineswegs eine völlige Unterwerfung der Masse der Stammesmitglieder unter den Willen der sich herausbildenden herrschenden Klasse gegeben. Noch hatten die ersteren uneingeschränkten Zugang zum Grund und Boden, und noch befand sich die Produktion sowohl der Organisation als auch der Verwertung nach zum großen Teil in ihren Händen. Aus diesem Grunde mußte auch die Politik in der Führung des Gemeinwesens auf die öffentliche Meinung Bücksicht nehmen. Deshalb wurden die Volksmassen — auch bei unausgereiften Klassenverhältnissen - zu aktiven Mitgestaltern der neuen politischen Verhältnisse. 6. Die Ausbildung von Klassen- und Ausbeutüngsverhältnissen im Übergang von der Urgemeinschaftsordnung zum Staat stellte die davon Betroffenen vor gänzlich neue Probleme. Mangelnde Erfahrungen, oft unter der Hülie traditioneller Formen verborgene neue Qualitäten und nicht zuletzt der mit der Staatsbildung zunächst objektiv vorhandene Fortschritt verhinderten den offenen Ausbruch gesellschaftlicher Widersprüche. Auch der Klassenkampf hat eine Geschichte gehabt; er eröffnete von Stufe zu Stufe neue Möglichkeiten und führte dabei die Volksmassen schrittweise zu neuen Erkenntnissen.
Auflösungserscheinungen gentilgesellschaftlicher Produktionsverhältnisse bei den germanischen Stämmen in den Jahrhunderten um die Zeitenwende von
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(Berlin)
Die ackerbauende Betriebsweise stellte nach K. Marx im Rahmen der Entwicklung der Produktion die letzte Produktionsstufe des Stammeseigentums, also der noch klassenlosen Gentilgesellschaft mit speziellen Formen des Gemeineigentums der naturwüchsigen Stammesgemeinschaft, dar t. In ihr entwickelte sich die Ackerbaugemeinde mit ihren spezifischen Gemeineigentumsverhältnissen an Grund und Boden sowie Haus und Hof bei gleichzeitiger Auflösung der alten Blutverwandtschaftsverhältnisse und Entwicklung neuer, das Privateigentum fördernder Bedingungen durch Fortschritt in der Produktion. Sie stellt damit eine Übergangsphase zur Klassengesellschaft dar, die auf dem Privateigentum beruht. Sie hob das Gemeineigentum an Grund und Boden auf und sprengte gleichzeitig die Gentilgemeinde und den Stamm als Organisationsformen der gentil- bzw. frühgeschichtlichen Entwicklungsphase. In der politischsozialen Struktur entwickelte und festigte sich die militärische Demokratie als Herrschaftsform, die in die Klassengesellschaft überleitet 2 . Die Klärung der Entwicklungsverhältnisse in der Auflösungsphase der Gentilgesellschaft muß demnach von den Formen des Eigentums bzw. von der Realisierung der gemeineigentümlichen Grundverhältnisse und ihrer Veränderung, von der Teilung der Arbeit entsprechend der Entwicklungsstufe der Produktion und von der sich davon ableitenden gesellschaftlichen Gliederung mit ihren Strukturen und Funktionen ausgehen; das heißt, es müssen diejenigen Faktoren des gesellschaftlichen Lebens erfaßt, analysiert und hinsichtlich ihrer Wirkung bestimmt werden, die in der militärdemokratischen Gesellschaft zur Auflösung der gentilen Stammesgesellschaft und damit zur frühfeudalen Gesellschaft führten. Das gegenwärtig vorliegende Quellenmaterial der in Frage kommenden Wissenschaftsdisziplinen bietet trotz seines zahlenmäßig nicht geringen Umfanges zur Lösung der vorstehend genannten Aufgabenstellung nicht nur unterschiedliche Ausgangspunkte, sondern ist auch hinsichtlich seines vordergründigen 1 2
K. Marz, Brief an V. I. Sassulitsch. In: Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 387. R. Günther, Herausbildung und Systemcharakter der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 17 (1969), 198.
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Aussagewertes so unterschiedlich gruppiert, daß Aussagen zu Eigentumsverhältnissen, zur Produktion, zur sozialen Gliederung und gesellschaftlichen Differenzierung zunächst durchgängig nicht möglich sind. Dieser Tatbestand darf u. a. auch auf die jeweilige Forschungsintensität im Bereich der Forschungsinstitutionen sowie auf die bisherige Auswahl der Grabungsobjekte zurückgeführt werden. Insbesondere trifft das für die spezielle Siedlungsforschung zu, deren Forschungsgegenstand vorrangig geeignet ist, zu Fragen der Produktion der materiellen Güter, zum Entwicklungsstand der Produktivkräfte, zur jeweils herrschenden Produktionsweise und den in ihr enthaltenen Produktionsverhältnissen mit ihren Eigentumsformen und den sich daraus ergebenden sozialen Differenzierungen Auskunft zu geben. Trotz dieser stark forschungsgeschichtlich bedingten unterschiedlichen Ausgangsposition für die Klärung des Zerfalls der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse stehen aber bereits genügend aussagefähige Quellen zur Verfügung, um Erscheinungsformen des beginnenden Zerfalls der Gentilgesellschaft auch bei den germanischen Stämmen auf dem späteren deutschen Gebiet naoh ihrem historischen Ablauf für die Jahrhunderte um den Beginn unserer Zeitrechnung zu ordnen und zu charakterisieren. Das mit Hilfe der archäologischen Quellen gegenwärtig nachweisbare Siedlungsbild blieb hinsichtlich seiner äußeren, auf die Gesamtverbreitung bezogenen Grenzen in der vorrömischen Eisenzeit lange konstant. Erst in der jüngeren Phase dieses Zeitabschnittes der germanischen Entwicklung und in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung wird dieses Siedlungsgebiet wesentlich erweitert, in einer Zeit also, in der sich nach dem gegenwärtigen Forschungsstand der sozialökonomische Umbruch im Rahmen der noch gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse vollzieht. Es zeigt sich weiterhin, daß das Gesamtsiedlungsbild vor allem in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung durch häufig naturräumlich begrenzte Siedlungskonzentrationen charakterisiert wird, deren Ausdehnung Forschungsgegenstand für die Frage nach der hier eventuell zugrunde liegenden politischen Gliederung war und gegenwärtig verstärkt ist. 1 Wieweit innerhalb solch begrenzter Siedlungsareale bei Außerachtlassung von in ihnen liegenden Siedlungskernen eine Siedlungsstetigkeit einerseits und eine Erweiterung derselben andererseits bei eventuell gleichzeitiger Assimilierung bzw. Überschichtung von Nachbarsiedlungsgebieten, die den sozialökonomischen und letztlich auch politischen Entwicklungsgang widerspiegeln, 1
Caesar, Bell. gall. 6, 23: „Es gilt für die Stämme als höchster Ruhm, möglichst weite Landstriche in ihrem Umkreis zu verwüsten und dort Ödland zu haben. Sie halten es für einen Beweis von Tapferkeit, wenn die Nachbarn, aus ihrem Land vertrieben, das Feld räumen und niemand wagt, sich in der Nähe anzusiedeln." — Tacitus, Germ. 40: „Dann folgen die Reudigner, Avionen, Anglier, Varianen, Eudosen, Suardonen und Nuithonen, die durch Flüsse und Wälder geschützt sind."
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nachgewiesen werden können, ist nach wie vor ein methodisches Problem. Seine Lösung würde aber Möglichkeiten für eine ausführlichere Beantwortung der Fragen nach den überregionalen Beziehungen zwischen den in diesen Siedlungsgebieten lebenden Bevölkerungsgruppen (eventuell Stammesgebieten?) bieten. Die Frage, ob sich eine ökonomisch unterschiedliche und sozial differenzierte Entwicklung vor allem in der Anfangsphase des sozialökonomischen Umbruchs in einzelnen Siedlungskomplexen immer zeigen muß, darf bereits jetzt dahingehend beantwortet werden, daß sie sich hier ausdrücken kann, wobei ihre Wirkung zunächst wohl nur im Rahmen mehrerer Siedlungsgruppen zum Ausdruck gekommen sein wird. Häufig ist in diesem Zusammenhang auf die nachgewiesene Kurzlebigkeit und die damit zusammenhängende Verlagerung von germanischen Siedlungen aufmerksam gemacht worden, die einer sozialen Schichtung und der sich daraus entwickelnden Klassenbildung keine Basis geboten haben 1 . Geht man jedoch vom jeweiligen Stand der Produktivkräfte und der herrschenden Produktionsverhältnisse aus, in denen sie wirkten, dann handelt es sich auch hier gleichermaßen um eine Ausdrucksform dieses Entwicklungsstandes, dem Veränderungen der sozialökonomischen Basis im Sinne des Themas zugrunde gelegen haben. Sowohl für das letzte Jahrhundert v. u. Z. als auch für den unmittelbar darauf folgenden Zeitabschnitt sind durch Ausgrabungen insbesondere im weiteren Nord- und Ostseeküstengebiet relativ kleine Siedlungen freigelegt worden — es handelt sich in der Regel um Einzelhöfe bzw. Hofgruppen von Weilerform —, die hinsichtlich der zu erschließenden Größe der Besitzverhältnisse keine gliedernden Merkmale für bereits vorhanden gewesene soziale Unterschiede aufzuweisen hatten. 2 Der Entwicklungsstand der bäuerlichen Produktion läßt in den Bewohnern solcher Siedlungen Bevölkerungsgruppen vermuten, die in der Gesamtstruktur des gesellschaftlichen Lebens noch die Gentilgesellschaft voll repräsentierten, in der die Arbeitsteilung und der Austausch im Innern gegenüber der ursprünglichen, das heißt natürlichen, Arbeitsteilung noch nicht faßbar gesellschaftsverändernd wirkten. Wieweit dieses ¿ahlenmäßig geringe Quellenmaterial, das für das spezielle Siedlungswesen jenes Zeitabschnittes vorliegt, als repräsentativ angesehen werden kann, muß vor allem bei alleiniger Berücksichtigung der Siedlungsfunde nach wie vor offenbleiben. Die Größe der in diesen Siedlungen tätigen Produktionskollektive kann nuv indirekt erschlossen und mit Wahrscheinlichkeitszahlen angegeben werden, zumal auch Unterstützungswerte hierzu durch Zahlen aus den zugehörigen Bestattungsplätzen nicht gegeben sind, weil bisher die geschlossene Unter1
2
G. Kossack, Zur Frage der Dauer germanischer Siedlungen in der römischen Kaiserzeit. Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 91 (1966), 29. Durch Caesar, Bell. gall. 6, 22—23, wissen wir, daß z. B. bei den Sueben das Land auch in den von ihnen eingenommenen gallischen Gebieten nach der Gentilverfassung aufgeteilt wurde und sie nach gentibua cognationibusgue organisiert waren.
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suchung von Siedlung und dazugehörigem Gräberfeld noch aussteht.1 Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß in den einzelnen Hof- und Siedlungskomplexen Familien lebten, die als ökonomische Einheit, in lockeren Hofverbänden organisiert, einen nicht unbedeutenden Faktor bei der Auflösung des Gemeineigentums und der Tendenz zur Entstehung von Privateigentum an Grund und Boden dargestellt haben. Viehzucht und Ackerbau waren die Hauptproduktionszweige der wirtschaftlichen Basis. Obwohl eine Rangfolge, auf den einzelnen Siedlungsplatz bezogen, wegen der jeweils örtlichen Bedingungen kaum mit Sicherheit aufgestellt werden kann, darf doch bei Berücksichtigung der allgemeinen Wirtschaftssituation der Viehhaltung und Viehzucht das Primat eingeräumt werden. Spezielle Betriebsformen für den Ackerbau sind auch bis heute nicht bekannt. Es ist aber anzunehmen, daß innerhalb der für diese Zeit noch vorauszusetzenden Feld-Gras-Wirtschaft ein Wechsel von Anbau und Brache vorgenommen wurde, der nicht mit der späteren Dreifelderwirtschaft verglichen werden kann. Das schloß die ständige Bindung des Besitzers an eine bestimmte Flur zwar nicht aus, sie erschwerte sie aber noch insofern, als zeitweilig zunächst nur ein vorübergehender Besitz an bestimmten Ackerfluren-möglich war. Die Frage nach der Größe der Siedlungen wird indirekt auch durch die Größe der Gräberfelder aus dieser Zeit beantwortet. Sie spiegeln für das letzte Jahrhundert v. u. Z. und für das 1. Jh. u. Z. für weite germanische Siedlungsgebiete kleinere Siedlungen wider und geben von ihrem Quellenbestand her auch nur wenige Hinweise auf einen bereits faßbaren sozialen Differenzierungsprozeß. Mit dem stärkeren Auftreten von Waffengräbern seit dem letzten Jahrhundert v. u. Z. kommen neue Elemente in den Bereich der Deutungspflicht, deren Erscheinungsursachen vor allem in dieser Phase der gesellschaftlichen Entwicklung nicht allein unter dem Aspekt einer beginnenden Veränderung im Beigabenritus zu sehen sind. Sie setzen in dieser Zeit ein und sind insbesondere in Skandinavien und im norddeutschen Gebiet, hier vor allem im Elberaum, verstärkt nachzuweisen.2 Ein eventuell ritualer Ausgangspunkt ' Auf die methodische Seite der Klärung solcher Fragen auf der Grundlage der durch die Körperbestattung bedingten vollständig erhaltenen Skelette bzw. auswertbaren Skeletteile hat H . Ullrich, Interpretation morphologisch-metrischer Ähnlichkeiten an ur- und frühgeschichtlichen Skeletten in verwandtschaftlicher Hinsicht. Zeitschrift für Archäologie
3 (1969), 48, neuerdings ausführlich hingewiesen. „Derartige
werden
Untersuchungen
zugleich die Möglichkeit geben, in bisher unerforschte Gebiete vorzudringen,
deren Erschließung für den Anthropologen und Prähistoriker gleichermaßen von Interesse und Bedeutung ist." 2
M. Jahn, Zur Bewaffnung der Germanen in der älteren Eisenzeit. Mannus-Bibliothek 16 (1916), 6 hat bereits auf diesen Tatbestand aufmerksam gemacht. „Mit dem Beginn der Spätlatenezeit setzen die reichen WafFenfunde in den germanischen Gräberfeldern ein. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Perioden steht uns mit einem Schlage ein erdrückendes Material zur Verfügung." S. auch T. Capelle, Studien über elbgermanische Gräberfelder in der ausgehenden Latenezeit und der älteren römischen Kaiserzeit. Hildesheim 1971.
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für die Waffenbeigabe in den Gräbern wird demnach vordergründig kaum in Betracht kommen. Bemerkenswert ist, daß dagegen sowohl im thüringischen Raum als auch im Gebiet zwischen Niederrhein und Mittelweser bisher nur wenig Waffengräber nachgewiesen sind, die in diese Zeit gehören.1 Zu den Waffengräbern gesellen sich in ihrem Hauptverbreitungsgebiet seit der jüngeren vorrömischen Eisenzeit auch einige zum Teil reich ausgestattete Wagengräber2, in denen sehr wahrscheinlich besondere Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens bestattet worden sind. Dem steht scheinbar die vereinzelt geäußerte Ansicht entgegen, daß sich, ausgehend von den Waffengräbern in der Elbemündung zu Beginn unserer Zeitrechnung Schwierigkeiten ergeben, mit Hilfe der Waffenbeigaben soziale Differenzierungen zu erkennen. Um von diesen zunächst an der Oberfläche des geschichtlichen Verlaufes zu beobachtenden Fakten und äußeren Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Lebens zu den ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten des geschichtlichen Prozesses vorzustoßen, ist es aber unabdingbar, bei der Erklärung und Koordinierung von den hinter ihnen zunächst verborgenen Prozessen auszugehen. Dazu gehört auch die Frage, ob die gesellschaftliche Entwicklung in dieser Zeit bereits so weit fortgeschritten war, daß Erscheinungsformen der sozialen Differenzierungen auch im Bereich der Bestattungen und der zu ihnen gehörenden Beigabenformen, hier insbesondere auf die unvermittelt stark auftretende Sitte der Waffenbeigaben bezogen, relevant sind. Es ist vor allem das letzte Jahrhundert v. u. Z., das durch stärkere Verlagerungen der Siedlungen auch mit dem Charakter von Wanderungen gekennzeichnet ist. „Diese Auszüge der Germanen", schrieb schon F. Engels 3 , „bilden den ersten Akt jener Völkerwanderung, die, dreihundert Jahre lang durch römischen Widerstand aufgehalten, gegen Ende des dritten Jahrhunderts unwiderstehlich über die beiden Grenzströme brach, Süd- und Nordeuropa überflutete und erst mit der Eroberung Italiens durch die Langobarden 568 ihr Ende erreichte . . . Es waren buchstäblich Wanderungen von Völkern. Ganze Volksstämme oder doch starke Bruchteile derselben machten sich auf die Reise, mit Weib und Kind, mit Hab und Gut." Wenngleich die uns überlieferten Zahlenangaben, die vereinzelt auf Wandergruppen in einer Stärke von mehreren einhunderttausend Menschen hinweisen, 1
2
3
Für den Raum zwischen Niederrhein und mittlerer Weser ist durch die Arbeit von K. Wilhelmi, Beiträge zur einheimischen Kultur der jüngeren vorrömischen Eisen- und der älteren römischen Kaiserzeit zwischen Niederrhein und Mittelweser. Bodenaltertümer Westfalens 11 (1967), 55—59, auf die geringe Waffenbeigabe in den Gräbern aus der Zeit vom letzten Jahrhundert v. u. Z. bis zum Ende des 2. Jh. u. Z. hingewiesen worden. Siehe hierzu auch R. Hachmann, Zur Gesellschaftsordnung der Germanen um Christi Geburt. Archaeologia Geographica 5 (1956), 7—24. K . Raddatz, Das Wagengrab der jüngeren vorrömischen Eisenzeit von Husby, Kr. Flensburg. Neumünster 1967, 44. F. Engels, Zur Urgeschichte der Deutschen. In: Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 430.
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sehr kritisch zu beurteilen sind, geben sie doch zunächst einmal Anhaltspunkte, deren Überprüfung vor allem auch vom Siedlungsgebiet, das Ausgang für die Wanderungen war, und von der politischen Situation her gesehen, die z. B. auch die Organisation eines solchen Vorganges betrifft, Einblick in den Gesamtvorgang geben kann. Leider ist es bis heute nicht bzw. nur in Ansätzen gelungen, vom archäologischen Quellenmaterial her gesehen, Ausgangsgebiete von Wanderungen für diesen Zeitabschnitt nachzuweisen. Die Ursachen hierfür mögen einerseits in der Spezifik des archäologischen Quellenmaterials, zum anderen aber auch in der Ungewißheit über das Verhältnis von ursprünglicher Bevölkerungszahl und der der abgewanderten Gruppen liegen. Auf den Gesamtprozeß der Wanderungen bezogen kann aber festgestellt werden, daß ethnisch indifferente Ursachen und Gründe für solche historischen Erscheinungen vorgelegen haben müssen, deren Wirkungsgrad der jeweiligen historischen Situation entsprechend verschiedenartig gewesen ist. Demzufolge ist der Begriff „Völkerwanderungszeit", jetzt speziell auf den europäischen Raum bezogen, mehr und mehr zu einer chronologischen Angelegenheit geworden, der ihr Wesen mit allen erforderlichen Merkmalen des gesamten Entwicklungsprozesses im Sinne von Periodisierungsfixpunkten der gesellschaftlichen Entwicklung nicht entspricht. Erst die Frage, ob die Wanderungen, von ihrer zunächst einheitlichen Bestimmung her gesehen, auch einheitliche Ursachen und Anlässe hatten oder ob ihnen bei Berücksichtigung der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse verschiedenartige Anlässe, aber nicht auch Ziele zugrunde lagen, wird der Gesamtproblematik gerecht. Allgemeine Vermutungen, wie etwa Landmangel und damit verbundene Ernährungsschwierigkeiten, Hinweise auf die angeblich besondere kriegerische Veranlagung der Germanen, die häufig auf entsprechende Nachrichten der antiken Geschichtsschreibung zurückgehen, oder aber auch die gedanklich hier eng anschließenden Äußerungen über die Verdrängung von schwächeren Bevölkerungsgruppen durch stärkere, die sogenannte Theorie der Wanderungswelle, werden nur wenig weiterhelfen und nicht zur endgültigen Klärung dieses Prozesses führen. Die beiden letzten ¡Jahrhunderte vor Beginn unserer Zeitrechnung sind u. a. für die germanische Geschichte dadurch gekennzeichnet, daß sowohl Kimbern und Teutonen, Wandalen und Langobarden als auch Goten und Burgunden sowie Elbgermanen ursprüngliche Siedlungsgebiete verlassen. Hinzu kommt eine Ausdehnung des allgemeinen germanischen Siedlungsgebietes nach Süden in den böhmischen Baum hinein, des weiteren die Besiedlung der Wetterau und der Nachweis von Resten germanischer Provenienz auf dem Balkan. Diese, den wesentlichsten Bestandteil darstellenden Wanderungsprozesse unmittelbar vor Beginn unserer Zeitrechnung gehen in ihrer Mehrzahl von den Nord- und Ostseeküstengebieten aus und werden, durch schriftliche Quellen direkt bzw. indirekt belegt, auf wirtschaftliche Ursachen im Sinne immer größer werdender Schwierigkeiten bei der Beschaffung der notwendigen Unterhaltungsmöglichkeiten für die Bevölkerung zurückgeführt.
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So werden vor allem Naturkatastrophen wie Sturmfluten und Meeresspiegeltransgressionen als Ursachen für die Verschlechterung der Lebensbedingungen erwähnt die nicht nur eine Verringerung des Lebensraumes zur Folge hatten, sondern auch zur Verarmung bestimmter Ackergebiete führten, so daß die notwendige Ertragshöhe in Anbetracht der extensiven landwirtschaftlichen Tätigkeit für die Ernährung nicht mehr gesichert war. Die Verschlechterung der naturräumlichen Lebensbedingungen im weiträumigen Küstengebiet — wieweit eine solche auch das Binnenland betroffen hat, bedarf noch der näheren Untersuchung — ist für diese Entwicklungsphase sicher mit eine Hauptursache gewesen, das Land zu verlassen. Die Schilderung der Wanderzüge und die wenigen Hinweise auf den Losentscheid 2 , der zur Auswanderung bestimmter Bevölkerungsteile angewendet wurde, werden aus diesen Bedingungen erklärlich und führen zu der Gesamteinschätzung, daß es sich hier primär nicht um Eroberungszüge mit dem Ziel der Unterdrückung und des Raubes gehandelt haben kann. Weder das archäologische Quellenmaterial noch die schriftliche Überlieferung lassen, von der sozialökonomischen Seite her gesehen, gegenwärtig eine stichhaltige andere Begründung als möglich erscheinen. Daß zumindest die Sueben noch um diese Zeit gemeinsamen Landbau betrieben, ohne bereits Privateigentum oder Sondereigentum an Grund und .Boden zu besitzen, ist durch Caesars Germanenexkurs belegt. Desgleichen ist durch ihn überliefert, daß der Besitz des einzelnen dem der mächtigsten gleicht. Im Rahmen der noch gentilgesellschaftlichen Verfassung, die in dieser Phase bereits der der militärischen Demokratie entsprach, war neben dem Rat der Vorsteher noch die Volksversammlung existent, an deren Spitze der Stammesvorsteher stand. Wir werden sowohl Ariovist als auch Marbod in dieser Funktion zu beurteilen, gleichzeitig damit jedoch zu fragen haben, wieweit ihre Tätigkeit auch im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben bei der Organisation der Wande1
Strabo 2, 102 c berichtet, daß Foseidonius die Auswanderung der Kimbern und der mit ihnen verwandten Völker auf eine Meeresflut zurückführt, die nicht auf einmal erfolgte. Strabo selbst (7, 292 f.) wollte in dieser Erscheinung den Gezeitenwechsel sehen, der seiner Meinung nach nicht zur Abwanderung gezwungen hat. Auch Florus 1, 38, 1 (aus Livius) führt die Abwanderung der Kimbern, Teutonen und Tigurner auf Überschwemmungen zurück, die jene zur Suche nach neuen Wohngebieten veranlaßten. Paulus Festus gibt u. a. als Grund der Einwanderung germanischer Bevölkerungsteile in Gallien ebenfalls Überschwemmungen in deren Heimatgebiet an. Nach Plutarch, Marius 2, war es die Landnot — die sicher mit der naturbedingten Verschlechterung der Lebensmöglichkeiten zu erklären ist —, die zur Auswanderung zwang. Siehe hierzu auch die Zusammenstellung entsprechender Nachrichten bei W. Capelle, Das alte Germanien. Die Nachrichten der griechischen und römischen Schriftsteller. Jena 1937, 19—142.
2
Für die Winniler berichtet Paulus Diaconus in seiner Langobardengeschichte (1, 2—3), daß ein Drittel durch Losentscheid das Land verlassen hat. Auch die Auswanderung der Goten ist nach der Gutasage durch Losentscheid vollzogen worden (s. B. Nerman, Die Völkerwanderungszeit Gotlands. Stockholm 1935, 129).
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rungen 1 und den damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen zur Auflösung der noch bestehenden gentilen Gesellschaftsverhältnisse beigetragen hat. Auch die überlieferte territorial-politische Gliederung der Sueben in Gaue, aus denen jährlich 1000 Mann für das Heer zu stellen waren, entsprach dem Stand der gesellschaftlichen Entwicklung, in der die Stämme ein sich selbst schützendes „Volk in Waffen" waren. Bei Berücksichtigung aller bisher bekannten Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Entwicklung dieser Zeit ist der Ansicht von H. Mottek 2 zuzustimmen, der in seiner Wirtschaftsgeschichte Deutschlands die Landnahme des Ariovist als Volkskrieg einschätzt, der nicht primär mit dem Ziel des Raubes und der Unterdrückung geführt wurde. Auch das unvermittelte Auftreten von Waffenbeigaben in den Gräbern eben in dieser Zeit weist auf indirekte Zusammenhänge mit den vorstehend geschilderten gesellschaftlichen Verhältnissen hin und kann letztlich nur aus ihnen erklärt werden, zumal keine Veränderungen im allgemeinen Bestattungsritus, sondern nur in der Sitte der Grabbeigaben zu beobachten sind. Damit würde sich auch die geäußerte Schwierigkeit erklären, mit Hilfe der Waffenbeigaben aus dieser und der unmittelbar darauf folgenden Zeit gut erkennbare soziale Differenzierungen nachweisen zu können. i Im engen Zusammenhang mit den größeren Verlagerungen von Bevölkerungsgruppen stehen die sogenannten binnenkolonisatorischen Vorgänge, die sich in den Gebieten von Dänemark, Schleswig-Holstein und Nordmecklenburg dadurch auszeichnen, daß ebenfalls noch im letzten Jahrhundert v. u. Z. eine stärkere Inbesitznahme schwererer Böden zu beobachten ist 3 . Es darf als sicher gelten, daß die weiter entwickelten Produktivkräfte, insbesondere die verstärkte Anwendung des Bodenwendepfluges seit Beginn unserer Zeitrechnung, die Verbesserung der Produktionsinstrumente für die Rodungstätigkeit — in engem Zusammenhang mit der erweiterten Erzverhüttung und Eisenverarbeitung stehend — und der sich daraus ergebende Landesausbau, die Hauptursachen für diese Vorgänge darstellten. Am Beispiel der Besiedlungsvorgänge im ostschleswigholsteinischen Jungmoränengebiet sahen westdeutsche Forscher in den letzten Jahren ebenfalls Möglichkeiten für soziale Überschichtungsvorgänge. Danach sei die dort ansässig gebliebene Bevölkerung mit vorwiegender Viehzucht nicht nur zu größerem Reichtum gekommen, sondern sie könnte gegenüber der stärker Ackerbau treibenden Bevölkerung im westlich anschließenden und den schlechteren Boden darstellenden Gebiet der Altmoräne auch hinsichtlich ihrer sozialen 1
Im Wanderaufgebot des Ariovist erwähnt Caesar (Bell. gall. 1, 51) Sueben, Haruder, Markomannen, Triboker, Vangionen, Nemeter und Eudusen.
^ H . Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands Bd. 1. Berlin 1968, 49f. 3
H . Jankuhn, Vor- und Frühgeschichte vom Neolithikum bis zur Völkerwanderungszeit. Deutsche Agrargeschichte Bd. 1, Stuttgart 1969, 179.
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Stellung im Zuge der Siedlungsverlagerungen dieser Bevölkerungsteile eine Art Primat erlangt haben. 1 Trotz Berücksichtigung des unterschiedlichen Forschungsstandes werden in diesen Küsten- und küstennahen Landesteilen bereits in dieser Zeit Erscheinungsformen faßbar, die auf den Auflösungsprozeß der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse hinweisen. Im Rahmen des speziellen Siedlungswesens ist insbesondere der erste Nachweis von befestigten Siedlungen mit Burgcharakter in eben diesen Jungmoränengebieten (Borremose und Borrebjerg) bemerkenswert. Wenngleich es gegenwärtig noch nicht möglich ist, über die speziellen Bedingungen für die Anlage solcher Plätze Aussagen zu machen, dürfen sie doch ganz allgemein als ein Ausdruck der Siedlungsverlagerungen und der damit vorauszusetzenden Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen angesehen werden. Zu den wenigen befestigten Siedlungen dieser Zeit gehört auch die Anlage von Sievern, Kr. Wesermünde. Auch ihre Entstehungsursache ist im Rahmen der Besiedlung der Marschgebiete etwa seit dem Beginn unserer Zeitrechnung zu suchen. Bei der großen Gleichförmigkeit der Siedlungen hinsichtlich vorhandener Erschließungsmerkmale für eine bereits existierende soziale Differenzierung gewinnen solche Erscheinungen für die Darstellung der Entwicklungsbedingungen an Bedeutung; dazu gehört auch die bei Mariesminde in Norddänemark festgestellte Häusergruppierung im Rahmen der unmittelbar zu Beginn unserer Zeitrechnung angelegten Siedlung, in der nach R. Hachmann 2 wegen der fehlenden Stallteile wahrscheinlich sozial minderbemittelte Bevölkerungsteile lebten, deren soziales Verhältnis nur ganz allgemein und im Sinne einer Abhängigkeit von den anderen Bewohnern der Siedlung angenommen werden kann. Für die Auflösung der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ist die Veränderung der Eigentumsverhältnisse von ausschlaggebender Bedeutung. Der Nachweis von Sonderbesitz oder Sondereigentum am Hauptproduktionsmittel dieser Zeit gehört aber zu den methodisch schwierigsten Problemen, so daß z. B. unter anderem auch die in der Siedlung von Skörbaeck Hede durch die Ausgrabungen von G. Hatt 3 festgestellten, den jeweiligen Acker umgebenden Ackerraine zwar Privatbesitz von Grund und Boden andeuten, aber beweiskräftig allein noch nicht belegen können. Andererseits ist es durchaus möglich, daß diese vom archäologischen Material her zu fassende Entwicklung einen Beleg für die spätere Tacitusübermittlung (Germ. 26) darstellt, nach der die Ackerfläche nach Rang und Ansehen des einzelnen über längere Zeit aufgeteilt wurde. Bei Berücksichtigung aller Erscheinungsformen der sozialen Aufgliederung der Gesellschaft sind hier ebenfalls Ansatzpunkte gegeben, deren 1
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H. Jankuhn, Klima, Besiedlung und Wirtschaft im westlichen Ostseebecken. Archaeologia Geographica 3 (1952), 31—33; ders., ebenda, 134f., 179f.; R. Hachmann, ebenda, 11. R. Hachmann, ebenda, 12. G. Hatt, Jernalders Bopladser i Himmerland. In: Aarbeger 1938 119—165.
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weitere Klärung für den Entwicklungsprozeß von Wichtigkeit ist; denn je tiefer die alte Gemeinschaft des Bodenbesitzes untergraben wird, desto rascher treibt bei gleichzeitiger Verdrängung der naturwüchsigen Arbeitsteilung das Gemeinwesen seiner Auflösung in ein Dorf von Parzellenbauern entgegen Zu diesen Erscheinungsformen gehört im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung auch die etwa seit Beginn unserer Zeitrechnung einsetzende handwerkliche Differenzierung. Wenngleich noch für weite Gebiete in der Eisenproduktion ein „dörfliches Handwerk" vorauszusetzen ist, das für den örtlichen Bedarf produzierte2, weisen die Untersuchungen von H. Hingst 3 für das Küstengebiet nicht nur auf eine bereits saisonweise Verhüttung von Eisenerz in den Gebieten der Erzvorkommen hin, sondern sie zeigen andererseits auch, daß Bevölkerungsteile über längere Zeit hinaus außerhalb der landwirtschaftlichen Produktion tätig gewesen sind. Dafür spricht auch der Nachweis von spezifischen Gräberfeldern in den erzführenden bzw. Verhüttungsgebieten sowie die wahrscheinlich eng auf die Tätigkeit bezogene Sitte der Schlackenbeigabe in den Gräbern.4 Es sei vorausgeschickt, daß größere, sicher auch für den überregionalen Bedarf produzierende Verhüttungszentren erst im Verlaufe der Kaiserzeit, wie insbesondere in Südpolen, entstehen und damit eine weitere Spezialisierung und Arbeitsteilung belegen. Leider fehlt es immer noch an genügenden Quellen für die Stellung des Schmiedes im Rahmen der allgemeinen Produktion und im Sozialgefüge der Gesellschaft. Die nachgewiesenen Eisengegenstände setzen zwar eine Schmiedetätigkeit voraus, sie geben aber erst im Verlaufe der Kaiserzeit darüber hinaus Hinweise für eine Spezialisierung und soziale Beurteilung dieser Produzenten. Haus- und Schiffbau sowie die anderweitige Verarbeitung des Rohmaterials Holz deuten ebenfalls auf eine Spezialisierung im Rahmen dieser Tätigkeit hin, die zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung beitrug. Im Rahmen der landwirtschaftlichen Produktion hatte sich die Produktivität so weit entwickelt, daß „auf der Grundlage eines ausgedehnten Ackerbaues, z. T. bereits mit Bodenwendepflug und Felderdüngung betrieben, sowie umfangreicher Viehzucht mindestens seit den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung die Möglichkeiten zur Erzeugung eines ständigen Mehrproduktes und damit zur Herausbildung von Ausbeutungsverhältnissen"5 bestanden. 1
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F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. In: MarxEngels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 150. R. Pleiner, Die Eisenverhüttung in der „Germania Magna" zur römischen Kaiserzeit. 45. Bericht der RGK (1965), 19. H. Hingst, Die urgeschichtliche Eisengewinnung in Schleswig-Holstein. Offa 11 (1952), 3 i ; ders., Die vorrömische Eisenzeit. In: Geschichte Schleswig-Holsteins Bd. 2, Neumünster 1964, 222. Siehe hierzu auch die Ausführungen von H. Jankuhn, Vor- und Frühgeschichte, 160—166. J. Herrmann, Frühe klassengesellschaftliche Differenzierungen in Deutschland. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 14 (1966), 399.
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Sich entwickelndes Sondereigentum am Hauptproduktionsmittel, dem Boden, Privateigentum an Vieh, Verdrängung der ursprünglichen natürlichen Arbeitsteilung zugunsten der weiteren gesellschaftlichen Arbeitsteilung, verbunden mit dem Austausch im Innern bei Steigerung der Produktion, waren nicht nur wesentliche Ursachen für die Herausbildung und Festigung eines ungleichen Vermögensstandes und der damit zusammenhängenden sozialen Schichtung, sie boten auch objektive Möglichkeiten dazu. Es sind demzufolge Grundbedingungen für die Veränderung der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, die lediglich hinsichtlich ihrer Erscheinungsformen Unterschiede aufweisen können. In diese Entwicklung gehört auch der Prozeß der Siedlungsverlagerung, der bei gegebenen Bedingungen sehr wahrscheinlich die soziale Differenzierung gefördert hat. Die Einzelfamilie wird nach F. Engels in dieser Phase der Entwicklung die • wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft. Wieweit sozial bevorzugte Personen bereits in dieser gesellschaftlichen Grundeinheit zur Wirkung kamen, ist vom derzeitigen Quellenmaterial nur schwer zu bestimmen. Man kann aber voraussetzen, daß dies der Fall war in den Verbänden, in denen sie organisiert war. Es ist besonders in den letzten Jahren versucht worden, die durch das schriftliche Material gegebenen Hinweise auf sozial höhergestellte Personen auch von der archäologischen Quelle stärker, als das bisher der Fall war, zu stützen. Daß dabei die Erscheinungsform an sich und weniger die Gründe, die dazu geführt haben, im Vordergrund der Betrachtungen standen, liegt sicher einmal in der Schwierigkeit der Erfassung des Gesamtproblems, häufig aber auch in der Zielsetzung, die der jeweiligen Untersuchung zugrunde gelegen hat. Das hierzu auswertbare archäologische Quellenmaterial stammt für die Frühphase solcher Erscheinungen ebenfalls vorwiegend aus den küstennahen Gebieten. So konzentrieren sich z. B. die reichen Mooropferfunde (Gundistrup, Brä, Hjortspring, Dejbjerg) in den bereits erwähnten Jungmoränenlandschaften, in denen nach dem derzeitigen Forschungsstand die Viehwirtschaft als Hauptproduktionszweig der landwirtschaftlichen Tätigkeit anzusehen ist. Der sich in diesen geopferten Gegenständen ausdrückende Reichtum muß mit als Ergebnis der guten wirtschaftlichen Bedingungen angesehen werden, die hier gegeben waren. Es darf angenommen werden, daß „die Opfernden keine kleinen Bauern gewesen" sein können. „Es waren entweder Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht nur aus der landwirtschaftlichen Produktion bezogen oder die viel ertragreiches Land und zahlreiche Hilfskräfte besaßen."1 Auch im Bereich des Bestattungswesens deutet sich etwa um den Beginn unserer Zeitrechnung im Gegensatz zu einer bisher relativ einheitlichen Ausstattung der Gräber eine Entwicklung an, in der sozial höhergestellte Personen mit Hilfe dieser Fundkategorie zu erschließen sind. Auf die in die jüngere vor1
H. Jankuhn, Klima, Besiedlung und Wirtschaft im westlichen Ostseebecken. Archaeologia Geographica 3 (1952), 31.
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römische Eisenzeit gehörenden Wagengräber, die sicher bevorzugten und wahrscheinlich auch bereits sozial höhergestellten Personen zugeordnet werden müssen, ist bereits hingewiesen worden. Ein nach wie vor nicht befriedigend gelöstes Problem stellen die Unterschiede in der Ausstattung der Waffengräber dieser Zeit dar. Ob die Sitte der Waffenbeigabe an sich, die in dieser Zeit — wie bereits ausgeführt — über weite Gebiete des germanischen Siedlungsraumes nachzuweisen ist, primär auf soziale Gründe zurückgeführt werden muß, ist bei Berücksichtigung der oben skizzierten gesamthistorischen Situation zumindest nach wie vor eine offene Frage. Erst ihre Beantwortung wird erweisen, ob vorhandene Unterschiede im Reichtum der Waffenbeigabe ebenfalls als Ausdruck sozialökonomischer Differenzierungsprozesse aufzufassen sind oder ob ihre Ursachen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens liegen. Einen sicheren Beleg für sozial höhergestellte Personen stellen dagegen die Gräber des sogenannten Lübsow-Types dar, die, häufig als Fürstengräber bezeichnet, seit etwa dem Beginn unserer Zeitrechnung nachzuweisen sind. Sowohl die in der Regel gesonderte Lage dieser Gräber, in denen Männer und Frauen bestattet wurden, als auch die bevorzugte Form der sogenannten Körperbestattung zeigen zusammen mit den reichen Beigaben häufig importierter Gegenstände,1 daß hier bereits eine Adelsschicht repräsentiert wird, die im Rahmen des sich entwickelnden Sozialgefüges eine bedeutende Stellung eingenommen hat. Obwohl die auffallend gleichartige Ausstattung auf nicht näher zu definierende Beziehungen zwischen den Trägern der in diesen Gräbern zu erfassenden Schicht hinweist2, stellt sich gerade deshalb auch die Frage, ob wir es mit einer einheitlichen Adelsschicht zu tun haben. Bereits die weniger reich, aber ebenfalls mit römischen Importgegenständen ausgestatteten Brandgräber in den kaiserzeitlichen Gräberfeldern geben Anlaß zu einer verneinenden Antwort.3 Bis auf die Gräber von Hagenow und L$g Piekarski enthalten diese Gräber der Lübsow-Gruppe keine Waffen, obwohl die Mehrzahl von ihnen in Ge1
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H. J . Eggers, Lübsow, ein germanischer Fürstensitz der älteren Kaiserzeit. Prähistorische Zeitschrift 34/35 (1949/50), 58-111. H. Jankuhn (Vor-und Frühgeschichte, 180) möchte hier Familienbeziehungen über weite Bäume annehmen. Siehe hierzu u. a. W. A. v. Brunn, Neue Germanenfunde von Bornitz, Kr. Zeitz. Nachrichtenblatt für Deutsche Vorzeit 16 (1940), 251—253. J . Schneider, Ein Brandgrab der römischen Kaiserzeit von Kemnitz. Ausgrabungen und Funde 1 (1956), 27—30, sowie. S. Kramer, Ergebnisse der Voruntersuchung auf dem kaiserzeitlichen Gräberfeld in Kemnitz, Kr. Potsdam-Land. Ausgrabungen und Funde 2 (1957), 172—177 und dies., Die Grabung auf dem kaiserzeitlichen Gräberfeld Kemnitz, Kr. Potsdam-Land. Ausgrabungen und Funde 4 (1959), 280—283, haben ebenfalls Grabausstattungen vorgelegt, die diesbezüglich zu deuten sind. Auch im neuerdings veröffentlichten Gräberfeld von Zauschwitz, Kr. Borna (E. Meyer, Das germanische Gräberfeld von Zauschwitz, Kr. Borna. Arbeitsund Forschungsbericht zur sächsischen Bodendenkmalpflege, Beiheft 6 (1969), 63, 111) scheinen die Grabausstattungen der Gräber 20 und 62 auf sozial höhergestellte Personen hinzuweisen.
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bieten liegen, in denen die Waffenbeigabe bekannt und üblich war. 1 Es wäre sicher interessant, wenn diese auffallende Erscheinung durch die zeitliche und lokale Kombination der Fürstengräber mit den vorhandenen Waffengräbern untersucht würde — das Verbreitungsgebiet der Waffengräber um Hagenow scheint sich hier besonders anzubieten —, um eventuell auch zum Nachweis der Gefolgsleute durch archäologische Quellen und damit zur Charakteisierung des Gefolgschaftswesens im allgemeinen beizutragen. Es scheint sich darüber hinaus anzudeuten, daß auch die Verbreitungsgebiete von Schlüssel und Schloß als indirekter Beleg für Besitzstand in ähnlicher Form auswertbar sind2. Nach wie vor steht der Nachweis und damit die Kenntnis über die Anlage und die Größe der Wohnplätze aus, in denen diese Personen gelebt haben. Trotzdem bietet auch die Entwicklung im Hausbau bzw. in der zu beobachtenden Größenveränderung der Hofanlagen Anhaltspunkte für sozial höhergestellte Personen bzw. Familien. Ohne eine Gesetzmäßigkeit andeuten zu wollen, ist immer dort, wo größere Siedlungskomplexe über mehrere Generationen hinaus nachgewiesen werden konnten, auch die Entwicklung zu einem Groß- bzw. Herrenhof im Rahmen des jeweiligen Siedlungsverbandes zu beobachten gewesen. Insbesondere sei hier die mehrfach zitierte Entwicklung auf der Feddersen Wierde bei Bremerhaven erwähnt 3 , die deutlich die Herausgliederung eines Hofes seit dem 2. Jh. zeigt, dessen Größe und Abgrenzung einerseits und dessen Funktion im sozialökonomischen Bereich andererseits eindeutige Merkmale eines sogenannten Herrenhofes zeigen. Eine ähnliche Entwicklung vermittelt auch das Siedlungsbild der kaiserzeitlichen Siedlungen von Kablow, Kr. Königs Wusterhausen. 4 Neuerdings wurden, wenngleich weniger stark ausgeprägt, bei der Auswertung der kaiserzeitlichen Siedlungshorizonte von Tornow, Kr. Calau, gleiche Entwicklungstendenzen festgestellt 5 . Auch die Ausgrabungen in Fochteloo 6 und in Westik bei Kamen in Westfalen 7 1
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Siehe hierzu die Verbreitungskarte der Lanzenspitzen der frühen römischen Kaiserzeit bei A. Leube, Gruppengliederung innerhalb der frühen Kaiserzeit im norddeutschen Tieflandgebiet. Zeitschrift für Archäologie 2 (1968), 278 Abb. 1, die im wesentlichen auch das Verbreitungsgebiet der Waffenbeigaben in den Gräbern angibt. J. Herrmann, Archäologische Kulturen und sozialökonomische Gebiete. Ethnographischarchäologische Zeitschrift 6 (1965), 118-122. W. Haarnagel, Die Ergebnisse der Grabung Feddersen Wierde im Jahre 1961. Germania 41 (1963), 280-317. G. Behm-Blancke, Zur sozialökonomischen Deutung germanischer Siedlungen der Römischen Kaiserzeit auf deutschem Boden. In: Aus Ur- und Frühgeschichte, Berlin 1962, 67-70. J. Herrmann, Der Beitrag der Ausgrabungen in Tornow, Kr. Calau, zur germanischen, und slawischen Siedlungs-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Zeitschrift für Archäologie 4 (1970), 69-72. A. E. v. Giffen, Prähistorische Hausformen auf Sandböden in den Niederlanden. Germania 36 (1958), 51-71. L. Bänfer, A. Stieren, Eine germanische Siedlung in Westick bei Kamen, Kr. Unna. Westfalen 21 (1936), 410-453.
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B R U N O KRÜQER
haben ergeben, daß bereits in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung mit der Herausbildung von Großhöfen auf der Grundlage sozialökonomischer Differenzierungen zu rechnen ist. Diese wenigen Beispiele zeigen, daß auch mit Hilfe der Siedlungsentwicklung der Aufgliederungsprozeß der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse nicht nur allgemein, sondern auch hinsichtlich seiner Abstufungen zu fassen ist. Sie zeigen darüber hinaus, daß häufig dort, wo eine Siedlungskonstanz über längere Zeit nachgewiesen werden kann, die Erscheinungsformen der einzelnen Entwicklungsetappen am klarsten sichtbar werden. Die derzeit bekannte geographische Verbreitung solcher Auflösungstendenzen, deren Beginn, vom archäologischen Quellengut ausgehend, um die Wende u. Z. faßbar einsetzt, erstreckt sich bei Außerachtlassung von Stammesgebieten über große Teile der Germania. Auch bei Berücksichtigung eines unterschiedlichen Forschungsstandes zum Gesamtproblem zeichnet sich aber anscheinend ab, daß sowohl die Gebiete der Nordsee- und Küstengermanen als auch die der Elbgermanen Entwicklungsschwerpunkte waren, in denen auf der Grundlage einer schnelleren Entfaltung der Produkivtkräfte frühzeitig Bedingungen für die Aufgliederung der Gesellschaft gegeben waren. Die Entwicklung wurde im besonderen dadurch begünstigt, daß die in diesen Gebieten lebenden Germanen entweder keine oder nur geringe Auswirkungen der römischen Offensive der Jahre 12 v. u. Z. bis 16 u. Z. zu überwinden hatten, zum anderen im allgemeinen auch dadurch, daß nach den erfolgreichen Abwehrkämpfen und der Zurücknahme der römischen Truppen hinter den Rhein die selbständige sozialökonomische Entwicklung gesichert war. Es setzte eine Phase der relativen Ruhe ein, in der sich diese vollziehen konnte. Leider fehlt es immer noch an genügenden Ansatzpunkten für die Bewertung der sicher vorhanden gewesenen Einflüsse der fortgeschritteneren Sklavenhalterordnung auf diese Entwicklung. Der von R. Wol^giewiez1 dargelegte Versuch, den römischen Import auch von den sozialökonomischen und politischen Verhältnissen her zu behandeln, ist deshalb sehr zu begrüßen und kann als Unterstützung der hier vorgetragenen Ansichten —z.B. was die Entwicklung im Siedlungsgebiet der Markomannen und deren Stellung bei der Vermittlung der römischen Einflüsse betrifft — angesehen werden. Die literarischen Quellen geben hierzu keine Auskunft. Auch in der immer noch besten Darstellung der innergermanischen Verhältnisse dieses Zeitraums durch Tacitus fehlen entsprechende Ausführungen. Die zahlreichen römischen Importgegenstände, die vor allem im 2. Jh. stärker in Germanien auftreten, beweisen einen erweiterten Austausch und verstärkte Handelsbeziehungen mit Rom. Andererseits ist bekannt, daß germanische Händler an den Grenzen des Reiches, z. T. selbst im römischen Gebiet, ihre Waren angeboten haben. Unmittelbar östlich des Limes sind Münzen als Äquivalent im Umlauf gewesen. Über den Handel und über den 1
R. Wotggiewicz, Der Zufluß römischer Importe in das Gebiet nördlich der mittleren Donau in der älteren Kaiserzeit. Zeitschrift für Archäologie 4 (1970), 222—249.
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Austausch sind sehr wahrscheinlich die wesentlichsten Einflüsse in das germanische Gebiet gelangt, dabei deutet sich mehr und mehr an, daß vor allem auch das elbgermanische Gebiet berührt worden ist. Die schriftlichen Quellen bieten andererseits aber die Möglichkeit, den durch das archäologische Quellenmaterial in der Regel bisher nur grob zu erkennenden Entwicklungsgang zu ergänzen bzw. zu vertiefen. Für die Entwicklung der Eigentumsformen ist der Bericht des Tacitus, daß die Verteilung des Ackers nach Rang und Ansehen vorgenommen wurde, besonders bedeutungsvoll. Damit war die ökonomische Stärkung der sozial höhergestellten Personen, die außerdem Abgaben der landwirtschaftlichen Produktion erhielten (Tacitus, Germ. 15), verbunden. Diese unterschiedliche Bodenzuteilung mit privaten Nutzungsrechten war zweifelsohne eine der wesentlichsten Ursachen für die Entstehung eines Großgrundbesitzes. Sie bot andererseits die ökonomische Voraussetzung für den Ausbau des Gefolgschaftswesens, womit ein gleichzeitiger Abbau der Einrichtungen der Gentilverfassung auf der Stufe der militärischen Demokratie einherging, die F. Engels als „die ausgebildetste Verfassung, die die Gentilordnung überhaupt entwickeln konnte", bezeichnet hat. 1 Die Rangstufenordnung in der Gefolgschaft (Tacitus, Germ. 13) im besonderen sowie die Erringung von Führungspositionen durch bewiesene Tapferkeit im allgemeinen (Tacitus, Germ. 7) sind Ausdruck für die Entwicklung und Stärkung des sogenannten militärischen Adels mit seinen vielfältigen Abstufungen. Neue ideologische Vorstellungen über ein jenseitiges Herren- und Kriegerparadies, wie sie z. B. im Wodankult zum Ausdruck kamen, gehen mit dieser Entwicklung einher und stehen im Gegensatz zum nach wie vor von den Bauern geübten traditionellen und auf die Produktion bezogenen Fruchtbarkeitskult (z. B. dem Nerthuskult). Kriege, in der Regel wohl vorwiegend noch Stammesauseinandersetzungen, führten sowohl zur ökonomischen als auch zur politischen Stärkung dieser sozial bevorzugten Schichten. Kriegsgefangene kamen als Sklaven in der landwirtschaftlichen Produktion zum Einsatz (Tacitus, Germ. 26) und wurden im Rahmen der noch gentilen Produktionsverhältnisse als „selbständig wirtschaftende, aber abgabepflichtige Bauern" 2 ausgebeutet. Aufbauend auf dieser wirtschaftlichen, sozialen und politischen Grundlage und von ihr ausgehend setzte seit etwa der Wende vom 2. zum 3. Jh. u. Z. der Prozeß der Bildung der Großstämme bei gleichzeitigem Abbau und Überwindung des eigentlichen Stammeswesens ein, wobei durch Überschichtungsvorgänge neue Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen wurden. Von der Gesamtverbreitung der gegenwärtig archäologisch faßbaren Erscheinungsformen dieses sozialökonomischen Umbruches der germanischen Gesellschaft in den hier behandelten Zeitabschnitten wird das sogenannte 1
F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. In: MarxEngels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 140. 2 H. Mottek, a. a. 0., 48. 11
Staatsentstehung
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rhein-weser-germanische Gebiet kaum nennenswert berührt 1 . Dies ist um so bemerkenswerter, als wir gerade durch die schriftliche Überlieferung Hinweise auf politisch führende Personen bei den Cheruskern (Segimerius, Inguimerus, Segestes, Arminius, Flavus), Amsivariern (Boiocalus) und Chatten (wahrscheinlich Adgandestrius) erhalten haben, die — wie bei Arminius bekannt — römisches Bürgerrecht besaßen und römische Ritter waren. Leider ist es der bisherigen Forschung nicht gelungen, die sozialökonomische Stellung dieser Personen beweiskräftig zu bewerten. Wieweit die durch Tacitus (Hist. 1, 23) erwähnten agros villasque der Bataver, die R . Wenskus 2 als erste Belege für die Grundherrschaft bei den Germanen ansehen möchte und die nach H. Dannenbauer 3 die Größe von Gütern hatten, für den gesamten Fragenkomplex der Auflösungserscheinungen gentilgesellschaftlicher Produktionsverhältnisse bei den Germanen, insbesondere auch zur ökonomischen Seite des Gefolgschaftswesens im rhein-weser-germanischen Gebiet im allgemeinen sowie auch bei den Cheruskern 4 im besonderen die weitere Untersuchungsrichtung zu bestimmen vermögen, wird erst die Forschung entscheiden können. Als Schlußfolgerung ergibt sich die Aufgabe, diese Gebiete stärker als bisher bei zukünftigen Analysen der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse zu beachten. Unter Berücksichtigung des derzeit vorhandenen Quellenmaterials zum vorstehend behandelten Themenkomplex kann zusammenfassend festgestellt werden, daß auf der Grundlage der gewachsenen Produktivkräfte und ihrer dialektischen Wechselwirkung auf die Steigerung der Produktion überhaupt bereits um den Beginn unserer Zeitrechnung sich der Übergang zur ständigen Erzeugung eines gesellschaftlichen Mehrproduktes auch bei den germanischen Stämmen vollzogen hat. Die Verbesserung der Produktionsinstrumente, insbesondere für die landwirtschaftliche Produktion, wirkte sich positiv auf eine größere Seßhaftigkeit der Produktionskollektive aus. In diesem Zusammenhang kam es zu einem verstärkten, wohl zum Teil auf Rodung beruhenden Landesausbau. Infolge der relativ geregelten Beziehungen zum römischen Reich flössen stärker als zuvor über die Austausch- und Handelsbeziehungen Einflüsse aus der römischen Sklavenhaltergesellschaft in die germanischen Gebiete ein und wurden vor allem von den sozial bereits höhergestellten Personen aufgenommen. Die Absonderung von Ackerland aus dem Gemeineigentum, der Übergang zu unterschiedlichen Besitzverhältnissen am Hauptproduktionsmittel, dem Grund und Boden, der Einsatz und die Ausbeutung von Sklaven auf Sonderbesitz sowie die sich daraus entwickelnde soziale Differenzierung in Schichten als Vorstufen der Klassen sind Ausdruck der Entwicklung von Die wenigen in Frage kommenden Fundplätze, insbesondere befestigte Anlagen, stehen wegen ihrer Unsicherheit in der ethnischen Zuordnung (s. R . Hachmann, a. a. 0 . , 19) zunächst außerhalb der speziellen Berücksichtigung. 2 R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Köln-Graz 1961, 382. a H. Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. Historisches Jahrbuch. 61 (1941), 16. '• H. v. Petrikovits, Arminius. Bonner Jahrbücher 166 (1966), 187. 1
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Vorformen neuer Produktionsverhältnisse und damit Ausdruck des Verfalls der Gentilordnung bei den germanischen Stämmen. Die in der sozialökonomischen Basis entstandenen Veränderungen fanden in kultischen Vorstellungen, die auf das Jenseits orientierten und den kriegerischen Charakter der Entwicklung widerspiegelten, ihre entsprechenden Überbauerscheinungen; denn gleichzeitig mit der Entstehung von Vorformen neuer Produktionsverhältnisse entwickelte sich als Machtinstrument der Gentilaristokratie das Gefolgschaftswesen, das entscheidend an der Überwindung des gentilgesellschaftlichen Stammeswesens mitgewirkt hat.
Allod und Feudum als Grundlagen des westund mitteleuropäischen Feudalismus und •der feudalen Staatsbildung* von
JOACHIM HEKHMANN
(Berlin)
Seit einigen Jahren nehmen Fragestellungen, die im Zusammenhang mit der Erforschung des Übergangs zum Feudalismus und der Herausbildung des Feudalismus stehen, einen breiten Raum in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft ein 1 . Die Diskussionen erstrecken sich auf den Verlauf dieser Geschichtsprozesse in den verschiedenen Teilen der Welt 2 und haben * Der Beitrag ist in Weiterführung der Untersuchungen über „Sozialökonomische Grundlagen und gesellschaftliche Triebkräfte für die Herausbildung des deutschen Feudalstaates" entstanden. Unter diesem Thema hatte Verf. auf dem in der Einleitung genannten Kolloquium gesprochen. (Vgl. die sich daraus herleitende Veröffentlichung in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 19 (1971), 752-789). Bei der Überarbeitung der Anmerkungen sowie bei der Zusammenstellung und kritischen Sichtung von Quellen war mir I. Böger behilflich, der ich auch an dieser Stelle für die Mitarbeit danke. 1 Vgl. zuletzt das Grundsatzreferat von Z. V. Oudaltzova, E. V. Goutnova, La genèse du feodalisme dans les Pays d'Europe. (XIII. Congrès International des Sciences Historiques, Moscou 16—23 Août 1970.) Der Feudalismus wird hier (S. 1) folgendermaßen bestimmt: „Wir betrachten den Feudalismus als eine besondere ökonomische Gesellschaftsformation, die auf der feudalen Produktionsweise beruht. Ihre charakteristischen Züge sind: das Vorherrschen der Agrar- und Naturalwirtschaft, das Überwiegen des Großeigentums, das auf der Ausbeutung der Bauern beruht, die persönlich von den Eigentümern abhängig oder an den Boden, den sie bebauen, gebunden sind". Vgl. weiterhin die Sammelbände mit zahlreichen Beiträgen: ITpoSneMH B03HHKH0peHHH (|>eoflajiH3Ma y HapojjOB CCCP. MocKBa 1969; HayiHan ceccHH „IlTorn H 3ANAMN M3YIEHHH REHE3HCA $eoRann3Ma B aanaAHott EBpone" (Cpeflime BeKa. 31.1968); E. O. üopuiHeB, 3I0M0B, a. a. O., sieht die germanisch-romanische oder slawisch-byzantinische Synthese als reaktionär an, da dadurch die antike Kontinuitätslinie abgebrochen sei. Während A. P. K o p c y H C K H ß , I I p o S j i e M u peBOJHoijHOHHoro nepexoaa OT PAÖOBJIAAEJIBMECKORO C T p o n K (FTEOJIAJIFEHOMY B 3 a n a R H o t ö Eßpone. Bonpocw M C T o p m i 39 (1964), Nr. 5, 95—111, es ablehnt, bereits von der spätantiken Gesellschaft als Feudalgesellschaft zu sprechen, fühlt sich B a ö H u i T e M H , Cpenniie B e n a 31(1968), 49, berechtigt, die taciteische germanische Gesellschaft zur Feudalgesellschaft zu zählen. H. Kreißig, Zwei Produktionsweisen, „die der kapitalistischen vorhergehen". Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 10 (1969), 361 ff-, stellt unter Abstraktion von den Eigentumsverhältnissen die These auf: „Der Feudalismus war das Ergebnis der Weiterentwicklung der aus dem Osten kommenden Produktionsweise, die die ,antike' überlagerte. Die ,antike' Produktionsweise fand ihren Neubeginn unter ganz anderen Voraussetzungen erst wieder im Mittelalter mit dem Neuaufschwung der städtischen Wirtschaft als Frühkapitalismus." (S. 366) „Der mittelalterliche Feudalismus ist nach meiner Anschauung die nicht unterbrochen gewesene Weiterentwicklung der Hörigkeitsformen des alten Orients." (S. 367) „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen", schrieben K. Marx und F.Engels im Kommunistischen Manifest (in: Marx-Engels, Werke Bd. 4, Berlin 1959, 465). W. I. Lenin sah „Routine und Stagnation in der gesellschaftlichen Produktion, folglich auch in allen Sphären des sozialen Lebens" als charakteristisch für die vorkapitalistische Zeit an (in: Lenin, Werke Bd. 2, Berlin 1970, 529). Zugespitzt formulierte Lenin (Werke Bd. 3, Berlin 1968, 55): „Gesetz der vorkapitalistischen Produktionsweisen ist die Wiederholung des Produktionsprozesses im früheren Umfange, auf früherer technischer Grundlage." Diese Verhältnisse veranlaßten W. I. Lenin, darauf zu verweisen, daß es „Jahrhunderte der Lethargie der Werktätigen" gab (in: Werke Bd. 20, Berlin 1968, 376).
Allod und Feudum und die feudale Staatsbildung
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„Es ist jedesmal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten — ein Verhältnis, dessen jedesmalige Form stets naturgemäß einer bestimmten Entwicklungsstufe der Art und Weise der Arbeit und daher ihrer gesellschaftlichen Produktivkraft entspricht —, worin wir das innerste Geheimnis, die verborgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz, der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden. Dies hindert nicht, daß dieselbe ökonomische Basis — dieselbe den Hauptbedingungen nach — durch zahllos verschiedne empirische Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, von außen wirkende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebenen Umstände zu begreifen sind" Eine Erörterung der Entstehungsbedingungen und des Aufbaus des feudalen Staates ist schlechterdings nicht möglich, ohne die Produktionsweise, die Eigentumsverhältnisse und Klassenverhältnisse, denen er entspringt, zu analysieren. Es kann im Zusammenhang mit dem zu behandelnden Thema nicht Aufgabe sein, eine historische Skizze weltgeschichtlichen Umfangs zu den eben berührten Fragen zu unterbreiten, jedoch scheint es für die Bestimmung des historischen Standorts und das Wesen des Feudalismus bedeutsam zu sein, daß nicht nur festgestellt wird, wie die Produktivkräfte, auf deren Grundlage der Feudalismus beruhte, beschaffen waren, sondern auch, in welchen daraus sich ergebenden Eigentumsverhältnissen die Entwicklung der Produktion und damit auch des Feudalismus verlief. In der grundlegenden Frage nach den feudalen Eigentumsverhältnissen zeigte sich jedoch im Verlaufe der Diskussion um das Wesen des Feudalismus die Tendenz, zwar vom „feudalen Grundeigentum" auszugehen, es jedoch nur einseitig im Hinblick auf die formalen Abhängigkeitsverhältnisse zu bestimmen. Die umfassende Untersuchung der Eigentumsverhältnisse als entscheidende Grundlage, die sowohl die Struktur der herrschenden Klasse und die der ausgebeuteten Bauernklasse als auch die Verhältnisse zwischen diesen Klassen und den Umfang der Klassenkämpfe bestimmte, wird nur selten in den Mittelpunkt gerückt. 2 So scheint es von i K. Marx, Das Kapital Bd. 3, in: Marx-Engels, Werke Bd. 25, Berlin 1964, 799f. - So ist davon die Rede, daß Lehnswesen und feudale Beziehungen innerhalb der herrschenden Klasse im Orient existierten, jedoch wird die Frage, auf welcher Eigentumsgrundlage sie beruhten, nicht beachtet. Insbesondere erscheint es mir fraglich, ob die auch im Orient übliche Form der Verleihung bzw. Vergabe von Anteilen am Mehrprodukt an andere Angehörige der herrschenden Klasse in Form von Nutzungsrechten wirklich mit dem Begriff „Lehen" des europäischen Feudalismus gleichgesetzt werden kann. Während im europäischen Feudalismus das Lehen in erster Linie auf die Produktionsbedingungen bezogen wird, steht im Orient die Verleihung von Nutzungsrechten am Mehrprodukt, nicht aber die Verleihung der Produktionsbedingungen im Vordergrund. Ein zweiter wesentlicher Unterschied scheint darin zu liegen, daß im europäischen Feuda-
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JOACHIM HERRMANN
grundlegender Bedeutung zu sein, ob privates feudales Grundeigentum (nicht Besitz, sondern Eigentum!) die Struktur der Klassen und ihre Beziehungen, die Art und Weise der Ausbeutungsverhältnisse bestimmte oder ob staatliches, übergeordnetes Eigentum eines Gemeinwesens bzw. seiner sich als Exponenten dieses Gemeinwesens ausgebenden herrschenden Klasse als Korporation oder Gesamtheit, repräsentiert durch einen Despoten, Pharao, Kaiser usw., bestand1. Beide Eigentumsformen ließen den individuellen Besitz von Produktionsmitteln und die Produktion in bäuerlichen Kleinbetrieben bzw. die Zusammenfassung und Ausbeutung bäuerlicher Einzelbetriebe in Grundherrschaften zu. 2 lismus das Lehnsverhältnis im hohen Maße die Verbindung zwischen Mitgliedern der herrschenden Klasse herstellt, von denen jedes für sich über feudales Allod, d. h. über eine Ausbeutungsbasis, verfügt. Damit begründet das Lehnsverhältnis innerhalb der herrschenden Klasse nicht nur ein Abhängigkeits-, sondern zugleich ein Partner-Verhält nis. Im Orient war es in erster Linie oder sogar ausschließlich ein Abhängigkeitsverhältnis innerhalb der hierarchischen Gliederung der herrschenden Klasse. Das gleiche trifft zu, wenn solche Erscheinungen wie „Leibeigenschaft" oder „Hörigkeit" formal zur Bestimmung des Wesens von Ausbeutungsverhältnissen benutzt werden (vgl. S. 165 Anm. 2). 1
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Der Begriff „privates Eigentum" wird in dem Sinne benutzt, daß es sich hier um das aus dem Gemeineigentum oder dem Eigentum des Staates als Korporation der herrschenden Klasse ausgegliederte Eigentum an Produktionsmitteln handelt, dem Gemein- oder Gruppeneigentum der Produzenten an ihren Produktionsmitteln also gegenübersteht. Zur Herausbildung des Privateigentums mit dem Übergang zur antagonistischen Klassengesellschaft vgl. F. Engels, Der Ursprung der Familie . . ., in: Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, bes. 155ff., 170; ders., Anti-Dühring, in: Marx-Engels, Werke Bd. 20, Berlin 1962, 150, wo besonders auf die bereits in die Gentilgesellschaft zurückreichenden Ansätze des Privateigentums hingewiesen wird. „Das freie Eigentum des selbstwirtschaftenden Bauern ist offenbar die normalste Form des Grundeigentums für den kleinen Betrieb . . .", schrieb K. Marx (Marx-Engels, Werke Bd. 25, Berlin 1964, 815). Freie Bauern als Eigentümer bildeten zwangsläufig eine andere, mobilere gesellschaftliche Kraft sowohl für die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion als auch im Klassenkampf als etwa die eigentumslosen, auf Großeigentum in ungünstigen Besitzrechten angesetzten, vielfach von der herrschenden Klasse und ihren Einrichtungen gedrückten kleinen Bauern, aervi casati, Kolonen usw. Die unterschiedlichen Eigentumsformen, die dem kleinen Betrieb zugrunde liegen können und — oberflächlich gesehen — gewisse vergleichbare strukturelle Produktionsbedingungen für den bäuerlichen Kleinbetrieb zulassen, bedingen jedoch die qualitative Unterscheidung zwischen den auf verschiedenen Eigentumsgrundlagen beruhenden bäuerlichen Betriebsformen. Diese Eigentumsunterschiede werden z. B. von R. Felber, „Asiatische" oder feudale Produktionsweise in China, a. a. 0., 70, verwischt, wenn privates und staatliches Großgrundeigentum in gleicher Weise als Grundlage des Feudalismus vorausgesetzt werden. Die bäuerlichen Produzenten werden aus dem feudalen Eigentumsverhältnis ausgeschlossen, und die feudale Ausbeutung erscheint als Ergebnis der persönlichen Abhängigkeit der Bauern, die Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen unterworfen 6ind und denen aus diesen Verhältnissen heraus vom Großeigentümer Produktionsmittel zugeteilt werden. Offensichtlich war das Obereigentum des chinesischen Staates doch nicht so fiktiver Art, wie F. es sieht, denn sonst wäre nicht zu erklären: 1. die
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Dennoch waren die Auswirkungen der einen oder anderen Form des Grundeigentums auf die Struktur der Gesellschaft unterschiedlich. Diese Unterschiede betrafen sowohl die Bedingungen der Klassenbildung, des Klassenkampfes und die Art und Weise, wie die herrschenden Klassen den Staat organisierten, als auch die Bedingungen der weiteren ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft, die Ausdehnung der Warenproduktion, die Bildung von außerhalb der Landwirtschaft sich gründenden Klassen von handwerklichen und gewerblichen Produzenten, von Kaufleuten usw. Infolge des Fehlens vergleichender Untersuchungen der ökonomischen Prozesse der vorkapitalistischen Formation ist es bis heute nicht möglich gewesen, eine allseitige Bestimmung des Wesens der feudalen Gesellschaftsformation auszuarbeiten. Wenn im folgenden versucht wird, auf das Wesen der feudalen Gesellschaftsformation einzugehen, so handelt es sich in erster Linie nur darum, die methodischen Möglichkeiten, von denen diese Wesensbestimmung ausgehen kann, zu untersuchen. Als unbestrittener Ausgangspunkt darf gelten, daß der Feudalismus, menschheitsgeschichtlich gesehen, die ökonomische Gesellschaftsformation gewesen ist, in der sich der Kapitalismus entwickelt hat. Das ökonomische Wesen des Kapitalismus liegt in der Herrschaft des Privateigentums als Grundlage cler kapitalistischen Ausbeutung und als des entscheidenden Hebels, durch den eine solche explosionsartige Entfaltung der Arbeitsproduktivität erreicht wurde, die die objektive Möglichkeit zur Überwindung des Privateigentums und die Notwendigkeit der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft schafft. Die entscheidende Gesellschaftsformation, durch die die jahrtausendelange Entwicklung der Klassengesellschaft auf ihre höchste Stufe geführt und zugleich ihre Überwindung gesetzmäßig ermöglicht wurde, hat mithin das Privateigentum in seiner höchsten Entfaltung zur Voraussetzung. Der Verlauf der Menschheitsgeschichte hat erwiesen, daß es in universalgeschichtlicher Hinsicht keinen anderen Weg zur ausbeutungsfreien, klassenlosen Gesellschaft gibt. In diesem Sinne wurde die volle Entfaltung des Privateigentums zur weltgeschichtlichen Grundbedingung für die Entstehung des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln und für den Übergang zur sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft. bedeutende Rolle staatlicher Bürokratie, 2. das weitgehende Fehlen einer Erbaristokratie,, d. h. eines auf privatem Grundeigentum beruhenden Adels, 3. die Hartnäckigkeit, mit der sich Sippenbeziehungen als Grundlage von Ausbeutungsverhältnissen bis in die neuere Zeit behaupten konnten (vgl. Felber, 89fF.) Anders B. Brentjes, Grundeigentum, Staat und Klassengesellschaft im Alten Orient. Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 9 (1968), 255ff. B. ist der Auffassung, daß seit Mitte des 3. Jt. das kleine Grundeigentum ebenso ausgeprägt war wie das große Grundeigentum, staatliches Obereigentum nicht bestand etc. Allerdings scheint die Trennung zwischen Eigentum und Besitz; die für den europäischen Feudalismus und seine Klassenbeziehungen wichtig wurde, nicht bestanden zu haben oder von B. nicht beachtet worden zu sein. S. 253 werden z. B. offensichtlich Eigentum und Besitz als Synonyma verwendet.
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Die Eigentumsverhältnisse kennzeichnen das Wesen einer Gesellschaftsformation, und die Produktionsverhältnisse werden in erster Linie von den Eigentumsverhältnissen bestimmt. Wenn die Durchsetzung des Privateigentums Ebenda, § 99: S. 113: De venditionibus, qwae sine testibus scribunhir. s Ebenda, § 62, 2, S. 93; § 74, 3, S. 98. Der Begriff „ A l l o d " wird nur in den fränkisch beeinflußten Volksrechten gebraucht, er kommt also im Burgunderrecht nicht vor. Der Sache nach handelt es sich jedoch im Burgunderrecht in gleicher Weise um das „Erbgut" einschließlich Land, vgl. z. B. § 67. •wo über Allmendeteilung gemäß der Größe des Ackeranteils in der Gemarkung gesprochen wird. (Leges Burgundionum, a. a. 0., § 67, S. 95: Quicumque agrum aut colonicas tenent. secundum terrarum modum vel possessionis suae ratam sie silvam inter se noverint dividendam.) u
Bei den einzelnen Stämmen war dieser Entwicklungsstand ganz offensichtlich ungleich. So scheint bei den Westgoten in Spanien auch nach der Eroberung römischer Gebiete das Allod an Ackerland als Privateigentum nicht ausgebildet worden zu sein (Vgl. A . P. KopcyncKHÜ, ToTCKaa McnaHHH. MocKBa 1969, 299ff.). Die Ursachen mögen in den ausgedehnten Wanderzügen der Goten seit dem 1. Jh. u. Z. sowie in der durch die Niederlassung in den Offen- und Steppenlandschaften nördlich des Schwarzen Meeres sich herausbildenden Tendenz zu viehzuchtorientierter Wirtschaft gelegen haben.
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den Untergang des „freien germanischen Bauern". „Von dem Augenblick also, wo Allod, frei veräußerliches Grundeigentum, Grundeigentum als Ware entstand, von dem Augenblick war die Entstehung des großen Grundeigentums nur eine Frage der Zeit" i . Die Wege, auf denen dieses geschehen ist, waren mannigfach, immer jedoch verbunden mit gesellschaftlichen Kämpfen und schließlich mit den Auseinandersetzungen der entstehenden Klassen. Bei der Okkupation der römischen Gebiete oder anderer Stammesgebiete muß bereits mit der Aneignung von Allod in ungleichem Umfang gerechnet werden, gemäß der Stellung der Aneigner in der Gesellschaft 2 . Selbst wenn das bäuerliche Allod außerhalb königlichen Obereigentums stand, gelangte die königliche Gewalt durch Okkupation der Landstriche, die nicht von freien Bauern besetzt waren, durch Okkupation von Ödland, vor allem der großen Wälder in den Besitz riesiger Ländereien, die wie Allod angesehen und als fiscus, Königsgut, bezeichnet wurden 3 . Der König hatte einen großen Fonds an Land, das er zur Nutzung ausgeben konnte, vor allem für geleistete Dienste in der Gefolgschaft. Seit der Zeit der Merowingerkönige wurden Teile dieses Grundeigentums an Dienstmannen, Gefolgschaftsleute und Leute, die der König sich verpflichten wollte, zur Leihe in Form des Beneficium oder der Precarie ausgegeben 4 . In gleicher Weise verfuhr der allodbesitzende Adel. Damit erhielt der Adel eine eigene ökonomische Basis, beruhend auf dem Besitz an Land, auf dem selbstwirtschaftende Bauern 1 F.Engels, Fränkische Zeit, in: Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 476; ders., Ursprung, in: Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 146 bezeichnet Allod in diesem Zusammenhang als Privateigentum. 2 Bereits im 1. Jh. erfolgte die Bodenaneignung bzw. Verteilung aecundum dignitatem (Tacitus, Germania 26). 3 Auf ein Obereigentum der Frankenkönige am gesamten eroberten römischen Land gibt es keinen Hinweis. Der fiscus, d. h. das Königsgut, lag über das Land verstreut, wenn auch gebietsweise konzentriert (vgl. z. B. E. Zöllner, Geschichte der Franken bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. München 1970, 169). A. Bergengruen, Adel und Grundherrschaft im Merowingerreich. Siedlungs- und standesgeschichtliche Studie zu den Anfängen des fränkischen Adels in Nordfrankreich und Belgien. Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft41. Wiesbaden 1958,89, stellt fest: „Das merowingische Krongut kennt keine Unterscheidung von Staatsgut und Allod. Die Tatsache, daß die Königinnen . . . ihr elterliches Erbgut verschenken, deutet nur scheinbar . . , (darauf) hin; de facto spricht sich darin dieselbe privatrechtliche Einschätzung aus wie bei den Schenkungen des Adels: Der König besitzt und behandelt das Königsgut wie auch der Adlige als das seine, nämlich als Privatbesitz", und S. 120: „Viel weniger noch als bei den neustrischen Königen ist bei den Pippiniden eine rechtliche Scheidung zwischen Fiscus und Allod möglich". Anders dagegen bei den Westgoten in Spanien, wo der Grundbesitz bedingten Charakter behielt, d. h.kein eigentliches Privateigentum wurde (vgl.A. P. KopcyHCKHti, ToTCKan IlcnaHHH.a. a. 0., 299ff., bes. 302). 4
übersichtlich zur Entwicklung der einzelnen Institutionen und Bestandteile des Lehnswesens F. L. Ganshoff, Was ist das Lehnswesen? Dt. Ausgabe Darmstadt 1961. Belege für das 6.-7. J h . bei A. Bergengruen, Adel, 30fF.
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oder Knechte und Mägde in grundherrlichen Höfen ausgebeutet wurden. Neben der Gentilaristokratie, die seit Jahrhunderten auf der Grundlage ihres Allodialbesitzes Ausbeutungsverhältnisse eingerichtet hatte, entstand eine zweite Gruppe von Ausbeutern, deren Macht ebenfalls auf Besitz an Grund und Boden beruhte, ohne daß sie jedoch darüber als Eigentum verfügten. Oftmals wurde Land an allodbesitzenden Adel ausgegeben 1 . Verbunden war die Ausgabe von Beneficien und Precarien von Anfang an mit personenrechtlichen Bindungen, wie Gefolgschaftswesen und Vasallentum. Auf diese Weise entstand eine Adelsklasse, deren Grundlage das allodiale Grundeigentum bildete und die sich durch wechselseitige „Landleihe" über dieses Grundeigentum, verbunden mit personenrechtlich-politischen Bindungen, aufeinander bezog. Der Zusammenhang war locker und zeigte die Tendenz zur Entstehung ständig neuer Widersprüche. Die Vergabe von Land durch den Eigentümer gegen festumgrenzte Leistungen in Form von Abgaben und Diensten verschiedener Art an eine andere Person nahm im Merowingerreich seit der 2. Hälfte des 6. Jh. großen Umfang an. Zu diesem Zeitpunkt wurde die oben entwickelte starke Stellung des privaten Ackereigentums und Landbesitzes, die sich bei germanischen Stämmen herausgebildet und mit dem römischen Privateigentum verbunden hatte, voll für den Aufbau der feudalen Gesellschaft wirksam. Königsgüter wurden nunmehr als Lehen, als Beneficien vom König gegen Dienste und Abgaben ausgegeben, wobei das Eigentum beim König blieb. In gleicher Weise verfuhr der allodiales Grundeigentum besitzende Adel. Übertragen zu Lehen wurden jeweils primär die Produktionsbedingungen, d. h. Grund und Boden mit den Bearbeitern des Bodens; erst in zweiter Linie entwickelte sich die Übertragung von Anteilen an der Nutzung des auf andere Weise zusammengebrachten Mehrprodukts. So betrachtet, lag also der Entstehung des Lehnswesens das Privateigentum am Boden zugrunde, und der König als oberster Lehnsherr und größter Bodeneigentümer agierte prinzipiell in gleicher Weise, in der andere adlige Allodbesitzer über ihr Land verfügten. Die Grundlage für die Herausbildung dieses Systems von Eigentumsbeziehungen beruhte letztlich ebenso wie die Festigung des Allodialeigentums auf dem bedeutenden Zuwachs an Produktivkräften, den sich die fränkischen und andere Eroberer in den ehemals römischen Gebieten aneigneten 2 . 1
Abgesehen von anderen Belegen wird dieser Sachverhalt besonders verdeutlicht in den Formeln Marculfs (wohl aus der 1. Hälfte des 7. Jh.). Es heißt dort: Dedit igitur prediclus vir ... villas ... quas aut muñere regio aut de alodo parentuvi... ad presens teuere videtur ... (MG.Formulae Merowingici et Karolini aevi. Hannover 1886, Marculfi formulae 12, S.50.) 2 K.Marx, F . E n g e l s (Dt. Ideologie, in: Marx-Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1958, 64f.) schrieben: „Die Feudalität wurde keineswegs aus Deutschland fertig mitgebracht, sondern sie hatte ihren Ursprung von Seiten der Eroberer in der kriegerischen Organisation des Heerwesens während der Eroberung selbst, und diese entwickelte sich nach derselben durch die Einwirkung der in den eroberten Ländern vorgefundenen Produktiv.
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Das Lehnswesen hat mithin die „Zirkulation" von Privateigentum am wichtigsten Produktionsmittel innerhalb der herrschenden Klasse zur Grundlage, und es gibt die Auffassung, daß das Wort feudum für das zirkulierende Eigentum aus dem fränkischen Wort fêhu-ôd oder fêhu, „Besitztum an Vieh", „mobiles Vermögen", sich herleitet. Jedoch ist auch die Herleitung des Begriffs feudum, „Lehen", aus einer in der Umgangssprache in Südfrankreich vulgarisierten Form von fiscus, also „Königseigentum", versucht worden. Der Begriff feudum tritt erst im Hochfeudalismus in Texten und Urkunden auf; die ersten Formen, die im 9. und 10. Jh. gebietsweise die alte lateinische Form beneficium für das Lehen verdrängen, lauten feus, feurn und anders 1 . Wie die Herausbildung des Begriffes feudum auch verlaufen sein mag, sein Inhalt drückte das durch einen Eigentümer zeitweise an einen anderen Angehörigen der herrschenden Klasse vergebene Recht zur Nutzung seines Eigentums als Lehen für geleistete Dienste oder gegen erwartete Dienste, Abgaben oder festgesetzte Pflichten aus. Die Zirkulation dieser Nutzungs- oder Besitzrechte innerhalb der herrschenden Klasse blieb zähflüssig, da sie sich in den ersten Jahrhunderten des Feudalismus nicht oder kaum über die Geldwirtschaft realisierte, sondern auf naturalwirtschaftlicher Basis und in Form personenrechtlicher Bindungen und Privilegien erfolgte. Daraus leiteten sich permanente Spannungen zwischen Lehnsherren und Lehnsträgern, Herren und Vasallen, die Grundbesitz als Lehen innehatten, her. Sobald der Lehnsherr nicht oder nur unzureichend in der Lage war, seinen Eigentumsanspruch durchzusetzen und die aus der Verleihung sich ergebenden Dienste und Abgaben einzufordern, waren die Lehnsträger, die Landbesitzer, bestrebt, diesen Besitz in ihren Allodialbesitz, in ihr feudales Eigentum umzuwandeln. Im Kapitular von Nymwegen wird durch. Karl den Großen im Jahre 806 diese Tendenz deutlich ausgedrückt und verurteilt: „Wir haben erfahren, daß sowohl Grafen als auch Vasallen, die unsere Beneficien innehaben,
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kräfte erst zur eigentlichen Feudalität. Wie sehr diese Form durch die Produktivkräfte bedingt war, zeigen die gescheiterten Versuche, andre aus altrömischen Reminiszenzen entspringende Formen durchzusetzen (Karl der Große p. p.)". Vgl. Deutsches Rechtswörterbuch Bd. 2, 2, Sp. 521. Die Begründung der Ableitung von fiscus bei H. Krawinkel, Feudum. Jugend eines Wortes. Sprachstudien zur Rechtsgeschichte. Weimar 1938 (Forschungen zum Deutschen Recht Bd. 3, H. 2). Krawinkel lehnt die Herleitung aus fêhu-ôd, — Vieh, Feld o. a. ab. Im Heliand finde sich zu Anfang des 9. Jh. der Begriff „lehen i fehu", der als „vergängliches Gut" wiedergegeben wird. Im Angelsächsischen sei die Bedeutung fehu — Geld, Lohn usw. weitverbreitet gewesen. So folgert Krawinkel S. 51 : „Die Annahme scheint also erlaubt, daß gegen Ende des 9. Jahrhunderts auch in Deutschland fehu bereits allgemein die Bedeutung Geld oder Gut bebesessen hat, mögen die Quellen auch größtenteils schweigen." Weitere Literatur und semantische Untersuchungen bei K.-J. Hollyman, Le développement du vocabulaire féodal en France pendant le haut moyen âge. Étude sémantique. Paris 1957, 43 ff. Die verschiedenen etymologischen Ableitungsmöglichkeiten berühren den Sinn und die Verwendung des Wortes feus, später feudum (Nutznießung, Besitz) nur in zweiter Linie.
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sich die Eigentumsrechte über unsere Beneficien aneignen" 1 . Einen gewissen Abschluß erreichte diese Tendenz mit der Feststellung der Erblichkeit der Lehen der Aftervasallen durch Konrad I I I . 2 Der Umstand an sich, daß das Privateigentum die Bezugsgrundlage der Mitglieder der herrschenden Klasse aufeinander abgab, wurde dadurch nicht berührt. Diese Basis bot Voraussetzungen, um die personen- und lehnsrechtlichen Bindungen mit der Entfaltung der Warenwirtschaft einzuschränken und teilweise durch Geldbeziehungen zu ersetzen. Damit jedoch enthielt dieses System sich aufeinander als Privateigentümer beziehender Grundherren zugleich die Voraussetzungen für den Erwerb von Grundeigentum durch die Städte und das Bürgertum seit dem 11./12. J h . Die Entstehung der großen Grundeigentümer und des Lehnswesens durch Ausgabe von Königsgut war nur die eine Seite. Ihre Kehrseite, die das Wesen der feudalen Ausbeutungsverhältnisse hervorbrachte, war die Umwandlung des bäuerlichen Allodialeigentums in feudales Grundeigentum. Dieser Prozeß vollzog sich durch die Aneignung und den Raub bäuerlichen Eigentums durch den Adel, teilweise in bewaffneten Kämpfen zwischen Adel und Bauern, wie vor allem in den beiden Jahrzehnten am Ende des 8. bzw. um die Mitte des 9. J h . 3 In anderen Fällen verlief der Prozeß unter der in den Quellen sichtbaren historischen Oberfläche. Die Methoden, die der Adel anwandte, um die Allodbauern zur Übertragung ihres Eigentums oder zur Teilübertragung von Eigentumsrechten an Ackerland zu zwingen, reichten von offenen Pressionen über kirchlich-religiöse Demagogie bis zur Ausnutzung von Rechten und Pflichten, die aus der Gentilgesellschaft überkommen waren, wie der Heerespflicht, der Thing- und Gerichtspflicht und anderer öffentlicher Leistungen zur Ruinierung der Bauern' 1 . Bis zur Mitte des 9. J h . ist auf diese Weise der größte Teil der ehemals freien Allodbauern in Mittel- und Westeuropa in feudale Abhängigkeit geraten, wobei die Formen dieser feudalen Abhängigkeit sehr unterschiedlich waren; in erster Linie erfolgte ihre Ausbildung durch den Kampf der Feudalherren und Bauern. Diese Kämpfe bestimmten offensichtlich, in welchem Umfang die Bauern gezwungen waren, ihre Eigentumsrechte an Grund und Boden Auditum habemus, qualiter et comités et alii homines qui riostra beneficia habere videntur conparant sibi proprietates de ipso nostro beneficio . . . (MGH. Cap. 1, Nr. 46, S. 131). 2 MG Const. 1, Nr. 45, S. 89 ff. Überliefert ist die constitutio de feudis von 1037 für die italienischen Afterversallen. 3 In erster Linie sei auf Sachsen verwiesen; dazu u. a. M. Lintzel, Der sächsische Stammesstaat und seine Eroberung durch die Franken. Berlin 1933 (— Historische Studien. H. 227). *• Ausführlich mit Quellen dazu A. J . Njeussychin, Die Entstehung der abhängigen Bauernschaft als Klasse der frühfeudalen Gesellschaft in Westeuropa vom 6. bis 8. Jahrhundert. Berlin 1961; E. Müller-Mertens, Karl der Große. Ludwig der Fromme und die Freien. Berlin 1963, 93ff. Zu den verschiedenen Methoden der Bildung des kirchlichen feudalen Grundeigentums vgl. A. Dopsch, Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit. T. 1, 3. erw. Aufl. Weimar 1962, 202 ff. 1
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zu übertragen oder welche Nutzungsrechte sie behielten bzw. erhielten. So hat ganz offensichtlich in Sachsen und Friesland der Kampf der Bauern am E n d e des 8. J h . u n d in den vierziger Jahren des 9. Jh. in größerem U m f a n g dazu geführt, daß die Bauern v o n vornherein die Bildung größerer feudaler Eigenwirtschaften verhinderten oder begrenzten und stattdessen feudale Produktionsverhältnisse durchsetzten, die ihnen die Verfügung über die Bedingungen ihrer Produktion weitgehend sicherten und die Ausbeutungsbeziehungen hervorbrachten, die über die Produkten- bzw. Geldrente realisiert w u r d e n . 1 Damit war einerseits eine rasche Entwicklung bäuerlicher Eigenwirtschaften möglich. Seit d e m 9. Jh. begann nachweislich in Nordwestdeutschland der Übergang zur intensiven Ackerbauwirtschaft durch D ü n g u n g der Felder mit Viehdung 1
Generell waren die grundherrschaftlichen Eigenwirtschaften westlich des Rheins daher in größerem Umfang verbreitet als östlich des Rheins; das bedeutete jedoch, daß die bäuerlichen Frondienste eine wesentlich geringere Rolle als westlich des Rheins spielten und „östlich des Rheins im frühen Mittelalter sicher nicht überwogen". (Vgl. E. Müller-Mertens, Fragen . . ., 23.) Innerhalb der Gebiete östlich des Rheins waren das Königsgut und königliche Fronhöfe sehr ungleichmäßig verteilt, sie häuften sich in Franken, in Teilen Alemanniens und Thüringens, lagen dagegen vordem 10. Jh. kaum in Bayern und Sachsen. Die Zusammensetzung des Grundbesitzes der Klöster Fulda und Werden läßt deutliche Unterschiede zwischen den Komplexen in Sachsen und Friesland auf der einen Seite und denen in westlichen und südlichen Gebieten erkennen. Während in Friesland und Sachsen selbstwirtschaftende Bauern Natural- oder Geldrente leisten, waren in den anderen Gebieten Eigenwirtschaften, die von Unfreien und in Fronarbeit von den Bauern bestellt werden mußten; wesentlich weiter verbreitet (R. Kötzschke, Rheinische Urbare. Bd. 4. Die Urbare der Abtei Werden a. d. Ruhr. Einleitung und Register. Bonn 1958). In Westfalen und Niedersachsen lag die Hauptform der Feudalrente im 9. Jh. „nicht vornehmlich in den Diensten der Pflichtigen, obschon es daran nicht zu fehlen brauchte, sondern in ihren Abgaben" (S. CCXCVI). Für Friesland stellt R. Kötzschke fest (S. CCXXXIX): „Teile von Erbgut, nach der Breitenmessung des Grundes und Bodens in der Flur . . . oder auch nur nach dem Zinsertrag in Geld berechnet, wurden dem Kloster überwiesen, bisweilen mit der Bedingung, daß von dem zugeeigneten Lande ein bestimmter Jahresbetrag entrichtet werde. Sicher tauschte manches Grundstück nur den Grundherren, indem es an Kloster Werden kam; doch fehlt es auch an Gaben wenig begüterter Freien nicht. War doch solche Tradition anscheinend weniger eine Landüberweisung als vielmehr eine anteilmäßige Belastung eines Grundstücks mit einer Geldrente. Diese Form der Schenkung war so regelmäßig, daß bei den ganz entsprechenden Besitzverhältnissen in den westlicher gelegenen mittelfriesischen Gauen um Groningen bei gleicher Entwicklung der Geldwirtschaft eine ähnliche Entstehung des dortigen Werdener Klosterguts anzunehmen ist, nur mit dem Unterschiede, daß neben den reinen Geldrenten schon früh gewerbliche Erzeugnisse, Tücher, als Lieferung auferlegt wurden." Eine ausgebildete Arbeitsrente fand sich besonders bei dem ehemaligen Königsgut Friemersheim a. Rhein (S. CCCXXXI). — Zu Kloster Fulda vgl. T. Werner-Hasselbach, Die ältesten Güterverzeichnisse der Reichsabtei Fulda. Marburg 1942, 9ff., 177. Zu den von Werner-Hasselbach rekonstruierten Fronhöfen am oberen Main kritisch und richtigstellend A. Krenzlin u. L. Reusch, Die Entstehung der Gewannflur nach Untersuchungen im nördlichen Unterfranken. Frankfurter Geographische Hefte 35 (1961), 123.
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und Plaggen in größerem Umfang 1 . Andererseits war die Konzentration von Mehrprodukt durch den Feudaladel offensichtlich weniger ausgedehnt; die Arbeitsteilung, die Bindung von hofhandwerklicher Produktion an den Fronhöfen erreichte bei weitem nicht den Stand wie in den fränkischen, bayrischen oder alemannischen Gebieten. Nachdem jedoch in einigen Emporien Ansätze frühstädtischer Entwicklung vorhanden waren, konnte die relativ günstige feudale Struktur in Teilen Sachsens und Frieslands rasch zur Ablösung der Produktenrente durch die Geldrente führen, d. h. die feudale Ausbeutung der Bauern wurde über den entstehenden städtischen Markt, wo der Bauer seine Naturalien als Einzelproduzent in Geld umsetzen mußte, realisiert. Das beschleunigte die Entwicklung des Warenverkehrs, der Städte und des Bürgertums beträchtlich. So konnten die Gebiete nördlich der Mittelgebirge seit dem 10. J h . einen raschen ökonomischen Aufschwung nehmen und die Basis für den deutschen Feudalstaat abgeben2. In anderen Gebieten Mittel- und Westeuropas mit stärkerer bäuerlicher germanischer Besiedlung verlief dieser Prozeß komplizierter und widerspruchsvoller. Charakteristisch war jedoch, daß sich auch dort das feudale Grundeigentum im Kampf zwischen Adel und Bauern bildete und daß am Anfang im überwiegenden Maße das Allodialeigentum selbständiger bäuerlicher Wirtschaften stand, dem politisch und gesellschaftlich der freie Bauer entsprach. In diesem Kampf wurden nicht nur wesentliche Seiten allod ialen bäuerlichen Eigentums zum Bestandteil der feudalen Produktionsverhältnisse, wie die Erblichkeit bäuerlichen Besitzes, die eigentümliche Verfügung über die mobilen Produktionsmittel sowie über die Ernte (u. a. auf dem Markt), sondern es entstand auch eine genossenschaftliche Integration von größter Bedeutung: die Markgenossenschaft. Ihr Ursprung ist nicht völlig aufgeklärt; sicherlich reicht sie als Institution nicht in die vorfeudale Zeit zurück. In den Volksrechten des 6.-8. Jh. findet sie keine oder nur geringe Widerspiegelung, ebensowenig in Urkunden, Chroniken oder in den Flurverfassungen3. Die Mark1 Vgl. E. Mückenhausen, H. W. Scharpenseel u. F. Pietig, Zum Alter des Plaggeneschs. In: Eiszeitalter und Gegenwart Bd. 19, 1968, 190—196. Zur Stellung der Plaggenesch als einer der Dreifelderwirtschaft vergleichbaren dauerhaften Körnerwirtschaft auf der Grundlage des Roggenanbaus vgl. u. a. A. Krenzlin, Die Kulturlandschaft des hannoverschen Wendlands. 2. Aufl. Bad Godesberg 1969, 321 IT. ( = Forschungen zur deutschen Landeskunde Bd. 28, H. 4). 2 Diese Thematik bedarf dringend der komplexen Bearbeitung; die Auffassungen bei der Einschätzung der Entwicklung in Sachsen gehen erheblich auseinander. Vgl. z. B. E . Müller-Mertens, Das Zeitalter der Ottonen. Berlin 1955, der annimmt, daß infolge der Rückständigkeit Sachsens der Feudalisierungsprozeß sich überhaupt erst im 10. Jh. durchgesetzt habe. Anders H. J . Bartmuß, Die Geburt des ersten deutschen Staates. Berlin 1966 sowie in weiteren Arbeiten. Vgl. auch J . Herrmann, Sozialökonomische Grundlagen und gesellschaftliche Triebkräfte für die Herausbildung des deutschen Feudalstaats. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 19 (1971), 752—789. 3 Zusammenfassend K. S. Bader, Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde. Weimar 1962. Bader verliert bei seiner Kritik an der Markgenossenschaftslehre aus dem Auge, daß die
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genossenschaft, wie sie F. Maurer aus hoch- und spätmittelalterlichen Quellen erschlossen hat, ist sicher eine Entwicklungsstufe des Hochfeudalismus 1 . D a s bedeutet jedoch keineswegs, daß genossenschaftliches Zusammenwirken der Allodbauern in vorfeudaler und frühfeudaler Zeit keine Rolle gespielt hätte. I m salischen Recht wie auch im bayrischen R e c h t finden sich Hinweise darauf 2 . Aus dem 8. Jh. kennen wir die ersten Urkunden, aus denen hervorgeht, daß der weltliche u n d geistliche Adel versuchte, die Markländereien zu okkupieren 3 . Seit Beginn der bäuerlichen Einzelwirtschaft wird in allen Fällen, wo solche Wirtschaften in Dörfern zusammengefaßt waren, die genossenschaftliche Verfügung über die Dorfmark die notwendige Bedingung für die E x i s t e n z der bäuerlichen Einzelwirtschaft gewesen sein, vor allem f ü i die Viehhaltung. Weniger ausgeprägt dürfte diese genossenschaftliche Seite zunächst allerdings auf den Ackerbau eingewirkt haben. Dort, w o vorfeudale oder frühfeudale Markgenossenschaft offensichtlich eine sehr lange und komplizierte Entwicklung durchmachte, bevor sie im Hochmittelalter als ausgebildete Einrichtung deutlich zu erfassen ist. Insofern, als Bader eine Übertragung dieser Institution des hohen Mittelalters auf das Frühmittelalter ablehnt, ist ihm beizupflichten, nicht jedoch darin, daß die markgenossenschaftliche Grundlage des frühmittelalterlichen Agrarwesens überhaupt verneint wird. S. Epperlein, Herrschaft und Volk im karolingischen Imperium. Studien der sozialen Konflikte und dogmatisch-politische Kontroversen im fränkischen Reich. Berlin 1969, 153 ff., untersucht eine Reihe von Überlieferungen, in denen im 8.-9. J h . die Mark zweifellos eine Rolle spielt. Er zieht die Schlußfolgerung (S. 174): „Dabei wird zumindest in Einzelfällen deutlich, daß die ländliche Bevölkerung die Mark genossenschaftlich nutzte und über sie teilweise auch gemeinsam verfügte". Im bayrischen Volksrecht erscheint unvermittelt der „Commarcanus", der Markgenosse (MGH. Leg. Sectio I, T. 5, P. 2. 1926, 402, 447, 473). E. Zöllner kommt bei der Untersuchung der fränkischen Frühzeit zu dem Schluß „Hier macht sich zweifellos ein genossenschaftliches Prinzip geltend . . ." (Geschichte der Franken bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. München 1970, 221). G. v. Below, Geschichte der deutschen Landwirtschaft, 10fF., betont das starke genossenschaftliche Element im frühfeudalen Agrarwesen. Am Ursprung der Markgenossenschaft in vor- und frühgeschichtlicher Zeit hegt er keinen Zweifel (S. 15). 1
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Ein derartiger Schluß ergibt sich nunmehr auch eindeutig aus den flurgeographischen Untersuchungen im fränkischen und alemannischen Gebiet. In vor- und frühfränkischer Zeit erfolgte die Anlage der Äcker als Blockfluren; dem entsprach eine wilde Gras-FeldWechselwirtschaft. Erst seit karolingischer, mit Sicherheit sogar erst seit ottonischer und salischer Zeit (10.-11. Jh.) ist mit dem Übergang zur Gewannflur als-Grundbestandteil der klassischen Markgenossenschaft zu rechnen; vgl. A. Krenzlin, Die Entwicklung der Gewannflur. I n : Deutscher Geographentag Köln 1961. Tagungsberichte und wissenschaftliche Abhandlungen. Wiesbaden 1962, 305 ff., 315 u. a. Die Gewannflur kann damit nicht mehr als Argument für ein hohes Alter der Markgenossenschaft dienen, wie noch bei G. v. Below, Geschichte der deutschen Landwirtschaft, 10 ff. Im salfränkischen Recht wird in Titel 45/1 das Mitspracherecht der Nachbarn (vicini) deutlich hervorgehoben (MGH. Leg. Sectio I, T. 4, P. 1). Vgl. Zöllner, Geschichte der Franken . . ., 221. Im bayrischen Volksrecht kommt der Begriff commarcanus vor, ohne daß sein Inhalt präzisierbar ist (Lex Baiwariorum, 402, 447, 473). S. Epperlein, Herrschaft und Volk, 153 ff.
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Flurformen zu erschließen sind, wie i m alemannisch-fränkischen Gebiet, handelt es sich u m Blockgewanne in Gemengelage, die wahrscheinlich in wilder FeldGraswirtschaft betrieben wurden, d. h. ohne festes F l u r s y s t e m 1 . Diese Situation dürfte auch noch den Yolksrechten zugrunde liegen. 2 Erst mit einer erheblichen Erhöhung der Bodennutzung, der Steigerung der Produktivität und der Aufsiedlung des Landes setzte sich seit d e m 10.—11. Jh. die Gewannflur mit fester Flurordnung im R a h m e n der Dreifelderwirtschaft durch. Diese Ordnung h a t t e jedoch die genossenschaftliche Organisation des individuell durchgeführten Ackerbaues zur Voraussetzung u n d zur Grundlage. Der W e g v o n der gentilgesellschaftlichen Gemeinde zur Markgenossenschaft i s t mithin nicht unmittelbar und direkt verlaufen, sondern wurde in einem Prozeß langer K ä m p f e u n d Entwicklungen über vier bis fünf Jahrhunderte gebahnt 3 . Der Inhalt dieses Prozesses war die B e h a u p t u n g starker bäuerlicher Positionen u n d Verfügungsrechte über die bäuerlichen Wirtschaften einschließlich des Ackerlandes sowie über das Zubehör der einzelbäuerlichen Wirtschaften in F o r m der gemeinen Mark als Gemeinbesitz. Die Herausbildung der Markgenossenschaft war also ein Ergebnis bäuerlichen Klassenkampies, u n d sie 1 2 3
A. Krenzlin, Die Entwicklung der Gewannflur, 305 ff. J . Njeussychin, Die Entstehung . . ., 158 ff. K. Marx und F. Engels widmeten der Markgenossenschaft große Aufmerksamkeit. Für sie galt die Mark nicht nur als ein Argument für das ursprüngliche Gemeineigentum an Grund und Boden, sondern als Bestandteil der feudalen Produktionsverhältnisse, die in harten Kämpfen durchgesetzt worden waren (K. Marx, in: Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 387). Als Ausdruck der Einheit individuellen und genossenschaftlichen Eigentums, Besitzes und Produktion bildete die Mark die Grundlage für die aktive gesellschaftliche Rolle der Bauern im Prozeß der Herausbildung und Entfaltung des Feudalismus und im politischen Kampf. Sie wurde „während des ganzen Mittelalters zum einzigen Hort der Volksfreiheit und des Volkslebens" (ebenda S. 387). Vgl. auch F. Engels, in: Marx-Engels, Werke Bd. 36, Berlin 1967, 319; ders., in: Marx-Engels, Werke Bd. 25, Berlin 1964, 910; Bd. 19, Berlin 1962, 315ff. F. Engels ging 1895 zum letzten Male auf die Entstehung der Markgenossenschaft unter Verarbeitung der neueren Forschungsergebnisse ein (Marx-Engels, Werke Bd. 39, Berlin 1968, 454ff.) und interpretierte die genossenschaftlichen Verhältnisse, die sich in der Lex Alamannorum widerspiegeln, noch als Ausdruck der „Hausgenossenschaft", die übergeht in die „Gemeinschaft der getrennten Familien . . . mit getrennt bewirtschafteten Feldern, aber der periodischen Verteilung unterworfen — das bedeutet, was daraus entstand, ist die russische mir, die deutsche Markgenossenschaft gewesen". (S. 457) Diese letzten Erkenntnisse von F. Engels über das Wesen und die Entwicklung der Mark präzisieren bzw. modifizieren die früher auf Grund des rechtsgeschichtlichen Forschungsstandes ausgesprochenen Auffassungen von einem direkten Übergang der Gentilgemeinde in die Mark, von einer Zurückführung der Mark bis in die taciteische Zeit usw. Die 1895 von F. Engels gegebene Skizze (vgl. auch bereits Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 63) der Entwicklung der Markgenossenschaft wird durch den heutigen Stand der Quellenforschung, die Ergebnisse der Rechtsgeschichte (vgl. Bader, Dorfgenossenschaft . . .), die Siedlungskunde (vgl. S. 187 Anm. 4) und die Ergebnisse der archäologischen Forschung (vgl. S. 180 Anm. 3 u. 181 Anm. 1) bestätigt.
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wurde . . . „eine Waffe in den Händen der Unterdrückten, lebendig bis in die neueste Zeit" Eine bedeutende Rolle bei der Entstehung von feudalem Grundeigentum spielte die Okkupation von Wald und Ödland. Solche Okkupationen erfolgten durch den König und die großen Feudalherren, und das okkupierte Land wurde wie feudaladliges Allod als Lehen ausgegeben und mit königlichen oder adligen Fronhöfen besetzt. Die Bauern erhielten es zur Bewirtschaftung gegen feudale Abgaben. Dabei kam es mehrfach zu Auseinandersetzungen zwischen den Bauern, die das Land als Niemandsland gerodet und urbar gemacht hatten, und dem Feudaladel, der Eigentumsansprüche darauf erhob 2. Das Wald- und Ödland bildete so ein großes Reservoir feudalen Grundeigentums, es wurde jedoch erst realisierbar durch Rodung. Rodungsarbeiten leisteten jedoch nur die Bauern. Diese konnten sich daher oftmals günstige Rodungs-und Nutzungsrechte erkämpfen, und die Rodungsgebiete, soweit sie für den Ackerbau günstige Böden umfaßten, wurden mehrfach zu Gebieten rascher ökonomischer Entwicklung 3 . So bildete sich in einem komplizierten und jahrhundertelangen Prozeß im Kampf zwischen Adel und Bauern das feudale Grundeigentum. Es war dadurch charakterisiert, daß es sich als privates Eigentum des Adels, also der herrschenden Klasse, an dem wichtigsten Produktionsmittel, dem Grund und Boden, entwickelte, wobei der Warencharakter des Grundeigentums infolge der gering entwickelten Arbeitsteilung und der Selbstgenügsamkeit der wirtschaftlichen Einheiten durch Lehnswesen, Privilegien und andere personenrechtliche Bindungen eingeschränkt wurde. Von den Eigentumsverhältnissen der Sklavenhalterordnung der Antike und früheren Ausbeuterordnungen war das private feudale Eigentumsverhältnis dadurch unterschieden, daß es nur das Eigentum der einen Seite der Produktionsbedingungen, nämlich am Hauptproduktionsmittel, umfaßte, nicht dagegen oder nur sehr eingeschränkt in Form der Leibeigenschaft an den Produzenten 4 . Seit dem Frühfeudalismus setzte sich jedoch in Mittel- und Westeuropa weitgehend die Lösung der Produzenten aus dem Eigentumsanspruch des Feudalherren durch 5 . Diese Eigentumsgrundlage der Feudalgesellschaft war in teilweise sehr ausgedehnten Klassenkämpfen beim Übergang zum Feudalismus herausgebildet * Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 146. 2 Beispiele für derartige Auseinandersetzungen bei S. Epperiem, Herrschaft.. ., 153 ff. 3 F. Engels, Die Mark, in: Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 326. 4 Nur in begrenztem Umfang und in einigen Gebieten bestand in der Zeit der Herausbildung des Feudalismus ein Eigentum der Ausbeuter an Menschen, das jedoch niemals bestimmend für die Produktion war und das nach und nach beseitigt wurde. Vgl. u. a. dazu A. P. KopcyHCKHii, O cTaTyce paHCKHx KOJIOHOB. CpejtfHie Bena 32 (1969), 26ff. mit Lit.—„Begrenztes Eigentum" des Feudäladels an leibeigenen Bauern wurde in der Zerfallsperiode des Feudalismus erneut in einigen Gebieten durchgesetzt, vor allem in Teilen Mittel- und Osteuropas. Vgl. dazu W. I. Lenin, in: Werke Bd. 29, Berlin 1970, 471 ff. 5 Vgl. dazu u. a. A. Dopsch, Freilassung und Wirtschaft im frühen Mittelalter. In: Festskrift til Halvdan Koth. Oslo 1933, 79-84.
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worden, und sie bot m. E. letztlich die Grundlage für die höhere Form des Klassenkampfes und die daraus sich ergebende stärkere Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung im Vergleich zu den vorhergehenden Ausbeuterordnungen. Die auf dieser Eigentumsgrundlage entstandene Klasse der Feudalbauern hatte einerseits die Möglichkeit zur begrenzten Organisation als Klasse und zum Kampf als Klasse um die Herstellung günstiger Produktionsbedingungen sowie um einen Anteil an dem von ihr geschaffenen Mehrprodukt, andererseits war sie gezwungen, gegen die ihr entgegengesetzten Interessen der Feudalklasse und gegen die daraus resultierenden Angriffe zu kämpfen. Bei der Untersuchung der Frage, unter welchen Ausbeutungsverhältnissen Kapital entsteht, unterschied Karl Marx zwei Grundformen der Ausbeutung: „unmittelbare Zwangsarbeit, Sklaverei, oder vermittelte Zwangsarbeit, Lohnarbeit. Der unmittelbaren Zwangsarbeit steht der Reichtum nicht als Kapital gegenüber, sondern als Herrschaftsverhä'ltnis; er wird daher auf ihrer Basis auch nur als Herrschaftsverhältnis reproduziert, für das der Reichtum selbst nur Wert als Genuß hat . . Kennzeichnend für das Herrschaftsverhältnis war, daß „das lebendige Arbeitsvermögen selbst als Eigentum der anderen Seite erscheint, also nicht als Austauschendes". Damit es zur Herausbildung von Kapital kommen kann, ist zunächst „die erste Voraussetzung, daß das Verhältnis von Sklaverei oder Leibeigenschaft aufgehoben ist. Das lebendige Arbeitsvermögen gehört sich selbst an und disponiert durch den Austausch über seine eigene Kraftäußerung" 2. Mit dem Übergang zum Feudalismus kämpften die Bauern darum, daß ihr „lebendiges Arbeitsvermögen sich selbst angehörte". Sie setzten, wie sich oben zeigte, ihr Ziel teilweise durch, soweit es bei der Entwicklung der Arbeitsteilung im Frühfeudalismus und unter der Bedingung, daß der Bauer durch das immobile Hauptproduktionsmittel Grund und Boden örtlich und an dieses gebunden blieb, möglich war: nämlich bis zur Herstellung von Produktenoder Geldrente bei weitgehender persönlicher Freiheit und Freiheit genossenschaftlicher Organisation. In der Organisation der Produktion ergab sich aus diesem Eigentumsverhältnis und den Beziehungen zwischen feudalen Eigentümern und Bauern ein Wechselverhältnis zwischen der landwirtschaftlichen Produktion mit selbständigen bäuerlichen Wirtschaften und der Produktion in Fronhofwirtschaften. Während die bäuerlichen Wirtschaften die Hauptform waren, in der die Agrarproduktion entwickelt wurde, da sie dem Produzenten in der Regel größere Bewegungsfreiheiten bot, erlangten die Fronhöfe als größere Betriebseinheiten und Konzentrationspunkte des Mehrprodukts in der Übergangsphase zum Feudalismus erstrangige Bedeutung für die Entwicklung von landwirtschaftlichen Spezialkulturen, von Handwerk und Gewerbe, also für die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Diese dialektische Einheit von Klein- und Großbetrieb, K . Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf). Berlin 1953, 232. 2 Ebenda, 368. 1
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die sich im Ergebnis des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen beim Übergang zum Feudalismus herausgebildet hatte, wurde zur wesentlichen Erscheinung der oben dargelegten Eigentumsverhältnisse und damit zu einem wichtigen Bestandteil der feudalen Produktionsverhältnisse. Wo diese dialektische Einheit im Klassenkampf in der Epoche der Herausbildung des Feudalismus nicht durchgesetzt werden konnte, stagnierte die ökonomische und politische Entwicklung1. So steht auch unter dem Gesichtspunkt der Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse der Feudalismus zwischen Sklaverei und Kapitalismus. Sein Grundverhältnis reproduzierte einerseits — soweit es auf Leibeigenschaft beruhte — in hohem Maße nur Reichtum als Herrschaftsverhältnis. Auf der anderen Seite entstanden jedoch mit fortschreitender Arbeitsteilung und Erweiterung der Verfügungsrechte der Produzenten über ihr eigenes Arbeitsvermögen, verbunden damit, daß sie durch den Austausch über ihre eigene Kraftäußerung zu disponieren vermochten, die Bedingungen für die Veränderungen der Rolle des Mehrprodukts oder Reichtums. Es wurde zum mobilen Element, erweiterte die Warenzirkulation sprunghaft und wurde zu einer Macht neuer Art. Diese Entwicklung begann.gebietsweise seitdem 8.-9. Jh. und führte zur allmählichen Herausbildung von Handwerkern, Gewerbetreibenden und Händlern. Sie erreichte in der 2. Hälfte des 11. Jh. mit der Ausbildung des Bürgertums und seiner Konstituierung als Städtebürgertum im Verlaufe harter Klassenauseinandersetzungen eine neue Stufe. Oberflächlich gesehen gab es zwischen den spätantiken Grundherrschaften, in denen Sklaven und Kolonen ausgebeutet wurden, und den feudalen Grundherrschaften manche Ähnlichkeiten, die sich u. a. in der Übernahme von Termini für die Bezeichnung von Abgaben- und Ausbeutungsformen ausdrücken. Diese Ähnlichkeiten waren jedoch formaler Art. Tatsächlich schied beide Erscheinungen eine ganze Epoche revolutionärer Kämpfe, in deren Verlauf sich die feudalen Bauern als eine Klasse mit bedeutenden Eigentumsund Verfügungsrechten über ihre Produktionsmittel und Produkte gebildet hatten 2 . Durch diese Kämpfe gelang es den Massen der Bauern, den antagonistischen Prozeß des Fortschritts zu einer neuen Gesellschaft entscheidend mitzugestalten. Die Bauern wurden nicht zum einfachen Ausbeutungsobjekt 1
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Beobachtungen dieser Art scheinen K. Marx offensichtlich zu der Feststellung veranlaßt zu haben, daß „Sklavenarbeit produktiver (ist) als freie, wenn letztere nicht kombiniert" ist. (Grundrisse . . . 972). „Das Parzelleneigentum schließt seiner Natur nach aus: Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit, gesellschaftliche Formen der Arbeit . . . " (K. Marx, Das Kapital Bd. 3, 815, in: Marx-Engels, Werke Bd. 25, Berlin 1964). Darauf wies F. Engels besonders hin: „Zwischen dem römischen Kolonen und dem neuen Hörigen hatte der freie fränkische Bauer gestanden . . . Die Gesellschaftsklassen des neunten Jahrhunderts hatten sich gebildet, nicht in der Versumpfung einer untergehenden Zivilisation, sondern in den Geburtswehen einer neuen." (Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 149).
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der herrschenden Klasse des Feudaladels, sondern zum historischen Subjekt in der Ausbildung der ökonomischen Beziehungen und der politischen Bedingungen des Klassenkampfes. Hatte dieser Kampf einerseits das Zusammenwirken größerer Bauernmassen zur Voraussetzung — die auf Grund der oben dargelegten Entwicklung des freien Allodbauern in genossenschaftlicher Gemeindeorganisation gegeben war —, so machte er andererseits größeren Bauernmassen die Notwendigkeit eines solchen Zusammenwirkens bewußt. Die Bildung von „Verschwörungen" seit dem Ende des 8. Jh. in verschiedenen Gebieten Mittelund Westeuropas zeugt von diesem Prozeß Gegenüber der in sich geschlossenen orientalischen Dorfgemeinde und den Sklaven der Antike erreichte die Klasse der Feudalbauern damit eine höhere Stufe der Klassenorganisation und des Klassenkampfes insofern, als sie bewußt genossenschaftliche Organisationsformen und Verfügungsrechte über selbständige bäuerliche Wirtschaften gegen die herrschende Klasse erkämpfte und verteidigte. 2 Der Klassenkampf der Feudalbauern, wie auch immer er ideologisch ausgedrückt oder überdeckt wurde3, war stets auf die Erweiterung des Spielraumes für die bäuerlichen Einzelwirtschaften und für die genossenschaftliche Organisation gerichtet. Damit führten diese Kämpfe in großen Teilen Mittel- und Westeuropas in Verbindung mit der Herausbildung des Bürgertums und der Städte zur Entwicklung einer im wesentlichen aus persönlich freien Bauern sich zusammensetzenden Klasse von Feudalbauern, die durch den Feudaladel über Geld- .und Produktenabgaben bzw. in Form des Pachtzinses ausgebeutet wurden. Die Konzentration des Mehrprodukts aus der Ausbeutung der Bauern erfolgte im Feudalismus nicht in erster Linie durch den Staat oder eine kor1
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K. Th. v. Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte bis zum Schluß der Karolingerzeit. 2. Aufl. Leipzig 1909, 320ff., 360ff. Auf die neue Qualität der Klassenverhältnisse, die sich mit der Feudalentwicklung bildeten, wies F. Engels hin (Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 149); ähnlich W. I. Lenin (Werke Bd. 29, Berlin 1970, 471). Die geistige Orientierung konnte auf dieser Entwicklungsstufe zwangsläufig nur an den Verhältnissen zurückliegender Zeiten erfolgen — durch deren Interpretation für Ziele der jeweiligen Gegenwart. In der frühfeudalen Epoche bedeutete das eine Orientierung der Bauern an der Stellung des freien Bauern der vorfeudalen Zeit. Selbst die bäuerlichen Kämpfe des 15. und 16. Jh. fanden ihre geistigen Grundlagen, indem alte religiöse Ideologien neu interpretiert wurden. Das gilt auch für das aufsteigende Bürgertum. Deshalb kann es kein Maßstab für die Beurteilung einer Volksbewegung sein, ob und wie sie an ältere Ideologien anknüpfte oder sich die Wiederherstellung älterer Zustände zum Ziele setzte, die in der Regel zudem — durch die Ideologie der Zeit selbst — idealisiert und den Bedürfnissen der Gegenwart „angepaßt" wurden. Für die Beurteilung der historischen Stellung solcher Volksbewegungen kann nur gelten, in welchem Maße durch die Aufnahme solcher Zielstellungen weiterführende gesellschaftliche Verhältnisse im Klassenkampf objektiv durchgesetzt wurden. Für die hier behandelte Zeit ist das auf den größten Bauernaufstand des 9. Jh., den Stellingaaufstand, anzuwenden. (Zum Steilingaaufstand zuletzt unter kritischer Sichtung der Quellen und der z. T. kontroversen Literatur S. Epperlein, Herrschaft... 50-68.)
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porativ organisierte herrschende Klasse, sondern durch jedes Mitglied der herrschenden Klasse als den jeweiligen privaten Grundeigentümer in seiner Grundherrschaft (bzw. analog in den kirchlichen oder königlichen Grundherrschaften). Damit war einerseits eine Dezentralisation des Mehrprodukts verbunden — z. B. dauerte es mehrere Jahrhunderte, bis sich feste königliche Residenzen herausbilden konnten; ein monumentales Bauwesen in breitem Umfang setzte erst mit dem Hochfeudalismus und der Entstehung der Städte ein —, andererseits führte diese Form der gesellschaftlichen Organisation jedoch dazu, daß die herrschende Klasse verhältnismäßig eng mit der Agrarproduktion als dem wichtigsten Zweig der Produktion in der Aufstiegsphase des Feudalismus verbunden war, dafr ein großer Teil des Mehrprodukts der Organisation einer Vielzahl von Grundherrschaften, der Anlage von Spezialkulturen, Mühlen, Rodungen, Melioration und handwerklicher Spezialisierung an den Fronhöfen zugute kam und damit eine sehr breite Basis für die Herausbildung der Arbeitsteilung und des Städtewesens gelegt wurde. Unter diesem Gesichtspunkt kommt dem Verfall des antiken Städtewesens eine andere als in der Regel angenommene Bedeutung zu. Seit der Zeit der Entstehung der Ausbeutergesellschaften und damit von Städten war die Stadt der Sitz der ausbeutenden Klassen gewesen; in den Städten wurde das Mehrprodukt konzentriert und für Konsumtions- und Repräsentationszwecke der Herrschenden verbraucht. Die Entwicklung der Arbeitsteilung in der handwerklich-städtischen Produktion wurde in der Regel diesen Interessen der Herrschenden untergeordnet. Die in einigen Gebieten auf dieser Grundlage und unter diesen Voraussetzungen entstehende gesellschaftliche Arbeitsteilung im weitesten Sinne war zweifellos beachtlich und mannigfaltiger als die in der Epoche der Herausbildung des Feudalismus. Charakteristisch war jedoch im allgemeinen, daß sie zur Entwicklung der Landwirtschaft, des wichtigsten Produktionszweiges, nur in geringem Maße beitrug. Durch die Bindung der handwerklichen und gewerblichen Arbeitsteilung in der Aufstiegsphase des Feudalismus an die Agrarproduktion in den Grundherrschaften konnte die Arbeitsteilung zum unmittelbaren Hebel der gesellschaftlichen Grundproduktion werden 1 . Eine neue Ausgangsbedingung für die weitere Entwicklung wurde dadurch geschaffen, daß im Verlaufe des Aufstiegs des Feudalismus nicht eine Unterordnung des Landes unter die Stadt eintrat, sondern die Trennung von Stadt und Land und die Verbindung beider über den Markt. Die Tatsache, daß die Bauern jeweils nur relativ isolierten Grundherren gegenüberstanden, führte zu einer oftmals günstigeren Ausgangsposition im Klassenkampf, die ihnen im Notfall die Flucht auf Rodungsland oder auf das 1
Zum grundlegenden Wechsel des gesellschaftlichen Verhältnisses Stadt — Land vgl. u. a. F. Engels (Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 161). Engels betont, daß dieser Wechsel engstens mit der Veränderung der Klassenverhältnisse verbunden war, „wobei die Stadt das Land ökonomisch beherrschen kann, wie im Altertum, oder auch das Land die Stadt, wie im Mittelalter". Vgl. auch K. Marx, Das Kapital, in: Marx-Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1962, 373.
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Gebiet anderer Grundherren offenhielt. Damit besaßen die Bauern im aufsteigenden Feudalismus ein bedeutsames Mittel des Klassenkampfes, dem u. a. bei der Herausbildung der Städtebürger aus ehemaligen Leibeigenen und Hörigen eine große Rolle zukam1. Auf diese Weise bildeten sich über mehrere Jahrhunderte des Klassenkampfes, vor allem zwischen dem 5./6. und 9. Jh., die feudalen Produktionsverhältnisse in großen Teilen West- und Mitteleuropas heraus. Sie waren „durch die Teilung des Bodens unter möglichst viele Untersassen charakterisiert. Die Macht des Feudalherrn . . . beruhte . . . auf der Zahl seiner Untertanen, und letztere hing von der Zahl selbstwirtschaftender Bauern ab" 2. Ein wesentliches Ergebnis des bäuerlichen Klassenkampfes waren die bedeutenden Verfügungsrechte der Feudalbauern in großen Teilen Mittel- und Westeuropas über ihre Produktionsmittel sowie die genossenschaftliche bäuerliche Organisation. „Man muß nie vergessen", schrieb Karl Marx, „daß selbst der Leibeigene nicht nur Eigentümer, wenn auch t r i b u t p f l i c h t i g e r E i g e n t ü m e r , der zu seinem Haus gehörigen Bodenparzelle war, sondern auch Miteigentümer des Gemeindelandes" 3_. „Das Grundverhältnis der ganzen feudalen Wirtschaft, Landverleihung gegen Leistung gewisser persönlicher Dienste und Abgaben"4, beruhte nach den Auffassungen von K. Marx und F. Engels — daran scheint mir kein Zweifel möglich — auf dem privaten feudalen Grundeigentum5. Auf Grund dieser Voraussetzungen erklärt sich der „Aufbau einer sozialen und politischen Rangordnung von so verwickelter Art, wie sie bisher noch nicht bestanden hatte".6 Die vom privaten feudalen Grundeigentum bestimmte gesellschaftliche Basis, die daraus erwachsenden Klassengliederungen und Ausbeutungsformen und der daraus entspringende Klassenkampf mit seinen verhältnismäßig differenzierten, überethnischen Formen waren bestimmend für den Staatsaufbau. Das feudale Grundeigentum war auf außerökonomischem Wege durch 1
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Nach K. Marx (Grundrisse, 363) ist „das Weglaufen der Leibeignen in die Städte eine der h i s t o r i s c h e n Bedingungen und Voraussetzungen des Städtewesens". Vgl. K. Marx, Das Kapital Bd. 1, in: Marx-Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1962, 745. Ebenda, Anm. 191 (Hervorhebungen von mir). F. Engels, in: Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 396. Insofern scheint mir die im Anschluß an E. Müller-Mertens getroffene Feststellung von H. Assing (Zur Definition des feudalen Grundeigentums. Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 11 (1970), 95—107), „daß Marx und Engels keine abgeschlossene FeudalismusAuffassung hinterlassen haben" (S. 97), nur bedingt zutreffend. Die JSigentumsgrundlagen des Feudalismus bzw. ihre Genesis sind bereits in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie deutlich herausgearbeitet (375 ff.; 187, 188, 190). Klarer und historischkonkret ausgeführt bei F. Engels, Ursprung . . ., in: Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 146ff., 148f., 150; ders., in: Marx-Engels, Werke Bd. 39, Berlin 1968, 457. F. Engels, Anti-Dühring, in: Marx-Engels, Werke Bd. 20, Berlin 1962, 96. Lenin schrieb: „Die Gesellschaft der Leibeigenschaft war immer komplizierter als die Sklavenhaltergesellschaft." (Werke Bd. 29, Berlin 1970, 472).
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außerökonomische Hebel in bedeutendem Umfang aus kleinem Allodeigentum oder unbebautem Land entstanden. Nach K . Marx verlief dieser Prozeß sogar so, daß es dem Feudaladel oftmals nicht gelang, das bäuerliche Eigentum insgesamt in feudales Großgrundeigentum zu verwandeln, sondern bäuerliches Eigentum nur feudaler Ausbeutung durch Tribute und Abgaben zu unterwerfen1. In Sachsen und Friesland — so zeigte sich (oben S. 188 ff.) — muß mit einer derartigen Entwicklung gerechnet werden. In England scheinen die feudalen Verhältnisse in großen Landesteilen auf dieser Basis beruht zu haben.2 Unter diesen Bedingungen war das Bestehen eines Zwangsapparates zur unmittelbaren Eintreibung feudaler Dienste und Abgaben eine Grundvoraussetzung feudalherrlicher Ausbeutung3. In der Übergangsperiode zum Feudalismus, in der im Verlaufe von ausgedehnten Klassenauseinandersetzungen und Kämpfen nach und nach feudale Produktionsverhältnisse hergestellt wurden, hatte dieser die Form des Großreiches (der Merowinger; vergleichbare Großreiche waren das Großmährische Reich, die Kiewer Rus u. a.). Seine sozialökonomische Basis waren unentwickelte KlassenVerhältnisse. In den ehemaligen römischen Gebieten bildete die zentralisierte militärische Macht eine der wesentlichen Grundlagen für die Zerschlagung der römischen Staatsgewalt, für die Behauptung der Herrschaft der sich bildenden Adelsklasse gegenüber anderen, ebenfalls auf römischem Gebiet entstehenden Barbarenstaaten (Westgotenreich, Ostgotenreich, Burgunderreich) und für die Durchsetzung der Adelsherrschaft gegen die freien Bauern. In dieser Phase vermochte die entstehende Adelsklasse weitestgehend die freien Bauern, die den Grundbestand der Heeresaufgebote bildeten, als wichtigste militärische Schlagkraft auszunutzen und dabei gleichzeitig durch beständige Kriegszüge eben diese Bauern zu ruinieren und ihren Übergang in feudale Abhängigkeit zu erzwingen. Im Kampf gegen die germanischen Stämme östlich des Rheins stellte die Zentralisation der Macht des entstehenden Adels des Frankenreiches den einzigen Weg dar, um die noch in gentiler Organisationsform im Heeresaufgebot der Stammesverbände zusammengefaßten freien Bauern zu unterwerfen. Wie rasch diese scheinbaren Kämpfe zwischen den Stämmen in KlassenausVgl. die oben angeführte Stelle aus dem „Kapital", in: Marx-Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1962, 745 Anm. 191. 2 K. Marx, Das Kapital Bd. 1, in: Marx-Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1962, 744f.: „Die ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung bestand damals und noch mehr im 15. Jh. aus freien, selbstwirtschaftenden Bauern, durch welch f e u d a l e s A u s h ä n g e s c h i l d ihr Eigentum immer versteckt sein mochte". Vgl. auch A. L. Morton, Volksgeschichte Englands. Berlin 1956, 131 ff., 183ff.; P. Vinogradoff, The Growth of the Manor. 3 Außerökonomischer Zwang (K. Marx, Das Kapital Bd. 3, 799; W. I. Lenin, Werke Bd. 2, Berlin 1970, 492) war ein Grundbestandteil der Herrschaft des Feudaladels, verbunden mit dem Ausschluß der Bauern von allen politischen Rechten (W. I. Lenin, Werke Bd. 29, Berlin 1970, 472). Abarbeit, persönliche Abhängigkeit, war der „ständige Begleiter der vorkapitalistischen Wirtschaftsformen" (Lenin, Werke Bd. 2, Berlin 1970, 534). 1
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einandersetzungen übergingen, zeigt besonders die Unterwerfung Sachsens. Nach der Taufe Widukinds als Ausdruck des vollzogenen Bündnisses zwischen fränkischem und sächsischem Adel im Jahre 782 kämpfte der sächsische Adel insgesamt an der Seite des fränkischen Adels gegen die sächsischen Bauern. Im Rahmen des fränkischen Reiches übte der sächsische Adel seit 772 staatliche Funktionen wie Grafenämter aus. Etwa zwei Jahrzehnte lang, bis zum Beginn des 9. Jh., standen die sächsischen Bauern in einem hartnäckigen und erfolgreichen Kampf gegen den vereinigten fränkischen und sächsischen Adel und gestalteten durch diesen Kampf ganz offensichtlich entscheidend die Ausbildung feudaler Produktionsverhältnisse Der Übergang zu feudalen Produktionsverhältnissen war jedoch — wie oben gezeigt — mit der Durchsetzung von feudalem privatem Grundeigentum verbunden. Nachdem dieses in einem interessenbestimmenden Umfang vorhanden war, begannen die zentrale Gewalt im Karolingerreich seit dem 1. Viertel des 9. J h . an Macht zu verlieren, das Großreich in Teilgebiete und diese wiederum in Herzogtümer zu zerfallen. Zugleich begannen sich staatliche Funktionen in den Grundherrschaften zu bilden, die u. a. Immunitätsrechte, d. h. die staatliche Sanktionierung von Grundherrschaften als privatrechtliche Gebiete, erhielten. Diese Grundherrschaften waren in mehr oder weniger großem Umfang der Machtausübung der Zentralgewalt entzogen, schufen sich jedoch selbst staatliche Organe entsprechend den jeweiligen Erfordernissen. Die vorwiegend naturalwirtschaftlich bestimmten Beziehungen innerhalb der Grundherrschaften und zwischen den Grundherrschaften als selbstgenügsamen Einheiten sicherten diesen über mehr oder weniger lange Zeit und in mehr oder weniger breitem Umfang ihre Existenz als autonome Einheiten innerhalb des Feudalstaates. Die Zentralgewalt wachte lediglich über die allgemeinen Bedingungen ihrer Existenz nach außen und versuchte, die entstehenden Spannungen im Innern durch lockere politische Zusammenfassungen des Feudaladels in Hoftagen, Heeresversammlungen usw. auszugleichen. Ansonsten bildeten die adligen Burgen und befestigten Adelshöfe, die seit dem 9. Jh. in größerer Zahl zu entstehen begannen, sowie Gefolgschaften, die der Adel ständig unter Waffen hielt, wesentliche Machtmittel für die Ausübung feudaler Herrschaft. Eine andere, nicht weniger wesentliche Seite feudaler Herrschaft wurde von der christlich-feudalen Ideologie aufgebaut. Gestützt auf umfangreiches feudales Grundeigentum und unter Ausnutzung der Macht des Wortes und der Kultur gelang es der Kirche, die breiten Massen des Volkes fest in die feudale Gesellschaft einzubeziehen. Diese Durchdringung der Gesellschaft mit einer einheitlichen Ideologie, die mit Hilfe religiöser Mittel und religiöser Verheißungen Ausbeutung und privates Eigentum sanktionierte und schützte, andererseits die Arbeit als gottgefällige, belohnenswerte Tätigkeit wertete, auch in Not1
Eine marxistische Untersuchung dieser Frage steht noch aus. Zum Stand der Forschung vgl. unter dem Gesichtspunkt „bäuerliche Freiheit — feudale Abhängigkeit" H.-J. Bartmuß, Die Geburt des ersten deutschen Staates . . . , 150 ff.
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fällen zur Barmherzigkeit rief und den Mantel sozialer Geborgenheit auszubreiten schien, wirkte in den Zeiten des Aufstiegs der Feudalordnung integrierend und festigend. Es scheint, daß diese Form der massenwirksamen Ideologie eine notwendige Ergänzung zu der und zugleich Voraussetzung für die Organisation feudalstaatlicher Macht auf der Grundlage zersplitterter lokaler, z. T. privater Grundherrschaften bildete. 1 Die Verhältnisse mußten sich in dem Augenblick ändern, in dem die Warenproduktion einen größeren Umfang annahm, die Städte entstanden und sich mit der Entstehung des Bürgertums die Klassenkräfte entscheidend veränderten, Privateigentum also in größerem Umfang als Ware zu zirkulieren begann. Diese ökonomischen Veränderungen setzten sich über Klassenauseinandersetzungen in verschiedenen Formen bis zum bewaffneten Aufstand der Bauern und der entstehenden Städtebürger, in feudalen Fehden und Kriegen durch. Infolge dieser, letztlich auf privatem Grundeigentum beruhenden Klassenstruktur des Feudalismus, die in der Art und Weise der Aneignung des Mehrprodukts durch die Feudalherren in privaten Grundherrschaften ebenso zum Ausdruck kam wie in der zeitweiligen Organisation von „Feudalgutstaaten" 2 , fand das Bürgertum günstige Bedingungen vor, um bei seiner Herausbildung auf der Grundlage nichtagrarischer, handwerklicher und gewerblicher Produktion und des Handels sowohl seine Stadtorganisation in einer feudalen Immunitäten vergleichbaren Form als auch die privateigentümliche Basis als Ganzes durchzusetzen. Damit jedoch entstand im Rahmen der feudalen Gesellschaft und der auf privatem Eigentum beruhenden feudalen Produktionsverhältnisse „die erste Grundbedingung bürgerlichen Erwerbs: Sicherheit der kaufmännischen Person und ihres Eigentums" 3 . Infolge der Tatsache, daß das feudale Grundeigentum den Charakter von Privateigentum hatte und weil das Privateigentum, wenn auch in vielfacher Form verbrämt, die Struktur der feudalen Gesellschaftsordnung bestimmte, war mit dem Anwachsen der Produktivkräfte eine verhältnismäßig rasche und weitgehende Konstituierung des Städtebürgertums neben dem Feudaladel möglich, ohne daß damit die Umwälzung der gesamten Gesellschaftsordnung 1
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Die Kirche wurde zur „allgemeinsten Zusammenfassung und Sanktion der bestehenden Feudalgesellschaft", woraus sich die „Oberherrlichkeit der Theologie auf dem ganzen Gebiet der intellektuellen Tätigkeit" herleitete (F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg. In: Marx-Engels, Werke Bd. 7, Berlin 1960, 343). Die oben skizzierte Form der Bindung von unmittelbarer staatlicher Machtausübung an die Grundherrschaft wurde auch als „Feudalgutstaat" bezeichnet, vgl. B. F. Porschnew, Das Wesen des Feudalstaates. Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswiss. Abt. 1952, 257; N. Kolesnizki, Zur Frage der Periodisierung der Geschichte des feudalen Staates. In: Zur Periodisierung des Feudalismus und Kapitalismus in der geschichtlichen Entwicklung der UdSSR. Diskussionsbeiträge. 20. Beiheft zur „Sowjetwissenschaft". Berlin 1952, 245; E . Müller-Mertens, Das Zeitalter der Ottonen. Berlin 1955, 139 ff. F. Engels, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, 1889/90, In: Marx-Engels, Werke Bd. 22, Berlin 1963, 31.
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verbunden war. „Überall, wo ein persönliches Verhältnis durch ein Geldverhältnis, eine Naturalleistung durch eine Geldleistung verdrängt wurde, da trat ein bürgerliches Verhältnis an die Stelle eines feudalen" 1 . Eine derartige Entwicklung war nur möglich in einer Gesellschaftsformation, die das Privateigent u m an Produktionsmitteln, „durch welch feudales Aushängeschild" auch immer versteckt, zur Grundlage hatte. Derartige feudale Aushängeschilder, die letztlich dem Zustand der Produktion entsprangen, waren das Lehnswesen, Privilegien, die personenrechtlichen Bindungen und Beziehungen und die unterschiedlichen Formen feudaler Abhängigkeit und außerökonomischen Zwanges, mit deren Hilfe die Feudalklasse die Ausbeutung der Bauern durchsetzte. Der staatliche Machtapparat mußte unter den Bedingungen der Existenz einer Vielzahl privater feudaler Grundeigentümer und Grundherrschaften zwangsläufig die Form der feudalen Aristokratie annehmen, an deren Spitze der feudale König als primus inter pares stand 2 . 1 F. Engels, in: Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 394. „Die herrschende Klasse, die hier, bei aufkommender Ungleichheit des Besitzes, sich allmählich bildete", so schrieb F. Engels, „konnte nur eine Klasse großer Grundbesitzer sein, ihre politische Herrschaftsform die einer Aristokratie" (F. Engels, in: Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 476).
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Objektive Gesetzmäßigkeiten und subjektiver Faktor bei der Entstehung des altrussischen Staates* von Sergej Sergeevit Sirinakij (Moskau)
Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit der Wechselwirkung zwischen den objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung und dem subjektiven Faktor in der hochinteressanten Periode der Entstehung der Kiewer Rus, eines der ältesten Staaten der slawischen Welt, der sich über ein ausgedehntes Gebiet in Osteuropa erstreckte. Die Geschichte der Herausbildung des altrussischen Staates wird schon seit vielen Jahren von den sowjetischen Historikern erfolgreich erarbeitet. Dennoch sind einige Seiten dieses Prozesses, vor allem wegen der UnVollständigkeit der schriftlichen Quellen über die Anfangsperiode der Kiewer Rus, noch unzureichend untersucht. Dabei muß man, genau genommen, auch die Geschichte der Forschungen berücksichtigen, die die sowjetischen Wissenschaftler zum Problem der Entstehung des altrussischen Staates unternahmen. B. D. Grekov und B. A. Rybakov wiesen darauf hin, daß die ersten Versuche der nachrevolutionären Forscher zur Bearbeitung dieser Frage nicht immer erfolgreich verliefen und trotz der marxistischen Ausgangsposition1 durch eine mechanistische Deutung der konkreten historischen Ereignisse gekennzeichnet waren. Anfang der 30er Jahre begann die neue Etappe einer eingehenden und konsequenten Untersuchung der Geschichte der Ostslawen und der Kiewer Rus auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Methodologie. Unter Anwendung der Lehre von den sozialökonomischen Formationen und den Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung erarbeiteten die sowjetischen Historiker und Archäologen auf dem Wege genauesten Quellenstudiums eine exakte wissenschaftliche Konzeption, die den altrussischen Staat als eine der wichtigsten Etappen der Entwicklung des Feudalismus in Rußland charakterisiert. Gestützt auf ein umfassendes Tatsachenmaterial werden in diesen Arbeiten der reale Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte bei den Ostslawen in der 2. Hälfte des 1. Jahrtausends u. Z. sowie der Prozeß des Zerfalls der gentilen Stammes• Übersetzung aus; JleHHHCKHe H«eH B HayieHHH HCTopnH nepBoöiiTHoro oömecTBa, pa6oBjia#eHHH h i HCTOPHH AOKANHTAJIHCNIQECKHX oßmecTB, Ii—12. MocKBa — JleHHHrpafl 1934; ders., OCHOBH apxeo-rrorHH. MIJCKBA 1955, 201—211; ders., ApxeojiorniecKHe AAHHTIE no BapnmcKOMy Bonpocy. I n : KyjibTypa flpeBHefl Pycw. MocKBa 1966; M. 10. BpaftneBCKHÄ, B . O. FLOBJKEHOK, 0 BpeMeHH cJioweHHH KEH0K, K HCTOPHH aeMJieAeiiHH y BOCTOIHHX CJiaBHH B I TBICHHEAETHH H. a. H B anoxy KneBCKoii Pycn. I n : MaTepnajibi AEMJIEREJIHH CCCP Bd. 1, 1 9 5 2 ; ders., 0 6 ypoßiie pa3BHTHH aeMJiejjejiHH B KneBCKOft Pycn. I n : HCTOPHH CCCP, 1960, Nr. 5; flpeBHepyccKoe r0cy«apcTB0 H ero Me)KHyHapoAHoe aHaieHHe. MocKBa 1965; A. B. KnpbHHOB, 3eMjieAeJine BocTonHoro cJiaBHHCTBa. I n : B03HHKH0BeHHe H pasBHTHe seMJiesejiHH. MocKBa 1 9 6 7 , 1 7 1 — 2 0 2 ; "B. MaBpoflHH, 06pa30Bamie flpeBHepyccKoro rocyjjapcTBa. JleHHHrpaA 1945; A. H. Hac0H0B, „Pyccuaa aeMjra" H o6pa30Banne TeppnTopHH flpeBHepyccKoro rocynapcTBa. MocKBa 1 9 5 1 ; OiepKH HCTOPHH CCCP IX—XIII B B . MocKBa 1 9 5 9 ; B . H . PaBflOHHKac, O B03HHKH0BEHHH $eoAajiH3Ma B jiecHoft nonoce BocToqHofi Eßponbi B CBeTe apxeojiorHiecKux «auHbix. HSBCCTHH rocyRapcTBeimott AKaaeMHH HCTOPHH MaTepnajibHoft KyjibTypbi 1 0 3 ( 1 9 3 4 ) ; B. A . Pti6aKOB, A H T H H KneBCKaH Pycb. BeCTHHK HpeBHeK HCTOPHH 1 9 3 9 , Nr. 1 ; ders., üojiHHe H ceßepHHe. CoBeTCKaH 3THorpa$HH 6 — 7 ( 1 9 4 7 ) ; ders., PeMecno ,H,peBHeit Pycn. MocKBa 1 9 4 8 ; ders., ^peBHne pycu. CoBeTCKa« apxeonoi'HH 1 7 ( 1 9 5 3 ) ; ders., OöpaaoBaHHe flpeBHepyccKoro rocyaapcTBa. MocKBa 1955; ders., üpennocbuiKH oßpasoBaHHH flpeBHepyccKoro rocyÄapcTBa; ders., CnopHbie Bonpocti o6paaoBaHHH flpeBHepyccKoro rocy^apcTBa. Bonpocu HCTOPHH 1 9 6 0 , N r . 9 ; ders., 0630pO6IHHXHBTOHHÖpyccKoüHCTOPHHIX— cepeRHHuXIIIB. Bonpocu HCTOPHH 1 9 6 2 , Nr. 4 ; ders., üepBbie BeKa pyccKOÄ HCTOPHH. MocKBa 1 9 6 4 ; K . H . TapHOBCKHft, üpeffnocbuiKH B03HHKH0BeHHH (JieoAajinaMa y BOCTOHHHX CJiaBHH. Bonpocu HCTOPHH 1 9 5 4 , Nr. 4 ; M . H . THXOMHPOB, IIpoHcxoHweHHe HaaBaHHö „Pycb" H „Pyccwan 3eMJiH". CoBeTCKaH 3THorpa$HH 6 — 7 ( 1 9 4 7 ) ; ders., flpeBHepyccraie ropoRa. MocKBa 1 9 5 6 ; II. H . TpeTbHKOB, IIoRceMHoe 3eMJieAeJiHe B BOCTOHHOÄ EBpone. HaBecTHH rocy^apcTBeHHOft AKaneMHH HCTOPHH MaTepnajibHoK KyjibTypu 1 4 , 1 ( 1 9 3 2 ) ; ders., BocTOHHOcnaBHHCKHe nneMeHa. MocKBa 1953; ders., O ApeBHeftuiHX pycax H HX aeMJie. I n : CnaBHHe H Pycb. MocKBa 1 9 6 8 ; H . B . CoaHH, K Bonpocy o npnHHHax nepexo^a BOCTOIHUX CJiaBHH OT nepBOÖHTHOoßmHHHoro CTpoH K $eOÄa:iH3My. BonpocH HCTOPHH 1 9 5 7 , Nr. 6 ; C. B . IOIIIKOB, OnepKH no HCTOPHH EOAAJIH3MA B KneBCKolt Pye«. MocKBa 1 9 3 9 ; ders., OSmecTBeHHonoJiHTHqecKHft cTpo« H npaBO KneBCKoro rocy«apcTBa. MocKBa 1 9 4 9 ; B . JI. H H H H , J^eHentHo-BecoBue cncreMu pyccworo cpe«HeBeKOBbH. MocKBa 1957. ÄAJIBCKOÖ H
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SERGEJ SERGEEVIC SIRINSKIJ
echte Grundlage für eine exakte marxistische Konzeption der Geschichte der Kiewer Rus geschaffen werden. Trotz der noch vorhandenen großen Lücken in unseren Kenntnissen zeichnet sich das Leben der ostslawischen Bevölkerung in der Zeit vor der Entstehung der Kiewer Rus auf Grund schriftlicher Quellen und des Materials archäologischer Ausgrabungen schon recht plastisch ab. Wie aus den Arbeiten sowjetischer Forscher hervorgeht, war die stürmische Zeit um die Mitte des 1. Jahrtausends und im dritten Viertel des 1. Jahrtausends u. Z. für den ostslawischen Bereich die qualitativ wichtige Etappe eines langsamen, aber stetigen Zerfalls der früheren patriarchalischen Gentilordnung und der gleichzeitigen Ausbildung von Sippenkollektiven zu neuen, vielfältig organisierten Formen der Stammesverbände^ Die den Archäologen bekannten slawischen Siedlungen aus dieser Zeit - hauptsächlich unbefestigte dörfliche Siedlungen, gegen Ende der Periode aber auch Befestigungen — stellen die Ansiedlungen einer ihrem Charakter nach widersprüchlichen Gentilgruppe — des sogenannten Patronymium — dar. In allen diesen Siedlungen fand man Reste von kleinen, meist eingetieften Häusern und verschiedene Wirtschaftsgebäude. Alle Bauten innerhalb dieser Siedlungen waren ohne ein besonderes System angelegt. Spuren, die auf ein Vorhandensein von Einzelgehöften oder Höfen mit den dazugehörigen Gebäuden und Ländereien 1 hindeuten könnten, fehlen. Es steht außer Zweifel, daß jedes Haus (gewöhnlich mit einer Grundfläche von 8 bis 16 m2) in diesen Siedlungen nur von einer, und zwar zahlenmäßig kleinen, Familie bewohnt werden konnte. Zu ihrem Eigentum gehörten offensichtlich die Gegenstände des häuslichen Bedarfs und der Schmuck der Frauen, die in derartigen Wohnstätten gefunden wurden. Andererseits zeugen aber solche Tatsachen wie das Fehlen von abgesonderten Gehöften bei diesen Siedlungen, die unsystematische Verteilung der Wirtschaftsgebäude um die Wohnhäuser herum und manchmal auch — wie das Material der Siedlung auf der Makarov-Insel erkennen läßt 2 — die Aufbewahrung von zahlreichem Wirtschaftsinventar nur an einem Ort von einer kollektiven Wirtschaftsführung sowie von kollektivem Eigentum an den wichtigsten Produktionsinstrumenten und an Nahrungsvorräten. Höchstwahrscheinlich wurden die Bewohner dieser Siedlungen noch durch Sippenbande zusammengehalten, aber ihre Kollektive entsprachen nicht mehr der früheren patriarchalischen Großfamilie. Wir haben dabei eine Gruppe untereinander verwandter Einzelfamilien vor uns, die durch die Gemeinsamkeit der Herkunft und des wirtschaftlichen Lebens verbunden waren. Diese Organisation, die M. 0 . Kosven als Patronymium 3 bezeichnet, bedeutet für die 1
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W. M . JlHnyiuKMi, CnaBHHe BOCTOHHOÄ Eßponw HaKaHyHe oßpasoBamiH flpeBHepyccKoro rocyflapcTBa. MaTepnanii n MccjieaoBaHiiH no Apxeojiorini CCCP 152 (1968), 128—133. 1,3,. T . Bepe30Bei;, üocenewiH y;iHieti Ha p. THCMHM. MaTepiiajiti H IlcaienoBaHUH no Apxeojionin CCCP 108 (1963), Abb. 20. M. O. KocBeH, CeMeitHan oömima H naTpomiMUH. MocKBa 1963, 97—100.
Die Entstehung des altrussischen Staates
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ostslawische Welt den Zerfall der Großfamilie, der sich in der Periode vom 6. bis 9. J h . in einem schnellen Wachstum und gleichzeitiger Segmentierung der Großfamilie äußerte. Die Bewohner der beschriebenen Siedlungen bestatteten in vielen Fällen ihre Toten weiterhin in Hügelgräbern, die in der heutigen Literatur traditionsgemäß als „Sippengräber" bezeichnet werden. Diese Hügel enthalten jedoch nur 5 bis 6 Bestattungen; sicherlich handelt es sich dabei um die Glieder einer Einzelfamilie, die ständig außerhalb der Sippenorganisation lebte. Allein die Verbrennung des Verstorbenen auf einem für das ganze Sippenkollektiv gemeinsamen Verbrennungsplatz verbindet diese Bestattungen einstweilen noch mit den alten Bräuchen 1 . Und dennoch läßt sich im Endergebnis feststellen, daß die Hügelgräber von Mitgliedern der konsolidierten Einzelfamilien nur geringe Unterschiede zu den echten Einzelgräbern aus der Periode des entstehenden Feudalstaates aufweisen. Die folgende vorherrschende Organisationsform der ostslawischen Bevölkerung im 6. bis 9. J h . läßt sich aus der Kartierung der Siedlungen aus jener Zeit rekonstruieren, die von B . A. Rybakov, 1 . 1 . Ljapuskin und I . P. Rusanova vorgenommen wurde. Aus ihren Beobachtungen ergibt sich, daß diese Fundplätze gewöhnlich als ganze Nester im Gelände auftreten. Jedes dieser Nester umfaßt mehrere, 3 bis 5 km voneinander entfernt liegende Siedlungen. Die Entfernung zwischen den einzelnen Siedlungskonzentrationen beträgt 30 bis 40 k m 2 . E s sei betont, daß zwar einige Orte in solchen Siedlungsnestern zu verschiedenen Zeiten gegründet worden sein und unterschiedlich lange bestanden haben können, daß jedoch über das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer, in enger Verbindung zueinander stehender Siedlungen keinerlei Zweifel besteht 3 . Am ehesten kann man diese Erscheinung als Abart des phratrialen Systems erklären. Die Phratrien, die nach F . Engels „buchstäblich Brudergentes" waren, sind historisch und ethnographisch bei vielen Völkern bekannt und stellen die progressive Form dep sich weiterentwickelnden gentilen Stammesgesellschaft dar: ein System von Sippengruppen, die durch gemeinsame Abstammung, gegenseitige Hilfe und gemeinschaftliche Ausübung religiöser Zeremonien miteinander verbunden sind 4 . Die Blutsverwandtschaft der Bewohner der meisten ostslawischen Einzelsiedlungen im 6. bis 9. J h . läßt natürlich auch eine verwandtschaftliche Bindung zwischen den nahegelegenen 1
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Solche „Sipperischeiterhaufen" sind aus dem Gebiet der Krivicen bekannt. Vgl. dazu A. A. CnwiibiH, Paccenemie RpeBHepyccKHX imeMeH no apxeojiorHqecKHM RaHHbiM. In: JKypHaji MHHHeTepeTBa HapoRHoro IIpocBemeHHH 314 (1899), 312. B. A. PußaKOB, ripejinocMjiKH . . ., 851 f.; M. H. JlnnyiiiKHH, CjiaBHHe BOCTOHHOK Eßponu . . . , 128; W. II. PycaHOBa, MccJieAOBamie naMHTHHHOB nap. FHUJICHIHTH. In: ApxeojioranecKHe OTKpbiTHH 1965 ro«a. MoCKBa 1966, 142—146. H. II. PycaHOBa, MccjieROBaHHe naMHTHHKOB . . ., 142,145F.; dies., CjiaBaHCKne naMHTHHK« BTopoft noJiOBHHti I TUE. H. 3. Ha ceBepo-sanaae YKPAHHBI H wre Bejiopycnii. IN: ,H,peBHOCTH EeJiopycHH. MHHCK 1 9 6 6 , 183—185.
« Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 101, 103f., 109, U2f.; A. H. Ilepuiim, A. JI. MoHrattT, B. II. AjieKceeB, Meropim nepBoSbiraoro oßmecTna. MocKBa 1968, 138.
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und in engem Kontakt miteinander stehenden Siedlungen vermuten. Das phratriale Prinzip der Gruppierung von Siedlungsorten zu einem Nest kommt auch in dem gemeinsamen Versammlungsplatz und der Kültstätte zum Ausdruck, die von I. P. Rusanova für eine dieser kleinen Siedlungsgruppen der Drevljanen festgestellt wurden 1 . Eine weitere Organisationsform der ostslawischen Bevölkerung im 6. bis 9. Jh. waren die Stämme und Stammesverbände. Der Stamm bestand bei für ihn günstigen Bedingungen aus mehreren Phratrien und bildete die verbindliche und oberste Einrichtung der gesellschaftlichen Beziehungen, die im Grunde bis zur Blutsverwandtschaft zurückreichten 2 . Schon im 11. und 12. Jh. kannte man jedoch keine konkreten ostslawischen Stämme mehr; sie sind der Geschichtswissenschaft erst durch die Untersuchungen der Archäologen bekannt geworden 3 . Für die Chronisten der Blütezeit der Kiewer Rus war die Erinnerung an die slawischen Stämme durch eine dem Inhalt nach andere Organisationsform der Bevölkerung ausgelöscht, und zwar durch die Stammesverbände, die in der Tat eine wichtige Rolle bei der Bildung des Staates spielten und für die Nachwelt die Erinnerung an ihren Ursprung verwischten. Bei der Bildung solcher Gruppierungen spielte das Prinzip der Blutsverwandtschaft in reiner Form keine bedeutende Rolle. 4 Statt dessen führten die allgemeinen Lebensbedingungen der benachbarten Stämme, die langsame, aber stetige Entwicklung der Produktivkräfte, die sich in der Steigerung der erzielten landwirtschaftlichen Produktion, dem Wachstum der Bevölkerung und der Erweiterung der handwerklichen Produktion ausdrückte, zu stärkeren Kontakten zwischen den einzelnen Stämmen bei der Erlangung von Rohstoffen, die an einigen Orten fehlten. Den unmittelbaren Anstoß dafür, daß aus diesen Kontakten die neue Form des Stammesverbandes mit gemeinsamem militärisch-administrativem Apparat hervorging, gab die äußere militärische Gefahr. 5 Hunnen, Weiße Ugrier, bulgarische Nomadenstämme, Awaren und das Chasarenkaganat sowie die besonderen Siedlungsbedingungen in den nördlichen Gebieten Osteuropas gehören zu der bei weitem nicht vollständigen Zahl von äußeren Faktoren, die eine politische Vereinigung der ostslawischen Stämme unbedingt erforderten. Rolle und Bedeutung solcher Vereinigungen für die Ostslawen im6. bis 9. Jh. sind in den Arbeiten von B. D. Grekov, B. A. Rybakov und P. N. Tret'jakov*' 1
H . IL PycaHOBa, MccneROBaHiie naMHTHHKOB . . . , 142—146. In den Siedlungen einzelner Patronymien, die zur Phratrie gehörten, gab es analoge Bauten für Gemeinschaftsversammlungen (vgl. dazu B. A . PußanoB, CTOJIBHHÜ ropo« Hepmiroß H YREJIBHBIFT ropon BmHW. no cnesaM. ApeBHHX KyjibTyp. In:flpeBHHHPycb. MocKBa 1953, 113). 2 Marx-Engels, a. a. O., 97. 3 B. A. PwßaKoB, ¿JpeBHHe pycbi, 25f.; I\ ConoBbeßa, CnaBHHCKJie COK>3H njieiaeH no apxeoJiorHnecKHM MaTepiianaM VIII-XIV BB. COBETCKAN apxeojiorHH 25 (1956). 5 '• B. A. PbißaKOB,flpeBHHepycu, 25. Marx-Engels, a. a. O., 164. 6 B. R. TpeKOB, KneBCKan Pycb, 77-83, 284f., 293f., 320-322, 352f., 360-364, 519-523. ders., Eopböa Pycu . .., 33—46; B. A . PbißaKOB, AHTLI H KiieBCKaH Pycb; ders., PaHHHH
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hervorragend charakterisiert. Daher brauchen diese Fragen hier nicht im einzelnen behandelt zu werden, sondern es sei mir gestattet, nur einige spezifische Momente aus der Geschichte der Ostslawen dieser Periode hervorzuheben, die für die Thematik des vorliegenden Artikels von Interesse sind. Die neuesten archäologischen Ausgrabungen bestätigen vollauf die von B. A. Rybakov schon 1953 ausgesprochenen Schlußfolgerungen, daß seit dem 6./7. Jh. im Dnepr-Gebiet ein mächtiger Stammesverband der Russen vorhanden war, der den organisatorischen Kern für den zukünftigen altrussischen Staat darstellte1. In den letzten Jahren wurde auch über andere ostslawische Gruppierungen des 6. bis 9. Jh. noch umfassenderes Beweismaterial gewonnen2. Im Lichte dieser Entdeckungen stellt sich der objektive Einfluß der ostslawischen Stammesverbände auf den Prozeß der Herausbildung des altrussischen Staates folgendermaßen dar: Die Schaffung und Entwicklung von Einrichtungen der slawischen Stammesverbände vom 6. bis 8. Jh. erweiterten in zunehmendem Maße die Beziehungen zwischen den verschiedenen Stämmen und verminderten zugleich die frühere, nur auf den eigenen Stamm gerichtete Isoliertheit. Diese Beziehungen, die auf den ersten Blick ausschließlich durch die militärische Situation und die Notwendigkeit einer Gesamtleitung und materiellen Versorgung der militärischen Gefolgschaft, der Drushina, diktiert zu sein schienen, zeigen jedoch immer vielfältigere Formen. Unter den Bedingungen einer kontinuierlichen Zusammenarbeit führten sie faktisch zu einer territorialen Vereinigung der Stämme auf der Basis des einheitlichen wirtschaftlichen und kulturellen Lebens, der Sitten und Gebräuche, der Sprache, der Religionsausübung und der Verwaltung 3 Die gemeinsamen Aufgaben, die die Politik des Stammesverbandes bestimmten, erforderten eine Koordinierung der Handlungen aller beteiligten Stämme, eine ständige Regulierung der Wechselbeziehungen zwischen den Stämmen und die Bereitstellung der zum Unterhalt der periodisch organisierten mili-
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KyjibTypa BOCTOHHHX CJICLBHH. McTopnHecKiift «ypHaJi 1943, Nr. 73—80; ders., ßPEBHHE pycbi; ders., 06pa30BaHHe JJpeBHepyccKoro rocyAapCTBa, 7—41;ders.,IIpeAnocbiJiKH. ..; II. H. TpeTbHKOB, BoCTOMHOCJiaBHHCKne imeMeHa, 173—305. B. A. PußanoB,flpeBHHepycti; II. H. TpeTbHKOB, O ApeBHeiimnx pycax . . . HD. B. K y x a p e H K O , CpejjHeBKOBtie naMHTHHKH ü o j i e c b H . CBOH ApxeoJioriwecKHx HCTOHHHKOB, EI—57, 1 9 6 1 ; A. H . MocuajieHKO, T o p o f l a m e THTMiixa. Boponeat 1965; H.H. JlflnyniKHH, r o p o A H m e H o B O T p o m j K o e . M a T e p n a j i H H H c c j i e a o B a i m H n o Apxeojiormi C C C P 74 ( 1 9 5 8 ) ; ders., CjiaBHHe BOCTOTOOÄ Eßponti; H . II. PycaHOBa, CnaBHHCKHe naMHTHHKH . . . , B . B . CeflOB, KPHBHMH. CoBeTCKan apxeoJiorHH 1960, N r . 1 ; ders., O l o r o 3anaflHoft r p y n n e B0CT0MH0CJiaBHHCKiix imeMeH. I n : H c T o p H K o - a p x e o j i o r H i e c K H Ä c S o p m i K . M o c K B a 1 9 6 2 ; ders., B0CT0HH0CJiaBHHCK0r0 (1965);
3
II.
flperoBHHH.
CoBeTCKan apxeoJiorHH 1963, N r . 3 ; ders., HA HcropHH
paccejieHHH.
H . TpeTbHKOB, O
KpaTKiie
cooßmeHHH HHcraTyTa apxeoJiorHH
opMnpoBaHnn ceBepHOü BeTBH
104
speBHepycCKOft H a p o R H o c r a .
In: M a T e p n a j i H roßHJieüHoii Hay^Hoit KOH$epemuiH. CMOJICHCK 1967. II. H. TpeTbHKOB, PaccejieHwe RpeBHepyccKHx iraeMeH no apxeojiorimecKHM AaHHUM. CoBeTCKan apxeonorHH 4 (1937); BocTo«ÄyHapoAHOE 3HaieHHe, 384f.; B. JI. HHHH, fleHe>KH0-Bec0Bbie CHCTeMhi . . . , 74, 75, 84. B. A. PbiSaKOB, flpeBHOCTH HepmiroBa. MaTepnajibi H HCCJienoBaHHH no apxeojiornn CCCP 11 (1949), 51 f.; ders., IIpe«nocMJiKH . . . , 864f.
D i e Entstehung des altrussischen Staates
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Beziehungen zwischen der Herrin des Gutshofes und den Personen, die um ihren Grabhügel unter bis ca. 1 m hohen Aufschüttungen bestattet sind. Eine Tatsache aber steht fest: Ein Fürst aus Kiew oder Cernigov bzw. eine Verwaltungseinrichtung der Cernigover Poljanen besaß mindestens zwei Generationen vor der 988 erfolgten Annahme des Christentums in Rußland (die drei größten Grabhügel der'Gruppe enthielten sämtlich heidnische Bestattungen) genügend Macht, um für eigene Ziele im Stammesgebiet der Poljanen einen Vertreter eines fremden Stammes einzusetzen, d. h. das zu vollbringen, was noch kurze Zeit zuvor absolut unmöglich gewesen war. Es wurde schon erwähnt, daß die wachsenden Bedürfnisse der Gesellschaft und besonders das Entstehen spezieller Quartierplätze für die Kriegsmannschaften gegen Ende des 8. Jh. zu einer verstärkten Konzentrierung der handwerklichen Produktion führten. Mit dem wichtigen Sprung in der Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktivkräfte am Ende des 8. und zu Beginn des 9. Jh. und mit den wachsenden Möglichkeiten zur Erlangung eines zusätzlichen Mehrprodukts war die reale Grundlage gegeben, ständig Kriegsmannschaften, die bereits aus berufsmäßigen Kriegern bestanden, zu unterhalten. Die Versorgung dieser Kriegsmannschaften im großen Maßstab erforderte eine weitere Festigung ihrer Basis im Bereich der handwerklichen Produktion. So mußten besondere Handwerkerzentren vor allem für die Versorgung der Krieger und ihrer Familien organisiert werden. Kunden bei ihnen wurden natürlich auch die an der Spitze der Gesellschaft stehenden eigentlichen Herren der Kriegsmannschaften: der Fürst und die ehemaligen Stammesältesten, die sich in landbesitzende Bojaren verwandelt hatten. Diesen Hand werker Z e n t r e n oblag auch die Betreuung der Handelskarawanen reicher slawischer Kaufleute, die Rauchwerk über die Grenzen des slawischen Landes hinausbrachten 1 , ferner sicherten sie den Bedarf der näheren Umgebung. Auf diese Weise bildeten sich höchstwahrscheinlich die ersten ostslawischen Städte heraus. Ihre Entwicklungsstufen im 9. Jh. lassen sich archäologisch durch eine Reihe von großflächigen Fundorten belegen: durch das Verwaltungs-, Kult- und Wirtschaftszentrum am Fluß Gnilopjat 2 , durch die Befestigungsanlage von Chotomel mit der dazugehörigen Dorfsiedlung, in der geringe Spuren handwerklicher Produktion gefunden wurden 3 , und schließlich durch die befestigten Siedlungen Alcedar und Ekimaucy 4 . Hierbei handelt es sich um bereits entwickelte Städte, um Verwaltungszentren für die nächste Umgebung, Mittelpunkte des Kriegsgefolges sowie um Handwerks- und Handelskomplexe. Das angeführte Material zeigt, daß die stürmische Entwicklung der Produktivkräfte im ostslawischen Bereich am Ende des 8. und zu Beginn des 1 2
A . ü . HoBocejibueB, BoeroHHbie HCTOHHHKH . . ., 384f. M. I L PycaHOBa, MccueAOBamie naMHTHiiKOB . . . , 142—146. 10. B . KyxapeHKO, Cpe«HeBeKOBbie naaiHTHHKM üojiecbH, 27.
4
T. B .
®e«opoB,
PaöoTbi npyTCK0-,II,HECTP0BCK0II
cooßmenHH MHCTHTyTa a p x e o j i o n u i 99 (1964); I n : K y j i b T y p a flpeBHeil P y e » .
3Kcne;umnn ders.,
B
1960—1961 r r . KpaTKiie
llocafl EnnMayuKoro ropoauuia.
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9. Jh. im Verlauf von nur wenigen Jahrzehnten zu einer grundlegend neuen Gliederung der Gesellschaft führte, die keinerlei Analogien in den früheren gentilen Stammesverhältnissen der Slawen aufzuweisen hat. Die Gesellschaft zerfiel in zwei große, sich einander gegenüberstehende Gruppierungen: auf der einen Seite in die sich bildende Klasse der Landeigentümer und Empfänger der Grundsteuern und Abgaben, die sich durch ausgedehnten Handel noch zusätzliche Einnahmen verschafften, auf der anderen Seite in die große Zahl der unmittelbaren Produzenten, der einfachen Angehörigen der Gesellschaft, die jetzt vom Adel direkt und auf dem Wege des militärischen und ökonomischen Zwangs auch indirekt ausgebeutet und durch ein verzweigtes System verschiedener Steuern und Strafgelder gebunden wurden Die neue Teilung der Gesellschaft in Klassen bewirkte auch eine Umgestaltung der Institution des Kriegsgefolges sowie des alten, noch durch das System der Stammesverbände geschaffenen Verwaltungsapparates. Diese Einrichtungen wurden, indem sie den Interessen der Ausbeuterklasse dienten, vom Volk losgelöst und ihm entgegengestellt. Infolge der raschen Entwicklung der Produktivkräfte gerieten also die archaischen gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse in den am weitesten entwickelten ostslawischen Gebieten Anfang des 9. Jh. in Widerspruch zu den neuen Bedürfnissen der Gesellschaft. Gleichzeitig wurden damit auch die objektiven Voraussetzungen für die Entstehung des Staates geschaffen. Tatsächlich läßt sich vom Jahre 833 an archäologisch eine überraschend deutliche Aufgliederung der ostslawischen Welt in drei große Gebiete verfolgen, deren Grenzen sich in keiner Weise in den territorialen Rahmen der früheren Stammesverbände einfügen lassen. Diese Gebiete zeichnen sich deutlich ab, wenn man die Verbreitungskarten kufischer Münzen, der sogenannten Dirhems, im ostslawischen Gebiet betrachtet. Während in den 70er und 80er Jahren des 8. Jh. und bis zum Jahre 833 die Schatzfunde von orientalischen Münzen, die die ökonomischen Beziehungen der Ostslawen widerspiegeln, relativ gleichmäßig im ostslawischen Siedlungsgebiet verteilt sind 2 , fällt in der folgenden Periode 1
In den schriftlichen Quellen wird noch eine dritte Gruppe der ostslawischen Gesellschaft des 9.—11. Jh. unterschieden: die Sklaven. Natürlich bleibt die Rolle ihrer Arbeit z. B. bei der Herausbildung feudalen Landbesitzes bisher noch umstritten, da eingehende Untersuchungen entsprechender archäologischer Komplexe fehlen. Dennoch ist zu vermuten, daß die Sklavenarbeit für das allgemeine Gleichgewicht der slawischen Produktion des 0.—10. Jh. keine ernsthaftere Bedeutung gehabt hat. In den zu dörflichen Siedlungen gehörigen Hügelgräbern jener Zeit traf man in der Rus auf keine einzige Sklavenbestattung. Die gemeinsamen Bestattungen von getöteten Sklaven mit ihren Herren, die in zu Städten gehörigen Hügelgräbern gefunden wurden, charakterisieren nur die Sklaven in der Rolle als Hausgesinde (vgl. fl. H. EjimfiejibA, K HcropimecKOÄ oueHKe HpywHHHbix norpeöeHHtö n cpyönux rpoßHimax. CoßeTCKaH apxeoJioruH 20 (1954), 153—156, 158, 159;
A. ÄBffycHH, ApxeojiorHH CCCP. MocKBa 1967, 232; C. C. LHiipuHCKnß, KypraHbi X Ht'Ka y Aep. üepecavK. KpaTKHe cooömeHHH nHCTHTyTa apxeojioniH 120 (1969). - Ii. JI. HHIIH, /JeirewHO-BecoBbie CHCTeMbi..., Abb. 5; vgl.auch P . P . «PacMep, 0 6 ii3AaHnn noBofi Tonorpa(J)NII Hax0R0K Kyij)niecKnx MOHCT B BOCTOMHOÜ Eßpone. In: M3BECTHH A H CCCP, OTAOJieimo oCmeemeHHbix nayK 1933, Nr. 6—7, 473—484.
D i e E n t s t e h u n g des altrussischen S t a a t e s
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des Münzumlaufs — von 833 bis zum Beginn des 10. Jh. — aus dem Verbreitungsgebiet der orientalischen Silbermünzen plötzlich ein großer Bezirk heraus, der die Territorien der Poljanen, Drevljanen, Dregovicen, Radimicen, den südlichen Teil des Landes der Polocker und Smolensker Krivicen und schließlich den Westteil des von den Severjanen bewohnten Territoriums umfaßt. Es ist bezeichnend, daß das verbliebene Verbreitungsgebiet des Dirhem seinerseits in zwei gut zu lokalisierende Bezirke zerfällt, die voneinander durch das Flußgebiet der oberen Wolga getrennt sind. Im Nordosten dieses Bereiches gruppieren sich alle Schatzfunde im Siedlungsgebiet der Slovenen, der Pskover Krivicen, der Ves' und im nördlichen Teil des Landes der Polocker und Smolensker Kriviöen. Im Südosten waren die Silbermünzen bei den Vjaticen und in den östlichen Gebieten der Severjanen verbreitet Die Erklärung für diese angeführte Gliederung des ostslawische.i Bereiches liegt in den konkreten Lebensbedingungen der genannten Gebiete zu Beginn des 9. Jahrhunderts. So geben z. B. sowohl die schriftlichen als auch die archäologischen Quellen für das 9. Jh. die Existenz einer politischen Vereinigung der Pskover Krivicen, der Slovenen und der Ves' im Nordwesten Osteuropas wieder, die noch im Geiste alter Traditionen der militärischen Demokratie entsprechend der jeweiligen Situation für ihre Ziele von auswärts Kriegsgefolge anwerben konnten 2. Nach Chronikangaben und numismatischem Material lagen die Vjaticen und Severjanen aus dem zweiten Bezirk des Verbreitungsareals von orientalischem Silbergeld im 9. Jh. im Einflußbereich des Chasarenkaganats. Diese Stämme zahlten den Chasaren Tribut und wurden erst nach einer Reihe von Feldzügen der russischen Fürsten Askold, Oleg und Svjatoslav ihrer Herrschaft entrissen3. Äußerst interessant ist das dritte Gebiet im ostslawischen Bereich, das offensichtlich die erste Grundlage für den Stammesverband der Rus war 4 . Der letzte Dirhemfund, der die erste Periode des Umlaufs orientalischer Münzen bei den Slawen widerspiegelt, stammt in diesem Gebiet aus dem Jahre 824. Mit der 833 beginnenden neuen Zirkulationsperiode des Dirhem bei den Ostslawen ist dieses Gebiet gleichsam einem Zollkrieg ausgesetzt und bleibt bis zum Ende des 9. Jh. völlig isoliert von der Sphäre des Handels mit dem Orient und sogar von seinen nächsten Nachbarn, den Slawen5. Diese Erscheinung könnte man folgendermaßen erklären: Gegen Ende des 1. Drittels des 9. Jh. entstand auf der Grundlage des ehemaligen Stammes1
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B. JI. HHHH, fleHeiKHo-BecoBbi cHCTeMbi ..., Abb. 17; vgl. auch B. B. CeaoB, KpiiBHHH, Abb. 6, 7; T. 3M njieMeu ..., Abb. 2—5, 8. „IIoBecTb BpeiaeHHHX JieT" (im weiteren I1BJI) Bd. 1. MoCKBa—JleuHHrpa« 1950, 18; B. B. CesoB, KpHBHHH, 62; vgl. auch Marx-Engels, a. a. O., 143. nBJI Bd.l, 18, 20, 47; B . H . T a r a m e B , MCTOPHH PocciittCKan Bd. 1.MocKBa-JleHHHrpaa 1962, 110; B.B. KponoTKHH, HoBbie MaTepHanu no HCTOPHH ÄeHejKHoro oßpamemiH B BOCTOHHOÜ E ß p o n e B KOHije VIII — nepBOtt nonoBHHe IX B. In: CjiaBHHe H P y c b . MocKBa 1968, 74-76. B. A. PußaKOB, üpeRnocbuiKH ..., 766—771. B . JI. HHHH, FLEHE>KH0-BEC0BBIE CHCTEMM . . . , A b b . 17.
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Verbandes der Rus auf dem Territorium der Poljanen, Drevljanen, Dregovicen, Radimicen, eines Teils der Severjanen und Krivicen ein qualitativ neues Gebilde — der altrussische Staat. Das an Hand von numismatischem Material ermittelte Gebiet entspricht in erstaunlicher Weise genau dem Territorium, das von B. A. Rybakov nach sorgfältigem und methodologisch neuem Studium der grundlegenden schriftlichen Quellen als die Rus-Herrschaft von Dir und Askold charakterisiert wurde Auch die Ursachen für die seltsame „Diskriminierung" des jungen Staates in seinem Handel mit dem Orient lassen sich erklären. Y. L. Janin, der den Ausschluß des mittleren und oberen Dneprgebietes aus der Sphäre des Dirhemumlaufs mit der stark angestiegenen Nachfrage nach Silber in den den Handelswegen am nächsten gelegenen ostslawischen Gebieten erklärt 2 , erfaßt nicht die ganze Kompliziertheit der Situation, in die die Rus mit dem Augenblick ihrer Formierung als Staat geraten war. Zum einen ließ V. L. Janin die Rolle außer acht, die der nächste Nachbar der Rus, das Chasarenkaganat, im Vermittlungsund Direkthandel des Orients mit der Rus spielte. Noch in der ersten Periode des Umlaufs orientalischer Münzen bei den Slawen nahm das Kaganat zweifellos an diesem Handel teil 3 , und erst in den 20er Jahren des 9. Jh. brach es ihn jäh ab. Zum anderen läßt sich die These, daß die an den Handelswegen zur Wolga ansässigen Slawen das orientalische Silber absorbierten, als einzige Ursache für den Abbruch der Dirhemeinfuhr in das Dneprgebiet seit dem Jahre 833 nicht mit dem tatsächlich in jener Zeit zunehmenden Einströmen von orientalischen Münzen nach Skandinavien vereinbaren. So wurden im Vergleich mit nur wenigen Schatzfunden aus der vorhergehenden Zeit allein auf der Insel Gotland von den 20er bis zu den 90er Jahren des 9. Jh. 86 Funde mit arabischen Münzen ausgegraben, wobei die Menge des aufgefundenen orientalischen Silbers in den 80er Jahren des 9. Jh. besonders umfangreich war 4 . Der erste große politische Akt des Russischen Staates war die Annahme des Titels Kagan durch seinen Fürsten 5 . Nach M. I. Artamonov bedeutete ein derartiger diplomatischer Schritt unter damaligen Umständen vor allem die Betonung der Unabhängigkeit des altrussischen Staates und seiner Gleichberechtigung gegenüber dem gefürchteten Nachbarn, dem Chasarenkaganat6. 1
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B. A. PfcißaKOB, IIpeflnocbiJiKH . . 7 6 6 - 7 7 1 , 797-812, 814f.; ders., flpeBHHH Pyci>. CKasaHHH, ßujiHHH, jieToniiCH, 159—173. B. JI. HHHH, fleHejKHo-BecoBue ciicTeMM . . . , 103—106. B . B . KponoTKHH, 9K0H0MIWECKNE CBH3H BOCTOMHOÖ Eßponu B I TUCHUEJIETIIH Hameft apn. MocKBa 1967, 120 f. M. Stenberger, Die Schatzfunde Gotlands der Wikingerzeit Bd. 1. Uppsala 1958, 319f., 326, 361. HsBoieMemie »3 EepTHHCKHx aimajioB. In: ÜEMATHMKH HCTOPHH KweBCKoro rocy^apcTBa . . . , 2 3 ; B . n . UlymapHH, flpeBHepyccKoerocy^apcTBo B 3anaRHo-H BocTo Ebenda, 51. * Lampert von Hersfeld, Annalen. In: Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Bd. 13, Berlin o. J., 32. 5 R. Trautmann, a. a. O., 83f.; HoBropogCKaH nepBan JieTonHCb. MocKBa 1950, 176; B. H. TarameB, HcTopHH PoccHficKan 1, MocKBa 1962, 113.
Die Entstehung des russischen Staates Kiewer Bus
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wurde ausgebaut. Nunmehr erhielt der Staat zwei weitere sehr tragfähige Stützen, die Staatsreligion mit den kirchlichen Institutionen und das allgemeinverbindliche Gesetzbuch. Das Christentum als Staatsreligion führte Großfürst Vladimir ein, das erste allgemeine Gesetzbuch, die Russkaja Pravda, stellte sein Nachfolger, Großfürst Jaroslav der Weise, zusammen (1016) K Es ergibt sich nun die Frage, auf und aus welcher sozial-ökonomischen Basis dieser altrussische Staat entstand. Eindeutig war das Staatswesen eingebettet in eine Klassengesellschaft, die sich in erster Linie bei den Ostslawen entwickelt hatte, die das überwiegende Ethnikum im riesigen Staatsterritorium bildeten. Weniger eindeutig bestimmbar ist die sozial-ökonomische Formation dieser Klassengesellschaft. Aus dem Griechenvertrag von 945 ist zu entnehmen, daß es in der Rus die Sklaverei gab 2 , wenn ihre Form auch nicht erkennbar ist. Man könnte sie als Haussklaverei charakterisieren. Doch in dem gleichen — vielleicht auch im folgenden — Jahr führte Olga die Strafexpedition gegen die Drevljanen durch, wobei sie verfügte, daß die Gefangenen „zur Arbeit ihren Mannen" übergeben werden, woraus die Arbeitssklaverei ersichtlich ist 3 . Die Verwendung der Sklaven in der Produktion scheint jedoch nicht allgemein gewesen zu sein, denn für das Jahr 969 berichtet Nestor im Zusammenhang mit dem Plan des Fürsten Svjatoslav, sich in Perejaslavl an der Donau niederlassen zu wollen, daß dieser dort „Sklaven aus der Rus zu verkaufen gedachte" 4 . Neuerdings hat der sowjetische Mediävist J a . N. Scapov alle Erscheinungen dieser Sklaverei registriert und sie als ein System der „mittelalterlichen Sklaverei" bezeichnet5. Außer der Sklaverei bildeten sich in der Rus im 10. Jahrhundert jedoch auch feudale Abhängigkeitsverhältnisse heraus. Sie sind aber für diesen Zeitraum nur „schwer erkennbar" 6 . Ein dokumentarischer Beleg für Erscheinungen der Feudalordnung steht dem Historiker dennoch zur Verfügung. Es handelt sich um die Mitteilung Nestors über die Maßnahmen Olgas zum Staatsausbau, wonach sie die Ablieferung des obrok, der Produktenrente, anordnete7. Man möchte meinen, daß es sich hierbei nicht um eine neue, von Olga eingeführte Abgabe handelt; vielmehr regelte sie eine bereits praktizierte Zahlung, die diejenigen zu leisten hatten, deren ökonomische Freiheit bereits beschränkt war. Ein besonders bemerkenswertes und auffallendes Merkmal der Anordnungen Olgas ist, daß sie beiden gesellschaftlichen Ordnungen, der Sklaverei und dem Feudalismus, Rechnung trug. Die auf ökonomischer AbHoBropoHCKa« nepBaa jieToimcb, 175. R . Trautmann, a. a. O., 31 f. 3 Ebenda, 40. 4 Ebenda, 46. 3 fl. H. IIJanoB, O COMIAJIBHO-AKOHOMHIECWIX YRAA^AX B flpeBHeft Pye» XI-nepBOil nojioBHH&i X I I B. In: AKTyajibHtie npoßjieMhi HCTopim POCCHHanoxn $eoAajiH3Ma. MocKBa 1970, 93. 6 H. B. HepenHHH, 50 JieT COBCTCKOÄ HCTopanecKoft HAYKH H HeKOTopne MOTU H3YQEHHH (JieojiajibHott anoxH HCTOPHH POCCHH. In: HCTOPHH C C C P 6, MocKBa 1967, 86. ' R . Trautmann, a. a. O., 40. Der Autor übersetzt den altrbssischen Ausdruck o6poK mit „Zins." 1
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BRUNO WIDERA
hängigkeit beruhenden gesellschaftlichen Formationen drücken sich auch in befestigten Höfen aus, die man bei archäologischen Forschungen in großer Anzahl auch für das 10. Jahrhundert erkannte und die in der sowjetischen archäologischen Literatur als groro