Begehren und Sinn: Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision 9783495807842, 9783495487525


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Inhalt
Vorbemerkung
Einleitung: Schwerpunkte von Therapie und Supervision
I. Radikale Phänomenologie und Tiefenpsychologie
1. Radikale Leiblichkeit
1) Leiblichkeit als Erneuerung des Denkens
2) Handeln als reine Relationalität
3) Einheit des Empfindens
2. Ego, Affekt und Welt
1) Das Verhältnis von Transzendenz, Immanenz und Impressionalität
2) Die Darstellung des Affektiven in der Welt
3) Fremderfahrung und Andersheit
3. Trieb und Psychoanalyse
1) Trieb und Erotik
2) Hermeneutische Freudlektüre bei Ricœur
3) Psychoanalyse und Lebensphänomenologie
II. Begehren und Existenz
4. Die Neo-Psychoanalyse Lacans
1) Spiegel und Subjekt
2) Begehren und Phantasma
3) Verlust und Leere des Subjekts
5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie
1) Der »aufgeschobene Tod« im Begehren
2) Heidegger und die Daseinsanalyse
3) Therapie und »Klinischer Blick«
6. Konkretionen therapeutischer Praxis
1) Einheit von Begehren und Sinn
2) Verbot und Transgression
3) Verlust und Schuld
Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«
1. Übertragung und Gegenübertragung
2) Supervision als »Kartographie« des Begehrens
3) Zum Verhältnis von Religion und Therapie heute
Gesamtbibliographie
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Begehren und Sinn: Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision
 9783495807842, 9783495487525

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Seele, Existenz und Leben Band 25

Rolf Kühn

Begehren und Sinn Grundlagen für eine phänomenologischtiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495807842

.

B

Rolf Kühn

Begehren und Sinn

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Das Buch intendiert eine Klärung der prinzipiellen Grundlagen für einen existentiell wie gesellschaftlich immer wichtiger werdenden Erfahrungsbereich, wie ihn die Begegnung zwischen Patient und Therapeut darstellt, um sowohl aus tiefenpsychologischer wie phänomenologischer Perspektive nach der »Wirklichkeit« einer solchen Beziehung zu fragen. Der Haupttitel »Begehren und Sinn« verweist dabei auf eine doppelte Struktur, die in der bisherigen Tradition auch mit Trieb und Existenz bezeichnet wurde, aber letztlich auf einen gemeinsamen Ursprung zurückverweist, der als rein subjektives, intensives wie pathisches Leben bezeichnet wird. Damit ist eine radikale Einheit der Leiblichkeit gekennzeichnet, die sich in die Welt als Sinn oder Intentionalität hinein entwirft, aber dies vor-ontologisch nicht vermöchte, ohne an eine lebendige Bewegung zurückgebunden zu sein, welche das Begehren darstellt. In diesem Begriff findet sich auch die neo-psychoanalytische Weiterführung Freuds durch Lacan mit den entsprechenden meta-psychologischen Auseinandersetzungen angedeutet, so wie der Sinnbegriff hauptsächlich auf Beschreibungen Husserls und Ricoeurs im Zusammenhang mit Daseins- und Existenzanalyse (Binswanger, Frankl) rekurriert, wobei ebenfalls der Beitrag von Heidegger und Michel Henry durchgehend gewürdigt wird. Methodische und technische Fragen zum therapeutischen Prozess werden so in einen größeren Zusammenhang gestellt und schulübergreifend nachvollziehbar.

Der Autor: Rolf Kühn (geb. 1944), Lizentiat kath. Theologie und Dr. phil. Sorbonne-Paris, Habilitation Philosophie Univ. Wien; zahlreiche Veröffentlichungen im Forschungsbereich Phänomenologie, psychologische Anthropologie, Religions- und Kulturphilosophie; Gründer des »Forschungskreises Lebensphänomenologie« Berlin, Freiburg i. Br., Innsbruck, Chambéry (www.lebensphaenomenologie.de); Lehrausbilder und Supervisor für Existenzanalyse und Logotherapie (Réseau de France / Association des Logothérapeutes Francophones).

https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Seele, Existenz und Leben Band 25:

Rolf Kühn

Begehren und Sinn Grundlagen für eine phänomenologischtiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision Zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Seele, Existenz und Leben Herausgegeben von Günter Funke und Rolf Kühn in Zusammenarbeit mit dem Institut für Existenzanalyse und Lebensphänomenologie Berlin (www.guenterfunkeberlin.de) sowie dem Forschungskreis Lebensphänomenologie, Freiburg i. Br. (www.lebensphaenomenologie.de)

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48752-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80784-2

https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Schwerpunkte von Therapie und Supervision

9

. . .

Teil I: Radikale Phänomenologie und Tiefenpsychologie 1.

Radikale Leiblichkeit . . . . . . . . . . . 1. Leiblichkeit als Erneuerung des Denkens 2. Handeln als reine Relationalität . . . . 3. Einheit des Empfindens . . . . . . . .

2.

Ego, Affekt und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Verhältnis von Immanenz, Transzendenz und Impressionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Darstellung des Affektiven in der Welt . . . 3. Fremderfahrung und Andersheit . . . . . . . . .

. . . 96 . . . 116 . . . 132

Trieb und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . 1. Trieb und Erotik . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hermeneutische Freudlektüre bei Ricœur . . . . 3. Psychoanalyse und Lebensphänomenologie . . .

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3.

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43 44 60 77

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95

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150 151 172 187

5 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Inhalt

Teil II: Begehren und Existenz 4.

Die Neo-Psychoanalyse Lacans . 1. Spiegel und Subjekt . . . . . . 2. Begehren und Phantasma . . . 3. Verlust und Leere des Subjekts

. . . .

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211 212 232 255

5.

Differenz und Immanenz in der Psychotherapie . . 1. Der aufgeschobene »Tod« im Begehren . . . . . 2. Heidegger und die Daseinsanalyse . . . . . . . . 3. Therapie und »Klinischer Blick« . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

269 269 297 320

6.

Konkretionen therapeutischer Praxis 1. Einheit von Begehren und Sinn . . . 2. Verbot und Transgression . . . . . 3. Verlust und Schuld . . . . . . . .

. . . .

. . . .

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340 341 366 386

Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation« . . . . 1. Übertragung und Gegenübertragung . . . . . . . . . . 2. Supervision als »Kartographie« des Begehrens . . . . . 3. Zum Verhältnis von Religion und Therapie heute . . .

399 399 434 459

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Gesamtbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467

6 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Vorbemerkung

Die vorliegende Untersuchung ist das Ergebnis einer langjährigen Forschungsarbeit wie auch Praxis in den sich überschneidenden Bereichen von Phänomenologie und Psychotherapie, die sich gegenseitig verifizieren, insofern es um das Selbsterscheinen des lebendigen Individuums in seinem Empfinden wie Handeln geht. Begonnen haben wir diese Auseinandersetzung seit den 1990er Jahren mit den kleineren Werken »Sinn – Sein – Sollen« sowie »Existenz und Selbstaffektion in Therapie und Phänomenologie«, welche im Wesentlichen der Existenzanalyse Viktor E. Frankls und deren Weiterentwicklungen in kritischer Hinsicht gewidmet waren. Es folgten sodann Studien zur spezifischen Problematik der Scham und Gelotophobie in Kooperation mit Vertretern der Tiefenpsychologie und Individualpsychologie Alfred Adlers insbesondere. In Zusammenarbeit mit dem »Berliner Institut für Existenzanalyse und Lebensphänomenologie« entstanden dann ab 2000 größere Arbeiten wie »Einführung in eine phänomenologische Psychologie« und »Patho-genese und Fülle des Lebens« als unser erster Versuch einer phänomenologisch-psychotherapeutischen Grundlegung. Zusammen mit den zwischenzeitlich ebenfalls weiter geführten Analysen zur radikalen Lebensphänomenologie ergab sich aus all diesen Ansätzen das Projekt des vorliegenden Bandes »Begehren und Sinn«, der die zuvor genannten tiefenpsychologischen und existenzanalytischen Aspekte auch erstmals mit der Neo-Psychoanalyse Lacans zusammenführt. Letztere erlaubt es, die bisherigen Ergebnisse Freuds sowie der anthropologischen Psychotherapie zu überprüfen und eine Verbindung mit den kulturellen Aspekten einer »Dezentrierung« des Subjekts in der Postmoderne herzustellen, die nicht einfach übersehen werden können, ohne dass die strukturalistischen oder dekonstruktiven Prämissen geteilt werden müssten. Für die psychotherapeutische Praxis und Ausbildung, aber ebenfalls für den philosophisch interessierten Leser, ergibt sich somit ein weit gespanntes integratives Fundament, welches 7 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Vorbemerkung

die entsprechenden Methoden und Techniken mit einer jeweils gleichzeitig durchgeführten radikal phänomenologischen Überprüfung anbieten möchte. Freiburg im Breisgau 2015

Rolf Kühn

8 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Einleitung: Schwerpunkte von Therapie und Supervision

Da diese Untersuchung auf dem praktischen Hintergrund entstanden ist, angehende Psychotherapeuten in ihrer Ausbildung und Supervision zu begleiten, findet der Leser im Folgenden sowohl Analysen zu Fragen der therapeutischen Alltagspraxis wie zu den von ihr vorausgesetzten anthropologischen und epistemologischen Konzeptualisierungen. Somit intendiert das gesamte Buch eine Klärung der prinzipiellen Grundlagen für einen existentiell wie gesellschaftlich immer wichtiger werdenden Erfahrungsbereich, wie ihn die Begegnung zwischen Patient und Therapeut darstellt, um sowohl aus tiefenpsychologischer wie phänomenologischer Perspektive nach der »Wirklichkeit« einer solchen Beziehung zu fragen. Der Buchtitel »Begehren und Sinn« verweist dabei auf eine doppelte Struktur, die in der bisherigen Tradition auch mit Trieb und Existenz bezeichnet wurde, aber letztlich auf einen gemeinsamen Ursprung zurückverweisen dürfte, den wir als rein subjektives oder auch intensives wie pathisches Leben bezeichnen. Damit ist eine Einheit der Leiblichkeit gekennzeichnet, die sich in die Welt als Sinn oder Intentionalität hinein entwirft, aber dies vor-ontologisch nicht vermöchte, ohne an eine Bewegung zurück gebunden zu sein, welche letztlich das Begehren darstellt. In diesem letzteren Begriff findet sich auch die neopsychoanalytische Weiterführung bzw. Vertiefung Freuds mit den entsprechenden meta-psychologischen Auseinandersetzungen angedeutet, so wie der Sinnbegriff hauptsächlich an Beschreibungen Husserls und Ricœurs im weiteren Zusammenhang mit Daseins- und Existenzanalyse zurückgebunden ist, wobei auch der Beitrag von Heidegger und Michel Henry durchgehend gewürdigt wird. Der zentrale Rückgriff auf Jacques Lacan (1901–1981) in dieser Arbeit hängt zunächst mit unserer weiteren Forschungsarbeit vor allem innerhalb der französischen Gegenwartsphänomenologie zusammen sowie mit der relativen Unbekanntheit des Werkes Lacans im Bereich der deutschsprachigen Tiefenpsychologie, um hierzu eine 9 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Einleitung: Schwerpunkte von Therapie und Supervision

kritische Erweiterung anzuregen. Entscheidender ist aber darüber hinaus auf der einen Seite, was in jeder Psychotherapie zur Sprache kommt, nämlich ein Existenz- und Lebensgefühl, welches sich in seiner Wurzel selbst oft als schuldhaft bzw. schamhaft und verneint empfindet, sowie auf der anderen Seite eben die Radikalisierung eines solchen Empfindens als »Subjekt des Verschwindens«, was als Begriff der aphanisis nach dem Psychoanalytiker Ernest Jones von Lacan 1 aufgegriffen wurde. Damit wird eine neuzeitliche Erfahrung der »Dezentrierung« des Subjekts in die Psychotherapie/Psychoanalyse eingeführt, die es bei Freud in dieser Gestalt nicht gibt und eher an das ego sum moribundes bei Heidegger erinnert. Mit anderen Worten an die »Herrschaft des Todes« als Beginn unserer Existenz selbst, die daher niemals eine Identität oder Immanenz kennen kann, wodurch eine Radikalisierung solcher ex-zentrischen Transzendenz durch die ständige »begehrende« Ausgeliefertheit an die diskursive Andersheit des Anderen mit den entsprechenden imaginären Erwartungen stattfindet. 2 Es versteht sich von selbst, dass eine therapeutische Arbeit unter solchen Annahmen nicht unbedingt zu anderen Ergebnissen kommen muss als ein Ansatz bei der Leiblichkeit als ursprungshafter Einheit von Begehren und Sinn, da sich beide von den Anliegen des Patienten selbst letztlich leiten lassen müssen. Aber die Atmosphäre und der Duktus wie Stil, in denen eine solche Therapie verläuft, dürfte eine jeweils etwas andere sein, 3 so dass wir auf der phänomenologischen Ebene hier zugleich einen Entwurf für eine erneuerte Metaphysik durchführen, um die Psychotherapie und Tiefenpsychologie für eine umfassendere kulturelle Problematik bewusst zu machen. Insofern Vgl. zum Beispiel Le Séminaire VI: Le désir et son interprétation, Paris, Éditions de la Martinière 2013, 236 f. u. 275 f. 2 Vgl. zu dieser strukturellen Übereinstimmung bei Heidegger und Lacan die beiden ersten Kap. von J. Rogozinski, Le moi et la chair. Introduction à l’ego-analyse, Paris, Cerf 2006, 21–96. Für die heideggerschen Texte selbst vgl. Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer 11 1967, § 46–53: »Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode«; Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Gesamtausgabe Bd. 20), Frankfurt/M., Klostermann 1979, 437 ff., zum cogito sum als sum moribundus als »Ich bin mein Sterben«. 3 Für das Vorgehen von »Zuhören und Hören«, »Fragen stellen« und »Interpunktieren« vgl. etwa B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik. Eine lacanianische Annäherung für klinische Berufe, Wien/Berlin, Turia & Kant 2013, 17–46, 47–62 u. 63–78; außerdem H. H. Stavemann, Sokratische Gesprächsführung in Therapie und Beratung, München, Beltz 2007. 1

10 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Einleitung: Schwerpunkte von Therapie und Supervision

fehlen in unserer Arbeit nicht methodische und technische Hinweise zur konkreten Durchführung von Psychotherapie und Supervision, aber insbesondere auch für die letztere scheint es uns unbedingt notwendig, die grundsätzlichen Implikationen offenzulegen, welche eine solche Tätigkeit im Bereich von Ausbildung und Klinik mit sich führt. Die individuelle Illusionsfreiheit als das Aufgeben von imaginären Fixierungen ist ohne Zweifel ein Kernstück jeder Therapie, aber ob das »Ich« dabei selbst eine imaginäre Instanz sei, wie Lacan es mit dem frühen »Spiegelstadium« des Kleinkindes verbindet, unterschlägt nicht nur eine ganze Dimension des Leiblichen, welche nicht der Differenz von Auge und Blick unterliegt, nämlich die Bewegung als Einheitsaffektion vor aller möglichen (psychotischen) »Zerstückelung« des Körpers, sondern gerade auch die Problematik des affektiven »Zerrissenseins« durch die Anforderungen der Anderen als »Groß A«. Zwar wehrt sich Lacan gegen die Beurteilung seiner Denkund Vorgehensweise als einer »intellektualistischen Psychoanalyse«, aber seine Affektbeschreibung beschränkt sich weitgehend auf die Wiedergabe der freudschen Lehre vom »Affektquantum« in Bezug auf die »Vorstellungsrepräsentanz« und das »Unbewusste«, ohne dem Affekt jedoch einen eigenen phänomenologischen Status zuzuweisen. 4 Wie immer man daher Freuds Sentenz auslegt: »Wo Es war, soll Ich werden«, so lässt sich nicht leugnen, dass er bei aller Betonung unbewusster Strebungen als Libido ein »Ich« kannte, welches von Anfang an beim Individuum gegeben ist und sich über die geklärten neurotischen Realitätsbezüge auch Teile des Unbewussten bekannt macht, die dann in einen breiteren Existenzvollzug integriert werden können. Hier sind also fruchtbare Vergleiche mit der lebensphänomenologischen »Selbstaffektion« möglich, die als Grundpotenzialität alle Vollzüge der Subjektivität betrifft und so einen – von der Immanenz her – offenen Seinshorizont schafft, weil ein solches Leben frei ist für das Sein, das ihm seinerseits horizonthaft frei entgegentritt. Bei Lacan findet hingegen diese Begegnung mit dem »Realen« nur auf der Symbolebene der Signifikanten statt, welche als »Sinn« naturgemäß unabschließbar sind, so dass es dem Subjekt in jeder Hinsicht an »Sein« fehlt oder mangelt. Die Existenz bleibe dann ausgespannt zwischen einem bereits todgeweihten Anfang der NichtIdentität von Ich/Selbst und einem endlosen Verweis des Begehrens 4

Vgl. J. Lacan, Le désir et son interprétation (2013), 67 f.

11 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Einleitung: Schwerpunkte von Therapie und Supervision

an Objekte des »Genießens« als »Klein a«, die sich ebenfalls jedem Zugriff entziehen, weil die »Ur-Verdrängung« als Kastration bereits jedes Objekt von einem durchgehenden imaginären Phantasma getragen sein lässt. Somit ist jeder Begehrensvollzug als geglaubte Erfüllung oder Sinn ebenfalls nur eine Aktualisierung des eigentlichen Todseins, wodurch die Freiheit (falls dieser Begriff dann noch verwandt werden soll) eine Entscheidung für solchen »Tod« in jedem Augenblick ist: »Das a ist das wesentliche Objekt, um das herum sich die Dialektik des Begehrens bewegt. Das Subjekt erlebt sich dabei vor einem Element, welches Andersheit auf der imaginären Ebene ist. […] Das Objekt des Phantasmas ist jene Andersheit, Bild oder Pathos, wodurch ein Anderes den Platz dessen einnimmt, was dem Subjekt symbolisch entzogen ist. […] In der Neurose nimmt das Objekt jene Bedeutung an, die dort zu suchen ist, was ich die Stunde der Wahrheit nenne. Das Objekt ist hier immer nur vorher oder nachher pünktlich. Die Hysterie charakterisiert sich durch die Funktion eines Begehrens als unerfülltes, die Obsession charakterisiert sich durch die Funktion eines unmöglichen Begehrens.« 5

Eine der zentralen Auseinandersetzungen in unserem Buch, welche man mit der bekannten Hamletaussage von to be or not to be im lacanschen Sinne dann als das »Verbrechen zu sein« und die sich daraus ergebende Hemmung des Handelns 6 bezeichnen könnte, ist daher die Problematik, wie sich für einen Patienten, der meist als Leidender kommt, Differenz und Einheit zusammenführen lassen. Mit anderen Worten ist Hamlet die »ewige Geschichte« des missverstandenen Begehrens nach Lacan, dass jeder in der Tat ein solches nicht nur besitze, sondern es finden und situieren muss, was sich letztlich nur in einer Handlung unter der Bedingung verwirklichen lasse, dass der Mensch »sterblich« sei. Auch die rein phänomenologische Leiblichkeit ist ständige »affektive Differenz« der primordialen Oszillation von Freude/Schmerz, aber zugleich die unmittelbare Einheit einer solchen inner-affektiven Differenz als Modalisierung des subjektiven Lebens im Sinne einer absoluten Ipseität. Dies bedeutet für Psychotherapie und Superversion, dass die Aspekte einer geschichtlichen Biographie oder sterblichen Existenz niemals hermeneutisch zusammengeführt werden können, um über »Erinnerung und Durcharbeiten« im Sinne Freuds eine Einheit des Individuums zu erreichen. 5 6

Ebd., 370 u. 373, ebenfalls 434 f. u. 445 ff. Vgl. ebd., 293 ff., hier bes. 306 f., auch 401 ff. u. 467 f.

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Einleitung: Schwerpunkte von Therapie und Supervision

Aber andererseits kann diese Einheit als vorgängige Selbstgegebenheit des Lebens immanent erprobt oder empfunden werden. Daraus ergeben sich naturgemäß konkret wie transzendental Fragen zu Deutung, Übertragung und Gegenübertragung, aber auch zur Sinnund Konfliktanalyse als »Gewissen« oder »Über-Ich« im Bereich des Schuldempfindens, um trotz der im Außen nicht aufhebbaren NichtIdentität als jeweiliger »Andersheit« ein rein praktisches Vollzugswissen um die originäre Einheit des Ich als »Mich« zu erlangen, das heißt als originäre Passibilität oder Empfänglichkeit. Der Bezug von Wissen und Nicht-Wissen ist nämlich immer noch für unsere bisherige Tradition eine metaphysische Frage, denn solange Wissen von abstrakt wissenschaftlichen, philosophischen oder religiösen Prinzipien abgeleitet bzw. erwartet wird, bleibt das Begehren selber ein »Nicht-Wissen«, das heißt eine Entfremdung innerhalb der eigenen Existenz im weitesten Sinne, an der die Patienten leiden. Lacan war wie Freud nun der Auffassung, dass Descartes das Begehren als »Unbewusstes« nicht hat verstehen können, weil er das cogito einer Selbstreflexion im Sinne eines Sich-Vorstellens überantworte und damit nur ein imaginäres Ich der Repräsentation fasse, welche von ihrem tieferen Affekt getrennt bliebe. Aber gerade an diesem Punkt wollen wir radikale Phänomenologie und Tiefenpsychologie für die therapeutische Praxis zusammenführen, denn Descartes hat nicht nur bereits ein bloß rationales Ich hinter sich gelassen, wie insbesondere die Untersuchungen von Michel Henry 7 gezeigt haben, sondern er hat im Voraus in gewisser Weise auf die Frage geantwortet, welche bis heute offen ist: Gibt es eine Phänomenologie, die der Psychoanalyse entsprechen kann, anstatt wie Freud und Lacan deren unüberbrückbaren Unterschied zu unterstreichen, insofern sich die Tiefenpsychologie und Neo-Psychoanalyse auf eine ganz andere Praxis als die der Philosophie berufen könne? 8 Diese bis heute offene Frage, die natürlich auch mit dem Anliegen der jeweiligen epistemologischen Eigenständigkeit beladen ist, möchten wir zumindest in der Hinsicht zu beantworten versuchen, dass die Psychoanalyse die Frage nach einem transzendental lebendigen Ich ständig

Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, 107 ff. 8 Vgl. H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/ M., Suhrkamp 2011, 260–317; Th. Fuchs, Leib, Raum. Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart, Klett-Cotta 2000. 7

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Einleitung: Schwerpunkte von Therapie und Supervision

voraussetzt, ohne sie wirklich zu beantworten, und andererseits eine radikale Phänomenologie als Affektanalyse in der Lage ist, die unhintergehbare Vorgegebenheit eines solchen Affekts (Trieb, Begehren, passio etc.) als originäres »Mich« aufweisen zu können. Wenn mithin auch für eine rein philosophische Analyse eine solche Primordialität kein Hindernis mehr für das Wissen um die eigentliche Subjektivität darstellt, dann ergibt sich daraus die Möglichkeit, beide Aspekte zusammen zu führen und folglich Tiefenpsychologie wie Phänomenologie für eine therapeutische Praxis fruchtbar zu machen. Wie die Einzelheiten einer solchen Annäherung und vielleicht Übereinstimmung aussehen können, soll in den folgenden Kapiteln entfaltet werden, welche die bereits genannten Schwerpunkte wie Leiblichkeit, Affekt, Trieb mit ihren Korrelata wie Begehren, Phantasma, Kastration und Transgression entfalten werden, wozu auch die Besinnungen zum Erkenntnis- wie Praxisstatus von analytischer Kur, Hermeneutik und Phänomenologie gehören. 9 Die Spannung, welche mithin unsere Untersuchung ständig weitertreibt und für die therapeutische Praxis selbst neben den epistemologischen und phänomenologischen Einsichten fruchtbar gemacht werden soll, ist eine in der Modernität eingetretene Verdunkelung des Unterschieds zwischen dem Ursprünglichen als »Anfang« (originel) und »Ursprung« (originaire). Lacan negiert letztlich jede Affektivität, welche der Strukturbezogenheit innerhalb eines lautlichen wie semantischen Signifikantensystems vorausgehen könnte, so wie Freud ebenfalls kein »Ich« aufzuweisen vermag, welches den immer weiter zurückverfolgten Verlagerungen desselben bis in den fötalen (physiologischen) Status vorausliegen könnte. Vor all den Entfremdungen, die sich hier vorbewusst ereignen können, gibt es keine originäre Selbst-Identifikation des Ich, welche nichts Entfremdendes im Sinne einer Verdrängung oder Verschiebung an sich hätte. Es stellt sich aber nicht nur der Patient jeweils die Frage, warum und wie er bisher in all diesen Projektionen im Sinne eines Phantasmas oder imaginärer Spiegel hat leben können, um durch die Therapie einen Ausweg daraus zu finden, sondern auch auf der phänomenologischen Ebene stellt sich die Frage, wozu all diese Identifikationen in einem gewöhnlichen (narzisstischen) Sinne unternommen werden. Und dahinter erhebt sich die noch fundamentalere Problematik, ob sie überhaupt möglich wären, wenn nicht ein originäres Ich vo9

Vgl. unser Inhaltsverzeichnis für die entsprechenden Kapitel.

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Einleitung: Schwerpunkte von Therapie und Supervision

rausläge, welches sie als transzendentale Bedingung ermöglicht? Transzendentalität hat hier deshalb keinen abstrakten Sinn wie etwa in der kantischen Formalanalyse der Erkenntniskonstitution von objektiven Gegenständen, sondern bezeichnet in therapeutischer Sicht die reale Möglichkeit, aus dem anfänglichen Spiegelstadium im Sinne Lacans überhaupt heraustreten zu können. Denn wenn mein Selbstbezug nur imaginär wäre, gäbe es auch keinen Ausweg aus dieser Situation (für das Kind oder auch später), weil jeder Bezug stets nur mein Bild reflektieren würde. Der Therapeut oder Analytiker als »leerer Spiegel« soll dann zwar den Weg bieten, durch eine Erhellung solcher Projektionen und Phantasien einen Bezug zur Existenz und den Anderen aufzunehmen, der weniger von Rivalität als Narzissmus und Aggressivität geprägt ist, aber selbst Lacan stellt kritisch in Frage, ob der Analytiker jemals dieser wirklich »leere Spiegel« ganz sein kann, so dass andererseits auch diese Beziehung zwischen Patient und Therapeut nicht prinzipiell aus einem Spiegelverhältnis heraustreten würde. Die hegelsche Konzeption vom ständigen »Kampf um Anerkennung« sei hierbei nur angedeutet, 10 um die zweite Aporie des Spiegelstadiums zu unterstreichen, insofern nämlich der Andere als Rivale an sich tot sein müsste, um jedem Kampf ein Ende zu bereiten, aber ein Toter vermag mir auch keine Anerkennung mehr zu gewähren, nach der ich neurotisch, pervers oder hysterisch um jeden Preis suche. Es dürfte allerdings offensichtlich sein, dass beide Aporien (nämlich bereits zu Beginn des Spiegelstadiums wie in dessen Ausübung als Bezug zu Anderen ein »Toter« zu sein) etwas effektiv Dramatisches bei den Patienten trifft, insofern sie ihren Ursprung als Selbstidentität zumeist nicht greifen können und Intersubjektivität als Anlass von Minderwertigkeit, Hass oder Verzweiflung leben. Die epistemologische und phänomenologische Auseinandersetzung mit Tiefenpsychologie und Neo-Psychoanalyse impliziert folglich mit anderen Worten die eminent wichtige Frage, wie solche Existenzund Empfindungsweisen aufgelöst werden können, ohne erneut einem theoretischen (psychopathologischen) Vorurteil wie einem unzugänglichen Unbewussten nach Freud oder einem stets bestimmenden »Großen Anderen« (Phallus) nach Lacan zu unterliegen. Denn da 10 Vgl. etwa J. Lacan, Le désir et son interprétation (2013), 391 f.; zuvor auch mit den »beispielhaften Vorstellungen« von der vanitas innerhalb der religiösen Tradition parallelisiert (ebd., 389).

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Einleitung: Schwerpunkte von Therapie und Supervision

letzterer das Spiegelstadium nicht über eine ursprüngliche Immanenz des Lebens als Ipseisierung korrigieren wollte oder konnte, ist auch der Versuch, aus dem Spiegelstadium mit Anderen in wahrere Bezüge einzutreten, mit dem ganzen Gewicht der Radikalisierung solcher Andersheit (als »Groß A«) belastet. Diese besagt im Grunde, dass der Andere niemals genug als »der Andere« wahrgenommen wird, so dass in alle symbolische Bezüge eben ein absolut »Drittes« eingebaut werden muss, um meinem »narzisstischen Wahn« zu entkommen, da sonst nie ein »Wort der Wahrheit« möglich wäre. Erstaunlicherweise geht Lacan hierbei den Weg über den Gottesgedanken bei Descartes und der Selbstbenennung Jahwes in der Begegnung mit Moses, um ein Gegengewicht zum (psychotischen) Wahn des »trügerischen Gottes« (genius malignus) als dem nur imaginär Möglichen und dem Subjekt als einem »durchgestrichenen Ich« einzuführen. Das heißt, die oft zitierte programmatische Wendung von Lacan: »Ich bin ein Anderer« wird letztlich hier zu der Formel: »Der (absolut) Andere ist jener, der in mir spricht«, und zwar als jene Wahrheit, insofern sie in mir spricht: »Ich die Wahrheit, ich spreche« (moi la vérité, je parle). 11 Halten wir fest, dass diese Hinweise auf große Texte der philosophischen wie religiösen Tradition (die im Übrigen jeweils das ganze Werk von Freud und Lacan durchziehen) keineswegs eine von der therapeutischen Praxis abgelöste Spekulation darstellen, sondern genau das im Auge haben, was eigentlich in der Therapie/ Analyse geschehen soll, dann ergeben sich trotz allem Wege, dass ebenfalls ein Patient die Wahrheit für sich als seine Wahrheit ausdrücken kann. Und vermag dies zu gelingen, dann ist damit auch der Grund für einen neuen Existenzvollzug gelegt, der weniger durch imaginäre Abhängigkeiten verzerrt ist. Wenn auch während des frühen Spiegelstadiums des Kindes dessen Eltern oder andere Bezugspersonen in begrenzter Weise die imaginär narzisstische Verdoppelung des »kleinen Anderen« (Subjekts) korrigieren können, so scheint Lacans Neo-Analyse über die Sprachstruktur der Signifikanten letztlich jedoch die Möglichkeit des »Wahr-Sagen-Könnens« des Subjekts in einer Zweideutigkeit zu belassen. Wenn nämlich das Subjekt konstitutiv nur die Differenz zwischen zwei Signifikanten mit ihrem »Intervall« darstellt, denn bedeutet diese Signifikantenkette die schlechthinnige Ek-sistenz des J. Lacan, Le Séminaire III: Les psychoses (1955–1956), Paris, Seuil 1981, 323; vgl. auch 64 u. 76 f. (dt. Das Seminar III: Die Psychosen, Olten/Freiburg, Walther 1980).

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16 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Einleitung: Schwerpunkte von Therapie und Supervision

Anderen, und das Subjekt wird zu einem rein passiven sub-jectum. Mit anderen Worten ist seine »Subjektivierung« eine ständige Unterwerfung unter die Bedeutungen des »Großen Anderen« als Symbolisierung im Außen, um beim Auftreten eines Objekts des Begehrens im Ausgang vom Bedürfen im eigenen Namen als »Ich« sprechen zu wollen. Diese zweite Weise der Subjektivierung würde aber so etwas wie eine (originäre) »lebendige Stimme« des Ich noch voraussetzen, während die Hypostase der Signifikantenordnung eher dahin tendiert, jegliche Eigenständigkeit einer solchen subjektiven Lebendigkeit durchzustreichen, da es in der Tat kein Subjekt vor der Differenz der Signifikanten gibt, sondern es nur in dieser Differenz (Intervall) auftreten kann – also bereits als tot im Sinne anfänglicher Unterwerfung. Die Wahrheit, wirklich Ich zu sagen, bleibt also mehr als problematisch, so dass die Existenz des Subjekts hier wie der Seiltänzer im »Zarathustra« Nietzsches erscheint, der ein Bein hinten wegziehen muss, um es vorne aufsetzen zu können. Und mit Bezug auf die Erzählungen von Edgar A. Poe und den Präsidenten Schreber gemäß der Fallinterpretation nach Freud, worin dessen Tod als Lebendiger ein zentraler Teil der Psychose darstellt, wird aus der Sentenz »Wo Es war, soll Ich werden« die Umkehrung in »Wo Es war, soll Ich sterben«. Dass hiermit neurotische, psychotische und hysterische Erlebnisweisen beschrieben und verstanden werden können, wie etwa auch im Fall von Anna O. bei Breuer (die umfiel, sobald sie ein bestimmtes Zimmer betrat, weil sie früher in einem Spiegel gegenüber das fahle Gesicht ihres Vaters mit einem Totenschädel gesehen hatte), steht außer Zweifel. 12 Auch die Problematik einer zu starken Abhängigkeit von Normen, Verboten und Traditionen kann hierbei für entsprechende Patienten hilfreich sein, sich mit der Rolle des Anderen als »Andersheit« in ihrer Obsession und Angst überhaupt auseinanderzusetzen. Aber in einer parallelen Lektüre durch Daseins- und Existenzanalyse bleibt die Frage, ob die neo-psychoanalytischen Lösungen doch nicht zu leicht in einem bloß »spielerischen Umgang« mit Die Besprechung der Träume vom »toten Vater« (ohne zu wissen, dass er tot war) bildet den Ausgangspunkt der gesamten Begehrensanalyse und ihres Objekts in Le désir et son interprétation (2013), 33 ff.; außerdem H.-G. Metzger (Hg.), Psychoanalyse des Vaters. Klinische Erfahrungen mit realen, symbolischen und phantasierten Vätern, Frankfurt/M., Brandes & Apsel 2008. Für den »Fall Schreber« vgl. insbes. auch J. Lacan, Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit gefolgt von Frühe Schriften über Paranoia, Wien, Passagen 2003 (franz. Orig. 1975).

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den Differenzen der Andersheit gesehen werden, wie gewisse Interpretationen der gegenwärtigen Lacanschule es nahe legen. 13 Durch den Einfluss Heideggers auf Lacan stellt sich die Frage, ob seine Analyse nicht überhaupt auf die »Eigentlichkeit« eines Seinszum-Tode hin tendierte, 14 und damit gewisse Parallelen zur Daseinsanalyse Binswangers als Begrenzung auf das »In-der-Welt-sein« aufweist, als den Patienten eher im Sinne Freuds von den einengenden Folgen der Wiederholung und der unbewussten Schuldigkeit eines Todestriebes zu befreien. Denn wenn auch die symbolische Ebene von der »Herrschaft des Todes« auf der imaginären Ebene eine gewisse Freiheit diesem Tod gegenüber gewähren soll, indem ich mich frei dazu verhalte, ihn sogar in jedem Augenblick als einen gewissen Verzicht hinsichtlich des Objekts des Begehrens wählen kann, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass das Subjekt im symbolischen Register ebenfalls wie »erstarrt« ist, insofern es über seine konstitutive Differenz als tiefe Kluft (Mangel) zu sich selbst nicht hinauskommt. Dasselbe Motiv der trennenden Entfremdung kehrt also auch durch die Signifikantenkette wieder, denn wie soll sich das Subjekt vom Anderen als Identifikationspol seines Begehrens lösen können, wenn dieser Andere jede Identifikation strukturell bestimmt? Das Thema der »Trennung« (séparation) sieht diese Möglichkeit vor, indem Lacan durch ein Wortspiel séparer als se parer (lat. se parere) liest, das heißt als ein Sich-Erzeugen, und zwar im genannten »Intervall« der Differenzen, indem ein Augenblick des Schweigens zwischen der Bedrohung durch den Anderen und der Unterwerfung unter ihn sich auftun kann, nämlich als Frage nach dem eigenen Begehren im Sinne eines Che vuoi: »Was willst Du von mir?« 15 Wir werden diese Diskussion später mit Hilfe der Unterscheidung von Sagen/Gesagtem sowie Anfrage/Bitte (demande) bezogen auf ein Bedürfen und »Genießen« genauer aufgreifen, um hier dennoch schon festzuhalten, Vgl. die Beschreibungen der klinischen Psychologin S. Lippi, Transgressions. Bataille, Lacan, Paris, Erès 2008. Dabei sind natürlich weitere Einflüsse wie das Denken von Lyotard, Deleuze, Levinas und Derrida etwa vorauszusetzen; vgl. als Übersicht R. Kühn, Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie. Metaphysische und post-metaphysische Positionen zur Erfahrungs(un)möglichkeit Gottes, Freiburg/ Basel/Wien, Herder 2013, hier bes. Teil II: »Vom Strukturalismus zur radikalisierten Phänomenologie« (S. 247–455). 14 Vgl. dazu auch F. Balmès, Ce que Lacan dit de l’être, Paris, PUF 1999. 15 Vgl. zum Beispiel J. Lacan, Écrits, Paris, Seuil 1966, 843 (dt. Teilübers. Schriften I– III, Freiburg/Olten, Walther 1973); Le désir et son interprétation (2013), 25 f. u. 49 f. 13

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dass diese Analyse einerseits für die gehemmte Erwartungshaltung von Patienten in ihrer Inhibition fruchtbar werden kann, aber andererseits die entscheidende Grundproblematik bestehen bleibt, dass es kein wirklich originäres Ich vor der Identifikation/Entfremdung mit dem Anderen gibt. Die Trennung vom Anderen ist zwar notwendig, aber wie soll sie in einer solchen Neo-Psychoanalyse gelingen, da die Abwesenheit eines originären Ich im radikal phänomenologischen Sinne zugleich zu suggerieren scheint, dass der therapeutische Prozess mangels einer wirklichen Subjektivität nur ein unendliches Werden impliziert? Das heißt im Grunde die prinzipielle Unabschließbarkeit einer solchen Therapie, insoweit das Subjekt als X stets neu den symbolischen Fangarmen unterliegt, selbst wenn es aus dem imaginären Spiegel des Ich herausgetreten sein sollte. Diese Problematik macht einsichtig, dass wir bei den unterschiedlichen Themen der Tiefenpsychologie und ihres therapeutisch möglichen Einsatzes stets auch die existenz- und daseinsanalytische Interventionsmöglichkeit berücksichtigen, die auf Begriffen wie Freiheit und Verantwortung bzw. Echtheit und Liebe aufgebaut ist. 16 Dies ermöglicht kritische Rückfragen, die ebenfalls die psychoanalytische Lehre und Praxis bei Freud selbst betreffen, denn wenn Lacan das Subjekt letztlich wohl kaum aus einer anonymen und allgemeinen Struktur der Sprache herauslösen kann und wollte, so bleibt auch bei Freud – trotz der Anerkennung eines anfänglichen »Körper-Ich« – eine dualistische Struktur von Es und Ich gegeben, die eine selbstständige Gründung eines solchen radikal leiblichen Ich im Sinne einer Selbstidentifikation oder sogar Selbstaffektion nicht ermöglicht. Wie immer man daher die »Rückkehr zu Freud« bei Lacan beurteilen will, wie er sie selbst für sich in Anspruch nahm, so ergeben sich hier doch letzte Fragen, welche den Status der (Neo-)Psychoanalyse schlechthin betreffen, nämlich die Möglichkeit einer lebendigen Subjektivität, die im ursprünglichen Sinne wirklich »Ich« sagen kann. Wenn Lacan also eine Grundentscheidung Freuds radikalisiert hat, indem Es und Ich niemals zusammenfallen, dann führt dies zu einem VerAbgesehen von den Arbeiten seitens Binswanger, Jaspers, Sartre, Frankl, Boss, Condrau können auch die Werke von Emmy van Deurzen hier erwähnt werden, wie zum Beispiel Paradox and Passion in Psychotherapy: An Existential Approach to Therapy and Counselling von 2014, weil sie für einen breiteren Strom existentiell ausgerichteter Psychotherapie stehen, wie vor allem in den USA und Lateinamerika. Außerdem die schon klassische Schrift von I. D. Yalom, Existentielle Psychotherapie, Köln, Edition Humanistische Psychologie 1989.

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ständnis von Passivität, die keinen eindeutigen phänomenologischen Status erlangt. Denn entweder handelt es sich hierbei um eine Abhängigkeit von einem »biologischen Körper«, auf dessen perzeptiver Oberfläche das Ich eine gewisse Autonomie erringt (Freud), oder um eine Passivität, welche Identifikation stets zu einer Entfremdung macht (Lacan). Programmatisch für unsere Arbeit insgesamt formuliert, handelt es sich darum zu fragen, ob Ich und Leib nicht so zusammengeführt werden können, dass sie eine solche ursprüngliche Einheit als effektive Passibilität bilden, die jedem metaphysischen Dualismus und dessen analogischer Ontologie vorausliegt. 17 Der Ansatz Freuds beim Trieb und der Motorik des Leibes als innere und äußere Reiz-»Entladungen« bot prinzipiell die Möglichkeit, eine solche Perspektive von Ich/Leib als Fleisch oder Pathos einzunehmen, wie es inzwischen eine radikale Phänomenologie mit Rückgriff auf Merleau-Ponty, Deleuze und M. Henry etwa erlaubt, auch wenn Freud selbst diese Sichtweise nur tendenziell erreichte. 18 Diesen Gesichtspunkt in das Gespräch mit der (Neo-)Psychoanalyse einzuführen heißt nicht, letztere »korrigieren« zu wollen, indem ihre Ergebnisse durch Philosophie ersetzt werden sollen, sondern ein Motiv aufzugreifen sowie weiterzuführen, welches in ihr bereits vorhanden ist, ohne wirklich berücksichtigt worden zu sein. Aus unseren bisherigen einleitenden Bemerkungen kann nämlich festgehalten werden, dass Freud das motorische Element der Wahrnehmung bereits gegenüber dem reinen speculum der Sicht nach Lacan bevorzugt hatte, so wenn er etwa das hysterische Symptom schon in seinen frühen Studien als ein in die Motilität übersetztes Phantasma betrachtet, welche sich als Pantomime gestaltet. Aber solche und ähnliche Hinweise bleiben zu selten, um die weitere Entwicklung der Psychoanalyse auf einen Leib zu konzentrieren, der in sich grundlegend – in seiner ursprünglichen Immanenz – bereits Trieb oder Begehren als Leiden und Freude (Lust) ist. Als Vorgriff auf nachfolgende Einzeluntersuchungen kann also gesagt werden, dass es bei Freud nicht nur eine epochengebundene Abhängigkeit vom Naturalismus und Positivismus als Wissenschaftsideal gibt, sondern eine prinziVgl. inzwischen indes auch P. Geißler u. G. Heisterkamp (Hg.), Psychoanalyse der Lebensbewegungen. Zum körperlichen Geschehen in der psychoanalytischen Therapie. Ein Lehrbuch, Wien/New York, Springer 2007. 18 Vgl. für eine solche Interpretation E. J. Lee, Pour une critique phénoménologique de la psychanalyse: Henry, Freud, Lacan, phil. Diss. Universität Straßburg 2009, 341 S. 17

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pielle Hypostase des Weltseins, denn die Unterscheidung von Seelisch und Körperlich wiederholt sich gleichfalls bei Ich- und Objektlibido, Ichvorstellung und unbewusstem Traumwunsch, Ich und Über-Ich, die zwar alle zum »System des Ich« gerechnet werden können – aber eben als »psychische Realität« im Schoß der Welt. Indem Lacan diese Orientierung übernimmt und verstärkt, kann er uns epistemologisch eine Grundentscheidung der Tiefenpsychologie eben vor Augen führen, welche die Grundfrage offen lässt: Wie sind Identifikationen und deren Auflösungen durch ein Ich möglich, das nicht von vornherein ein selbstständiges Ich ist? Ist ein Schritt hinter Freud zurück nicht möglich, so ist aber ein Schritt nach vorne möglich, nämlich als die Zusammenführung von Leib und Ich in einem Fleisch (chair), welches nicht mehr nur der Frage unterliegt, wie ein »schwaches Ich des Neurotikers« der gesellschaftlichen Wirklichkeit angeglichen werden kann (etwa mittels auch psychoanalytisch weiter konzipierter Ich- und Entwicklungspsychologie), sondern wie ein originäres »Körper-Ich« tatsächlich gegeben sein kann, ohne unter die allgemeinen (normierten) Prämissen des Seins als »Realität« und »Objektivität« subsumiert zu werden? Begriffe wie Intensität oder Pathos als Grundlage einer »neuen Metaphysik« des Leiblichen und des Affekts sollen hierzu in den nachfolgenden Kapiteln als mögliche Antworten bereit gestellt werden, um zu verstehen, warum tiefenpsychologisch und phänomenologisch gesehen Traum, Phantasma, Libido, Begehren, leibliche Bewegung sowie Beziehung zu Anderen nicht von einem »ursprünglichen Narzissmus« im positiven Sinne gelöst werden können, da es keinerlei subjektive Bewegung gibt, welche nicht selbst-affiziert als »Mich« wäre. Und versteht man dies als eine Proto-Relation im Sinne einer ursprünglichen Selbstgebung im Leben, dann sind auch alle Verhältnisse lebensweltlicher Andersheit nicht ausschließlich Kampf und Irritation, sondern Mit-Pathos aus einem ursprünglich gemeinschaftlichen Fleisch heraus. Die therapeutische Praxis hat dann nicht nur die Projektionen auf die Anderen als Phantasien durchzuarbeiten, die unter anderem zu stark an Allmachtsdenken und absolute Sicherheitstendenzen gebunden sind und zu schmerzhaften Kastrationen führen müssen, sondern sie kann in denselben illusionären Identifikationen immer auch ein Begehren ausmachen, dessen »Sinn« ebenso eine effektive Gemeinschaftlichkeit wie Autonomie des Einzelnen zulässt. Die Therapie/Analyse ist dann jener Ort, wo dieses eingeübt werden kann, weshalb die zuvor angedeuteten theoretischen oder 21 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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konzeptuellen Auseinandersetzungen zugleich immer auch eine Praxis implizieren, die wohl am konkretesten am Übertragungs/Gegenübertragungsgeschehen aufgewiesen werden kann, um hier die grundsätzliche Einheit von Affekt/Sinn als Finalität der therapeutischen Beziehung oder Begegnung einmünden zu lassen. Unser Vorgehen ist hierbei weder nur parallel, interdisziplinär, komparatistisch oder integrativ, sondern das Aufsuchen einer Gemeinsamkeit von Phänomenologie und Tiefenpsychologie einschließlich Existenz- und Daseinsanalyse – mithin eine Gemeinsamkeit, die nirgendwo anders liegen kann als im Patienten selbst. Das heißt in einem Grundverhältnis von Ich/Mich, das auch als der Bezug von Passibilität und Potenzialität bezeichnet werden kann, worin all unsere selbstaffektiven Veränderungen als Zugänge zur eigenen Existenz, den Anderen und zur Welt vereint werden können. Therapie wird damit nicht zu Philosophie und Philosophie nicht zu Therapie, aber sie können sich in der passio treffen, welche die Grundgegebenheit jedes Individuums und jeder Gemeinschaftlichkeit bildet. 19 Wie stark gerade die Fragen von Begehren und Leben heute diskutiert werden, zeigen auch die jüngeren phänomenologischen Arbeiten von Renaud Barbaras (geb. 1955) in Frankreich, der zwar keine unmittelbare therapeutische Intention namentlich verfolgt, aber gleichfalls die Problematik einer »Urverdrängung« im Leben und damit des Begehrens als nie erfüllter »Selbstverwirklichung« des Subjekts anführt, ohne dem Begehren eine mögliche Vereinheitlichung von Substanz (Welt) und Existenz (Leben) abzuerkennen. Das Unbewusste im psychoanalytischen Sinne leitet Barbaras daher aus einer primordialen »Hemmung des Lebens« ab, die aus dem selbstreflexiven Bewusstsein hervorgehe, so dass der Erfahrung unseres Lebens immer auch jene genannte »Urverdrängung des Lebens« mitgegeben sei. 20 An sich sei das Begehren aber »das Offene« im Sinne Rilkes, Zur vorläufigen Begriffsbestimmung von Pathos und Mich als »Ich im Akkusativ« der Empfängnis bzw. der »Proto-Relation« des Lebens sei hier erwähnt, dass sie nicht nur eine »Pathetik« wie bei Viktor von Weizsäcker meint, sondern die konstitutive Erscheinensmodalität aller subjektiven Lebensvollzüge; vgl. seine Pathosophie, in: V. von Weizsäcker, Gesammelte Schriften 10, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005, 5–443. 20 Vgl. Introduction à une phénoménologie de la vie, Paris, Vrin 2008, 244 f. Diese kritischen Motive finden sich ebenfalls schon in der mehr tragisch orientierten »Lebensphilosophie« der letzten Jahrhundertwende wie etwa bei Simmel und Klages; vgl. J. Scheidegger, »Kultur und Gemeinschaft bei Simmel und Henry«, in: M. Enders u. R. Kühn (Hg.), Kritik gegenwärtiger Kultur. Phänomenologische und christliche Per19

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und nur das Bewusstsein fixiere uns auf eine gegenständliche Welt, die wir dann notwendigerweise als für uns begrenzend oder nichterfüllend erfahren. Verbinde man allerdings diese negative Transzendenz, welche die Metaphysik im Abendland stets gekennzeichnet hat, mit dem Akt der Philosophie, der nicht vornehmlich ein Akt der Erkenntnis wäre, sondern eine bestimmte Weise, wie sich »unser Leben offenbart«, dann stehe nicht mehr die Freiheit des Transzendierens im Vordergrund, sondern eben das Begehren im Zeichen einer »unbestimmbaren Negativität«. Das heißt, es geht nicht vordergründig für das Subjekt um einen Mangel an Bestimmtem, um das Fehlen eines angebbaren »Triebobjektes« im Sinne Freuds, sondern um die Positivität einer »aktiven Negation«. Diese sucht nicht wie in der Tradition lange Zeit nach einem immer höheren Gegenstand als Letztgegebenes oder Höchstes Gut wie Seligkeit und Gott, sondern dieses Verhalten soll durch ein Begehren »im Namen eines Verhaltens zum Nicht-Gegebenen« hin überschritten werden. Solches Begehren kann daher eher mit der erotischen Liebe als mit der Verantwortung verbunden werden, woraus sich ein doppelter Bezug zu Lacan ergibt, da einerseits das Offene auch den Begegnungsraum für den Anderen abgibt, aber andererseits die Lust ebenfalls immer einen Abstand zwischen Befriedigung und Begehren wieder aufreißt. Der Mangel, welcher hierbei als »Mangel des Subjekts« wie als »Mangel an Subjekt« erfahren wird, ist jedoch univok dem »Selbstbegehren« geschuldet, welches auch im Anderen stets auf der Suche nach sich selbst sei. Insofern hier das Leben mithin als »Selbstverwirklichung« gefasst wird, ist diese als Bewegung des Lebens dennoch nicht abschließbar, denn es handelt sich dabei um die »Verwirklichung von etwas Nicht-zu-Verwirklichendem«, 21 was das Begehren als Enttäuschung ständig über sich hinausleitet und damit die Horizonte der Welt in ihrem Überschuss eröffnet. Verständlicherweise erscheint dann der Tod nicht als das Gegenteil des Lebens, sondern als die »Negation des Todes« selbst, da das Leben nicht nur ein ständiger Kampf gegen die Kräfte der Vernichtung ist, sondern ein »restloses Aufgehen in die Welt«, die als das zuvor genannte »Offene« damit ein permanentes Sterbegeschehen impliziere. Dies nicht zu sehen, hieße einem Trugbild vollständiger Befriedigung des Begehrens spektiven, Freiburg/München, Alber 2013, 33–43. Außerdem F. Worms, Über Leben, Berlin, Merve 2013, zur Diskussion der »Lebensphilosophie« bes. bei Bergson. 21 Introduction à une phénoménologie de la vie (2008), 283, 365 u. 374.

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zu unterliegen, was sich hier sowohl mit dem Denken Freuds wie Lacans deckt, denn der »Todestrieb« ist auch in deren Sinne eine »aktive Negativität« des Begehrens, nämlich als Verzicht auf eine ständige Befriedigung als »Genießen«. Wenn aber der Tod nicht einfach ein Verzicht auf das Begehren darstellen soll, dann wäre er eher als »ein Verzicht auf den für das Begehren konstitutiven Verzicht« zu sehen. Zumindest dürfte von Renaud Barbaras wie Michel Henry und anderen Phänomenologen her der Erweis erbracht sein, dass die Philosophie durchaus in der Lage ist, das Begehren zu artikulieren, ohne einer einseitigen Bewusstseinsillusion des rationalen Ich zu verfallen, auch wenn die Frage nach einem Naturalismus oder Biozentrismus bei dem zuletzt dargestellten Lebensverständnis weiter zu diskutieren wäre. 22 Denn zu erörtern bleibt radikal phänomenologisch wie tiefenpsychologisch, und dies hier mit Blick auf den therapeutischen Prozess, warum und auf welche Weise das Leben prinzipiell Begehren im Sinne eines ständigen Überschusses seiner selbst ist? Will man eine bloß empirische Feststellung vermeiden (etwa durch einen physiologisch geprägten Triebbegriff) sowie eine Zirkeldefinition von Leben/Begehren, dann führt dies auf eine immanente Selbstbewegung des Lebens zurück, die sich als das »Mehr« ihrer selbst stets selbst affiziert, um genau jenes Individuum in seiner lebendigen Ipseität auszumachen, welches als »Patient« dieses Begehren des Lebens als seine innerste Anfrage erprobt. Die scheinbar rein formalen Fragen nach Transzendentalität und/oder Empirizität des Lebens sind also keineswegs unerheblich, denn sie kehren als das dichteste Selbsterleben der Patienten in der Therapie wieder, ob sie sich etwa als ewiger Mangel und Verzicht erleben sollen (mit allem damit verbundenen Leiden), oder ob trotz dieser nicht zu leugnenden Erfahrungsweisen eine »Fülle« zugänglich bleibt, die diesseits von intentionaler »Selbstverwirklichung« und »Bedürfnisstillung« liegt. Insofern ist jeder Pa-

Lacan gesteht dies im Übrigen indirekt zu, wenn er sagt, dass »die traditionelle und existentialistische Philosophie unter der Gestalt der Negativität oder der Vernichtung des existierenden Subjekts etwas Ähnliches formuliert hat« wie seine Neo-Psychoanalyse – außer dass letztere hinzufüge, das Subjekt sei nicht, »insofern es nicht der Phallus ist«; vgl. Le désir et son interprétation (2013), 413 f. Die Frage nach dem näheren Verhältnis zwischen »(Nicht-)Phallus-Sein« und Existenz wird allerdings auch hier nicht anders beantwortet als durch das X des Subjekts, das heißt ohne Rechenschaft in Bezug auf ein Erscheinenkönnen schlechthin.

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tient eine »metaphysische Frage«, 23 welche die Einheit von bloßer »Lebenserhaltung« und wahrer »Existenz« enthält, und dabei spielt die Univozität des Seins eine entscheidende Rolle, die aber nicht allein über die Welt und ihre offenen Projekte oder den Tod als »Verzicht des Verzichtes« geklärt werden kann. Vielmehr bedarf es dazu wohl eines ebenso einmaligen wie radikalen Lebens, welches all diese Phänomene ermöglicht, die in der Therapie so virulent als »Krisen« und »Konflikte« sich stellen. So fällt beispielsweise innerhalb einer Anorexie die Wahl des Kindes oder Jugendlichen zugunsten seines Begehrens aus, während das Bedürfen (Nahrung) weitgehend oder manchmal sogar bis zur Sterbensgrenze durchgestrichen wird. 24 Antwortet die Daseins- und Existenzanalyse in der Verlängerung Heideggers mit einer gewissen Einheit des sum im Sinne existenzontologischer Bestimmung vom »Sinn des Seins« als »Selbstverwirklichung«, so dürfte die neuere Phänomenologie entschiedener auf ein »Nicht-Gegebenes« hinführen, das weder Welt noch Sein ist, sondern eher jenes vor-ontologische »Nicht-Erscheinende«, 25 welches gerade das rein passible Begehren als Intensität mit sich führt, ohne es als Bild, Signifikant oder Ding greifbar zu machen. Liest man in solch aktualisiertem Rahmen das Unbewusste nach Freud und Lacan, dann ist auch dieses in einem dergestalt radikalisierten Sinne ein Nicht-Erscheinen und Nicht-Wissen, weshalb die tiefenpsychologischen und phänomenologischen Aspekte eben als therapeutische Praxis zum besseren Verständnis des Erlebens des Patienten zusammengeführt werden können, da von letzteren so oft gesagt wird: »Ich fühle mich wie/als ein Nichts« – und dies nicht nur bei Entfremdungssyndromen mit Depersonalisation und Derealisation. 26 Das BeDieser Auffassung begegnet man bes. in der älteren »anthropologischen Psychotherapie« wie bei Viktor von Gebsattel und Paul Polak beispielsweise, um auf die »existentielle Not« des Patenten unabhängig vom jeweiligen Krankheitsbild zu antworten; vgl. Psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur 9 (2014): »Klassiker der medizinischen Anthropologie, hier. 36 ff. u. 119 f. Vgl. auch zur jüngeren Diskussion W. Pieringer u. F. Ebner (Hg.), Zur Philosophie der Medizin, Wien/New York, Springer 2000. 24 Vgl. I. Marcinski, Anorexie. Phänomenologie einer Essstörung, Freiburg/München, Alber 2014. 25 Zum Verhältnis von Gebung/Nicht-Gebung in der aktuellen Phänomenologie vgl. zuletzt J.-L. Marion, »Sich geben, sich offenbaren«, in: H.-B. Gerl-Falkovitz (Hg.), Jean-Luc Marion. Studien zum Werk, Dresden, Text & Dialog 2013, 19–34. 26 Zu letzteren vgl. R. Tölle, Psychiatrie, Berlin/Heidelberg/New York, Springer 6 1982, 81–84. 23

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gehren ist hierbei keineswegs tot, sondern es schwankt eher zwischen einer oft nicht mehr geglaubten Lebenssteigerung und einem zu deutlichen Todesappell, wobei bereits zutiefst erlebt wird, dass dies über vordergründige psychologische Kategorien allein hinausgeht. Wir hoffen also bereits hier wie für die Folge genug verdeutlicht zu haben, dass wir die Therapie/Analyse nicht mit einem philosophischen Café verwechseln, sondern den Patienten existentiell an einem Punkt verortet sehen, der all jene großen Fragen praktisch erleben lässt, welche durch die großen literarischen Werke wie »König Ödipus« und »Hamlet«, aber auch durch philosophische und religiöse Autoren wie Nietzsche, Kierkegaard und Meister Eckhart auf uns gekommen sind, um hier nur einige Namen zu nennen. Freud wie Lacan sind ohne dieses Erbe in der Begründung der (Neo-)Psychoanalyse nicht denkbar, so dass sich daraus auch das Motiv heute ergibt, die Psychotherapie von solchen Möglichkeiten nicht abzukoppeln. 27 Denn was gegenwärtig als epochale Antwort ansteht, ist die Frage nach dem »Menschsein« als »Subjektivität«, insofern der Einzelne weder jenes Individuum ist, welches lange nur durch Schuld und Sünde definiert wurde und sich dann entsprechend neurotisiert erlebte, noch als der »Herr und Besitzer« aller Dinge, wie Descartes’ Vision zu Beginn der Moderne lautete. Aber auch nicht als eine Nicht-Bestimmung eines anything goes, wohin leicht der postmoderne Zeitgeist tendiert, um brüchige Identitäten hervorzubringen, die dann angesichts der Pluralität der »Differenzen« doch wieder sehr fragilen Anpassungen und Fixierungen unterliegen. 28 Eine Beantwortung dieser Subjektivitätsproblematik vom ursprünglichen Zusammenhang zwischen Leben/Begehren aus erlaubt (unter Berücksichtigung der tiefenpsychologischen Klinik) eine affektive Selbstidentifikation, die weder um den Ursprung noch das Ziel länger besorgt sein muss, da das Leben als Begehren auf das Woher und Wozu der Existenz schon immer geantwortet hat. Denn als Unmittelbarkeit reiner Lebensempfängnis entfällt der Beweis, eine solche Subjektivität über sichtbare Leistungen »beweisen« zu müssen, ohne ihre IntentionaliVgl. auch K. Baier u. M. Riedenauer (Hg.), Die Spannweite des Daseins. Philosophie, Theologie, Psychotherapie und Religionswissenschaft im Gespräch, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2014. 28 Vgl. bes. die Beiträge zu heutigen soziologischen und politischen Perspektiven »beschädigter Identität« und »disparaten Identitäten« im kulturtheoretischen Sinne in: H. G. Petzold (Hg.), Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden, VS Springer 2012, Teil I, S. 19–221. 27

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täten als Sinnverwirklichungen zu leugnen. Die genannte »Empfängnis« als Lebensaffektion 29 ist nämlich zugleich Selbstgebung des Lebens, so dass alles subjektive Leben als »Weitergabe« des originären Begehrens des Lebens in seiner Selbstbewegung verstanden werden kann, ohne um jeden Preis eine Erfüllung des Bedürfens über die Anhäufung von Objekten jeglicher Art verfolgen zu müssen, wie unsere Gesellschaften es als »globalisierendes« Ziel heute vorgeben. Eine als Intensität des Lebens erfahrene Subjektivität muss sich also weder in den Verzicht der Verdrängung zurückziehen noch die eigene Verwirklichung mit einer imaginären Selbstverwirklichung im Sinne eines phantasierten Habens verwechseln, wozu auch das Bild des eigenen Ich oder der Person bzw. auch der sozialen Rolle gehört. Mit Freud gesprochen steht somit eine Verhältnisbestimmung von »Verdrängen« und »Jenseits des Lustprinzips« an, worin dem Begehren wie der Realitätsanforderung ein Raum und eine Zeit zugewiesen werden kann, welche der Patient dank seines Übertragungserlebens als seine Möglichkeit des Augenblicks ergreifen kann. Denn die Dynamik von Verdrängen/Lust erfolgt nicht nur quantitativ über den Affekt, sondern qualitativ im Affekt selbst als jener Kraft, die sich nie unbewusst ist; mithin stets am Werk und daher auch immer umkehrbar als Schmerz/Freude dank der unverlierbaren Gegebenheit des rein phänomenologischen Lebens, welches mit der Subjektivierung als solcher prinzipiell identisch ist und bleibt. Man sollte sich hierzu prinzipiell verdeutlichen, dass auch das Unbewusste der Psychoanalyse ein Erscheinen benötigt, um als solches überhaupt festgehalten werden zu können, wie immer dabei die möglichen Verhältnisse zum Vorgestelltsein innerhalb eines »Bewusstseinskomplexes« sind, denn ohne Erscheinen keinerlei Sein – auch kein unbewusstes Sein! Um die Abhängigkeit von einem philosophischen Begriff der »Bewusstheit« zu umgehen, verlässt Freud diese nicht zerstörbare Frage des Erscheinens, um auf die rein ontische Ebene der empirischen Feststellung zu gehen, indem nur der Analytiker klinisch in Wir verwenden den Begriff der Empfängnis sowohl im Sinne Meister Eckharts wie auch als Rezeptivität innerhalb des deutschen Idealismus und der Phänomenologie, wo er jeweils die Vorgängigkeit einer natura naturans als Bedingung für die natura naturata zum Ausdruck bringt; vgl. R. Kühn, »Ungeteiltheit« – oder Mystik als AbGrund der Erfahrung. Ein radikal phänomenologisches Gespräch mit Meister Eckhart, Leiden/Boston, Brill 2012, hier bes. 255 ff. Zur Abgrenzung von einem traditionellen metaphysischen Verständnis hierbei vgl. auch unser Kap. I,1 zur »Radikalen Leiblichkeit«. 29

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der Lage sei, mit Gegebenheiten wie Symptomen, Widerständen, Fehlleistungen, Verdrängungen, Übertragungen etc. umzugehen. 30 Aber insofern diese Phänomene als unbewusste gerade erscheinen, benötigen sie auch eine ontologische Erscheinensmöglichkeit, die konkreter nicht sein kann als das Leben selber, insofern die transzendentale Lebendigkeit als Trieb oder Strebungen überhaupt die Bedingung dafür ist, dass sie in ontischer Hinsicht verdrängt, verschoben, symbolisiert oder sublimiert werden können. Bei Freud und der nachfolgenden Neo-Psychoanalyse wie Tiefenpsychologie allgemein gibt es daher ein ständiges Gleiten von einem ontologischen Begriff des Unbewussten zu einem ontischen Konzept desselben. Man kann also ohne jede Restriktion anerkennen, dass Freud im Unbewussten eine andere Phänomenalisierungsweise als die ekstatische der Vorstellbarkeit/Bewusstheit grundsätzlich erkannt hat, nämlich den Affekt im ontologischen Sinne als Leben. Aber durch die empirische Begrenzung auf die ontischen Inhalte dieses Unbewussten mittels früher Kindheitserfahrungen, Verdrängungskomplexe, Traumata etc. verhindert er eine epistemologische oder phänomenologische Aufklärung der apriorischen Möglichkeit dieser ontischen Inhalte von einem Ursprung her, für den sie immanent keineswegs fremd sind – auch wenn sie für ein ekstatisches oder transzendentes Bewusstsein der Vorstellung unzugänglich bleiben. 31 Hier verbinden sich nun zwei entscheidende Fragen für die Praxis der Therapie, denn wenn die so genannten »verdrängten« Phänomene als »Unbewusstes« in einem ontologisch zu sehenden Grund des Lebens ruhen, dann können sie nicht nur dem Bewusstsein durch die (Gegen-)Übertragung und andere therapeutische Techniken einsichtig gemacht werden, sondern die Bewegung zwischen Unbewusst/Bewusst bzw. Affekt/Vorstellung findet phänomenologisch betrachtet ständig statt – und zwar in beide Richtungen. Mithin kann alles, was im therapeutischen Prozess auf der Ebene der Gedanken und biographischen Erzählungen ergriffen wird, an ein ursprünglicheres immanentes Leben zurückgebunden werden. Und was als verdrängt und unbewusst erscheint, gehört ebenfalls zu diesem Leben, so dass es – dank der je unmittelbaren Erprobung dieses Lebens – Vgl. Jahrbuch der Psychoanalyse 69 (2014): »Fehler und Fehlleistungen«. Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 106– 123: »Phänomenologie und Psychoanalyse«.

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in ein primordiales »Lebenswissen« gehoben werden kann, welches als Vollzug stets präsent ist, auch wenn die Vorstellung es nicht als Objekt fassen kann. Wir sehen hieran, dass das so genannte »psychopathologische« Material keinem »durchgestrichenen« oder »verschwindenden« Subjekt allein zuzurechnen ist, wie Lacan 32 meint, sondern einer Subjektivität zugehört, die als »Patient« sich genau auf dieser Linie von ontischen (traumatischen) Inhalten und ontologischer (begehrender) Selbstverwirklichung bewegt. Wir behaupten hier nicht, dass die klinischen Befunde manchmal schwierig zu erheben und zu beurteilen sind, sondern geben innerhalb dieser Einleitung nur zu bedenken, dass auch das »Pathologische« jeweils im Blick einer bestimmten epistemologischen oder phänomenologischen Erscheinensvoraussetzung erscheint, die sich zu vorschnell im Faktischen begrenzt, ohne erkennen zu wollen, dass dieses »Faktische« (Psychische) einer gewissen Transzendentalität oder Hypostase einer welthaften Ontik unterliegt. Ein deutlicher Hinweis scheint uns bei Lacan dadurch gegeben zu sein, wenn er Leib durch Phallus ersetzt, und zwar in dem von ihm als zentral erachteten Satz aus dem Munde Hamlets: »The body is with the king, but the king is not with the body.« Hierauf folgt der Kommentar: »Der Leib (corps) ist von der Angelegenheit des Phallus betroffen, […] aber der Phallus hingegen ist von nichts betroffen und entgleitet uns immer wieder zwischen den Fingern.« 33 Damit gäbe es etwas, das nicht leiblich oder pathisch vermittelt wäre, das Phallische als die absolute Transzendenz der Bedeutung, von der nicht gesagt wird, wie sie dann überhaupt erfahren werden könnte. Wenn es jedoch stets der ganze Mensch ist, der als Patient leidet, 34 können die Schwierigkeiten, wie wir sie mit dem Verhältnis von Mensch/Subjektivität bzw. auch von Therapie/Philosophie aufAuch bei ihm wird stets die Klinik mit der häufigen Formel »wie wir Psychoanalytiker wissen« in Anspruch genommen, um sich von Philosophie und Spekulation abzugrenzen, aber nichts ist andererseits abstrakter als die lacansche Formelsprache eines so genannten graphe, um das »Durchstreichen des Subjekts« durch den Anderen (s/A) im Zusammenhang mit der Signifikantenkette etwa bei der Frage von Begehren/Frage zu formalisieren; vgl. unter anderem Le désir et son interprétation (2013), 11–55: »Construction du graphe« als Einleitung zu diesen Seminaren von 1958–59. 33 Ebd., 417 f. 34 Vgl. für eine solch notwendige ganzheitliche Betrachtung seelischer Krankheitsphänomene R. Tölle, Psychiatrie (1982), 7 ff., wo die »phänomenologische Methode« als Verstehensprämisse bevorzugt wird. 32

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geworfen haben, nicht einfach als inexistent negiert werden, da es keine Beantwortung des Begehrens unterhalb dieser zentralen Anforderungen für das jeweilige Individuum in der therapeutischen Situation gibt. Da mit anderen Worten das Verhältnis von Hervorbringung und Hervorgebrachtem auch in der Philosophie keine Antwort bisher gefunden hat, die voll befriedigen kann, darf man sich nicht darüber wundern, dass die (Neo-)Psychoanalyse, sofern sie von einem Minimum an »Realität« (Seiendem) im ontischen Sinne ausgehen muss, dieses durch eigene interpretative Weiterentwicklungen oder einer so genannten aktualisierten »Rückkehr zu Freud« notwendigerweise immer wieder verschiebt, sofern die klinischen oder epistemologischen Parameter sich teilweise ändern. Dies zeigen für die Therapie/Analyse unter anderem Neo-Freudianer wie M. Klein, Winnicott, Kernberg, Bion oder Lacan, ohne die frühere Generation unmittelbar nach Freud mit ihren »Dissidenten« wie Adler und Jung hier weiter aufzuführen. 35 Denn ein »Reales« zu konstatieren, ohne zu wissen, wie es radikal oder material phänomenologisch hervorgebracht wird, 36 seien es Träume, Ideenassoziationen oder neurotische Symptome, führt im besten Fall für den Patienten zu einem Wissen um die einstige »regressive« Ursache für einen bestimmten affektiven Zustand, ohne jedoch den inneren Bezug desselben als solchen ergreifen zu können, weil ihm das subjektive Hervorbringungsprinzip bei sich selbst fremd bleibt. Das heißt, es wird eine Bedeutung gegeben, welche dem Geschehen selbst fremd bleibt, weil die Sprache das Ereignis interpretieren soll. Aber trifft die »ödipale« Aussage: »mit der Mutter schlafen und den Vater töten wollen« wirklich den Affekt des Kindes, wenn es noch nicht einmal den Begriff von Mutter und Vater gebildet hat – und sein »Reales« vielmehr eine fundamentale Lebenserfahrung darstellt, nämlich jene von Ohnmacht und Können, die sein ganzes Leben bestimmen wird? Erfährt sich in der Tat das Kind noch nicht intentional als »ein Kind, das seine Mutter liebt und seinen Vater hasst«, dann macht dieses Kind als rein lebendiges Individuum dennoch bereits jene Ursprungserfahrung der reiVgl. als Übersicht etwa W. Mertens, Psychoanalyse: Geschichte und Methoden, München, Beck 2008. 36 Zum Begriff »Materialer Phänomenologie« vgl. M. Henry, Radikale Phänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 1992, hier bes. 149 ff. u. 163 ff. Vom »Realen« sagt Lacan, dass es umfassend, integral oder »ohne Loch« sei im Unterschied zur Erfahrung des Subjekts; vgl. Le désir et son interprétation (2013), 448 ff. 35

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nen Affektabilität, die jedem Sinn vorhergeht und in dieser absolut vor-ekstatischen Bedeutung von »Ich empfinde« das ontologische Unbewusste des Lebens genannt werden kann, in das sich dann alle Relationen einschreiben – auch jene der Eltern und anderer Bezugspersonen, ohne zu einem »Spiegelstadium« im Sinne Lacans Zuflucht nehmen zu müssen. Denn wie soll man sich die ödipale »Triangulierung« denken, wenn dem »Erleben« und »Experimentieren« dieser Situation keine wirklichen phänomenologischen Beschreibungen solchen Er-lebens hinzugefügt werden – außer dass es sich um einen Übergang zur »genitalen Phase« im Sinne Freuds handle und der »Trauerarbeit« um den Verlust des Phallus bei Mutter und Vater sowie beim Kind selbst geschuldet wäre? 37 Wie soll man daher die Tatsache beurteilen, dass Freud selber letztlich einen Ursprungsmythos schafft, der sich vor aller Gesellschaftlichkeit (also auch der Familie) abspielt, um die Prinzipien der Verdrängung als solche zu begründen – nämlich den Vater-Tötungsmythos durch die Brüder in »Totem und Tabu«? Das ontische Reale der Verdrängung wird dadurch, auch wenn Einflüsse von Nietzsche hierbei ausgemacht werden können, auf eine rein imaginäre literarische Schöpfung Freuds zurückgeführt, die aber nur dann eine ontologische Relevanz besitzt, wenn sich in diesem Imaginären das Leben als Affektion von Liebe und Hass schlechthin ausdrückt. Ähnliches wäre für die Träume zu sagen, deren Wesentliches nicht darin besteht, Lücken der Vorstellung aufzuweisen, sondern als Imagination und Phantasie Manifestationsweisen des unsichtbaren Lebens unmittelbar darzustellen, ohne bloß ein ontisch Unbewusstes für die Vorstellung abzugeben. 38 Allgemein in Bezug auf die Problematik der Verdrängung, ob sie nun Vergessen, Fehlleistungen, Träume und symptomale Vorstellungskomplexe betrifft, heißt dies, dass die Verdrängung nicht etwas als ontischen Vorstellungsinhalt verdrängt, sondern prinzipiell innerhalb der Affektabilität des Lebens am Werk ist. Insofern das rein immanente oder affektive Leben niemals sich selbst vorstellt, da es keine Kluft in sich kennt, ist es jenes radikal ontologische Vermögen als pathische Kraft, die jede Vorstellung überVgl. ebd., 408 ff. Für die heute weiter zu berücksichtigenden Ergebnisse aus der neueren »Säuglingsforschung« vgl. etwa D. Stern, The Interpersonal World of the Infant: A View from Psychoanalysis and Development, New York, Basic Books 1985. 38 Vgl. für eine genauere phänomenologische Analyse des Imaginären R. Kühn, Wie das Leben spricht: Narrativität als radikale Lebensphänomenologie, Cham (CH), Springer 2015, bes. Kap. I,4. 37

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haupt erst ermöglicht. Auf diese Weise bleibt der Affekt in jeder Vorstellung gegeben und entscheidet darüber, was ins Bewusstsein gelangt oder nicht. Wie wir andeuteten, ist bereits vor jedem Bild von Vater und Mutter die innere Modalisierung von Freude, Angst, Verzweiflung etc. gegeben, und dies als inneres Grundgesetz der ständigen affektiven Veränderung des Lebens in sich. In diese selbstimpressionale Materialität des rein phänomenologischen Lebens schreiben sich die subjektiven Ereignisse als Vorstellungen und Bilder ein, die dann aufgrund des vorgängigen Affekts im Bewusstsein Aufnahme finden oder abgewiesen, anders gesagt verdrängt werden. Wir wählen also nicht etwas, weil wir es als gut oder schlecht denken, sondern weil das Begehren als Affekt immer schon dem vorauseilt, was wir überhaupt denken können. Insofern ist die Verdrängung im positiven wie negativen Sinne das allgemeine Gesetz des psychischen Lebens überhaupt, denn sonst müsste ein ontisch Unbewusstes bereits auf paradoxe Weise jene Gedanken und Gefühle kennen, die es verdrängen will, was dann aber im strengen Sinne kein »Un-Bewusstes« mehr wäre, sondern nur die Objektivierung dessen, was im ontologischen Sinne als transzendentales Leben zu verstehen ist. 39 Letzteres ist prinzipiell unsichtbar, weil es das erste oder ursprüngliche Erscheinen bildet, welches Affekt wie Vorstellung in sich ermöglicht, insofern es als »Selbsterscheinen« mit sich als Akt und Gehalt zusammenfällt, um so jene Kraft zu sein, die sich selbst kennt – nämlich als das zuvor schon genannte originäre oder rein praktische Lebenswissen. Dieses nicht-thematische »Wissen« ist ein »SichSelbst-Empfinden« solchen Lebens, und in jeder Vorstellung ist es als die Selbsterkenntnis dieser Vorstellung im Sinne ihrer immanenten Selbstimpression gegeben. Diese transzendentale Affektivität als rein phänomenologisches Leben liegt daher dem Trieb in einem ontischen Sinne bei Freud voraus, weshalb sie auch alle Inhalte vor, während oder nach der Verdrängung ignoriert, die sich als Vorstellung darbieten. Aber jeder einzelne Gehalt ist nur effektiv dank dieser Affektivität gegeben, weshalb es auch keine »unbewussten Vorstellungen« als autonome Gebilde mit einem etwaigen organischen Untergrund gibt. Wenn sich mithin ein Vorstellungsgehalt im Denken abzeichnet, der verdrängt werden soll, so geschieht dies durch jenes Vgl. M. Henry, »Die Frage der Verdrängung nach Schopenhauer und Freud«, in: S. Kattelmann u. S. Knöpker (Hg.), Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn, Freiburg/München, Alber 2012, 99–114, hier bes. 110 ff.

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Leiden, jene Unlust, gegebenenfalls jenen Schrecken, die über die Verdrängung der Vorstellbarkeit eines bestimmten Inhalts entscheiden. Diese Affektivität als die Ur-Phänomenalität, welche als unsere Affektabilität die unendlichen immanenten Variationen und Oszillationen der affektiven Möglichkeiten hervorbringt, bildet folglich jene »Erste Wirklichkeit« als Erscheinensvermögen, worin die gesamte Welt als Bild unseres Begehrens sich widerspiegelt. Dies heißt es im therapeutischen Prozess aufzuarbeiten, um schließlich zu erkennen, wie die Existenz eines Patienten aus diesem grundlegenden Gesetz der fundamentalen inneren affektiven Befindlichkeiten oder Tonalitäten gebildet ist, nämlich als Begehren/Sinn, um das zu formen, was Freud das »Triebschicksal« nannte – aber letztlich auf die Radikalität des subjektiven Lebens zurückverweist, wenn man die Tiefenpsychologie in Richtung einer radikalen Phänomenologie weiterverfolgt und für die therapeutische Praxis fruchtbar macht. Die Frage der Verdrängung (und korrelativ die methodische Frage von Übertragung/Gegenübertragung) eröffnet damit ein unendlich neues Feld vor uns, das noch nicht durch die Ur-Mythen der (Neo-)Psychoanalyse gänzlich abgesteckt ist, denn es gilt material phänomenologisch zu verstehen, wie das Leiden ein Leiden, die Angst eine Angst und die Freude eine Freude überhaupt ist. Diese können nie von den Ereignissen im Sinne eines Außen herrühren, sondern brechen aus dem pathischen Selbstvollzug des Lebens als seine leibliche Intensität hervor, um überall vom Begehren zu sprechen, sei es Erotik, Objekt, Beziehung oder auch Tod und Sterben. Jacques Lacan, dem man wohl kaum eine lebensphänomenologische Position nachsagen kann, hat diese Grundrealität durchscheinen lassen, insofern sie zu einer großen professionellen Bescheidenheit wie Solidarität innerhalb der Therapie gleichzeitig mahnt, wenn er schreibt: »Der Arzt [Analytiker] spricht immer so, als stehe er fest in seinen Stiefeln, in den Stiefeln der Liebe, des Begehrens, des Willens, und in allem, was daraus folgt. Allerdings ist dies eine sehr merkwürdige Position, und seit einer gewissen Zeit [in diesem Seminar] sollten wir wissen, dass dies eine gefährliche Position ist. Durch diese nehmen Sie die Positionen der Gegen-Übertragung ein, wodurch man dann nichts mehr vom Kranken versteht, mit dem man es zu tun hat.« 40

Le désir et son interprétation (2013), 343; vgl. auch J. Lacan, Le Séminaire VIII: Le transfert, Paris, Seuil 2001 (dt. Die Übertragung. Das Seminar VIII, Wien, Passagen 2007).

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Wenn wir daher in den folgenden Kapiteln Phänomenologie und Tiefenpsychologie miteinander ins Gespräch bringen, um dieses für die therapeutische Praxis und Supervision 41 fruchtbar zu machen, so bedeutet dies notwendigerweise zugleich auch, die (Neo-)Psychoanalyse einerseits mit einem radikalisierten Lebensbegriff zu konfrontieren sowie andererseits die ihr entsprechende Lebensphänomenologie hinsichtlich einer möglichen therapeutischen Praxis so weit wie möglich voranzutreiben, was eine Revision metaphysischer und epistemologischer Vorentscheidungen betreffs radikaler Subjektivität überhaupt nötig macht. Denn wenn etwa ein Therapeut/Analytiker bei seinem Patienten die Eifersucht gegenüber dessen Partnerin dahingehend auslegen sollte, dass dieser selbst das Bestreben habe, sie zu betrügen, dann ersetzt eine solche »Deutung« als »Sinngebung« nur das Gefühl der Eifersicht, was bedeutet, dass der ekstatische Idealismus des Bewusstseins an sich nicht verlassen wird, anstatt sich mit der Eifersucht – oder einem anderen Affekt – als solchem zu konfrontieren und in seiner reinen Erprobung die Ur-Mächtigkeit des radikal subjektiven Lebens zu empfinden. Ähnliches gilt von zitternden Händen, wenn der Patient beispielsweise schweigt oder sehr erregt wirkt, und dies als Agieren im Sinne eines Widerstandes auslegt wird, denn das Zittern selbst ist kein Sprechen mit Intentionen, sondern eine unmittelbar leibliche Erfahrung, die keine direkte kausale psychologische Verbindung impliziert. Vielmehr verweisen solche »Anzeichen« (Freud) von psychoneurotischen Symptomen nicht nur auf triebhafte Strebungen, sondern zuvor vor allem auf eine nicht-intentionale Leiblichkeit, welche mit der Ipseität der Subjektivität identisch ist. Aufzusuchen bleibt daher diese unsichtbare Aktivität des Lebens, um sich von diesem selbst erproben zu lassen, und wir werden uns in unserer ganzen Untersuchung bemühen, diesen »Schritt zurück« jeweils, das heißt diesseits eines ontisch Unbewussten noch, für alle entscheidenden therapeutischen Begrifflichkeiten und Techniken zu vollziehen. Die neurotischen, psychotischen, obsessionellen (anakastischen, kompulsiven) und hysterischen Symptome werden also in keinem Fall verneint, aber eine Frau etwa, die sich vor Übelkeit übergibt, weil sie Angst hat, schwanger zu sein, unterliegt einer inneren Aktivität, die sich als solche nicht zeigt und nicht nur auf »unbewusste Vorstellungen« reduziert werden kann, da jede Vorstellung Deren spezifische Aufgabe greifen wir im Einzelnen in unserem Ausblick – gerade auch im Zusammenhang mit der Übertragung – auf.

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sich zunächst allein durch jene affektive Kraft bildet, die überhaupt erst ein (subjektives) Erscheinen erlaubt, was auch bei den so genannten »Konversionsreaktionen« mit heftiger motorischer Entladung oder Lähmungen gelten dürfte. 42 »Trieb« und »Vorstellungsrepräsentanz« sind daher nicht voneinander trennbar, denn es gibt keinen Vorstellungsinhalt, der unabhängig von jenem Akt wäre, der ihn hervorbringt, wie wir schon sagten. Daher ist der Trieb nicht nur der »seelische Repräsentant« eines somatischen Prozesses wie bei Freud, sondern identisch mit der Leiblichkeit als solcher, die wir deshalb auch Begehren nennen, um gleichzeitig die Diskussion mit Lacan in Bezug auf ein sprachliches Verständnis desselben aufnehmen zu können. Aber ob Trieb im Sinne von psychischen Strebungen oder von Alteritätsdiskursen, die das Begehren zur Anfrage/Bitte machen, über die der Andere entscheidet – dies enthält Sichtweisen von einem letztlich unglücklichen Leben, welches sich nach außen entwerfen muss, um wirklich zu sein und eventuell existentiell angenommen werden zu können. Aber wenn das Begehren nicht bereits die innere »erfüllte« Selbstbewegung des Lebens als Leiblichkeit ist, dann kann keinerlei äußere Befriedigung jemals mehr die Selbstfreude als »Glück« oder »Genießen« (jouissance) im Sinne des Selbstvollzuges des Lebens einholen. Hieraus werden sich all die notwendigen Untersuchungen zum »Objekt« und »Ding« (»klein a« oder »groß A«) 43 ergeben müssen, weil die Aufspaltung des Triebes oder der Strebungen in Bedürfen, Begehren und Anfrage (Bitte) an den Anderen durch »Botschaft« wie »Code« bereits ekstatische Trennungen im Leben fixiert, die dieses als solches nicht kennt. Aus dieser Sicht bleibt die Verdrängung in der Tat die Grenzfrage der Therapie/Analyse wie jeder reflexiven Philosophie letztlich, weil die Affektivität als ipseisierende Affektabilität sich nur in sich selbst affizieren kann und deshalb unsichtbar bleibt, ohne aufzuhören, sich nach ihren inneren Modalitäten zu verändern, worunter die Angst primordial ist, da wir das Leben nicht sehen können und es sich trotzdem als inner-affektive Bewegung selbstbestimmt. Wird diese Angst aus der Vorstellung verdrängt, dann kehrt sie beispielsweise in all ihren neurotischen und hysterischen Formen als Symptom wieder, was uns zeigt, dass die AngstVgl. R. Tölle, Psychiatrie (1982), 64–69; auch die Bezeichnungen »Konversionsneurose« und »Konversionshysterie« sind gebräuchlich. 43 Vgl. J. Lacan, Le désir et son interpréation (2013), 335 ff. 42

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neben der Verdrängungsfrage, bzw. beide zusammen, zumeist den Kern der Therapie gemeinsam mit Scham und Schuld ausmachen – und dies in einem ebenso prinzipiellen phänomenologischen, existentiellen wie tiefenpsychologischen Sinne, wie es gerade die Angstneurosen zeigen. Was ereignet sich deshalb konkret, wenn sich Patient und Therapeut in der Kürze einer Therapiesitzung begegnen? Kennzeichnet nämlich die Sitzung mit einer bestimmten oder variablen Zeit die hauptsächliche Praxis der Psychotherapie/Analyse, dann setzt dies einen besonderen Zusammenhang von Zeit, Wahrheit und Wissen voraus. Und selbst wenn es nicht ausgeschlossen ist, dass eine Therapiestunde auch einmal während eines Spaziergangs stattfinden kann, wie es Freud selber tat, oder an einem anderen Ort aufgrund von bestimmten Umständen, so ist die Sitzung im Prinzip an den Praxisraum des Therapeuten oder der Klinik gebunden. Der freie oder assoziative Austausch von Gedanken und Affekten ermöglicht hierbei jede Weise von »Beziehung«, auch die erotische, wobei dies allerdings nur möglich ist, weil sie als sexuelle (oder auch tätig aggressive) nicht ausgeübt wird, und zwar kategorisch. Das heißt, Raum und Zeit ermöglichen hier ein Tun »ohne Warum«, dessen Logik das unvorhergesehene Ereignis als »Einfall« bildet, so dass das »Wissen« das Subjekt selbst ist, von dem kein weiteres bestimmtes Wissen vorausgesetzt wird. Vielmehr erhält die Aussage des Patienten in einer begrenzten Zeit und in einem geschützten Raum einen ganz eigenen Status, der im rein praktischen Sinne von »Erfahrung« phänomenologisch genannt werden kann. Das »Unbewusste« als das NochNicht-Gesagte hierbei ist das lebendige Subjekt selbst als das genannte Wissen, welches noch nicht »da« ist oder gewusst wird, so dass es sich zunächst grundsätzlich als ontisch lückenhaft erweist. Aber diese Nicht-Kontinuität soll gar nicht gefüllt werden, sondern tritt als »Wissen« auf, wenn die ganz eigene Zeit dafür gekommen ist. Die Phänomenologie eines solchen Eintritts oder »Einfalls« von vor-ontologischem Wissen geschieht also im Intervall von Wort und Gedanke, und was bisher nicht gewusst wurde als Affekt oder Sinn, tritt in diese besondere Zeit des »Zwischen« von anderen Bedeutungen ein. Das Unvorhergesehene ereignet sich mit anderen Worten als ein nicht planbarer Effekt, so dass das Subjekt dieses Ereignisses selbst dieses Nicht-Vorhersehbare genannt werden kann. Die scheinbare Regularität von Zeit und Raum erweist sich somit als Bedingung eines Unregulierbaren im Sinne des Hervorbrechens von einem 36 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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»Kontingenten«, das sich als Kern des Wirklichen letztlich manifestiert – als jenes unverständliche »Trauma«, dessen »Wiederholung« die unverzichtbare Materie dieses subjektiv Wirklichen als Leben war. Die besondere Zeit in einem besonderen Raum enthält dabei ebenfalls einen besonderen aufmerkenden Blick auf den Patienten insofern, als dessen Vergangenheit nicht länger als ein ontologisch Gewesenes in einem klassisch substantiellen oder anthropologischen Sinne vorausgesetzt wird, sondern als etwas Noch-Nicht-Verwirklichtes. Zur freudschen Sichtweise einer prioritären Wiedererinnerung an das Vergangene tritt dadurch stärker das Noch-Ausstehende als das Kommende für eine subjektive Existenz, da sie sich nicht als ein fertiges Wissen wie mit einem Schlage verwirklicht, sondern als ein affektiv-historiales Wissen, das »Zeit braucht«. 44 In einer Therapie überschneidet sich somit eine gewisse Regularität der therapeutischen Sitzung mit einem unvorhersehbaren Eintritt der »Wahrheit« als eines Wissens des Subjekts, welches neu ist und letzteres in einem gewissen Sinne erst jetzt zu einem Subjekt macht, das weiß, obwohl es dieses lebendige Wissen allein selbst mitbringt. Der wirkliche und unvorhergesehene »Sinn« im ureigensten Erleben lässt das Subjekt wie nackt vor diesem neuen Wirklichen erscheinen, aber zugleich ist diese Nacktheit als das bisherige Nicht-Wissen die einzige Gelegenheit für das (subjektiv) Wirkliche, um überhaupt erscheinen zu können. Dadurch wird auch die schon angedeutete scheinbare Verheißung der Regularität der Sitzung als erwartetes Ergebnis in einem gezielten Sinne aufgehoben, denn durch das Moment der nicht dirigierten (objektiven) Zeit fällt das Quantitative als Maß eines bloß vorgestellten Wissens fort, um den »Fall« des Patienten zum wirklichen »Ein-Fall« werden zu lassen, welcher sein selbstaffektives Leben ist, und zwar nicht weiter vermessbar außer mit seiner eigenen inneren oder rein phänomenologischen Erprobung. Das therapeutische Gespräch im Sinne der Psycho-, Existenz- wie Daseinsanalyse bewegt sich darum in einer Dialektik von Wiederholung und Antizipation, wobei die starre Notwendigkeit des Vergangenen zur Überraschung einer Umkehr mutiert, die zugleich als neue Möglichkeit des Zukünftigen auftritt. Auf dieser Ebene erscheint dann die zuvor genannte »Deontologisierung« des Subjekts nunmehr wie eine In diesem Sinne können die Beschreibungen von Binswanger zur jeweilig individuellen Zeitigung bei den Patienten als weiterhin maßgeblich angesehen werden, vgl. etwa Über Ideenflucht, Zürich, Art 1933, 192 f. 44

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»Transsubstantiation«, 45 indem das Sein des Patienten sich zu einem »neuen Sein« hin verändert hat, und diese Mutation zu etwas Unvorhersehbarem oder Neuem hin ist eine Wirkung, die man dann genauer auch eine Transubjektivierung nennen könnte. Insofern nämlich das rein phänomenologische Leben als Sein und Selbst des Patienten identisch sind und hier eine neue Vollzugswirklichkeit annehmen, um jetzt sein volles Subjektsein zu bilden, können sie auf der existentiellen wie tiefenpsychologischen Ebene auch als eine neue Weise des Sich-Erfreuens oder Begehrens mit seinem »Genießen« ohne fixiertes Objekt beschrieben werden. Zusätzlich zur therapeutischen Besonderheit von Zeit und Raum ist es daher zugleich wesentlich, dass sich zwei Leiber in einer solchen singulären Situation begegnen, wo alle Affekte in ihrem inneren Erscheinen möglich sind, aber nicht ausagiert werden, sondern mit in das Werden des sich subjektiv konstituierenden Wissens des Patienten um sich selbst einbezogen werden. Denn da das Affektive die letzte Erscheinenswirklichkeit bildet, ist ihre Virtualität als Potenzialität des Lebendigseins im Ausdruck ohne jedes Kalkül seitens des Therapeuten in die Unbestimmtheit der offenen Wirklichkeit des Patienten hineinzunehmen, so wie sie sich zu ihrer Zeit offenbaren soll. Das Mit-Pathos des Therapeuten ist die rein phänomenologische Garantie, dass diese Unbestimmtheit durch keinen erotischen oder aggressiven Übergriff gestört wird, weshalb die Übertragungsproblematik eine ständige Aufgabe hierbei bleibt, um Aussage und Verstehen in dieser therapeutischen Einmaligkeit nicht durch Elemente zu beeinträchtigen, die letztlich im Sinne eines interessierten Außen aufgehoben sind. Wird folglich ein solcher »Ort« durch die besondere Weise von Zeit, Raum und Leiblichkeit herausgehoben, dann handelt es sich um einen Ort, in dem die genannte »Transsubstantiation« des Patienten als eines Subjekts im Sinne einer causa sui möglich wird, das heißt ohne Deduktion oder Beweis, da diese immer Bezüge auf ein Anderes implizieren, welches nicht das Selbst des Subjekts als solchem ist. In diesem Sinne spricht die LebensphänomenoDer Begriff der Transsubstantiation stammt im engeren Sinne aus der Sakramentenlehre, bes. der Eucharistie, und Lacan erstellt eine gewisse Parallele zwischen Analyse und Sakrament als einer »Sitzung«, wo eine neue »Identität« gestiftet wird, die sich als Ereignis einstellt; vgl. Le Séminaire XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse (1964), Paris, Seuil 1973 (dt. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Freiburg/Olten, Walter 1978). Zu einigen weiteren Ausführungen zum Verhältnis von Religion/Therapie heute vgl. unseren Ausblick (3.).

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logie von der rein phänomenologischen Immanenz, wo der ursprüngliche Bezug zum »Leben des Lebens« selbst gegeben und erprobt wird. Denn die beiden Leiber sind nicht in einer bestimmten intentionalen gegenseitigen Erwartung beisammen, sondern der Therapeut ist nur motiviert von der Bewegung des Patienten auf dessen kommendes Selbst hin. Die subjektive oder innere Zeit des Therapeuten ist für den Anderen suspendiert, was bedeutet, dass es sich um eine Art von Zeitverdoppelung handelt, in die kein äußeres Ereignis eintritt. Das Wahrnehmungsfeld der therapeutischen Sitzung ist demnach im reduktiv phänomenologischen Sinne neutralisiert, denn was ausgetauscht wird, ist nicht durch die äußere Welt des sonstigen Alltags beeinflusst, sondern davon abgehoben, um eine besondere Aufmerksamkeit zu ermöglichen. Auf diese Weise ist der Patient als der »Andere« im Innersten des eigenen subjektiven Bewusstseinslebens des Therapeuten mithin jemand, der mich meiner »Intimität« im üblichen Sinne beraubt, um in dieser eine Ge-gebenheit sein zu können, die als vorübergehender Kontakt meine hörende und freie »Unterwerfung« ohne jedes Bedenken in Anspruch nehmen darf. 46 Wo mithin alles auf diese Weise in Bezug auf die alltägliche Lebenswelt suspendiert erscheint, kann dann auch eine versäumte Sitzung (aus welchen Gründen auch immer) als eine reale Sitzung gezählt werden. Und zwar nicht aus finanziellen Gründen, die ihre eigene Berechtigung haben, sondern aufgrund der Unabhängigkeit der besonderen therapeutischen Zeit als einer Zeit, welche die reine Zeit des Anderen als Patient darstellt. Der Schein des Regulären ist somit prinzipiell aufgehoben, denn die objektive Logik jeglicher Art findet hier ihre Grenze an einer operativen Vollzugswirklichkeit des Existentiellen, welche an die Stelle der bloßen Wiederholung tritt, die eher in die Anfangsphase der Therapie verlegt werden sollte. Denn wenn in der Mitte des Geschehens der jederzeit mögliche »Sprung« des Subjekts in seine eigene Wirklichkeit als Wahrheit steht, nämlich als jenes Unvorhergesehene, welches eine bloße Zeitfüllung von biographischer Narration übersteigt, dann geschieht dies angesichts der vom Subjekt bisher selbst noch nicht gehörten inneren Narrativität seines im Neuen nunmehr als einmalig erfahrenen Lebens und dessen »Sinn«. Für die Therapie/Analyse wie Supervision insgesamt ergibt sich daraus als äußerste Konsequenz: Alles Denken an Beginn, Vgl. auch J.-A. Miller, »Le dernier enseignement de Lacan«, in: La cause freudienne 53 (2003) 7–39.

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Fortschritt, Beweis, Ordnung, Beherrschung, Hoffen, Befürchten etc. ist zu verlassen, um dem »Zufälligen« des Einfalls zu vertrauen – um dem bisher Ungedachten und Ungefühlten Kredit zu gewähren, das heißt dem, was unauffindbar ist und bleibt, ohne grundlos zu sein, und was niemals »verdrängt« werden kann, um sich von ihm »besitzen« zu lassen. Das Gleiten der Bedeutungen kommt dann zu einem gewissen Ende, um die Identität (Sinn) des Subjekts nicht mehr ausschließlich über das (Nicht-)Lesbare in seinen Vorstellungen verstehen zu wollen, denn die Einklammerung der rein biographischen Narration hebt die Zensur gegenüber der subjektiven Wahrheit auf, wie sie sich zwischen den Zeilen – sowie plötzlich als Einfall – manifestiert. Die Wahrheit des Wirklichen ist nämlich nicht abhängig von der logischen oder semantischen Korrektheit eines jeden Ausdrucks (auch wenn auf diesen genau geachtet werden sollte), sondern vielmehr von einer »Struktur«, welche Zensur und Verbot im »Verdrängten« durch das »Unmögliche« aufhebt – eben durch den neuen »Sinn«, der nicht erwartet wurde und bis dahin auch nicht gehört werden konnte. Wenn also zugestanden wird, dass auch Psychoanalyse und Unbewusstes zwei verschiedene Diskurse sind, um der Verwirklichung des Zukünftigen eine gewisse subjektive Priorität im lebendigen Selbst des Patienten einzuräumen, dann lässt sich das, was in Freuds Werk unvollendet erscheint, als Anlass zu einer Weiterführung verstehen, die im Folgenden durch die Stimme von Lebens- und Existenzphänomenologie neben der Neo-Psychoanalyse Lacans vertreten ist, um die Chancen des Unvorhersehbaren in der therapeutischen Praxis so angemessen wie möglich zu gestalten.

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I. Radikale Phänomenologie und Tiefenpsychologie

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1. Radikale Leiblichkeit

Es bleibt hinsichtlich einer originären Leib-, Trieb-, Sinn- und Therapieanalyse zunächst festzuhalten, dass der subjektive Leib als ontologische »Gewohnheit« im Sinne einer konkret transzendentalen Möglichkeit sich nicht nur im Bereich der reinen Immanenz verwirklicht, sondern in dieser vor-ontologischen Perspektive eine Umkehr klassischen Leibdenkens überhaupt darstellt, insofern keinerlei rationale Frage betreffs einer Trennung von Subjekt/Objekt ihn mehr betreffen kann. Bezeichnen wir diese innere phänomenologische Absolutheit des subjektiven Leibes als Instanz einer transzendentalen ProtoBezüglichkeit, welche in aller Selbst-Narrativität der leiblichen Affekte und Impressionen spricht, dann heißt dies zugleich, dass ein solcher Ur-Leib des »Ich kann« ein absolutes Situiertsein im Leben impliziert, auf die jede weitere mundane wie existentielle Situation in ihrer Gegebenheit angewiesen ist. Denn der objektive oder sichtbare Leib kann nur dann situiert sein, wenn er zuerst durch eine transzendentale oder absolute Position im Leben situiert ist, welche die Öffnung auf alles Weltsein schlechthin bedeutet. Es ist daher unmöglich, dass unsere Leiblichkeit – existentiell wie kulturell – jemals auf einen empirischen Körper reduziert werden kann, was epistemologisch einschließt, dass wir hinsichtlich unseres subjektiven oder immanenten Leibes nicht irgendeine beliebige Perspektive einnehmen können. Damit ist in jedem subjektiven Vollzug auch die Problematik der Freiheit zugleich berührt, die besagt, dass letztere im Bereich der inner-subjektiven Selbstgegebenheit sowohl begrenzt wie nicht-kontingent ist, nämlich nicht selbstgesetzt und dennoch identisch mit unendlichen Potenzialitäten des Lebens, welche durch die Gegenwart jedes Lebendigen zur Welt hin natürlich bestimmte Perspektiven und Haltungen einnehmen müssen, aber davon letztlich nicht verändert werden. Denn das lebendige »Fleisch« (chair) ist im radikal lebensphänomenologischen Sinne nicht allein ein kinästhetisches Organ für 43 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

1. Radikale Leiblichkeit

Bewegung und Wahrnehmung wie bei Husserl, sondern als absolute Leiblichkeit stets die inner-narrative Historialität der Lebensankünftigkeit als solche, weshalb unser Leibsein nicht allein durch eine endliche Begrenzung durch das Weltsein bestimmbar ist. Wenn die Subjektivität in diesem Sinne die Fundierungsmöglichkeit jeder ontologischen Situation schlechthin ist, dann ist damit auch die cartesische Denkachse Ego/Gott, wodurch in der rationalen Metaphysik die Ipseität verstanden werden sollte, als teleologische Unendlichkeit grundsätzlich verlassen und der absolute Leib initiiert so ein umfassend erneuertes Denken für heute, für welches das ursprüngliche Sein unseres Leibes als Leben den Ursprung einer internen transzendentalen Erfahrung bildet, welche die narrativen Effekte dieses umfassend leiblichen Lebens in allen Erfahrungen bestimmt.

1) Leiblichkeit als Erneuerung des Denkens Dabei ist die Spannung zwischen Idealismus und Empirismus wie noch in der klassischen Phänomenologie nicht unbewusst übergangen, weil die Übereinstimmung der immanenten Struktur des Lebens mit der weltlichen Praxis der Individuen über eine Phänomenalisierung verläuft, wo der eigene Leib als »Ich kann« von vornherein ein lebendiger Leib ist, dessen radikal phänomenologische Materialität jegliche Widerständigkeit im Berühren als Gegenüber im Sinne der transzendenten Gegenständlichkeit relational ermöglicht. Herrscht nämlich eine Unmittelbarkeit zwischen innerem Wollen und Bewegen als Einheit des Sich-Selbst-Bewegens der Subjektivität vor, dann fallen auch bereits Apperzeption und Erfahrung in jeder Hinsicht zusammen, da jede Ego-Intentionalität mit der Entfaltung des absoluten Leibes als radikale Immanenz im Sinne einer Transparenz identisch ist, die nicht mehr vom vorstellenden Blick abhängt, sondern allein vom Vollzug des ausgeübten Könnens als subjektiver Praxis. Solche Apperzeption ist daher nicht länger von der Re-flexion her zu beurteilen, sondern jeder Vollzug ist eine lebendige Reflexionsform im Sinne einer leiblichen Einheit, die jeder Trennung von praktischer Apperzeption und theoretischer Reflexivität vorausliegt. Anders gesagt ist alles Konstituierte im absoluten Leib gegeben, ohne darin als eine fertige oder statische Substanz zu ruhen, da die unsichtbare Affektivität dieses Leibes Immanenz und Transzendenz dergestalt miteinander immer schon vereint, dass jede Relation die Manifestation 44 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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eines Ur-Pathos darstellt, welches sich von der Immanenz bis hin zur höchsten Wahrnehmung oder abstraktesten Sprache erstreckt. Ein bloß empirisch gesehener Raum, in dem sich die Dinge real oder horizonthaft ausdehnten, wie es die klassische Philosophie in ihrem prinzipiellen Gegenüber von Denken und Welt setzt, ist rein lebensphänomenologisch überholt von der Koinzidenz zwischen ursprünglicher Leib- oder Affekterfahrung und Welthaftigkeit in all ihren Formen. Das ständig affizierende »Wort« dieser Koinzidenz ist jene inner-affektive oder triebgenealogische Narrativität, welche sich durch alle Erfahrung als notwendiges Sich-Erfahren zieht, was unsere Untersuchung hier grundlegend als Interventionsbasis für jede Psychotherapie und Supervision zeigen soll. Nach dem cartesischen Dualismus der Substanzen ist vor allem auch die mechanistisch-kausale Sichtweise der transzendentalen Analyse Kants hierbei überwunden, der dem Reflexionsurteil auch die Hauptrolle in Anthropologie und Kunst zusprach und in einen ebenfalls teleologischen Rahmen zwischen Endlich/Unendlich sowie Sinnlich/Übersinnlich differenzierte. Natürlich geht es uns nicht darum, das analytische Urteil für seinen Bereich in Frage zu stellen, sondern sich entschiedener der Seinsphänomenalisierung als solcher in ihrer affektiven Grundgegebenheit zuzuwenden als der äußeren Zuordnung von Idealität und empirischer Kausalität mit Hilfe der Anschauung. Das pathische Gewebe der reinen Phänomenalität als ursprüngliche Materialität allen Erscheinens bezeichnet nämlich eine prinzipiell nicht-begriffliche Seinswerdung, sofern sie die absolut immanente Sphäre des Lebens als apriorische Bedingung des Seins betrifft. Dies lässt von einer vor-ontologischen wie vor-organischen Intensität sprechen, welche die immanent triebgenealogische Narrativität als einen unmittelbaren Bezug zum rein phänomenologischen Leben versteht, woraus sich auch wichtige Impulse für eine erneuerte Psychoanalyse – und damit Therapie – einschließlich ihres heutigen kulturellen Kontextes überhaupt ergeben. Denn auch die Psychoanalyse (wie Psychiatrie) basiert noch auf einem metaphysischen Dualismus des Denkens, welcher das Leben in einer Bipolarität fixiert, die zwar das »Unbewusste« kennt, es aber einem »Bild« des Körpers im Sinne einer gedachten Spannung oder Störung zuordnet, die der vorstellenden Deutung harrt, wie maßgeblich auch immer der ÖdipusKomplex etwa im Einzelnen gesehen wird. Für einen solchen biologisch-psychologischen Bereich kann daher schon korrigierend festgehalten werden, dass natürlich nicht die Organunterteilung des Kör45 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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pers bis in die chemisch-physikalische Struktur hinein als solche anzuzweifeln ist, sondern der Organismus als ausschließlicher Raum der Entfaltung des Leiblichen mit angeblich letztlich wissenschaftlich bestimmbaren Formen und hierarchischen Funktionen. Eine Angstkrise ist noch keine neurotische oder schizoide Pathologie, sondern sollte zunächst als unmittelbare Offenbarung des radikal individuierten Lebens selbst verstanden werden. Auch wenn diese Frage des Zusammenhangs von Idealismus/ Empirismus – und damit ebenfalls eines nachfolgenden kritischen Dekonstruktivismus heute – grundsätzlich revolutioniert werden kann, so bleibt oft die Skepsis hinsichtlich des individuellen bzw. personalen Charakters einer absoluten Existenz des Ego als Leiblichkeit bestehen. Damit wird meist auch der Bezug zu einem absolut göttlichen Leben bzw. die scheinbare Abhängigkeit von einer religiösen Tradition negativ beurteilt, da angeblich die Einbettung des aktiven »Ich kann« in eine passibel vorausgehende Subjektivität als Ipseität ein solches Ego derart überborde, dass der Exzess dieser Ursprünglichkeit als »Ur-Fleisch« eben keine »Selbst-Konstitution« mehr zulasse. Im Rahmen einer Radikalisierung gegenwärtiger Phänomenologie kann dann noch zugestanden werden, dass Lebendigsein und intensive Materialität des Lebens unauflösbar seien und eine formale Koinzidenz zwischen solcher Selbstaffektion und der intentionalen Selbstkonstitution bestehe, es also weder Ego noch Subjekt außerhalb des Leibes gebe, aber die Individuierung eines solchen lebendigen Leibes verlagere dann die Problematik des »Subjekts« auf die »Individuierung des Lebendigen im Anonymat der Leiblichkeit« hin. 1 Individuierung und Anonymat schließen sich jedoch grundsätzlich aus, so dass wir die triebgenealogische Narrativität durch unsere ganze Untersuchung hindurch nicht nur als die lebendige Mächtigkeit der Bewegung der Subjektivität in ihrer immanenten Affektivität sowie auch in ihrer intentionalen Weltentfaltung verstehen wollen, sondern auch als die Ur-Individuierung im absoluten Leben als solchem. Ein theoretisch verbleibender Blick auf eine anonyme Vorgängigkeit des transzendental fundierenden Lebens schlechthin scheint uns eine der letzten mentalen Vorbehalte jenes reflexiven Rationalismus als Erbe der husserlschen Noese/Noematik-Korrelation und ihrer hisVgl. für diesen häufigeren Einwand R. Arsenic-Zamfir, Le corps dans la philosophie française contemporaine: Michel Henry et Gilles Deleuze, philos. Diss. Université de Bourgogne (Dijon) 2006, 134 f.

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torischen Vorläufer zu sein, der sich nicht eingestehen will, dass etwas »Anonymes« nur vor dem wissen-wollenden Blick erscheinen kann, nicht aber in einem praktischen Vollzug, der stets ein ich-bestimmter ist, auch wenn dieses »Ich« genauer als passibles »Mich« zu fassen ist. Soll das Anonyme nicht länger als Variante der Problematik des (vital) Irrationalen gesehen werden, mit der jede strenge Lebensanalytik oberflächlich kritisiert wird, dann bleibt eben nicht nur auf das Eingebettetsein aller Bezüge von Welt und Anderen in die Duplizität des Erscheinens von Welt/Leben hinzuweisen. Vielmehr geht dieser Duplizität eine Einheit voraus, welche das sich-selbst-ermächtigende Prinzip des Lebens als »Selbstgeburt« durch das Ankünftigwerden seiner selbst in sich und für sich ist. Wird dieses Prinzip von Michel Henry (1922–2002) »Gott« genannt, dann ist damit nur angedeutet, dass eine hermeneutische Verständigung mit früheren ontologischmetaphysischen Fragestellungen nicht ausgeschlossen ist, aber diese Konzeptualisierung des Lebens als »göttliches« bedeutet keine Aufgabe der Radikalität der leiblichen Originarität im Sinne einer Unterordnung unter ihr fremde Kategorien, seien sie abstrakt oder theologisch. Die Individuierung des einzelnen Lebens betrifft dessen »Anfang« selbst, 2 weshalb für eine Ur-Ipseität als immanentes Werdensprinzip des absoluten Lebens selbst zu plädieren bleibt, weil sonst die Anonymität der subjektiven Lebensbestimmung innerhalb der leiblichen Affektivität höchstens zu einer »Ethik« als wesenhafter Struktur im Bereich und Verlauf der Erfahrung der Leiblichkeit hinführt, das heißt als verantwortete Erkenntnis der eignen Impressionen, Affekte und Leidenschaften einschließlich der Gemeinschaftlichkeit mit Anderen. Diese Ethik wäre dann eine Verfeinerung der transzendental-empirischen Sichtweise meiner Gegenwärtigkeit zur Welt hin, ohne jedoch letztlich darauf antworten zu können, warum diese unendliche Kontingenz eine radikal phänomenologische Unsichtbarkeit jeder individuierten Leiblichkeit und ihrer inner-affektiven Narrativität impliziert. Aussagen wie »Dies ist mein Leib« oder »Ich bin das Leben« aus der christlichen Tradition, wie aber auch die Aussagen über eine primordiale »Leere« als Grund allen Erscheinens Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, worin auch der im Folgenden öfters verwandte Begriff der »Gegen-Reduktion« grundgelegt wird, nämlich als Ausgehen von der unmittelbaren Lebensimmanenz im Unterschied zur Regression von der Weltphänomenalität aus.

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im Buddhismus etc., stellen daher für eine radikale Phänomenologie ein Motiv dar, ihre eigenen Ergebnisse mit solchen letzten (Nicht-) Identitätsaussagen zu konfrontieren, ohne neue Abhängigkeiten von metaphysischen Vorgaben einzugehen – ohne aber auch die oft noch impliziten metaphysischen Annahmen innerhalb der gegenwärtigen »Metaphysikkritik« selbst zu übernehmen. 3 In jeder Hinsicht kann daher behauptet werden, dass die lebensphänomenologischen Analysen hinsichtlich der selbstnarrativen Leiblichkeit eine radikale Erneuerung der klassischen wie gegenwärtigen Problematik von Denken und Handeln darstellen. Die rein phänomenologische Substantialität ist in ihrer prinzipiellen Unsichtbarkeit für die Wahrnehmung wie für die philosophische Intelligibilität so unsichtbar, dass letztere als »Denken der Welt« in der Tat niemals daran denken. Ist das »originäre Wie« als zentrale Frage der Phänomenalität in ihrer Phänomenalisierung herauszustellen, so lässt sich hier schon sagen, dass triebgenetische oder auch »unbewusste« Narrativität die Weise dieses Wie im vor-ontologischen Sinne darstellt, nämlich das Ungesehene in empirischer wie intelligibler Hinsicht, ohne dem inner-affektiven Sagen des Lebens jemals entzogen zu sein. Denn Unsichtbarkeit widerspricht nicht einem ursprünglichen Vernehmen, welches die Lebensaffektion als solche im Sinne unserer Ur-Leiblichkeit und ihrer inneren subjektiven Praxis ist. Wenn bei Husserl die Intentionalität die Rationalität überboten hat, indem die sinngebenden Akte des Bewusstseins in allen Schichten der leistenden Subjektivität gesucht werden, ohne deren Intervention die Empfindungskomplexe sich in einem affektiven Chaos verlieren würden, so wird diese Problematik nicht verkannt, wenn wir hier auf die Passibilität der originären Empfindung zurückgreifen, insofern das »ursprüngliche Wie« jeder Gegebenheit nicht die Ekstase als Sinngebung ohne Ende ist, sondern die Impressionabilität schlechthin: das Sicherfreuen und Sicherleiden in jedem Punkt (Modus) des Lebens. Die Form (eidos, Idee) seit Platon und Aristoteles ist somit nicht länger der grundlegende Begriff der Ontologie, sondern diese Ontologie bis in die intentionalen Noesen hinein wird durch eine Materialität als Wesen der Phänomenalität ersetzt, um das Sein als Leben im Sinne der Selbstgebung effektiv zu bilden. Hierbei ist das »Sein« nicht vor-

3 Vgl. schon R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätszugang, Dresden, Text & Dialog 2013, hier bes. Kap. I,2–3.

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gegeben, um die Existenz des Lebens begrifflich fassen zu können, vielmehr wird jedes Sein erst im Leben, sofern das Leben vor dem Sein in sich kommt, mit anderen Worten sich selbst ohne Vorbedingung oder Außenheit selbst gründet bzw. erzeugt. Erst unter diesem Gesichtspunkt werden Aussagen wie »Ich bin mein Leib« oder »Ich bin das Leben (der Welt)« letztlich verständlich, indem sich eine Identität zwischen Leiblichkeit und immanenter Intensität herausbildet, welche in jeder Bewegung als Kraft, Trieb, Energie, Relation oder Begegnung wiederzufinden ist. Die Transparenz des subjektiven Leibes wird auf diese Weise der Opazität des »Habens« aus der Sicht der Seele oder des Geistes entzogen, um in eine ontologische Unvergleichbarkeit einzutreten, die sowohl für die Räumlichkeit wie die Geistigkeit gilt, insofern jedes »Berühren« nicht nur eine unendliche Hermeneutik des Subjekts initiiert, sondern im geringsten Kontakt bereits ein Exzess erprobt wird, der gleichzeitig auf uns selbst und das absolute Leben in uns verweist, das sich darin inkarniert. Insofern könnte man mit Emmanuel Levinas 4 auch sagen, dass jeder Augenblick der inner-affektiven Narrativität eine hyperbolische Liebkosung (caresse) bildet. Die wirkliche philosophische Fragestellung betrifft somit nicht mehr irgendeinen Gegenstand der Erfahrung, sondern die Erfahrung als solche, insofern sie eine ständige Erprobung des leiblichen Lebens darstellt, ohne sich von der Absolutheit des rein phänomenologischen Lebens dabei zu trennen, was auch geschähe, wenn man sich solches Leben als kausalen, transzendenten oder teleologischen »Gott« vorstellen würde. An das absolute oder »göttliche« Leben kann in der Tat nicht »geglaubt« werden, da es in all seinen Modi und Phasen zu vollziehen ist, das heißt einem Affekt unterliegt, der stärker und älter ist als alles, was wir thematisch wissen können. Es geht also um mehr als um ein lebensphilosophisches Lob auf das »Ganze des Lebens«, über das schon Maine de Biran, Schopenhauer, Nietzsche und Marx hinausgeführt haben, ohne von Meister Eckhart zu sprechen, denn alle Oberflächenphänomene des Lebens als kosmetische oder marktkonforme Verhaltensweisen müssen mit dem radikal phänomenologischen Sachverhalt konfrontiert bleiben, dass »der Akt des Sich-Gebens in der Einheit seines ihm eigenen Gehaltes die Wirklichkeit und 4 Vgl. Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, Alber 3 1992, 279 f.; zur weiteren Diskussion auch J. Derrida, Berühren. Jean-Luc Nancy, Berlin, Brinkmann & Bose 2007.

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folglich die Gesamtheit desselben« darstellt. 5 Dies erscheint als ein metaphysischer Monismus, aber es bleibt hierbei vor-metaphysisch zu verstehen, dass dieser »Monismus« nicht nur eine Duplizität des Erscheinens bildet, sondern vor allem das »Eine« nur als »Relation« kennt, nämlich als ständiges Geborenwerden im absoluten Leben, welches nicht nur den Gegensatz zwischen Denken und Leib aufhebt. Vielmehr wird auch die gedachte Unterschiedlichkeit von Einheit/ Vielfalt aufgehoben, um in allen Selbst- und Welterscheinungen jene ab-gründige Bezüglichkeit zu leben, die wir als passible Individuierung selber sind, sofern nicht das statische »In-dividuum« im Mittelpunkt steht, sondern das Pathische des Werdens, welches im Historialen des Lebens triebgenealogisch nie abgeschlossen ist. Mit anderen Worten »wird« jedes »Individuum« in der innerleiblichen Erprobung seiner Bewegungen, welche zugleich Bezüge zur Welt und zu Anderen darstellen, und solches Werden lässt sich nur über die Intensität der Kraft oder des Triebes verstehen, welche als Erleiden wie Handeln die Leiblichkeit selbst sind. Das Pathische als Kraft oder Affekt im Sinne je ständiger Individuierung zu verstehen, macht aus diesem Pathos mehr als nur die Verbindung zwischen den Trieben und dem Individuum; es eint vielmehr Leben, Immanenz, Intensität und Individuum als vor-ethische Subjektivität, welche erprobt, dass sie in allen Vollzügen in eine lebendige Relationalität eingebettet ist, welche nicht erst durch ethische Normen hergestellt wird. Lebensimmanenz ist unmittelbare eigene Lebensführung ohne Kluft und Vermittlung in sich selbst, so dass im Äußeren sich alles verändern und verwandeln kann, ohne diese innere Einheit aufgeben zu müssen – und nichts anderes sagt die Selbst-Narrativität als ständiges affektives oder »unbewusstes« Sprechen des Lebens in uns. In jeder Weltkonstitution mit anderen Worten wirkt eine ältere Zeugung durch die Immanenz des Lebens, welche allem, was sich ereignet, über die Affektivität und transzendentale Sinnlichkeit eine eigene Konsistenz verleiht. Daher muss die innere Triebgenealogie zugleich immer Intensität des Pathos sein, denn es ist nicht möglich, dass sich irgendein Handeln oder Erleiden nicht als affektive Aktualisierung vollzöge. Die Analyse der Affekte wird auf diesem Hintergrund zur Aufklärung der innermodalen Verwandlungen der Immanenz, welche sich als Affektivität verleiblicht, um dergestalt die Weisen des Exzesses des Passiven und Aktiven in 5

M. Henry, L’essence de la manifestation, Paris, PUF 1963, 405.

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der individuierten Einheit unseres lebendigen Wesens zu leben und zu verstehen, wobei das Imaginäre der Einbildungskraft als Imagination und Phantasie (aber auch als Halluzination und Phantasma) hier notwendigerweise hinzutritt, insofern das Verstehen nicht alles einholen kann, was das Leiblich-Affektive empfindet. Dieses Imaginäre ist daher nicht nur eine Virtualität des Weiter-Erfahren-Könnens über das Erreichte hinaus, sondern die Immanenz als Kreativität, um für die Gegenwärtigkeit eines unsichtbar Unendlichen als »Abwesendes« (Leere) im Kontext der iterativen Verwirklichung der Immanenz zu plädieren. Die Befürchtung der (Post-)Moderne, »Gott« interveniere hierbei vor allem als moralische Begrenzung des virtuell affektiv Möglichen seitens einer immanenten Vorgängigkeit, die nur durch ihre innere Gesetzmäßigkeit von Sicherfreuen und Sicherleiden strukturiert ist, verliert dann ihre Berechtigung, wenn gesehen wird, dass jeder idealistische oder moralische Dogmatismus durch die prinzipielle Identität von immanenter Affektion oder pathischer Bewegung mit der Offenbarung des absoluten Lebens selbst aufgehoben ist. Denn es spricht jeweils nur die reine Intensität individuierten Lebens als Exzess, der auch über das eigene Wollen hinausreicht und insofern nicht von diesem her eingeschränkt werden darf. Wo immer sich das (post-)moderne Denken selbst als Maßstab etabliert, und sei es in seinem Erfahrenwollen des Exzesses selbst als letztem Maßstab, darf es nicht verkennen, dass es sich damit bereits wieder von einer Regel abhängig gemacht hat, die nahe der Empirizität des Erfahrens als letztem Kriterium liegt. Die unmittelbar ethische Struktur der Erfahrung der Leiblichkeit kann nur dann für ein wahres Ethos in Anspruch genommen werden, wenn sie nicht nur ein Aufbegehren gegen die »Mikro-Physik« eines gewissen Funktionalismus der Macht ist, um nur ein Beispiel wie bei Michel Foucault zu erwähnen, sondern sich in jeder Hinsicht dem Leben zur Disposition stellt, ihm »sein Fleisch leiht« – ohne weitere Bedingung: »Wahr ist folglich in erster Linie nicht, wovor man sich auszulöschen hat, um es so sein zu lassen, wie es an sich ist, sondern dem man Beistand zu leisten hat: sein eigenes Fleisch hinzugeben hat. Denn jede wesenhafte Wahrheit wird nur als dieses Fleisch des Individuums und als dessen eigenes Leben ankünftig.« 6

6 Vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/ München, Alber 1994, 217.

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Die Umkehrung der klassischen Metaphysik beruht daher vor allem darin, dass die pathische Intensität im Sinne originärer Passibilität als die Selbstoffenbarung des Absoluten schlechthin verstanden wird. Die übliche Vorstellung vom Individuum, welches an die Ereignisse und Geschicke in der Welt gebunden zu sein scheint, wird aufgehoben, um dem Erscheinen der rein immanenten Affektivität den Vorzug zu geben, das heißt einer ursprünglichen Phänomenalisierung, ohne Selbst- und Weltverhältnisse zu ignorieren, denn es wird ihnen im Gegenteil durch alle noematischen Gefühle, Vorstellungen und Erkenntnisse hindurch das eidetische Grundwissen der letzten praktischen Fundierung zurückgegeben – nämlich die substantielle Gegenseitigkeit von Leben und Leib als stets konkrete Transzendentalität in der je sich vollziehenden Umkehrung von Sicherleiden und Sicherfreuen. Deren historiale Gleichzeitigkeit in allem Erleiden und Tun bewirkt einen unmittelbaren Übergang zwischen all unseren Affekten, das heißt ein grundsätzliches Geltenlassen aller immanenten Triebäußerungen als einer Originarität, welche im Sinne ständiger inner-affektiver Narrativität als der Vollzug und die Erfüllung unserer transzendentalen Bestimmung verstanden werden kann, nämlich als je ununterbrochene Beziehung zwischen unserem Fleisch und unserem Leben als dem Selben. Der Affekt ist dann keine anonyme Entität mehr, die nur in einem sekundären Sinne zur Bildung unseres lebendigen Körpers beitrüge, sondern als Immanenz bildet der Affekt eine grundlegende und lebensoffenbarende ontologische Praxis innerhalb der Intensität der Subjektivität, welche zugleich mit der phänomenologischen Wirklichkeit identisch ist. Man kann den Affekt deshalb auch nicht »apersonal« nennen, weil er eine unaufteilbare Qualität unseres Lebens ist, denn sofern er nicht anonym ist, ist er auch nicht in Abhängigkeit vom empirischen Individuum segmentiert, sondern das Individuum selbst in allen affektiven Vollzugsweisen. Für seine Selbstoffenbarung nicht auf die Welthaftigkeit angewiesen, ist der Affekt vielmehr die Einheit des Pathos des Erscheinens in dessen lebendiger Erzeugung selbst. Indem der Leib dergestalt aufhört, nur eine raum-zeitliche Verlagerung zu sein, da »Sich-Bewegen-Können« und wirkliches Bewegen im radikal phänomenologischen Sinne zusammenfallen, bedeutet diese Erneuerung der klassischen Metaphysik des Leibes auch zugleich eine Neubestimmung der Affektivität, die wir über die innere Narrativität des leiblichen Lebens an anderer Stelle genauer heraus-

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gearbeitet haben. 7 Wenn unser Leib zugleich Handeln und Erleiden ist, dann muss auch die Einheit von immanenter Affektivität und praktischem Weltbezug als eine solche Intensität verstanden werden, durch die sich die innere Kraft des Lebens nicht nur mit dem Vermögen zu handeln identifiziert, sondern zugleich sich selbst erprobt, um so eine erste »Teleologie« zu bilden, welche an die vis activa bei Leibniz und den »Willen zur Macht« bei Nietzsche zurückdenken lässt. Solche philosophiegeschichtlichen Rückblicke umschließen jedoch zugleich eine notwendige Klarsicht für die Erneuerungen seitens einer radikalen Gegen-Reduktion, um zu unterstreichen, dass die Unabhängigkeit von jeder Außenheit nicht spekulativ gesetzt oder einfach psychologisch eingefordert wird, sondern die erste Phänomenalisierung eines jeden Lebendigen die absolute Selbstgründung im Leben als gegebene Immanenz impliziert. Mit anderen Worten wird das Verhältnis von immanenter Affektivität und reiner Selbstgegebenheit eines motorischen Ego der Bewegung oder des permanenten Könnens unhintergehbar, was auch bedeutet, dass es zunächst keiner ethisch-normativen Beurteilung unterliegt, sondern grundsätzlich die ontologische Positivität oder Würde eines jeden Individuums begründet, insofern die umfassende Ermöglichung zu handeln im transzendentalen Sinne die phänomenologische Gewissheit der pathischen Konsistenz des Selbsterlebens impliziert, sich in strenger Übereinstimmung mit dem immanenten Leben auch in der Welt erproben zu können. Entgegen der Philosophie des Rationalismus, der Aufklärung und der (Post-)Moderne kann hierbei zunächst nicht die Freiheit jenen Boden des Handelns abgeben, der von einer nicht phänomenologisch erhellten Moral vorausgesetzt wird, denn wenn jeder Affekt und jedes Gefühl wie auch Eindruck sich selbst gegenüber in der ursprünglichen Ohnmacht gegeben wird, nicht anders sein zu können, als sie in ihrem Hervorgebrachtsein sind, dann bedeutet die Affektivität in diesem fundierenden Sinne eine NichtFreiheit. Passibilität als triebgenetische Narrativität bezeichnet dieses unauflösbare Band zwischen Sich-Erleiden und Handeln in der Immanenz des Lebens, worin die Leiblichkeit ohne Ausnahme die Möglichkeit wie Notwendigkeit ihres Erscheinens schöpft. Das natürliche Bewusstsein begreift dieses Verhältnis des lebendigen Leibes zu seinem rein phänomenologischen Grund als eine PasVgl. R. Kühn, Wie das Leben spricht: Narrativität als radikale Lebensphänomenologie, Cham (CH), Springer 2015.

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sivität »in der dritten Person«, das heißt als Nicht-Koinzidenz mit der Lebensimmanenz, während eine Erneuerung allen Leib- und Weltdenkens auf die Homogenität von Passibilität und Aktivität hinzielen muss, insofern auch jedes Handeln nur eine Modalität des passiblen Lebens mit seinen uranfänglich gegebenen Vermögen darstellt. Für die Lebensphänomenologie in der Nachfolge Henrys ist die angemessene Theorie des Leibes folglich unabdingbar »in der ersten Person« zu schreiben, und zwar für alle Leibvollzüge, sofern sie sich aus ein und demselben wesenhaften Können des subjektiven Lebens als Grund für die Intensität leiblicher Existenz ergeben. Ohne notwendige Hegelsche Dialektik von Ausdehnung und materiellen Bewegungen bewirkt mithin der lebendige Leib im ausgeführten Sinne die Wirklichkeit in ihrem Erscheinen als Außenheit selbst, woraus wir auf das Ineinander von Welt- und Lebensnarrativität als Einheit schließen können. Es ist also beides für die heutige Erneuerung des Denkens wie auch der Therapie festzuhalten, dass einerseits der Zusammenhang von Pathos (Sich-Erleiden) und Handeln nicht der Welt bedarf, um zu sein, und andererseits diese innere Entfaltung affektiver Kräfte in ihrem Selbstverstehen jene Orte der Berührung als Distanz und Nähe bildet, in denen die Welt selber zum Ereignis des rein immanenten Lebens wird. Aufgrund dieses Zusammenhangs widerspricht die immanente Intensität der Affektivität der Freiheit nicht, denn das innere Ethos des leiblichen Zur-Welt-Seins impliziert dann die notwendige Freiheit, die mit dem je disponiblen Können der iterativen Leibvollzüge gewährt ist. Die schon lange in der abendländischen Denkgeschichte gegebene Trennung von ratio und passio, wie etwa bereits in der Stoa und Antike überhaupt, ließ das Empfinden zu einer Art bloßem Empfänger für jegliche Art von Information ohne Unterscheidung werden, während für eine radikale Leibphänomenologie das ontologische Band zwischen Pathos und Handeln die Unzertrennbarkeit von Affektivität und cogitatio wahrt, um sowohl einen dogmatischen Dualismus wie eine schizoide Trennung der lebendigen Existenz abzuwehren. Außerdem drängt sich mit der klassischen Unterordnung der Passivität unter das Handeln der Eindruck auf, die Wirklichkeit wäre nur dann in Wahrheit gegeben, wenn sie sich von der sie hervorbringenden Bewegung abgelöst hat, was allem Denken von »Objektivierung« zugrunde liegt, wie es sich besonders systematisch bei Hegel beobachten lässt. Damit wäre aber auch das Individuum von seinem Leib getrennt, indem dieser sich von jenen inner-aktiven Be54 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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wegungen trennen würde, welche die Ur-Leiblichkeit bilden. Im Gegensatz hierzu bleibt deutlich zu unterstreichen, dass die ursprüngliche phänomenologische Gewissheit eine immanente wie intensive oder pathische Praxis ist, deren Weltbezüge zu dieser Praxis als solcher gehören und nicht davon isoliert werden können. Die Nicht-Begrifflichkeit dieser Vollzüge ließe sich daher auch eine vor-ontologische Praxis nennen, sofern damit gesagt sein soll, dass das Begehren stets ursprünglicher und fundamentaler als die Vernunft ist und in sich selbst ein »Lebenswissen« auch als unmittelbare Axiologie bereits birgt, auf die selbst die Wissenschaften einschließlich der Tiefenpsychologie noch bei all ihren Reduktionismen aufbauen. Dieser letzte Gesichtspunkt führt uns bei der Revision bisherigen Denkens und Handelns dazu, den Ontologiebegriff folglich aus einer zu einseitigen Fixierung auf den »Menschen« herauszunehmen, für dessen Verständnis heute immer die Wissenschaften allein herangezogen werden. Der Mensch wird zumeist als jenes Wesen verstanden, welches »sich ontologisieren« kann, und zwar in dem Maße, wie er allein in der Lage sich, sich begrifflich auszulegen, um zu verstehen, was ihn in seiner eigenen Immanenz gründet. In ausschließlich wissenschaftlicher Hinsicht bedeutet diese Selbst-Ontologisierung die Erarbeitung von logisch verständlichen Informationen, welche mit Bezug auf die leibliche Einheit zwar eine gleiche Würde aller Individuen einschließt, letztere aber doch zumeist a-personal, das heißt im Sinne eines anonymen Grundes versteht, was zu weiteren notwendigen Klarstellungen im Folgenden im Verhältnis von rein immanenter Leiblichkeit und Subjektivität als »Ich« und »Mich« zwingt, mit anderen Worten zu einem erneuerten Subjektverständis, welches weder der Substanz noch dem hypokeimenon im klassischen Sinne verpflichtet ist, sondern dem unsichtbaren Aktsein als Vermögen oder Können. Wenn nämlich der gemeinsame Grund von allem, was lebendig ist, im Grunde des immanenten Lebens allein ruht, dann kann diese lebendige Verschiedenheit nicht mehr von ontologisch unterschiedlichen Bereichen oder Regionen abhängig gemacht werden, wie etwa bei Kant und Husserl, sondern es bleibt stets die rein pathische Immanenz aufzusuchen, worin die Kraft der Individu (alis)ierung und Aktualisierung in einem nicht-begrifflichen Grund geschöpft wird, der auch nicht mehr an die Unterscheidung von meist idealistisch gesehenem Erkennen und pragmatisch konzipiertem Handeln bis heute geprägt ist. Unser Handeln aus der affektiven Intensität heraus folgt dem inneren Begehren, welches nicht in Hand55 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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lung umsetzt, was das Bewusstsein denkt, sondern die Welt insgesamt ist eine Hervorbringung aus der immanenten Passibilität als jener leiblichen Bewegung heraus, die mit dem Selbstbezug als Selbstaffektion zusammenfällt und ihrerseits nur in einem absoluten Leben als transzendentale Geburt möglich ist. Wenn daher die radikal phänomenologische Leiblichkeit die Sphäre der bloß faktischen Erfahrung von Körper und Welt hinterschreitet, dann hat auch der Zusammenhang von Sein und Handeln in der Einheit des Lebens die metaphysische Vorgabe der Kontingenz als Rahmen leiblicher Erfahrung von Selbst und Welt hinter sich zu lassen. Hierbei wird erneut grundsätzlich sichtbar, dass die Analyse der Leiblichkeit in der Phänomenologie und der jüngeren Philosophie, sofern sie damit in Zusammenhang steht, eine Wiedereroberung der ontologischen Würde des Lebendigen bedeutet, die zugleich eine erneuerte Metaphysik reklamiert. 8 Darin wird zunächst die platonisierende Teilung von Sinnlich und Intelligibel aufgehoben, weil mit derselben eine hierarchische Ordnung im Gegenstand verbunden ist, insofern es über die Natur hinaus eine Welt reiner Formen gäbe. Aber auch die aristotelische Frage von der Einheit des Seins und der Polysemie der Seienden muss eine neue Antwort finden, insofern die analogische Konzeption der generischen und allgemeinen Einheit von Sein sich nach dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit sowie der Unterscheidung von Wesen und Akzidenz vollzieht. Das lebendige Sein kann jedoch nicht nur als ontologische Idealität verstanden werden, da es sich als intensive Praxis stets als bestimmt und eins in ein und demselben Vollzug verwirklicht. Die lebensphänomenologische Duplizität des Erscheinens (als Selbsterscheinen des Lebens ohne Differenz und der Erscheinung als diverse Entfaltung im Horizont der Welt) trägt dieser Erneuerung einer Zusammenschau von Phänomenalität und Praxis in einer gemeinsamen Phänomenalisierung des subjektiv Leiblichen prinzipiell Rechnung, sofern immanente Selbstoffenbarung der Bewegung und intentionales Zur-Welt-Sein auf der Grundlage des »Ich kann« zusammengehören, welches seinerseits von der einen Unsichtbarkeit der Potenzialität des Lebens getragen ist, worin es sich zugleich ipseisiert und individuiert. Die ebenfalls schon angesprochene ethische Frage der Begrenztheit bzw. sogar Negativität des Leibes als vergängliche Materie ange8 Vgl. auch H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M., Suhrkamp 2011, 20 ff. u. 211 ff.

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sichts einer traditionell angenommenen Absolutheit des Geistes verweist letztlich auf den Zusammenhang der wirklichen natura naturans und naturata. Für Aristoteles bezeichnet der Begriff des Hypokeimenon das »Subjekt« als zugrunde liegende »Substanz« für alle Attribute oder Prädikate, wobei die Materie (hylé) durchaus auch als das Wesen in den Körpern gilt, sofern diese am sichtbarsten sind. Auf diese Weise wären Materie und Körper als das Absolute des Erscheinens in ihrer Allgegenwärtigkeit durchaus eine Vorform der phänomenologischen Radikalisierung, welche die Manifestation des Seins als ontologisches Korrelat solcher »Substanz« letztlich an die immanente Intensität der Leiblichkeit als »materiale Phänomenologie« bindet. Andererseits wird das aristotelische Erkenntnisprinzip der Bestimmung an Kategorien geknüpft, die auch bei Kant durch neue Weise weitervermittelt wurden, während die radikale Perspektive des lebendigen Leibes die Seins- wie Denkkategorien aus der subjektiven Praxis hervorgehen lässt, welche nach Maine de Biran 9 überhaupt erst die Idee einer Kausalität, Qualität, Relation etc. ermöglicht. Dieser kurz hier in Erinnerung gerufene Weg des abendländischen Denkens als Zusammenhang von Erkennntislogik und Erfahrung zeigt, wie wichtig es bleibt, die radikale Leiblichkeitsanalyse als eine Archäologie – oder besser Genealogie – dessen zu verstehen, was überhaupt »Wirklichkeit« besagt und dieselbe als konkrete Existenz auslegen kann. Insofern eine erneuerte radikale Metaphysik die Ontologie des Leibes und die Ontologie der Erkenntnis als die Einheit von Affizierendem und Affizierten neu fasst, ergibt sich eine Grundlage für jegliche wirkliche »Materialität«, von der jeder Vollzug getragen und ermöglicht ist. Die von uns als ständige inner-affektive oder »unbewusste« Narrativität verstandene immanente subjektive Praxis wäre unter diesem Gesichtspunkt nichts anderes als der methodologische Versuch, die effektive Einheit des Wirklichen aufzusuchen, wie sie von der philosophischen Tradition – aber auch seitens der Kunst, Religion, Ethik und Therapie – immer angestrebt wurde, auch wenn die Antworten unterschiedlich ausfielen. In all diesen Fragen geht es daher nicht nur darum, eine Überkreuzung von Immanenz und Weltlichkeit festzuhalten, wobei die radikale oder triebgenealogische Leiblichkeit auch bei der raum-zeit-

9 Vgl. Von der unmittelbaren Apperzeption. Berliner Preisschrift 1807, Freiburg/ München, Alber 2008.

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lichen Kontingenz der Erfahrung ihren Index der subjektiven Intensität beibehält. Vielmehr ist die zu erneuernde Metaphysik der Praxis oder auch pathischen Erprobung eine Sphäre, die einerseits jeder welthaften Erfahrung entzogen ist, andererseits allerdings auch die einzige Möglichkeit jenes Wesens bildet, wozu die transzendentale Sinnlichkeit Zugang hat. Wird auf diese Weise der Leib als »wirklich« in einem letzten Sinne verstanden, nämlich als Grundlage wie Inhalt der Offenbarung des Seins in Einem, dann sind auf ihn auch nicht logische Prädikate wie wahr und falsch bzw. Akt und Potenz im Sinne subjektiver Bestimmungen von bloß kontingenter Erfahrung anwendbar: der Leib ist im ursprünglichsten Sinne von »Sein«. In all seinen Möglichkeiten gedacht, ist ein solcher Leib nicht begrifflich denkbar, sondern allein vollziehbar als praktische Entfaltung all dessen, was das Können des Lebens in uns – im Ich als »Mich« – gebiert. In dieser Hinsicht bleibt der Leib an die Gegen-Reduktion gebunden, welche alle aufeinander folgenden Bedeutungen von Körpersein, Kontingenz, Prädikat oder Akzidenz aufhebt, um die »Konstitution« dieses Leibes als unmittelbares Lebenswissen zu verstehen, woraus sich die Möglichkeit ergibt, die Einheit des Individuums über die Wirklichkeit seiner inneren Praxis deutlich zu machen, während das zeitgenössische Denken zumeist über die Frage der subjektiven Identität gespalten ist, was sich in andere Bereiche wie Psychologie, Ethik und Therapie hinein auswirkt. In einem leibnizschen Sinne ist diese hier als Selbst-Narrativität betrachtete Leiblichkeit auch nicht nur ein monadisch-leibliches Wesen, welches Gegenstand unendlicher Analysen aufgrund seiner konkreten oder aktiven Materie im Sinne von »kleinen Wahrnehmungen« und deren »Falten« in Übereinstimmung mit der Gesamtnatur sein kann, sondern sie ist die affektive Weise einer neuen Metaphysik oder Ontologie des Handelns in der Einheit von Sich-Erleiden und Tun als Dynamik allen denkbaren Erscheinens überhaupt, ohne aufzuhören, zugleich die nicht-sichtbare Manifestation des absoluten Lebens darzustellen. Die neue Metaphysik als das für uns Erste Sein wäre also die rein phänomenologische Lebendigkeit, sofern sich unser Lebendig-Sein als die erste Phänomenalisierung unseres affektiven oder intensiven Bewusstseins selbst erweist, welches letztlich für das klassisch verstandene Bewusstsein und Cogito ein Unbewusstes bildet. Auf diese Weise kann eine radikal lebensphänomenologische Analyse sowohl aus der psychologisierenden Reflexion über das Menschliche heraustreten wie aber auch die Gefahr eines a-personalen Leibes vermeiden, 58 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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der sich – wie nach Deleuze oder Nancy etwa – bloß der Unendlichkeit seiner intensiven Erscheinungsweisen beugt, um dergestalt denselben »Sinn« des Seins zum Ausdruck zu bringen, der selber nie ein identischer Sinn werden soll, sondern höchstens »personale Knotenpunkte« der anonymen Lebensdynamik des Begehrens herausbildet, die zudem ständig der sozio-politischen Gefahr der Vereinnahmung oder Fixierung ausgesetzt sind. 10 Wir müssen auch darauf hinweisen, dass gleichfalls die Schwierigkeit der henryschen Texte von der häufigen Umbesetzung der traditionellen Begriffe herrührt, die zwar weiter benutzt werden, aber einen neuen unerschütterlichen Grund anzeigen – eben jene radikal ontologische Leiblichkeit, welche von der Endlichkeit der Welt nicht berührt wird, ohne sichtbar empirische Entfremdungen durch dieselbe leugnen zu müssen. Die »absolute Subjektivität« ist ohne Zweifel einer der Kernbegriffe bei Henry, und wenn wir sie in dieser therapieorientierten Untersuchung als inner-affektive Narrativität einschließlich der Weltpraxis verstehen, dann ist diese absolute Subjektivität keine bloße Virtualität im Sinne klassischer formaler Möglichkeiten, da dies eine Abstraktion wäre, welche der Identifikation dieses »Subjekts« mit der Ur-Phänomenalität nicht angemessen wäre. Denn auf jeden Fall bildet ein wesenhaftes, praktisches Vermögen oder Können den Übergang sowohl innerhalb der affektiven Immanenz wie hinsichtlich der transzendenten Bewegungsintentionalität, welche sich mit dem subjektiv-organischen Leib entfaltet. Hierbei wird jedoch der absolute Anfang nie verlassen, der als Ur-Phänomenalität die transzendentale Affektivität ist, ohne dass letztere jemals die Welt benötigten, um im ursprünglichen Sinne zu sein. Deshalb zielt die strenge Problematik des Leibes auf die Konsistenz des Lebens als dessen Immanenz ab, wodurch sich jeder sinnliche Gehalt der lebendigen Impressionabilität verdankt und von einem ständigen Austausch innerleiblicher Art zwischen der intensiven Materialität dieses Leibes und der Affektivität gesprochen werden kann, welche letztlich vom äußeren Blick nicht mehr unterschieden werden kann.

Vgl. G. Deleuze u. F. Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Bd. 1, Frankfurt/M., Suhrkamp 1974; J.-L. Nancy, Corpus, Berlin, Diaphanes 2003.

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2) Handeln als reine Relationalität Die Fleischlichkeit des Leibes als Einheit dieser beiden Aspekte wäre daher zugleich jene Narrativität, die als Gehalt wie als Form des leiblichen Ausdrucks auftritt und entgegen der zuvor angesprochenen wissenschaftlichen Geometrisierung des Körpers (nach Regeln der Physiologie beispielsweise) kein Bild von dieser inneren Praxis ergibt. Deshalb ist die gegenwärtige Unsicherheit groß, »sich« erkennen zu können, und die »Selbstsorge« (souci de soi), welche beispielsweise Michel Foucault 11 als neues Ethikprinzip der »Lebenskunst« propagiert hatte, um der gesellschaftlichen Alltäglichkeit etwas entgegensetzen zu können, vergisst aufgrund seines (post-)strukturalistischen Vorgehens, dass das absolut phänomenologische Leben keine »Sorge« kennt – »ohne Warum« ist, wie Meister Eckhart schon überdeutlich erkannte. Eine radikale Lebensphänomenologie geht also weiter, als nur den Blick auf sich selbst und seine Affektivität zu weiten, das heißt eine Individualität in allen Bezügen zu leben, wo sie sich ihrer gewiss sein kann. Es geht zuletzt darum, auch diese vergängliche Oberfläche des berührbaren Erscheinens noch zu verlassen, um tatsächlich ausschließlich das »absolute Wort« des Lebens als solches zu vernehmen, welches sich jeder Anstrengung »zu können« entzieht, weil es das immanente Können des Könnens als solches ist – reine Bewegung in der Proto-Relationalität aus der Selbsthervorbringung des Lebens selbst heraus. Erst auf dieser Ebene erreichen Fleisch, Trieb und Begehren ihre letzte rein phänomenologische Bestimmung, da sie in ihrer reinen Empfänglichkeit eine Passibilität kennen, welche als Lebenspraxis ihr Tun und Erleiden nicht mehr aus der Gegensätzlichkeit von Normativität (Rationalität) und Affektivität schöpft, sondern im Pathos des Lebens selbst die ausreichende und notwendige »Motivation« findet. In diesem Sinne ist das hier vorgestellte inner-narrative Gewebe von Leiblichkeit/Affektivität sicherlich der Zusammenfall von Berühren und Berührtem als jenem Medium, in dem sich das Berühren entfaltet (Aristoteles), und es ist auch der Zusammenfall von Empfinden und Empfundenem (Husserl) wie Sehen und Gesehenem als videre videor (Henry). Aber es handelt sich hierbei nicht nur um eine »Sättigung« der Entfaltung der Gegebenheit (Marion), sondern um das In-Eins-Fallen mit einer urVgl. Die Sorge um Sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt/M., Suhrkamp 1986.

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sprünglichen Mächtigkeit (pouvoir), welche weder Etwas noch Substanz ist, sondern eine immerwährende immanent-unzeitliche Bewegung, welche jeden Dualismus innerhalb der horizonthaften Erfüllung von sich weist. Erst hier endet jede psychologisierende Ontologie, welche über die Intentionalität ein logisches Verständnis herbeiführen will, welches die pathische Intensität bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Daher ist auch die Frage, was die Subjektivität vor ihrem Zur-Welt-Sein ist, um die Gefahr des Solipsismus abzuwenden, noch eine müßige Frage, insofern die Relation zum absoluten Leben hier immer noch aus einem Dualismus heraus gedacht wird, der an dieser Stelle nicht mehr statthaben kann. Selbst wenn wir damit eine letzte kaum mehr formulierbare vorphilosophische Wirklichkeit erreichen, wo das Denken und Erleben der Einheit von Wissen, Kunst, Religion, Ethik und Therapie als Zusammenfall von Lebenserleiden und Lebensglück als ein und dieselbe »Gabe« Gegenwart ist, handelt es sich hierbei gerade nicht um eine »Ethik der Bewahrung«, um das Individuum in seiner rein pathischen Gewissheit gegenüber der Kontingenz zu schützen. Denn eine solche Vorsicht wäre gerade noch »Sorge«, wie auch Heidegger sie als Grundexistenzial des Daseins definiert, so dass die »Selbst-Reflexivität«, von der in dieser Empfänglichkeit des Lebens die Rede ist, sich der Referenz auf ein absicherndes Cogito entzieht, insofern die reine Subjektivität nicht mehr länger vor das cartesische Dilemma von Intellekt und Ausdehnung gestellt ist, und auch keinen Raum der inneren Zuflucht mehr kennt, da die Immanenz alles andere als die Hohlform der Transzendenz darstellt. Diese Immanenz als Fleisch, Pathos, Bewegung oder Trieb der im Leben ankünftig werdenden Ipseität ist – da ohne jede ekstatische Vermittlung – gerade ohne Ausflucht und Zuflucht, ob sie nun Welt oder Solipsismus hieße. Es handelt sich eher um die »absolute Armut«, um nochmals Meister Eckhart 12 zu zitieren, der für die innerste Seelengeburt jedes Haben, Sein und Wollen eines Eigenen ablehnt, um das »Eigene« ausschließlich als Relation ohne kreatürliche Relata im Abgrund zu fassen, für den alles Geschaffene ein »Nichts« ist. Die Duplizität des radikalen Erscheinens als Welt/Leben könnte also an dieser Stelle auch so formuliert werden, dass Sein und Nichts für das immanente Individuum als Ich/ Vgl. Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München, Diogenes 1979, 187: »Gott [Leben] und ich, wir sind eins in solchem Wirken; er wirkt, und ich werde« (Predigt 7).

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Mich dasselbe sind – nämlich nur eine Existenz als »Geburt« zu sein, in der es selbst noch nie »ist«, sondern stets nur »wird«. Dies wäre die innerste Teleologie der Affektivität als Leiblichkeit im Sinne der Passibilität oder Geburt, denn wo jeder analogische Bezug zur Transzendenz aufgegeben ist, das heißt hier die Welt als Verständnisfolie für die Subjektivität im radikalen Sinne, dort herrscht nur reines Können, welches sein Können nicht mehr selbst zu gründen hat – also frei von jeder Analogie ist. Wenn die radikale Affektivität des Fleisches also offen ist für alle Veränderungen des individuellen Lebens als Selbststeigerung, das heißt ohne Fixierungszwang auf Etwas hin, dann ist die zuvor genannte und kritisierte »Ethik der Bewahrung« vielmehr das Gegenteil: Nicht-Sorge eines Lebens ohne festes Territorium, welches das Bewusstsein stets neu besetzen und umdefinieren will. Sich im Kontakt mit der Kontingenz der Welt nicht in seiner »Selbstsorge« vergessen zu wollen, ist bei aller Berechtigung eines solchen (psychologischen) Anliegens letztlich für die äußerste ontologische Bestimmung des Leibes unzureichend, da die Annahme der reinen Affektivität als absolute Lebensbewegung es gerade erlaubt, von solcher Selbstsicherung abzusehen, ohne für die Umstände blind zu sein. Daher müssen wir die erneuernden Konsequenzen einer in radikale (Trieb-)Genealogie vertieften Archäologie der Subjektivität als Leiblichkeit noch weiterführen, um Substanz und Subjekt nicht länger als Akzidenz der Natur zu verstehen, was Gott (Leben) nicht zukäme (Thomas von Aquin), oder um idealistisch eine Freiheit ohne Grund zu bedeuten, wo Intellekt und Handlung auseinander fallen (Schelling), das heißt als Gegensatz von Wesen des Erscheinens und intentionalem Bewusstsein. Gegen all diese klassischen Subjektverständnisse ist festzuhalten, dass sie die Existenz nicht begründen, sondern als Phänomen erkennen und handhaben wollen. Mit anderen Worten umreißt dies das freie Spiel von Subjektivierung und Objektivierung als das Selbe der Sinn- oder Weltmanifestation, denn das Subjekt (in der Welt) trennt sich vom Sein, um jene ursprüngliche phänomenologische Distanz zu sein, welche das intentionale Hervorbrechen der Horizontbestimmungen ermöglicht. Eine erneuernde Sichtweise der Subjektivität hat daher diesen Monismus der Intentionalität (Erkenntnis, ratio, Bewusstsein, Dasein etc.) aufzusprengen, ohne das schon genannte »Unbewusste« der ursprünglichen Leiblichkeit zu einer dem Erscheinen fremden Abgründigkeit zu machen, welche sich in sich selbst verschlösse und daher eine Schöpfung 62 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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zur Offenbarung erfordere (Böhme). Die Leiblichkeit ist die Erste Erscheinensmaterialität im radikal phänomenologischen Sinne, wie wir bereits betonten, das heißt jene immanente Intensität, Narrativität oder Selbstoffenbarung, welche die wesenhafte Investitur als Selbsterscheinen in jedem Erscheinen darstellt. Nur in diesem Sinne ist radikal lebensphänomenologisch gesehen das »Subjekt« eine absolute Ursprungsgröße, da es sich mit dem Leben als einer solch intensiven Immanenz identifiziert, ohne aufzuhören, intentional bestimmtes Individuum zur Welt hin zu sein. Die Subjektivität, soll sie keine getrennte Substanz sein wie noch die Seele bei Descartes, muss die Aktivität in ihrer reinen Potenzialität sein, wodurch sie kein bestimmter und einzelner Akt jeweils mehr ist, sondern zugleich die Offenbarung schlechthin des Ego an sich selbst. Dies bedeutet für die oben angeführte Problematik der Subjektivität im Sinne reiner Empfänglichkeit des Lebens als Leere oder Armut von jedem Wissen im zeitlichen bzw. transzendenten Sinne, dass diese mit der leiblichen Affektivität identische Subjektivität nicht mehr mit irgendeinem im Voraus festgelegten theoretischen Rahmen identisch ist, sondern vielmehr ein Prozess der praktischen Identifikation als wesenhafte Ermöglichung aller Einzelakte, um so die Möglichkeit des Seins und seiner Existenz zu bilden. Wenn nun in der Tat kein theoretischer Rahmen mehr eine solche Subjektivität im Sinne der Intensität des affektiven Lebens im Voraus in irgendeiner Weise festlegt, dann ist sie zugleich auch die Ermöglichung jedes Verhältnisses von Leib/Subjekt wie Leib/Objekt, anders gesagt Welt als wirkliche Lebenswelt. Die Subjektivität ist hier mit anderen Worten nicht länger bloß eine Urregion des Bewusstseins, wo die anderen Regionalontologien ihr Sein und ihren Sinn finden, da dies nicht erklärt, wie sich diese Subjektivität an sich selbst zu offenbaren vermag, um als Potenzialität mit sich und der Immanenz des Lebens zusammenzufallen. Auf diese Weise kann die Subjektivität das Wesen des »Subjekts« genannt werden, ohne dessen vorgängige Substanz zu sein, denn als intensiver oder materialer Vollzug der Phänomenalisierung des Erscheinens ist sie mit der Phänomenalität als solcher eins. Aus diesem Grund kann weder der Kantische Erkenntnisdualismus von Subjekt/Objekt noch die husserlsche Korrelatsbestimmung der Subjektivität als Noese/Noema die Bedingung der subjektiven Existenz abgeben, denn beide verlieren sich letztlich in der Objektbestimmung, so dass die Subjektivität des Kritizismus wie der klassischen Phänomenologie eben nichts anderes als die Objektivität selbst 63 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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oder deren intentionale Ermöglichung als Eröffnung eines Erscheinungsfeldes darstellen. Hier gewinnt nochmals die Bestimmung der Subjektivität als affektiv Unbewusstes ihr ganzes Gewicht, nämlich als unsichtbar in der Welt, ohne Gesicht oder Bild folglich, mit anderen Worten analogielose Ermächtigung oder Intensität des Erscheinens, zu der auch »Gott« als höchstes Analogon einer rein begrifflichen Einheit des Ganzen des Wirklichen nicht mehr gehört. Denn Gott stützt nicht die Subjektivität in einem kausal-kreationistischen Sinne, sondern sie gehören beide demselben Wesen des Lebens im verbalen Sinne an (leben), was bedeutet, dass wir die Subjektivität solange nicht wirklich phänomenologisch erfassen können, wie wir sie noch nach ontischen Kriterien zu verstehen versuchen, und sei es im Sinne eines »Höchsten Seins«. Aber auch als idealistische Abstraktion oder Idealität ist sie nicht greifbar, da sie sich als vor-ontologische Erstmächtigkeit fern von jeder thematischen Konstruktion hält, und dies auch als ihr »autonomes« Sich-Selbst-Setzen. In jedem Welt- wie Selbst-Setzen wirkt bereits ein hervorbringendes Vermögen, eine natura naturans, wie wir schon sagten, oder eine transzendentale Habitualität als ständige Ermöglichung iterativer Leiblichkeit, worin sich diese Subjektivität-Potenzialität selbst ergreift und in allen intentionalen Subjektleistungen entfaltet. Diese Erneuerung der »Metaphysik des Subjekts« als radikale Phänomenologie vollendet sich über die angedeutete Aufhebung der Unterscheidung von Subjekt/Objekt in der rein fleischlichen oder intensiven Neubestimmung des Ich/Mich. Wir haben schon ausreichend unterstrichen, dass die radikal lebensphänomenologische Subjektivität insofern zutiefst transzendental ist, als sie jede Ermöglichung leiblicher Manifestation darstellt, letztlich mit dieser dergestalt identisch ist, dass diese Leiblichkeit das subjektive Sein als grundlegende vor-ontologische Sphäre schlechthin bildet. Da diese Subjektivität nicht konstituiert ist, sondern die Ursprünglichkeit des sich phänomenalisierenden Anfangs des individuellen Lebens als solchem bedeutet, ist dieses subjektive Sein auch keine bloße Form – und damit nicht leer im Sinne des kantischen Ich. Denn die radikale Subjektivität muss sich keineswegs vergegenständlichen, um zu sein, da sie als innere transzendentale Erfahrung der narrativen Intensität des Lebens selbst entspricht, das heißt bereits eine absolute Wirklichkeit ist und keine Abstraktion darstellt. Mit anderen Worten besitzt der intensive Grund des Lebens als Pathos eine schöpferische Struktur, in deren Intensität sich Unbewusstes und Einbildungskraft im Sinne 64 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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zentraler Wirkungen des Affekts als die Erfüllung des Seins selbst verstehen lassen, so dass die »Selbstaffektion« Kants des inneren Wahrnehmungssinnes eben kein zeitlicher Sinn ist, 13 sondern das Ineinanderfallen von Subjektivität, Leiblichkeit und Ich. Wäre nämlich dieses Ich der Subjektivität von seinen unmittelbaren Vermögen getrennt, so wäre es nicht wirklich Inkarnation; es wäre von der Transzendenz abhängig, während »Inkarnation« hier im radikal phänomenologischen Sinne bedeutet, dass die eigentliche Struktur des Ich eine »fleischliche Selbstoffenbarung« beinhaltet, die weder mit einem biologischen noch menschlichen Körper im Sinne des lebendig intentionalen Leibes verwechselt werden kann. Wenn nun jede Bewegung und jedes Empfinden wie Fühlen als auch Tun ein Sich kennt, welches uns als Lebendige auszeichnet, dann kann das »Ich kann« keine synthetische Aussage mehr sein, da sich keinerlei leibliches Vermögen dem Wesen des Ich hinzufügt, sondern das Ich als solches jenes Vermögen (Können) ist, in dem sich die pathische Intensität des Lebens offenbart. Dadurch kann das Ich auch nicht länger als ein Seiendes verstanden werden, welches in seiner Definition vom Nicht-Ich abhängig wäre, wie schon Maine de Biran erkannte, sondern seine »Existenz« ist Anstrengung oder Bewegung, wobei das Vermögen zu solcher Bewegung als Ipseität in der Immanenz des Lebens verwurzelt, das heißt inkarniert ist. Wenn aber die Ipseität des Leibes die Bedingung des unmittelbaren Selbstwissens eines jeden Sich mit seinen Vermögen ist, dann können auch Ich und cogitatio, die ihm affektiv immanent sind, nicht aus einer innermundanen Bestimmung hervorgehen – sondern die Selbstheit des Ich bestimmt sich von der ursprünglichen Selbstbejahung des Ich als Mächtigkeit oder Kraft der Aktualisierung aus, welche von der Lebensselbstaffektion als Begehren nicht getrennt ist. Dieses »Ich« besitzt also das absolute Vermögen des Lebens, wodurch es sich mit der immanenten Leiblichkeit identifiziert, welche als inkarnatorische Intensität zugleich jede Erscheinung begründet. Als Vermögen zur Welt hin ist diese Macht des Ich zugleich individuiert, so dass das principium individuationis nicht Raum und Zeit als Außenheit in Anspruch zu nehmen hat, um ein Individuum zu lokalisieren, sondern die Individuierung ergibt sich aus der inkarnatorischen Selbstaffektion des Ich, insofern jedes Ich ursprünglich affiziert wird und Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M., Klostermann 2 1951 (Neuaufl. 1991).

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dadurch »anders« als jedes andere Ich ist. »Zu leben« ist daher nur möglich, indem ständig meine Erprobung als Sich erfolgt, welches als Ich die immanente Verwirklichung des absoluten Vermögens des Lebens darstellt. Da nun diese Erprobung zugleich eine Hervorbringung oder Geburt aus der absoluten Vorgängigkeit des Lebens heraus ist, und in diesem Sinne eine Geburt als Inkarnation oder radikale Verleiblichung, muss das Ich aller Vermögen solcher Geburt oder Inkarnation entsprechend ein »Mich« genannt werden. Denn das Ich ist zwar im Besitz der absoluten Mächtigkeit des Lebens als Selbstaffektion, aber es kann sich diese Mächtigkeit seiner Vermögen nicht selbst geben, sondern empfängt sie in der reinen Weise der Passibilität, welche die uranfänglich ipseisierende Weise der Immanenz als Pathos bildet. Das Mich als »Ich im Akkusativ« bedeutet mithin radikal passives Geborenwerden, um ein einzelnes Ich zu sein, das zwar für sich selbst ist, sich aber nicht selbst in diese Bedingung gebracht hat. Wir finden also an diesem Punkt den erneuerten metaphysischen Zusammenhang von Leere/Relation wieder, welcher die lebensphänomenologische Bestimmung der Subjektivität als reines Ich der Bewegung oder Affektion im leiblichen Sinne ausmacht. Da hier jeder Begriff und jedes Bild für eine distanzierte »Selbstbestimmung« oder »Selbstreflexion« fehlen, wird dadurch die neuzeitliche Subjektanalyse und -destruktion am Weitesten vorangetrieben, denn es gibt keine vorausgehende Substanz mehr, von der her sich das Wesen und die Qualität eines solchen Mich/Ich bestimmen würde – denn auch die Vorgängigkeit des absolut phänomenologischen Lebens ist kein formiertes oder zeitlich werdendes »Sein«, das schon in irgendeiner Weise gegeben wäre oder sich ereignete, sondern das Leben selbst ist ständige Ankünftigkeit oder Geburt. Anders gesagt bin ich selbst dieses singuläre Sich, welches in der Selbstzeugung des absoluten Lebens gezeugt wird, und ich bin nur dies. Das Leben zeugt sich selbst als mich selbst. 14 Wenn das Ich den Inbegriff aller Vermögen im lebendig-ontologischen Sinne bedeutet, deren Sitz allein in der immanenten Subjektivität ruht, dann kann nochmals die Frage nicht abgewiesen werden, ob die mundane Aktualisierung dieser Vermögen möglicherweise ihre pathische Unbedingtheit beeinträchtigt? Ohne Zweifel ist der lebensphänomenologische Begriff des »Subjekts« unterschiedlich zu gebrauchen, je nachdem ob er sich auf die konstituierende Subjekti14

Vgl. M. Henry, Inkarnation (2002), 99 ff.

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vität als absolut phänomenologische Leiblichkeit bezieht oder auf die intentionale Weltbegegnung, wobei wir schon unterstrichen, dass die Relationalität als solche, welche die Berührung mit jeder Gegenständlichkeit ausmacht, zur Immanenz des selbstaffektiven Lebens schlechthin gehört, sofern die Erprobung des Sich innerhalb der Ipseität des Ich/Mich die Geburt als »Relation« mit dem absoluten Leben bedeutet, welches die Proto-Relationalität von allen möglichen Bezügen und Verhältnissen ausmacht. Wir müssen hier nicht im Einzelnen aufzeigen, dass die (post-)moderne Artikulierung der Subjektivität (oder ihrer Kritik) durch die Intentionalität oder Differenz eine Einseitigkeit darstellt, die aufgrund der Eigenphänomenalität von Begehren und Affekt nicht länger haltbar ist, ohne in einen anonymvitalen Empirismus abdriften zu müssen. Am »Ereignis« oder an der »Sinnwiderfahrnis« orientierte Autoren problematisieren nämlich immer wieder den Sachverhalt, ob für die alltägliche Welterfahrung und ihre Ränder nicht vielfältige Subjektformen zu veranschlagen sind, welche nicht einer einzigen subjektiven Instanz zugeschlagen werden könnten, weil die Reflexion sie nicht zu vereinen vermag. 15 Dahinter steht natürlich die Kritik an metaphysisch-ontologischen Universalia wie bei Lacan, die entweder die Einheit von ratio und passio suchten (Descartes), bzw. alle dem Individuum zustoßenden Ereignisse unter der absoluten Macht Gottes als Teleologie von Natur und Freiheit subsumierten (Leibniz, Kant). Phänomenologisch gefragt wäre es die Problematik nach dem Zusammenhang von transzendentalen Dispositionen der Selbstgebung subjektiven Lebens als Intensität der Existenz oder Begehren zu jedem Augenblick und der phänomenalen Gegebenheitsweise des Ich als »Individuum in der Welt«, welches sich über Bezüge zu den Seienden, Situationen und Anderen lebensweltlich herausbildet, um auf diese Weise seine Selbstgebung je neu zu aktualisieren – nämlich als Virtualität der in ihm gegebenen Potenzialitäten. Bedeutet mit anderen Worten die lebensphänomenologische Absolutheit der lebendigen Subjektivität eine Vereinnahmung der individuellen Differenzen und Widersprüche unter eine stillschweigende Universalisierung ontologischer Natur bzw. unter die Teleologie eines absolut göttlich Guten? Zunächst ist unter dem Gesichtspunkt der Vgl. im Einzelnen hierzu H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich (2011), 15 ff.; B. Waldenfels, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin, Suhrkamp 2012.

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inner-affektiven Narrativität diesbezüglich festzuhalten, dass der subjektive Leib innerhalb der Selbstgebung des Lebens seine je eigene Verwirklichung in der Selbststeigerung des Lebens finden kann, die ebenso individuell wie kulturell-gemeinschaftlich ist. Das heißt, die Immanenz schließt ihren je eigenen differenten Ausdruck sowohl inner-narrativ wie inner-weltlich nicht aus. Auf der anderen Seite bleibt deutlich festzuhalten, dass die »gottheitliche« Proto-Relation des Lebens (Meister Eckhart) keine Unterwerfung des »Menschen« unter die Schöpfung und damit transzendent moralische Prinzipien bedeutet, sondern gerade die Unabhängigkeit des »Menschen« als transzendentale Geburt gegenüber allen Transzendenzansprüchen im metaphysischen wie politisch-gesellschaftlichen Sinne, ohne Relationalität und Ethos im gemeinschaftlichen Sinne leugnen zu müssen. »Offenbarung« in der Einheit des Lebens (»Gottes«) bezeichnet also weder einen theoretischen Abschluss der Wirklichkeit in einem reflexiven Gesamtbegriff noch die fundamentalistische Setzung einer solchen Einheit durch einen dogmatischen Glauben, sondern als relationale Geburt ist solche »Offenbarung« (in) der Immanenz des Lebens ständige subjektive Praxis, die im jeweiligen Augenblick ihres Selbstvollzuges als absolute Potenzialität des Lebens keinerlei Begriff benötigt, um sich zu verwirklichen – also auch nicht den Begriff »Gottes«. Michel Henry zitiert nicht ohne Grund die Bergpredigt aus dem Neuen Testament und die daraus sich ergebenden Werke der Barmherzigkeit, die keiner moralischen oder transzendenten Teleologie unterliegen, denn beim »Jüngsten Gericht« wird gerade die Referenz hierauf als nicht maßgeblich festgehalten: »Dann werden die Gerechten antworten: Herr, wann hätten wir dich hungrig gesehen und dich gespeist? […] Wahrlich, ich sage euch: alles, was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.« 16 Dieses Prinzip des Nicht-Wissens im ethischen oder lebendigen Handeln als grundsätzlich für die Nicht-Gegebenheit von »Gott« und Teleologie eines »Höchsten Gutes« auf der theoretischen Ebene überhaupt ist als innerste Struktur radikaler Phänomenologie schlechthin zu werten – nämlich als (»unbewusstes«) Geschehen des pathischen Seins als Leben, welches als Selbst-Narrativität der Intensität sich über kein Wissen zu objektivieren hat, um sich als absolute Wirklichkeit vollziehen zu können, da dieser Vollzug die Bedingung Matth 25, 37–40; vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/München, Alber 1997, 240 ff.

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seiner selbst als absolutes Handeln des Lebens in sich selbst trägt und keines Blicks von Außen bedarf, um zu sein. Die radikale Kritik an Heideggers »In-der-Welt-sein« als zeitlich-sorgender Grundlage des Daseins und einem daraus sich ergebenden Verständnis des Menschen hat hier durchgehend zum Ziel, dass radikal phänomenologisch die Notwendigkeit erkannt wird, dass allein das Leben Zugang zu einer wirklichen (lebendigen) Ipseität in ihrem Begehren gewähren kann, wodurch die »Welt« als ein solcher Zugang prinzipiell ausgeschaltet ist, da ihr Erscheinen sich nicht selbst zu gründen vermag, was allein dem Selbsterscheinen des Lebens als Immanenz im Sinne sich entgegennehmender Passivität und Selbstgebung als Einheit von Wie und Was, Form und Inhalt, möglich ist. Dieses Selbsterscheinen des Lebens in seiner Übereinstimmung mit der absoluten Subjektivität als Pathos oder intensiver Leiblichkeit bildet daher als Grund des Erscheinens auch den Grund jeglicher Erkenntnis als »Seinsverstehen«, weshalb wir nicht als »Da-sein« ins Leben kommen, sondern nur durch eine Selbstaffektion als »Geburt«, deren prinzipielle Ipseisierung zugleich die transzendentale Möglichkeit eines jeden Ich als Gesamt seiner immanenten wie intentionalen Vermögen ist. Wenn damit jede empirische, spiegelbildliche bzw. hermeneutisch fundamentalontologische Konzeption der Individualität des Menschen sekundär ist, dann bildet auch der Körper nicht länger – aufgrund seiner Weltzugehörigkeit – das Prinzip der Individuierung, da dieses in der absoluten Subjektivität der öfters genannten transzendentalen Geburt ruht. Dies schließt aber gerade nicht aus, dass sich dank dieser Subjektivität als Sein des Ich das ipseisierte Leben desselben im konkreten Vollzug eines solchen Leibes widerspiegelt, wodurch nicht nur jedes Individuum sich auf einzigartige Weise auf die Welt bezieht, sondern in der so habitualisierten ontologischen Struktur der Weltbezüglichkeit auch kein Gegensatz zum Weltsein im praktischen Sinne gegeben bleibt, da dieser transzendentale Habitus im stets aktualisierten Leibsein gerade die Iteration der subjektiven Vollzugsvermögen der immanenten Leiblichkeit ausdrückt. Mit anderen Worten ist diese Iteration als Habitus die fortlaufende triebgenealogische Narrativität als Begehren, durch die wir vom Weltsein erfahren, insofern »Welt« als Horizont oder gegenständliches Kontinuum nicht in einem einzelnen Akt erkannt wird, sondern nur in der ständig vollzogenen Kompossibilität aller Vermögen, die über die transzendentale Affektivität als Passibilität miteinander vereint sind. Welt zum Erkenntnisgegenstand eines isolierten Aktes zu erheben, 69 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

1. Radikale Leiblichkeit

würde bedeuten, nie zu erproben, was das Weltsein »im Griff des Lebens« ist, so dass die Duplizität des Erscheinens von Leben/Welt die phänomenologische Garantie für die Einheit von Welt- und Lebenserfahrung bietet – nämlich einer gemeinsamen inneren transzendentalen Erfahrung der reinen Subjektivität anzugehören, die als theoretisches Nicht-Wissen ihrer selbst weder eine Selbstsetzung über die Schöpfung noch einen relationslosen Autismus impliziert. Damit ist die Subjektivität als lebendiger Grund von Ich/Mich und Individuum auch niemals Gegenstand irgendeiner Selbstvorstellung nach dem klassischen Subjekt/Objekt-Verhältnis, sondern man kann sagen, dass die Unterschiede, die wir in der Welt von den Individuen wahrnehmen, letztlich unterschiedliche Kräfte bilden, wobei allerdings die jeweilige immanente Selbstgreifung dieser Kraft – so klein und gering sie auch für den Weltblick erscheinen mag – keinerlei ontologische oder metaphysische Ungleichheit impliziert. Im Gegenteil bildet die Kraft, welche aus den Menschen Individuen macht, die Gleichheit einer höchsten Kraft, welche zugleich eine unbewusste oder triebhafte Gemeinschaftlichkeit begründet, die vom Austausch aller individuellen Affekte (zusammen mit der daran gebundenen Einbildungskraft und Vorstellung) lebt. 17 Anders als bei Hume, für den sich die empirische Subjektivität erst unter der Wirkung jener Prinzipien herausbildet, die den Geist affizieren, um ein vorgängiges Subjekt zu verneinen und es eher als Synthese von Ideen und Tendenzen zu definieren, erweist sich die lebensphänomenologische Subjektivität durch die Weise ihrer Hervorbringung (transzendentale Geburt) selbst als Begründung jedes Individuums und deren prinzipieller Gemeinschaftlichkeit in ein und demselben absoluten Leben. Die Intensität der Leiblichkeit als Immanenz bleibt also lebensphänomenologisch das einzige Kriterium für die Manifestation der Individuen, und diese Neufassung der »Metaphysik des Individuums« lehnt hierbei nicht nur die analogische Struktur der Existenz in Bezug auf transzendent ontologische Gesetze ab, oder eine Herrschaftsethik über die Natur seit Galilei und Descartes, sondern auch die kantische Idee einer Finalität und Harmonie zwischen Freiheit und Natur, ohne jedoch in den Reduktionismus des menschlichen Lebens auf eine bloße Hervorbringung von Existenzmodi oder Lebensstilen wie bei FouVgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 140– 161: »Mitpathos und Gemeinschaft«.

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Handeln als reine Relationalität

cault, Deleuze und anderen postmodernen Denkern zu verfallen. Der Vergleich mit Kant bleibt insofern wichtig, als er bis heute die (Meta)Ethiken im Gefolge von Habermas oder Luhmann bewegt, 18 denn Kant kennt eine finale Übereinstimmung zwischen den subjektiven Vermögen und eine kontingente Übereinstimmung zwischen der Natur und den Vermögen selbst, wobei er die Teleologie der Natur als kosmologische Begründung einer Theologie ablehnt, da das Glück einerseits nicht die Existenzfrage klärt und die Existenz ihrerseits nicht auf die Problematik ihrer Finalerkenntnis antworten kann. Dies bedeutet, dass die natürliche Teleologie uns nur den Begriff einer intelligenten Schöpferursache liefert, mit anderen Worten die Idee Gottes bietet nur eine Meinung über das Leben, indem sie die Möglichkeit der existierenden Dinge betrifft. Wir hatten schon gesagt, dass eine leiblich radikalisierte Subjektivitätsphänomenologie diesen Dogmatismus einer Harmonie von Subjekt und Objekt nicht übernehmen kann, denn trotz des freien (aufgeklärten) Gebrauchs der Vermögen ergibt sich durch sie eine menschlich begründete Legalität und Moralität des Erkennens und Handelns, welche die göttliche Teleologie in gewisser Weise nur ersetzen und die Analogie mit einer übernatürlichen Existenz des Höchsten Gutes nicht aufheben. Über einen solche Weg der methodischen Erweiterung der Grenzen der Intervention des Göttlichen, das heißt als ethische Instanz, bleibt die Frage unbeantwortet, wie die Einheit der leiblichen Impressionen und Affekte wirklich hergestellt wird, so dass nochmals die kritische Frage einer impliziten »theologischen Wende« im lebensphänomenologischen Denken entsteht. 19 Da wir die begriffliche Vereinheitlichung durch einen ontologisch gedachten Gott bereits ausgeklammert haben, insofern das absolut phänomenologische Leben selbst kein Begriff ist und zudem die subjektive Praxis Gottes thematisches Nicht-Wissen impliziert, kann auch die inner-affektive oder inner-narrative Teleologie als pathische Historialität nicht als ein ethischer oder theologischer Dogmatismus verstanden werden, da diese zeitlose »Teleologie« nur jeweils innerpraktisch über die Selbststeigerung subjektiven Lebens als Bezug zu einem lebendigen »Mehr« als Vorgängigkeit desselben gegeben ist, Vgl. etwa J. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M., Suhrkamp 1983; Faktizität und Geltung, Frankfurt/M., Suhrkamp 1992. 19 Für den Beginn dieser Debatte vgl. D. Janicaud, Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, Wien, Turia & Kant 2014. 18

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1. Radikale Leiblichkeit

ohne jemals zu einer Vorstellung, einem Bild oder einem Symbol zu gerinnen. Mit anderen Worten weiß ich im rein selbstaffektiven Handeln letztlich nicht, wer handelt, ob es das Gewissen, Gott oder das Unbewusste ist, sondern ich »weiß« durch unmittelbare Affektion nur, dass die Übermächtigkeit des Lebens (sein »Mehr«) mir dieses Handeln ermöglicht, um in Übereinstimmung mit dieser transzendentalen Ermöglichung zu sein, die immer eine konkrete ist und alles Lebendige (Andere wie »Umwelt«) in diese unmittelbare Zustimmung in das Leben mit einbezieht. Insofern fällt die gründende oder konstituierende Subjektivität mit den verschiedenen äußeren Phasen des konstituierten Individuums nicht auseinander, so dass zwar eine innere Historialität von Dynamik, Auswahl und Aufeinanderfolge nicht ausgeschlossen ist, aber niemals in qualitative Fragmente oder Schnitte der Selbstverwirklichung der subjektiven Praxis auseinander fällt, da es keinen Augenblick oder keinen »Übergang« gibt, in denen nicht ein permanenter Rückverweis immanenter Natur als inner-affektive oder triebgenealogische Modalisierung auf das »Hören« des absoluten Lebens stattfände, welches durch keine sukzessiven Ekstasen der Zeitlichkeit ersetzt werden könnte. Die Passibilität bleibt mit anderen Worten die Grundvoraussetzung einer Einheit des Handelns, in der weder Gesetz, Höchstes Gut oder Gott als transzendente Norm intervenieren – es sei denn nur über den Weg der Einbildungskraft und Vorstellung als affektive Modalisierung selbst, sofern zu keinem Augenblick solcher Lebensführung die Selbststeigerung ausgeschaltet werden kann, die auch das Imaginäre nicht ausschließt, wie besonders Ästhetik und Kultur zeigen können. Das Wesen muss also nicht erst nachträglich individuiert werden, der Existenz wie bei Sartre folgen, weil zu jedem Augenblick Wesen, Individuum, Ich/Mich und Existenz im Sinne absoluter Wirklichkeit zusammenfallen – als Augenblick der »Wiederholung« der Immanenz im Sinne kierkegaardscher Einmaligkeit, welche die Einheit von Subjektivität und Ethos bildet, das heißt den unverzichtbar gelebten Wert des Lebens in dessen Unmittelbarkeit einschließlich des Weltbezuges. Es geht also um mehr als um eine bloße Ethologie der Affekte, welche sich gemäß einem postmodernen SubjektWerden in der Vielfalt der leiblichen Erfahrungen gegen die gesellschaftliche Entfremdung oder sogar Unterdrückung einen unverwechselbaren Lebensstil erkämpfen will, so dass sich letztlich das »Ich« mit keiner Person bzw. Selbstheit identifiziert, sondern allein die netzwerkartigen Orte und Momente der Intensität transversaler 72 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Handeln als reine Relationalität

Kommunikationen aufsucht – gemäß dem bekannten Satz von Deleuze beispielsweise: »Ich bin Legion«. 20 Es geht uns nicht darum, diesen Denkversuchen ein Bemühen um ein anderes Denken der Metaphysik abzuerkennen, sondern zu verstehen, dass der radikale Zusammenhang von Individualität und Phänomenalität sich nicht nur über eine Aktualisierung lösen lässt, deren unbedingte Ermöglichung dank einer wirklich verlebendigenden Macht nicht deutlich wird, um ein erneuertes Existenz-, Therapie- und Kulturdenken jedem Dogmatismus zu entziehen – sei er teleologisch im Sinne einer hypostasierten absoluten Natur oder (de-)konstruktivistisch im Sinne eine scheinbar autonomen Selbstverwirklichung als letztlich nihilistischem »Selbstexperiment«. Sowohl bei Henry wie bei den anderen erwähnten französischen Denkern radikaler Leiblichkeit kann man dementsprechend eine »Mystik« am Werk sehen, aber es stellt sich eben die Frage, ob diese auf einem anonymen Abgrund aufruht oder auf einer »Selbstvergessenheit des Lebens«, welche die Geburt des transzendentalen Individuums selbst ausmacht. Beiden gegenüber kann der kritische Verdacht geäußert werden, 21 dass sich sowohl beim Apophatismus des Lebens wie beim unverständlichen Zufall des Werdens letztlich eine Absolutheit als Form reflexiver Notwendigkeit verbirgt, aber ein solcher Verdacht ergibt sich nur dann, wenn das Denken als der alleinige Zugang zur (phänomenologischen) Wahrheit gesehen wird und nicht im reinen Vergessen von Leben und Ich als »Mich« eine Relation aufscheint, die jeglicher Begriffs- und Sprachfixierung vorausliegt und so der Illusion eigener Selbstbegründung erst wirklich entgeht. Alles ruht mithin auf der effektiv angemessenen Gegen-Reduktion der Immanenz als radikaler Leiblichkeit, da diese in der Tat jede Erfahrung von Selbst und Welt zu der »meinen« macht, ohne darin eine abschließbare Ethik oder Erkenntnis zu suchen. Wie bleibt also eine Einheit des Seins ohne teleologisch-transzendente Absolutheit (Gott) und anders als ein immanenter Naturalismus oder Affektionismus (Selbstsorge des Lebens) als Erneuerung von Metaphysik, Kultur und Therapie zu denken, wenn nicht mehr die Analogie zum Sein im Mittelpunkt steht, sondern die transzendentale Einheit des ursprünglichen Seins als radikal subjektive Leiblichkeit? Für die organische Leibbetrachtung ist zunächst eine (moraG. Deleuze u. F. Guattari, Mille plateaux, Paris, Minuit 1980, 292. Vgl. zur Diskussion E. Jain u. R. Margreiter (Hg.), Probleme philosophischer Mystik. Festschrift für Karl Albert, St. Augustin, Academia Verlag 1998.

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lische) Hierarchie der Organe ebenso aufzugeben wie eine welthafte Instrumentalisierung vereinzelt gesehener Akte, da beide Aspekte, wie sie dem klassischen Denken eingeschrieben sind, sich nicht länger mit jener scheinbar ephemeren Abhängigkeit des Leibes vom Geiste vereinbaren lassen, welche eine radikalisierte Lebensphänomenologie gerade umstürzen will, ohne in die Falle eines unaufgeklärten Hedonismus zu geraten. 22 Eine solche Einheit kann also nur in einer unbedingten Ipseität und nicht in irgendeinem thematischen Korrelat im Einzelnen aufgesucht werden, wobei aber auch vermieden werden muss, diese Ipseität des Lebens wie eine Spirale aufzufassen, welche sich in sich selbst einrollen würde, um in ihrer Selbsterdrückung auf sich selbst als absolute Immanenz keine je eigene Relation und Aktion zuzulassen. Eine solche exklusive Verinnerlichung wäre noch unter ontischen Voraussetzungen gedacht, nämlich als wäre diese Immanenz trotz allem wie ein Raum, in der sich so etwas wie Gegensätzlichkeit zu Welt oder Andersheit etablieren würde. Die notwendige Dichotomie oder Duplizität, welche das Verhältnis von Selbsterscheinen und Erscheinung erfordert, ist keine Disjunktion im Sein als Leben selbst, sondern ein Ausschluss als Leere, wie wir sagten, die ihrerseits keine axiologische Trennung im Bereich der Ontologie bedeutet, denn als methodologische Notwendigkeit legt diese Aufklärung der Erscheinensverhältnisse ein fleischliches Leben frei, dessen Praxis gerade die »blinde Materie« in die Fruchtbarkeit des Lebens dank triebhafter oder inner-affektiver Narrativität (Begehren) hineinnimmt. Sicher vermögen die körperhaften Dinge als Materie und Welt die Unsichtbarkeit der pathischen Ur-Intelligibilität nicht zu sehen, so wie auch der intentionale Blick sie nicht sehen kann, aber es handelt sich hierbei letztlich nicht um eine optische Metapher und deren Problematik, sondern um den radikal phänomenologischen Sachverhalt, dass allein die »Nacht« der Affektivität überhaupt eine »Offenbarung« zu sagen vermag, in der sich jegliches Wissen errichtet, und zwar als praktisch-leibliche Einwurzelung aller Wissensbezüge, nämlich als reine Subjektivität im Sinne des vermögenden »Ich kann« oder als an solches Handlungswissen gebundenes Weltwissen. Das Pathos benötigt hierbei nicht nur ein Ich, sondern es ist ein Ich/Mich aus der Passibilität der Lebensgeburt heraus, so dass sich 22 Vgl. zur Diskussion hierüber auch S. Knöpker, Existenzieller Hedonismus. Von der Suche nach Lust zum Streben nach Sein, Freiburg/München, Alber 2009, 15 ff. u. 46 ff.

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Handeln als reine Relationalität

wohl sagen lässt, der »Mensch« im transzendentalen Sinne sei in der einzig denkbaren phänomenalisierenden Position, um das Sein in seiner immanenten Einheit und welthaften Vielfältigkeit zu sagen. Aber wird er damit zum Emblem göttlicher Analogie wie früher der Mikrokosmos im Makrokosmos? Das Pathos muss bestimmt sein, sonst bliebe das Sein als Leben wie als Ich in einer Unbestimmtheit des Nicht-Erscheinens, aber dadurch wird keine transzendente Referenz errichtet, sondern allein die absolute Vorgängigkeit einer Affektion im Leben anerkannt, die »im Anfang« geschieht, das heißt für alle weiteren Erscheinungen unhintergehbar ist. Nennt man diese Autonomie der Vorgängigkeit in ihrer Absolutheit als reine Lebensoffenbarung noch »Gott« (oder besser Gottheit), so ist damit gerade keine Analogie ausgesagt, sondern die Notwendigkeit für diese Ur-Affektion als Lebensaffektion, effektive »Offenbarung« zu sein. »MenschSein« als absolute Individuierung in der Ipseität des Lebens wird daher von Henry auch Fleisch oder Inkarnation genannt, um zu verdeutlichen, dass diese Ursprungsbestimmung ohne Analogie ist – vielmehr eine nicht mehr aufhebbare Bestimmung oder Konkretion, welcher der Name »Gott« nichts hinzufügt, sofern er anders verstanden werden sollte als die Selbstoffenbarung solch pathischer Affektivität, weshalb Meister Eckhart eben den Menschen so treffsicher einen »Gott-Erleidenden« nannte, der in der Einheit solchen Erleidens als absoluter Armut kein weiteres Prädikat zur Selbstbestimmung benötigt. Wenn sich daher der Bezug zum reinen Erscheinenswesen des Lebens auf einer rein pathischen Grundlage errichtet, die der Mensch »ist«, dann kann ein auf diese Weise transzendental geborener Mensch auch prinzipiell alle Augenblicke als intensives Gewebe einer solch pathisch bestimmten Subjektivität als Leiblichkeit leben, ohne irgendeine Verbindung mit der »Gottheit« intentional suchen zu müssen, insofern eine solche unio, falls man diesen Begriff gebrauchen will, nicht am Ende irgendeiner existentiellen Bemühung steht, sondern den absoluten Anfang in jedem Augenblick selbst bildet. 23 Die Einheit des Seins als Leben lässt mithin nicht die Frage der Transzendenz offen, sofern diese noch als allpräsente Schöpfungsmacht verstanden wird, sondern die Transzendenz der klassischen Metaphysik und Gotteslehre bildet nicht länger das Zentralproblem, Vgl. R. Kühn, »Ungeteiltheit« – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung. Ein radikal phänomenologisches Gespräch mit Meister Eckhart, Leiden/Boston, Brill 2012, 171 ff.

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wenn die Phänomenologie die Einheit des Seins aufklären will. Es gibt folglich eine Univozität des Seins als »Leben«, ohne die Einzigkeit des Menschen im rein pathisch-immanenten Sinne sowie die Erlebensvielfalt der Existenz auflösen zu müssen und Gott zum normativ-ethischen Referenzpunkt einer solchen Einheit machen zu müssen, weil das Schweigen als Offenbarung des unsichtbaren und unsagbaren Lebens keine Ununterscheidbarkeit des absoluten Affiziertseins bedeutet, sondern dessen jeweils immanente wie existenzielle Konkretheit selbst. In diesem Sinne gibt es keinen »Anruf«, sondern nur ein Tun, und jeder Weg von einer Vermittlung zur anderen ist nur ein »Zögern«, wie Kafka 24 sagte, das heißt die Nicht-Entsprechung mit der unmittelbaren Offenbarung als Ipseisierung im Fleisch. Methodologisch kann man zugestehen, dass die lebensphänomenologische Duplizität im Sinne Henrys eine taxinomische Entscheidung zugunsten des transzendentalen Menschenseins impliziert, um durch die Subjektivität ein Verhältnis zur selbstbegründenden Einheit wie Absolutheit des Lebens zu erstellen, welches jeglichen Bezug überhaupt gründet und deshalb auch öfters von uns Proto-Relation genannt wurde. Auf diese Weise ist daher das rein phänomenologische Leben das erste oder ursprüngliche »Wort« der Existenz, wodurch die pathische Erprobung desselben zu jener triebgenealogischen Narrativität wird, der als Begehren alle Formen und Weisen angehören, wie sie in der intensiven Unmittelbarkeit des Lebens geboren werden. Wenn keine Ipseität möglich ist außer in der Ur-Ipseität des Lebens, so bedeutet dies dennoch nicht, es würde dadurch die Individuierung des transzendentalen Ich/Mich aus dieser Geburt heraus zur bloßen Entfaltung des Lebens im Sinne des schon erwähnten Bildes einer Spirale, da man sich durch eine solche Auffassung der Gefahr einer bloßen Funktionalisierung des Ich aussetzen würde, im schlimmsten Fall sogar seiner Erdrückung durch ein übermächtiges Leben, welches nur sich verwirklicht. Gegen einen solchen Schopenhauerianismus des blinden »Leben-Wollens« spricht die eindeutige Einheit der Lebensimmanenz als Bedingung der Ipseität jedes Lebendigen und seiner Erprobung als einer je einmaligen affektiv-fleischlichen Erprobung. In dieser Hinsicht bleibt weiterhin zu sagen, dass Vgl. Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass (Ges. Werke, Bd. 6), Frankfurt/M., Fischer Taschenbuch 1998, 32 (»Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg«).

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Einheit des Empfindens

nicht der anthropologisch betrachtete Mensch, insofern er »empfindet«, alle Offenbarungsmacht des Lebens an sich bindet, sondern »alles, was leiden kann«, bildet letztlich die eigentliche Gemeinschaft selbstaffektiven Lebens, was gerade für die Therapie grundlegend sein dürfte: »Insoweit das Wesen der Gemeinschaft die Affektivität ist, begrenzt es sich nicht auf die Menschen allein, sondern umfasst alles, was in sich durch das uranfängliche Leiden des Lebens und mithin durch die Möglichkeit des Leids definiert ist. Wir können mit allem leiden, was leidet: es gibt ein Mit-Pathos, welches die weiteste Form jeder denkbaren Gemeinschaft ist.« 25

Damit ist deutlich, dass jeder Bezug zur Welt und zu Anderen, auch wenn er die Duplizität des Erscheinens in Anspruch nimmt, von der radikal phänomenologischen Reduktion verlangt, in ihrem transzendentalen oder gegenreduktiven Vollzug dieses gemeinschaftliche Pathos in aller Impressionabilität so anzuerkennen, dass alle phänomenologischen Verwirklichungsformen von diesem pathischen Einheitspunkt her prinzipiell erfasst werden können.

3) Einheit des Empfindens Damit ist abschließend sichergestellt, dass zwar dem fleischlichen Ego allein die Geburt im Leben zufällt, aber es keinen Hiatus oder Abgrund zu den kontingenten Formen der Existenz hin gibt, sofern diese nicht auf ein letztlich rational unentzifferbares analogisches »Reich Gottes« der Innerlichkeit oder ihre bloß dekonstruktivistische »Spur« bzw. »Fraktur« bezogen werden, um akzeptiert werden zu können, sondern auf ein sich stets erleidendes und sich erfreuendes Fleisch, in dem sie zur Anerkennung ihres Seins gelangen. Für den Einzelnen wie die Gemeinschaft ist damit das »Heil« verbunden, nämlich das Fleisch nicht verlassen zu müssen, um sich irgendeiner Abstraktion als Erlösung anzuvertrauen, sondern dieses Fleisch in jeder seiner Manifestationen als absolut zu wissen und entsprechend zu erproben. »Heil« als Existenz, Kultur, Religion, Kunst, Therapie und Ethik schließt daher nichts aus, sondern alles ein, weshalb auch »Christus« als der Erst-Lebendige im Spätwerk Henrys nicht die Amphibologie

Vgl. »Mitpathos als Gemeinschaft«, in: M. Henry, Affekt und Subjektivität (2005), 161.

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1. Radikale Leiblichkeit

des Erscheinens zwischen Fleisch/Körper bedeutet, durch die wir ihn im Grunde nie als den absoluten Anfang jeder Ipseität erkennen könnten. Vielmehr ist »Christus« als der Erst-Lebendige jene Ipseität, wodurch der traditionelle Dualismus zwischen Geist/Körper im Sinne einer Inkarnation aufgehoben ist, welche nicht mehr an die Vorherrschaft einer rationalen bzw. doxischen Erkenntnis gebunden ist, sondern an eine phänomenologische Ur-Intelligibilität »über Philosophie und Theologie« hinaus, 26 das heißt in die Unmittelbarkeit eines jeden Fleisches als solchem eingelassen ist. Dadurch kann es – gläubig oder ungläubig im intentionalen Sinne – die Wesenserprobung des Lebens zu jedem Augenblick mitvollziehen, wenn dieses Fleisch in seiner »nächtlichen Intrige« dieser Erprobung zustimmt. Das »Heil« ist also lebens-präsentisch zu denken, besser zu leben, denn es gibt keine ferne teleologische Vollendung, sondern die Historialität der Affektivität »ist« als ständige Offenbarung dieses absolute Heil, sofern es sich durch Vergessen und Verneinung nicht davon trennen lässt. Die Einheit des Seins diesseits aller Dualismen und Moralismen ist folglich eine inkarnatorische Einheit von Ich und Leiblichkeit, von Leben und Pathos, wodurch auch die traditionelle Unterscheidung von Endlich/Unendlich eine neue Antwort findet. Die lebensphänomenologische Analyse für eine Neubestimmung der Metaphysik, Therapie und Kultur, welche auf einen Vorrang der Phänomenologie vor der Ontologie gründet, insofern es kein Sein vor seinem Erscheinen für uns geben kann, steht und fällt folglich mit der Bestimmung einer radikalen oder materialen Phänomenalität. Die Duplizität des Erscheinens von Welt/Leben ist als methodologische Notwendigkeit kein neuer Dualismus, da die Frage des Erscheinens nicht von der Welt oder dem Da-sein her entschieden werden kann, insofern weder Welt noch Dasein sich selbst ihr Erscheinen verschaffen können, sondern auf eine »Hervorbringung« angewiesen sind, die nur in einer Selbstgenerierung liegen kann, welche mit dem Leben und seinem immanenten Pathos als Fleisch der Selbstaffektion gegeben ist. Die Duplizität des Erscheinens verdoppelt also im strengen Sinne nicht das Erscheinen, sondern legt nur die welthafte Kontingenz in Bezug auf die Selbständigkeit eines absoluten Erscheinens offen, wodurch in der Tat alle Wirklichkeit auf die Wirklichkeit des Lebens übertragen wird, da sich in der thematischen oder intentionalen Vorstellung von Weltsein eine Neutralisierung er26

Vgl. M. Henry, Inkarnation (2002), 399 ff.

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Einheit des Empfindens

gibt, die schon Husserl 27 als »Irrealität« in diesem Sinne ansprach. Dies heißt nicht, dass die Welt keine Existenz besäße, sondern es bedeutet nur radikal phänomenologisch, dass es keinen rationalen Logos als Begriff, Sprache, Grammatik etc. gibt, um über den Referenzcharakter von Begriff und Sprache hinaus den wirklichen (impressionalen) Inhalt des Bedeuteten zu garantieren. In dieser Hinsicht ist die Umkehrung der Denktradition des Abendlandes prinzipiell, denn es gibt keine ontologische Konsistenz von Sein und Seienden über eine theoretische Konzeptualisierung. Der in diesem Buch untersuchte Zusammenhang von triebgenealogischer Narrativität und Therapie als Begehren/Sinn bedeutet daher eine lebensphänomenologische Umkehrung auch aller Hermeneutik, um das Selbsterscheinen der immanenten Phänomenalität nur deren Selbstoffenbarung zuzuerkennen, die ohne welthaften Logos ist. Dies bedeutet nicht, dass die Phänomene selbst in sich gespalten wären; sie gehören nur zwei Erscheinensweisen an, wobei der Aufweis einer absoluten (pathischen) Phänomenalität im Gegensatz zur einer ontologischen Veränderlichkeit als Sich-Zeigen der Dinge auf ein ursprüngliches Hervorquellen aufmerksam machen möchte, welches von keiner logischen Analyse jemals erreicht werden kann. Dennoch bleibt bei dieser kritischen Vorgehensweise gegen eine hellenisierende Gewohnheit der Begriffs- und Bedeutungshypostase die Aufklärung einer gegen-reduktiven Zugangsweise zum Leben über die Leiblichkeit ein Werk des theoretischen Logos, um dann jedoch zur reinen Deixis auf einen anderen Logos hin zu werden – auf jenes »Wort des Lebens«, welches nur der immanenten Erprobung als Affektabilität zugehört. Man darf also die Methode nicht mit der »Sache selbst« verwechseln, denn jeder Zugang bleibt in einer Distanz oder Differenz, die das Leben nicht kennt. Durch die »Gemeinschaft all dessen, was leiden«, das heißt »sich erproben kann«, ist allerdings auch deutlich geworden, dass die Subjektivität solcher Erprobung keineswegs einer transzendentalen Einsamkeit verfällt, welcher nur die Anrufung eines unsichtbaren und unsagbaren Lebens bliebe, da die Praxis dieser Ipseität über den Trieb wie das Begehren bereits eine Gemeinschaft mit allen anderen Ichen bildet, woraus sich zugleich ein welthaftes Gewebe einer prinzipiellen Lebenswelt ergibt. Dieses affektiv-pathiVgl. Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen (1907), Hamburg, Meiner 1986, 74 f.

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sche Gewebe von Gemeinschaftlichkeit und Welt bedeutet aber nicht den unverzichtbaren Umweg, den das Leben nehmen muss, um sich selbst zu erfüllen, indem jeder Leib im Horizont der Welt zum Heil seines Begehrens geführt würde. Vielmehr vollzieht sich das »Heil«, wie schon erwähnt, in der Passibilität jedes Vollzugs zur Welt hin selbst, sofern das sich selbst ignorierende Denken an seinen Ursprung zurückgebunden wird, falls es sich auf seine Geburt »in der ersten Person« besinnt, mit anderen Worten sich in keiner Relation von jener Quelle abschneidet, welche die Bezüglichkeit schlechthin zu allem Sein ermöglicht. Leib, Begehren, Trieb etc. finden daher nicht ihre Erfüllung in der selbst-narrativen Eröffnung von Welt, sondern sie sind diese Eröffnung – das Offene schlechthin, indem jedes Sein vom Leben her freigestellt wird. Wenn die Duplizität des Erscheinens den Dualismus der Tradition durch die Einheit des Lebens umkehren will, aber bei diesem Vorgehen das Denken (in) der Differenz bei sich selbst unangerührt ließe, dann wären wir keinen Schritt weiter, denn wir hätten dann die metaphysische Grundentscheidung des Erscheinens von Sein/Seienden, Unendlich/Endlich, Zeitlichkeit/Ewigkeit etc. nur in die innerste Sphäre der Einheitsbehauptung selbst hineingetragen. Wäre jedoch die Differenz wirklich maßgeblich, so wäre im Grunde keine Praxis möglich, denn ein von sich selbst distanziertes Handeln als »Ich kann« käme über diese Kluft in sich selbst nie zu einem Vollzug, der die Einheit der Leiblichkeit als Affekt bedeutet. Insofern erdrückt die ursprüngliche Passivität nicht die affektiven Modalisierungen auf ein uniformes Bewusstsein des Leibes, sondern offenbart ihre ursprüngliche oder triebgenealogische Narrativität, die zugleich eine affektive Ausrichtung des Handelns in der Immanenz selbst bereits darstellt. Erst wenn dies radikal als Begehren gesehen wird, das heißt die Transzendentalität des Lebens als effektive Bedingung jeglicher Relationalität, kann auch das Gefühl sich einstellen, dass die Welt insgesamt die meine als Phänomen ist – dass wir nicht Geworfene oder Entfremdete in dieser Welt oder diesem Leben sind, sondern dass über die ipseisierte Immanenz jegliche Weltvirtualität tatsächlich möglich wird, sofern sie sich aus der primordialen Leiblichkeit und ihren Modalisierungen ergibt. An der Haut lässt sich dies phänomenologisch am besten aufweisen, denn sie ist nicht nur schon seit Maine de Biran das »Universalorgan« des Empfindens oder mit Merleau-Ponty der Ort der »Reversibilität« zwischen Berühren und Berührtem, sondern jene Weise, wie unsere Empfindungen sowohl als äußeres Sinneserlebnis 80 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Einheit des Empfindens

wahrgenommen werden als auch durch den immanenten organischen und subjektiven Leib in die Sphäre der reinen Entgegennahme des Lebens als Passibilität hinabreichen, so dass hier gegen-reduktiv eine Einheit von Welt/Leben Wirklichkeit ist, die sich in einer reinen Relationalität erschöpft, ohne die Erlebensrelata als begriffliche Größen fixieren zu müssen: »Unsere Haut ist von ›innen‹ vom Fleisch bewohnt, dessen ›Grenze‹ sie darstellt.« 28 Die »Grenze« innerhalb der Duplizität des Erscheinens ist also mehr als »durchlässig«; sie ist die Einheit der immanenten und mundanen (intentionalen) Erscheinensweise, ohne unter die Begriffe einer disjunktiven Synthese gefasst werden zu können, insofern es sich hierbei nicht um den differäntiellen Einschluss/Ausschluss von etwas handelt, sondern um die verlebendigende oder praktische transzendentale Ermöglichung in der Konkretheit des intensiv Leiblichen überhaupt, welches als solches nichts Ausschließendes kennt. 29 Wir werden daher weiter auf den Zusammenhang von Offenbarung/Relationalität zu achten haben, der radikal phänomenologisch nicht in metaphysischen oder theologischen bzw. auch (neo-)psychoanalytischen Ausschluss- oder Analogiebezügen gefasst ist, sondern stets unter dem Gesichtspunkt einer absolut fleischlichen (inkarnatorischen) Immanenz als intensive Teleologie, Historialität oder Narrativität im Sinne des Begehrens des Lebens. Damit sind wir sowohl diesseits der klassischen Problematik von Subjekt/Objekt wie von Bewusstsein/Noema (Kant, Husserl), aber auch diesseits noch der chiasmatischen Phänomenalisierungsstruktur von Welt-Ding-Anderen (Merleau-Ponty), deren Reversibilität niemals vollkommen ist als die Einheit von Sichtbarem und Sehendem, insofern die Begriffe »Fleisch der Welt« und »Fleisch des Leibes« hier nur eine operative Endlichkeit ausdrücken, die auf ihre Weise den Gegensatz von Seele/Körper aufheben will, um die »Einzigkeit der sichtbaren und unsichtbaren Welt« zu verstehen. 30 Wir gehen einen Schritt weiter, wie gesagt, um die unsichtbare wie unsagbare Offenbarung des rein phänomenologischen Lebens innerhalb des transzendentalen Vergessens des Denkens als solchem zu verstehen, insofern das Fleisch im lebensphänomenologischen Sinne eine Offenbarung der thematisch unzugänglichen Passibilität als unbedingtes Können in allem Empfinden und Handeln darstellt, zu des28 29 30

Vgl. M. Henry, Inkarnation (2002), 257–261, hier S. 260. Vgl. J. Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien, Passagen 1988. Vgl. M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München, Fink 1986.

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1. Radikale Leiblichkeit

sen Absolutheit es keiner analogischen Vermittlung über ein gesetztes oder geglaubtes Absolutes (»Gott«, Allgemeinheit, Geist, Sprache etc.) mehr bedarf. Ein Hören dieser fleischlichen Absolutheit in allem, was ist, macht sozusagen Leben wie Sein zu einer Stimme, die sowohl schweigt wie spricht, weshalb eben radikal phänomenologisch von einer Fleisch-Offenbarung als Selbst-Narrativität gesprochen werden kann, die als inkarniertes Leben oder als ursprünglicher Trieb bzw. Begehren dergestalt mit dem Anfang der Phänomenalität identisch ist, dass sie praktisch ständig erprobt werden kann, ohne sich über Begriffe oder Vorstellungen einer solchen fundierenden Selbstgegebenheit vergewissern zu müssen. In diesem Sinne weist das UrPathos der immanenten Selbstbewegung des Triebes als absolute Lebensankünfigkeit jede Intentionalität als begründend zurück, denn es verhält sich eher so, dass dieses mein Fleisch sich so weit erstreckt wie meine Wahrnehmung und Einbildungskraft, das heißt auch bis in jede Form von realen oder imaginären Welten hinein. Damit gibt es keinerlei Außerhalb-des-Fleisches, und die Grenze der Haut, die oben genannt wurde, ist nur der jeweilige Umkehrpunkt der Gegen-Reduktion, um sich im Vollzug unserer Existenz dieser ständigen Möglichkeit als effektiver Gegebenheit zu vergewissern. So kann jeder »Akt« als ein Können des Ich erlebt werden, aber da dieses Ich ursprünglich vom absoluten Leben affiziert ist, ist es nicht auf die psychologischen Gehalten seines Seelenlebens beschränkt, sondern kann sich in seiner Aktualität als nicht-selbstgesetzt und als nicht allein vorherrschend erfahren. Auch das Fleisch ist damit niemals etwas Materielles oder rein Körperhaftes, und der Andere wird von mir nicht analogisch als »Fremderfahrung« repräsentiert (Husserl), sofern er über seinen sichtbaren Leibkörper hinaus selbst ein Fleisch ist, sondern er wird als ursprüngliche Mit-Gegebenheit in der Gemeinschaftlichkeit des reinen Lebens erfahren. Gerade als Immanenz kann daher das Fleisch die absolute Offenheit für alles Erscheinende sein, während bei Heidegger solche Eröffnung allein in das Verhältnis von Sein/Dasein gehört – der Leib hingegen nur ein Element der Existenz ist, nämlich als Weise meines mundanen Seins, ohne dem Sein selber eine fleischliche Herkunft zu verleihen. Was wir mit Hilfe der Ausführungen über die Einheit von Leben/Fleisch unterstreichen möchten, ist daher die Erneuerung bisherigen Denkens in jenem Sinne, dass die fleischliche Phänomenalität als Grund des Lebens und als »Erdeinverleiblichung«, das heißt als schlechthin grundlegendes »Er82 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Einheit des Empfindens

eignis« von Welt/Leben, eine fundamentale Aisthetik bedeutet, wo Ontologie, Ethik und Ästhetik eine proto-relationale oder praktische Phänomenologie bilden. 31 Was ich sehe und berühre, ist also mein Fleisch als Widerständigkeit, sofern das körperliche oder materielle Kontinuum der letzteren als primär praktische Kategorie allen Weltseins eine Grenze meines immanenten Fleisches aufweist, wodurch das Erfahren dieser Grenze selbst (Haut) als die Präsenz des absoluten Fleisches gelebt zu werden vermag. So wie das Leben keinen Augenblick lang unterbrochen werden kann, ohne ins Nichts zu stürzen, ebenso wenig kann irgendein Seiendes, Situatives oder Ereignishaftes von dieser inkarnatorischen Präsenz des Fleisches getrennt sein – mit anderen Worten nicht affektiv oder pathisch erprobt werden. Die Duplizität des Erscheinens widerspricht folglich nicht einer Univozität des Seins, sofern man dieses Sein als im Leben generiert betrachtet, mithin unter dem Gesichtspunkt einer transzendentalen Univozität als fleischlich-subjektiver oder ipseisierender Phänomenalität. Springt deshalb jedoch der rein Lebendige aus der Welt heraus, um sich angesichts der Einheit eines solch transzendentalen Gründungslebens in die Position eines Zuschauers seiner selbst zu begeben, welcher es ihm erlaubte, seine transzendentale oder absolut lebendige Selbstapperzeption als Kontemplation innerhalb der Homogenität seines fleischlichen Pathos zu vollziehen? Damit wäre – wie beim absoluten Zuschauer im Sinne Eugen Finks 32 – eine Alterität oder Heterogenität in die lebensphänomenologische Selbständigkeit des absoluten Lebens eingeführt, was aber als Kritik nur dann verständlich ist, wenn man einerseits prinzipiell weiterhin von einer husserlschen Konstitutionsproblematik des Bewusstseins als ordnender Teleologie des Weltsinnes ausgeht und den »Zuschauer« nur als beständige phänomenologische Analyse der Konstitutionsaufgabe wahrnimmt, also als eine theoretisch kontrollierende Einsamkeit, welche vom lebensweltlich gemeinsamen Bemühen um eine von allen gestaltete Welt abgetrennt sei. Hier wäre nicht nur einzuwenden, dass der »Zuschauer«, sofern er unter der Anforderung der radikalen Gegen-Reduktion gesehen wird, selbst im Vollzug der größtmöglichsten Praxis steht, sondern außerdem unter Passivität und AktiviVgl. auch R. Kühn, Natur und Leben. Entwurf einer aisthetischen Proto-Kosmologie, Freiburg/München, Alber 2011, hier bes. 91 ff. u. 198 ff. 32 Vgl. VI. Cartesianische Meditation. Teil I: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre (Husserliana-Dokumente 2/1), Dordrecht, Kluwer 1988, 37 f. (§ 4). 31

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1. Radikale Leiblichkeit

tät künstlich getrennt wird, während für die Einheitswirklichkeit des Lebens beides von Anfang an zusammengehört. Auch wenn das Verhältnis von Welt/Leben nicht symmetrisch ist, und in diesem Sinne nicht streng gegenseitig oder reversibel, hindert dies nicht daran, an der phänomenologischen Radikalität ihres Einheitssinnes im Leben festzuhalten. Was auf jeden Fall ausgeschlossen ist, wie wir sahen, da diese Einheit subjektiv-leiblich fundiert bleibt, ist das Überschreiten dieses Grundes pathischer Subjektivität oder Selbst-Narrativität auf eine a-personale Versammlung der Vielfalt der Seinsformen hin, wie sie etwa Naturalismus, Empirismus, Vitalismus oder Hermeneutik nahe legen. Versteht man mithin den »Menschen« als eine transzendentale Geburt im Leben, dann bleibt zwar letztere der Bezugspunkt der Einheit jeglicher Sinnhaftigkeit unter den Seienden, ohne dadurch jedoch ein einseitiges Subjektverständnis zum Mittelpunkt der Lebens- und Seinsauffassung zu erheben. Die vor-ontologische Radikalität der Einheit des Erscheinens vor aller menschlich-kontingenten oder mundanen Veränderung im Bereich des Sichtbaren, insofern die Einheit solcher Ursprungsmanifestation mit dem Wirklichen als leiblicher Subjektivität selbst zusammenfällt, macht es daher eben auch abwegig, ein transzendentes Gottesbild als Maßstab für die möglichen »theologischen« Konsequenzen einer solchen primordialen Univozität des Lebens anzunehmen. Versteht man hier unter Theologie keine eigene Disziplin bezüglich dogmatischer Glaubensinhalte, sondern die notwendige Implikation einer Absolutheit im sich selbst gründenden ur-anfänglichen Leben selbst, dann können solche Konsequenzen nur besagen, wie bereits angedeutet, dass die (philosophische) Reflexion angesichts des Charakters eines solchen – sie in die Passivität oder reine Empfänglichkeit versetzenden – Absoluten nicht ihre gewohnten Reflexe von Setzung, Konstitution oder Autonomie weiter pflegen kann. Eine derartige interne Begrenzung des rationalen Denkens bedeutet nicht dessen prinzipielles Ende, sondern einerseits die Anerkennung, dass es diese Bejahung als lebendige Wesensbejahung in sich birgt und andererseits die unendliche Vielfalt des Seienden in der Einheit des Lebens nicht leugnen muss, nur weil die Erkenntnis selbst endlich sei. Mit anderen Worten beinhaltet die Einheit des Lebens keine Monotonie oder begriffliche Tautologie, insofern gerade die Vielfalt des Erscheinenden – vor allem auch in ästhetischer und therapeutischer Hinsicht – den Reichtum der Affizierbarkeit durch die Immanenz selbst widerspiegelt, so dass alle Nuancen des Sinnlichen als Begehren 84 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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über die Immanenz der leiblichen Intensität erfahrbar werden dürften. Vielfalt und Veränderung des existentiellen Lebens werden somit nicht ausgeschlossen, aber auch nicht bloß mit Hilfe einer Analogie des Seins gerechtfertigt, sofern weder die Welthorizonte noch die Teleologie des Denkens, welche dieselben einer ontologischen wie zeitlichen Typik unterwirft, jene wesenhafte Selbstgegenwart des Ich/ Mich verständlich machen können, wie sie in der Einheit des immanenten Lebens als intensive Praxis am Werk ist. Haben wir somit Äquivozität, Analogie und Transzendenz aus der unmittelbar leiblichen Erprobung des absoluten Lebens ausgeschlossen, um sie durchaus für einen nicht radikal betrachteten weltlichen Bereich gelten zu lassen (sofern die Erneuerung herkömmlichen ontologischen oder metaphysischen Denkens – einschließlich seiner »differäntiellen« Kritik – nicht mitvollzogen wird), so soll dies an den Begriffen Differenz und Relation abschließend überprüft werden. Seit dem griechischen Denken sind letztere zentrale Kategorien des logoshaft geprägten Diskurses, und zwar in der Art, dass schon bei Aristoteles die Differenz eigentlich nicht mehr das Wesen bestimmen kann, weil sie die Unterschiede des Seienden auf ein analogisches Sein bezieht, dessen Besonderungen als generische Identität die Kohärenz des Verstehens ermöglichen sollen. Die Differenzen werden dadurch mit dem Begriff im Allgemeinen verbunden, so dass schwer einsichtig wird, wie im Wesen die ontologischen Singularitäten verstanden werden können, ohne dass sie in einer epistemologischen wie axiologischen Relativität versinken. Die zuvor diskutierte Univozität des Seins im lebensphänomenologischen Sinne stellt nun dieser aristotelischen Auffassung keine Seinsvorstellung als Prozess oder Dialektik der Differenzierung entgegen, wie man sie im modernen Denken seit Hegel besonders beobachten kann, sondern nur die Frage, wie die univoke Seinswirklichkeit als Selbstgenerierung der Immanenz verstanden werden kann. Die Möglichkeit dazu ergab sich weniger über eine theoretische als eine praktische Konzeptualisierung, insofern die radikale oder ursprüngliche Leiblichkeit als »Ich kann« jede Distanz letztlich aus sich ausschließt, da sonst ein Zusammenfall von notwendiger Immanenz als Affektivität oder Trieb bzw. Begehren nicht möglich wäre. Immanente Intensität und existentielle Praxis sind daher in ihrem Übergang nicht als mundane Entfremdung zu fassen, sondern durchaus im Sinne einer Affirmation von »affektiven Differenzen«, so dass von einer »disjunktiven Synthese« dergestalt gesprochen werden kann (selbst wenn die Imma85 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

1. Radikale Leiblichkeit

nenz keine eigentliche Syn-these darstellt), dass die Modalisierungen des Affektiven sich nicht untereinander ausschließen. Dies bedeutet umgekehrt, dass die Duplizität von Immanenz als transzendentaler Gründung und leiblich-intentional Konstituiertem als Welt keine ausschließende Disjunktion bildet, sondern eine einschließende Disjunktion, sofern die Relation mit allen Differenzen im welthaften Sinne bestehen bleibt. Daher ist die absolute Phänomenalität in methodologischer Hinsicht keine ausschließlich logische Operation des Ausschlusses von Welt, sondern eine Revalorisierung aller denkbaren Bezüge als Immanentisierung eines einheitlich gedachten Seins durch das Leben. Ausgeschlossen bleibt nur die Intentionalität analogischer Objektivierung als einziger Erkenntnisperspektive, weil die leibliche Subjektivität keiner ausschließlich intentionalen Finalität unterworfen werden kann, welche das lebendige Wesen des einzelnen Vollzuges seiner unmittelbaren Erfüllung berauben würde. Greifen Einheit und Intensität des Lebens konzeptuell als praktische Subjektivität ineinander, so ergibt sich daraus der Übergang einer pathischen Intensität in die andere als Modalisierung des einen intensiven oder leiblichen Lebens, was zugleich unterstreicht, dass die Ontologie der Epistemologie vorausgeht, das heißt in unserem Zusammenhang die Phänomenalität dem Begriff, um die (aristotelische) Differenz nicht mehr allein als eine Negation oder einen Widerspruch aufzufassen, sondern ebenfalls als Einheit zwischen den Differenzen, wie es auch Platon versuchte. In der Tiefe der lebendigen Einheit des einen Erscheinenswesens errichtet sich damit eine Relationalität, welche innerhalb der Einheit die Unterschiedlichkeit von Wahrnehmung, Imagination und Schöpfung nicht ausschließt, sondern die Korrelation und Verbindung der affektiven Differenzen in einer ontologischen Werthaftigkeit erlaubt, welche der Phänomenalität der transzendentalen Affektivität in jeglichem Erscheinen gerecht wird. Die radikale Lebensphänomenologie interessiert sich mithin dafür, wie die leibliche Sinnlichkeit in ihre Phänomenalität gelangt, das heißt eine Ipseität Zugang zu sich selbst erhält. Da dieser Bezug über die rationale oder epistemologische Differenz nicht adäquat – nicht ohne Ausschluss und Widerspruch untereinander – formuliert werden kann, erweist sich hier erneut der Vorzug, von der Relationalität als einer vornehmlich praktischen Phänomenalisierung zu sprechen, da die Transzendentalität derselben ein lebendiger Vollzug ist, welcher in einer ebenso unendlichen wie selbständigen Immanenz verwurzelt ist. Innerhalb eines kantischen Rahmens etwa bildet das Sein 86 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Einheit des Empfindens

nur eine endliche Vorgabe für die Rationalität, welche nur kontingente Phänomene kennt, während die grundsätzliche Einheit von Immanenz und Affektivität eine Erprobung allen Empfindens zunächst als Sich-Empfinden zulässt, wo das unsichtbare Leben selbst in seiner pathischen Intensität involviert ist. Ohne Zweifel verlagert sich damit der ontologische wie phänomenologische Akzent von der epistemologischen Ebene zur pathischen Sphäre hin, um jene Erneuerung des Denkens zu unterstreichen, die durch eine Ernstnahme der radikalen Leiblichkeit notwendig wird. Es handelt sich also nicht mehr darum, eine Synthese zwischen dem Sinnlichen und Intelligiblen durch bestimmende Urteile als Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen vorzunehmen, bzw. durch reflektierende Urteile die Gegenstände aus anderen Denkbereichen einander anzunähern, weil die Einheit des Lebendigen bereits besteht. Diese Einheit wird weder einem transzendenten Schöpfer zugeschrieben noch einem vor-individuellen anonymen Elan (Bergson, Deleuze), sondern einer Phänomenologie der Praxis, wo sich Pathos und Reflexion ebenso wie unendliches und endliches Leben aufgrund der jeweiligen absoluten Selbstaffektion nicht mehr widersprechen müssen. Jede cogitatio entspricht dann einer lebendigen Hervorbringung aus dem Ursprung des Lebens, welcher Pathos und Vorstellung solidarisch sein lässt, sofern sie von dieser gemeinsamen Wurzel her vernommen werden. Daher ist auch die affektive Modalisierung letztlich keine kontingente Vielfalt aus der Sicht einer distanzierenden Vernunft heraus, sondern die Verwirklichung einer Relationalität, welche in der Proto-Relation des Lebens selbst wurzelt. Letztere Bezüglichkeit bildet also das Gewebe der intensiven Einheit, die weder eine bloße Entität noch eine ideelle Abstraktion darstellt, sondern den wirklichen Vollzug des Leiblichen. Diese Relationalität im Ursprung und aus dem Ursprung heraus ist daher der einzige Weg, um die lebendige Totalität zu gewährleisten und auch dem Eindruck eines Solipsismus des Ich innerhalb der Duplizität des Erscheinens der Lebensphänomenologie zu begegnen, weil dieses Ich letztlich selbst in seinem immanenten Wesen als Mich nichts anderes als Relation ist, nämlich Selbstaffektion in der Selbstaffektion des Lebens. Wie wir schon sagten, sind dann Leben, Ich, Intersubjektivität und Welt nicht bloß thematische Korrelate eines unterscheidenden Denkens, sondern Vollzugsweisen lebendiger Praxis, welche außer der immanenten Selbststeigerung des Lebens keine Hierarchien mehr in dem Sinne kennt, dass alle Bezüge sich letztlich auf der Ebene dieser Immanenz 87 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

1. Radikale Leiblichkeit

verwirklichen. Wenn das analogische Moment im ontologischen Sinne aufgehoben ist, dann gilt für die radikalisierte Individualität auch nicht mehr eine größere oder geringere Nähe mit dem »göttlichen Prinzip«, wie es innerhalb eines Transzendenzdenkens vorherrscht, sondern die Univozität des Lebens als innere Seinswirklichkeit lässt allen »Sinn« über die Leiblichkeit zu einer Manifestation dieses Lebens werden. Dadurch, dass die Transzendenz in die Immanenz hineingenommen wird, das heißt in der absoluten Selbstaffektion der Passibilität die Geburt des Lebens mit der Geburt der Subjektivität zusammenfällt, gewinnt diese Immanenz eine Mächtigkeit, welche jeder Hierarchisierung standhält, ohne die Singularität des Einzelnen auszulöschen. Wenn sich alles Ausdrucksgeschehen der Individuen nur von einer solchen Immanenz der Leiblichkeit in ihrem Pathos und Affekt her verstehen lässt, dann ist gleichfalls nachzuvollziehen, dass durch die Erneuerung eines solchen Denkens eben keine dogmatischen oder hypostasierten Instanzen mehr die Spitze des Seins als »Höchstes Sein« oder transzendenten »Gott« einnehmen können, sondern mit der Phänomenalität des Fleisches als umfassender Inkarnation die Allgegenwärtigkeit des Lebens in den Mittelpunkt der denkerischen, kulturellen sowie therapeutischen Bemühungen zu treten hat. Gegenüber allen Abstraktionen der Begriffe als Erfassung von Seienden in ihrer Allgemeinheit ist die Phänomenalisierung als Inkarnation gerade nicht abstrakt, sondern identisch mit einem Ich/Mich, welches nur in einem Fleisch als Aktualisierung seiner radikalen Individuierung aus dem Grund des Lebens heraus auch in der Welt handeln kann, was bedeutet, dass der »Mensch« nur alles ist, insofern er einen Leib besitzt, auch wenn gerade dessen immanentes Fleisch unsichtbar ist. Das Fleisch ist dieser rein phänomenologische Zugang zum Sich als Ipseität und zur Welt, insofern es nicht länger spekulativ gedacht wird, sondern die prinzipielle Manifestationsmöglichkeit für die Leiblichkeit darstellt. Der Umsturz durch die phänomenologische Radikalisierung des Erscheinens ist also ohne Beispiel bisher, denn der Leib kann nicht mehr länger als räumliche Materie allein betrachtet werden, so wie auch die atheistische Ethik nicht mehr gegen eine wesenhafte Ur-Bezüglichkeit mit dem absoluten Leben ausgespielt werden kann, da Substanz und Attribute der Modi zusammengehören, ohne bloß ein ontologisches Modell des Denkens wie noch bei Spinoza zu sein, denn auch die Unterscheidungen oder Differenzen als Attribute sind über die affektive Praxis mit der Einheit des Lebens verbunden. 88 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Einheit des Empfindens

Das Verhältnis von Lebensprinzip (»Gott«) und »Sohnschaft« im Leben (Ipseität als leibliche Singularität) bedeutet daher keine begriffliche Gesamtorganisation des Seins als neue metaphysische Totalität, sondern die vor-ontologische Einheit im absoluten Leben, welches von der Geburt der Individuen nicht gelöst werden kann, ist koextensiv mit dem Reichtum der existentiellen Veränderungen, ohne das ursprüngliche Einheitsprinzip dadurch zu naturalisieren, weil die Selbsterprobung in der Affektivität eine »Zustimmung« zum Leben impliziert, die jeden Mechanismus oder Automatismus ausschließt. 33 Innerhalb einer einheitlichen Gesamtheit von Leben/Lebendigem dürfen mithin die formalen und wirklichen Unterscheidungen nicht verwechselt werden, so dass die ratio essendi einerseits und die ratio cognoscendi andererseits zwar unterschieden sein können, aber nicht getrennt sind. Die Einheit des Seins als Leben impliziert dergestalt eine Selbstgegebenheit des Ego als Ich/Mich auf der Ebene der Immanenz, die den wesenhaften Grund der Ursprünglichkeit einer Intensität darstellt, welche jede cogitatio ergreift und dieselbe auch zu einer epistemologischen Bildung von Begriffen führt, die das Wesen des Erscheinens in seiner logischen (transzendentalen) Ermöglichung zu fassen versucht, ohne sich der wirklichen Gründung dieses Wesens als Selbsterscheinen des Lebens zu substituieren. Durch solche Einheit fallen bei aller notwendigen begrifflichen Unterscheidung die vor-ontologische Immanenz des Lebens und die thematische Erkenntnis, welche von welthaften Onta her über Abstraktion und Reduktion gebildet wird, gerade nicht auseinander, auch wenn die Repräsentation als Reich des Begrifflichen niemals das Leben in seiner ursprünglichen Effektivität ersetzen kann. Mit anderen Worten bilden Begriff und Leben keine gemeinsame Wirklichkeit im Sinne korrelativer Erkenntnis, so wie es beim klassischen Subjekt/ Objekt-Verhältnis der Fall ist, insofern Erkanntes und Erkennen einer allgemeinen Idealität angehören, falls man von den jüngeren Infragestellungen dieses Verhältnisses nach Kant etwa absehen will. Für unseren Zusammenhang des Bezuges von Einheit, Relation, Hierarchie, Differenz und Widersprüchlichkeit heißt dies, dass trotz der Duplizität des Erscheinens die Selbstbejahung des Lebens – und dadurch der radikalen Subjektivität als Ipseität – in ihrer absoluten Einheitlichkeit nicht aufgehoben ist. Sowohl die »Abgeschiedenheit« bei Vgl. R. Gély, Imaginaire, perception, incarnation. Exercise phénoménologique à partir de Merleau-Ponty, Henry et Sartre, Brüssel, Peter Lang 2012, 103 ff.

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Meister Eckhart wie die Affektenlehre Spinozas als Ausdruck der Substanz und die pathische Wertlehre Nietzsches als »Wille zur Macht« kann bereits zeigen, dass das einzelne Lebendige durch eine Einheitslehre des Lebendigen gerade nicht neutralisiert wird, um die erzwungene Einheit wie beim Zusammenhang von Gattung und Art zu erfahren, sondern das Singuläre eine natura communis besitzt, welche das Leben in seiner unablässigen Modalisierung selbst ist. Mit anderen Worten wird das Einzelne in der lebensphänomenologischen Einheit der Immanenz niemals als numerische Unterscheidung betrachtet, ist also in diesem Sinne nicht substanzhaft, sondern modal. Die Modalität als praktische Verwandlung der Immanenz, ohne sich selbst zu verlassen, ist also auch als Begehren jeweils wirklich, ohne dass die formale Unterscheidung eine Differenz in das Wesen der Immanenz selbst einführen würde. Auf solchem Hintergrund kann sowohl das Verständnis des absoluten Lebens als immanenter »Gott« bzw. »Gottheit« sowie des Fleisches als »Christus« (Erst-Lebendiger) eine phänomenologische Plausibilität erlangen, ohne theologische Implikationen im Sinne einer Dogmatik einzuschließen. Vom »Leib Christi« aus können wir nämlich unser Fleisch als identisch mit dem Leben selbst verstehen, denn ausgehend von der Immanenz der Leiblichkeit als absolutem Selbsterscheinen wird jeder Seinsbezug verständlich – sei er nun religiös oder nicht. Durch die Annäherung rein phänomenologischer Leiblichkeit und Christi Leib findet sich auch die Theologie prinzipiell in der Duplizität des Erscheinens wieder, insofern sie selbst die Frage des Erscheinens über eine »Offenbarung« zu formulieren versucht. 34 Diesseits historischer wie hermeneutischer Fragen der Textauslegung von Schriften – sei es des Christentums oder anderer Religionen – kann daher jedes reflexive Bemühen in ein Denken des radikal Affektiven integriert werden, denn es handelt sich um ein Leben im verWir weisen auf diese religiöse Dimension im Zusammenhang mit einer radikalphänomenologischen Grundlegung für jegliche Tiefenpsychologie und Therapie sowie Supervision hin, weil sie als Frage der »Patienten« meist immer dann virulent wird, sobald der »Grund des Lebens« als letztes Ahnen der eigenen »Identität« berührt wird. Dies muss dann nicht als explizit religiöse Frage gestellt werden, wenn die entsprechende Person nicht weiter gehen will; sie sollte aber auch nicht aus irgendeinem Unwissen oder positivistischem Dogmatismus des Therapeuten oder Analytikers heraus ausgeklammert bleiben. Vgl. zur Diskussion ebenfalls K.-H. Witte, Zwischen Psychoanalyse und Mystik. Psychologisch-phänomenologische Analysen, Freiburg/München, Alber 2010.

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balen Sinne (leben), welches dann ohne Dogmatismus als »religiös« verstanden werden kann, falls dies eine Reflexion für sich in Anspruch nehmen will, was den A-Theismus im Umkehrschluss nicht ausschließt. Die lebensphänomenologische Radikalität besitzt keineswegs den Anspruch einer höheren Teleologie rationaler oder dialektischer Verknüpfung wie bei Hegel etwa, denn im Leben gibt es keinen Fortschritt (und erschiene er auch noch so revolutionär), sondern nur eine jeweilige Aktualisierung als Iteration der Einheit des Lebens, welches in seinen affektiven Erscheinungen jedoch keine tautologische Selbigkeit darstellt, sondern eine jeweils pathische Verwandlung. In einer Kurzformel ließe sich daher sagen, dass das Leben als Begehren sich wiederholt, ohne jemals dasselbe Leben zu sein – die Veränderung mithin seine einzige Konsistenz darstellt. Muss man daraus schließen, dass eine solche »Feier des Lebens« wie bei Nietzsche auch seine Selbstzerstörung einschließt, den Tod, welche beide als Formen der »Entartung« des Lebens in seine umfassende ontologische Würde mit hinein zu nehmen wären? Versteht man die Veränderungen des Lebens nicht in zeitlicher Hinsicht als eine existentielle Endlichkeit, sondern als Entfaltung all seiner inner-affektiv möglichen Entwicklungen von der Selbsterprobung der Passibiliät aus bis in all deren subjektive und gemeinschaftliche Möglichkeiten hinein, dann gibt es keine Hierarchie der empfundenen Intensitäten – so dass Leid und Freude nicht über den Gegensatz von Tod/Leben oder Selbststeigerung/Selbstverneinung miteinander verrechnet werden können. Stets lebt jedes Individuum in der intensiven Materialität der Affektivität als Erscheinen lebendigen Seins – und dies auch im Sterben. Nach diesen radikal phänomenologischen Analysen lässt sich nicht länger die weit verbreitete (philosophische) Meinung aufrechterhalten, das Leben sei ein ziemlich vager Begriff und beschränke sich auf biologische Funktionen wie Fortpflanzung und Nahrungsaufnahme. Im strikten Sinne heißt Leben im verbalen Sinne »sein« als »leben« im ursprünglichsten ontologischen, existentiellen, ästhetischen, religiösen, therapeutischen und ethischen Sinne, wodurch das rein phänomenologische Verständnis dieses Begriffs der Kontingenz bloß empirischer Verläufe entzogen ist. Indem das bisherige Denken alles auf die metaphysische oder objektive Transzendenz bezogen hat, war die Tradition nicht nur kaum – mit nur wenigen Ausnahmen wie Meister Eckhart, Fichte, Maine de Biran, Nietzsche, Marx, Henry – in der Lage, das Sein als Leben zu denken, sondern sie erreichte auch 91 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

1. Radikale Leiblichkeit

nicht den Sinn einer absoluten Innerlichkeit, deren Realität etwa proto-phänomenologisch beim Evangelisten Johannes vorentworfen worden war. Indem nunmehr eine Lebenswirklichkeit zu denken und zu erproben ist, welche eine wesenhafte Unsichtbarkeit bedeutet, ist sowohl jede Außenheit als mögliche Erklärung des Lebens ausgeschaltet wie überhaupt die transzendentale Möglichkeit, es von irgendeinem Weltsein her zu verstehen. In seiner radikalen Selbständigkeit als Selbstgebung oder Selbstgründung enthält das Leben keinerlei gegenständliche Objektivierung; es stellt sich auch nicht vor den eigenen theoretischen oder sprachlichen Blick (Lacan), um sich selbst wahrzunehmen – mit anderen Worten affiziert es sich allein in sich und für sich selbst durch sich selbst. Dennoch erlaubt es ebenfalls das Auftreten des intentionalen Denkens von dieser ursprünglichen Selbstaffektion her, jedoch in der Gestalt, dass solche Transzendenz – soll sie nicht länger nur als Ek-stase betrachtet werden – in die Immanenz umzukehren ist, und zwar als deren Wesen, sofern diese Immanenz nicht von uns abhängt, sondern eben selbstgebend ist, wie wir sie in der unhinterschreitbaren Passibilität unseres je eigenen Lebens erproben. Auf diese Weise gibt sich jede Transzendenz als reine Immanenz für uns als eine innere transzendentale Erfahrung, wie wir sagten, die als Selbstaffektion zugleich die prinzipielle Offenheit unserer Leiblichkeit zur Welt hin bedeutet, wodurch jedes sichtbare Tun in der Welt zunächst zuvor in dieser inner-transzendentalen, pathischen Erprobung erfolgt. Wie es besonders Kunst und Religion nahe legen, aber gerade auch die Therapie, entspricht dann allem Sichtbaren in der Welt zugleich ein Unsichtbares im immanenten Leben der Ipseität, was wir als Primordialität der Impressionabilität bezeichnen können, sofern jede Impression zunächst reine Affektivität ist. Das Leben, sofern es ohne Außenheit ist, kennt somit auch keine Distanz in sich, wodurch seine Passibilität die Ohnmacht beinhaltet, sich nicht von sich trennen zu können, was gerade in der Therapie so schmerzhaft durchlitten wird. Dies macht im eigentlichen Sinne die Erprobung des Lebens als transzendental affektives Geschehen aus, weshalb die Lebensphänomenologie es als ein »Sich-Erleiden« bezeichnet, welches sowohl jeglichem Schmerz wie aber auch aller Freude zugrunde liegt. Leid/Freude ergeben sich daher nicht aus einer bloß psychologischen Beobachtung, sondern sie sind im Wesen des immanenten Lebens als solchem verwurzelt, weshalb sie – wie das mit sich selbst identische Leben – auch niemals zerstört oder verlas92 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Einheit des Empfindens

sen werden können. Leid und Freude folgen nicht aufeinander im Sinne einer unerklärbaren Zufälligkeit oder sogar im Sinne eines affektiven Chaos, sondern sie existieren miteinander, weshalb ihr Wechsel auch nicht mit der Welt letztlich über die Ereignisse zu verbinden ist. Daher bildet das Gefühl im weitesten Sinne wie der Affekt die transzendentale Antriebskraft einer Leiblichkeit, welche sich auch in der Welt unter pathischen Bedingungen im radikalen Sinne entfaltet. Aber anstatt diese Abfolge von Trieb und Begehren als Gefühl und Affekt in zeitlicher Abfolge zu beurteilen, ist sie genauer in radikal phänomenologischer Hinsicht als eine Historialität der leiblichen Iteration zu betrachten, der wir auch den Namen der immanent triebgenealogischen Narrativität für Leben wie Welt gegeben haben. Losgelöst von einer ek-statischen Zeitlichkeit der Retention und Protention kann man daher gleichfalls – ohne weitere »Metaphysikritik« – von einer effektiv phänomenologischen Präsenz des Lebens sprechen, denn dessen Parusie als immanentes Selbsterscheinen ist kein Fluss in die Außenheit hinein, wie es das post-husserlsche Denken im Allgemeinen in Bezug auf die Zeitlichkeit annimmt. Selbstbezug als Distanzlosigkeit im Sinne einer originären Selbsterprobung definiert nämlich das Erscheinen der Wirklichkeit schlechthin, was wohl die radikalste Herausforderung gegenüber den durch die Differenz markierten Denkweisen der (Post-)Moderne darstellt. Jedes Seiende existiert dann letztlich in seiner impressionalen Inhaltlichkeit von einer selbstaffektiven Ermöglichung eines Fleisches aus, welches nicht der Intentionalität bedarf, um den ursprünglichen ontologischen »Sinn« eines jeden Dings zu gründen, was die Welt als Feld, Horizont, Außenheit und Zeitlichkeit gerade nicht vermag. Leiblichkeit, Immanenz und unmittelbarer Selbstbezug bilden also eine »monadische« Einheit, ohne die Relation zu Welt und Anderen auszuschließen, wie wir insgesamt zeigten, um hier das Wesen der Immanenz als jene transzendentale Struktur der absoluten Subjektivität zu verstehen, die sowohl das Wesen der ursprünglichen Rezeptivität (impressionale Passibilität) wie die Rezeption der Transzendenz (Welt) enthält. Denn wenn das Leben das Selbsterscheinen des Erscheinens bildet, kann es keine Form von Erscheinung letztlich außerhalb von sich belassen, was über die pathische Leiblichkeit geschieht, die als ursprüngliche Selbstrezeptivität damit zugleich – als die »Offenheit« des Immanenten für alles Sein – die Entfaltung ins Ontische hinein beinhaltet. Dieser Weg von der nicht-phänomenalen Phänomenalität des rein immanenten Selbsterscheinens als absoluter 93 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

1. Radikale Leiblichkeit

Subjektivität in den leiblich ermöglichten Bereich des Ontischen hinein als Existenz in einem zweiten Sinne (denn die ursprüngliche »Existenz« bleibt die Selbstaffektion des Lebens als Wirklichkeit), enthält für das Denken zugleich die Möglichkeit einer ursprünglichen Trieb-Genealogie der rein ontologischen Begriffe, das heißt des transzendentalen Verständnisses überhaupt. Die Immanenz der Transzendenz als Gründungsverhältnis ist damit die einzige Weise, wie letztere in der Tat manifest werden kann, so wie andererseits die Radikalität der Immanenz als Ursprünglichkeit eine zur absoluten Selbsthervorbringung des Lebens gewordene »Transzendenz« (als Innerlichkeit) impliziert, um die intensive Konsistenz des Lebens in allen Vollzügen unterstreichen zu können, ohne zu einer theologischen oder schöpferischen Kausalität Zuflucht nehmen zu müssen. Diese radikale Umkehrung von Immanenz/Transzendenz, die auch als »gegenseitige Innerlichkeit« von Lebendigem/Leben bezeichnet werden könnte, macht die vollständige Umkehr des traditionellen Denkens sichtbar, sofern die Immanenz nicht länger ein zeitlich-intentionales Bewusstsein als »Transzendenz in der Immanenz« ist (Husserl), sondern die Transzendenz ihrer Autonomie beraubt wird, nach der sie bisher die letzte ontologische oder zeitliche Rechtfertigung von Sein und Seiendem abgeben soll (Heidegger). 35

Im Kap. II,5 greifen wir unter anderem die Problematik des Transzendenzbegriffs seitens der Daseins- und Existenzanalyse (Binswanger, Heidegger, Frankl) auf, um dadurch ein weiterführendes lebensphänomenologisch wie tiefenpsychologisch fundiertes Therapieverständnis zu präzisieren, von dem wir schon in unserer Einleitung sprachen.

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Die radikal umgekehrte Transzendenz in die Immanenz erlaubt demzufolge die Bestimmung einer unzerstörbaren Sphäre einer Manifestation, Offenbarung oder Wirklichkeit, die jeden Gehalt von Erscheinungen effektiv werden lässt. Nicht nur ist das Verhältnis des Lebens zu jedem Lebendigen als die subjektive Aktualisierung intensiver Leiblichkeit ein Bezug absoluter Immanenz, sondern dieser vollkommen unsichtbare Bezug ist keine metaphysische Frage länger, der auf spekulative Weise wieder alle Zweifel offen lassen würde, sondern es handelt sich um die Gegebenheit der Phänomenalität des Lebens als solcher. Daher wird deutlich klar, dass etwa auch das spinozistische Einheitskonzept der absoluten Substanz eine radikale Umwandlung durch die Einheit des Lebens als Pathos nach sich zieht. Und das Verhältnis der Attribute und Modi zur Substanz, das heißt die Vielfalt oder Differenzen der Erscheinungen, werden durch diese Umwandlung zu einer transzendental-affektiven Wirklichkeit in der Einheit der Immanenz, anders gesagt zu einer pathischen Mächtigkeit als transzendental-lebendige Praxis, die jedem Lebendigen als ursprüngliche Generierung innewohnt und die absolut subjektive Ausübung der Bewegungen und Kräfte erlaubt, welche im Zusammenhang mit dem widerständigen Kontinuum (Welt) die Freiheit unseres Handelns ausmachen. Wie gering auch die jeweilige »Leistung« in ihrer sichtbaren Erscheinung und Wirkung sein mag, sie enthält in sich die Kraft aller Kräfte, nämlich das »Können zu können« des Lebens selbst, welches weder vermessbar noch übersteigbar ist. Die »Schwachheit« widerspricht daher nicht der Intensität der geringsten Kraft, sondern die eigentliche Trennung in der Immanenz, wie Nietzsche sie über das Gefühl des Ressentiments vorausgesehen hatte, ist die Negation der Immanenz als solcher, das heißt die versuchte Leugnung oder Entfremdung des praktischen bzw. ethischen Sinnes des Lebens, wie sie in der Depression zum Beispiel durchlebt wird und so zu einem zentralen Thema der Therapie wird. 95 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

2. Ego, Affekt und Welt

1) Das Verhältnis von Transzendenz, Immanenz und Impressionalität Halten wir die bisherige dreifache Ausklammerung der Transzendenz in lebensphänomenologischer Hinsicht fest, so ergibt sich folgende Übersicht: 1) als Trennung zwischen Schau (videre) und Selbstaffektion oder Pathos (videor), da 2) die Wirklichkeit der Transzendenz selber nur dem immanenten Vermögen der Selbstoffenbarung des Lebens zukommt, insofern 3) das Wesen der reinen Immanenzsphäre als Phänomenalität das eigentliche Thema radikalisierter oder materialer Phänomenologie bildet. Wird mithin das Vermögen der pathischen Selbstaffektion als phänomenologisch absolut angesehen, so tritt die Transzendenz unter diesem Gesichtspunkt als Aufhebung des selbstoffenbarten Gehalts der immanenten Subjektivität auf, ohne dadurch zerstört zu sein, denn sie gehört weiterhin zum Wesen leiblich entfalteter Intentionalität. Das heißt, innerhalb der inneren transzendentalen Erfahrung wird sie beibehalten, um nur als Modus der absoluten Offenbarung des Lebens und dessen selbstaffektivem Gehalt reduziert zu werden. Wird dieses grundlegende Verhältnis übersehen, stellt die Transzendenz insofern eine Minderung des Lebens dar, als dieses dann diesseits der als Objektivierung waltenden Transzendenz faktisch nicht mehr wahrgenommen wird, wodurch das Verhältnis des Lebendigen zu sich selbst als ursprüngliche Ipseität im Leben nur noch als ein besonderer Fall des transzendentalen Verhältnisses des In-der-Welt-seins verhandelt wird. Sofern damit eine Entwertung der schöpferischen oder intensiven Lebensmächtigkeit einhergeht, wie gerade die therapeutische Erfahrung auch zeigt, ergibt sich zudem eine kaum aufzuhebende Kluft in Bezug auf unsere Selbsterkenntnis und das Erkennen der Dinge. Denn die Transzendenz wird dann nicht länger als jene Möglichkeit gesehen, aus der Immanenz des Lebens heraus die prinzipielle Bezüglichkeit zu den Dingen der Welt aufzunehmen, bei der das Bei-sich-Sein als Immanenz nicht verlassen wird, sondern die Transzendenz wird als ein intentionales (zeitliches) Außer-Sich konzipiert, dessen Anspruch letztlich auch jede Identität als ständige Differenz in Frage stellen kann – abgesehen von der ethischen, politischen oder kulturellen Problematik, nur im »Aufgehen« in höhere Missionen (Staat, Gott, Wissenschaft etc.) sein eigentliches Menschsein verwirklichen zu können. Behält aber die Ipseität als absolute Subjektivität sowohl den Zugang zu sich selbst wie zu den Dingen dank pa96 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Das Verhältnis von Transzendenz, Immanenz und Impressionalität

thischer Transzendentalität bei, dann besitzt auch die Transzendenz einen legitimen Platz innerhalb der Immanenz, denn sie ist in diesem Fall nicht nur jene Intentionalität, welche sich auf alles Andere – Menschen wie Dinge – bezieht, sondern auch jener ursprünglich fundierende Akt, welcher die Subjektivität durch deren Geburt im absoluten Leben als Ursprungssein ermöglicht. Wenn also »die Immanenz das Wesen der Transzendenz« ist und bleibt, 1 dann ist sie die konkret begründende Struktur des ursprünglich transzendentalen Aktes, der zugleich mit der immanenten Wirklichkeit hervorgebracht wird, damit die Immanenz die ursprüngliche phänomenologische Sphäre der Offenbarung selbst bilden kann. Ohne solche Transzendenz gäbe es weder Horizont, Zeit noch Welt oder Sprache (Lacan), weshalb sich auch sagen ließe, dass die Transzendenz in diesem Sinne jene Aufgabe bezeichnet, die Kant »transzendental« nennt, nämlich die Bedingung der Möglichkeit von Welterfahrung. Eine solche Verbindung von Transzendenz/transzendental eröffnet dann zugleich den Bereich einer apriorisch affektiven Ästhetik, insofern über die relationale Eröffnung von Welt dank lebendiger oder pathischer Leiblichkeit auch die Einbildungskraft in diese Hervorbringung eingebunden ist. Gegenüber der traditionellen Philosophie und Phänomenologie muss an die Stelle eines formalen Seinsbegriffs also ein Wissen dessen treten, was »ist« und wie es als »Sein« wird oder erscheint. Ein solches Erscheinen als Selbsterscheinen wird zur absolut konkreten Möglichkeitsbedingung des Seins, denn ein Sein, welches nicht erscheint oder erscheinen kann, gibt sich nicht in der absoluten Immanenz des Lebens. In diesem Sinne ist das Sein nichts, es sei denn, es erscheint für uns, insofern sich die Selbstgebung als Selbsterscheinen in der leiblich-subjektiven Immanenz eines jeden lebendigen Menschen verwirklicht. Das Seiende schlechthin ist mithin in sich gegenüber dem Erscheinen fremd, da es außerstande ist, sich selbst zu phänomenalisieren, womit alle rein gesetzten oder epistemologischen Ansprüche der Metaphysik problematisch werden und eine neue Antwort verlangen – wie etwa jene eines absoluten Prinzips oder zeitlichen bzw. kreationistischen Anfangs. Insofern jedoch jedes Seiende einen Bezug zum Erscheinen besitzt, gibt es eine Verbindung dieses Seienden – oder des Seins insgesamt – zur rein immanenten Erprobung der lebendigen Subjektivität, auch wenn die Intentionali1 M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, 97 f. u. ö.

97 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

2. Ego, Affekt und Welt

tät als Bewusstsein von Welt und Zeitlichkeit bzw. Sprache jegliche Erscheinung in eine prinzipielle Außenheit versetzt. Aber dieser Gegensatz zwischen dem, was aus sich selbst heraus erscheinen kann, nämlich das Leben, und der Intentionalität, die alles in eine Distanz der Differenz oder Welthaftigkeit entwirft, impliziert die dem Leben eigene Offenbarung, insofern unsere Leiblichkeit im Leben geboren wird und gleichzeitig aufgrund dieser Intensität ihrer Proto-Relation alle Gehalte des Weltbezuges über die rein pathische Impressionabilität begründet. Man kann daher den Versuch, die Welt rein und absolut für sich theoretisch zu fassen, wie es Heidegger und die meisten neuzeitlichen Denkweisen versuchen, 2 für ebenso verführerisch wie irreführend halten, denn nicht die Welt kann der letzte Maßstab sein, sondern jene phänomenologische Wahrheit, welche nur dann einer wirklichen Erprobung entspricht, falls diese die Offenbarung der ur-anfänglichen Selbsthervorbringung in ihrer reinen Selbständigkeit beherbergt. Davon werden auch die klassischen anthropologischen, psychologischen, ethischen wie therapeutischen oder (neo-)psychoanalytischen Fragen berührt, denn an die Stelle des subjekiv-leiblichen Pathos in seiner phänomenologischen Absolutheit bloß intentionale Verhaltensweisen der »Seele« oder des Körpers einschließlich des »Unbewussten« zu setzen (umfassender vielleicht eine »Lebenswelt« im husserlschen Sinne), bleibt beschränkt durch ein vorausgesetztes Weltverständnis, welches sich gar nicht selbst gründen kann – und sei es über die Zeitlichkeit als das »Außen« schlechthin (Heidegger). All diese Versuche unterliegen letztlich derselben Widersprüchlichkeit der Intentionalität, da diese sich nicht an die Grenzen des von ihr Wahrgenommenen hält, sondern darüber hinaus auch das je Ungesehene erreichen will, das heißt mittels potenzieller Erfüllung alle Aspekte oder Darstellungen eines Seienden. Was aber erlaubt es der Intentionalität, sich über das kontingent Gesehene hinaus zu bewegen? Es ist nichts anderes als die passible Gründung jeglicher Erkenntnis in der Impression, welche in sich selbst ein reines Sich-Erleiden ist – und keine Ekstase oder Hervorbringung ohne Ende im Sinne einer intentionalen Teleologie und Typik. Mit anderen Worten erfüllt die Intentionalität die Funktion der Rationalität, indem sie sinngebend ist, während die Impression als pathische Inkarnation letztlich empfunden und erprobt wird, 2 Vgl. J.-L. Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Berlin, Diaphanes 2003.

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Das Verhältnis von Transzendenz, Immanenz und Impressionalität

so dass es sich bei ihr nicht nur um hyletisch-psychologische Bewusstseinskomplexe handelt wie in Husserls Genetischer Phänomenologie, sondern um einen völlig anderen Bereich, nämlich um den Bereich der Selbstgründung des Lebens. Letztlich kann über eine solche Genesis nicht einsichtig gemacht werden, wie sich aus dem »Fluss der Empfindungen« jemals ein »Sinn« ergibt, der nicht an ein Chaos zurückgebunden wäre, falls die Impression nicht selbst als lebendige Wirklichkeit prinzipielle Strukturen subjektiver Erfahrung als leiblicher Erprobung enthielte. Diese impressionale Selbstgegebenheit verwirklicht sich daher notwendigerweise vor jeglichem phänomenalen Horizont in ihrer pathischen Unmittelbarkeit, was gerade auch für Daseins- und Existenzanalyse gilt. In radikal phänomenologischer Hinsicht muss also gesagt werden, dass sich unser Weltbezug nur über den pathischen Selbstbezug errichtet, da der transzendente Weltgegenstand als ein Widerstand innerhalb der subjektiven Bewegung des organischen – und letztlich pathischen – Leibes als Fleisch gelebt wird. Dabei ist zunächst die Intentionalität als Rationalität ausgeschaltet, sofern die rein phänomenologische Materie als nicht intentional in-formierte »Hyle« eine durch nichts anderes vertretbare Materialität bedeutet, welche die Substanz des reinen Selbsterscheinens selbst ist (Henry). Die lebensphänomenologische Duplizität des Erscheinens zwingt also dazu, die Intentionalität als Illusion offen zu legen, solange nicht gesehen wird, dass das Bewusstsein niemals in der Lage ist, das Sich-Empfinden der Impression als Bedingung jeglicher Wahrnehmungsempfindung hervorzubringen, da solches Sich-Empfinden in der unsichtbaren Lebensimmanenz ruht, welche Affekt, Emotion und Gefühl an sich selbst offenbart, bevor die reflexive oder tiefenpsychologische Bemühung sie als unabdingbare fleischliche Wahrheiten für die (triebabhängige) Vorstellung in Anspruch nimmt, welche aufgrund ihrer Distanzierung stets eine Veränderung bedeutet. Die immanente Wirklichkeit der Affektivität lässt es radikal phänomenologisch nicht zu, dass sie sich in die Welt entwirft, um dort als Empfinden in ihrer Ursprünglichkeit wahrgenommen zu werden, was eben den Großteil existentieller Konflikte und ihrer Tragik ausmacht. Denn etwas sehen zu wollen, was prinzipiell nicht sichtbar ist, verkennt die Möglichkeiten dieses Wollens selbst, welches damit das Selbstverständnis des Menschen in seiner affektiven Dramatik leicht unaufgeklärt lässt. Wenn daher die Impressionabilität das »Bewusstsein« oder cogito selbst im originär phänomenologischen Sinne ist, dann muss der Zu99 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

2. Ego, Affekt und Welt

gang zu einem solchen Bewusstsein ein anderer sein, 3 was auch für die Therapie grundlegend ist. Ohne also Spinozas spekulativer Setzung von Substanz, Attributen und Modi als Univozität des Seins zu folgen, lässt sich phänomenologisch dennoch daraus entnehmen, dass alles Leiblich-Affektive dieselben als das eine Leben enthält und dadurch unser Leben keinen zusätzlichen Sinn (etwa im Sinne einer natürlichen Theologie) erhält, da keinerlei Transzendenz sich substituierend in diese pathisch-intensive Individuierung als rein praktischen Vollzug der immanenten Ursprungswirklichkeit einfügt. Vom rein affektiven Leben her gesehen ist also jedes Geschehen sowohl möglich wie wirklich, das heißt konkret gegeben, nämlich über die als zentral erkannte impressionale Leiblichkeit, welche alle denkbaren »affektiven Zustände« als »Triebschicksal« (Freud) durchlaufen kann, ohne sich darin im Sinne einer psychologischen oder existentiellen Dramatik zu erschöpfen. Dadurch ergibt sich natürlich eine epistemologische Problematik für alle Begriffe des Denkens, denn sie sollen etwas zeigen und aussagen, was niemals ansichtig werden kann. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Immanenz wie ein absolutes »Bild« der Welt ist, jene Imago Mundi, welche die Einbildungskraft in ihrer schöpferischen Imagination entwirft, um all jene Vorstellungen und Begriffe entstehen zu lassen, in denen sich die Wirklichkeit des lebendigen Leibes als unendlicher Rahmen des Denkbaren ausgestalten kann – unter Einbezug von Ästhetik, Ethos und Religion, wobei die zuvor aufgezeigten Grenzen jeder Intentionalität, Metaphorik und Symbolik bewusst bleiben müssen, um die radikale Phänomenologie nicht ihrerseits wieder zu einer endlosen Hermeneutik werden zu lassen. 4 In diesem Zusammenhang muss gesagt werden, dass die lebensphänomenologische Subjektivität weder rational ist noch ein besonderes Subjekt meint, sondern jenes intensive und immanente Grundgeschehen bildet, aus der sich die Inkarnation als umfassender Ausdruck der Leiblichkeit in inner-affektiver wie existentieller Hinsicht ergibt, was wir auch die inner-affektive »Narrativität« nannten, um den ebenso beständigen wie modalen Charakter dieser sich in sich

Vgl. R. Kühn, Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche, Freiburg/München, Alber 2009, Kap. I,1: »Materialität und Interpretation der Gefühle« (S. 15–38). 4 Zur Schwierigkeit dieses Vorgehens vgl. etwa R. Scheidegger, Radikale Hermeneutik. Michel Henrys Phänomenologie des Lebens, Freiburg/München, Alber 2012. 3

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Das Verhältnis von Transzendenz, Immanenz und Impressionalität

selbst offenbarenden oder sprechenden »Fleischwerdung« zu unterstreichen. Als vor-philosophische Wirklichkeit besagt dies, dass sich keine Seinsmöglichkeit zunächst nach den logischen und rationalen Regeln eines Diskurses sagen lässt, da alles Wissen und alle Syntagmen als grammatische oder rhetorische Zusammenstellungen zu betrachten sind, welche auf eine originäre Narrativität des Pathos als Ur-Performativität verweisen. Es gibt mithin eine ur-anfängliche ontologische Wirklichkeit, die vor jeder Konzeptualisierung mit ihren sprachlichen Bedeutungsreferenzen oder Signifikanten (Lacan) gegeben ist, was aber grundsätzlich auf alle Disziplinen auszuweiten bleibt, auch auf eine »wissenschaftlich« verstandene Ästhetik, Ethik oder Therapie eben. In diesem Sinne betrachten wir eine radikale Lebensphänomenologie mit ihrer rein immanenten Narrativität als die denkerische wie praktische Notwendigkeit, sich epistemologisch selber nur als Deixis auf eine reine Selbstgegebenheit von lebendigen Modi hin zu verstehen, die in der Immanenz und ihrer Parusie ruhen. Dennoch möchten wir Sprache, Philosophie und Wissenschaften oder andere »Lebensformen« nicht nur als Oberfläche des Intensiven verstehen, da die affektive Transparenz zum unmittelbaren Leben stets durchaus gegeben ist, sofern das intentionale wie vorstellende Bewusstsein gegen-reduktiv erprobt wird, das heißt als pathischer Bezug zur Univozität der lebendigen Affektion ohne Analogie. Diese Univozität ist nicht die gedachte Einheit der Vielfalt, sondern die Absolutheit der Immanenz in all ihren Modi, wodurch sie die Grundlage von Erscheinen wie Erscheinungen bleibt, nämlich des einfachen Lebens wie der rationalen Konzeptualisierungen. In einer Kurzformel ließe sich sagen, dass die Immanenz das Leben definiert, welches sich als Denken des Seins sagt, wobei gilt: Die Immanenz ist das Innerste des Denkens, welches jedoch für letzteres ein Außen wird, falls es nicht erprobt wird. Obwohl also nicht vorstellbar, ist die rein affektive Immanenz der ebenso grundlegende wie vereinheitliche Grundbegriff der radikalen Phänomenologie, wobei jedoch der Begriff hierbei eben nicht als Bestimmung eines allgemeinen Wesens des zu Erkennenden zu fassen ist, sondern weiterhin als Deixis auf eine Vorgängigkeit hin, die alles sein lässt, was überhaupt empfunden und gedacht werden kann. Einheit der Immanenz und Vielheit der Begriffe, um diese Einheit zu sagen, stehen also in einem besonderen Verhältnis zueinander, nämlich zum einen in einer wesenhaften Ordnung der Hervorbringung der Fundierungskonzepte wie Immanenz, absolute Subjektivität, Ich/Mich, Leiblichkeit, Pathos etc., sowie an101 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

2. Ego, Affekt und Welt

dererseits als ein Transzendentalismus, der nicht rational ist, sondern aufgrund des Hervorbringungsmodus als Erprobung eine stets konkrete Praxis darstellt, die im Nachdenken der Transparenz zwischen Begriff und Immanenz von jedem mitvollzogen werden muss, der sich diese Ursprünglichkeit zugänglich machen will, wie es in der Therapie zumeist im Zusammenhang von Ich-Erleben und verzerrter Selbst-Identität ansteht. Diese Transparenz zwischen Sein als Leben und Denken als Leben ist für eine radikale Phänomenologie nur insofern möglich, als wir an die Umkehrbarkeit zwischen der Immanenz des Lebens und der absoluten subjektiven Leiblichkeit zurückerinnern können, das heißt als pathische Hervorbringung, die in letzter Hinsicht ebenfalls eine Gleichheit zwischen Sein und Denken erlaubt, insofern eine fundierende Relationalität auch der Transzendenz vorauszusetzen ist. Die Einheit von Sein und Vielfalt, die jedes Denken zu verstehen versucht (auch in der Kritik über die »Differänz« als Dekonstruktion), verweist auf ein Absolutes, welches nicht nur eine methodologische Regel vorgibt, sondern auch ein Absolutes des Lebens, worin sich alle Denkbewegungen vollziehen müssen. In Bezug auf Intentionalität und Transzendenz erscheint dieses Absolute wie eine Negativität, da alle ekstatischen Bezüge aufzuheben sind, um das pathische Leben zu erproben, aber diese Erprobung selbst ist sowohl im Sinne der dritten Erkenntnisart von Spinoza wie der Intensität des Lebens nach Nietzsche oder der »Anstrengung« nach Maine de Biran eine unaufhebbare Positivität. Letztere sagt nichts über die objektive Chronologie der Existenz aus, über die Außenbezüge der Relationen innerhalb der Welt; als gegen-reduktive Affektivität hingegen gesehen schreibt sich jede Weltpraxis in diese immanente Positivität ein. Auf diesem Wege ergeben sich transzendentale Eröffnungen aus dem immanenten Hervorbringungsprozess des Lebens heraus, die als Erkennungsmerkmale für einen lebensphänomenologischen wie tiefenpsychologischen Diskurs gelten können, der auch konzeptuell – und nicht nur apophatisch – über die radikale Wirklichkeit Rechenschaft ablegen will. Diese »Selbstexplikation« des Lebens verändert natürlich das traditionelle metaphysische Denken, wie wir sahen, weil Vernunft, Bewusstsein und Erkenntnis als auch Unbewusstes durch eine absolute Intensität oder einen Affekt abgelöst werden, der von keiner Logik der Welt umrissen werden kann. Damit ist aber keineswegs die Freiheit aufgegeben, denn die genannte Affektivität gründet gerade eine ethische Existenz radikaler oder unmittelbarer Wahrheit, welche nie aus der 102 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Das Verhältnis von Transzendenz, Immanenz und Impressionalität

Einheit entlassen ist, auch wenn die Vielheit der Ereignisse, Objekte und Situationen anerkannt wird. Die Ur-Passibilität verweist nämlich stets auf eine einzige Ipseität als absolute Subjektivität, die unteilbar ist, sich mithin auch nicht entfremden kann, sondern grundsätzlich zu einer Selbststeigerung oder Intensivierung des Lebens als Existenz einlädt. Wenn begrifflich nichts in der Selbstgebung des Lebens vorgegeben ist, dann schließt dies nicht aus, wie wir sagten, dass transzendentale Hinweise nicht nur das Leben zu »denken« geben, sondern auch zur Konzeption einer Ethik und Therapie aufrufen, die unsere subjektive wie gemeinschaftliche Praxis einsichtig machen können, ohne sich normativ abschließen zu müssen, da die Selbstbewegung des Lebens sowohl die intensive Materialität desselben wie sein reflexives und imaginäres Bild (Phantasma) hervorbringt. Was radikal phänomenologisch allerdings ausgeschlossen ist, betrifft eine nicht mögliche »Selbstgebung« als Selbsterscheinen in der dritten Person, das heißt als ein neutraler oder anonymer Seinsvorgang, da die Immanenz eine subjektive Absolutheit impliziert, welche das Sein und Denken nicht an ein solches amorphes Wesen der Ipseisieirung verweisen könnte. Wir haben ausreichend unterstrichen, dass es sich dabei nicht um eine konstituierende Subjektivität im Sinne der klassischen Phänomenologie handelt, sondern um eine in reiner Passibilität sich erprobende Subjektivität, welche Analogie und Transzendenz im Sinne der Ideenvorstellung ausschaltet, weil damit über die Distanz ein doxisches Element in den immanenten Gründungsbezug von Subjektivität und Leiblichkeit hineingetragen würde – das Denken in irgendwelchen Figuren aber eben aus der pathischen Selbsthervorbringung des Lebens ausgeschaltet sein muss. Tritt daher die Intensität an die Stelle des Denkens im Sinne einer primordialen Praxis einschließlich des Weltbezugs, dann deshalb, weil die Vernunft nicht dem Sein als Leben insgesamt koextensiv sein kann, insofern die reine Immanenz des Lebens keinen Blick im Sinne einer intentionalen Schau zulässt. Im Welthorizont können die Individuen ganz unterschiedliche Weltbezüge leben, da die Welt nicht außerhalb desjenigen existiert, der sie ausdrückt, aber im Bereich der transzendentalen Geburt gibt es nur eine Weise geboren zu werden, nämlich als Selbst-Affektion ohne Distanz. Wird letztere gegen-reduktiv berücksichtigt, dann ist die Vielfalt der Weltinterpretationen kein Widerspruch zur Einheit des Lebens und der Individuen, da die affektive Immanenz letztlich all die möglichen Relationen begründet, welche die Menschen an die Welt binden. In diesem Sinne bewegt sich die 103 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

2. Ego, Affekt und Welt

Immanenz dann auch bis in das geringste Weltverhältnis hinein, aber sie darf nicht als »Immanenz von etwas« im Sinne einer psychologischen Innerlichkeit oder Introspektion missverstanden werden, sondern sie ist als affektiv-leibliche Ermöglichung im radikalen Sinne aufzufassen, das heißt als Unmittelbarkeit der jeweiligen Impression, in der sich die intentionalen Wahrnehmungen und Urteile errichten. Das rein phänomenologische Leben bleibt auf diese Weise allein sich selbst gleich in seiner hervorbringenden Einheit, aber über die leiblich-immanente Intensivierung oder subjektive Praxis kann es auch als das Gewebe des Seins betrachtet werden, nämlich als jene einzigartige Weise, in der Selbstpräsenz des Leibes den nie unterbrochenen Bezug zum Leben zu erproben und zu verwirklichen. Sieht man von den disziplinären Grenzen zwischen Ethik, Religion und Therapie ab, so ist das Leben in diesem ur-anfänglichen Sinne nicht »ethisch« oder »religiös« bzw. »krank« zunächst, sondern jene Mächtigkeit oder reine Positivität, welche sich im Prozess ihrer Entfaltung selbst verwirklicht – nämlich in der absoluten Ankünftigkeit seiner selbst als Subjektivität zu leben, ohne diesem Vorgang Attribute oder Qualitäten aus später entstehenden Bereichen zuzuschreiben. 5 Reduziert auf diese Grundwirklichkeit bedeutet Leben dann »zu sein« als »zu leben« im ursprünglichsten Sinne, was identisch ist mit seinem Sich-Erscheinen als Sich-Offenbaren, wodurch der Lebensbegriff seiner langen philosophischen Unbestimmtheit entrissen ist und eine radikale Innerlichkeit bedeutet, welche zum Überdenken des Seins in der Tradition als Außenheit, Transzendenz und Zeitlichkeit wie Sprache (Lacan) zwingt. Wenn das Leben diese Offenbarung im Abgrund seines Seins ist, mithin eine intensive Unmittelbarkeit bedeutet, dann bietet sich dieses selbstgründende Leben nicht nur keinem Blick dar, um es thematisch oder objektiv fassen zu wollen, sondern es ist auch nicht bewusst, unbewusst oder vorbewusst zu nennen, sofern diese Begriffe neuzeitlich durch die idealistisch reflexive Philosophie und ihre nachfolgende Kritik wie etwa in der Psychoanalyse vorgeprägt sind. Wir kennen vom »Leben« nur innerhalb der leiblichen Individuierung als Welterscheinung Teilaspekte aus einem Prozess als immanenter Lebensbewegung, der sich nie veräußert und in diesem Sinne radikal »unbewusst« genannt werden kann, sofern damit die Abwesenheit jeglicher äußeren Teleologie Vgl. für die Konsequenzen hieraus hinsichtlich (Gegen-)Übertragung, Supervision wie Religion/Therapie bes. unseren »Ausblick«.

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Das Verhältnis von Transzendenz, Immanenz und Impressionalität

und Sichtbarmachung gemeint ist. Es ist also besser zu sagen, dass das absolut phänomenologische Leben sein eigenes Wesen ständig hervorbringt, indem es in sich selbst ankünftig wird, das heißt als SichEmpfangen im Sich-Genießen bzw. als Sich-Erleiden und Sich-Erfreuen, welche die innerste Erprobung als Begehren von allen Erfahrungen darstellen. Dieser Selbsthervorbringungsprozess kann nie unterbrochen werden, sich nicht verändern im Sinne eines AndersWerdens, was selbst für den Bezug dieses Lebens zu jedem Lebendigen in seiner Praxis-zur-Welt hin gilt, denn was dort »anders« wird, sind nicht die erwähnten transzendentalen Strukturen der Immanenz, sondern das jeweilige Bild ihrer intra-mundanen Entfaltung aufgrund des Zusammenhangs von organischem Körper und subjektivem Leib als variiertes Erleben der Weltwiderständigkeit. Will man die letzten eidetischen Konsequenzen aus diesem immanenten Leben/Welt-Verhältnis ziehen, dann kann sicher gesagt werden, dass es sich um eine ständige Implosion der Welt in die Mächtigkeit der Selbstbewegung der leiblichen Subjektivität hinein handelt – oder auch, dass die Welt im Leben ist, und nicht umgekehrt. Dennoch ist dieses Verhältnis nicht vergleichbar mit dem reflexiven oder hermeneutischen Verhältnis von Signifikat und Signifikant, da die Transzendentalität des Sich kein intentionales, sprachlich-linguistisches oder kognitives Verhältnis darstellt, sondern eine sich selbst steigernde Bewegung der immanenten Materialität, die »expansiv« im Sinne dieser inneren Bewegung genannt werden kann, da sie alles berührt, was in ihre Impressionabilität eintritt. Insofern hieran Affektivität wie Begehren ursprunghaft beteiligt sind, ergibt sich aus letzteren nicht nur eine ständige selbstaffektive Identität für das Individuum, sondern diese Affektivität erfüllt alle Lebenserscheinungen. Letztere »übersteigen« zu wollen, heißt sich allein in den Bereich der Weltontologie und der rationalen Sprache zu begeben, anstatt in jedem sinnlichen wie intelligiblen Gehalt die Immanenz ohne Bruchstellen wieder zu finden. Diese ursprüngliche Allgegenwart der Immanenz kann daher nicht nur als achtsame Einstellung gegenüber dem Leben in einem psychologischen oder spirituellen Sinne verstanden werden, sondern sie bedeutet als Abwendung von Ressentiment und schlechtem Gewissen bzw. vom asketischen Ideal im Sinne Nietzsches die Absage an jede Form von Nihilismus, welcher den Lebendigen von seiner ihm eigenen Kraft trennen will, um das Leben selbst in einer tödlichen Selbsthemmung zu lähmen. Diese wäre der eigentliche »Solipsismus«, denn die Immanenz des Sich wendet sich von 105 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

2. Ego, Affekt und Welt

keiner Relation zu Welt und Anderem prinzipiell ab, da die transzendentale Ur-Situativität der absoluten Subjektivität selbst eine Ur-Relation darstellt, aus der sich alles erbaut. Wenn nach Nietzsche hierbei der »Tod Gottes« durch den Nihilismus nicht unbedingt auch den Verlust seines Platzes schlechthin bedeutet, den Gott in der Tradition eingenommen hatte, so könnte natürlich kritisch überlegt werden, ob eine radikale Absolutheit des Lebens sich nicht bloß dem alten Dogmatismus substituiert, um die Existenz des Menschen weiterhin »transzendent« oder »teleologisch« zu stabilisieren. Solange jedoch die radikale Phänomenologie die Fluchtlinien einer metaphysischen Erneuerung erstellt, welche der Intentionalität und Vorstellung die doxische Vorherrschaft entzieht, die sie bisher einnahmen, dann fällt darunter auch »Gott« als rein gedachte Instanz, um eine Unmittelbarkeit der religio als Freiheit des Handelns zu leben, welche nur der Unmittelbarkeit der Absolutheit dieses immanenten Lebens verpflichtet ist. Im Prinzip ist davon keine Lebenspraxis in ihrer Intensität ausgeschaltet, wofür wir besonders schon die Ästhetik und Kultur nannten, aber wovon auch jede andere Tätigkeit nicht ausgeschaltet ist – die Frage bleibt nur, ob in Zukunft eine umfassende kulturelle Form gefunden wird, um die Absolutheit der immanenten Bindung an ein solches absolutes Leben in jedem Vollzug und Modus anerkennen zu können, was auch für die Therapie gilt. Trotz der notwendigen Abgrenzung von der Intentionalität als Erscheinen der Dinge in der Distanz können wir letztlich sagen, dass auch die Welt mithin »immanent« ist. Daraus ergibt sich phänomenologisch des Weiteren, dass sie die transzendentale Bedingung der Räumlichkeit der Phänomene bleibt, insofern sie die ursprünglichen Horizonte der Sichtbarkeit und Entfernung entwirft, in denen sich die Dinge uns zeigen können, aber die Nähe und die Ferne selbst zwei Modalitäten sind, die als nicht-figurative Räumlichkeit in Übereinstimmung mit der Phänomenalität des Lebens gesehen werden können. Indem die Lebensphänomenologie über die Duplizität des Erscheinens zunächst eine Analyse des Ich/Mich vorstellt, welches als absolute Subjektivität dem Wesen der Phänomenalität des Lebens gleich ist, ist ein Distanz-Verständnis als Trennung von einem selbst nicht möglich, während gerade im heideggerschen Sinne das Sein sich transzendent verhält, das heißt gegenüber dem je Seienden fremd ist, sich ihm entzieht, wodurch die Subjektivität als Dasein sich in einem intentionalen oder sich sorgenden Verhältnis zu allem befindet. Im lebensphänomenologischen Sinne muss hingegen ein Verhältnis zwi106 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Das Verhältnis von Transzendenz, Immanenz und Impressionalität

schen dem transzendenten »Außen« der Welt und dem »Inneren« jedes Lebendigen (Dasein) so konzipiert werden, dass die Primordialität des reinen Erscheinenswesens des Lebens die phänomenologische Sekundarität des Seienden (wie des Daseins) nicht ausschließt, sondern begründet. Betrachtet man wie Heidegger ausschließlich das Seiende (die Welt oder das In-der-Welt-sein) als die maßgebliche Transzendenz, dann impliziert der Horizont der Eröffnung durch das Sein ein Nichts und mithin ein Außer-Sich. Der Gegensatz zwischen dem Sein und dem Nichts wäre dann nämlich die Garantie ihrer Einheit, insofern nichts Seiendes das Sein zu definieren vermag (und in diesem Sinne das Sein ein Nichts ist). Was gerade die französische Phänomenologie Heidegger vorwirft, ist dieser Gründungscharakter durch das Nichts, welches zum Wesen des Seins hin öffnen soll, weil dadurch nicht nur eine Selbsttrennung des Seins eintritt, sondern die Wirklichkeit dadurch ihrerseits leer oder ephemer in einer als Transzendenz verstandenen Welt wird. Entgegen dem Versuch, im Horizont der Welteröffnung als Seinseröffnung die reine Phänomenalität zu finden, wird lebensphänomenologisch eine ursprüngliche Manifestation des Seins als Leben aufgesucht, welches in sich selbst keinerlei Bezug zum Seienden (Dasein) hat, insofern letzteres konstituiert wird, und in diesem Sinne sekundär als Bewusstsein oder Verstehen bzw. Vorstellung ist. Natürlich spielt die Vorstellung im Zusammenhang mit der transzendentalen Einbildungskraft eine wichtige Rolle beim ontologischen Verständnis des Seins als »Außer-Sich« oder »Vor-Gestelltes«, aber dieses Wissen muss vom »natürlichen Wissen« des Seins abgehoben werden, welches mit der »ursprünglichen Impression« identisch ist. 6 Die Impression verweist in der Tat darauf, dass es eine »Existenz an sich« (das Leben) gibt, während die Vorstellung nur eine Modalität derselben bildet. Das natürliche oder unmittelbare Sich-Selbst-Wissen der Impression impliziert mithin eine ontologische Grundlegung der Wirklichkeit, während die Vorstellung eine Frage der welthaften Problematik bildet und daher ebenso unsicher und entfremdend wie die Bewusstseinsintentionalität ist. Hinzu tritt, dass im Unterschied zum Denken Hegels wie Heideggers etwa die Lebensphänomenologie einen meta-historischen Anspruch der Seinsmanifestation vertritt, insofern die Wahrheit des Seins als Leben vor jeder Form von Geschichtlichkeit gegeben ist, mit anderen Worten letztlich diese selbst 6

Vgl. M. Henry, Inkarnation (2002), 99 ff.

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2. Ego, Affekt und Welt

bildet, sofern die unsichtbare Geschichte die leibliche Praxis aller Individuen bedeutet, welche allein das Wirkliche geschichtlicher Gebilde und Bewegungen begründen kann. Sowohl in Bezug auf die Welt wie die Geschichte (und damit die Zeitlichkeit schlechthin) gilt, dass die transzendentale Wahrheit nicht auf irgendeinem teleologischen, diskursiven oder dialektischem Wege zu erreichen ist, sondern bereits a priori gegeben wurde, insofern sie in der absoluten Hervorbringung aller Wirklichkeit im Selbsterscheinen des Lebens beruht. Sofern man das Dasein als menschliche Subjektivität betrachtet, was bei Heidegger 7 nicht immer deutlich unterschieden ist, muss auch gesagt werden, dass dann der »Mensch« nicht das Prinzip der Intelligibilität der Phänomene sein kann, denn er situiert sich inmitten der Außenheit, welche nicht imstande ist, jene Selbsthervorbringung auszusagen, welche die Selbstgebung des Lebens auszeichnet. Wie immer man die Korrelation zwischen Sein und Dasein bewertet, insofern nach Heidegger sich das Sein im verstehenden Dasein entbergen soll, ergibt sich eine Kontingenz des Seins, welches seinen Namen nicht durch sich selbst sagen kann, während dank der passiblen Immanenz der Mensch im lebensphänomenologischen Sinne nicht der Träger des Wesens des Erscheinens sein kann, ohne ihn in seiner welthaften Endlichkeit von der Absolutheit der immanenten Lebensoffenbarung als Ipseität abzutrennen. In diesem Zusammenhang ist auch nochmals der Begriff der Situation in Bezug auf das Weltsein anzusprechen, denn darüber lässt sich letztlich verstehen, dass die Immanenz selbst so aufzufassen ist, dass sie die Transzendenz und Welt in sich einschließt, ohne ihnen selber als Phänomen anzugehören. Bei Heidegger wie Sartre ist die Situation auf die Nichtigkeit wie auf die Zeitlichkeit gegründet, insofern die Geworfenheit in die Welt keine Selbstgründung des Daseins erlaubt; aber es muss gesehen werden, dass hierbei die Nichtigkeit deutlich auf die Welt (als Nichts des Seins) verweist und die Zeitlichkeit eigentlich der reinen Phänomenalität des Daseins entsprechen soll, insofern es sich in allem – bis hin zum Tod – zeitlich als das Ergreifen von Möglichkeiten auslegt. Auf diese Weise wird der absolute Unsichtbarkeitscharakter der reinen Lebensoffenbarung nicht ausreichend berücksichtigt, denn er gehört weder zur Welt noch zu deren Horizont als Zeit und Nichts, Vgl. Was ist Metaphysik?, Frankfurt/M., Klostermann 9 1965, 50: »Das Opfer ist heimisch im Wesen des Ereignisses, als welches das Sein den Menschen für die Wahrheit des Seins in Anspruch nimmt.«

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sondern zur reinen Positivität des Erscheinens als solchem, selbst wenn dieser Unsichtbarkeit kein »Gesicht« zugesprochen werden kann. Dies macht sie aber nicht zu einem spekulativen »Gegen-Wesen« des Erscheinens, sondern in dieser Unsichtbarkeit ruht gerade die Absolutheit ihres Selbsterscheinenscharakters als Immanenz. Welche Aspekte aus der Phänomenologie seit Husserl auch immer angesprochen werden, es ergibt sich als Konsequenz, dass die Kritik der klassischen Ontologie bis in diese Phänomenologie hinein radikal ausfällt, weil eben das Sein als Leben auf keinem Wege zu einem Seienden vor dem Blick des Bewusstseins werden kann, was auch für die »Stimmungen« im heideggerschen Sinne gilt, sofern sie dem Verstehen oder Eröffnen von Weltsinn zugeordnet werden, anstatt als Affekt, Begehren oder Trieb zunächst mit der immanenten Leiblichkeit und deren unmittelbarer Offenbarungsstruktur identisch zu sein. Wenn somit das eigentliche Verständnis des Seins mit der universellen Struktur des absoluten Wesens als Leben identisch ist, dann geht dies über die Auffassung der Subjektivität als Gesamtheit der Intentionalitäten hinaus, denn die ontologische Aufklärung des ursprünglichen Seins unseres subjektiven Leibes bildet die umfassende Analyse der Sphäre absoluter Subjektivität als Immanenz oder Pathos. War der Zugang zur Ontologie traditionell bisher das Bewusstsein, die Intentionalität oder die Eröffnung bzw. Differenz als Absolutheit der Existenz als Dasein, so ist deren strukturelle Neutralität nicht länger beizubehalten, sondern im effektiven Verwirklichungsprozess des Lebens aufzusuchen, das heißt im Fleisch oder in der Inkarnation als Erprobung der je lebendigen Ipseität, die dann auch nicht von theologischen Vorgaben im Sinne einer doxa mehr abhängig ist, sondern sich als umfassend radikal bzw. material phänomenologisch erweist. Auch Welt ist damit letztlich nicht mehr als eine intersubjektive Sinngebung im Sinne von Lebenswelt bloß zu verstehen, sondern eher als eine intra-subjektive Phänomenalisierung, welche alle affektiven Erlebnisse der Individuen untereinander verbindet. Das Erscheinen ruht mit anderen Worten im originären Sinne daher nicht mehr in der Transzendenz, sondern im Sich derselben, nämlich in der Ipseität, durch welche die Immanenz ihre absolute Existenz in alles investiert, einschließlich der Welt. Und wenn nach Heidegger das Dasein nicht selbst entscheiden kann, ob es ins Dasein gelangt oder nicht, so ist damit im Grunde die Möglichkeit der Freiheit selbst negiert, veräußert an die Ek-stase, in der das Dasein – wie das »Ich« bei Lacan – nicht wirklich in sich kommen kann. Gibt es 109 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

2. Ego, Affekt und Welt

hingegen eine Freiheit als lebendiges Individuum, mithin vor jeder singulären (sprachlichen) Entscheidung in der Innerlichkeit der Lebensselbsthervorbringung als solcher, das heißt als potenzialisierte Immanenz, dann ist die Freiheit ein prinzipielles Können, welches über die Iteration leiblicher Existenz zu einem an sich unbegrenzten Freiheitsvollzug werden kann, sofern die Zustimmung in diese Immanenz nicht über eine Selbstnegation als ontologisches Ressentiment bzw. »Todestrieb« verraten oder aufgekündigt wird, wie es in der Therapie oft zu klären bleibt. Wir können also prinzipiell festhalten, dass die Korrelation von Individuum/Welt anfänglich ontologisch ist und der immanenten Hervorbringung nachfolgt, und obwohl es sich dabei um einen »sekundären« Vorgang in Abhebung von den ursprünglichen lebendigen Fundierungsverhältnissen handelt, hebt die radikale Lebensphänomenologie damit die Entfremdung im Sinne klassischer Endlichkeit und Neo-Psychoanalyse auf und macht die Freiheit auf der Grundlage der Immanenz zu jener Verbindung, welche uns ursprünglich mit den Dingen verbindet. Als Außenheit ist die Welt also keine Verneinung der phänomenologischen Konsistenz des Seins als Leben, sondern dessen Ins-Werk-Setzen als lebendige intentionale Entfaltung. Unter spinozistischen Gesichtspunkten könnte man auch sagen, dass die Freiheit der potenziellen Entfaltung (Begehren als conatus) wie notwendig mit der ursprünglichen Affektivität des Seins (Substanz) verbunden ist, so dass die lebendige Wirkweise der phänomenologischen Materialität der Leiblichkeit nicht nur die »Gesamtheit der Seienden« (Attribute wie Modi) einschließt, sondern ein Hinausgehen über dieselben, nämlich als Errichtung des Seins als solchem, das heißt als der effektive Ausdruck des Lebens in seiner immanenten Fülle (Univozität des Seins). Natürlich bleibt die weltliche Existenz gemäß den raum-zeitlichen Gesetzen für den äußeren Blick fragmentiert, aber das Individuum – als lebendige Ipseität betrachtet – kann sich in die Welt dergestalt einfügen, dass keinerlei Vernichtung (fading, aphanisis nach Lacan) seiner immanenten Individualität ansteht. Das freie Sich-Ausrichten auf die Dinge hin als ein grundsätzliches »Sich-Beziehen auf …« beinhaltet demzufolge ein »Sich-Selbst-Übersteigen« im Sinne historischer Phänomenologie wie bei Husserl und Heidegger, aber solche Intentionalität als Transzendenz des Daseins ist ein Übersteigen, welches sich selbst niemals verlassen kann, da es in sich als Immanenz bleibt, um sich vollziehen zu können. 110 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Das Verhältnis von Transzendenz, Immanenz und Impressionalität

Aufgrund dieser inneren Verschränkung von Welt und Leben kann weiter gefolgert werden, dass durch den Selbstvollzug des Ich/ Mich in die Welt hinein die ursprüngliche Bedingung der immanenten Phänomenalisierung als Leben nun auch die Welt als Bedingung der Möglichkeit des Ausdrucks des Lebens betrachtet werden kann. Die Welterfahrung wird mit anderen Worten zur transzendenten Größe des lebendigen Leibes und seiner inneren Bewegung als Potenzialität, ohne dass der Charakter der Welt als widerständiges Kontinuum im Sinne Maine de Birans aufzugeben ist. Die Welt wird dadurch sowohl zur notwendigen Korrelation des lebendigen Leibes wie zum kontigenten Ausdruck dessen, was sich innerhalb des Lebens vollzieht, so dass die fleischliche Konsistenz des Ich/Mich die Gewissheit der Weltwirklichkeit stets mit impliziert. Leib und Welt verhalten sich auf diese Weise also nicht nur als intentionale Korrelation zueinander, sondern sie verweisen auch ständig immanent vom einen zum anderen, damit sowohl Leben wie Welt die ihnen jene eigene Wirklichkeit wesenhaft manifestieren kann. Die Bewohnung der Erde, auch »Erdeinverleiblichung« (corps-propriation) von Henry genannt, wird damit zu einem ontologischen Grundcharakter, um ebenfalls den Nihilismus der Welt-Entfremdung aufzuheben, 8 denn wenn diese Weltintegration vom Leib ausgeht, besitzt die Welt keinen nur unpersönlichen oder rein empirischen Charakter, sondern die Eigenschaft einer wirklichen »Welt-für-das-Leben«. Sie bleibt in der Tat eine Nicht-Phänomenalität in Bezug auf die Immanenz-Phänomenalisierung als Ursprung, was aber bedeutet, dass die Impression nicht länger nur über die Vernunft zu einem Weltverständnis führt. Vielmehr gibt es ein affektives Gewebe ursprünglicher Weltwirklichkeit, so dass das Individuum an jedem Punkt seines Praxisvollzugs zugleich in der Welt, im Leben und in sich zu sein vermag. Dementsprechend ist die Welt auch als ursprünglich sinnlich aufzufassen, denn nur in einem abgeleiteten Sinne entstammt sie dem Bewusstsein oder der Intentionalität, wie wir darstellten, während sie aufgrund des immanenten Ursprungsverhältnisses in einem grundsätzlichen Sinne affektiv ist, wie dies bereits Max Scheler 9 über eine rein affektive Wahrnehmungsform angedacht hatte. Obwohl 8 Vgl. Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg, München, Alber 1994, 165 ff. 9 Vgl. Wesen und Formen der Sympathie. Die deutsche Philosophie der Gegenwart (Gesammelte Werke, Band 7), Bern, Francke 1973.

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also die Welt weiterhin auch als kontingenter und transzendenter Raum, als innerste Ermöglichung der ekstatischen Entfaltung im Sinne eines Ausser-Sich-Werdens angesehen werden muss, ist sie dennoch nicht ohne Verbindung zur inneren Wesensentfaltung des Leibes und gewinnt dadurch ein grundlegendes ontologisches Gewebe. Besser gesagt sogar noch eine ontologische Einheit, um nicht nur eine verstreute Vielfalt alltäglicher Kontingenz darzustellen, sondern vielmehr an der allgegenwärtigen und schöpferischen Affektivität des Lebens teilzuhaben, nämlich dank der immanenten Selbstaffektion der Ekstase oder Transzendenz, worin sich jeder Objektbezug erstellt. Damit wird auch der grundsätzliche Zusammenhang von Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Ästhetik im Sinne einer Ersten Ästhetik oder »Aisthetik« verständlich, insofern die Transzendenz als Imago Mundi an die Affektivität zurückgebunden auftritt, um als ein solches Bild das ontologische Bild des unsichtbaren Lebens zu sein. Denn das Leben selbst kann nicht als wesenhafte Selbstgegebenheit (ohne inneren Gegenstand oder inneres Selbstbild) anders denn als die Bedingungsmöglichkeit jeder Existenz gedacht werden. Gäbe es nun nicht das »Bild der Welt« als »Bild des Lebens«, verbliebe dieses Leben in seiner reinen Unsichtbarkeit, ohne dass jemals etwas von ihm durch uns gesagt werden könnte. Aufgrund der Duplizität des Erscheinens, der wir als Lebendige angehören, haben wir Zugang zur wesenhaften Möglichkeit der absoluten Wirklichkeit als Immanenz und vermögen dieselbe Wirklichkeit in ihrer Entfaltung in die Welt hinein erkennen, so wie wir über die Leiblichkeit diese Immanenz unmittelbar erproben und dadurch »kennen«. Ohne Zugang zur Wahrheit des Lebens wäre es für uns keine Wahrheit, und in diesem Sinne kann man für das ursprüngliche Leben in sich auch sagen, dass es eigentlich eine (phänomenale) »Nicht-Wahrheit« ist, sofern sie uranfänglich nicht im welthaften Sinne erscheint. Mit anderen Worten wird das Leben erst zum »Phänomen«, wenn es sich über die Leiblichkeit in die Welt hinein entwirft, wodurch die Welt auf diese Weise zum Bild des wesenhaften Seins wird, was auch einschließt, dass das Leben dergestalt in begrenzter Hinsicht ein Begriff wird, während es in seinem radikalen Ursprung allein als eine Wirklichkeit erprobt werden kann, die von keinem Begriff zu erfassen ist. Die kontingenten Veränderungen, welche das Leben der Lebendigen in der Welt kennt, verhindert mithin nicht, dass das in der subjektiven Praxis angelegte Überschreiten auf die Welt hin ein Bild des Wesens des Lebens impliziert. Die Existenz als Welt ist nicht 112 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Das Verhältnis von Transzendenz, Immanenz und Impressionalität

das Leben, anders gesagt die Existenz an sich, aber insofern die Existenz der Welt an die absolute Existenz des Lebens zurückgebunden ist, enthalten auch die Bestimmungen des welthaften Seins die Bestimmungen des Seins selbst, das heißt jenes immanenten oder absoluten Seins als Existenz a priori, ohne dass jedoch irgendeine thematische Intentionalität eine Objektivierung dieser ur-anfänglichen Existenz als Sein erreichen könnte, da sie eben rein pathischer oder impressionaler Natur ist. Unter dem Vorbehalt, den Begriff des »Chiasmus« nicht mit dessen Verwendung bei Merleau-Ponty zu verwechseln, der damit eine relative Reversibilität zwischen Leib und Welt als Transzendenzen beide Male implizierte, kann man sagen, dass es im lebensphänomenologischen Sinne eine Leben/Welt-Überkreuzung gibt, insofern sich die transzendentale Sichtbarkeit der Welt als Horizontraum aller Erscheinungen auf das hin überschreitet, was er in seiner Sichtbarkeit selbst ungesehen lassen muss, nämlich das Wesen des immanenten Seins, welches die horizonthafte Welthaftigkeit sich nicht einverleiben kann, weil sie selbst kein Leib oder Fleisch ist, so dass ein Sprechen vom »Fleisch der Welt« im Sinne Henrys oder Merleau-Pontys sorgsam unterschieden werden muss. 10 Dies nicht so sehr aus Gründen doxischer Abgrenzungen, sondern weil mit dieser Unterscheidung die Aufgabe der Aufklärung von Metaphysik und neuzeitlichem Denken selbst auf dem Spiel steht, bei denen die Transzendenz zumeist allein als absolut oder apriorisch angesehen wird, anstatt zu erkennen, dass sie als welthafter Manifestations- oder Erscheinungshorizont ihre eigene wesenskonforme Vollendung erst im Leben als Intensität, Pathos, Begehren oder subjektivgemeinschaftliche Praxis erreicht. Als über die transzendentale Einbildungskraft vorgestelltes Bild ist die Welt dem Bewusstsein als Ins-Vor gestellt oder als Repräsentation gegeben, aber sobald diese noch metaphysische Außenheit gemäß ihren immanenten Ermöglichungsbedingungen als in der pathischen Innerlichkeit verankert gesehen wird, ist sie innerlich wie äußerlich gegeben. Mit Rückbezug auf das impressionale Erleben und seine Gegen-Reduktion lässt sich dadurch eine Idee der uns betreffenden Bestimmungen (auch therapeutisch) insgesamt gewinnen, denn ich lebe von innen her meine lebendige Leiblichkeit, indem ich mit ihren Potenzialitäten identisch bin, um so mein welthaftes Sein in Erfahrung zu bringen, welches außer den Gesetzen des immanenten 10

Vgl. M. Henry, Inkarnation (2002), 181–185, zur Kritik an Merleau-Ponty.

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Lebens ebenfalls den ontologischen Gesetzen des Seins im Allgemeinen unterworfen ist. Der oben genannte »Chiasmus« zwischen Leben/Welt vermag nun genauer die Vereinbarkeit zwischen dem Sein und mir zu erklären, welche sich in einer grundlegenden Erprobung des subjektiven Leibes erschließt. Die strukturell gesehene Übereinkunft von Welt und Leben als meine prinzipielle Erprobung ergibt sich nämlich aus dem primordialen Charakter der Ipseität, welche als absolute Subjektivität nicht nur Einheit als Immanenz ist, sondern auch alles hervorbringt, was an eine leibliche Potenzierung gebunden ist. Mit Leibniz kann man dies ein »monadisches Sein« nennen, aber es bezieht sich nicht länger auf eine vergängliche Existenz, sondern auf die grundsätzliche Struktur aller denkbaren Wirklichkeit, um mit dem ursprünglichen Leben letztlich gleich zu sein. Auf diesem Hintergrund muss noch geklärt werden, dass alles Seiende durchaus ins Sein gelangt, »in die Welt kommt«, aber im streng phänomenologischen Sinne nicht eigentlich geboren wird. Eine Geburt ist nur im Leben möglich und kann nicht im Sein im universellen Sinne geschehen, da eine Geburt immer einen partikulären Ausdruck des Lebens darstellt, das heißt eine absolute Individuierung beinhaltet, welche die Ipseität als solche definiert. Eine Subjektivität in diesem Sinne zu sein ist also etwas anderes, als ein Ergebnis oder eine Wirkung des Seins in seiner welthaften Gesamtheit als Kausalität oder »Ereignis« zu sein. »Ins Sein kommen«, das heißt als im Leben geboren werden, kann also nicht mit dem unterschiedlichen phänomenologischen Sachverhalt verwechselt werden, »in die Welt zu kommen«. Betrachtet man allerdings beide »Kommen« als an ein Können (Potenzialität) gebunden, dann gibt es eine ontologische Verbindung zwischen ihnen, denn über die leibliche Praxis werden die Dinge in der Welt präsent und bilden auf diese Weise ein Bild der Geburt des Lebens als ein Hervorgebracht-Werden in der Immanenz des Lebens. Der Lebendige in seiner subjektiven Praxis entwirft sich als Intentionalität ontologisch vor sich selbst hin, indem er Welt zu sehen gibt, so dass das Welthafte sich selbst als lebendig offenbart. Auf diese Weise enthält eine radikale Phänomenologie sowohl die Erprobung des Sich (der Ipseität als Einheit) wie auch die Erprobung der Alterität, welche sich als Differenz in Bezug auf das Sich-Empfinden entfaltet. Insofern die Welt die Auswirkung der leiblichen Bewegung der Subjektivitäten und ihres lebendigen Tuns ist, gehört die Welt zwar weiterhin zum phänomenologischen Bereich der Außenheit, aber sie bleibt ebenfalls von der Immanenz gehalten, welche die gesamte 114 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Das Verhältnis von Transzendenz, Immanenz und Impressionalität

Wirklichkeit im radikalen Sinne hervorbringt. Auf diese Weise dekliniert sich das Sein nicht nur im Singular der immanenten Ipseität, sondern stets auch von Anfang an im Plural, so dass die vielfachen Formen der Sichtbarkeit – ergänzt und variiert durch alle Individuen, die miteinander in Berührung treten – eine innere Verbindung zwischen dem Sein als Leben und seiner welthaften Manifestation darstellen, und zwar nicht vorrangig auf der Ebene der Repräsentation, sondern als lebendige Praxis. Wenn aus methodischen Gründen die Welt zunächst auch ausgeklammert wird, um die Duplizität des Erscheinens überhaupt deutlich machen zu können, so ist die Welt für die Lebensphänomenologie auf gar keinen Fall verloren oder sogar zerstört. Zu erklären bleibt allerdings für diese Sichtweise noch genauer, wie der Zusammenhang zwischen der absoluten oder leiblichen Subjektivität und dem unmittelbaren Leben in der Welt zu sehen ist, insofern das rein phänomenologische Leben dort vergessen oder ignoriert wird. Es bleibt hierfür daran zu erinnern, dass die Potenzialität oder das Können, welches uns an uns selbst gibt, in der Tat vom Ursprung an das unsrige ist, so dass die ursprüngliche Einheit mit diesem innersten Vermögen unserer selbst zugleich auch der Grund für unser primordiales Wissen von der Welt bildet. Die Erkenntnis der Welt ist mithin an eine wirklich ursprüngliche Erkenntnis im Sinne Maine de Birans und Henrys gebunden, da es unser lebendiger Leib der Praxis ist, welcher die Welt ursprünglich kennt. Alles, was uns von der Welt her affiziert, gehört als korrelative Struktur dieser Welt mithin letztlich zum Leben, nämlich als jene Grundmacht, welche darin besteht, überhaupt Vermögen des Affizierens als transzendentale Affektivität zu sein. Alles Sichtbare oder Außen in der Welt als Kommen ins Außen eines welthaften oder zeitlichen Außer-Sich im Sinne ekstatischer Transzendenz bleibt heterogen zum Leben, was diese phänomenologische Grundstruktur betrifft, denn alles, was das Leben in seiner Absolutheit ist, kann die Welt ihrerseits nicht sein. Aber rückgebunden an das lebendige Hervorbringen aller leibhaften Bewegungen durch unseren immanenten Leib ist die Welt in einer ontologischen Verbindung mit diesem Leben, was jedoch ausschließt, dass die Welt allein durch sich selbst in sich einträte, um die Einheit des »Einen« im Sinne des Wie des Erscheinens zu sein.

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2) Die Darstellung des Affektiven in der Welt Die Einheit der Welt bleibt ihre Differenz, was auch unterstreicht, dass die Gehalte der Welt für sich selbst nicht wirklich sind, denn die Differenz vermag sie nicht wirklich zu schaffen, insofern jeder sinnliche Gehalt an die Impressionabiltät des Lebens zurückgebunden bleibt. Diese ontologische Dürftigkeit der Welt besagt dann gleichzeitig die fehlende Möglichkeit, durch die Welt auf rationale Weise die Frage der Existenz zu klären, doch jegliche mundane Differenz und Veränderung behält eine Spur der wesenhaften Ur-Konsistenz des Lebens bei, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt eben eine Abwertung der Welt nicht stattfinden kann. Es ist daher die absolute Positivität des Lebens, welche der Welt ihre gesamte ontologische Würde verleiht, denn der Unterschied zwischen originärer Mächtigkeit und welthafter Aktualisierung ruht einzig darin, dass die Welt nicht in der Lage ist, sich selbst hervorzubringen, ohne jedoch dadurch die Immanenz des Lebens aufzuheben. Als »Differenz« kann die Welt daher zugleich als mit dem Leben »korrelativ« genannt werden, sofern die radikal phänomenologischen Fundierungsverhältnisse dabei nicht vergessen werden. Angesichts der einseitigen Vorherrschaft der technischen Weltsicht könnte dies unter anderem heute das Verlangen zurückgeben, die lebendige Realität der Welt intensiver zu erfahren, was natürlich mit dem größeren ästhetischen wie ethischen Erproben unserer eigenen Individualität als Intensität verbunden ist. Der Tod oder Rückzug des Göttlichen, den schon Hölderlin beklagte, hat ohne Zweifel inzwischen einen kulturellen Abgrund hinterlassen, der vielleicht nicht mehr über eine konfessionelle Wiederherstellung der Verbindung zwischen Gottheit und Menschheit wie in vergangenen Zeiten unserer Tradition zu erreichen ist, sondern eher über die Verwirklichung einer prinzipiellen Kompossibilität all unserer Vermögen, wo auch Leiblichkeit und Einbildungskraft als alltägliche Praxis eine neue Einheit eingehen. Anstelle der Relativierung der technischen Sicht der Welt ließe sich auch sagen, dass jeder rein idealistische oder repräsentative Weltblick zu vermeiden ist, insofern sich die Welt nur als Korrelat all unserer Leibkräfte letztlich darbietet, um die Idee aufzulösen, die Welt »an sich« sei so etwas wie eine allgemeine Existenz, welche des Imaginativen nur als partieller Ergänzung bedürfe. Als Schaffensprozess oder Bewegung ist die subjektive Praxis prinzipiell mit der Einbildungskraft verbunden, denn diese Einheit enthält jenes ur-phänomenologische Wie der Erprobung 116 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Die Darstellung des Affektiven in der Welt

von leiblicher Kraft und Welt, ohne zunächst an eine leitende rationale Idee gebunden sein zu müssen. Mit anderen Worten ließe sich auch sagen, dass die Einbildungskraft mit jener Intensität zusammenfällt, welche die Individualitäten als solche Intensitäten selber sind, um das Welthafte in seinen vielfältigen Formen zu erfahren und zu verwirklichen, welche als Sinn des Lebens und der Welt angesprochen werden können, wobei dieser »Sinn« allerdings niemals von der Grundmächtigkeit der originären Leiblichkeit abgetrennt werden kann, um keinen idealistisch verstandenen Sinn zu hypostasieren, was gerade auch für die Therapie und Supervision unverzichtbar ist. Zu fragen bleibt daher, welches der Sinn jener Erfüllung ist, welcher mit der Manifestation der Lebensimmanenz in der Welt über die Praxis verbunden ist, und vor allem auch, wie sich der formale ZeitRaum der Welt und die sichtbaren Zeichen (einschließlich Sprache) der genannten Praxis zueinander verhalten. Denn die Individuen treten in Verhältnisse ihrer lebendigen Kraft zueinander ein, wobei außer der Einbildungskraft auch das Gedächtnis zusammen mit der intentionalen Verwirklichung der Subjektivität eine Rolle spielt. Durch dieses Gedächtnis ist ihr Verhältnis zueinander nicht nur auf die Vergangenheit hin orientiert, sondern antizipiert auf diese Weise auch die Zukunft, um den Zeit-Raum der Welt mit seinen Bedeutungen (Signifikat) zu füllen. Diese Entwürfe und Vorhaben zwischen den Individuen unterliegen sowohl der Vorstellung wie der Einbildungskraft, wobei letztere bei allen Formen der Lebensmanifestation eine Rolle spielt, zumal aus lebensphänomenologischer Sicht der Leiblichkeit die Grundaufgabe innerhalb des Weltbezugs zukommt, Dispositive, Gesetze und auch Begrenzungen des Handelns praktisch in Augenschein zu nehmen – allerdings prinzipiell zunächst nicht als theoretisches Wissen allein, sondern als Zeichen. Alle Zeichen solchen Handelns zusammen genommen bilden die Einheit dieser praktischen Welten, sofern jedes Individuum seine je eigene Perspektive als gelebte Subjektivität dabei einbringt. Diese Zeichen sind unterschiedlich je nach Epistemé, Epoche und gesellschaftlicher Teleologie sowie den Rollen, die jeder einnimmt; aber alle Zeichen sind in demselben immanenten Grund des Lebens verwurzelt, welcher allein die Einheit der verschiedenen Manifestationen der subjektiven Praxis garantiert. Es ist hier nicht unsere Absicht, eine historische oder gesellschaftliche Typologie dieser Zeichen zu entwickeln, welche auch an die Gewohnheit als Iteration des Lebens auf dem Hintergrund der menschlichen Generationen gebunden wäre, sondern das Paradox 117 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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des ontologischen »Chiasmus« zu verstehen, der Welt und Leben über die Praxis miteinander verbindet. 11 Die Zeichen kommen anlässlich der mit Hilfe der Einbildungskraft vollzogenen Verwirklichung der Weltpraxis in einem kontingenten Kontext zum Ausdruck, entstammen aber in ihrer Ursprünglichkeit dem immanenten Leben selbst, wobei es auf diesem Weg zwischen Leben und Welt einen offensichtlichen Verlust des gründenden Wesens dieser Praxis gibt, sobald sich deren Zeichen in der Sichtbarkeit wie autonom errichten. In Anlehnung an Leibniz lässt sich auch sagen, dass jedes Individuum auf seine Weise die Welt ausdrückt, selbst wenn die Einheit der Welt im immanenten Sein ruht, denn für Leibniz drücken die Monaden alle dieselbe Welt in der unendlichen Reihe ihrer Prädikate aus. Somit gibt es unendliche Welten und unendliche Subjektivitäten, die gegenzeitig voneinander Zeugnis ablegen, während die Welt im Allgemeinen keine eigenen Sinn- oder Bedeutungsgehalte besitzt, wonach die unterschiedlichen welthaften Perspektiven systematisiert oder hierarchisiert werden könnten. Diese Abwesenheit von Analogie innerhalb eines univoken Seinsverständnisses (welches bei Leibniz letztlich nur noch von Gott gestützt wird, der jeder Monade den gleichen Weltanteil oder die entsprechende Information mitteilt) kann dann nur durch das Werden als Entdeckung im Sinne der Einbildungskraft oder Intensität aufgefangen werden, das heißt durch die Lebendigkeit aller Formen der Manifestation der Immanenz. Durch die Originarität von Subjektivität und Einbildungskraft existiert damit die Welt nicht außerhalb desjenigen, der sie zum Ausdruck bringt, wobei allerdings die ausgedrückte Welt nur im Wesen des Lebens ihre volle Gestalt besitzt, während die mittels der Leibkräfte aktualisierten Formen nur einen Ausschnitt gemäß dem Verhältnis der Kräfte der Individuen zueinander bilden. Dies zeigt noch einmal, dass Philosophie und Wissenschaft nur abstrakte Wahrheiten formulieren können, während es allein in den Künsten einen unmittelbaren Zusammenfall von subjektiven Kräften und ästhetischer Hervorbringung zu geben vermag. Das, was die Welt sichtbar bildet, bleibt mitFür eine entsprechende Diskussion vgl. die Auseinandersetzung zwischen Ricœur und Henry hinsichtlich der Selbstständigkeit bzw. reinen Inter-Subjektivität geschichtlich-gesellschaftlicher Institutionen; vgl. G. Jean, »Genealogie, Historialität und Passivität. Michel Henry und die Phänomenologie der Geschichte«, in: E. Angehrn u. J. Scheidegger (Hg.), Metaphysik des Individuums. Die Marx-Interpretation Michel Henrys und ihre Aktualität, Freiburg/München, Alber 2011, 174–193.

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Die Darstellung des Affektiven in der Welt

hin ein Medium der Außenheit, welches nicht mit dem Inneren der immanenten Sphäre zusammenfällt, weshalb das Wesen der Praxis beiden Bereichen verbunden ist – nämlich der Leiblichkeit als fundamentalem Können und der Erfahrung der Widerständigkeit als das Weltsein schlechthin. Auf diesem Wege wird auch verständlich, warum die Manifestation der Welt transzendentale Prinzipien erkennen lässt, nämlich vor allem jene relationale Endlichkeit, welche die eidetische Wirklichkeit des Lebens ist, sofern es in den Sichtbarkeitsraum der Erscheinung der Welt eintritt, ohne selbst endlich zu sein. Neben dieser Endlichkeit als Wesen der Phänomenalität des transzendenten Seins gibt es natürlich weitere ontologische Grundmöglichkeiten wie etwa die Entfaltung und Begrenzung des Seins durch die lebendigen Intensitäten seitens der leiblichen Praxis. Nimmt man alle Zeichen der Welt als »Bild« der Welt, dann herrscht eine Umkehrbarkeit zwischen Bild und Sein vor, wodurch sich eine Evidenz des Wesens der Welt als Phänomenalität selbst einstellt. Hinsichtlich der Möglichkeiten eines neuen Denkens in der Gegenwart ist also festzuhalten, dass die Begriffe eines festen Seins, konzeptueller Einheit wie Identität ihre Vorherrschaft verlieren, und zwar durch eine andere Phänomenalisierung im Sinne affektiver Differenzen leiblicher Potenzialität, die zugleich Individuierung als Pluralität sowie eine Bewegung des Sich bedeuten. Denn die Sich-Existenz als lebendige Immanenz gehört unverbrüchlich zur Einheit des Lebens als Selbst-Erprobung, weshalb eine solche Existenz nicht durch eine Vorstellung als Gegenstand zugänglich ist, sondern nur in einer Unmittelbarkeit lebt, welche die Einbildungskraft als Weise der Erprobung mit ausübt. Diese Einbildungskraft tritt nämlich als imaginative Intensität auf, wodurch selbst das Welthafte an der Wurzel des Lebenspathos erfahrbar wird, weshalb sich gleichfalls sagen lässt, dass es zwischen diesem Welthaften und dem Pathischen denselben Bezug wie zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen gibt, nämlich als affektives Gewebe des Lebens im Sinn der leiblichen Potenzialität. Auf diesem Hintergrund einer jeden möglichen Manifestation und Aktualisierung des Welthaften als Kontext unserer Weltexistenz erweist sich eine solche Weltphänomenalität als die konkret mögliche Struktur der Subjektivität, deren eigentliche oder letzte Existenz allerdings allein durch die intensive Materialität des Lebens erreicht wird. Das im modernen Kontext auf die Endlichkeit fixierte Denken muss daher die Fragen des Welthaften (wie etwa bei Heidegger und seinen dekonstruktiven Nachfolgern) bis in den naturieren119 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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den Gründungsbereich vorantreiben, um eine Phänomenalisierung analysieren zu können, welche der Entsprechung zwischen dem Leben und der intentional subjektiven Praxis gerecht wird. Wenn wir die Ausdrücke wie »Chiasmus« und »Reversibilität« auch mit Vorsicht benutzen, um die Phänomenologie wie etwa bei Merleau-Ponty nicht auf den Aspekt welthafter bzw. existentieller Endlichkeit zu begrenzen, so gilt doch, dass die Überkreuzung von Welt/Leben die radikal phänomenologische Einsicht verdeutlichen kann, wie das Hinausgehen über jedes Seiende den tiefsten Ausdruck des Seins selbst darstellt. Denn wenn sich die Immanenz des Lebens mittels der Phänomene ausdrückt, deren Zeichen die Verbindung zwischen den Lebendigen und ihren Intensitäten als (Mit-)Pathos ausdrückt, dann sind die »Phänomene« weder nur reiner Schein oder Vorstellungsprodukte unseres Denkens, sondern Affektionswirklichkeiten aufgrund unserer passiblen oder rezeptiven Subjektivität – mit anderen Worten effektive Bezüge zur Welt und zu Anderen, wie sie sich durch die Geburt unserer Leiblichkeit in der Immanenz des Lebens erstellen. Es gibt folglich einen Zusammenhang zwischen der Passivität unserer ursprünglichen Geburt im Leben sowie den Einschnitten, welche die Vernunft in das immanente Gewebe unserer subjektiven Praxis vornimmt, so wie es ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der leiblich-welthaften Aktivität und der Pluralität der Kräfte zwischen den Lebendigen oder Individuen gibt. Zusammen genommen kann die lebensphänomenologische Analyse dann sagen, dass einerseits die Welt sich selbst lebt und andererseits das Leben sich selbst »weltet«, um hier Heideggers Begriff für die Weltwerdung aus dem Leben heraus zu verwenden. Denn dieses »Welten« ist keine »Verweltlichung« des Lebens, wenn auf die Reflexivität oder Reversibilität des Verbs »leben« geachtetwird, insofern sich in der Ipseität des Sich ein inneres Band etabliert, welches jegliche Lebensmodalisierung zugleich auch eine prinzipielle Weltphänomenalität sein lässt. In jeder intensiven Erprobung durch das Sich findet sich die Welt zugleich an ihrem Ursprung wie Telos, um in gewisser Weise der einzige ontologische Bezugspunkt für den Ausdruck des Lebendigen zu sein. Aber diese Zeichen- wie Bildhaftigkeit des Mundanen signalisiert uns zugleich ebenfalls, dass sich das Wesen des Seins in dieser Weltkonzentration ganz befindet, denn über die Vielfalt der begrifflichen Endlichkeit hinaus zeichnet sich die Spur der generischen Einheit des Seins im Leben ab. Auf der anderen Seite gehören Sichtbarkeit und 120 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Die Darstellung des Affektiven in der Welt

Unsichtbarkeit des Lebens zusammen, denn die Passibilität lässt einen Chiasmus mit der Entfaltung der leiblichen Kräfte zu, deren sichtbarer Raum die Welt ist. Trotz oder gerade wegen der Duplizität des Erscheinens bricht im Zentrum der radikalsten Außenheit die radikalste Immanenz hervor, nämlich das Begehren des Lebens, sich zu erproben, sich in der Welt wie zu übersteigen und zugleich auch wieder über alle Zeit hinaus zu sich zurückzukehren, um durch seine innere Konsistenz seine eigene Finalität, Historialität bzw. Narrativität zu sein und zu bleiben. Es lässt sich lebensphänomenologisch darüber hinaus festhalten, dass es eine wesenhafte Übereinstimmung zwischen der intensiven Materialität gibt, welche jedes ontologische Erscheinen der Weltphänomenalität erlaubt und stützt, sowie der relationalen Intensität, die jede lebendige Lebensform charakterisiert, selbst wenn letztere theoretisch oder ideell ist. An der Schnittstelle dieser ursprünglichen Materie und lebendigen Form vollzieht sich die Individualität, wie sie im immanenten Leben geboren wird, als eine Defixierung des missverständlicherweise als »Subjekt« verstandenen Subjektiven. Denn die Individuierung, von der hier die Rede ist, bedeutet eine Erprobung der Subjektivität als Selbst-Bewegung, als intensives Werden der Individuen ohne messbaren Zeitcharakter. Dies ist der Grund, warum etwa Henry jedes abstrakte Prinzip ablehnt, welches einen wirklichen oder vorausgesetzten Geltungswert für die Vereinheitlichung eines Erkenntnisganzen besitzen soll. Obwohl die Individuierung im Leben Kennzeichen der radikalen Ipseität ist, kann man dennoch auch für den Zusammenhang von Welt/Leben vorschlagen, in der Individuierung als intensives Werden den Ausdruck des Seins zu entdecken, dass heißt die dauernde Veränderung des Seins – so dass das empirische Individuum das transzendentale nicht ausschließen muss, und umgekehrt, ohne das principium individuationis eben allein Raum und Zeit überlassen zu wollen. Ganz offensichtlich haben wir es in Verlängerung zu Kants Philosophie mit der größten Veränderung des Denkens im gegenwärtigen Jahrhundert zu tun, denn die (sinnliche) Materie lässt sich nicht allein mehr empirisch betrachten, sondern nur mit Hilfe der Sinnlichkeit als Affektivität. Gegenüber Kant ist allerdings nicht mehr so sehr die Frage entscheidend, was geschieht, wenn die Sinnlichkeit ihre Rolle wahrgenommen hat oder ob das reflektierende Urteil neben den kategorialen interveniert, sondern einen radikal phänomenologischen Primat des Empfindens oder Pathischen selbst anzuerkennen – nämlich nunmehr als Prinzip jeg121 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

2. Ego, Affekt und Welt

licher Existenz und des Zugangs zu unserer Leiblichkeit als Einheit von Form (Urteil) und Materie (Sinnlichkeit). Auf diese Weise liefert die Weltwahrnehmung auch nicht länger mehr nur Gegenstandsinformationen, sondern umschreibt einen Affekt im Ausgang von dessen immanentem Ursprung. Dieser Affekt tritt in Austausch mit anderen energetischen oder triebgenealogischen Bezügen, um jede Wahrnehmung eine qualitative Vielfalt sein zu lassen, wobei die numerische Unterscheidung niemals wirklich ist und die formale Differenz sich nicht der absoluten phänomenologisch-ontologischen Einheit der Welt wie des Lebens entgegensetzt. Denn alles, was welthaft oder phänomenal ist, ist es nur aufgrund von Kräfteverhältnissen, welche vom Ursprung der Immanenz des Lebens hervorgebracht werden, so wie umgekehrt alles, was intensiv oder pathisch ist, sich ontologisch in Verhältnisse übersetzt, welche die Phänomene der Welt definieren. Die Wahrnehmung ist dabei sicher ein Sehen, aber niemals vollendet, so dass sie das Sein nicht vollständig fassen kann, um es nur als Phänomen auszudrücken, in unserem Zusammenhang als einen Teil der Gesamtheit der Immanenz, so dass auch das Unsichtbare zur Wahrnehmung gehört, und zwar nicht nur in der Kunst, sondern in jeder praktischen Wirklichkeit. Denn die lebendige Überkreuzung von ontologischer Einheit des Seins und den konkreten phänomenologischen Modalisierungen, wonach sich dieser Prozess vollzieht, ist eine leibliche Bewegung von vielfältigen Bewegungen, Bezügen, Endlichkeiten und Veränderungen. Dennoch ist hierbei das Band zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem keine Dialektik ein und desselben Prozesses, sondern drückt jene radikal ontologische Heterogenität aus, wo das Unsichtbare in sich nichts Transzendentes kennt, um in der Immanenz des Lebens verwurzelt zu sein, während auch die Sichtbarkeit der Außenheit der Welt zum Leben gehört. Das Unsichtbare des Lebens muss hingegen von einem Grenzbegriff des Sichtbaren abgehoben werden, der zur Struktur des Bewusstseins selbst gehört, sofern dieses immer nur eines nach dem anderen wahrnehmen kann und deshalb anderes als »unsichtbar« erfährt. Aber es geht letztlich nicht um diese Horizontbegrenzung in jeder Wahrnehmung, sondern um das Unsichtbare des Pathischen in jeder Wahrnehmung selbst, welche zur immanenten Materialität des Lebens gehört und nicht von der Sichtbarkeit der Welt her als bloße Grenze gedacht werden kann. Die wirkliche Unsichtbarkeit hat weder etwas Negatives noch Transzendentes, da sie prinzipiell zur Immanenz des Lebens 122 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Die Darstellung des Affektiven in der Welt

gehört, von der aus ein Affizieren und Begehren in der Welt möglich ist, so dass diese grundsätzliche Lebensaffektion die Garantie wie die inner-narrative Teleologie jeder Affektion im Welthaften darstellt. Das Leben erscheint dadurch von der Welt her wie jemand, der sieht, ohne gesehen zu werden, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es eine Art transpassibler – und somit transversaler – Historialität oder Narrativität des Lebens gibt, welche in der Aktualisierung aller Potenzialitäten gegeben ist, ohne an jedem Ort, in jeder Situation erkannt werden zu müssen. Auf diese Weise ist das Sehen nicht das Zeichen der Welt, sondern das Hinausgehen über die Welt aufgrund des Pathos, welches als Nicht-Sehen jedes Pathos bewohnt. Es darf also gesagt werden, dass das Sichtbare als Zeichen der Welt eine beispiellose Weise darstellt, sowohl über Kunst, Wahrnehmung wie Konzeptualisierung das zu entbergen, was sich in jeder Schau und in jedem Denken vollzieht, nämlich das Unsichtbare wie Unsagbare der Überkreuzung von Leben/Welt. Wenn die Welt also auch als jene Weise gesehen werden muss, wie die Leiblichkeit sich in der Außenheit manifestiert, entwickelt und verändert, so bleibt dennoch die Transzendentalität des immanenten Ur-Leibes vorausgesetzt, wodurch alles hervorgebracht wird. Insoweit die Welt als ein Bestandteil der originären wie mundanen Leiblichkeit zu betrachten und zu erproben ist, bedeutet eine solche Welt zugleich auch das Element unserer Gewohnheiten im kontingenten Sinne, wie wir schon sagten, selbst wenn sie an eine ursprünglich permanente Iteration gebunden sind. Durch einen solchen Gesamtchiasmus von Welt/Leben wird die Welt zum Ausdruck des immanenten Lebens, wobei durch den inneren Bezug des Leibes zum Sich, der eine ursprüngliche Einheit innerhalb der Selbstoffenbarung des Lebens darstellt, die Situativität des Leibes als Situativität des Zur-Welt-Seins gleichzeitig zu verstehen ist, da der innere Leibbezug als interne transzendentale Erfahrung immer auch das widerständige Kontinuum des Weltseins an der Grenze des organischen Leibes impliziert. Dieses Grundverhältnis erlaubt es, zusammenfassend an dieser Stelle zu sagen, dass das Sich als leibliche Ipseität der Bezugspunkt unserer Existenz in jeder Hinsicht bleibt, denn nur in diesem Verhältnis zum Sich kann die Welt als Raum der individuierten Selbstentfaltung dieses Sich verstanden werden, sofern ohne Unterbrechung der Bezug zur Immanenz des Lebens gegeben und empfunden werden kann. Auf diese Weise gibt es nichts, was außerhalb von einem selbst im Sinne unserer Fähigkeiten wäre, die Wirklichkeit 123 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

2. Ego, Affekt und Welt

wahrzunehmen und von ihr affiziert zu werden. Leib, Welt und Manifestation sind in dieser Hinsicht folglich eins, wobei das hier in Anspruch genommene phänomenologische Sich in seinem ganzen Wesen nichts mit einem »Subjekt« im reflexiven Sinne zu tun hat, insofern dieses Sich als leibvermögende »Subjektivität« eher dem generischen Namen der schöpferischen Individualität des Lebens entspricht. Das rein immanente Leben entspricht einem Sich, ohne auf ein isoliertes oder reflektiertes »Selbst« verkürzt werden zu können, so dass sich eine Zirkularität zwischen der Materialität des Lebens als Selbstaffektion durch den lebendigen Ursprung und der wesenhaften Leiblichkeit ergibt, die daraus hervorgeht, um ein und dieselbe Wirklichkeit überall zu bezeichnen, das heißt das Sein in der wesenhaften Einheit des Lebens. Durch diese Einheit bleibt die Welt das hauptsächliche transzendentale Element, durch das der Lebendige in seinem Weltvollzug seine eigene ontologische Differenz entdeckt und sich gleichzeitig als kontinuierliches Werden der affektiven Intensität herausbildet. Die reine Außenheit der Welt als Raum solcher Entfaltung des Ich/Mich in seiner immanenten Bewegung besitzt mithin den Charakter einer ursprünglichen Transzendentalität, in der gleichzeitig die Einheit aller Erscheinungsdifferenzen, die sich aus dem welthaften Leibvollzug als Praxis ergeben, erprobt werden kann. Die Welt als eine solche ursprüngliche Differenz hat hierdurch an der inneren oder intensiven Individuierung eines jeden Lebendigen ihren Anteil, denn das Verhältnis zwischen der Welt und der Leiblichkeit der potenzierten Subjektivität folgt einer Logik der Veränderungen, welche sich in der Entfaltung der subjektiven Materialität ebenso spiegelt wie in der dadurch sich vollziehenden Konkretion des Sich. Das »Andere« der Welt (einschließlich der intersubjektiven Bezüge) schließt daher die Innerlichkeit der immanenten Affektivität keineswegs aus, welche die absolute Hervorbringung der Individualität ebenso erlaubt wie deren welthafte Differenzierung gemäß der Kompossibilität der Leibvermögen. Letztere bildet in der Tat die Konsistenz des effektiven Entfaltungsraumes des Seins, welches unsere Veränderungen und Steigerungen lebendiger Intensität umfasst, was aber zugleich auch für eine Erneuerung des Denkens heute bedeutet, dass es nicht möglich ist, das gesamte immanente Gewebe unserer lebendigen Leiblichkeit auf rationale Weise zu verstehen. Und mit gleicher phänomenologischer Stringenz ist festzuhalten, dass die Welt ihrerseits ein immanentes Gewebe annimmt, welches dem Leben ähnlich ist, um mit 124 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Die Darstellung des Affektiven in der Welt

Recht von einer Lebenswelt im Sinne einer Welt-für-das-Leben sprechen zu können. Auch hier erstellt sich dann eine Zirkularität, denn das Bild, welches unser Leib in die Welt als die Effektivität seiner Materialität entwirft, kehrt zu ihm über die gemeinsame Praxis und Reflexion wie Wahrnehmung zurück, um auf diese Weise die Garantie eines ontologischen Ausdrucks vom Leib/Welt-Verhältnis abzugeben. Allerdings verpflichtet uns die Duplizität des Erscheinens auch hier dazu, an der Radikalität des wesenhaften »Bildes« der ursprünglichen Leiblichkeit in der absoluten Immanenz festzuhalten, da jede Weise von Vorstellung oder Reflexivität im thematischen Sinne stets nur ein sekundäres »Abbild« dessen bietet, was ursprünglich in der transzendentalen Geburt des Lebens hervorgebracht wurde. Wird dieses Ursprungsverhältnis nicht gesehen, so erscheint jede Existenz in der Welt nur als entfremdet, kontingent oder sogar absurd, denn diese Existenz ist dann zerbrochen, wenn sie nur als vorgestelltes Bild ihrer selbst oder der Anderen (Lacan) gegeben ist. Dass nun die Zeitlichkeit die äußerste phänomenologische Aufklärung des Charakters des Welthaften impliziert, ist spätestens seit Heideggers Auffassung des »Außer-Sich« der Welthaftigkeit als Transzendenz bekannt, wobei allerdings auch schon im kantischen Sinne die Zeit als »Selbstaffektion« verstanden wird, um die innere Möglichkeit jeder zeitgebundenen Objektivierung zu garantieren. Wenn man Letzteres so versteht, dass die Zeit durch nichts anderes als durch sich selbst affiziert ist, dann ist daraufhin auch alles, was von der Zeit ihrerseits affiziert wird, an eine immanente Struktur der Zeitlichkeit zurückgebunden, wodurch dann die Absolutheit eines solchen Zeitbezuges das Sein schlechthin bestimmt. Zu verstehen bleibt daher, was es heißt, das Vermögen der Offenbarung der Affektivität entspreche dem der Zeit, denn wenn die Zeit nur als Transzendenz verstanden wird, geht dieses Offenbarungsvermögen der Affektivität verloren, wie eine der Hauptanalysen der Lebensphänomenologie lautet. Im Zusammenhang mit allen bisherigen Ausführungen ergeben sich daraufhin mehrfältige Äquivalenzen im Inneren des Lebens, wobei allerdings die Absolutheit dieses Lebens impliziert, dass es sich nicht in Bezug auf etwas Anderes hin »differenziert«, sondern eben zwischen Immanenz, Zeitlichkeit, Leiblichkeit und Affektivität eine Identität bestehen muss. Das Absolute des Lebens ist mithin in jedem seiner analytischen Momente, die zugleich die Konkretion des Lebens selbst darstellen, und im Leben als Ganzes des einen Ursprungs. Verbinden wir dies mit der welthaften Manifesta125 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

2. Ego, Affekt und Welt

tion und ihren zuvor genannten Zeichen für uns, wie sie sich aus der Praxis unseres Leiblichkeitsvollzugs ergeben, dann muss sich im Umkehrschluss auch aus der ontologischen Vielfalt, wie sie die Zeitlichkeit beinhaltet, eine Intuition für die unsichtbare Wirklichkeit des Lebens einstellen. In der Tat besitzen wir durch unsere Impressionen einen privilegierten Zugang zur Zeitlichkeit im Rahmen der Welt wie des Lebens, denn wenn wir uns nicht auf die existentielle oder geschichtliche Verteilung der Zeitlichkeit beschränken, wie sie etwa mit Arbeit und Ruhe gegeben ist, so begegnen wir innerhalb der welthaften Zeitlichkeit einem ebenso wirklichen wie lebendigen Augenblick der Gegenwärtigkeit, welche durch die rein phänomenologische Verwirklichung der Selbstaffektion gekennzeichnet ist. Letztere kann nach allem bisher Gesagten als die Impression in ihrem Wesen verstanden werden, das heißt als die nicht anzweifelbare radikale Immanenz der Affektivität, während das Gleiten der Impression in die retentionale Weltevidenz ein Bewusstsein der Zeit ergibt, welches den Fluss unserer inneren Erlebnisse als Zeitphänomen darstellt. Die absolute Zeitlichkeit (Historialität), welche als Affektivität unverändert in uns verbleibt, ist daher keine Spur einer toten oder zerrissenen Zeit in uns, wie es das klassische oder auch freudsche bzw. lacansche Denken postuliert, sondern das stets gegenwärtige Leben. Dieses wiederholt sich selbst als die Bewegung jener immanenten Iteration, in der nichts wiederkehrt, aus der aber sehr wohl alles hervorgebracht wird – nämlich als die Selbstbewegung des Lebens in seiner nie in Frage gestellten Inkarnation von Sich und Leib. Aufgrund dieser radikal phänomenologischen Tatsache ist prinzipiell das welthafte Zeitverhältnis zu Vergangenheit wie Zukunft suspendiert, denn wenn es im Leben nie etwas Vergangenes geben kann, sondern nur ein jeweiliger Übergang von Immanenz zu Immanenz als Aktualisierung des Lebens, dann kann es letztlich kein Bedauern existentieller Vergangenheit geben, so wie es auch keine Antizipation des Zukünftigen als illusorische Hoffnung zu geben vermag. Die Anerkennung einer dem Leben inhärenten Zeitlichkeit, welche den zeitlichen Bewusstseinsekstasen vorausliegt, unterscheidet sich dementsprechend von allem, was der welthafte Rahmen ihr vorschreiben könnte. Die von der Lebensphänomenologie als inner-narrative Zeitlichkeit offen gelegte Historialität besteht daher nicht nur in den verschiedenen konstitutiven Lebenspotenzialitäten und ihrer leiblichen Aktualisierung oder in den beständigen Übergängen der 126 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Die Darstellung des Affektiven in der Welt

Impressionen, Stimmungen und Gefühle untereinander, sondern letztlich als die grundlegende Passibilität des Lebensempfangs selbst. Leben, Zeitlichkeit als Historialität und Passibilität bedeuten in der Sphäre der reinen Immanenz folglich dasselbe, nämlich jene unaufhörliche Lebensselbstbewegung, durch die das Leben sich selbst erprobt und entfaltet. Mit anderen Worten handelt es sich bei dieser rein affektiven Zeitlichkeit um das In-Sich-Kommen des Seins, um seine permanente Ankünftigkeit in sich selbst, wodurch jeder Augenblick als reine Präsenz der Lebensimmanenz sich von jeder ontologischen Zeitlichkeit im Sinne der Bewusstseinsekstasen unterscheidet. In diesem innersten Eigenwesen des Lebens, welches mit keinem Solipsismus oder Monadismus im Sinne klassischen Denkens zu verwechseln ist, sind die Bedingungen der Möglichkeit der lebendigen Welterrichtung letztlich verwurzelt. Denn in der ursprünglichen Impression bilden sich (dank der Selbsterprobung der damit gegebenen Affekte und Gefühle) jene Intentionalitäten, welche in der leiblichen Praxis ins Werk gesetzt werden, wodurch auf der Bewusstseinsebene zugleich der Fluss der inneren Erlebnisse entsteht. Sofern diese mithin an die innerste Selbstbewegung des Lebens zurückgebunden sind, muss die spezifische lebensphänomenologische Zeitlichkeit in Verbindung mit der materialen Intensität der grundlegenden Einheit von Passibilität und Leiblichkeit als eine radikal immanente »Selbstzeitigung« verstanden werden, wie sie mit der pathischen Geburt der Individuen zusammenfällt. Von hier aus wird nicht nur nochmals die Duplizität des Erscheinens als unabdingbar verständlich, sofern unser Zeitverhältnis von der Immanenz her und nicht von der Welt her zu verstehen bleibt, sondern es erklärt sich auch die Reversibilität dieser absoluten Zeitlichkeit des Lebens, welche stets mit sich selbst identisch ist und wodurch sich jeder Augenblick eben der reinen Gegenwärtigkeit der Leiblichkeit angleicht. Diese innere oder historiale Zeitlichkeit kann ihre jeweiligen Momente austauschen, das affektiv Vergangene mit dem affektiv Zukünftigen, da jeder einzelne Teil dieser Zeitlichkeit dieselbe in ihrer Ganzheit enthält, nämlich das jeweilig selbe Zusammenfallen des Lebendigen mit seiner immanenten Erprobung. Dadurch ergibt sich ebenfalls eine Reversibilität wie beim schon erwähnten Verhältnis von Handeln und Sicherleiden in der ursprünglichen Phänomenalität des Lebensempfangs. Diese historiale oder inner-narrative Zeit ist mithin eine zeitlose Zeitlichkeit des Lebens, bzw. eine affektive Über-Zeitigkeit mit der beispiellosen »Geschmei127 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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digkeit« einer Manifestation, die sich gleichzeitig öffnet und wieder schließt, um den intensiven inneren Bezug von Sein und Leben als Selbstbezug zum Ausdruck zu bringen. Denn was sich als immanente Selbstbewegung des Lebens und der reinen Subjektivität vollzieht, sind jene wesenhaften affektiven Erprobungen des Lebens, wie sie mit Glück und Erleiden, Handeln und Pathos gegeben sind, um jene reine Freiheit des Seins zum Ausdruck zu bringen, die trotz der Kontingenz der Weltbezüge am Werke ist. Diese ontologische Wurzel jeglicher phänomenalen Zeit ist also keine Unbeweglichkeit, sondern vielmehr eine Iteration mit dem Charakter ständiger Gegenwärtigkeit wie Reversibilität, und zwar in einem absoluten Sinne als ursprüngliches Sicherfreuen und Sicherleiden. Da Glück wie Leiden jeweils die phänomenologische Substanz des einen wie des anderen bilden, geschieht in solch absoluter Historialität oder Narrativität niemals etwas Unwirkliches, das heißt nichts welthaft Veränderbares und Begrenztes, da das radikal phänomenologische Verständnis nichts anderes als das Wirkliche zulässt, solange das Leben sich vollzieht. Ohne hier theologische Konnotationen einzuführen, handelt es sich folglich dabei nicht nur um das Sein, so wie es lebt, sondern die immemoriale Gegenwärtigkeit des Lebens impliziert ebenfalls seine Auferstehung wie Wiederholung, indem die Reversibilität des affektiven Charakters dieser Zeitlichkeit kein endgültig Vergangenes kennt, sondern eine je mögliche Reaktualisierung dessen, was als Gefühl erprobt wurde. Für Husserl gibt die Zeit der konstituierenden Subjektivität deren innere Erlebnisse als jene Modi, wonach sich die Seienden der Welt und letztlich die Welt selbst errichten, so dass die Zeit hier als Bild der Welt bezeichnet werden kann. Die historiale Zeitlichkeit innerhalb der Lebensradikalität lässt die stets mögliche affektive Reversibilität zur »Reflexivität« des Lebens selbst werden, wobei letztere mit den leiblichen Triebbewegungen selbst identisch ist, wodurch sich eine einheitliche Strukturierung des Seins als dessen Selbstschöpfung ergibt, während bei Husserl die Dauer als Zeitfluss vorherrscht. Als absolute Zeitlichkeit der immanenten Subjektivität besitzt diese keine Analogie oder Finalität, sondern als ursprüngliche Weise der Selbstbewegung des lebendigen Sich hat diese Zeitlichkeit das Vermögen, sich ebenfalls in der Welt als Intensität, Relation und Begehren der mit ihr identischen Leiblichkeit zu manifestieren. Die immanente Intensität ist folglich in dem Sinne stets eine Reversibilität, wie im rein immanenten Leben sich dessen je affizie128 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Die Darstellung des Affektiven in der Welt

rende Wirklichkeit sowohl Wiederholung, Koinzidenz wie Identität ist, was an Nietzsches »ewige Wiederkehr« erinnert, welche als die Formulierung einer ständigen Potenzialisierung angesehen werden kann. 12 Denn wenn das Identische auf diese Weise als reversibel auftritt, dann bildet die immanente Zeitlichkeit der Erlebnisse als pathische Erprobung jedes Mal eine affektive Konkretion, die zwar jeweils unterschiedlich ist, aber durch die tiefe Wirklichkeit der Lebensbewegung geeint bleibt, woraus sich auch die ontologische Verwirklichung der ekstatischen Notwendigkeit der welthaften Zeit- als Leibentfaltung ergibt. Die Duplizität des Zeiterlebens entspricht somit einem Leben in der immanenten Zeitlichkeit des Lebens als pathischer Historialität und als Existenz im Zeit-Fluss, welcher die Objektivierung der Seienden in der Welt beherrscht. Wie zuvor angedeutet, bewerkstelligen die Affekte und Gefühle den Übergang von der einen impressionalen oder pathischen Ursprungszeit zur Aufeinanderfolge der intentionalen Zeitekstasen in der Welt. In der Tat bilden Freude und Leid, Glück und Verzweiflung die einzige Möglichkeit, die vielfältigen existentiellen Lebensmomente in einer lebendigen Affektivität zu vereinen, indem ein ständiger Übergang zwischen ihnen möglich ist, wobei sie gleichzeitig die beiden Pole aller denkbaren Affektionen und Gefühle darstellen. Auf diesem Wege ist auch die Entsprechung zwischen der Immanenz des Lebens und der Außenheit der Welt dank der Affekte und Gefühle gegeben, denn sie verweisen auf die phänomenale Konstitution des Seins als Intensität, wie diese sich aus der ursprünglich pathischen Leiblichkeit für jeden Lebensaugenblick ergibt. Gleichzeitig bildet hierbei der Affekt die Erinnerung an die iterativ geprägte Gegenwärtigkeit der immanenten Zeitlichkeit, denn in der Außenheit der Welt herrscht ein Vergessen des reinen Sich aus der transzendentalen Geburt des Lebens vor, insofern innerhalb der phänomenalen Weltzeit allein die existentiell erfahrbaren Veränderungen als Endlichkeit zu zählen scheinen. Das Vergessen unseres innersten leiblichen oder impressionalen Lebens korreliert mit der unverlierbaren Stellung, die wir dem reinen Sich als Referenzpunkt aller immanenten wie äußeren Erfahrungen eingeräumt haben, um hier zu unterstreichen, dass das Vergessen dieses Sich nicht nur als Verlust der immanenten Zeitlichkeit dekliVgl. auch schon R. Kühn, Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche (2009), Kap. I,2: »Wiederholung als Habitualität und Potenzialität« (S. 40– 70).

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niert werden kann, sondern auch die Verdunkelung des Erscheinens des Lebens durch den Zweifel am »Ich kann« seitens der Angst herbeizurufen vermag. Zwischen dem immanenten Vermögen der Leiblichkeit als reinem Können und dem Nicht-(Mehr-)Können der Subjektivität in der Welt als Erprobung äußerster Selbstinfragestellung kann sich affektiv ein Abgrund auftun, der zugleich Ungenügsamkeit der Existenz wie die Endlichkeit des Gedächtnisses innerhalb des ontologischen Welterscheinens bedeutet. Dieser »Sinnverlust« ist kein Verlust der immanenten Lebenspotenzialität selber, aber er kann sich als Zurückgeworfensein auf die reine Passibilität wie eine Negation des Lebens als solchem innerhalb der affektiven Zeitlichkeit erweisen. Da zudem das Erscheinen der Welt ein reines Medium der Außenheit darstellt und mithin diesen Verlust des Sich nicht aufhalten kann, bleibt radikal phänomenologisch wie therapeutisch nur die Möglichkeit, die Angst als Möglichkeit der Potenzialität selbst zu sehen, insofern durch die reine Passibilität das Leben mit äußerster Unerträglichkeit auf sich selbst lasten kann – das heißt es nirgendwo mehr einen sichtbaren Verwirklichungs- oder Fluchtraum findet. Diese kierkegaardsche Situation ist lebensphänomenologisch nicht dadurch mehr zu überbrücken, dass erst mit dem »Sprung in den Glauben« eine neue Gewissheit des Absoluten erreicht würde, sondern die Angst selbst ist die Absolutheit der Gewissheit als reiner Affekt der Lebensunmittelbarkeit. Im Grund unserer selbst sind wir bereits vom Leben und dessen Wahrheit umfangen, wodurch auch die Wahrheit auf dem Wege über eine transzendente Relation ausgeschaltet ist, da die Unmittelbarkeit des Lebens als religio die radikal denkbarste Bezüglichkeit überhaupt beinhaltet, wie wir schon ausführten. Die Angst – wie das Glück und die Freude – gehört folglich zur immanenten Zeitlichkeit und ihrer reinen Passibilität, weshalb es eine »Antwort« auf die Angst nicht von irgendwelchen Sinn- oder Welthorizonten her zu geben vermag, da Welt für sich allein genommen Vorstellung bleibt, was Distanz bedeutet, die in der Angst nicht mehr gegeben ist, sofern es sich um einen reinen Affekt handelt. Um die bisherige Analyse in gewisser Weise zu synthetisieren, kann festgehalten werden, dass die zeitgenössische Philosophie die Frage der Vorstellung und der Endlichkeit in einen ausschließlichen Zusammenhang mit den Grenzen der welthaften Existenz brachte. Daraus wurde der Schluss gezogen, nach der klassischen Metaphysik, welche das Unendliche mit einer Rhetorik des rationalen Denkens verband, ergebe sich jetzt die Möglichkeit, den wirklichen (dezen130 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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trierten) Menschen erscheinen zu lassen. In einem solchen Zusammenhang bedeutet daher die »Analytik der Endlichkeit« 13 nicht nur die Untersuchung der endlichen Zeitlichkeit der Welt unter ihren Formen der Intentionalität und der Repräsentation, sondern vor allem auch der phänomenalen Konstitution des Leibes. Im Gegensatz dazu erscheint die Antwort, die wir lebensphänomenologisch mit Hilfe der Immanenz des Lebens gesucht haben, als eine Reflexion über die Unendlichkeit und die Absolutheit als unmittelbare Präsenz im Bereich der ursprünglichen Leiblichkeit selbst. Auch wenn man im Rahmen einer solchen Diskussion die Unterscheidung von Vorstellung (représentation) und Gegenwärtigung (présentation) wie etwa bei Bergson vornimmt oder das Sich-Vorstellen mit der Selbstaffektion verbindet, wie bei Derrida, 14 insofern ein Subjekt »sich gibt«, um den Gegenständen vor sich einen Raum einzurichten, so muss von unseren Voraussetzungen her gesagt werden, dass sich die Vorstellung in Bezug auf das radikale Leben ontologisch von dem trennt, was sie selbst gründet. Hieraus ergibt sich eine prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen den Ideen und Bildern der Vorstellung sowie der leiblichen Intensität, durch welche jedes Sich allein im Selbstbesitz seiner lebendigen Identität ist, ohne die Vorstellungen als mundane Zeichen vom leiblichen Bewegungsvollzug als Potenzialisierung der Weltberührung abschneiden zu müssen. Aufgrund der Duplizität des Erscheinens, welche wir hier als methodische Grundentscheidung wieder finden, bezeichnet daher Vorstellung ausschließlich das Erscheinen der Welt bzw. deren ontologische Gegenwärtigkeit, während die gründende Phänomenalisierung des Seins in der Immanenz des Lebens ruht. Ausgehend von diesem durchgehenden Befund ist das Vorgestellte stets als etwas Ontisches aufzufassen, woraus sich des Weiteren ergibt, dass die mundane Vorstellung des Seins als ein Prozess der Gegenwärtigung dessen Endlichkeit und Entfremdung als Vergänglichkeit impliziert. Transzendenz wie Zeitlichkeit der Welt sind hierbei dann die Modi, unter denen sich dieser Prozess des Näheren als Objektivierung oder Vergegenständlichung in einem Außen oder einer ursprünglichen Distanz des Denkens analysieren lässt, was bei Lacan auch für die Sprache gilt. Wenn sich nun das Ego unter solchen radikal phänomenologiVgl. beispielsweise M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M., Suhrkamp 17 2002, 320 ff. 14 Vgl. Psyché. Inventions de l’autre, Paris, Galilée 1987, 132. 13

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schen Bedingungen selbst vorstellt, so lebt es nicht nur unter dem Vorzeichen eines bloß angeschauten Lebens, welches fast platonische Züge bekommt, sondern es trennt sich dadurch auf abstrahierende oder idealisierende Weise von den tiefsten Vermögen seines immanenten oder leiblichen Lebens. Mit anderen Worten birgt jede Objektivierung (oder »Spiegelung«) des Ego nicht nur eine Verringerung der Tätigkeit als ursprüngliches »Ich kann«, sondern es findet auch die ausschließliche Aussetzung an die Transzendenz unter einem theoretischen Blick statt. Diese Ego-Situation als Subjekt der Vorstellung führt zu einer umfassenden »Metaphysik der Vorstellung« in Bezug auf alles Wahrnehmbare und lässt ein solches Subjekt selbst zur reinen Bedingung von allem Objektiven werden – wodurch es selbst letztlich nichts anderes als eine Objektivierung unter denselben Bedingungen wie die Gegenstände darstellt. Um also das Ego als Ich/ Mich in seiner lebendigen oder triebgenealogischen Ursprünglichkeit vernehmen zu können, ist mithin eine radikale Reduktion aller intentionalen Bezüge notwendig, um dem Ich/Mich als lebendigem Sich einen anderen Ursprungsort zuzuweisen, welcher dem Verlust des wirklichen Seins des nur vorgestellten Ego ein Ende setzt. Der Zugang zu diesem anderen Ort erfolgt, wie wir wissen, über die reine Impressionabilität bzw. die Affekte und Gefühle, welche den iterativen Zusammenhang von Vorstellung und Lebensvollzug wieder an das absolut Gegenwärtige in jedem Lebendigen zurückbinden, was uns für jede Therapie und Supervision als maßgeblich erscheint.

3) Fremderfahrung und Andersheit Es ist eine Evidenz, dass keine Vorstellung jene Bezüge vermitteln kann, welche das Sein in der reinen Praxis des Lebens auszeichnen, so dass eben zwischen der Vorstellung als einem ontologischen Mittel der Weltwerdung und der Selbstpräsenz im Sinne lebendiger Intensität zu unterscheiden bleibt. Hieraus ergibt sich als ebenso evidente Konsequenz, dass die in der Alltäglichkeit erworbenen Ideen im Zusammenhang mit der endlichen Zeitlichkeit unserer Existenz nur das darstellen können, was unserem Leib mit Hilfe von Zeichen oder Bildern zustößt, wobei die Bilder der Vorstellungen in dem Sinne zu Zeichen werden, dass sie der Welt entsprechen, wie sie sich uns entbirgt. Dadurch kann unser rein phänomenologisches Wesen über die Vorstellungen nicht erfasst werden, sondern ergriffen werden mit 132 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Fremderfahrung und Andersheit

ihrer Hilfe nur jeweils leiblich bedingte Zustände. Solche, von der Immanenz desinkarnierten Bilder und Zeichen vermitteln daher nicht nur eine Begrenztheit über die prinzipielle Selektion der Wahrnehmung, sondern eine Konzeptualisierung unserer Existenz bedeutet auf dieser Grundlage eine Unvollständigkeit, die dann mit dem kontingenten Charakter der Seienden in der Welt korreliert. Dieser Mangel an Bedeutungskonsistenz der Dinge ist zugleich auch eine ontologische Ungenügsamkeit unseres Seins zur Welt hin, da die Vorstellungen nichts über jene Immanenz aussagen können, in der wir die Kräfte unserer Intensitäten und Bezüge schöpfen. Wenn auch ein augenblicklich fixierter Körperzustand über die Vorstellungszeichen angezeigt wird, der in seiner Aktualität dann immer schon vergangen ist, da die reine Subjektivität ein Werden in unmittelbarer Gegenwärtigkeit des Lebens bildet, so ergibt sich ein Abstand zwischen der Aufeinanderfolge der Bilder und der originären Unmittelbarkeit, um die Führung des Lebens dem Gedächtnis und der Gewohnheit anzuvertrauen. Damit ist keineswegs abgestritten, dass die Vorstellung eine gewisse Logik der Welt erlaubt, aber um sich von der Vorstellung in ihrer habitualisierten Zeichenhaftigkeit zu befreien, muss man gegen-reduktiv mit ihr brechen oder sie isolieren, um die Praxis des Leibes in seiner tieferen Affektivität zu erproben. Für die Bezüge zu Anderen bedeutet dies, dass die intelligiblen Objekt- und Ideenbezüge zugunsten nicht-signitiver Erfahrungen aufgelöst werden müssen, um der unmittelbaren Lebendigkeit der (inter-)subjektiven Aktualisierungen als affektiven Erprobungen zwischen den Leibern näher zu kommen, was in der therapeutischen Begegnung unbedingt angezeigt ist. Dies verweist nochmals darauf, dass die Leiblichkeit als solche kein reflexiv-intelligibles Prinzip kennt, sondern nur Verwirklichungsformen der Praxis, die dem unmittelbar sich selbst affizierenden Leben entsprechen und eine eigene Ur-Intelligibilität bilden. 15 Denn die originäre Lebensverwirklichung ist eine unmittelbar affektive, impressionale und triebhafte, aus der die Vorstellungen nur Ausschnitte im Rahmen einer intentionalen Logik existentieller Bilder und Geschichten liefern können, die sich im besten Fall hermeneutisch zu einer relativen Einheit des interpretierenden Verstehens zusammenfassen lassen. Wenn wir uns jedoch zunächst in einer radikal vor-ontologischen Phase bewegen müssen, im Bereich einer abso15

Vgl. M. Henry, Inkarnation (2002), 399 ff.

133 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

2. Ego, Affekt und Welt

luten Individuierung auf dem Boden immanenter Reflexivität und Affektivität, so gibt es keinen Weg, unser absolutes oder leibliches Individuiertsein auch über die strukturell umfassendste Vorstellung zu verstehen, welche das »Dasein« nach Heidegger etwa bieten will, sofern dieses Dasein die Welterschlossenheit für das Individuum als Verständnisraum voraussetzt, aber darüber die Bezüge zwischen der leiblichen Materialität und der ontologischen Weltentfaltung vernachlässigt. Das heißt, die Gegenwart des Menschen zur Welt hin ist nicht nur eine Situierung seiner Leiblichkeit zur Welt hin, sondern vor allem eine prinzipielle Offenheit dank der reinen Immanenz, aus der sich die praktischen Korrelationen als Lebensvollzug ergeben, nämlich Begehren und Macht, sofern sie das pathische und soziale Gewebe des Miteinander betreffen, die beide einen Bezug zum Unbewussten haben. Das Un-Bewusste im radikal phänomenologischen Sinne ist von jenem ursprünglichen Leib aus zu verstehen, in dem der wirkliche Sinn der Seinswerdung ruht und welcher die mundanen Vollzugsweisen der Leiblichkeit in diese Richtung bestimmt. Wir sagten, dass der objektive oder intentionale Leib nur in einem welthaften Kontext situiert sein kann, weil er sich ursprünglich bereits in der Absolutheit einer transzendentalen Situativität der immanenten Geburt befindet, wodurch die Verbindung mit der Welt als Praxisvollzug überhaupt erst möglich ist. Das heißt, wir befinden uns durch die originäre Passibilität in einer unhinterschreitbaren Abhängigkeit von diesem absoluten Leib, so dass das Erscheinen, aus dem die Öffnung der Welt besteht, dasselbe ist wie das Erscheinen des Leibkörpers der klassischen Philosophie, nämlich das Außer-Sich als solches. Das Wollen des Leibes, sich in der Welt zu entfalten, bleibt mithin an die grundlegende Wirklichkeit des Unsichtbaren wie Unerkennbaren zurückgebunden, so dass man sagen kann, dass der Bezug zu dieser ur-anfänglichen Wirklichkeit uns im Prinzip mit allen Dingen innerhalb der Univozität des Seins verbindet, indem wir sie erkennen, sofern wir uns zuvor erkennen. Entsprechend kann eine solche ursprüngliche Leiblichkeit das Erscheinen des Wollens genannt werden, denn solcher »Wille« ist nur wirklich, insofern er im Sinne von Nietzsche und Henry mit der Leiblichkeit in eins fällt. Durch diese Übereinstimmung mit dem Sich kann auch verstanden werden, dass der subjektive Wille Begehren dieses Sich ist, welches sich in der intensiven Leiblichkeit dergestalt wiederfindet, dass es sich in die Existenz der Welt hinein entwirft, um alle Potenzialitäten zu erproben. Daraus 134 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Fremderfahrung und Andersheit

erwächst aber zugleich der paradoxe Charakter des Begehrens in seinem inchoativen Wollen, denn in der Immanenz des Lebens erfüllt sich das Begehren als der »Selbstgenuss« dieses Lebens, während er in der Welt wie selbst verneint auftritt, insofern das Begehren zu keiner abschließenden Erfüllung an irgendeinem Gegenstand hinfindet, wodurch das Begehren nach Genuss, Lust oder Befriedigung neu entfacht wird, was auch Lacan als »Phantasma« unterstreicht. Auf der ontologischen Ebene impliziert das Begehren, wo es intentional und rational zum Wollen wird, eine Ausrichtung seiner Triebkräfte an der Zeitlichkeit und den Gesetzen der Welt. Dadurch jedoch wird das Begehren durch eine endliche und kontingente Größe (Signifikant) vermittelt, während das Begehrte, nämlich der Genuss (jouissance) der reinen Subjektivität, welche es in sich birgt, niemals berührt oder erreicht zu werden vermag, weshalb eben der Misserfolg des intentionalen Begehrens und Verlangens vorgezeichnet ist. Damit bleibt das Begehren immer auch ein Begehren nach (dem) Sein, welches sich allerdings in seinem ontologischen Mangel der Nicht-Erfüllung als Grenze für das Begehren erweist. Diese Struktur lässt die Welt mit all ihren Aspekten an Endlichkeit entstehen, während das Begehren stets ein höheres Sein sucht, denn als Verlangen will es die Freude seiner selbst – jenes Glück, aus dem neue Begehren geboren werden, um das Begehren in seiner subjektiven Erfüllung zu steigern. Bewegt von der reinen Subjektivität, die sein Wesen ist, wird das Begehren daher zur Erprobung der Leiblichkeit in ihrer Bewegung und Potenzialität, welche die ekstatische Phänomenalität zurückweisen, so dass auf diesem Wege verständlich wird, warum das »Un-Bewusste« unser innerstes Wesen ist und ein anderer Name für das Leben. Die Bilder der triebhaften Primärprozesse im Sinne Freuds können dabei als ein ontisch Unbewusstes verstanden werden, aber das eigentliche Unbewusste hat nichts mit dem »Unbewussten der Vorstellung« zu tun, welches nach Freud verdrängt werden kann, da das Unbewusste in der reinen Form der transzendentalen Affektivität nichts Vorstellungshaftes beinhaltet. 16 Dieser Hinweis auf das Unbewusste als Grund wie Prinzip unserer Leibhaftigkeit macht noch einmal deutlich, dass die intensive Kraft des subjektiven Leibes niemals mit der welthaften Entfaltung des Körpers verwechselt werden darf, sondern sich auch in allen soVgl. außer unserer Einleitung für die nähere Analyse des freudschen Denkens und des Begehrens bes. auch nach Lacan die folgenden Kapitel 3–4.

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135 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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zialen Bestimmungen und Gewohnheiten des objektiven oder produzierenden Körpers das Prinzip jeder Existenz auf unsichtbare Weise wieder findet – nämlich das Vermögen der Vereinheitlichung all dessen, was uns umgibt. Diese prinzipielle welthafte Eröffnung der Leiblichkeit bildet sich also anderswo heraus als in der Transzendenz der Welt, so dass die Morphogenese unseres Leibes nicht auf ein äußeres Vereinheitlichungsprinzip bezogen werden muss, sondern in einer Sphäre reiner Immanenz ruht. Damit ist nicht abgestritten, dass dieser Leib notwendigerweise zur materiellen Struktur der welthaften Existenz in engster Beziehung steht, denn diese ontologische Entwicklung von Welt und Leib ermöglicht sich gerade aus der reinen – oder eben unbewussten – pathischen Ursprünglichkeit heraus. Wenn diese Duplizität von verräumlichenden Weltstrukturen und den Potenzialitäten des intensiven Leibes beachtet wird, zu denen auch die Hierarchien und Organisationen der Gesellschaft gehören, dann sind ebenfalls alle Interaktionen mit Anderen durch eine transzendentale Sinnlichkeit bedingt, die auf einer Proto-Affektabilität in Wahrnehmung wie Vorstellung aufruhen und zur Selbstaktualisierung eines jeden Lebendigen gehören. Mit anderen Worten finden wir in dieser affektiven Immanenz die tiefste und gewaltigste Vorbedingung aller (inter-)subjektiven Verwirklichung wieder, das heißt jenes Begehren, welches die individuierten Impressionen durchzieht und zu jener ontologischen Verbindung wird, dem Anderen als begehrtes Wesen zu begegnen, ohne es der eigenen Macht zu unterwerfen, woran sowohl gewisse perverse Formen der Sexualität wie der Gesellschaft als ständige Gefahr für wirkliche Gemeinschaftlichkeit erinnern. 17 Obwohl das Begehren als conatus durch die Affektion im Sinne Spinozas seiner selbst bewusst wird und somit die Einheit des eigenen Lebens unterstreicht, findet dieses Begehren in der Welt kein ihm wirklich entsprechendes Objekt, wie wir schon sagten, so dass gerade auch die gesellschaftlichen wie interpersonalen Bezüge von einem Imaginären besetzt werden, wie besonders Lacan hervorhebt. Dieses kann die Formen von halluzinatorischen Phantasmen annehmen und die Wirklichkeit auf eine Weise beeinflussen, dass dadurch wiederum ganz neue Begehren entstehen, die dem Unbewussten zu antworten scheinen, aber im Grunde nur eine sekundäre Produktion als »BeFür die erotischen Implikationen des Begehrens vgl. M. Henry, Inkarnation (2002), 314 ff.; für die gesellschaftlichen M. Henry, Die Barbarei (1994), 227 ff., sowie für die therapeutischen Implikationen dieses Verhältnisses auch unser Kapitel 3.1.

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dürfnisse« darstellen, die der Unmittelbarkeit des Lebens als triebhafter Leiblichkeit nicht entsprechen. Als Konsequenz hieraus darf festgehalten werden, dass der Zusammenhang von Begehren und Wirklichkeit ein solcher der Intensität von Leibern ist, wobei der Bezug zum Unbewussten unterstreicht, dass die Univozität des Seins und die energetische Materialität sich nicht in einer intentionalen oder rationalen Teleologie zusammenführen lassen. Begehren und Wirklichkeit theoretisch miteinander zu verbinden, kann immer nur dazu führen, den Menschen wie Dingen im gesellschaftlichen Kontext einen gewissen Gebrauch vorzuschreiben, der in einem jeweiligen sozialen und politischen Umfeld stets begrenzend und ausschließend ist. Auf diesem Wege bleibt bestehen, was radikal phänomenologisch erkannt werden konnte, dass nämlich das Begehren durch den kontrastierenden Kontakt mit der Außenheit der Welt einen anderen Ursprung besitzen muss, da in der Welt das Sich des Begehrens und das vorgestellte Wesen seiner Erfüllung niemals zusammenfallen können, was für den therapeutischen Prozess eine leitende Einsicht sein dürfte. Im Übrigen ist bekannt, dass die Frage des Anderen – sei es als Fremderfahrung, Intersubjektivität oder Gemeinschaftlichkeit – die schwierigste Frage für die Philosophie und Phänomenologie im Allgemeinen darstellt, was auch gerade eine philosophische Analyse der therapeutischen Begegnung so schwierig macht. Da es nicht möglich ist, sich die Andersheit einer anderen Subjektivität in deren ganz eigenem inneren Erleben jemals selbst aneignen zu können, hat das zeitgenössische Denken sehr oft das Begründungsverhältnis Ego/alter oftmals umgekehrt, indem angenommen wird, nur vom Anderen aus könne man sich selbst als Identität in einem subjektiven oder sozialen Sinne verstehen. 18 Da jedoch der Andere in der Welt stets als eine Leiblichkeit erscheint, muss er mit in die innere transzendentale Erprobung meiner selbst als Immanenz hineingenommen werden, ohne die Differenz zwischen den Ipseitäten zu leugnen. Da die »Fremderfahrung« des Anderen somit radikal phänomenologisch eine wirkliche Erfahrung darstellt, die Möglichkeit solcher Inter-Subjektivität als »in uns« aufzuweisen, denn so wie die Transzendenz in der Immanenz begründet ist, so gehört auch der »Andere« zum transVgl. zum Beispiel E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, Alber 1984; P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München, Fink 1996.

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zendentalen Bezug des Ego zu seiner eigenen Leiblichkeit. Allerdings muss hierbei unterstrichen werden, dass in dieser subjektiven Erfahrung der eigenen Ipseität die Ipseität der anderen Individuen nicht durch das eigene Ich so vereinnahmt wird, dass keine wirkliche Andersheit mehr möglich ist. Erinnern wir uns daran, dass die Transzendenz jedes Seienden, welchem wir in der Welt begegnen, auf den wesenhaften Vollzug des Seins schlechthin hin überschritten wird, dann wird auch verständlich, wie der Andere durch seine ihm eigene immanente Intensität mein Ego überschreitet, obwohl beide im selben immanenten Leben ihre absolute Geburt haben. Das immanente Leben in seiner umfassenden Gründungsmächtigkeit lebendiger Subjektivitäten und Bezüge vermag also die Präsenz des Anderen als Mit-Konsistenz im eigenen leiblichen Ego zu gewährleisten, insofern die Selbstpräsenz eines jeden Ego nicht anderswo als in der radikalen Immanenz des Lebens statthaben kann. Damit ist für die Konzeption des Anderen die intentionale Transzendentalität radikal umgekehrt und auch keine bloß mundan garantierte Selbstidentität meines Ego vom Anderen her als »Du« eventuell sichergestellt, sondern die Immanenz fungiert als Intensität und Korrelation im Inneren der je immanenten Ipseität selbst. Mit anderen Worten wird dadurch die Fremderfahrung zu einer Erfahrung der Pluralität von allen denkbaren Ichen, denn die rein phänomenologische Möglichkeit einer jeden Ipseität ruht im Wesen der Ipseität als solcher, das heißt in der Selbstaffektion des absoluten Lebens, welches damit in seinem Ursprung oder Anfang ein plurales Leben an Individuen schlechthin ist. Damit wird nicht nur nochmals unterstrichen, dass es kein abstraktes oder solipsistisches Leben gibt, sondern das innerste Wesen des Lebens selbst ist Pluralität oder Proto-Relation, so wie auf der anderen Seite in der Außenheit keinerlei Bezug eines Sich zu sich selbst möglich ist, insofern Außenheit prinzipielle Distanz bedeutet und so nie eine Ipseität begründen könnte. Anstatt also die Phänomenologie an ihre konzeptuellen Grenzen zu führen und sie dort scheitern zu lassen, wäre die lebensphänomenologisch gesehene immanente generatio nicht nur die Bedingung des Bezugs eines jeden Sich zu sich selbst und damit die Bedingung der Fremderfahrung, sondern gleichzeitig der deutlichste Aufweis des relationalen Charakters des Lebens als solchem. Der Andere ist durch diese immanente Selbstbezüglichkeit des Lebens als prinzipielle Proto-Relation zugleich identisch mit unserer je leiblichen Hervorbrin138 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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gung im Leben, wodurch keine nachträgliche Bezogenheit der Leiber aufeinander durch ein intentionales Begehren zu konstruieren ist, sondern Leibsein, Begehren und Gemeinschaftlichkeit sind von vornherein als Affektivität und Trieb im Sinne der Intensität zusammen gegeben. Das Leben ist dadurch die Offenbarung jener Mächtigkeit, die jegliche Existenz konstituiert und als ontologisch homogen bestimmt. Da jede Leiblichkeit durch ihre Geburt im Leben radikal affektiv differenziert ist, bedeutet dies zugleich, dass sich die Leiber auch in der Welt prinzipiell als differenziert begegnen und die Singularität eines jeden Ego keineswegs durch ein anonymes Leben aufgehoben ist. Mögen auch oft in der Welt die persönlichen Züge eines Individuums wie negiert erscheinen (zumal wenn objektive Strukturen immer mehr zum Maßstab des Vergleichs zwischen Menschen werden), so garantiert die immanente Hervorbringung eines jeden Lebendigen in der transzendentalen Geburt dennoch gerade die Intensität eines jeden über seine ursprüngliche Leiblichkeit oder Inkarnation, welche ihn zugleich einmalig wie ähnlich macht, um unsere verschiedenen Affekte in der Welt als eine wirkliche Inter-Subjektivität zu leben. Die Horizonte einer solchen Inter-Subjektivität sind dann prinzipiell unendlich, da sich die Bezüge zwischen den Individuen als Intensitäten leiblich gegründeter Relationen vollziehen, die nicht wie Gegenständlichkeiten begrenzt und definitiv kanalisiert werden können, wie wir schon durch den Zusammenhang von Leib, Trieb und Begehren herausstellten. Hierzu ist die ontologische Einsamkeit, wie sie die Ipseitäten radikal auszeichnet, kein Widerspruch, denn rein phänomenologisch ist damit das Wesen des Lebens als der innerlich vereinende Modus des Lebens selbst gemeint, welcher die Ursprünglichkeit der Selbstpräsenz des Wesens garantiert. Wenn nun die Subjektivität sich als Selbstbezug und Mitpathos in Einem durch die transzendentale Geburt aller Lebendigen versteht, dann ist eben die Einsamkeit als Wesen dieses Lebens im Sinne seines In-Sich-Selbst-Kommens zugleich jene Affektivität, welche uns prinzipiell zur Gemeinschaft der Lebendigen vereint und auch die welthaften Situationen des Miteinanderseins in der Intersubjektivität bestimmt. Denn ob es sich dabei um ein Erleiden oder ein Erfreuen handelt, welche die beiden Hauptpole der Affektivität sind, so bilden sie auf jeden Fall jene ontologische Grundstruktur, wonach sich auch das welthafte Sein verzeitlicht. Als immanente Kennzeichen der Geburt der reinen Subjektivität im Sinne der Einsamkeit von »Ipseität« (und nicht im psychologischen Sinne des 139 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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Alleinseins) sind damit auch Erleiden und Erfreuen eine Metonymie der Möglichkeitsbedingung der Intersubjektivität im Horizont der Welt, denn sie garantieren die Effektivität aller Bezüge als intensive oder affektive Bezüge. Des Weiteren lässt sich ein Zusammenhang zwischen Begehren und Einsamkeit insofern vernehmen, als die Einsamkeit eine Implosion in sich selbst ist, aus der – als Erleiden und Handeln – jener Affekt entstehen kann, der uns konkret von der Einsamkeit zur Intersubjektivität übergehen lässt, das heißt im weitesten Sinne von jedem Bedürfen hin zu seiner Erfüllung über Begehren und Tun, die stets die Kooperation mit anderen Individuen einschließen. Immanenz, Individualität und Einsamkeit als Ursprungssituativität im radikal phänomenologischen Leben widersprechen somit keineswegs der immanenten wie ontologischen Intersubjektivität als pathischer Gemeinschaftlichkeit, insofern zwar in der Begegnung mit dem Anderen auch das existentielle Gefühl des Alleinseins, welches aus der prinzipiellen Einsamkeit zu entstehen vermag, momentan aufgehoben werden kann, aber in der Unmöglichkeit einer Fusion von Ipseitäten zugleich wieder auf das Sich zurückverweist, welches den Anderen letztlich weder zur eigenen Machtausübung noch auch zur metaphysischen Substituierung als »Trost« missbrauchen kann. Es bleibt mit anderen Worten – trotz aller erotischen, familiären, lebenspartnerschaftlichen und sozialen Bezüge und Netzwerke – eine letzte Distanz zwischen dem Ich und dem Anderen in der Intersubjektivität und Liebe selbst, was uns daran erinnert, dass wir nicht unmittelbar an der Ipseität des Anderen im Sinne einer Gleichheit partizipieren können. Unsere Leiblichkeit als affektives Begehren bewegt sich daher zwischen diesen beiden Polen in der Welt, das heißt zwischen der Konsistenz eines für sich existierenden Sich und einer transzendenten Einfügung in eine gemeinsame Welt, woraus sich jeweils eine Bewegung der Intensität miteinander ergibt, welche zugleich den Grund und Maßstab für alle ethischen Regulierungen abgibt. Der Andere ist somit ein Symbol der existentiellen oder ontologischen Vielheit, wodurch sich die Wahrnehmung im intersubjektiven Rahmen wie ein Versprechen an Möglichkeiten erweist, die erprobt werden können, insofern sich ein Leib nicht ohne Bezug zu anderen Leibern auffassen lässt. Dadurch wird der Andere auch zum Zeichen räumlicher und zeitlicher Bezugsmerkmale, die einerseits gemeinschaftlich sein können, andererseits als Grenze fungieren, insofern der Andere nicht organisch vereinnahmt werden kann. Hier140 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Fremderfahrung und Andersheit

durch entstehen Mikrosysteme unendlicher Bezugsmöglichkeiten, die auf Ähnlichkeiten gründen oder Exklusionen herbeiführen, wenn die Andersheit zur vermeintlichen Fremdheit wird. Ohne hier in eine Analyse der gesellschaftlichen Rollen und Zusammenschlüsse bzw. Entzweiungen einzutreten, kann festgehalten werden, dass das Leben in einer Gesellschaft nicht darin besteht, Veränderungen zu widerstehen, sondern sie eher in Korrelationen und praktischen Äquivalenzen zu eigenen Situationen zu verstehen. Damit sind Konflikte nicht ausgeschaltet, besonders wenn die persönlichen subjektiven Merkzeichen der Selbstidentität bedroht erscheinen, aber es kann gleichfalls deutlich unterstrichen werden, dass ein Ethos des Zusammenlebens als Ipseitäten in einer Gemeinschaft von Lebendigen letztlich nicht im theoretischen Aufsuchen einer vereinheitlichen Bezeichnung der Differenzen besteht, sondern in dem Versuch, gemeinsam das Leben zum Ausdruck zu bringen. Dass dies keine opportunistische Beliebigkeit impliziert, die alles und jedes zulässt, wird sofort daran klar, dass eine solche Ethik der Gemeinschaftlichkeit zu jedem Augenblick die Eigenständigkeit der transzendentalen Geburt eines jeden in ihrem praktischen Vollzug zu garantieren hat, der zwar nicht vor überraschenden Veränderungen geschützt werden kann, wohl aber auch der äußeren Gewissheit zu diesem inneren Vollzug in der subjektivgemeinschaftlichen Praxis bedarf. 19 Die Negation einer göttlichen Teleologie in gesellschaftlichem (fundamentalistischem) Gewand ist damit nicht nur ein Ergebnis kritischer »politischer Theologie«, wie wir sie seit dem Rationalismus und der Aufklärung kennen, sondern ein Wesenszug jener absoluten Gemeinschaftlichkeit, welche die Absolutheit des Lebens dank der transzendentalen Geburt der Lebendigen in sich trägt. Es ist nicht möglich, solches Leben zu morden, zu vergewaltigen oder zu betrügen, ohne sich gegen das Prinzip des ipseisierenden oder rein phänomenologischen Lebens selbst zu vergehen. Alle rationalen Systeme, Normierungen und Institutionen, die erschaffen wurden, um die Gesellschaft in sich zu versammeln und zu festigen, sind also rückgebunden an die prinzipielle Leiblichkeit und deren Respekt, da alle gesellschaftliche Ereignishaftigkeit auf solcher leiblichen Grundlage und deren conatus beruht. Das Ethos des Lebens ist ein Gleichgewicht zwischen dem individuellen Erzittern angesichts unserer je eigenen Vgl. R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München, Alber 2008, hier bes. 148 ff. u. 438 ff.

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affektiven Möglichkeit und dem Einbruch der Transzendenz im ontologischen, ethischen wie gesellschaftlichen Sinne im Zentrum unserer Innerlichkeit selbst. Sich selbst von innen her zu kennen, um eine Praxis zu erproben, die diesem Sich entspricht, ohne das entsprechende Mit-Pathos gemeinschaftlicher Bezüge zu vergessen, impliziert so die Anerkennung der intensiven Materialität als Spur originärer Affektivität vor allen Versuchen allgemeiner Regeln, die a priori als moralisches Wissen das soziale und politische Verhalten der Individuen regulieren wollen. Durch die Konstitution der welthaften wie intersubjektiven Transzendenz und Intentionalität von der leiblichen Immanenz aus ist dementsprechend festgehalten, dass die Relationen nicht autonom sind, aber auch nicht als fremd gegenüber dem Leben betrachtet werden können. Die dergestalt angesprochene lebendige Ethik, welche auf der immanenten Wirklichkeit des Individuums und einer intensiven Praxis im umfassenden Sinne aller Wirklichkeit beruht, verbindet folglich eine radikale Univozität des ursprünglichen Lebens mit der Entfaltung innerhalb welthafter Relationen als ein Denken des Leibes, welches vor-rational ist, insofern sich diese Ethik durch die Affekte des lebendigen Wesens eines jeden Menschen hindurch ausdrückt. Die Selbstbezüglichkeit des Sich in der Immanenz des Lebens und die phänomenologische Materialität einer Reflexivität der Intensität werden daher zusammenfassend durch jene transzendentale Affektivität garantiert, welche Form wie Gehalt jeweils zu dem einen Erscheinen des Lebens als seine unverwechselbare Manifestation werden lassen. Die lebendige Leiblichkeit tritt daher als ein Chiasmus von gründender Affektivität, umfassender Intensität und praktischen Objektivierungen (Relationen) auf, um auf diese Weise den Weltbezug zu einer ständigen subjektiven Praxis werden zu lassen, welche geprägt ist von einer Erprobung intensiver Entfaltung des Individuums einerseits und einer vereinheitlichten Vielfältigkeit des Lebens andererseits, aus der existentielle Kontingenz und Präsenz des Anderen nicht ausgeschlossen sind, sondern zur inneren Identität solcher Erprobung jeweils gehören. Die gleichzeitige Einheit der lebendigen Absolutheit des Leibes und seiner kontingenten Relativität in den Weltbezügen bildet die unbedingte Erfahrungsbedingung jeglichen Seins in der Welt, in die ebenfalls Wahrnehmung, Einbildungskraft wie Zeitlichkeit eingebunden sind. Die Unvorhersehbarkeit von »Ereignissen« jeder Art im psychologischen, gesellschaftlichen wie geschichtlichen Bereich widerspricht daher nicht einer phänomenologi142 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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schen Absolutheit des Leibes als einer transzendentalen Geburt im Leben. Trotz des unterschiedlichen individuellen Werdens im ontologischen Sinne bleibt die intensive Leiblichkeit eine prinzipielle Grundlegung aller intensiven Materialität von Impressionen, Begehren und Affekten, die allein das Leben in seiner Univozität bezeugen können. Ein solcher Leib ist nicht mehr metaphysisch im Sinne eines »ausreichenden Grundes« zu verstehen, sondern als das Prinzip eines erneuerten Denkens, welches der ständigen Ankünftigkeit und damit Veränderung des Lebens unterworfen ist, ohne durch Reversibilität und die Ereignishaftigkeit neuer Interpretationen seine immanente Konsistenz zu verlieren, was ohne Zweifel für jede Therapie grundlegend ist. Vielfalt, Werden und Unvorhersehbarkeit der Formen, in denen das Leben sowohl individuiert wie gemeinschaftlich erscheint, sind daher Konsequenzen, die keinen Dogmatismus auf rationaler oder teleologischer Ebene mehr zulassen, das heißt eine transzendente Strukturation des Seins, da die ausschließliche Idee einer Transzendenz außerhalb des Lebens für dieses erneuerte Denken von der radikalen Leiblichkeit aus keinen Sinn mehr ergibt. Damit ist gleichfalls jede Theorie der Biographie oder Zukunft obsolet, welche die prinzipiell offene Relationalität lebendiger Leiber in irgendeine Form der schon genannten abstrakten Vereinheitlichung oder Versammlung hineinbringen will, was ebenfalls einen teleologischen Moralismus des Religiösen betrifft, sofern er traditionell als die Repräsentanz einer allmächtigen Transzendenz jenseits des Verlaufs der Existenz gedacht wurde, wodurch die prinzipielle Offenheit des Lebens der Furcht unterworfen wird bzw. in Konflikt mit der menschlichen Freiheit als eingeforderter Gesetzesübereinstimmung tritt. Wenn jede Transzendenz in einem objektiv äußeren Sinne durch die Immanenz nur noch einen sekundären Platz einnehmen kann, dann ist damit jedoch nicht eine ursprüngliche religio zwischen der leiblichen Inkarnation und dem absolut gebärenden Leben aufgehoben, und zwar genau unter der Voraussetzung, dass diese religio nicht nach oder vor der apodiktischen Geburt des ursprünglichen Leibes auftritt, sondern vielmehr in derselben, das heißt als diese Geburt selbst. 20 Rein logisch ergibt sich daraus ein scheinbarer Widerspruch mit der Endlichkeit des sterblichen Körpers in der Welt, sofern der ursprüngliche Leib nur als Absolutheit und Dauer in einem phänomenologisch zeit20

Vgl. R. Kühn, Lebensreligion (2013), bes. Kap. I,2: »Religion und Modernität«.

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losen Sinne verstanden werden kann. Wir müssen aber sehen, dass die Endlichkeit im welthaften Sinne nur eine horizonthaft unendliche und unsichere Veränderung für das einzelne Individuum sowie zwischen den Individuen bedeuten kann, zu welcher der Tod als die letzte irrelative Möglichkeit jeweils gehört, ohne die Ewigkeit des Lebens selbst negieren zu können, so dass Einheit und ständige Veränderung gleichzeitig beibehalten werden müssen. Aus der erneuerten Metaphysik des Leiblichen ergeben sich somit eine ständige Erprobung des absolut begründenden Lebens in seiner Immanenz sowie unendliche Formen der Entfaltung wie Einfaltung des existentiellen Lebens im welthaften Sinne, von denen wiederum allein die ursprüngliche Leiblichkeit als gelebte Intensität im Einzelnen Rechenschaft ablegen kann, ohne eine theoretische Gesamtaussage über eine rein vorgestellte oder allgemeine Substanz »Leben« machen zu können – auch wenn sie durch unaufgeklärte Begriffe wie »Gott«, »Schicksal«, »Evolution« etc. ersetzt werden sollte. Ohne damit eine Lösung absoluter Freiheit angesichts menschlicher Existenz favorisieren zu wollen, lässt sich dennoch sagen, dass die subjektive Praxis der Leiblichkeit in Bezug auf Zeit und Geschichte jeweils einen Schnitt (Epoché) bedeutet, dessen Verstehen sich allein aus der individuierten Leiblichkeit ergibt, wie wir sie auch bei Nietzsche finden. Der Leib als begrifflicher Hauptbezug des immanenten wie welthaften Lebens wird damit nicht zu einem neuen dogmatischen Vorurteil, sondern der Referenzpunkt sowohl für die Immanenz wie Transzendenz, innerhalb deren Grenzen sich alle Ereignisse für uns erproben. Die Gegebenheit der Dinge und die Metamorphosen der Welt zeigen dabei jeweils die Verwandlungen der Leiblichkeit als innere Affektivität und subjektive Praxis an, die ihre gemeinsame phänomenologisch-ontologische Referenz im Leben besitzen. Denn die effektiven Zustände und Veränderungen lassen sich letztlich nur mit Bezug auf den Leib selbst festhalten, insofern er eine stets praktisch erprobte intensive Materialität darstellt, die Präsenz wie Verwirklichung des absoluten Lebens zugleich bedeutet. Mit Blick auf die Zeitlichkeit im Weltkontext sind damit sowohl eine immanente Dauer wie eine Spontaneität der je veränderten Manifestationen angezeigt, die im Begriff des Augenblicks zusammengefasst werden können, wie wir schon sahen. In jedem Zeitmoment wirkt in der Tat die fundierende Materialität des Lebens als Potenzialität oder Können wie auch die Korrelationen der intersubjektiven Bewegungen als aufeinander folgende Aktualisierungen der einzelnen wie gemein144 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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schaftlichen Handlungen. Somit lässt sich sagen, dass das Jetzt des Augenblicks die Individuen in ihrem stets ganz subjektiven wie aber auch kontextuellen Leben ergreift, um die Kräfte in einem Punkt zu bündeln, aus denen sich weitere Richtungen der inneren wie welthaften Entfaltung ergeben. Jedes Tun mit den zugleich gegebenen Affekten und Gefühlen, Impressionen und Trieben sowie Bedürfen und Begehren impliziert die gesamte affektive Zeitlichkeit (als Historialität oder Narrativität) in einem Moment der Korrelationen in ihrer Möglichkeit wie Effektivität. Insofern enthält der Augenblick als kleinste chronologische Dauer das Werden der kommenden Bezüge der lebendigen Leiblichkeit im Sinne einer individuellen wie gemeinschaftlichen Praxis. Da die Transzendenz im Vollzug ihrer selbst immanent bei sich bleibt, gibt es folglich radikal phänomenologisch in der transzendenten Bewegung als solcher ein Bei-Sich-Behalten, welches das innere Wesen des Augenblicks selbst ausmacht. 21 In der subjektiven Praxis existiert daher – von der Passivität bis zur äußersten Aktivität des Lebens – eine verbleibende effektive Mächtigkeit, welche dem Leben als Leiblichkeit seine immanente wie mundane Verwirklichung erlaubt, die zwar von den gesellschaftlichen Formen gestützt wie unterbrochen werden kann, jedoch niemals einem ontologischen Nichts anheimfällt. Folglich lässt sich festhalten, dass das hier genannte »Bei-Sich-Behalten« des Lebens in jeder Transzendenz als solcher auch jener Augenblick ist, in der die Leiblichkeit ihre Weltkonstitution verwirklicht, indem sie beim Überschreiten der Seiendheit als transzendentaler Projektion der Kräfte in die Welt hinein dem Akt des Bei-Sich-Behaltens des Seins als Leben weiterhin entspricht. Die Welt ließe sich in einem solchen abschließenden Zusammenhang dann sogar als das transzendentale Bei-Sich-Behalten des Seins schlechthin verstehen, indem die radikale Erprobung des Sich als Individuum wie Gemeinschaftlichkeit genau in diesem abgründigen oder unsichtbaren Punkt verharrt, ohne die Veränderungen verweigern zu müssen. Denn mit anderen Worten bedeutet die Verwurzelung des leiblichen Könnens im immanenten Gewebe der welthaften Entfaltung jenes absolute »Nun« im Sinne Meister Eckharts, wo keine Zeit als Phänomen mehr gegeben ist, insofern sie in solchem Augenblick des wesenhaften Bei-Sich-Bleibens der affektiven ZeitWir greifen hier den Begriff des maintien oder der retenue in diesem Sinne bei M. Henry, L’essence de la manifestation, Paris, PUF 1963, 333, auf.

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2. Ego, Affekt und Welt

lichkeit verschwindet, da jede gedachte Zeit eine Abstraktion darstellt – das Nun des lebendigen Augenblicks als immanentes »Jetzt« jedoch niemals eine Abstraktion aufgrund der transzendentalen Geburt zu sein vermag. Das Dasein als Leben findet mithin seinen Grund in einer ursprünglicheren Zeit als der ekstatischen Zeitlichkeit, das heißt in jener Historialität oder Narrativität, welche keine Aufeinanderfolge von Ekstasen mehr ist, sondern Passibilität und Fulguration von jeglichem leiblichem Können in Einem. Das Bei-Sich-Bleiben ist daher auch kein intentionales Verharren-Wollen im Sinne der Erprobung des Verändertwerdens (weil nichts vor der Negativität einer dialektischen Zeit im Sinne Hegels schützen würde), sondern die ursprüngliche Zeit als Nun des Augenblicks gehört zur immanenten Struktur des Seins als Leben, um so eine lebendige Gleichzeitigkeit von Leben und Welt zu ermöglichen, durch die ebenfalls immanentes Gewebe der Subjektivität in ihrer uranfänglichen Absolutheit und welthafter Ausdruck der Leibpraxis in jedem Augenblick zusammenfallen. Auf diese Weise lässt sich die passible Iteration der inneren Lebensbewegung als eine ständige Fulguration der Welt in einer leiblichen Korrelation verstehen, in der die pathische Selbsterprobung und die affektiven, begrifflichen wie sinnlichen Einsätze der Wahrnehmung und Einbildungskraft zum Dienst des Lebens an der Welt dank der Leiblichkeit oder Inkarnation werden. Wiederholung, Spontaneität und Gleichzeitigkeit wie Reversibilität sind dann nicht mehr länger Gegensätze, sondern vielmehr die Weise, wie Subjektivität, Individuierung und Objektivierung zusammenspielen, nämlich als Unmittelbarkeit von Affektivität und Reflexivität in einer nie unterbrochenen subjektiven Praxis. Deren Vollzug als leibliche Veränderung im Sinne einer immanenten Verwirklichung der originärsten Vermögen selbst, die der Leib in sich besitzt, ist mithin nur möglich von einem Bei-Sich-Bleiben jenes Nun aus, das jegliches Werden trägt. Vergangenheit und Zukunft sind dann auch nicht mehr länger nur rein sukzessive Momente der Zeit und des Handelns, sondern koexistierende Weisen der Iteration des Könnens als gleichzeitige Verwirklichung von Passibilität und Konkretion – das Sich-Behalten in der Erprobung ständiger leiblicher Veränderung. Im rein phänomenologischen Augenblick von Bedürfen, Begehren und Wollen, das zur Tat übergeht, mit anderen Worten zur Welt hin wird, ergibt sich ein Chiasmus der Anstrengung, der in seinem inneren Wesen keine volitive Anstrengung ist, sondern Aussetzung des Fleisches an das 146 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Fremderfahrung und Andersheit

Leben, wodurch sich das Ineinander von Welt und Existenz ergibt, um Kreation im Sinne der »Selbststeigerung« zu sein. In diesem Sinne ist der Lebendige durch sein originäres Bei-Sich-Bleiben auf paradoxe Weise niemals »sich gleich« in einem objektivierten Sinne, sondern nur verstehbar in einer unaufhaltsamen Bewegung. Kurz formuliert ließe sich dann sagen, das Nun ist praktische Kreation des Sich, wobei die radikale Phänomenologie der Leiblichkeit dabei zugleich das radikale Nun als Praxis ständiger Intensität oder Steigerung des Sich versteht, woraus sich die zuvor häufiger angesprochene Veränderung des Denkens heute ergibt: »Nehme ich das Nun, so begreift das alle Zeit in sich. Das Nun, in dem Gott die Welt erschuf, das ist dieser Zeit so nahe wie das Nun, in dem ich jetzt spreche.« 22 Angesichts der gesellschaftlichen Umstände, die heute oft wie eine große Krankheitssymptomatik betrachtet werden, der nach der Meinung vieler nur eine »politische Medizin« verabreicht werden muss, um die Zonen der Krankheit zu heilen, etabliert sich auf diese Weise eine zunehmende Kontrolle, der nur ein solches Nun, wie wir es skizziert haben, einen anderen Weg entgegensetzen kann. Insofern dieses lebendige Nun eine immemoriale Gegenwart bei gleichzeitig paradoxer Kontingenz einer welthaften Praxis bedeutet, die dennoch subjektiv wie gemeinschaftlich in einer absoluten Leiblichkeit verankert ist, ergibt sich aus dem Chiasmus von immanenter Sich-Phänomenalität eines jeden Individuums und den intersubjektiven Bezügen ein Hervorspringen ständiger Transzendenz aus der Immanenz, wobei Außenheit und Begehren als Affektivität und Trieb sich nicht widersprechen. Denn aus dem Erscheinen eines solchen Begehrens, welches sich bereits in seiner Innerlichkeit als tiefste Bezüglichkeit auf die Welt hin öffnet, ergeben sich Verwirklichungen der lebendigen Leiblichkeit, welche das Bei-Sich-Bleiben in seiner affektiven Gegründetheit nicht leugnen müssen. Indem nämlich die Potenzialitäten dieser Überkreuzung und Verdichtung von Begehren und welthafter Transzendenz die Öffnung über jede Situation hinaus bilden, entsteht eine Disponibilität, in der sich das Hören auf jede inner-narrative Individualität und gemeinschaftliche Praxis verwirklichen und worin es sogar noch wachsen kann. Was allerdings dabei im Sinne Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München, Diogenes 1979, 195 (Predigt 10). Dieses Zitat ist zugleich ein Beleg dafür, dass sich auch religiöse Formulierungen in einem rein proto-phänomenologischen Sinne verstehen lassen und therapeutisch genutzt werden können.

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2. Ego, Affekt und Welt

eines erneuerten Denkens zu überwinden ist, besteht darin, gewisse Absolutismen des bisherigen rationalen Fundamentalismus, Essentialismus und Moralismus zu korrigieren. Dass sich nämlich alle Dinge gemäß fixierten Schemata der Erfahrung anordnen lassen, hält ebenso wenig einer radikal phänomenologischen wie tiefenpsychologischen Analyse der Leiblichkeit stand wie einer strengen Dichotomie vom Ansich der Wesenhaftigkeit und bloß ephemerer Phänomenalität, insofern die affektive und freie Praxis des Lebens nicht ausschließlich intentionalen Vorgaben untergeordnet zu werden vermag. Und wenn der Moralismus zumeist an eine göttliche oder humanistische Teleologie gebunden ist, welche solcher Praxis nur eine Ausrichtung an einem Höchsten Gut bzw. an innerweltlichen Fortschritt zugesteht, an dem sich alles Handeln analog oder progressistisch zu messen habe, dann ist die »Heilsfrage« für immer auf eine Zukunft verschoben, die nicht die Unbedingtheit des Nun kennt. Letztere Entschiedenheit des Augenblicks besagt nichts anderes, als dass radikal phänomenologisch oder inkarnatorisch in jedem Augenblick die Gesamtmöglichkeit der Erfahrung auf dem Spiel steht, um diese als Erprobung immanenten oder historialen Lebens in der umfassenden Einheit von Affektivität und Zeitlichkeit als pathischer Narrativität zu leben. Gewiss behält dabei das aristotelische Widerspruchsprinzip in seiner welthaften Logik eine gewisse Triftigkeit bei, aber gerade die inkarnierte Individualität lebt von der prinzipiellen Reversibilität und Wiederholung affektiven Lebens, die sich als Freude und Leid nicht ausschließlich in diese Logik einschreiben lassen. Wir möchten diese Kritik am Absolutismus des Denkens und der gesellschaftlichen bzw. traditionellen Moral nicht Relativismus nennen, weil der Augenblick des Nun eben einen bloß situativen Dezisionismus nicht kennt, sondern eher eine Fulguration der Bestimmtheit wie in der Ästhetik, wo kein Element einer Gesamtposition – sei es Linie, Farbe, Ton, Material etc. – zufällig und sekundär sein kann, sondern sich jeweils als entscheidend und wegweisend für ein Kunstwerk in dem Sinne gibt, dass sich bei jeder Aktualisierung die Leiblichkeit in ihrer Intensität insgesamt investiert und verwirklicht. Die genannte Fulguration ist also ein »Denken« des Aktuellen auf dem Abgrund der immanenten Zeitlichkeit als stets je verlebendigte Erprobung aus der Absolutheit der unmittelbaren Lebensgeburt heraus, worin auch existentielles Begehren und unbewusster Trieb zusammen mit dem welthaften Kontext ihre Entfaltung finden, welche Grenzen und Misserfolg nicht ausschließen muss, insofern im Mit148 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Fremderfahrung und Andersheit

einander nicht alles verwirklicht werden kann, was als das unbedingt »Eigene« erscheint. Aber die kontextuellen wie axiologischen Differenzierungen und Anpassungen widersprechen nicht der Hauptthese von der Primordialität des Leiblichen, unter deren Leitgedanken wir eine mögliche Erneuerung des Denkens und der Therapie in der gegenwärtigen kulturellen Entwicklung skizzieren möchten. Insofern die zuvor erwähnte gesellschaftliche Krankheitsdiagnose versucht, in die angeblichen Schwächen und Unvollkommenheit einer immer auch fragilen und verletzbaren Leiblichkeit ihre (szientistischen) Heilmittel einer scheinbar verkannten Außenheit, Transzendenz oder diskursiven Wichtigkeit einfließen zu lassen, mithin im Grunde eine stets verfehlte Leiblichkeit suggeriert, muss bewusst bleiben, dass »Heil« oder »Therapie« nicht durch eine theoretisch ontologische Ordnung der Dinge erwächst, sondern durch eine originäre Praxis. Zu ihr haben alle dank transzendentaler Geburt ihren unmittelbaren Zugang, weil es einen Zugang zum Leben nur im Leben selbst gibt, wobei die leibliche Struktur als Grund wie Chiasmus gerade die Öffnung zur Welt hin nicht ausschließt, wie ausreichend unterstrichen wurde. Vollkommen zu leugnen sind auch nicht die klassischen Begriffe der metaphysischen Trias von Ego, Deus und Mundus innerhalb dieser versuchten Neuformulierung von Leib, Leben und Welt, aber was sich geändert hat, ist ihre bisher angenommene rein rationale oder »differäntielle« Zuordnung, um sie nunmehr in einer radikalisierten Phänomenalisierung des vom Grunde her affektiven Selbsterscheinens angemessener zu überdenken, wie dies in der nachfolgenden Diskussion mit Freud, Lacan und der Daseinsanalyse auch in tiefenpsychologischer und existenzanalytischer Hinsicht unternommen werden soll.

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3. Trieb und Psychoanalyse

Der Trieb ist zutiefst in der immanenten Affektivität verwurzelt und erscheint als triebhafte Intentionalität unbegrenzt und unreflektiert, was die subjektive Bewegung in ihrer sichtbaren Kontingenz betrifft. Von Autoren wie Husserl, Freud und Scheler etwa wird zwischen dem unbewussten Trieb und der bewusst werdenden Tendenz des Triebes eine Zwischenzone angesetzt, die aus dem scheinbar blinden Begehren ein Moment der Verbindung von Instinkt und Wollen darstelle, um schließlich in ein ethisch orientiertes Handeln überzugehen. Diese »Reifung« des Triebes kann in leiblicher Hinsicht als eine dreiteilige Dynamik von animalischem, libidinösem und symbolischem Leib angesehen werden, wie beispielsweise bei Merleau-Ponty, der diese Dynamik zudem mit der motorischen, erotischen und existentiellen Intentionalität im Allgemeinen korrelieren lässt. 1 Die Unterscheidung zwischen Instinkt und Trieb entspräche dabei nicht genau der Unterscheidung zwischen Tier/Mensch, denn der libidinöse Trieb findet sich bei den höheren Tierlebewesen wie bei den Menschen, während die symbolisierte Leiblichkeit nur bei den letzteren auftrete. Was die gegenwärtige phänomenologische Diskussion betrifft, so wird weitgehend Trieb und Wahrnehmung zusammen gesehen, und zwar in dem Sinne, dass die Wahrnehmung vom Trieb durchzogen sei, um eine »innere Spannung« zu signalisieren, die den Organismus antreibe, sofern dieser von einem Bedürfen bestimmt ist, welches ein entsprechendes Objekt der Befriedigung vorzeichne. 2 Von diesen Voraussetzungen her erscheint das Leben zumeist als ein Widerspruch oder eben als eine wesentliche Spannung

Vgl. M. Merleau-Ponty, Die Natur (Vorlesungen am Collège de France, 1956– 1958), München, Fink 2000. 2 Vgl. H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/ M., Suhrkamp 2011, 581–603, zu Renaud Barbaras etwa, dessen Ansatz wir kurz in unserer Einleitung schon erwähnten. 1

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Trieb und Erotik

zwischen physisch-chemischen Gegebenheiten und einem Verhalten, welches das Innere mit dem Äußeren zu verbinden habe. Aber es ist offensichtlich, dass der Trieb – bzw. die Triebhaftigkeit, um Tier und Mensch bereits auf der Instinktebene zu unterscheiden – mehr darstellt als die bloß animalische Spannung, um ein Bedürfen zu befriedigen, denn gerade unser Begehren zeigt, dass bei letzterem stets ein subjektives Verlangen in Bezug auf das Selbst oder Ich mitgegeben ist, während das Bedürfen als nur gegenständlich angesehen wird. Dies tritt ganz klar im erotischen Begehren zu Tage, denn letzteres erfüllt sich nicht allein in einem sexuellen Verlangen, sondern sucht eine Koinzidenz der Subjektivität auf beiden Seiten der Liebenden, so dass hier eine Immanenz des Lebens ins Spiel kommt, die hinsichtlich des Begehrens und des Triebes genauer zu untersuchen bleibt.

1) Trieb und Erotik Die Vereinigung von zwei Subjektivitäten, wie immer sie im Einzelnen gelebt wird, setzt auf jeden Fall eine Alterität der Individuen bei der Triebhaftigkeit als Begehren voraus, das heißt eine transzendentale Relation innerhalb dieser spezifischen Intersubjektivität. Dieses begehrende Verhältnis wird in der Phänomenologie oftmals als paradigmatisch für das Verständnis von Intersubjektivität überhaupt angesehen, wobei allerdings nicht nur die Wiederholung des erotischen Aktes eine fundamentale Frage für das Verständnis der intensiven (triebhaften) Leiblichkeit darstellt, sondern gerade auch der Zusammenhang zwischen dieser begehrenden Intensität und einem transzendenten oder objektiven (geschlechtlichen) Körper, der oftmals diese Intensität in ihrem rein immanenten Verlangen ebenfalls scheitern lässt. Mit anderen Worten ergibt sich daraus die Problematik des Libidinösen überhaupt, ob es nämlich in seiner Bewegung auf den Anderen hin nicht zugleich an die Grenzen der Welthaftigkeit als Transzendenz dergestalt gebunden ist, dass der Andere in der Welt niemals erreicht werden kann. Dann wäre das Begehren letztlich in der Tat auf die Immanenz als allein ständige Präsenz angewiesen, denn welthaft kann es mit der kontingenten Präsenz des Anderen als »Körper« nicht zusammenfallen, so wie es andererseits auch nicht die Immanenz des Anderen als singuläre Erlebnisweise und Ipseität zu erreichen vermag. Daraus ergibt sich die prinzipielle Frage, ob das Begehren an sich oder als Liebe nicht immer schon über alle Seienden in der Welt hi151 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

3. Trieb und Psychoanalyse

naus ist und genau auf diese Weise die Kontingenz unserer Existenz zu überwinden versucht, indem es die intensive Präsenz des Anderen sucht. Auf jeden Fall stoßen wir hier bereits auf den radikal phänomenologischen wie tiefenpsychologischen Sachverhalt, dass die Immanenz des Anderen in der Kontingenz eine ontologische Unmöglichkeit darstellt, denn was in der Erotik erreicht wird, ist allein eine Re-präsentation des Anderen, mit anderen Worten das unaufhebbare Intervall zwischen dem, was das Begehren in sich empfindet, und dem, was sich vom Anderen her zu empfinden gibt, ohne mit dem eigenen Empfinden zusammen fallen zu können. Daraus muss sich nicht unbedingt eine Einsamkeit als Hauptgefühl einstellen, aber zumindest weist dieser grundsätzliche phänomenologische Abstand im leiblichen Empfinden darauf hin, dass die Wiederholung der Erotik eine Folge der jeweiligen Unvollendetheit der einzelnen Akte bildet, was im äußersten Fall eine Tragik für die Intersubjektivität als Liebe schlechthin herbeiführen kann. Lebensphänomenologisch gesehen ist nun das Wesen des Gefühls mit jener Bewegung identisch, die sich ontologisch in der Immanenz des Lebens aktualisiert, so dass sich die innere Struktur des pathisch Absoluten als Leiblichkeit oder Intensität des Affekts in jenen Gefühlen erproben lässt, welche die Menschen untereinander empfinden. In dieser Hinsicht ist jedes intersubjektive oder erotische Gefühl eine wirkliche Erfahrung, welche sich zunächst weder im reflexiven Bewusstsein noch im moralischen Gewissen ereignet, sondern dem ursprünglichen Bereich des affektiven Werdens des Seins angehört und stets auf eine innere Ich/Mich-Erfahrung als Ipseität zurückverweist. Die intersubjektive Differenz als Bezug der Andersheit beinhaltet daher das Verhältnis des lebendigen Leibes zu einem anderen lebendigen Leib, was zu verstehen erlaubt, dass der Bezug zu einem anderen Leib als intensives Fleisch eine unverzichtbare Größe im Selbstverständnis eines jeden Individuums darstellt. Wird dieser Bezug daher auf den sichtbaren oder objektiven (geschlechtlichen) Körper beschränkt, so wurde die entsprechende Leiblichkeit als umfassende Intensität (Fleisch) – sei es der Leib des Anderen oder der meine – durch Abstraktion des Ego auf ein Leibsein reduziert, welches es unmöglich macht, den Anderen wirklich als solchen wahrzunehmen, da jeglicher subjektive Bezugspunkt im grundlegend phänomenologischen Sinne verloren ging. Der Andere ist dann im Grunde nicht mehr als die fiktive Verdoppelung meiner selbst, denn auch ich habe mich dann in einer solchen Vorstellung des Anderen 152 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Trieb und Erotik

auf eine entsprechende Repräsentation meiner selbst reduziert. Verallgemeinert man diese Analyse, so kann gesagt werden, dass im reflexiven Bewusstsein niemals zwei Leiber als affektives Fleisch in der Einheit einer solch vorstellenden »Paarung« vereint sein können, da der Andere als solcher gar nicht angemessen »konstituiert« wurde. 3 Es gibt also gute Gründe zu fragen, ob der erotische Raum als Paradigma der Intersubjektivität schlechthin nicht in einen absolut phänomenologischen Bereich verlegt werden muss, denn nur dort könnten die Liebenden zu einer intensiven Einheit hin finden, das heißt im Grund des Lebens, der radikal phänomenologisch jene Kontingenz nicht kennt, welche die Welt ihnen auferlegt. In den Augen Michel Henrys, der für eine solche Begegnung plädiert, in denen die erotische Beziehung letztlich nicht der Weltsicht unterworfen ist, das heißt den ausschließlich kontingenten Körperbedingungen, handelt es sich dabei nicht um eine »Sublimierung« von Leiblichkeit und Eros im Sinne Freuds, sondern um einen Vollzug, in dem die Sexualität als Transzendenz des Körpers auf eine Implosion im Leben hin gelebt wird. Es muss nämlich gesehen werden, dass es innerhalb der Erotik ein pathisch Sensuelles gibt, 4 welches mehr ist als die Reversibilität von Berühren/Berührtem im Sinne Merleau-Pontys, da die ursprüngliche Passibilität des Fleisches mit zu berücksichtigen bleibt, welches nicht einfach einem Weltverhältnis der Transzendenz gehorcht. Mit anderen Worten ist die erotische Beziehung nicht bloß eine sexuelle Beziehung, die sich in einer objektiven Körperlichkeit allein vollzieht, sondern im pathisch Sensuellen, welches über das rein empirisch Sinnliche hinausgeht, gibt es ein Berühren des Anderen, welches zugleich mit dem immanenten Leben des Anderen in Beziehung tritt. Unter der Gestalt einer endlichen Modalität der Geschlechtsvereinigung wird dabei der Versuch unternommen, dem Vergessen des Lebens in der Welt zu entrinnen, was durch den sensuellen Leib des Anderen insofern unmittelbar gegeben ist, wie er das einzig »magische Objekt« (Sartre) in der Welt darstellt, welches ein Absolutes verheißt. Und der Grund dieses erotisch Absoluten ist genau jene Passi3 Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana I), Den Haag, Nijhoff 2 1963, § 51, der für diese Sichtweise in der nachfolgenden Phänomenologie häufig kritisiert wurde. 4 Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, 322 ff., wo mit dem Sensuellen das erotisierte Sinnliche bezeichnet wird, um es von der allgemeinen Sinnlichkeit der Wahrnehmung zu unterscheiden.

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3. Trieb und Psychoanalyse

bilität, welche das unsichtbare Wesen des Fleisches aufseiten von Mann und Frau ist. Diese intersubjektive Beziehung der Erotik und Liebe zwischen den Geschlechtern oder den Liebenden ist daher insofern einmalig, wie sie zum einen den mit der Endlichkeit behafteten Leibkörper in der Welt betrifft, wie aber auch die unendliche Möglichkeit des Lebendigen schlechthin, woraus in der Sexualität jene (nicht-neurotische) Angst entspringt, den Abgrund des Lebendigen über den intentionalen oder sinnlichen Körper allein nicht erreichen zu können. Denn diese Endlichkeit des Körpers ist sowohl an die Vorstellung gebunden, durch die jeder sichtbare Körper in Raum und Zeit auftritt, sowie aber auch an die Intentionalität als solche, mit der wir uns auf alle Weltgegebenheiten hin beziehen – und dazu gehört eben auch der mundane Körper des Anderen. Darüber hinaus ist jede Intentionalität aber immer auch eine bestimmte Intentionalität, die begrenzt ist, insofern sie auf Einzelnes in seiner Veränderbarkeit bezogen bleibt. Innerhalb der erotischen Intentionalität wird also eine begrenzte Intentionalität im Sinne der Lust als »Objekt« in Anspruch genommen, ohne dass das erotische Begehren selbst endlich wäre, insofern es auf ein absolut erlebtes Leben abzielt, das heißt durch keinen einzelnen Geschlechtsakt für immer erfüllt werden kann. Daher paart sich die Angst – sowohl vor der unsichtbaren Immanenz des Lebens wie vor den Möglichkeiten des eigenen »Ich kann« als Freiheit – mit der Wiederholung der geschlechtlichen Akte, die oft auch an einen Wechsel der »Sexualpartner« gebunden ist, wodurch die erotische Beziehung leicht die Charaktere des Misserfolges für das zutiefst Ersehnte annehmen kann, was heute durch eine öffentliche Freizügigkeit favorisiert zu werden scheint. 5 Mit anderen Worten errichtet sich der Bezug zum Anderen auf einer Konstitution des lebendigen Fleisches, dessen ursprüngliche Kontingenz als Leib nicht bloß einer intentionalen Herkunft entstammt, auch wenn diese in der Welt als Körper gegeben ist. Das Erleben der Sexualität unterstreicht vielmehr, dass der lebendige Leib als Fleisch endlich wird, wenn sich seine begehrende Absicht auf ein endliches Element des transzendenten Seins richtet, das heißt hier insbesondere auf die Geschlechtsmerkmale eines sichtbaren Körpers in der Welt. Die Faszination für das Erotische als Trieb und Lust besitzt mithin einen zweideutigen Status auf dem Hintergrund eines Vgl. hierüber zum Beispiel J.-L. Marion, Das Erotische. Ein Phänomen, Freiburg/ München, Alber 2010.

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immer auch transzendenten Körpers des Menschen, obwohl der rein phänomenologische Ursprung unserer Leiblichkeit absolut und unendlich ist. Dieser doppelte Status macht zugleich verständlich, warum unser subjektiver Leib – und besonders die Erotik – eine existentielle, ethische und symbolische bzw. religiöse Bedeutsamkeit erlangen kann, insofern es prinzipiell möglich bleibt, eine mit (nichtneurotischer) Angst durchsetzte Sexualität vor den abgründigen Möglichkeiten dieses Körpers im Sinne der Analyse Kierkegaards in »Der Begriff Angst« (1844) auch zu einer Liebe ohne Angst werden zu lassen. Denn so wie unsere weltliche Endlichkeit nicht den Sinn von ontologischer Endlichkeit schlechthin ausmacht (die eher auf Grund der Passibilität als Geburt im absoluten Leben bestimmt werden kann, welche einen welthaft begrenzten Begriff der Endlichkeit aufhebt), so kann auch das sexuelle Begehren als besonderer Modus unserer Existenz eine andere Realität gewinnen. Diese letztere ist die absolute Subjektivität unserer ursprünglichen Leiblichkeit, welche ebenfalls für das sexuelle Begehren im Sinne des zuvor genannten »pathisch Sensuellen« gilt und darüber hinaus alle Möglichkeiten der lebendigen Leiblichkeit impliziert, ohne sich auf das Sexuelle im Sinne einer welthaften (geschlechtshaften) Körperhaftigkeit reduzieren zu müssen. 6 Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob wegen der reinen Impressionalität im jeweiligen Fleisch der erotischen Begegnung die Welt so verlassen werden muss, dass sich die eigentlich »unsichtbare Erotik« nur in einem Bezug ohne Bild und Schau des Anderen wie seiner selbst verwirklicht? In der Tat enthält die Einschreibung in die Unsichtbarkeit des Lebens als intensiven Grund erotischen Erlebens ein gegenseitiges Empfangen und Sicherfreuen des Lebens, welches an die pathische Selbsterprobung gebunden ist und sich in der Nacht des absolut phänomenologischen Lebens letztlich vollzieht, welches weder Gesicht noch Namen besitzt, sofern es in der Welt nicht erscheinen kann – zumindest nicht unmittelbar. In diesem Sinne verweist jene Dunkelheit des Absoluten auch auf die Dunkelheit des Sexuellen, indem dessen »Geheimnis« darin besteht, nicht in sich unverständlich zu sein, sondern eine Erfahrung des Anderen in der Weise suggeriert, das absolute Leben durch zwei kontingente Körper hindurch zu erVgl. B. Mallinger, »Angst und Begehren im erotischen Verhältnis«, in: G. Funke u. a. (Hg.), Existenzanalyse und Lebensphänomenologie. Berichte aus der Praxis, Freiburg/München, Alber 2006, 162–173.

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reichen. Wie dann aber dieses absolute Leben berühren, wenn es in der Welt gerade nicht möglich ist, irgendein Fleisch in seiner Unsichtbarkeit selbst als rein subjektives Leben zu berühren? Die Intensität des erotischen Begehrens lässt darauf hoffen, dass die Liebenden das Leben in ein und derselben Lust als »Selbstgenuss« des Lebens erreichen, so dass die Reflexion über das Erotische notwendigerweise zu einem zentralen Moment der Analyse radikalen Lebens überhaupt wird. Es ließe sich dann besser verstehen, dass das Begehren letztlich nicht wegen der Differenz der Geschlechter hervorgerufen wird, sondern durch jene vorgängige Identität der Lebendigen, welche das gemeinschaftliche Leben der Individuen als solches ausmacht. In diesem Fall würde das Begehren nicht erst durch eine erotische Anziehung oder Verführung geweckt, sondern vielmehr durch die Unsichtbarkeit des Grundes des Lebens selbst – durch jenes Leben, welches die Liebenden »in ihrer Nacht«, das heißt in der Abwesenheit von Bild und Namen, miteinander schon immer teilen. Wenn auf diese Weise jede Vorstellung von der erotischen Begegnung abgezogen wurde, würden sich die erotischen Akte außerhalb aller Bilder vollziehen, welche sich dem affektiven Sein des Lebens sonst stets dabei substituieren. Die Pornographie zeigt in der Tat, dass die Sexualität als reine Außenheit unter der Vorherrschaft des Bildes zur vordergründigen Zur-SchauStellung der Körper wird, die letztlich von der allumfassenden medialen Visualisierung alles Geschlechtlichen dominiert ist und die individuellen wie öffentlichen Phantasmen des Erotischen besetzt hält. Die wirkliche Erotik in ihrem intensiven Begehren wäre daher eher ein Verlangen dessen, was sich nicht zeigt, sich nicht zeigen kann, insofern keine lebendige Intensität jemals als objektiv Körperhaftes zu erscheinen vermag. Daraus ergibt sich ebenfalls, dass die Unsichtbarkeit eines jeden Fleisches – also hier von Mann und Frau oder der Geliebten – prinzipiell auch keine ontologische Unterscheidung in ihren Geschlechtsmerkmalen impliziert. Die oft genannte »Passivität« der Frau ist dann ebenso »aktiv«, wie die »Aktivität« des Mannes »passiv« ist, nämlich als Empfang des Lebens in der gegenseitigen Abhängigkeit von der Grundpassibilität des Lebens. Damit verschwindet in transzendentaler Hinsicht jede »sexuelle Differenz«, aber auch jede virtuelle Diskrimination von Mann oder Frau in welthafter Perspektive, so wie ebenfalls jede »vernünftige Wahl« verschwindet, da der erotische Bezug sich letztlich nicht von der Welt her errichtet, sondern von einer Intensität ohne Namen und Gesicht aus. In uns finden wir daher immer schon die Ur-Mächtigkeit dieser Liebe 156 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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vor, während die Vorstellung des Anderen immer nur ein imaginäres Trugbild erreicht, welches dann auf eine rein intentional gewollte Begegnung als ungestillte »Einsamkeit« zurückschlagen kann. In der intensiven Begegnung im Sinne eines erotisch absoluten Fleisches wäre das Ergebnis einer radikal phänomenologischen Analyse mithin eine unsichtbare Erotik, das heißt ein erotischer Vollzug frei von allen welthaften Bildern. Was sich dadurch eröffnet, ist der Chiasmus von zwei subjektiven Leibern, die das Sichtbare des Körpers zusammen mit der Unsichtbarkeit des Fleisches der ursprünglichen Leiblichkeit miteinander verbinden, ohne dass jemals ein Element davon als »Fetisch« isoliert werden kann. Über alle Metaphorik hinaus vermag dann die Erotik zum Namen des Seins selbst zu werden, nämlich als einer Sinnlichkeit und Sensualität, die im Bereich der Welt (Körper) die Erprobung des Lebens zu leben hat, um gleichzeitig in der Endlichkeit eine Offenheit auf den Anderen hin in einem ursprünglich gemeinschaftlichen Leben zu lieben, welches selbst auf das Absolute im phänomenologischen Sinne hin öffnet. Über die sexuelle Differenz der Geschlechtsorgane sowie eines je spezifisch weiblichen oder männlichen Empfindens hinaus, oder besser diesseits davon, gibt es folglich ein absolut phänomenologisches Leben, welches in der Ermöglichung des je individuellen wie gemeinschaftlichen Lebens die unendlichen Modalitäten des EmpfindenKönnens überhaupt begründet. In diesem Sinne ist die Analyse der »sexuellen Differenz« sowohl eine notwendige Betrachtung hinsichtlich des Chiasmus oder der Gegenseitigkeit des Uns-Berühren-Könnens überhaupt wie auch zugleich in Bezug auf alle kulturellen Differenzen und Empfindungsweisen, da sie eine originäre Einheit in der prinzipiellen Selbstgegebenheit der Affektabilität aller Individuen voraussetzen. Die transzendentale Reduktion als Gegen-Reduktion impliziert mithin in einer solchen radikal phänomenologischen Perspektive sowohl die Reduktion des objektiv sichtbaren Körpers mit seinen Genitalien und den weiteren sekundären Geschlechtsmerkmalen sowie der subjektiv oder innerlich gelebten »geschlechtlichen Identität«, welche eine Weise des Empfindens in dessen singulär einheitlicher Ausprägung darstellt und in der Hetero- wie Homosexualität zum Ausdruck kommt, insofern beide auf einer Selbstaffektion gründen, welche sich als »geschlechtlich« oder »erotisch« in ihrer jeweiligen existentiellen Gegebenheit empfindet. Auf diese Weise lenkt die kulturell gelebte Sinnlichkeit, die subjektiv erfahrene Geschlechtlichkeit wie der Habitus unserer alltäglichen individuellen Praxis auf eine 157 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

3. Trieb und Psychoanalyse

Affektivität zurück, die wir im Sinne der pathisch-leiblichen Intensität als Offenheit auf unsere Welterfahrung als solche hin bezeichnet haben. Wenn jedoch in der radikalen Immanenz des Lebens als UrGemeinschaftlichkeit der Lebensaffektion aller Individuen diese sichtbare wie subjektiv im Inneren erlebte Vollzugsweise von Eros und Praxis nicht mehr radikal phänomenologisch definitiv zählt, sondern nur das Geboren-Werden im Leben selbst, dann zählt auch nur noch diese generatio schließlich, sofern sie alle Vollzüge in deren Existenz erlaubt, um diesseits von Mann und Frau sowie auch allen anderen kulturellen Unterschieden dieses ununterbrochene GeborenWerden miteinander zu teilen und zu steigern. Soziologisch betrachtet bleiben natürlich die Rollen in der Weltwahrnehmung gegeben, aber gerade die rein phänomenologische Analyse der »sexuellen Differenz« innerhalb der Erotik und Kultur macht deutlich, dass auch im Raum der Therapie und Supervision die empirische Aufteilung in Patient/Analysand dann nicht länger die maßgebliche Referenz bleiben kann, wenn der wirkliche Austausch des rein Affektiven aus gegen-reduktiver Sicht ansteht. In Bezug auf die Erotik als Trieb und Lust müssen wir uns daher bewusst bleiben, dass das Bild eine wichtige Rolle in den lebendigen Beziehungen der Intersubjektivität spielt, denn der Affekt als Gefühl entfließt einem affektiven Bild dergestalt, dass der entsprechende Affekt in Bezug auf die Vorstellung, mit der er im Bewusstsein korreliert, zur Freude (Liebe) oder zum Hass wird, wie sowohl die Affektenlehre von Spinoza, Schopenhauer und Freud zeigt. Auf diesem Hintergrund erlaubt die erotische Liebe nämlich zu erfassen, dass sie eine Weise intersubjektiven Verstehens ist, in der neue affektive wie intelligible Welten erfahren werden, wo das je gemeinsame Werden eingeübt wird oder auf dem Spiel steht. Dazu dienen die Zeichen der Liebenden untereinander, welche der erotisch-triebhaften und kommunikativen Interaktion mit dem Anderen entstammen, aber es muss bewusst bleiben, wie wir zeigten, dass die Intra-Subjektivität als originäre Gemeinschaftlichkeit letztlich bildlos ist, wodurch sie sich von der welthaften Intersubjektivität und deren Semiotik wie Symbolik unterscheidet. Das heißt, es gilt in ontologischer Hinsicht, sich in ein intensiv-leibliches Werden zu integrieren, welches dieser transzendentalen Bildlosigkeit angehört, ohne Affekt und Trieb aufzukündigen, welche der Unmittelbarkeit der subjektiven und ursprünglichen Leiblichkeit als solcher entspringen und zu deren Wesen gehören. Die Frage von Erotik, Trieb, Begehren und Liebe stellt 158 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Trieb und Erotik

sich dann in jener radikalen Hinsicht, ob unsere intersubjektiven Bezüge eine Relation leben können, die allein der Univozität des affektiven Seins als »Leben« im verbalen Sinne (leben) verpflichtet ist, was eben einschließt, die Freiheit des gemeinsamen Handelns von allen Bildern und Zeichen so zu lösen, dass ein anderer Habitus entsteht, als er üblicherweise von der zeitlichen Weltsukzession und deren Erwartungen her vorgeschrieben ist, nämlich einem System illusionärer »Selbstsorge« (Foucault) anzugehören, welche alle Dinge, Personen und Situationen nur auf sich und die eigene Befriedigung bezieht. Ein solches Ethos in Bezug auf Trieb und Erotik mit ihren Erfüllungen und Misserfolgen verlangt somit eine ontologische Klärung der phänomenologischen Grundverhältnisse, die einen prinzipiellen Zusammenhang von originärer Affektivität und Liebe als leiblich-individueller Potenzialität beinhalten, ohne erwarten zu können, dass auch die intentionalen Weltverwirklichungen dem unmittelbar entsprechen. So können wir affektive Situationen lebensphänomenologisch begründen, die als Öffnung gegenüber dem ununterbrochenen affektiven Werden des Lebens stets selbst in der Bereitschaft verbleiben, sich auch den neuen welthaften oder intersubjektiven Situationen anzupassen, da die ursprüngliche Selbstaffektion des Lebens diese Offenheit für alle Relationen schlechthin beinhaltet. Die UrSituativität des Lebens kann in der Tat niemals sichtbar werden und damit auch nicht umfassend einsehbar sein, so dass der Trieb, welcher radikalphänomenologisch »unbewusst« aus dieser Ur-Situativität hervorgeht, ein prinzipiell offener ist – frei für jenes mit-pathische Werden, welches sich im Leben abzeichnet. Die prinzipielle philosophische wie wissenschaftliche Unmöglichkeit, das Leben und seine Intensität rational umfassend verstehen zu können, ist daher keineswegs ein Nachteil, sondern der Freiheit als ursprünglichem Affekt im Sinne der subjektiv-leiblichen Potenzialität geschuldet, welche der ontologischen Vielfalt in den subjektiven und liebenden Beziehungen grundsätzlich koextensiv ist und als originäres »Mehr« des Lebens im Sinne Nietzsches, Husserls und Henrys stets über alles momentan Entschiedene und Fixierte hinausgeht. In diesem Sinne subjektiviert uns die Liebe im intentionalen Sinne, während sie uns als Begehren und Eros in die Nacht der Unsichtbarkeit der Intensität des Gefühls hineinversetzt, welche dem Leben und seinem immanenten Wesen als unserer absoluten Individuierung eigen ist. Spätestens hier wird schon einsichtig, dass wir diesen ersten Teil unseres Kapitels über 159 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

3. Trieb und Psychoanalyse

»Trieb und Erotik« als maßgebliches Paradigma für psychotherapeutische Begegnung und Supervision überhaupt verstehen, nämlich als Einübung in eine Reduktion, welche Begegnungen und Beziehungen jeder Art zwischen einzelnen Individuen letztlich nicht denkt und interpretiert, sondern von der Inklusion des Denkens in den Affekt hinein versteht, wie dies dann die folgenden Auseinandersetzungen mit Ricœur, Freud, Lacan etc. weiterführen sollen. Wenn es daher einen Bezug zwischen der ontologischen Fülle des Lebens und den intensiven desiderata gibt, dann bedeutet der Zusammenhang zwischen Eros und absolutem Leben einerseits, die welthafte Praxis nicht vom Trieb abzukoppeln, aber andererseits auch, dieses erotisch Absolute, welches ohne Bild ist, auf kein Seiendes – auf keinen Anderen – in der Welt fetischhaft zu fixieren. Was Lacan in psychotherapeutischer Hinsicht unter der Nie-Erreichbarkeit der vollen Wirklichkeit versteht, kann dann nämlich zu dem Verständnis verhelfen, dass unser Gefühl von den analogischen oder axiologischen Zwängen zu befreien ist, welche die intentionale Liebe selbst absolutieren wollen, ohne im ermöglichenden Leben diese ursprüngliche Absolutheit aufkündigen zu müssen. 7 Denn es gehört zu den Paradoxen des intentionalen Lebens in der Welt, dass die Anstrengung, um einer neuen Situation aus dem Weg zu gehen, genau dieselbe ist wie jene, um eine Veränderung herbeizuführen. Für Eros, Trieb und Liebe heißt dies, dass die gesuchte ontologische Einheit unter den Menschen und besonders zwischen Liebenden eine Synchronisierung der Subjektivitäten im letzten Sinne unmöglich macht, da der subjektiv-leibliche Rhythmus bei jedem ein je anderer ist. Eifersucht, Hass, Lüge und Gewalt im Bereich der »Liebe« rühren aus dieser Unmöglichkeit, die ursprüngliche Gemeinschaftlichkeit und Einheit in eine welthafte »Verschmelzung« überführen zu wollen, während die ursprüngliche Univozität des (mit-)pathischen Lebens nur bedeutet, dass vor-ontologisch aus ihr alles Wirkliche hervorgeht, um im intentionalen Werden der Individuen effektiv realisiert werden zu können. Insofern kann nochmals mit anderen Worten festgehalten werden, dass der triebhafte Eros vom ursprünglichen Leben her eine Öffnung oder auch die Verheißung von Existenz bedeutet, welche alle festgehaltenen Bilder, Vorstellungen und Bedeutungen übersteigt. Die Zeit der Liebe und des Verliebtseins er7 Vgl. auch E. J. Lee, Pour une critique phénoménologique de la psychanalyse: Henry, Freud, Lacan, philos. Diss. Universität Straßburg 2009, 206 ff.

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Trieb und Erotik

scheint so im Nachhinein oft als eine »verlorene Zeit«, was aber nur auf den radikal phänomenologischen Grundsachverhalt zurückverweist, dass die Liebe als subjektive Intensität frei von jeder welthaften Teleologie ist, um im Miteinander der Liebenden (was hier wieder für die Frage der Intersubjektivität und Therapie überhaupt steht) Gewissheiten allein im Sinne der Erprobung auf dem affektiven Hintergrund von Habitus und Veränderung einzugehen, welche die immanente Bewegung des Lebens zum Ausdruck bringen. Werfen wir aus diesem Grund einen abschließenden Blick auf intersubjektive Verhältnisse in der Erotik, die aus Gewaltverhältnissen zwischen an sich lebendigen Individuen hervorgehen. Die Erotik kann in der Tat wie ein Spiegel der Weltverhältnisse sein und deren Exzess deutlich machen, weil der erotische Trieb sie für die eigene Sinnlichkeit in Besitz nehmen kann. Die Lust vermag als Grundelement des subjektiven Begehrens und seiner intentional gewollten Befriedigung eine zentrale Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Praxis der sexuell geprägten Leiblichkeit annehmen, da die Sexualität – abgesehen von der sie begründenden immanenten Affektivität – auch der privilegierte Ort der Begegnung zwischen den Individuen in der Gesellschaft darstellt. So wie Sklaventum und Knechtschaft als Zerrbild des Gesellschaftlichen auftreten, so ist auch der Masochismus eine Karikatur der Gesellschaft. Die masochistische Perversion besteht in der Tat darin, dass jemand innerhalb der »erotischen« Beziehung bestraft wird, um aus dieser Unterwerfung die Hoffnung auf eine mögliche sexuelle Lust zu beziehen. Jedoch wird der Masochist nicht in erster Linie von der Lust beherrscht, sondern vom erlittenen Schmerz, so dass die Frage auftaucht, wie schon bei Hume, ob es überhaupt ein gemeinsames Prinzip zwischen Lust und Schmerz gäbe, welches erklären könnte, warum wir dem letzteren entgehen wollen und die Lust suchen. In radikal lebensphänomenologischer Hinsicht kann geantwortet werden, dass es in der ursprünglichen Sphäre des rein immanenten Lebens eine Reversibilität zwischen allen affektiven Modalitäten des Lebens gibt, während dies auf der Ebene der welthaften Körper nicht möglich ist, insofern die Lust selber nicht von der Geltung des Prinzips Rechenschaft ablegt, die sie im psychischen Leben einnimmt. Dadurch entsteht eine Problematik, welche werthafte Rolle die Individuen den affektiven Möglichkeiten in der Gesellschaft zusprechen, nämlich in diesem Fall der Lust und nicht der ursprünglichen Intensität des Lebens. Betrachtet man folglich Masochismus und Sadismus als Perversionen und nicht als 161 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

3. Trieb und Psychoanalyse

außergewöhnliche Steigerungen des Lebens, so wird die Lust im empirischen Sinne fast zu einem ontologischen Vorurteil erhoben, aufgrund dessen sie ihre Herrschaft bekräftigt. In den beiden genannten Perversionen bringt der Schmerz demjenigen Lust, der ersteren ausübt, oder aber demjenigen, der ihn erleidet. Dies würde für den gesellschaftlichen Bereich besagen, dass der Schmerz im sexuell-erotischen Sinne nur mit Formen der Wiederholung in der Gesellschaft einhergeht, die den Gebrauch von Schmerz bedingen, wie Gilles Deleuze 8 diese Praktik auffasst. Dies würde heißen, dass sich in gesellschaftlicher Hinsicht nicht die Axiologie der Lust ändert, sondern nur das Verhältnis, wie in der Gesellschaft die Körper in ein sich verselbständigendes System von Wiederholungen eintreten, nämlich in ein Schwanken zwischen Resexualisierung und Desexualisierung. In freudschen Termini kann entsprechend ergänzt werden, dass auf diese Weise Eros desexualisiert wird, um besser Thanatos zu sexualisieren, das heißt jenes intensive Band zu trennen, welches die subjektive Leiblichkeit mit dem rein phänomenologischen Leben unterhält. Im Masochismus und Sadismus gibt es daher kein »Geheimnis« der Verbindung zwischen Lust und Schmerz, sondern die Erklärung findet sich in dem Sachverhalt, dass eben die Sexualität hier mehr ein gesellschaftliches Modell zum Ausdruck bringt als eine immanente Dynamik der Affekte und Gefühle im Sinne des ursprünglichen passiv-aktiven Triebes als Begehren und Eros. Auf dieser Ebene wäre dann auch verständlich, dass die individuelle Homosexualität eher auf eine existentiell habitualisierte Intra-Intersubjektivität verweist, die im gleichgeschlechtlichen Anderen dieselbe Intensität des Lebens sucht wie in der eigenen Existenz, während die Transsexualität eine Art ontologischer Koexistenz 8 Vgl. Présentation de Sacher-Masoch, Paris, Minuit 1967, 80 u. 103 f. Auch für Freud scheint es so, dass der Masochismus nicht einfach als ein gegen sich selbst gerichteter Sadismus verstanden werden kann, insofern ein »primärer Masochismus« schon in der Selbsterotik des Kindes existiere, auch wenn Freud ab 1920 in Triebe und Triebschicksale (GW X, 209–232) einen »primären Sadismus« als fundamentaler ansieht und von einem »Bemächtigungstrieb« herleitet, welcher ohne Grausamkeit dazu diene, den Widerstand des sexuellen Objekts später zu überwinden und sich daher mit dem sexuellen Trieb als solchem verbinde; vgl. S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (GW V, 161–286). Radikal phänomenologisch ließe sich dieser Befund so auffassen, dass die Möglichkeit des Triebes, welcher in der kindlichen Erotik noch vereint auftritt, als die affektive Fähigkeit zu verstehen ist, zu berühren (»Ich kann«) und berührt zu werden (Passivität), ohne beides transzendental voneinander trennen zu müssen.

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der Geschlechter als Überkreuzung der Körper darstellt, wodurch sich zeigen kann, was es an Weiblichem in einem männlichen Körper gibt und umgekehrt. Dahinter stünde dann die Vermutung, dass die ursprüngliche immanente Struktur des Lebens als leiblich-affektives Sein eine Fluidität von erotisch-sensuellen Verhältnissen impliziert, die allein von der Intensivierung des Lebens bedingt sind, so dass Trieb, Begehren und Eros ein ursprünglich mögliches Sein als Existenzmodus beschreiben, der von allen Vorstellungsqualitäten frei ist, da letztere nichts anderes als eine welthafte Kopie mit entsprechenden Illusionen enthalten. Gibt es radikal phänomenologisch keine Lust als Freude ohne Leiden, dann lassen sich die geschlechtlichen Verhältnisse auch nie genau durch die Sublimierung des einen oder anderen sexuellen Modells definieren, ohne hier in pornographische Vorstellungsillusion abdriften zu müssen. Denn auf jeden Fall taucht phänomenologisch gesehen der Andere innerhalb des pathisch Sensuellen als »Gegenstand« des Begehrens distanzhaft vor dem Ego auf, und dieses welthafte Erscheinen dekliniert sich als eine von mir verschiedene Leiblichkeit, aber auch noch fundamentaler – das heißt über alle Sichtbarkeit im Erotischen hinaus – als eine Möglichkeit des Lebendigen schlechthin in der Welt und im Grund des Lebens zugleich. Dadurch stößt die Intentionalität als Trieb und Begehren in ihrem Empfinden (Eros) an eine Grenze, denn auf der einen Seite ist der pathische Grund aller Erotik und Intersubjektivität a-rational und unbewusst (affektiv lebendig), und auf der anderen Seite setzt das Bewusstsein des Gefühls des Anderen ein Umfeld voraus, in dem die inneren Triebe einen nur kontingenten Ausdruck finden können. Insofern ließe sich sagen, dass das ursprüngliche Gefühl subjektiven Lebens als Affekt und Trieb einen phänomenalen Kreislauf beschreibt, denn es ist einerseits am Ursprung der lebendigen Existenz, geht durch die intentionale Wahl eines Gegenstandes des Begehrens auf der Ebene des Bewusstseins hindurch und kehrt schließlich in seine eigene Immanenz zurück, wobei in allen Phasen die immanenten und intentionalen Gesetze der Intersubjektivität als Intra-Subjektivität ihre Rolle spielen, wie sie gerade auch in der therapeutischen Begegnung und Supervision ergriffen werden müssen. Wenn die sexuelle Identität also aus einem Begehren wird, welches zugleich immer auch leibliche Bewegung oder Praxis darstellt, dann verweist jede Form von Sexualität an einen kulturellen Habitus, der sowohl subjektiv wie kulturell bedingt bleibt. In diesem Sinne 163 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

3. Trieb und Psychoanalyse

lässt sich noch ergänzend feststellen, dass jemand hetero-, homooder transsexuell wird, insofern die Geschlechtsorgane als biologische Vorgegebenheit nicht das sexuelle Empfinden als solches begründen können, welches für jedes subjektive Leben der Möglichkeit nach allein in der transzendentalen Affektivität ruht, die in ihrer reinen Immanenzsphäre keine unmittelbar gegebene objektive Körperform kennt. Die von Freud angenommene Bisexualität als Trieb ohne spezifisches Objekt in der frühen Kindheit konnte daher von Judith Butler etwa unter konstruktivistischen Vorgaben (Foucault, Derrida) so weitergeführt werden, dass sich der Körper als »performative Materie« erst durch iterative »Stilisierung« geschlechtlich stabilisiert, indem der Einzelne kulturellen Grenzziehungen auf seinem Körper folgt. 9 Dieses bedeutet radikal phänomenologisch, dass sich in der Tat auch Homo- und Transsexualität auf der grundlegenden »affektiven Dialektik« von Freude/Leid herausbilden, nämlich gemäß einer rein immanenten Triebrealität, welche Leiden als jene Unmöglichkeit erfährt, sich von sich selbst nicht lösen zu können, und Freude als Steigerung des je eigenen Handeln-Könnens als Intensität oder conatus. Es gibt mithin nur von der Lebensselbstaffektion her einen Trieb, der älter ist als jeder durch Habitus/sexuelle Identität zum Ausdruck gebrachte Trieb. In dieser Hinsicht spielen sich dann Hetero-, Homound Transsexualität auf der Ebene jenes transzendentalen Übergangs ab, bei dem das rein immanente »Mich« der leiblichen Ursprungsbewegung als pathisches »Ich kann« ergriffen und iterativ aus solcher Lebensgeburt heraus gelebt wird, ohne damit eine »Natürlichkeit« dieser sexuellen Verhaltensweisen schlechthin voraussetzen zu müssen, auch wenn sie in der genitalen Körperkonfiguration vorgezeichnet bleiben. Allerdings darf dabei ebenfalls nicht vergessen werden, dass jedes affektive (sensuelle, sexuelle, erotische) Werden in der Impressionabilität ansetzt, die verhindert, dass das rein phänomenologische Leben zu einer missverständlichen (spekulativen) Unbestimmtheit Vgl. Bodies that Matter. On the Discursive Limits of »Sex«, New York/London, Routledge 1993; dazu auch O. Ducharme, Michel Henry et le problème de la communauté. Pour une communauté d’habitus, Paris, L’Harmattan 2013, 87 ff., 138 ff. u. 208 ff., der zum ersten Mal dieser Frage aus lebensphänomenologischer Sicht nachgegangen ist. Dazu auch C. Höfner u. B. Schigl, »Geschlecht und Identität. Implikationen für Beratung und Psychotherapie – gendertheoretische Perspektiven«, in: H. G. Petzold (Hg.), Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden, VS Springer 2012, 127–156.

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werden könnte. Sofern unsere ursprünglichen Impressionen zugleich die Passibilität des Triebes über das Erleben von Bedürfen und Begehren beinhalten, finden wir uns damit stets schon in der zuvor genannten »affektiven Differenz« oder »Dialektik« von Freude/Schmerz vor, zu deren Beantwortung Sexualität und Erotik eine grundlegende Antwort bieten, und zwar mit allen kulturell-gemeinschaftlichen Übereinstimmungen wie Grenzen (Sanktionen), auf die wir hinsichtlich der ontologischen Kontingenz aller intentionalen Entwürfe hinwiesen. Und hiervon sind weder Hetero- noch Homosexualität ausgenommen, ohne damit irgendeine gesellschaftliche Ächtung legitimieren zu wollen, die stets zur Herausbildung von Beschämung und deren seelischen Schäden führt, wie gerade Therapie und Supervision aus der alltäglichen Praxis nur zu gut wissen. Entscheidend ist in der Tat innerhalb der erotischen Beziehung wie in jeder anderen Begegnung nicht, was der Andere empfindet, sondern die Erfahrung des Anderen selbst als einer Subjektivität, die dieses oder jenes empfindet, ohne die Bedeutung der Inhalte auf ihrer angemessenen Ebene zu leugnen. Das heißt, der Andere als alter ego manifestiert sich mir gegenüber letztlich als eine transzendentale Subjektivität, was jede rein welthafte Fremderfahrung erschüttert, sofern sie nur auf transzendente oder objektive Inhalte des gegenseitigen Erlebens fixiert war. Zutiefst erfahre ich nämlich in meiner Subjektivität als Ipseität, dass der Andere lebt, und zwar eben als ein transzendentales Leben, so dass der Zugang zu seinem Leben zugleich den Zugang zu meinem eigenen Leben darstellt – und umgekehrt. Diese »gegenseitige Innerlichkeit«, wie sie als Chiasmus der Affektivität gerade auch für die therapeutische Begegnung maßgeblich ist, bedeutet jedoch keine allgemeine Formalisierung im Sinne abstrakter Transzendentalität des Denkbaren, da die Singularität des Anderen dem abstrahierenden Blick prinzipiell verborgen bleibt, um über das Begehren (und dies insbesondere in der unsichtbaren Erotik) ein gemeinsames Band jener lebendigen Mächtigkeit zu erproben, welche die radikalste Bindung zwischen Ipseitäten überhaupt darstellt. Und aus dieser gegenseitig erlebten unsichtbaren Mächtigkeit des Lebens heraus ergibt sich dann zugleich jenes äußere Beziehungsgeflecht, in dem sich die Vermögen der Partner, Paare und Gruppen individuell wie gemeinschaftlich entfalten können. Dass wir die sexuelle Affektivität des Anderen nicht an sich berühren können, schließt also keineswegs aus, dass wir den Anderen nicht in seiner transzendentalen Mächtigkeit berühren, die zugleich Antwort auf unser eigenes, im165 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

3. Trieb und Psychoanalyse

manent erprobtes Vermögen als »Potenzialität« ist. Aus einer solchen Verschränkung von Begehren und geschlechtlicher Vereinigung ergibt sich daher im Vollzug der subjektiven Leiber als auch sichtbaren Körpern stets die Möglichkeit, jene absolut originäre Einheit zu erproben, welche als rein immanentes Leben der Geschlechtlichkeit als solcher vorausliegt und daher nicht von dieser als Erfüllung allein her erwartet werden kann. In diesem Sinne bleibt die Phänomenalität des Sexuellen paradox, nämlich letztlich die Möglichkeit einer geschlechtlichen Liebe ohne Körper, die wir daher auch »unsichtbare Erotik« nannten. Dies gibt analog zu verstehen, dass das Erfassen des Affekts des Anderen in Therapie und Supervision keineswegs an dessen biographische Existenz allein gebunden sein kann, das heißt an eine »Störung« oder an einen »Verlust« oder »Konflikt«, sondern eben zu jener ur-affektiven Gemeinschaftlichkeit vordringen muss, aus der heraus die Virulenz affektiven Erprobens erst ohne transzendentes Vorurteil nachvollziehbar wird. Die radikal phänomenologische Analyse der Erotik bietet also den Vorteil zu verstehen, dass die leibliche oder sinnliche Präsenz des Anderen in meinem Wahrnehmungsfeld schließlich keine bloß empirische oder objektive »Gegenwart« vor mir in der Welt bildet, sondern eine Implosion oder Immersion ins absolut phänomenologische Leben hinein, um sich über den »Ort« des therapeutischen Affekt- und Sinngeschehens nicht fundamental zu täuschen. Zuhören und Sprechen nehmen damit eine andere Qualität an; es handelt sich nicht länger im Austausch von Narration und Bedeutungen bloß um die Angemessenheit oder Unangemessenheit von Vorstellungen mit Hinweisen auf affektive Verzerrungen, sondern es geht um eine immanente Erfahrung des Lebens, die beim Patienten ebenso originär wie beim Analytiker ist. 10 Im intersubjektiven, hier vor allem betrachteten erotischen Bezug aktualisieren sich mit anderen Worten jene welthaften und körperhaften Zeichen zunächst, durch die sich die Beziehungen zwischen den Liebenden oder Begegnenden als »Lebendigen« herstellen, um einander im Grund des Lebens zu berühren – als erotisches Ineinander bzw. als radikal lebendig Affizierte. Es entsteht demzufolge ein mit-pathisches Werden der Individuen, welches eine Art gemeinsamer Geburt darstellt, welche sie für eine gewisse Zeit in der TheraVgl. für solches »Hören« und »Sehen« bes. auch unser Kap. II,5.3 und den »Ausblick« zu Übertragung und Zeit in der therapeutischen Sitzung.

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pie oder eventuell für immer in der Partnerliebe binden will, um miteinander zu handeln, zu leiden und zu leben. In all diesen Weisen herrscht eine intensive Koinzidenz (und wird in der Liebe sogar dezidiert gesucht), wobei – um uns hier auf das Erotische zu beschränken – das Weibliche wie ein Versprechen der Durchdringbarkeit aller Dinge schlechthin zu sein scheint, um die »fleischliche Koloration« in der Welt und aller Dinge als solche zu versinnbildlichen, das heißt als Sich-Übereignen-Können, als Durchdringung von Außen im Inneren und in der Vereinigung als mögliche Rückkehr in die eigene Immanenz. Selbst wenn wir bei solcher Metaphorisierung jegliche Idealisierung vermeiden wollen, kann dennoch nicht geleugnet werden, dass über solche Projektionen des Eros in die Welt hinein ein affektiver Raum entsteht, in dem sowohl der Chiasmus mit der Welt sowie die eigene Selbstfindung statthaben können, insofern die Freiheit des Anderen mit der Treue sich selbst gegenüber verbunden bleibt. Allerdings sollte auch die Gefahr der sexuellen Fixierung gesehen werden, da die Offenheit der Leiber füreinander in der Welt zwar eine gegenseitige ontologische Einschreibung erlaubt, aber dies nur in einem unsichtbaren und damit nicht vermessbaren Raum, welcher die Effektivität der erotischen und intersubjektiven Bezüge als solche auszeichnet, da sie aus dem Grund des Lebens ohne Maß hervorbrechen. Die Hoffnung, dem Anderen in derselben Lebensaffektion in der Welt entsprechen zu wollen, ist damit gleichzeitig die große mögliche Illusion – sich nämlich als Ipseität und Individuum aufzulösen, um eine rein triebhafte Einheit auch in der Welt als Körper bilden zu wollen. Es bleibt indes ein ontologischer Mangel der Welt, den wir schon über die Duplizität des Erscheinens charakterisiert haben, was für Eros und Trieb bedeutet, dass ihr Begehren die Lust nur innerhalb der intentionalen Grenzen der affektiven Verschmelzung schöpfen kann, welche immer geprägt bleiben wird von gemeinsamer Seligkeit und Ertragen der Einsamkeit, welche zusammen allein durch die unauflösbare Verbundenheit mit dem absolut phänomenologischen Leben beantwortet und gelebt werden können. Damit ist bereits grundsätzlich auch das nachfolgende Gespräch mit der (Neo-)Psychoanalyse vorgezeichnet, denn es gilt zu verstehen, dass eine eng gefasste psychoanalytische Methode eine Operation der Überbestimmtheit darstellt, welche in der Tat die Erinnerung an Affekterlebnisse in sprachliche Berichte darüber verwandelt, wie freischwebend Assoziation und Aufmerksamkeit dabei auch immer gehandhabt werden. Von der phänomenologischen Gegen-Reduktion 167 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

3. Trieb und Psychoanalyse

her betrachtet, wie wir sie bisher unter anderem auf Begehren und Eros als reine Intensität angewandt haben, ergibt sich aus der Überführung des Affekts in ein sprachliches Ereignis der erzählten Biographie und Gefühle unausweichlich eine Idealität in der Vorstellung, welche den welthaft leeren Signifikanten des Begehrens ersetzt bzw. überlagert, während das Begehren gerade allein die naturierende Kraft der unbewussten als lebendig immanenten Affekthervorbringung erlaubt. Was ist daher psychotherapeutisch wie lebensphänomenologisch zu tun, wenn die unbewusste Hervorbringung des Affekts psychoanalytisch von der Assoziation über den Trieb zu den erinnerbaren Vorstellungen als »Komplexen« führt? Als Gegen-Reduktion muss jede analytische Praxis von der Vorstellung befreit werden, sie könne das Leben im Affektgeschehen unmittelbar begleiten, um es letztlich selbst einzuholen. Indem die Begehren als Trieb, Eros oder Libido auf eine analytische Inszenierung in einem Repräsentationssystem hin funktionalisiert werden, welches unhintergehbar dem Horizontgeschehen objekthaft-welthafter Interpretation als Deutung oder Verstehen entspricht (wie etwa im Ödipus-Komplex), so entzieht sich der Analytiker dem Affektgeschehen zugunsten eines differierenden Ergreifens einer Affektbewegung durch Intervention. Dadurch geht die Möglichkeit einer unmittelbar positiven Verbindung mit der beständigen Kraft des Affekts als Freude oder Schmerz verloren, das heißt als Leben im Werden ständig wirkender Affektabilität, welche als Eros (Libido) verdrängt oder lustvoll gelebt werden kann. Was bei Freud daher weitgehend im radikal phänomenologischen Sinne ausgeblendet bleibt, ist das meta-genealogische Prinzip der immanenten Selbstergreifung des Lebens als seine »Selbststeigerung«, das heißt als »ständiges Kommen des Lebens in sich selbst in der Gestalt des Affekts«. Wenn gerade diese »transzendentale Geburt« im Sich-Erleiden der reinen Subjektivität als absoluter Individuierung das entscheidende Anfangsereignis jeden Lebens und damit ebenfalls der Therapie und Supervision ist, dann ist das zu berücksichtigende Hauptgeschehen die »Wiedergeburt« als Rückkehr zum Leben, 11 mit anderen Worten »die Lust zu leben«, und zwar als Aufhebung der Selbstbegrenzungen als Verdrängung. Durch assoziative Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 24 f. u. 106 ff.

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oder sonstige Deutungsverfahren verleitet die analytische Vorstellungswelt zu einem Hin- und Herschwanken und zu Widersprüchen, welche der verstehenden, begrifflichen oder bildhaften Suche und deren Wiederholung eigen sind – nämlich als welthaftes Horizontgeschehen. Ohne Apologie von Leid und Schmerz muss demgegenüber gesehen werden, dass im tiefsten Erleiden eines Affekts die Möglichkeit für Patient/Analysand besteht, die stärkste Selbstergreifung des Lebens, seine Trunkenheit als Lust des Lebens oder Eros selbst zu erproben. Gegenüber der unaufgeklärten Deutungsmethode des psychoanalytischen Bewusstseins als theoriegeleiteter Praxis ist also festzuhalten, dass das Gewicht des Vorstellungsaktes zu reduzieren bleibt, um zur unbewussten Libido als Freude oder Lust zurückzukehren, mit anderen Worten jene Verdrängung des Lebens aufzuheben, welches in der psychoanalytischen Kur nicht selbst als radikale Genealogie solchen Lebens – selbst in der Verdrängung noch – ergriffen wird, um dessen absolute Geburt als unverlierbare Selbstaffektion oder Selbststeigerung wiederzugewinnen. Im Sinne einer radikalen phänomenologischen Meta-Genealogie kann diese zentrale Problematik aller Therapie und Supervision auch so definiert werden, dass unsere analytische Aufmerksamkeit von der assoziativen und deutenden Genealogie für das Unbewusste (»Störungen«) zu trennen ist von einer tieferen zweiten Genealogie des Unbewussten als einem »transzendentalen Bewusstsein« diesseits des natürlichen Spiegels der organisch-psychischen oder symptomatologischen Vergangenheit, um die ausgeschlossene dritte Genealogie zu ihrem reinen Erscheinen zu verhelfen – zum Affekt als Kraft ohne Bild oder Vorstellung. Insofern dieses »Ausgeschlossene« das an sich Originäre bildet, ist diese dritte Genealogie für den Patienten die schon erwähnte Wiedergeburt oder eben Selbstannahme im Leben ausschließlich, in welchem die Selbststeigerung des Lebens als absolute einmalige Individuierung wieder erlebt werden kann, um auch erneuerte existentielle Entwürfe zu generieren. Jeder erlebter Mangel birgt also – »gegen-pathisch« gesehen – in der größeren Tiefe noch die dritte Figur einer positiven Genealogie des Unbewussten, welche die negative Genealogie der Störungen und Verdrängungen hinterfragt. Insofern die Psychoanalyse und andere Psychotherapien das verfehlte oder negativ verdrängte Leben als eine Andersheit von außen setzen, ist das eigentliche Leben, welches im Affekt des Lebendigen ja weiter anströmt, immer schon verfehlt, ohne dass die Möglichkeit gegeben bliebe, es durch diese Negativform 169 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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von bloßer Erinnerung und Störungen hindurch zu erreichen. Der Analytiker/Therapeut hat also eine ursprüngliche oder radikal phänomenologische Reduktion zurückzugewinnen, indem er sich allen Beschreibungsvorgaben entzieht und dem »Schock« eines Nicht-Gesehenen ausliefert, welches in seiner faktischen Materialität das »Trauma« als solches ist. Durch die genannte pathische Gegen-Reduktion, welche sich radikal phänomenologisch solchem »Schock« stellt, wird ein Affekt seinem eigenen Selbstempfinden zurückgegeben, und zwar durch dessen Erleben als Störung oder Verdrängung selbst hindurch – die eben nur solche individuellen »Fehlformen« für ein Vorstellungsbewusstsein sind. Der Analytiker/Therapeut tritt dadurch in ein doppeltes Verhältnis zum Trauma ein, nämlich zum einen in die Projektion des Traumas, für welches er »Spiegel« ist, und zum anderen in das Ungesehene des Traumas, welches solcher Spiegel nicht – oder nur teilweise – aufnehmen kann. Als Partner des äußerlich Widergespiegelten ist der Analytiker/Therapeut zugleich Partner in einem tieferen Sinne, nämlich mit der nicht gesehenen Identität als dem unsichtbaren Affekt, welchen er nur dank seiner eigenen sinnlichen Leiblichkeit teilen kann (die immer auch Eros ist), ohne den Affekt jemals beim Patienten ganz einzuholen, sofern sich jedes subjektive Leben einer letzten Substitution entzieht. Der Analytiker/Therapeut handelt somit – ähnlich wie jeder Lebendige in der zuvor dargestellten Sichtweise der Erotik – in einem Prozess ur-gemeinschaftlichen Lebens, welches intentional wie immanent ist, so dass sich daraus eine radikale Praxis ergibt, die sich nicht mehr in der Position von Beobachten/Deutlichmachen des Unbewussten erschöpft, sondern gerade die »ungenutzte Energie« der a-repräsentativen Genealogie benutzt, die hier keine andere bildet als die MetaGenealogie einer Gemeinschaftlichkeit des Sich-Erleidens oder -Erprobens im Leben. Dieses ursprüngliche Verhältnis zum affektiven Leben kann sich der Analytiker/Therapeut – dank der radikalen Phänomenologie – durch keine theoretische Reduktion im Sinne eines Aufsuchens einer transzendentalen Bedingung geben. Das heißt, das Verlassen der naiven oder spontanen Haltung gegenüber dem Patienten bedeutet nicht nur das Teilen einer Existenzbedingung mit dem Anderen im Sinne einer gemeinsamen ersten Evidenz; es handelt sich vielmehr um eine meta-genealogische Bedingung – um den Vollzug der eigenen Passibilität als Geboren-Werden im Leben vor jeder theoretischen oder thematischen Sichtweise. Mit anderen Worten sind weder abstrahie170 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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rende transzendentale Bedingung noch lebensweltliche Faktizität als »Dasein« die Wurzel einer effektiven Gemeinschaftlichkeit im Affekt, sondern allein das pathische Leben als solches, welches sich im Fall des Patienten dem Spiegel der herrschenden Ordnungen und dem Spiel ihrer Hierarchien als gedachte und entfremdende Idealisierungen entzieht, indem der Patient gerade daran leidet, noch tiefer an seinem lebendigen Sich zu leiden, welches sich als abgründige Ipseität in keiner dieser Ordnungen wieder zu erkennen vermag, so wie es auch das Begehren des Eros nicht vermag. Psychoanalyse, Therapie und Supervision haben daher die Aufgabe zu erkennen, wie ein Affekt (Trauma) die Diskontinuität mit der äußeren Ordnung lebt, um sich als Analysand wie Analytiker in eine Gemeinschaftlichkeit der intentionalen Selbstbegrenzung hinein zu begeben, welche selber den eigenen begründenden Bezug zu Vorstellungen und Ordnungen aufgegeben und in diesem Sinne die theoretische wie soziale »Einsamkeit« durchquert hat, ohne die große »Resignation« gegenüber dem Leben zu teilen, von der Kierkegaard hinsichtlich subjektiv ethischer Entscheidung sprach. Mangel oder Gewalt als »Todestrieb« anzuerkennen, entspricht dann der Anerkennung der originären Verletzbarkeit in aller affektiven Verdrängung und Traumatisierung, wodurch die negative Genealogie zu einer positiven Genealogie des Affekts als Leben-Wollen wird, wie sie Begehren und Lust als Eros allzumal eigen ist. Im Hervorbrechen der Andersheit des leidenden Patienten erkennt der Analytiker/Therapeut die Gegebenheit seiner eigenen theoretischen wie sozialen oder lebensweltlichen Überbestimmtheit wieder, um durch deren Selbstbegrenzung oder pathischen Gegen-Reduktion eine neue Begegnungsform zu generieren. Die therapeutische Begegnung erfährt durch diese Selbstbegrenzung die Bewegung einer anderen Praxis, welche allein an der Subjektivierung des Patienten in seiner Verletzbarkeit als Affektabilität selbst ausgerichtet ist. Das heißt, alle erneuten subtilen gewalt- oder machtgesteuerten Kompensationen als Verlagerung von »Sinn« in einen ideologischen Bereich hinein sind zu durchschauen, um allein der möglichen wie notwendigen Selbstbegrenzung als Selbstbewegung des Lebens zu folgen, welche zugleich eine Selbststeigerung im Sinne der Ipseität ist, wie es zuvor in der Darstellung eines rein immanenten Eros (Libido) ohne Bild und Namen paradigmatisch skizziert wurde. Die maßgebliche intentionale Selbstbegrenzung als neu gewonnene Aufmerksamkeit für das rein affektive Leben des Anderen führt uns also zur Unterordnung der 171 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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eigenen therapeutischen Intervention unter die »transzendentale Bedingung« einer pathischen Ur-Gemeinschaftlichkeit, welche das Trauma (Leid) als Ursprung selbst einer Befreiung versteht, die keiner Vorstellung mehr geschuldet ist. Eine Gemeinschaftsbeziehung der Subjektivierung als absolute Individuierung ist also ein gemeinsamer Prozess von Patient und Analytiker, um »Bericht« wie »Deutung« nicht mehr dem alleinigen Spiel der zweiten Genealogie eines Repräsentationsspiegels zu überlassen, sondern eine an-archische Zugänglichkeit zur Kraft des je individuierten Lebens hin zu ermöglichen, damit es in seiner eigenen thematischen Selbstbegrenzung (Ipseität, »Einsamkeit«) als rein immanente Selbststeigerung oder Eros wird leben können.

2) Hermeneutische Freudlektüre bei Ricœur Hinsichtlich der weiteren Auseinandersetzung mit Freud kann zunächst Paul Ricœurs Freudinterpretation als beispielhaft für eine sinnbezogene Phänomenologie der seelischen Wirklichkeit überhaupt verstanden werden, um im Vergleich damit den Anspruch eines reinen Affekts zu verdeutlichen, wie er für eine radikale Lebensphänomenologie grundlegend bleibt. Ricœur will nämlich als »epistemologische Kritik« die realitätsorientierten Begriffe der Psychoanalyse – und darunter vornehmlich jene der Topik und Energetik – als Organisationsfaktoren eines neuen hermeneutischen Objektivitätsbereichs ableiten. Dies führt deshalb zur Konfrontation von Phänomenologie und Psychoanalyse, als eben mit solcher Realitätsdeutung prinzipiell der Sinnstatus zur Debatte steht, woran sich das neuzeitliche Denken jeder Genesis, Konstruktion oder Dekonstruktion immer wieder versucht hat. Die Frage nach dem zu entziffernden »tieferen« Sinn der menschlichen Sprach- und Verhaltensweisen ist also zugleich die Herausforderung an die Philosophie als Hermeneutik und tritt beispielsweise auch als existentielle Situations- und Wertanalyse bei Ludwig Binswanger (Daseinsanalyse) und Viktor E. Frankl (Existenzanalyse/Logotherapie) in psychotherapeutischer Hinsicht auf. 12 Jede rein empirische Kritik der Psychoanalyse bleibt daher von vornherein unangemessen, weil die analytische Situation 12 Vgl. G. Funke u. R. Kühn, Einführung in eine phänomenologische Psychologie, Freiburg/München, Alber 2005, 63 ff.

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eine sprachlich bestimmte Situation ist, von der Ricœur sagt, »dass die Konzepte der Analyse [in der Entfaltung] dieses Feldes des Wortes« beurteilt werden müssen. 13 Anstatt also von der impliziten Beibehaltung des Vorstellungsprimats in der Psychoanalyse zu sprechen, kann auch gesagt werden, es handle sich vorrangig in ihr um das Verhältnis von Bedeutung/Zeichen, wie es auch Jacques Lacan formulierte. 14 Selbst wenn also im Sinne des naturalen oder gar naturalistischen Selbstverständnisses Freuds die psychische Energetik auf die »Natur« zurückverweisen sollte, so kann der Zugang zu derselben nur über die Vermittlung der »psychischen Repräsentanten« jener Energie gefunden werden. Als Prozesse des Bedeutens fallen diese Repräsentationen daher unter die Gesetzlichkeit der Interpretation oder »Deutung«, und die Erhellung der »Realität« wäre somit von einer hermeneutischen Phänomenologie durchzuführen. 15 Und da sich zwischen phänomenologischer Epoché und Kritik des unmittelbaren Bewusstseins eine Parallele Husserl/Freud auftut, geht Ricœur diesen vergleichenden Weg, wobei jedoch die Kritik des unmittelbaren Bewusstseins gerade den husserlschen Evidenzbegriff überschreitet. Nach Husserl ist nämlich in der Tat nur die auf den flüchtigen Augenblick beschränkte subjektive Erscheinung in ihrer apodiktischen Evidenz absolut »leibhaft« gegeben. Alle weiteren Realitätskontexte sind in ihrer »Objektivität« nur mögliche Evidenzen als wahrnehmungsmäßig noch zu erfüllende Horizonte, womit das Cogito selbst bedroht ist, insofern sein konkret lebendiger Kern nur auf eine stets entgleitende Jetzt-Gegenwart begrenzt ist, wie leicht einzusehen ist. Der mitgemeinte Horizont weiterer möglicher Gebung Vgl. P. Ricœur, De l’Interprétation. Essai sur Freud, Paris, Seuil 1965, 366 (dt. Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M., Suhrkamp 1969). 14 Außer Lacan, auf den wir am Ende dieses Kap. zurückkommen, wären auch noch andere Weiterentwicklungen der Psychoanalyse zu erwähnen, die zum Teil eine starke Kritik an Freuds Theorie implizieren, so etwa Adler, Bion. Erikson, Melanie Klein, Kernberg etc.; vgl. K.-H. Witte, Zwischen Psychoanalyse und Mystik. Psychologischphänomenologische Analysen, Freiburg/München, Alber 2013, 55 ff., 82 ff. u. 253 ff. Sichtbar wird an dieser inner-psychoanalytischen Auseinandersetzung, dass sich letztlich ihr »Gegenstand« einem Unbenennbaren annähert, welches Parallelen zur »Mystik« aufweise. 15 Vgl. M. Fäh, »Das Menschenbild der Psychoanalyse Sigmund Freuds«, in: H. G. Petzold (Hg.), Die Menschenbilder in der Psychotherapie. Interdisziplinäre Perspektiven und die Modelle der Therapieschulen, Wien, Krammer 2012, 345–368, hier bes. 348 ff. 13

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entzieht sich in die unendliche Welt- als Intentionalitätsoffenheit hinein, was Implizites und Unbewusstes beinhaltet. Hinzu kommt außerdem, dass das Cogito ein transzendentales Konstitutionsvermögen ist. Das heißt, jeder nur mögliche Sinn für uns ist durch dieses Cogito bedingt, welches allerdings in dieser seiner leistenden Letztfundierung »anonym« bleibt, oder, wie Husserl sagt, nur als »stumme Konkretion« gegeben ist. 16 Damit tritt eine noch größere Problematik innerhalb dieser historischen Phänomenologie auf als die zuvor erwähnte deskriptiv »psychologische« Zerbrechlichkeit in der zeitlichen Augenblicksbeschränkung. Denn eine anonym transzendentale »Subjektivität« widerspricht der urphänomenologischen Absicht, das Erscheinen als solches in seiner lebendigen Wirktatsächlichkeit zu fassen, mit anderen Worten in seinem unmittelbar affektiven oder fleischlichen Sichgeben. Wenn aber tatsächlich das Wie der originären Phänomenalisierung der Phänomenalität als solcher Husserl entgleitet, dann gewänne die Hermeneutik ihre alleinige Berechtigung im Letzten dadurch, dass die leistende Intentionalität die thematische Intentionalität überschreitet. Das letzte sinnstiftende Vermögen (des Cogito) ist als Sinnquelle (nämlich als lebendiges Cogito) vom thematisierten Cogito (einzelne Sinngebung) jedoch nicht einzuholen. Damit aber wären die zeitgenössische Sinnhermeneutik bei Ricoeur und die Unbewusstheitstheorie nach Freud nur zwei äußerlich verschiedene Lösungsansätze für ein und dieselbe verbleibende Grundproblematik des Cogito als unsichtbarer Lebendigkeit – eben als ein reines Sichbedürfen oder als Affekt im Sinne der pathischen Intensität als ursprünglicher Chiasmus von Leiblichkeit und Begehren, 17 wie wir zuletzt schon für Therapie/Analyse andeuteten. Wenn die Phänomenalität nur auf der Ebene der thematischen Intentionalität herrschen sollte, dann handelt es sich dabei um das unmittelbare Bewusstsein, welches sein Objekt kennt, weil letzteres sich ihm zeigt, indem es vom Bewusstsein konstituiert wird. Die genannte operative Intentionalität bleibt aufgrund ihres Anonymseins jedoch ungesehen; das heißt, sie ist thematisch nicht offenbar und agiert somit als nicht-gesehenes »Bewusstsein«. Damit ist das thema-

Vgl. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), Den Haag, Nijhoff 2 1976, 191. 17 Vgl. auch M. Henry, »Ricœur et Freud: entre psychanalyse et phénoménologie« (1991), in: M. Henry, Phénoménologie de la vie, t. II: De la subjectivité, Paris, PUF 2003, 153–182, hier bes. 168 ff. 16

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tische Bewusstsein ein wesenhaft begrenztes, nämlich unter anderem jenes der äußeren Realität nach Freud, während »das unsichtbare Nichtwissen der Intentionalität im Vollzug« immer noch ein anderssinniges Korrelat besitzen kann als jenes, welches sich thematisch »am Objekt« offenbart. 18 Problematisiert Ricœur diesen Bruch zwischen den beiden genannten Bewusstseinsweisen auch als das »verwundete Cogito«, 19 dann geschieht dies mit der Absicht, in diesen Abstand die hermeneutische Phänomenologie auf dem Boden eines geschichtlich gewordenen Raumes zwischen dem unbewusst konstituierten Sinn durch die letztfungierende unsichtbare Intentionalität und dem »mir gegenüber« apperzipierten Sinn im thematischen Bewusstsein einzuführen: »Die Aufgabe […] wird darin bestehen, die Kluft der beiden Diskursordnungen zu übersteigen und den Punkt zu erreichen, an dem zu begreifen ist, dass die Energetik durch eine Hermeneutik hindurchgeht und dass die Hermeneutik eine Energetik entdeckt.« 20 Über den Weg seiner Analyse von Cogito und Selbst im Zusammenhang mit seiner Freudlektüre und danach berichtet Ricœur selber in »Kritik und Glaube. Gespräch mit François Azouvi und Marc de Launay«, 21 und in »Soi-même comme un autre« will er durch die Unterscheidung von Selbigkeit und Selbstheit (mêmeté – ipséité) vor allem auf die Frage antworten: Wer handelt? Dabei spielt der »erlebte Leib« (corps propre) eine entscheidende Rolle, insofern die Semantik wie Pragmatik der Sprachwissenschaften Selbst und Leib nur als äußere Objekte wahrnimmt, die Handlung aber stets mehr als ein bloß äußerer Vollzug ist und teilhat an der »narrativen Identität«, welche durch leiblich wie sprachlich fundierte Erzählung strukturiert ist, ohne jedoch den Affekten als Intensität/Begehren eine eigenwesentliche »Narrativität« zuzubilligen. Dass die posthusserlsche Phänomenologie schon immer versucht hat, diesen letztlich als leibliche Faktizität konstituierten Sinn daseins-, existenzanalytisch oder als dekonstruktivistische Differenz P. Ricœur, De l’Interprétation (1965), 370. Vgl. hierüber vor allem auch seine spätere Publikation Soi-même comme un autre, Paris, Seuil 1990 (dt. Das Selbst als ein Anderer, München, Fink 1996). 20 P. Ricœur, De l’Interprétation (1965), 79, was derselbe Autor als »gemischten« oder sogar »ambigen Diskurs« auch schon als Spannung in seinen Symbolanalysen herausgearbeitet hatte; vgl. ebd., 76, ohne hier auf seine weiteren wichtigen Studien zur Metaphorologie näher eingehen zu können. 21 Freiburg/München, Alber 2009, 98–133 (franz. Orig. La Critique et la Conviction, Paris, Calmann-Lévy 1995). 18 19

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der »Andersheit« (Spur) einzuholen, ist bekannt. Die zugestandene Unmöglichkeit jedoch, Dasein im philosophischen Verstehen selbst in seiner ek-sistentiellen Aktualität einholen zu können (Heidegger), bzw. das Retardieren des Bewusstseins als Abwesenheit jeder unmittelbaren Präsenz aufzuheben (Derrida), erkannte auch schon die hegelsche Problematik des absoluten Wissens als Grenze allen Bewusstseins selbst an: Die totale Wiedergewinnung der leistenden Intentionalität mittels geschichtlicher Genese zerbricht am Wesen ihres rein immanenten Erscheinens selbst, sofern das Nichtreflektierbare der letztfungierenden Leistung reiner Subjektivität ein absolutes Vorher im Schoß jeder Reflexion selbst darstellt. Kurz gesagt bricht sich geschichtlicher Sinn oder auch existentieller Situationssinn (Hermeneutik) an der radikal innersubjektiven Selbstaffektion (Henry) im Sinne a-historischer Ursprungsgegebenheit (Affekt der Psychoanalyse) – und genau dies bleibt letztlich die Kernproblematik jeder Psychologie, reflexiven Ichauffassung oder Psychotherapie, wie groß die traumatische Ohnmacht in ihren einzelnen Graden bzw. als menschliche Grundsituation (Lacan) überhaupt auch sein mag. 22 In der erwähnten hermeneutischen Gebrochenheit von Sinn/Bewusstsein kann so ein Seelenleben definiert werden, welches nicht mehr direkt der Vermittlung des Selbstbewusstseins bedarf, sofern dieses grundsätzlich unsichtbar, unzugänglich oder »unbewusst« in seinem Selbstvollzug ist. Was bleibt, ist ein je unverstandener »Sinn«, der zum zu entziffernden Text wird, welcher in seiner unverstandenen Wahrheit dennoch einen Sinn bildet, weil er zur (hermeneutisch de-finierten) Ursprungsregion der Sinnkonstitution gehört. Was die freudsche oder sonstige phänomenologische Hermeneutik benötigt, ist mithin ein Material von noch-nicht-verstandenem Sinn, welcher auch einem daseins- oder existenzanalytischen Sinnfindungsgeschehen von Gewissen oder Intuition (Gefühl, Wille) als subjektiver Instanz entsprechen kann. Dass diese originäre Beschreibungssituation Husserl nicht fremd war und die hermeneutische Vgl. H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich (2011), Kap. II,2: »Spielarten der Leiblichkeit. Ansätze zu einer phänomenologischen Anthropologie«, wo nicht nur die Ansätze von Ricœur, Henry, Richir und Lacan für die jüngere Auseinandersetzung zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse dargestellt werden (S. 265–317), sondern auch die vorhergehenden Stellungnahmen zu Freud durch Scheler, Minkowski, Sartre und Merleau-Ponty (S. 260–265). Vgl. auch schon J. Rütsche, »Freud in der französischen Philosophie«, in: Philosophisches Jahrbuch 78 (1971) 401–423.

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Phänomenologie jeweils auf ihn in idealer Weise zurückgreifen konnte, zeigt gut Husserls Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Sinngenesen. In den aktiven Genesen kontrolliert das Bewusstsein durch spezifische Akte des Zum-Erscheinen-Bringens nicht nur den korrelativen Sinn seines diesbezüglichen Vermögens, sondern das Cogito kann solche Hervorbringungen stets auch aktiv wiederholen, um sie in der Schau der Wesensbestimmung zugänglich zu machen, was psychologisch oder therapeutisch der individuellen »Stellungnahme« entspräche. In der passiven Synthese hingegen ist das Bewusstsein einem letzten hyletischen Erfahrungssubstrat ausgeliefert, welches als primordiale »Erfahrenheit« für Husserl zwar schon ahnenden Weltcharakter besitzt, aber in seiner Bindung an die Ego-Passivität nicht nur die Kehrseite der urteilenden Vernunfttätigkeit darstellt, sondern absolute Bedingung jeder Aktivität als eines präkonstituierten Feldes ist, welches zumeist einem unbewussten Habitus als Übergang zum wachen Bewusstseinssinn entspricht, wie die Zeitanalysen zeigen können. Diese passive Synthesis bringt also nicht nur die Objekte hervor, welche dann vom Ego in einem weiteren Schritt durch seine aufmerkende Zuwendung stellungnehmend aufgefunden werden. Vielmehr vollzieht sich die originäre Genese als konstituierende Leistung im Ego ohne dieses sich-wissende Ego selbst, obwohl Husserl eine Minimalaktivität des »Vor-Ego« auch hier anzunehmen scheint. 23 Sofern jedenfalls diese passive Erstsynthese ohne bewusstes Wollen gegeben ist, erscheinen ihre Produkte für das thematische Bewusstsein als opake oder undurchsichtige »Vor-Gegebenheit«. Die Bedeutung, welche Husserl diesen passiven Synthesen in der Untersuchung der frühesten Erfahrungsassoziation und Zeitlichkeitskonstituierung zumisst, verleiht diesen Synthesen deshalb eine archäologische Sinnfundierung, da ihre übereinander gelagerten Schichten wie endlos erscheinen: ausgehend vom archaisch passiven Urimpressionalen bis hin zum thematisch oder sprachlich gemeinten Sinn. Und da der gemeinte Sinn wiederum außerhalb der phänomenologischen Aktualität sehr schnell zerfällt, bilden sich selbst auf der Ebene der aktiven Synthese immer dichtere Schichten von erneut sekundären passiven Sedimentierungen, welche einen Habitus profilieren. Dies macht die phänomenologische, aber eben auch psychoanalytische Arbeit zu Vgl. R. Kühn, Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 1998, hier bes. 39 ff.

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einer stets wiederholten Anstrengung, um die begrabenen Bedeutungen freizulegen, wobei die tiefsten und grundlegendsten niemals bewusst gewesen sind. Die objekt- oder sinnhafte (noematische) Bewusstseinserklärung verweist dergestalt an die geistige bzw. noetische Bewusstseinsselbsterhellung, welche aus dem so gesehenen phänomenologischen Programm in der Tat eine exemplarische Hermeneutik macht, ohne eine originär immanente Intensität leiblicher Selbstgebung (Begehren, Trieb) wirklich aufzudecken. Nimmt man hinzu, dass die leistenden Intentionalitäten sich nicht ausschließlich auf die alleinigen Vorgänge von Assoziation und Verzeitlichung beschränken, wie Husserl sie hauptsächlich in Augenschein nimmt, sondern gerade Bedürfen, Begehren und triebhaften Affekt umfassen, wie M. Henry 24 sie meta-genealogisch als reines Leben bestimmt, dann skizziert ganz offensichtlich die phänomenologische »Synthesenlehre« mit ihrer Betonung von passiv-unbewussten Schichten auch eine erste angemessene philosophische Integrationsstruktur für die Psychoanalyse. Denn erscheint diese nicht – außerhalb ihres naturalistischen wie szientistischen Vor- wie Selbstverständnisses – im Grunde als eine Hermeneutik des verlangenden Bedürfens, wie die Ernstnahme der Affektivität als »innerer Realität« zeigt? Im Sinne Ricœurs kann deshalb das hermeneutische Projekt als die erklärende Anwendung von archaisch phänomenologischen Sinnschichten auf dieses begehrende Bedürfen und seine Objekte verstanden werden. Dadurch fiele die strenge Erforschung einer ursprünglichen Sinnfundierung mit der Geschichtlichkeit des libidinösen Objekts und seiner Realität durch die Stadien der Libido hindurch selbst zusammen. 25 Der Triebbegriff ist in der Tat bei Freud als Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem angesetzt, woraus sich eine »Arbeitsanforderung« an die Psyche zwischen Bedürfen und Befriedigung ergibt, was die »psychischen Repräsentanten« des Triebes erklärt. Zu dieser hermeneutisch phänomenologischen Vergeschichtlichung des primären Bedürfens tritt daher ergänzend im Licht der faktischen Konkretion der unbewusst libidinösen Sinnproduktion unmittelbar auch die Leiblichkeit als eigener, subjektiver Vgl. »Genealogie des Freudianismus« sowie »Phänomenologie und Psychoanalyse«, in: Affekt und Subjektivität (2005), 93–105 u. 106–123. 25 Vgl. zum Schwanken Freuds zwischen Szientismus und Hermeneutik auch schon J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M., Suhrkamp 1970; S. Freud, »Triebe und Triebschicksale«, in: Gesammelte Werke X, Frankfurt/M., Fischer 1948, 209–232, hier 214 f. 24

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oder fleischlicher Leib in der Perspektive einer bevorzugten Beschreibungsmaterie hinzu. Denn der Leib ist sowohl Sitz des begehrenden Bedürfens wie einer Gesamtheit signifikanter Verhaltensweisen, wo der Sinn eben nicht mehr bloß als ideales Korrelat einer distanziert vorstellenden Intentionalität auftritt, sondern als das jeweilige Verhalten selbst, das heißt als ein im Leib erscheinender Sinn. In der Sicht der ricœurschen Phänomenologie, was aber auch für Levinas etwa gilt, 26 fungiert die Intentionalität gewiss weiterhin als Prinzip dieses »leibgewordenen Sinnes«, aber es ist sozusagen eine verfleischlichte Intentionalität, oder anders gesagt: der Leib ist in sich bereits ein »intentionaler Leib«. 27 Was bedeutet nun diese leiblich bedürfende oder begehrende Apriorität in Bezug auf die analytische Kur als sprachlich situiertes Geschehen? Nichts weniger als die Anwendung des unbewussten hermeneutischen Sinnes auf die Sprache selbst, die vor jedem Urteilen von einem im »leiblichen Verhalten« agierenden Sinn durchzogen ist. Vor der idealisiert thematischen Aussage in einem grammatisch, syntaktisch oder semantisch strukturierten Diskurs mit dessen immanent funktionierenden linguistischen wie rhetorischen Gesetzmäßigkeiten hat sich mithin immer schon ein verhüllt operativer Sinn der Affekte vollzogen, so dass der explizit satzhafte Ausdruck als Sinn bzw. Bedeutung stets sekundär erscheint, was wir auch schon die »zweite Genealogie« nannten. Konfrontiert man eine solche Sprachsituation mit dem Paradigma der husserlschen Wahrnehmungsanalyse, dann tritt das Sprechen nach Ricœur mit einer ähnlichen Dialektik von Abwesenheit und Präsenz wie das Wahrnehmen auf. Die apperzipierten Seiten eines Gegenstandes setzen die bloß mitgemeinten unsichtigen anderen Seiten und deren noch unbestimmten Horizont voraus, so dass jede anschauliche Gebung auf weitere mögliche Gegebenheiten verweist. Dieses Spiel erfüllter und noch nicht-erfüllter Sinnhorizonte zeigt sowohl die Begrenzung des mit dem Blick Erfassten wie den immanenten Abwesenheitshorizont bei jedem aktuell Gegebenen. Damit ergreift eine ähnliche Trauerarbeit den Vgl. Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, Alber 2 1992, 154 ff., wobei natürlich auch die vorhergehenden Leibanalysen Merleau-Pontys zu erwähnen blieben. 27 Vgl. R. Kühn, Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität, Freiburg/München, Alber 1992, 246 ff.; sowie ebd., 347–362 auch eine entsprechende Freudanalyse mit Rückverweisen auf Schopenhauer und Nietzsche. 26

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Wahrnehmenden wie das Kind, welches auf die tatsächliche Gegenwart der Mutter verzichten muss und sie daher gegen ihre Abwesenheit mit dem Zeichen der Sprache oder des Symbols evoziert, wie es gut sein »Fort-Da«-Spiel zeigt. 28 Die endlich begrenzte Präsenz des thematischen Sinnes wird von der unbewussten Totalität der archaischen und leiblich originären Sinngebungen begleitet, ohne welche der manifeste Sinn unverständlich bliebe, so dass Ricœur nur über die »Nacht des Sinnes« schreiben kann: »Die Ambiguität der ›Sache‹ wird das Modell jeder Ambiguität der Subjektivität im Allgemeinen sowie der Intentionalität unter all ihren Formen.« 29 Damit kann diese Hermeneutik des »verwundeten Cogito« und seines archäologisch zu hebenden Tiefensinns gewiss eine vergleichbare radikale Infragestellung der unmittelbaren Bewusstseinsillusion seitens der Phänomenologie wie der Psychoanalyse verzeichnen. 30 Aber es liegt auch auf der Hand, dass Ricœur die freudsche Prämisse letztlich teilt: Die Ambiguität der Sache oder der Objektrealität ist dem vorstellenden Wahrnehmungsmodell entnommen, das dann auf die zitierte »Ambiguität der Subjektivität« als solche zurückschlägt. Es muss aber radikalphänomenologisch ernsthaft gefragt werden, ob gerade die Subjektivität als Bedürfen, Affekt, Libido oder Begehren usw. nicht ihre eigene apodiktische Gewissheit vor aller thematisch bedingten Opazität besitzt, da nur für den sehenwollenden Blick etwas »dunkel« sein kann. Ricœur besitzt allerdings jene philosophische Klarsicht, im Augenblick der scheinbar größten Annäherung zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse zugleich deren Unterschied festzuhalten. Denn zumindest in der husserlschen Phänomenologie gibt es dem Anspruch nach keinerlei Hindernis im fortschreitenden Erhellungsprozess der sedimentierten vorprädikativen Sinnschichten. Wie das intentionale Bewusstsein als teleologische Bewegung der unbegrenzt vorantreibenden Wahrnehmungsmodifizierung ist auch der gesamtphänomenologische Selbsterhellungsprozess eine reduktiv oder eidetisch kontrollierte Auslegung immer neuer Horizonte für die klassische Phänomenologie.

Vgl. zu diesbezüglich neueren Forschungen M. B. Buchholz, »Das Selbst – Über den Individualismus hinaus. Einige Befunde der Säuglingsforschung – neuere psychoanalytische Perspektiven«, in: H. G. Petzold (Hg.), Identität (2012), 295–332. 29 P. Ricœur, De l’Interprétation (1965), 376. 30 Vgl. dazu auch P. Welsen, Philosophie und Psychoanalyse. Zum Begriff der Hermeneutik in der Freud-Deutung Paul Ricœurs, Tübingen, Niemeyer 1980. 28

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Im Gegensatz dazu kennt Freud eine Schranke zwischen Primärund Sekundärvorgängen, die nur schwierig zu überwinden sei, wie die Diskussion um Lust- und Realitätsprinzip zeigen kann, da die beiden damit identischen Bezugssysteme Unbewusst/Bewusst nur verschlüsselt miteinander kommunizieren. 31 Dies aber wäre bei Freud zunächst weniger als philosophische Erklärung zu würdigen denn als therapeutische Ausgangssituation zur Erarbeitung von deutenden Interventionsweisen in der analytischen Kur. Diese unterscheiden sich praktisch von der traditionellen phänomenologischen »Aufweisung« in ihrer teleologischen Typik, denn was in der psychoanalytischen »Bewusstwerdung« wiedererlebt werden soll, ist nicht das natürlich notwendige Spiel intentionaler Verweise zwischen selbstgegebenen und abwesenden Objektseiten oder -aspekten. In der Psychoanalyse handelt es sich vielmehr um das affektiv verborgene Bedürfen, dessen Assoziationen nicht den bloßen Vorstellungsgesetzlichkeiten gleichen, weil das bewegende Prinzip des psychischen Bedürfens ein anderes ist: nämlich rein kraftaffiziert. Damit ist vor allem psychologisch wie therapeutisch der Sinn von »Kräften« zu enthüllen; das heißt, es bleibt zu jenem Begehren und zu jenen Triebkräften zurückzufinden, welche die Kraftbewegung des individuellen Bedürfens – oder dessen Verzerrungen bzw. Verschiebungen – bestimmen. Aus diesem Grunde müssen die Triebkräfte mittels einer Methode »beherrscht« werden, an denen Psychoanalyse wie Neo-Psychoanalyse bis heute elaborieren. Anders gesagt muss das naturierende Prinzip selbst der »Deutung« zugänglich gemacht werden, bevor die Erhellung der naturierten, erscheinenden Bedeutungen effektiv werden kann. Zumindest an dieser Stelle ist folglich zu sehen, dass phänomenologische Methode in unmittelbarer Husserlnachfolge einerseits und psychoanalytisches Denken andererseits nicht identisch sein können, wie gerade auch M. Henry betont. Denn wenn die Psychoanalyse praktisch in den Bereich des Spiels der affektiven Bedürfniskräfte eintaucht, um effektive Therapie sein zu können, dann darf sie nicht im Bereich des je thematischen Sinns gefangen bleiben, was auch für jede psychologische wie sinnorientierte Daseins- oder Existenzanalyse in ihrem möglichen Bezug zur radikalen Lebensphäno-

Vgl. K. Wondracek, Psychoanalyse und Lebensphänomenologie. Ein Beitrag zur Klinischen Psychologie, Freiburg/München, Alber 2013, 93 ff.

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menologie zu bedenken ist. 32 Denn der jeweilige Analytiker/Therapeut taucht im wahrsten Sinne des Wortes in jene »Nacht« der naturierenden Affektkräfte hinab, an denen sich jeder Sinn entzündet, was aber zugleich heißt, dass er selbst in diesem Hinabtauchen (einer »dritten Genealogie«) affektiv zu einer der Kräfte wird, mit denen der »Patient« sich konfrontiert erlebt. Von daher kann man verstehen, dass in der Neo-Psychoanalyse verstärkt das Konzept der »projektiven Identifizierung« diskutiert wird, 33 da nur in affektiver Konfrontation und gegenseitigem Austausch von Therapeut/Patient bzw. Analytiker/Analysand jene reale Veränderung der »unbewussten« Kräfte erreicht zu werden vermag, die am Werk waren, als Neurose, Halluzination, Phobie, Stottern, Vergessen, Scham, Schuld, Hyperchondrie, Hemmung usw. ihre Genese begannen. Ricœurs Vorgehen zeigt nun des Weiteren auf subtile philosophische Weise, wie sich die analytische Behandlung in zwei Teile spaltet, da die richtige »Deutung« nur ein »Verstehenssegment« sein kann, welches sich der zuvor genannten therapeutisch-intersubjektiven Beziehung ein- wie unterzuordnen hat, insofern sich diese Beziehung zwischen Kräften bzw. »Widerständen« aufbaut. 34 Auch der Neurose-Ursprung hat einen Widerstand zum Anlass gehabt, so dass dieser überwunden werden soll, damit die bewusstmachende Deutung überhaupt ihre Früchte zu tragen vermag. Der Verzicht auf den Widerstand kann sich nur im Laufe der Analyse mittels der ÜberTragung vollziehen, sofern letztere die traumatische Situation reproduziert und ihr einen anderen Ausweg weist. 35 Die Katharsis nach Breuer wird bei Freud durch Wiederholen und (Wieder-)Erwecken jener bedürftigen Kräfte ersetzt, die Anlass der neurotischen Symptome waren, welche ihrerseits nur eine Ersatzfunktion im Vergleich zur wirklichen Lust-, Trieb- oder Bedürfniserfüllung haben können. Vgl. R. Kühn u. R. Stachura, Patho-genese und Fülle des Lebens. Eine phänomenologisch-psychotherapeutische Grundlegung, Freiburg/München, Alber 2005, 9 ff. 33 Vgl. H. Hinz, »Projektive Identifizierung und psychoanalytischer Dialog«, in: Psyche 7 (1989) 615–631. 34 Vgl. auch S. Freud, »Die Fragen der Laienanalyse« (1926), in: Sigmund-Freud-Studienausgabe, Ergänzungsband, Frankfurt/M., Fischer 1975, 271–349; W. Datler, »Deutung«, in: R. Brunner u. M. Titze (Hg.), Wörterbuch der Individualpsychologie, München/Basel, Reinhardt, 2. neubearb. Aufl. 1993, 90–95. 35 Vgl. S. Brookmann, »Leben im Trauma. Zur Bewegung der Lebensselbststeigerung bei Traumatisierung«, in: G. Funke u. a. (Hg.), Existenzanalyse und Lebensphänomenologie: Berichte aus der Praxis, Freiburg/München 2005, 68–98; R. Kühn u. R. Stachura, Patho-genese und Fülle des Lebens (2005), 51–82. 32

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Hermeneutische Freudlektüre bei Ricœur

Wie sehr sich die Übertragung in einer Triebkonfliktdynamik vollzieht, zeigt sich auch an dem Versuch des Patienten, in der Analysebeziehung weiterhin dieselbe Ersatzerfüllung zu suchen, wie er sie seit jeher in seiner zumeist sehr schmerzvollen Biographie praktiziert hat. Insofern kann die »projektive Identifizierung« sowohl positiv wie auch negativ für das Voranschreiten der analytischen Arbeit verstanden werden, denn sie konfrontiert den Analytiker mit dem augenblicklich tatsächlichen »Gefühl« des Patienten, welches als solches in der therapeutischen Situation erlebt werden muss. Aber zugleich dürfen nicht die gewohnten (meist sozial normativen) Antwortmuster heraufbeschwört werden, welche den Patienten in seiner bisherigen Selbstsicht bestätigen – also beispielsweise »völlig hilflos« oder »weniger liebenswert« als »die Anderen« zu sein. Das »Wissen« (in) der Psychoanalyse kann als solches mithin nur auftreten, wenn es als »Realität« im Sinne eines praktischen »Heilungsvermögens« innerhalb der konfliktuellen Bedürfnisbeziehung eingebracht wird. Wenn daher keineswegs das (neurotische) Nichtwissen als solches pathogen ist, weil es seinen tieferen Grund in den widerständigen Kräften besitzt, dann handelt es sich bei der Psychoanalyse nach Freud selbst um ein Intensitäts- oder Ökonomieproblem im Maße der Übertragungspotenziale gegen die ursprünglichen und beibehaltenen Widerstände. Für Ricœur sind daher Psychoanalyse und Phänomenologie prinzipiell geschieden, denn der klassisch-phänomenologisch denkende Philosoph (wie wohl jeder nur an der rationalen oder logischen Reflexion geschulte Denker) »fühlt sich von dem lebendigen Verstehen dessen ausgeschlossen, was in der analytischen Beziehung geschieht«. 36 Was Ricœur das Ökonomieproblem der Psychoanalyse nennt, verbirgt aber im Grunde nichts anderes als die Schwierigkeit jeder Hermeneutik, sich mit einem dunkel rätselhaften Universum von Bedürfen, Begehren, Energie und Kräften konfrontiert zu sehen, die überall die freudsche Metapsychologie bestimmen. Deren Topik und Energetik versucht das Spiel jener Verborgenheit auszumachen, die wir eingangs in Bezug auf die originär affektive Erotik als die Selbstverdunkelung des unmittelbaren Bewusstseins gegenüber dessen Hervorbringungsgrund unsichtbarer/unbewusster Bedeutungsarbeit erkennen können. Ist im ricœurschen Sinne die Möglichkeit philosophischer Einsicht in die »Sinngebung« aus der Kraft des Selbstbewusstseins allein heraus 36

P. Ricœur, De l’Interprétation (1965), 402.

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3. Trieb und Psychoanalyse

aufzugeben, so erfordert dies eine schmerzliche methodische wie erkenntniskritische Verlagerung: eine Art »Gegen-Phänomenologie« in seiner Sprache. In dieser Reduktion, die nicht im husserlschen Sinne zum lebensweltlich und dann transzendental konstituierenden Ego-Bewusstsein führt, sondern eine Re-duktion des Bewusstseins selbst beinhaltet, bedeutet nämlich die Konfrontation mit dem Bedürfen als Begehren und Sprache, welche die einsichtigen Bedeutungen des jeweiligen Individuums übertreffen, einen dreifachen Verlust, nämlich den Verlust des Vorstellungsobjekts, dessen Subjekts sowie schließlich des Ich als »Selbst« oder der Identität im bildhaft-reflexiven Sinne, wie auch Lacan unterstreicht. Andererseits unternimmt Ricœur aber auch eine außerordentliche hermeneutische Anstrengung, um die Grenzen des Seelenlebens und Organismus, nämlich das Bedürfen als »rohe« Kraft, als nahezu physisch »blinde« Energie, in das phänomenologische Feld hineinzuholen, dessen transzendentes Licht nichts vom abgründigen Wesen jenes primordialen Bedürfens weiß. Nun tritt jedoch dieses Bedürfen als Affekt, Libido, Begehren, Trieb, Leib usw. auf jene Weise in das Seelenleben ein, indem es die Vermittlungen der »Repräsentanz«, wie Freud sagt, in Anspruch nimmt. Letztere bilden den Grund der Seele als Psyche, denn in sich bilden Bedürfen und Begehren im Freudianismus eine materielle, bio-energetische (somatische) Kraft, die von der Repräsentanz im wörtlichen Sinne nur vertreten werden kann, so wie die Vorstellung immer nur ein naturales Sein zu »re-präsentieren« vermag. Und als solche Vorstellungen sind die psychischen Repräsentanzen der bedürftigen Triebrealität den Vorstellungen des Bewusstseins vergleichbar. Denn selbst wenn sie zunächst unbewusst bleiben sollten, sind sie strukturell doch durch die mögliche Re-präsentation bestimmt, das heißt: ihre Bewusstwerdung in der Vorstellung ist ihre eigentliche Bestimmung. 37 Die Latenz unbewusster Vorstellungsrealität macht mithin das allgemeine Wesen des Seelenlebens aus. Deshalb kann erneut festgehalten werden, dass bei aller Unerreichbarkeit des in sich lebendig affektiven Bedürfens die freudsche Psychoanalyse und die ricœursche Hermeneutik gerade in dieser welthaft oder intentional transzendenten Vorstellungsgenese übereinstimmen, sofern sie das Seelenleben definieren soll. Die klassische Vorstellungsmetaphysik sprach anstelle von Vgl. auch die klassische Untersuchung zur »Repräsentanz« von O. F. Kernberg, Objektbeziehungen und Praxis der Psychoanalyse (1976), Stuttgart, Thieme 1984.

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Hermeneutische Freudlektüre bei Ricœur

Latenz von Bewusstseinsvirtualität, insofern die psychischen Phänomene eben das Wesen der Phänomenalität als solcher in sich tragen, das heißt das Wesen des Bewusstseins als Vorstellung bzw. als Intentionalität, wodurch das Bewusst-Werden als Genese dieses Bewusstseins selbst auftritt, wie M. Henry 38 unter anderem in seiner sowohl kritischen wie teilweise anerkennenden Freudlektüre betont. Die Repräsentanztheorie des triebhaft libidinösen Bedürfens erlaubt daher die Reaktivierung der phänomenologischen Aktualisierungsauffassung, nämlich unter das Licht des Sinns zu stellen, was als ProtoKonstitution, Vergessen oder Wahrnehmungsselektion der Nacht des begehrenden Bedürfens als dessen »Verdrängung« angehört. »Es gibt einen Punkt, wo die Frage der Kraft und die Frage des Sinns zusammenfallen«, schreibt Ricœur seinerseits, »und dieser Punkt ist jener, wo […] Vorstellungen und Affekte [den Trieb] darstellen.« 39 Die meisterhaft von Ricœur vorgeführte Repräsentanztheorie erlaubt also nicht nur die hermeneutische Integration des Freudianismus, sondern trotz Kritik des unmittelbar naiven Bewusstseins und seiner Reduktion durch Topik und Ökonomie ergibt sich so eine Sinnwiedergewinnung und damit die Möglichkeit für den Menschen, frei und autonom zu sein. Die Sinnhermeneutik holt selbst die Realität der »Ver-Drängung« ein, weil eben trotz der Trennung der beiden Systeme Bewusst/Unbewusst eine gleiche ontologische Homogenität der Struktur zwischen ihnen herrscht, nämlich die Vorherbestimmung der »psychischen Realität als bewusster oder unbewusster für das Reich der sinnhaften Bedeutung«. 40 Wenn jedoch die Rückkehr zum ursprünglichen Trieb des Bedürfens wie Begehrens nur durch die Vermittlung der vorstellenden Repräsentanz und ihrer Objekte möglich ist, dann fällt diese Rückkehr nicht mit dem ur-affektiven Ausgangspunkt selbst zusammen. Das Wieder-Gefundene ist nicht das Verloren-Gewesene, weshalb wir zuvor schon eine »dritte Genealogie« oder »Meta-Genealogie« einforderten. Für Ricœur hat sich das geheilte oder gerettete Menschsein, welches sich im intentionalen Bewusstsein ausdrückt, zutiefst gewandelt: Anstelle eines einsamen Bewusstseins, welches den Sinn seiner eigenen Existenz zu besitzen glaubte, tritt eine ich-dezentrierte SinnVgl. Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, 343 ff.; in Bezug auf Ricœur ebd., 383. 39 P. Ricœur, De l’Interprétation (1965), 416. 40 Ebd., 416 f. 38

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3. Trieb und Psychoanalyse

instanz, die »Transzendenz des Wortes oder Setzung des Begehrens« genannt wird. 41 Diese Entdeckung einer zweiten, dem unmittelbaren Selbstbewusstsein gegenüber dezentrierten (Sinn-)Instanz fällt als Setzung jedoch noch in den Bereich eines Bewusstseins, so dass auch angesichts der topischen Bewusstseinsverlagerung bei Freud angemerkt werden kann, dass diese Verlagerung keine Abtrennung von jeglichem Bewusstsein darstellt. Die so zu sagen »private Subjektivität« des Analytikers wie des Analysanden übersteigt sich daher in ricœurscher Sicht auf ein Wahrheitsbewusstsein hin, welches mit der Konstitutionsarbeit jenes hermeneutischen Feldes zusammenfällt, worin sich als neuer Verstehenskern die Regeln herausbilden, welche die Interpretation leiten. Anders gesagt wird in diesem hermeneutischen Feld das Netzwerk der psychischen Prozesse geknüpft, welche die Interpretationsarbeit offen legen, was ebenfalls mit der daseins- und existenzanalytischen bzw. auch individualpsychologischen Sinnarbeit verglichen werden kann. 42 Auf diese Weise bleibt die freudsche »Realität« der Topik einem sinngebenden Bewusstsein untergeordnet, welches letztlich dem wissenschaftlichen Wahrheitsbewusstsein entspricht, welches seinerseits das allgemeingültige hermeneutische Bewusstsein bildet, auch wenn seine Realität nur als diagnostische Realität existiert. Ricœur gesteht im Übrigen in einem späteren eigenen Kommentar zu seinem Freud-Buch zu, dass er damals (1965) »nicht die Gesichtspunkte der Phänomenologie in Bezug auf die Passivität ernst genug genommen habe; insbesondere die passiven Synthesen«, und trotz allem zu stark auf eine Theorie des Bewusstseins geachtet habe als auf die reine Praxis der Kur in der Psychoanalyse. 43 Dies wäre überleitend ein wichtiger Hinweis darauf, dass seine Hermeneutik der »Narration« nur ungenügend die »Sprache des Lebens« als immanent affektive Modalisierungen der Passibilität oder Intensität in den Blick bekommen konnte, um den vorhermeneutischen Status jeder Interpretation (Deutung) angemessener noch zu explorieren, wie wir es jetzt versuchen möchten.

Vgl. ebd., 410. Vgl. R. Kühn, Existenz und Selbstaffektion in Therapie und Phänomenologie, Wien, Passagen 1994, 23 ff. 43 Vgl. »Von der Psychoanalyse zur Frage nach dem Selbst – Dreißig Jahre philosophische Arbeit«, in: Kritik und Glaube (2009), 103. 41 42

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Psychoanalyse und Lebensphänomenologie

3) Psychoanalyse und Lebensphänomenologie Neben der Tatsache, dass Affekt und Vorstellung in radikal phänomenologischer Sicht grundsätzlich zwei heterogene Phänomenalitätsweisen darstellen, die nicht unter einen transzendent intentionalen Bewusstseinsbegriff subsumiert werden können, wie wir schon herausstellten, hat die bisher diskutierte Hermeneutik als »Diagnose« zwei weitere Konsequenzen. Einerseits impliziert jedes diagnostische Realitätsverständnis eine szientistische Vorentscheidung, dass Menschsein Kranksein bedeutet und somit zu »heilen« sei, was im Kontext der Moderne heißt: es der medizinischen oder therapeutischen »Beherrschbarkeit« zugänglich zu machen. 44 Dadurch teilt die Psychoanalyse prinzipiell als tiefenpsychologische Defizit- oder Mangeltheorie den technischen Grundzug unserer Epoche und tut damit jede andere »Kultur« als die wissenschaftlich-technische, das heißt die real angepasste Objektrepräsentanz, als Narzissmus, Infantilismus oder sonstige frühkindliche Störung ab. Zum anderen kann aber gerade das freudsche Unternehmen als eine tiefenpsychologische Archäologie des menschlichen »Subjekts« (mit ihren zusätzlich massen- und geschichtsdiagnostischen Konsequenzen) als eine außergewöhnliche Disziplin des Denkens erscheinen, die immer noch eine große wissenschaftliche, philosophische wie selbstklärende Anziehungskraft ausübt. Insoweit sich die genannte Reflexionsdisziplin mit ihrer eigenen Bewegung identifiziert, ist das unmittelbare Bewusstsein nur für die Reflexion verloren, nicht aber als apodiktisches Erfassen durch die »wissenschaftliche Wahrheit«, die sich wie Hegels absoluter Geist dem notwendigen Verlust des eigentlich »subjektiven Lebens« substituiert. 45 Dementsprechend macht Ricœur mit Hegel gegenüber Freud geltend, dass es nicht nur eine »Archäologie des Bewusstseins« gäbe, sondern eben auch im Sinne der »Phänomenologie des Geistes« eine »Teleologie« desselben, was sich besonders bei Identifizierung und Sublimierung zeige, da es neben dem »Wünschen zu haben« auch ein »Wünschen zu sein« gebe, wie es auch bei Lacan

Vgl. zur generellen epistemologischen Problematik der Psychologie R. Kühn, Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche, Freiburg/München, Alber 2009, 137 ff. 45 Vgl. für diese wissenschaftstheoretische Eigendynamik die klassische Untersuchung von F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, Bern/Stuttgart/Wien, Huber 1973. 44

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3. Trieb und Psychoanalyse

als »Phallus-Sein« und »Phallus haben« zu Tage tritt. 46 Insofern fallen Dialektik des Begehrens und Dialektik des Bewusstseins nicht ganz ineinander, 47 auch wenn sie letztlich von Ricœur in ein erweitertes »hermeneutisches Feld« integriert werden. Die wissenschaftlich-theoretische Bewusstmachung des »verdrängten« Bedürfens entfernt dieses definitiv qua »Deutung« als Heimholung in die transzendente Intentionalität mit ihrer Weltvernunft (Realitätsprinzip, common sense, kognitive Integration, Sinnverantwortung etc.), ohne dass die tatsächliche Eigenphänomenaltiät des »subjektiven Lebens« als bereits in sich kultureller Affekt oder als immanent narratives, sich-selbst-steigerndes Begehren absolut – das heißt ohne Theorie- und Weltvorgaben – in den Blick träte. Diese Problematisierung eines radikalphänomenologischen Bedürfens-, Subjektivitäts-, Lebens- wie Kulturbegriffs entspricht der unter anderem von Paul Ricœur wie Michel Henry her sich stellenden Frage, welche Phänomenologie mit welcher Psychoanalyse oder Psychologie überhaupt zusammenstimmen kann? Wir haben gesehen, dass eine klassische Phänomenologie des intentionalen Bewusstseins sich mit der psychoanalytischen Entzifferung von Bedeutungen oder Vorstellungen als einer hermeneutischen Archäologie treffen kann, weil die abendländisch ontologische Voraussetzung betreffs »Wahrheit« von beiden letztlich geteilt wird: nämlich als die Sichtbarmachung, Bewusstwerdung oder Sinnerhebung in eine Phänomeno-Logie des »Außen« als Transzendenz. Strukturell gesehen ist es dabei gleichgültig, ob die Hervor-Bringung des Sinnes als Ob-jektivierung eines Subjekts begriffen wird, welches sich darin letztlich erschöpft (so zum Beispiel schon bei Kant) oder als Auf-Brechen einer »Natur«, die dieses Subjekt dann erhellt (wie etwa Schellings »Unbewusstes« und »Potenzen«). In all diesen Fällen verharrt die Phänomenalität in der Eröffnung eines »Außen« als Erfahrungsmöglichkeit aller Objekte aus der Ek-stasis des Seins heraus, um mit Heidegger zu sprechen. Eine wirkliche Kritik dieser »Metaphysik der Vorstellung« ist aber nur dort möglich, wo ihre ekstatische Grundvoraussetzung selbst verVgl. S. Lippi, Transgressions. Bataille, Lacan, Paris, Erès 2008, 49–61 (Kap. »Perte et abdiction«). Die Dialektik Sein/Haben betrifft hier den innerpsychischen Sachverhalt, dass jedes Haben von Objekten immer auch zugleich ein Nicht-Haben impliziert, welches die Dynamik von Begehren und Phanstasma in ihrer unaufhebbaren Verschränkung ausmache, der »Andere« (Mutter) sein zu wollen – was ohne den »Vater« nicht möglich ist, weshalb Gesetz und Transgression sich gegenseitig bestimmten. 47 Vgl. De l’Interprétation (1965), 463 ff. 46

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Psychoanalyse und Lebensphänomenologie

lassen wird und damit Bedürfen wie absolute Subjektivität oder Affekt als Begehren einer anderen Phänomenalitätsweise zugezählt werden, wie wir hier unsere Untersuchung in Bezug auf eine rein immanent leibliche Intensität vertiefen wollen, um diese für eine Fundierung von Therapie und Supervision fruchtbar zu machen. Freud hat zumindest an einigen Stellen seines Werkes eine solche Bestimmung des Unbewussten als reines Bedürfen versucht, die nicht nur in Abhängigkeit vom ekstatischen Latenz- oder Virtualitätsgedanken des Bewusstwerdens her konzipiert ist, das heißt: wo das Konzept des Unbewussten nicht nur dazu benutzt wird, um funktional die Endlichkeit eines jeden ekstatischen Erscheinens zu beschreiben, worin jede Erscheinungsrealität als Sinn korrelativ mit einem Nichterscheinen bzw. Verschwinden verbunden ist. Im Anschluss an Schopenhauer scheint Freud vorübergehend erahnt zu haben, dass sich das Affektiv-Unbewusste nicht darin erschöpft, die Endlichkeit eines Bewusstseinslebens anzudeuten, welches nur von einem dunklen Horizont leerer Sinnpotenzialitäten umgeben ist. So wenn er schreibt: »Die Psychoanalyse hat diesen Schritt [der Annahme unbewusster seelischer Vorgänge] nicht zuerst gemacht. Es sind namhafte Philosophen als Vorgänger anzuführen, vor allem der große Denker Schopenhauer, dessen unbewusster ›Wille‹ den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzusetzen ist.« 48 Wille bedeutet bei Schopenhauer genau den Ausschluss einer jeden Vorstellung aus dem phänomenologisch lebendigen Wesen der Seele, so dass der immanent-narrative Grund unseres Menschseins – der Wille oder eben das leibliche Bedürfen – nicht unter die Form einer »Repräsentanz« des Triebes gefasst werden kann. 49 Die Grundmodalitäten unserer Erfahrung als »Subjektivität«, nämlich genau jener Wille oder der freudsche Trieb als »unbewusster Affekt«, erheben sich niemals in unserem Blickfeld, das heißt in irgendeiner Art von »Welt«, und sei sie archäologisch oder passiv-synthetisch konstituiert. Und deshalb werden Wollen, Bedürfen, Affiziertwerden, Begehren usw. von uns »primär« so gelebt, dass sie unsere seelische Originarität und damit unser inneres »kulturelles Sein« als unsere unverwechselbar pathische Subjektivität selbst sind. Genau diesen Grund, diese abgründige S. Freud, »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse« (1917), in: Ges. Werke 12, Frankfurt/M., Fischer 1948, 1–12, hier S. 12. 49 Vgl. M. Henry, Généalogie de la psychanalyse (1985), 159 ff.; R. Kühn, Leiblichkeit als Lebendigkeit (1992), 311 ff. 48

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3. Trieb und Psychoanalyse

Nacht, die zugleich der Grund des Seins sowie unseres eigenen Wesens ist, scheint Freud als das eigentlich »Unbewusste« im Sinne von Energie und Kraft verstanden zu haben, um damit eine mögliche Revolution der Bedürfens-, Kultur- und Realitätsauffassung grundsätzlich einzuleiten, die auch eine andere Phänomenologie als bei Husserl und Ricœur etwa im Sinne der oben diskutierten ekstatisch hermeneutischen Phänomenologie erfordert und in der Psychologie wie Psychotherapie entsprechend berücksichtigt werden kann. 50 In seinem Text von 1913 »Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewussten in der Psychoanalyse« erkennt man deutlich diese Wende der urphänomenologischen Erscheinensproblematik. 51 Freud legitimiert nämlich hier das Unbewusste keineswegs durch die bloße Latenz der meisten psychischen Gehalte, sondern er zieht die Kraft oder phänomenologische Wirktatsächlichkeit der »unbewussten Gedanken« an sich in Betracht. Und diese Kraft, Wirktatsächlichkeit oder Bedürfensbewegung verdanken diese »Gedanken« ihrem Unbewusstsein selbst. Alles Können oder Handeln scheint hier nur in der Nacht unserer absoluten Subjektivität vor jede Welt möglich zu sein, das heißt »dort«, in einem »Sitz des Lebens«, wo jegliche Mächtigkeit als die Kraft selbst ihres Vermögens in den unmittelbaren Besitz ihrer selbst eintritt, um sich so zu ergreifen, wie und was sie ausschließlich als affektives Können ist, welches sich mit unserem transzendentalen Ego- und Leibsein selbst identifiziert. Wenn sich in dieser selbstnarrativen Originarität vor aller primär empfundenen Emotionalität keine Dif-ferenz als Raum der Möglichkeit von (Selbst-)Vorstellung mehr auftun kann, um sich darin zu sehen oder empirisch vorstellend zu erfahren, dann deshalb, weil das originär immanente Handeln niemals von sich selbst als eine Objektivität in der Vorstellung getrennt sein kann, sondern sich als Handeln oder Kraft nur in dieser »Nacht« als subjektive Praxis zu ergreifen vermag. Das Nichtsehen als urphänomenologische Bedingung des je nur lebendigen Handeln-Könnens ist die konkrete Ermöglichung oder Potenzialität selbst, um Kraft, Affekt, Lebensbewegung usw. zu sein, was als ein Grundprinzip der Lebensphänomenologie für die hier untersuchte Therapiefundierung angesehen werden kann. Es bleibt daher deutlich zu unterstreichen, dass eben das psychologische oder nicht radikal aufgeklärte Verständ50 Vgl. dazu F. Seyler, Eine Ethik der Affektivität: Die Lebensphänomenologie Michel Henrys, Freiburg/München, 2010, 206 ff. 51 In: Ges. Werke 8, Frankfurt/M., Fischer 1948, 429–439.

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Psychoanalyse und Lebensphänomenologie

nis von »Primär-Emotionalität« oder ähnlichen bloß festgestellten »Grundgegebenheiten« immer schon eine ekstatische Vorstellungsund Zeitkategorialität methodisch einschließt, die auf jener unsichtbar affektiven Urphänomenalität beruht, welche im eigentlichen Sinne »primär« (originär) ist. 52 Deshalb betrat auch Freud durch die Anerkennung eines »wirksam Unbewussten, das unbewusst bleibt und vom Bewusstsein abgeschnitten zu sein scheint«, in Unterscheidung von einem »wirksamen Vorbewussten, das ohne Schwierigkeit ins Bewusstsein übergeht«, 53 einen Bereich, der nicht mehr der bloß hermeneutisch eröffnete Bereich der Metaphysik der Vorstellung oder des Sinns ist. Damit wird 52 Vgl. R. Kühn, Praxis der Phänomenologie (2009), Kap. I,1: »Materialität und Interpretation der Gefühle« (S. 15–39). Auch der gegenwärtige Vorschlag von Marc Richir, besser »den Abgrund überspringen« zu sollen, als in ihn radikal phänomenologisch einzutauchen, ist der Versuch, im »Irreduzibel-Faktischen« der Psychopathologie die transzendentale Geburt jedes Individuums zugunsten einer bloßen »Genetik der transzendentalen Individuierung« zu verkürzen, um etwa Hysterie, Trauma und Perversion (z. B. Fetischismus) in einem »fixiert Imaginären« zu lokalisieren, das ein intersubjektives (solipsistisches) Defizit seit der frühen Mutter-Kind-Beziehung offenbare, nämlich nach Winnicott die Angst vor dem »Zusammenbruch« (breakdown); vgl. M. Richir, Phantasia, imagination, affectivité, Grenoble, Millon 2004, 262 f. Dazu auch H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich (2011), 63– 113 u. 285–303, hier bes. 293 f. u. 303, wo im Anschluss an Richir und Binswanger vor allem die Unterscheidung von »Leiblichkeit« und »Leibhaftigkeit« im Zusammenhang mit einem (wahnhaft gebildeten) »Phantomleib« herausgestellt wird, wo die »Phantasie« als vor-imaginäre, »bewegliche Affektivität« (originärer Phantasieleib) nicht mehr frei abfließe oder »pulsiere«. Daraus erkläre sich auch das Trauma als »Phantasma« – im Unterscheid zur »Phantasie« – im Sinne einer fixierten Szene, die das Ich so stark fasziniere, dass es sich in diese Szene verliere, von der alle anderen Geschichten beherrscht blieben (über das »Phantasma« nach Lacan vgl. auch die nachfolgenden Hinweise im Text oben). Dieses Verständnis der »Phantasie« ist nicht zu trennen von Richirs phänomenologischem Anspruch, die Phänomenologie insgesamt von allen »kulturellen Sinnstiftungen« wie Sprache, Philosophie etc. zu lösen, um von einer »wilden Urschicht« des Bewusstseins ausgehen zu können, die noch keine Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit zulassen und folglich alle »architektonischen Umbildungen« durch Imagination und Intentionalität unterlaufen soll. Trotz Betonung der »Innerlichkeit« des Subjekts ist Richir dabei aber gezwungen, von »anonymen Sinnbildungsvorgängen« auszugehen, die einer originären Ipseisierung des Lebens eben widersprechen dürften, selbst wenn der Zusammenhang von ursprünglicher »Transpassibilität« und »Transpossibilität« eine »unmittelbare Intersubjektivität« über die Phantasie als »Hineinverstehen« in den Leib des Anderen ermöglichen soll. Die Sichtweise der phantasia als triebintentional »rhythmische Welten« bei Richir setzt also tiefer gesehen die Spannung zwischen Einbildungskraft und Wirklichkeit im Sinne immanenter Affektabilität vom Sich als Leben voraus. 53 Ges. Werke 8 (1948), 433 f.

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3. Trieb und Psychoanalyse

die prinzipiell letzte Berechtigung jeder Hermeneutik auf den ontologisch ekstatischen Grundlagen des abendländischen Denkens überhaupt in Frage gestellt – und damit die »Verdrängung« des Bedürfens als eine bloß vorübergehende Latenz oder als ein grundsätzlich überwindbarer »Widerstand« (sofern dieser eben auch eine ursprünglich lebendige Kraft voraussetzt). Wenn Kraft, Begehren und Energie als (Sich-)Bedürfen realiter die Möglichkeit ihres Könnens und Handelns nur diesseits jeder Vorstellung zu entfalten vermögen, besteht dann das eigentlich psychoanalytische, therapeutische oder phänomenologische Problem wirklich darin, sie um jeden Preis in ein hermeneutisches Feld von Bedeutungen einzuschreiben, welches immer auf epistemologischen und ideologischen Vorentscheidungen (Deutungen, Normierungen) beruht, seien sie szientistischer, erkenntniskritischer oder sprachlicher Natur? Oder ist die Grammatik und Arbeit der »Sinngebung« nicht der originären Kräfteannahme und -konfrontation unterzuordnen, wo diese – sekundär unverstellt – sie selbst sein können: reiner Affekt als phänomenologische Urgegebenheit bzw. als »Mitpathos«, um den Begriff der »projektiven Identifikation« hier lebensphänomenologisch abzuwandeln? Jede Begegnung wie Psychotherapie wäre dann stets eine in jedem Augenblick gegebene »Feier des Lebens« in jenem originär intensiven wie kulturellen Sinne, dass das Bedürfen zugleich immer das Sich-Geben des Lebens ausdrückt, welches jedes Ich als Subjektivität ist. Und die Annahme wie die Steigerung dieses Bedürfens oder Affekts als Begehren wäre dann die umfassende Kultur als jene »Gabe« selbst, die immer nur sich selbst und ihre eigene, rein phänomenologisch verspürte Lebendigkeit in der Trunkenheit dieses ihres reinen »Seins« als Leben – mit »Anderen« – will. 54 Der Selbstgenuss der je eigenen Selbstaffektion wäre dann nicht nur Eros als geteiltes Begehren durch Anerkennung der Selbstaffektion des Anderen, sondern letztlich das Übereinstimmen mit jener Liebe, welche das rein phänomenologische Leben ständig in sich selbst erprobt, nämlich ohne Unterlass sich selbst aus sich selbst heraus zu gebären und dadurch auch alle Lebendigen zu ermöglichen. Diese Selbstliebe des Ego/Mich ist dann prinzipiell kein Widerspruch zur Selbstliebe des Anderen, sondern eine je gegebene Vgl. R. Kühn, Existenz und Selbstaffektion in Therapie und Phänomenologie (1994), 90 ff.; M. Titze u. R. Kühn, Lachen zwischen Freude und Scham. Eine psychologisch-phänomenologische Analyse der Gelotophobie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2010, 134 ff.

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Psychoanalyse und Lebensphänomenologie

Möglichkeit eines gemeinsamen Pathos in solch fundamentaler »Erotik« oder Ur-Leiblichkeit des Lebens. Freuds radikal genommene Affektenlehre führt so zur Inbetrachtnahme einer anderen Phänomenalität schlechthin, welche das Bedürfen wie Begehren als Kraft und Bewegung in seinem Können bei allen Individuen es selbst sein lässt, ohne es durch Vorstellungen zu verfremden, wie sie jede ekstatisch hermeneutische Phänomenologie impliziert. Auf dem Grund des »psychisch Unbewussten« existieren eben nicht nur die »unbewussten Vorstellungen« (die ihre »Existenz« nur der Illusion einer vorstellungsorientierten Metaphysik des »Seins« verdanken), sondern dieses »psychische Sein« ist unhintergehbarer Affekt, von dem Freud in »Das Unbewusste« schreibt, dass er nie unbewusst sei: »Wenn wir den richtigen Zusammenhang wieder herstellen, heißen wir die ursprüngliche Affektregung eine ›unbewusste‹, obwohl ihr Affekt niemals unbewusst war, nur ihre Vorstellung der Verdrängung erlegen ist.« 55 Insofern also der Affekt oder das Bedürfen wie Begehren nur »unbewusst« genannt werden, da sie die Sichtbarkeit (Vor-stellung) als Erscheinungsweise von »Welt« für sich zurückweisen, stehen Psychoanalyse und eine radikale Lebensphänomenologie dann vor einer vergleichbar wesenhafteren Aufgabe: nicht mehr den Grund unseres Seins (»Seele«) einem Licht (Schau, Theorie, Deutung) zugänglich zu machen, welches diesen Lebensgrund prinzipiell verwirft, sondern die originäre Phänomenalisierung der Phänomenalität als selbst-narrative Affektivität effektiv leben zu lassen. Für die Psychoanalyse wie für eine praktisch phänomenologische Psychologie und Psychotherapie im Allgemeinen erwüchse dann die Aufgabe, die tiefsten Schichten unseres Seins als Leben nicht mehr einfach nur negativ zu bestimmen, das heißt durch den bloßen Abweis der »Bewusstheit«. Und die Lebensphänomenologie müsste ihrerseits darauf achten, dass die analytisch oder psychologisch über das »Unbewusste« nahe gelegte Dimension einer originären oder transzendentalen Affektivität nicht mit der Dimension irgendeines naturalen Seienden vermischt wird – also beispielsweise mit einem dinghaft Unbewussten, welches allein biochemischen Prozessen, gehirnphysiologischen Gegebenheiten, psychiatrischer Nosologie oder einem strukturalistisch genetischen In: Ges. Werke 10, Frankfurt/M., Fischer 1947, 276; zum »nie unbewussten Affekt« vgl. auch M. Borch-Jacobsen, »L’inconscient malgré tout«, in: Les Études philosophiques 1 (1988) 1–16.

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3. Trieb und Psychoanalyse

Informationscode allgemein gehorcht. 56 Denn selbst wenn festgehalten wird, dass die Nicht-Unbewusstheit des Affekts bei Freud das »Triebschicksal« betreffe und keine Aussage über den »Trieb« als solchen bildet, bliebe damit die Frage nach der radikal phänomenologischen Bestimmung der Affektivität offen, wonach ihr ein transzendentales Eigenwesen losgelöst von jeder Repräsentanz zukommt, was gemeint ist, wenn Henry 57 schreibt, dass »der Grund des Unbewussten als Affekt nichts Unbewusstes sein kann«. Jede Weise, das Einwirken eines materiellen Faktors auf eine seelische Realität zu erklären, bleibt nämlich hypothesengebunden, weil dabei immer schon eine mögliche Einheit als solche vorausgesetzt ist, die aber an sich erst konstituiert werden soll. So ist auch die Repräsentanztheorie Freuds ein Postulat ohne wirklichen Beweis, 58 da die topische Trennung von Bewusst/Unbewusst nur auf naive Weise wiedergibt, was zwei Wesensformen der Phänomenalität als solcher entspricht: der Dingphänomenalisierung als Erscheinen und Verschwinden in der Weltekstasis einerseits und der urimpressisonalen Leiblichkeit oder Fleischlichkeit des selbstnarrativen Affekts in seinem absolut subjektiven Bedürfen andererseits. Im Ekstatisch-Dimensionalen, das heißt in Husserls Noematik oder Heideggers »Lichtung« unter anderem, sind beide voneinander wie getrennt, aber da der Blick und die Ekstase ihrerseits sich immanent selbstaffizieren, vermag nichts an das Licht des Sichtbaren zu treten, was nicht zuvor zu seinem eigenen Können im unsichtbaren Sich- oder Lebensbedürfen seines eigenen Pathos in selbst-offenbarender »Narrativität« geworden ist. In diesem Sinne bliebe es gleichfalls prinzipiell problematisch, die phänomenologische Möglichkeit eines »BewusstseinsBlicks« auf die reine Lebensselbsterprobung einzufordern, bzw. das »wirkliche Leben« geschichtlich-biographisch zwischen Immanenz Außer den schon genannten Arbeiten von Witte und Wondracek (vgl. Anm. 14 u. 31) als Untersuchungen zum Verhältnis von Lebensphänomenologie und Psychoanalyse vgl. auch die Beiträge von R. Ballbé, »Die Lebensphilosophie M. Henrys: mit den Augen eines Psychiaters«, in: R. Kühn u. S. Nowotny (Hg.), Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur, Freiburg/München, Alber 2002, 243– 264; E. Galactéros, »Apport de Michel Henry à la pratique de la vie immanente dans l’intersubjectivité de la rencontre médicale«, in: J.-M. Brohm u. J. Leclercq (Hg.), Michel Henry (Les Dossier H), Lausanne, L’Age d’homme 2003, 408–418; M. Schadt, »Psychiatrie und Lebensphänomenologie«, in: G. Funke u. a. (Hg.), Existenzanalyse und Lebensphänomenologie: Berichte aus der Praxis (2005), 11–20. 57 Généalogie de la psychanalyse (1985), 369. 58 Vgl. P. Ricœur, De l’Interprétation (1965), 139 f. 56

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Psychoanalyse und Lebensphänomenologie

und Transzendenz anzusiedeln, ohne letzteres um seine ursprüngliche Eigenwirklichkeit zu bringen, welche gerade in Therapie wie Supervision in radikalster Unsichtbarkeit aufzufinden bleibt. Der neuerliche Versuch, psychoanalytisch in der »projektiven Identifikation« nur die Bewusstwerdung des Unbewussten als deutbares Gefühl, als Affekt zwingender Übertragungskraft auf den Analytiker (als Vater, Mutter, »Container«) zu fassen, macht daher nochmals deutlich, wie sehr das Vorstellungsdenken mit seinen diagnostisch-technischen Schemata weiterhin vorherrscht. Das methodische oder theoretische Bewusstsein des Analytikers soll auch hier das »Licht« hinsichtlich dessen bringen, was virtuell oder indirekt intendiert ist, und zwar aufgrund früher »Spaltungen« oder Verdrängungen: »Da projektive Identifizierung, zum Beispiel als Rückzug in den Leib der Mutter verstanden, Ungetrenntheit in der Intimität sucht, wird in diesem Rückzug immer auch die psychische Verarbeitung vermieden, die mit der Wahrnehmung von Realitätsaspekten beginnt, welche Trennung repräsentieren könnten.« 59 Aber Vorstellungsaktualisierung wie deren Bindung an Widerstand setzen stets schon einen Affekt als »Meta-Genealogie« voraus, welche diese oder andere Vorstellungen hervorbringt oder verdrängt. Deshalb bleibt das Vorstellungsschicksal der Affektselbstbestimmung untergeordnet, und es gibt kein »Heil« durch irgendein distanziertes Erkennen, wie wir mit der Herausstellung inner-affektiver Intensität prinzipiell herausstellen möchten. Die Bewusstwerdung ist nicht jenes Ziel, bei der die affektiv triebhafte Bedürfnisübertragung als Veränderung ihrer selbst nur ein »Mittel« wäre, denn das Ziel affektbestimmter Triebwiederholung als »Wiedererleben« kann nur das rein ipseisierte Leben selbst sein, 60 das heißt seine inner-narrative oder pro-duktive Erfüllung, und zwar allein durch sich selbst, was das einfache Wort »Glück« oder »Seligkeit« aussagt. »Wahrheit« ist daher eine rein subjektive Kategorie, mein unmittelbar leibliches Fleisch, das ich den Dingen verleihe, so dass Wahrheit originär niemals die »Übereinstimmung« mit einer Theorie oder einem distanziert Objektiven (»Realen«) im Sinne einer gedanklichen »Einsicht« darstellen kann. H. Hinz, »Projektive Identifizierung und psychoanalytischer Dialog« (1989), 618 f., sowie ausführlicher hierüber auch am Ende vom Teil 1 unseres »Ausblicks« über Übertragung und Gegen-Übertragung. 60 Für dieses lebensphänomenologische Verständnis von »Übertragung« vgl. auch M. Henry, »Mitpathos als Gemeinschaft«, in: Affekt und Subjektivität (2005), 140– 162, hier S. 154 ff. 59

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3. Trieb und Psychoanalyse

Für jede Wahrheit ist und bleibt das originäre Sich-Geben des selbstaffektiven, urimpressionalen Pathos notwendig. Von solch prinzipiell fleischlicher Wahrheit zeugt jedes Bedürfen, welches nicht durch ausschließliche Projektions- und Intentionalitätsbündelung in jeder Art von Psychologie verkannt und domestiziert werden darf, wenn man seinem phänomenologischen Eigenwesen als je individuiertem Grund allen Erscheinens entsprechen will, welches unser Menschsein als radikalphänomenologische Wirklichkeit selbst bildet. Natürlich kann man diese Sichtweise unter Berufung auf ein klassisches Phänomenologieverständnis mit entsprechendem Korrelat der »Person« als »autonomem Subjekt« innerhalb von Psychologie und Medizin in Frage stellen, 61 aber eine radikalphänomenologische Auseinandersetzung mit der (Neo-)Psychoanalyse bietet den Vorteil, dass man nicht länger in diesem Praxisfeld in einer bloß »idealen Beraterfunktion« 62 verharren kann, sondern den reinen Affektaustausch bei Neurosen, Depression, Traumatisierung und anderen seelischen Konflikten wirklich ernst zu nehmen hat. Hier bleibt daher auch vorrangig die Auseinandersetzung mit Jacques Lacan weiter aufzugreifen, der in seiner Spätzeit bereits ab 1960 zwischen der Unmöglichkeit unterscheidet, dass die symbolische Repräsentanz das Reale abdecke, und dem Genießen (jouissance), welches sich nur teilweise solchen lebensweltlichen Signifikanten unterwirft und daher einen realen Rest – das »Objekt klein a« – hinterlässt. Dieses vom imaginären Objekt unterschiedene »Objekt klein a« stellt einen nicht assimilierbaren Überschuss dar, der einerseits als Ursache des Begehrens auftritt und andererseits auf die an sich verhüllte Gegenwart des »Objekts klein a« als Ursprung der Angst zurückverweist. Das Begehren erscheint auf diese Weise rätselhaft und verfestigt sich schlechthin im »Phantasma« zum Partialobjekt, welches das Subjekt für den Anderen zu sein glaubt. Die Kur besteht im Durchqueren dieses »Phantasmas«, um die ursprüngliche Identifizierung aufzugeben; das heißt, die Spannung zwischen dem Begehren nach Anerkennung und dem Anspruch im Bedürfen zu sehen und dadurch aufzulösen. Das freudsche Unbewusste ist in seinem Wirken für Lacan Vgl. S. Rinofner-Kreidl, »das Leben aus sich selbst sagen lassen: das Berliner Modell einer lebensphänomenologisch fundierten Psychotherapie«, in: Phänomenologische Forschungen (2007) 193–218; M. Poltrum, Klinische Philosophie. Logos Ästhetikus und Philosophische Therapeutik. Lengerich, Parodos 2010, 40–44. 62 Vgl. T. Rendtorff, Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Tübingen, Mohr Siebeck, 2. durchges. Aufl. 2011, 231–223. 61

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Psychoanalyse und Lebensphänomenologie

damit eine gleichzeitige Öffnung und Schließung, deren »Pulsieren« Tiefe und Innerlichkeit ausschließt. Insofern das Subjekt zwischen der Wahrheit des Begehrens und dem Wissen darüber gespalten ist, gelangt diese »Wahrheit« erst zu ihrem eigentlichen Sprechen, wenn grundsätzlich eingesehen wird, »dass keine Sprache je das Wahre über das Wahre sagen kann«. 63 Abgesehen von Gott als imaginärem Identifikationsobjekt soll damit jede apriorische Wahrheit in ihrem Aussageinhalt getroffen sein, sofern in allen Bewusstseinsleistungen eine bei Lacan von Alexandre Kojève 64 übernommene hegelsche Negativität und Dialektik vorherrscht. Die Erfahrung einer Trennung, die Lacan als gleichsam »prä-empirischen« und schmerzhaften Verlust des »Objekts klein a« im Sinne eines prototypischen psychoanalytischen Objekts dingfest machen will, scheint sich als Alternative zu einer philosophisch »transzendentalen« Analyse anzubieten, um dadurch seinerseits einen die leibliche Identität bedrohenden Einschnitt symbolisch zu formalisieren. Wir wissen in der Tat von der Psychose, dass sie jenes Erleben beinhalten kann, einerseits von »sich« zu stark erfüllt zu sein und andererseits eine vollkommene Leere seiner selbst bis hin zur Unempfindlichkeit zu erfahren. Hierbei würde das »Selbst« (Sich) sich nicht entkommen und gleichzeitig die Selbstaffektion durch sich selbst nicht mehr leben können, das heißt zu leben, was als subjektives Leben aufgegeben ist. Das »Symptom« wäre dann nicht länger durch das Einwirken einer anderen, zu entwirrenden Bedeutung gekennzeichnet, sondern es gäbe einen Bruch zwischen Sinn und Bedeutung überhaupt, denn es handelt sich dabei um einen dem selbstbewussten Subjekt sich entziehenden Bedeutungsakt, mit anderen Worten um eine der verstehenden Intentionalität entgegenlaufende Signifikanz, der Lacan auch die eigenständige Dimension des »Buchstabens« (lettre) zuspricht. 65 Vgl. J. Lacan, »La science et la vérité«, in: Écrits, Paris, Seuil 1966, 246 (dt. Teilübers. Schriften I–III, Olten, Walter 1973). Außer Gott ist damit auch jede religiöse Wahrheit getroffen; vgl. dazu J. Rogozinski, Le moi et la chair. Introduction à l’egoanalyse, Paris, Cerf 2006, 59–96: »Je suis un mort qui se voit dans un miroir, ou le sujet de Lacan«; F. Balmès, Le nom, la loi, la voix, Paris, Erès 1997 (über das MosesBuch von Freud aus der Sicht Lacans), und vom selben Autor Dieu, le sex et la vérité, Paris, Erès 2007. Außerdem E. J. Lee, Pour une critique phénoménologique de la psychanalyse: Henry, Freud, Lacan, phil. Diss. Universität Straßburg 2009, 206–291, sowie unser folg. Kap. II,4 über Lacans Neo-Psychoanalyse. 64 Vgl. Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes (1947), Frankfurt/M., Fischer 2 2005. 65 Vgl. H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich (2011), 63

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3. Trieb und Psychoanalyse

Im Unterschied zur freudschen Analyse wird damit klargestellt, dass der Weg der »Deutung« nur über Umwege letztlich zu einer solchen »Bedeutung« als Signifikat führt. Noch genauer wäre zu sagen, dass Lacans Annäherung an einen primordialen – oder quasi-transzendentalen – Signifikanten ein Heraustreten aus dem Bereich der Signifikanz schlechthin beabsichtigt, womit eben jeder mögliche Sinn strukturell ausgeschlossen bleibt. Von diesem Ansatz her verstehen sich auch die späteren Mathematisierungen in Lacans Schriften, besonders für die Geschlechterdifferenz (Kastration, Phallus, Vaterschaft), um durch eine spezifische Weise der »Schreibung des Realen« das Wesensgesetz der dem Unbewussten eigenen konkreten Arten einzufangen. Damit werden der sexuellen Identität nicht nur alle Vorstellungen einer natur- oder gottgegebenen Komplementarität der Geschlechter entzogen, 66 sondern komplexe Beziehungen zwischen ihnen angezeigt, wodurch auch die schon erwähnte Unmöglichkeit gegeben ist, das »Genießen« (jouissance) in irgendeine Sprache zu bringen. Das »Genießen« bis in den Schmerz hinein erinnert vielmehr nach Lacan an das »Immer-schon-Verlorensein«, was er mit der Bezeichnung »La Chose« als den absoluten Referenten aller Objekte von Trieb und Begehren (désir) unterlegt. Wo in der Sprache diesbezügliche Verschleierungen und Verdunkelungen auftreten, ist dies kein Versagen der Sprache, sondern sie wird dahingehend rehabilitiert, das abwesende Referenzobjekt paradoxerweise in einer Art »Subversion« durch das »Erleiden« des Signifikanten als Ausdrucksphänomene leiblicher Implikationen anzuzeigen. Abgesehen davon, dass Strukturalismus und Diskurstheorien hier die klassische Intentionalität wie bei Husserl ersetzen sollen, um eine »Transliteration« oder »Übersetzungen« von einem Diskurs in den anderen zu ermöglichen, wird für das Unbewusste eine eigene Grenze der »Buchstäblichkeit« innerhalb der analytischen »Deutung« aufgezeigt. Es geht dann nicht mehr um eine »Triftigkeit« (pertinence) der Sprache, sondern eher um ihre »Ungehörigkeit« oder »Frechheit« (impertinence), wodurch Fragen des Patienten nicht beantwortet, sondern »parakommunikativ« unterlaufen werden, das 305 ff.; P. Widmer, Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Revolution der Psychoanalyse, Frankfurt/M., Suhrkamp 1990. 66 Vgl. bereits Le Séminaire. Livre VI: Le désir et son interprétation, Paris, Éditions de la Martinière 2013, 156 ff. u. 529 ff., wo das Begehren der Frau (im Unterschied zum Mann) dahin gedeutet wird, jedes Objekt als »phallisch« anzusehen, mithin sich immer in der Liebe aufzuhalten.

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Psychoanalyse und Lebensphänomenologie

heißt die Kommunikation nicht abgebrochen wird, sondern in indirekten Antworten die gewöhnlichen Konversationsmaximen neutralisiert werden. 67 Insofern Lacan sich jedoch bei all diesen neo-psychoanalytischen Beschreibungen auch weiterhin auf das cartesische Cogito – wenn auch kritisch – beruft, bleibt er weiterhin im Rahmen einer »Metaphysik des Bewusstseins«, wie ebenfalls G.-F. Duportail 68 mit Rückgriff auf Michel Henry festhält, der darauf verweist, dass das Cogito bei Descartes eben nicht in einem Text gefunden wird, sondern in einer – jedem Text vorausliegenden – Selbsterprobung als passio. Jacques Lacan verkennt daher in seinem neo-psychoanalytischen Verständnis des Unbewussten als einer sprachlichen Struktur die äußersten phänomenologischen Fundierungsverhältnisse, wenn er das Subjekt auf die Intention verkürzt, sich als »Andersheit« zu sagen, und das Cogito dabei zu einem propositionalen Wissen als »Aussage« macht. Wir begegnen hier nicht nur schon Hegels genanntem Negativitätsprimat wieder, dass Selbstsetzung des Bewusstseins als »Ich« allein durch Selbstverneinung bis in den »spekulativen Karfreitag« hinein konstitutiv ermöglicht werde, 69 sondern Lacan entlehnt sein Sprache/Subjekt-Modell überhaupt dem Weltbeispiel: Das Subjekt, welches sich in der Sprache sagt, indem es jeden realen Referenten dabei aufhebt, hebt sich selbst auf, so wie das Benennen der Seienden dialektisch nur in ihrer »Entwirklichung« möglich ist, sofern sie im Wort nie selbst erscheinen. Für Lacan bedeutet »Ich« daher »Ich bin nicht« beziehungsweise »Ich bin tot« oder »Ich bin nichts«. Diese Selbstaussage des Subjekts ist leer, oder anders gesagt verschwindet das Subjekt der Aussage, indem es zum Subjekt des Ausgesagten wird, so dass hier der Geburtsakt eines solchen Subjekts zugleich dessen Totenschein wäre. Dieses Ich ist nicht nur einsam in einen textstruktural übergreifenden Symbolismus imaginärer Ordnung eingeDies ist nicht nur aus der Zen-Tradition bekannt, sondern auch in anderen Therapierichtungen haben sich viele Methoden »paradoxer Intention« oder »Dereflexion« etabliert; vgl. u. a. V. E. Frankl, Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Bern, Huber 1984, 124 f. 68 Vgl. L’»apriori litéral«. Une approche phénoménologique de Lacan, Paris, Cerf 2004, 145 ff.; M. Henry, Affekt und Subjektivität (2005), Kap. I,2: »Die Kritik des Subjekts«, 33–51. 69 Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg, Meiner 1988, 529 f.: »Seine Grenze wissen, heißt sich aufzuopfern wissen. Diese Aufopferung ist die Entäußerung, in welcher der Geist sein Werden zum Geiste, in der Form des freien zufälligen Geschehens darstellt, seines reines Selbst, als die Zeit außer ihm, und ebenso sein Sein als Raum anschauend [Natur].« 67

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3. Trieb und Psychoanalyse

flochten, sondern es enthält auch keine ausgewiesene phänomenologische Kraft zu dem, was nach Lacan dann sein wahres »Werden« bewirken soll, nämlich das »Jeweilige« der Situation als »Ich« zu leben. Denn ein als Anfang und Ziel zugleich strukturiertes »Unbewusstes« kann nicht »Aktion« sein, wenn diese Handlung sich nicht in ihrer lebensaffektiven Ermächtigung als Potenzialität selbst ergreift. Dass die individuelle Ratio die »Superrationalität« der Signifikantenstruktur – das heißt den Sprachkontext der Gegenstände – verkenne, bedeutet gerade die weiterhin bei Lacan unbefragt gültige Weltphänomenalität für den an sich ihr gegenüber heterogenen Bereich der Affektphänomenalität. Der von Lacan – wie bei Freud schon – unternommene Versuch der Entflechtung des Begriffs des Unbewussten vom Irrationalen, um das Unbewusste als regelhafte »Sprache« von Verschiebungen, Verdichtungen und Symbolisierungen im Sinne von Ellipse, Pleonasmus, Allegorie, Metapher etc. aus der Rhetorik einsichtig zu machen, vergisst mithin, dass das »Irrationale« nur ein solches aus der Sicht der hypostasierten Vernunft ist. Damit wird nicht nur weiterhin das Unbewusste vom Vorstellungsbewusstsein her – und grundsätzlich als Bewusstwerden zu diesem hin – bestimmt, sondern es unterbleibt fatalerweise auch eine phänomenologische Aufklärung des Unbewussten und seiner »Sprache« selbst als eines originären Lebens. Erst die von vornherein als selbstverständlich angenommene »Dunkelheit« des so genannten Unbewussten erlaubt es, überhaupt vom Irrationalen zu sprechen, denn in sich ist die Affektrealität als Trieb oder Begehren reine Selbsttransparenz des Pathos, wie wir schon sahen. Da insbesondere nach Descartes das reine Ego aus der Sicht radikaler Epoché nur diese pathische oder passible Affektivität sein kann, die als cogitatio jeweils im Denken, Gehen wie Empfinden zum Beispiel gleicher Weise gegeben ist, kann diese »Sprache« des Affekts (Narrativität) auch keinem Textmodell mehr entlehnt sein. Die »Ich-Aussage« innerhalb einer strukturalen Textreferentialität würde sich genau an jenem cartesianischen Apriori der absoluten Lebensselbstphänomenalisierung stoßen, dass alles Mundane durch den »absoluten Zweifel« aufgehoben ist. Ein Text kann als Bedeutung nur im Licht einer Differenz oder Distanz erscheinen, was Jacques Derrida auf seine Weise der subtilen »Randeinschreibungen« durch Sinnsupplemente immer wieder deutlich gemacht hat. 70 70

Vgl. M. Henry, Die Barbarei (1994), 97 f., wo die fundamentale Auseinanderset-

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Psychoanalyse und Lebensphänomenologie

Es darf also mit Recht gefolgert werden, ob Lacan in der Abwehr der Vorherrschaft theoretisch-objektivierender Akte weit genug gegangen ist, um die »Entleerung« oder sogar den »Tod des Subjekts« im ursprünglichen Trauma des Subjekts adäquat aufzuzeigen. 71 Das Trauma des sprechenden Subjekts im Begehren ist damit kein Unfall, sondern eine unumgängliche Realität, wobei nach Lacan das Trauma als eine »verfehlte Begegnung mit dem Realen« die Verantwortung für jene Wiederholungsstruktur übernimmt, die einem »traumatischen Affektionsmodus« entsprechen soll. Im Unterschied zu einer »nicht traumatischen Affektion« ruft ersterer Modus keinen Sinn durch ein affizierendes bedeutendes Objekt hervor, das mit einem Evidenzstreben nach Sinn einhergeht, sondern als die »Gegenintentionalität« eines »affizierenden Dinges« (chose affectante) nichtsinnhafter Natur, was als »Symptom« nur eine repetitive Antwort zulässt: »Überleben oder sich aufgeben«. Dies wird von der Erweckung eines Strebens oder des Triebes nach Leben und Tod begleitet, was aber nicht auf eine Übereinstimmung von Intention und Intuition in einem affirmativen Sinne hinausläuft, sondern auf die genannte »Entleerung« oder auch »Dezentrierung« des Subjekts im Trauma. Damit ergänzt Lacan die freudsche Topologie des Triebes mit dessen oralen und analen Objekten um die Figur der »Verdrehung« (torsion, chiasme), wenn man diesen Sachverhalt mit Merleau-Ponty beschreiben will, oder eher des »Schnitts« (coupure), wodurch auch nochmals deutlich wird, dass bei Lacan das unmögliche Geschlechterverhältnis zentral ist. So bleibt die Frage, ob eine – phänomenologisch gesehene – Psychoanalyse Lacans im Feld objektivierender Wissenschaftlichkeit heute eine Verantwortung für das zu übernehmen in der Lage ist, was in der vorgegeben Welt noch »leben« lässt und vielleicht auch als »Liebe« des Vollzugs der Verwandlungen und Verheißungen für das geliebte Wesen des Anderen jenseits der Faktizität der Person fähig ist. 72 Nimmt diese Betonung auf das Begehren besonders in der franzung mit der (post-)strukturalistischen Textanalyse vor allem am Beispiel von Merleau-Pontys Cogitoauslegung erfolgt, aber auch Freud und Lacan im Visier hat. 71 Vgl. R. Bernet, »Das traumatisierte Subjekt«, in: M. Fischer u. a. (Hg.), Vernunft im Zeichen des Fremden. Zur Philosophie von Bernhard Waldenfels, Frankfurt/M., Suhrkamp 2001, 225–252; ebenfalls vom selben Autor Force-Pulsion-Désir. Une autre philosophie de la psychanalyse, Paris, Vrin 2013. 72 Vgl. G.-F. Duportail, Les institutions du monde de la vie. Merleau-Ponty et Lacan, Grenoble, Millon 2008, 159 f. u. 205 f.

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3. Trieb und Psychoanalyse

zösischen Psychoanalyse und Phänomenologie den Vorrang ein, 73 so werden in anderen neo-psychoanalytischen Richtungen nach Freud eher der Aggressions- und Todestrieb wie bei Melanie Klein, der primäre Narzissmus nach H. Kohut 74 bzw. die Bildung »gespiegelter Selbstaffektivität« als erstes vorreflexives Selbstbild durch aktive Bezugsaufnahme zu Anderen wie bei E. H. Erikson 75 in den Mittelpunkt gestellt. Diese für Klinik und Psychotherapie sehr wichtigen Erweiterungen der ursprünglichen freudschen Psychoanalyse entstanden aus der Notwendigkeit, bestimmten seelischen Phänomenen besser gerecht zu werden, so etwa Spätfolgen bei Vergewaltigung, die neben Traumatisierung immer auch eine Objektidentifikation des Opfers mit dem Täter beinhalten. 76 Aber radikalphänomenologisch gesehen arbeiten diese späteren Ansätze nach Freud ebenfalls mit jeweils ersten hypothetischen Setzungen, selbst wenn sie aus dem praktischen Umgang mit den »Symptomen« erhoben sein sollen. Denn ob der »Ödipuskomplex« oder ein ursprünglicheres Aggressionsempfinden wegen »Vernichtungsangst« in Bezug auf die Mutter gegeben sei, die das Kind eigentlich töten wolle, wie nach M. Klein, 77 oder ein ursprünglicheres symbiotisches »Heil«-Sein im primären Narzissmus angenommen wird, der nach Kohut die Therapiebegegnung zu einer erneuerten, stets wohlwollenden Mutter-Kind-Beziehung werden lässt, um eine im frühen Erleben bedingte Ichschwäche zu überwinden, so bleiben in radikalphänomenologischer Betrachtungsweise diese Vorstellungen von Mutter, Kind, Aggressionsobjekt oder Bezugsselbst etc. einzuklammern. Erst diese Epoché befreit von bestimmten empirischen »Objektivitäten« als Anfangspostulaten, um ein vor Vgl. M. Fäh, »Das Menschenbild der Psychoanalyse Sigmund Freuds« (2012), 363; B. Baas, Le désir. Parcours philsophiques dans les parages de J. Lacan, Löwen, Peeters 1992; R. Babaras, Le désir et la distance. Introduction à une phénoménologie de la perception, Paris, Vrin 1999. Dabei ist bei désir gemäß der Tradition sowohl an den conatus (Spinoza) wie appetitus (Leibniz) und den »Willen zur Macht« (Nietzsche) zu denken. 74 Vgl. Narzissmus, Frankfurt/M., Suhrkamp 1971; Was heilt die Psychoanalyse?, Frankfurt/M., Suhrkamp 1987. 75 Vgl. Identität und Lebenszyklus (1959), Frankfurt/M., Suhrkamp 1973; von D. N. Stern weitergeführt durch empirische Säuglingsforschung; vgl. Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart, Klett-Cotta 1992. 76 Vgl. M. B. Buchholz, »Das Selbst – Über den Individualismus hinaus«, 298. 77 Vgl. Das Seelenleben des Kleinkindes (1963), Stuttgart, Klett-Cotta 1983, sowie zur Diskussion der kleinschen Position bei Lacan: Le désir et son interprétation (2013), 32 ff., 74 ff., 510 ff. u. 562 ff. 73

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jeder Repräsentation gegebenes »Leben« in Anschlag zu bringen, dessen (mit-)pathische Selbstnarrativität im therapeutischen Austausch dann aufzugreifen ist. Denn um beispielsweise die »Mutter« in einer Art Urszene anfänglich zu lieben oder zu hassen, setzt bereits voraus, dass es überhaupt ein immanent-affektives Selbsterscheinen von Hass oder Liebe im Sinne einer Lebensselbstaffektion gibt, die nicht erst durch eine Objektrepräsentanz gesetzt ist. Ist das Pendeln bei Freud zwischen begrifflicher Logik und beobachtender Erfahrung sowohl typisch wie problematisch in seinem methodischen Vorgehen, auch wenn die Kur eine besondere Praxis erfordert, so erklärt sich dies aus einer gewissen »Amphibolie« des Cogito seit Descartes bereits, welches sowohl »Bewusstes« wie Unbewusstes« umfasst, oder zumindest zulässt. 78 Deshalb soll abschließend nochmals auf die absolute »Performativität« des inner-narrativen Lebens in ihrer letzten Konsequenz zurückgegriffen werden, die im »phänomenologischen Schweigen unserer lebendigen Praxis ruht«. 79 Im linguistischen Bereich sind performative Aussagen, bei denen Sagen und Handeln, wie etwa beim Schwur oder Versprechen in eins fallen, seltenere existentielle oder soziale Ereignisse, 80 während in der Lebensselbsterprobung von Empfindungen, Affekten und Gefühlen die entscheidende pathische Erfahrung niemals von deren Modalitäten oder »Inhalten« unterschieden ist. In dieser Hinsicht überschreitet die immanente oder rein phänomenologische Lebendigkeit die äußeren Sprachgrenzen und bildet jene inner-narrative Eigenmodalität, die in der Tat eine schlechthin absolute oder notwendige Ur-Performativität darstellt, welche jene unbezweifelbare Aktualität einer Präsenz einschließt, wo das Leben alles tut, was es sagt, und alles sagt, was es tut. Dieses ohne jedes denkbare Nichts gegebene Sich-Offenbaren des Lebens, worin das ursprüngliche Erscheinen in seiner Historialität vor aller dokumentierbar biographischen Geschichte besteht (und welche daher in jeder Psychotherapie und Supervision reduktiv zu berücksichtigen ist), liegt daher auch jeder »Deutung«, »Transliteration« oder »Übersetzung« voraus. Mit anderen Worten ist das anfängliche SpreVgl. M. Henry, Généalogie de la psychanalyse (1985), 79. M. Henry, Inkarnation (2002), 298. 80 Wobei natürlich darüber hinaus versucht werden kann, jedes Sprechen auf ein ursprüngliches Versprechen an den Anderen im Sagen (Dire) als solchem zurückzuführen; vgl. z. B. J. Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt/M., Suhrkamp 1991, 59 ff. 78 79

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3. Trieb und Psychoanalyse

chen des Lebens ein Schweigen für jede Weltsprache, und es ist ohne Zweifel umgekehrt so, dass alles Sprechen der unterschiedlichen Sprachen in kultureller wie individueller Hinsicht den Versuch darstellt, diesen »Ursprung« auf der Grundlage des nie fehlenden und unzurückweisbaren »Begehrens« des Lebens nach sich selbst einzuholen. 81 Ist die Performativität von Sagen/Handeln in der reinen Selbstaffektion dergestalt unauflöslich, dann gibt es dort keinen Gegensatz von Wahrheit/Lüge mehr, und auch jeder Zweifel als Versuch einer Vergewisserung durch Rückfragen oder Überprüfungen ist obsolet. Die radikale Vorgängigkeit einer absoluten Gewissheit des Lebens spricht »trivial« in jedem empfundenen oder ausgedrückten »Ich freue mich« oder »Ich leide«, und in diesem Sinne gibt sich die genannte Trivialität letztlich im Sinne der »absoluten Armut« oder »Abgeschiedenheit« wie bei Meister Eckhart, der sagt, dass der Mensch aufgrund seiner schweigsam lebendigen Seelengeburt »in Gott« ein »Gott wissender Mensch« sei, oder es wird im Johannesevangelium der häufiger von Christus gesprochene Satz »Ich bin das Leben« in seiner originären Unmittelbarkeit selbst verständlich. 82 Werden hier in der Tat alle exegetischen und dogmatischen Vormeinungen reduziert, wie gegenüber einem naiven oder historischen Positivismus heute zu unterstreichen bleibt, so wird verständlich, dass es im absolut performativen Sprechen des Lebens keine Neutralität, aber auch weder Entzug (Heidegger) noch Trennung (Lacan) jemals gibt. Wir wohnen hier keiner Objektgenerierung mehr bei (und sei sie imaginärer Natur), sondern wir werden in einer absolut affektiven Lebensselbstrelation transzendental geboren, die zugleich eine Gemeinschaft mit allem anderen Lebendigen einschließt, was eben auch für die Psychotherapie als menschliches Grundgeschehen einsichtig zu machen bleibt, ohne hierbei den Weg des Theologischen beschreiten zu müssen. Sofern also jedes Gefühl und jegliches Tun diese innere selbst-narrative Historialität in sich birgt, enthält auch jedes apperzeptiv bedingte Weltelement die immemoriale »Spur« einer lebendigen Praxis der Subjektivität, das heißt ein »Wort des Lebens«, 81 Vgl. auch G. Jean, »Sens et puissance: L’archi-performativité de la parole«, in: Revue Internationale Michel Henry 5 (2014) 165–217; R. Vaschalde, À l’Orient de Michel Henry, Paris, Orizons 2014, 105–117: »Performativité absolue. Parole de la vie et parole du monde«. 82 Vgl. im Einzelnen R. Kühn, Lebensreligion, Kap. II,4–5 zum johanneischen Wahrheitsbegriff und zum Zusammenhang von Dekonstruktion und Mystik.

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Psychoanalyse und Lebensphänomenologie

welches unser Fleisch als Modus des Ur-Sagens vorrangiger Einheit von Empfinden/Tun bildet. Und in dieser Hinsicht wäre dann die Welt insgesamt ein »impressionaler Text«, 83 nämlich das sichtbar gewordene Sprechen unseres Fleisches als prinzipiell verborgenes, aber hervor-bringendes Leben, wie wir bereits in unseren beiden ersten Kapiteln hervorhoben. Greifen wir dieses Schweigen des Lebens in aller phänomenologischer Radikalität wirklich auf, so ist zunächst in Bezug auf die Welt festzuhalten, dass ein Schweigen dort nur jeweils vorübergehend ist: zwischen zwei Lauten oder Tönen, oder als intentionales Schweigen in einer Rede, um von nachfolgenden Sätzen wieder eingeholt und überbrückt zu werden. Das »Schweigen des Lebens«, von dem hier die Rede ist, bedeutet hingegen weder ein vorübergehendes Innehalten von Lauten und Sätzen, sondern es ist in kein Wort der Welt umkehrbar, da es mit dem Fleisch unserer Impressionabilität identisch ist, welche aus einer unsichtbaren Zeugung im Leben erwächst und darin ebenso schweigend wie unsichtbar verbleibt. Ein solches Schweigen, welches als sein existentielles Gegenüber in einem gewissen Sinne nur das Schweigen des Todes im Sinne des Endes aller Wortmöglichkeit hätte, entzieht sich somit letztlich auch jeder Frage nach einem »Sinn«. Dieses Schweigen hat seine eigene, nicht-hermeneutische Fülle, welche unsere radikale Geburt im Leben selbst ist, und deshalb sollte es auch nicht mit einem Anruf wie etwa bei Heidegger, Levinas oder Marion verglichen werden, 84 den man hören oder ignorieren kann. In dem Maße wie die Psychotherapie und Supervision jeweils als Praxis zum »Verständnis« dieses Schweigens aufgerufen ist, weil sich darin die Ipseität jedes »Patienten« schon immer errichtet hat, entzieht sie sich letztlich auch jeder Sinnarbeit im Sinne Ricœurs oder dem Unbewussten Freuds und seiner Nachfolger, sofern dieses ein latent Vorbewusstes bzw. ein zu deutendes affektives »Triebschicksal« suggeriert. Gibt es aber weder Sinnhermeneutik noch Anruf als letzten Boden einer ekstatisch intentionalen Phänomenologie, dann ist damit auch entschieden, dass der Mensch nicht ausschließlich als transzendent verwiesenes »Fragewe-

83 Vgl. R. Kühn, Natur und Leben. Entwurf einer aisthetischen Proto-Kosmologie, Freiburg/München, Alber 2011. 84 Vgl. S. Till, Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz. Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Levinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze, Berlin, Transcript 2013.

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sen« oder »blindes Begehren« zu definieren ist, sondern als eine »Intensität« des vorgängigen Schweigens des Lebens selbst zu bestimmen bleibt. Fällt nämlich Transzendenz in jeglichem Sinne von Horizont fort, weil eine Frage wie ein Anruf sich nur in ihm entfalten können, dann ist der »Mensch« mit anderen Worten jene pathische oder affektive Erprobung, die wir zu Beginn dieses Buches auch als die gleichzeitige Gewalt wie Seligkeit der Passibilität als Selbstpräsenz des Lebens analysiert haben. Dieses Schweigen wäre daher das je Unmittelbarste als das SichSelbst-Vernehmen des Lebens in jeder unserer immanent narrativen Modalitäten, und ohne Zweifel werden wir uns von diesem »Ort« her fragen müssen, ob weder die »Normalität« noch das »Psychopathologische« das jeweils letzte Wort des Lebens wäre, sondern allein die originäre Affektabilität in diesen manifesten Erscheinungen. Mit anderen Worten könnte man auch von einer »therapeutischen Reduktion« sprechen, 85 das heißt als Abkehr von jedem Dogmatismus und der Vorherrschaft eines Logozentrimus der Deutung oder Konzeptualisierung, insofern jeder analytischen Matrix, die stets auch eine fragmentierende Schematisierung der affektiven Leiblichkeit darstellt, eine vor-begriffliche Sphäre der Immanenz vorausliegt, welche die Unterscheidung von Subjekt/Objekt noch nicht kennt. Auf dieser Ebene herrscht dann nicht nur das genannte Schweigen des Lebens, welches sich in keinem Begriff fassen lässt, sondern auch die Unauftrennbarkeit von praktischer Bejahung des passiblen Mich und der möglichen Bildung von Begriffen – eine Einheit in der pathischen oder intensiven Immanenz von Ego-cogito-cogitatio, wo noch keine wissenschaftliche oder intentionale Bestimmung des Ich gegeben ist, und somit auch keine sprachliche Bestimmung dieser vor-begrifflichen Ipseität. Was sich im originären Schweigen des Lebens als rein affektive oder leibliche Selbst-Narrativität offenbart, unterliegt somit keinem Apriori in wissenschaftlichen oder philosophischen Termini mehr, sondern es handelt sich allein um eine rein phänomenologische Materie, welche die Grundlage jeder Therapie bildet und im weiteren Sinne die transzendentalen Bezüge der Innerweltlichkeit wie Intersubjektivität mit deren vielfachen Figuren und Konstellationen umschreibt bzw. grundlegt. Daraus ergibt sich aber auch noch einmal deutlich, dass der Begriff der Therapie wie Supervision weiter und Vgl. R. Arsenic-Zamfir, Le corps dans la philosophie française contemporaine: Michel Henry et Gilles Deleuze, philos. Diss. Université de Bourgogne (Dijon) 2006, 80 f.

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Psychoanalyse und Lebensphänomenologie

radikaler anzusetzen ist, als er von den verschiedenen Therapieformen zumeist selbst verwandt wird, was zunächst in einer vertieften Auseinandersetzung mit Lacan und Freud im Folgenden eingelöst werden soll, bevor wir methodische Fragen der Therapie/Analyse danach diskutieren werden.

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II. Begehren und Existenz

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4. Die Neo-Psychoanalyse Lacans

Durch den Vergleich der lebensphänomenologischen Radikalität des Affekts als reine Intensität oder pathische Ur-Leiblichkeit mit Freuds metapsychologischer Energetik des »Triebschicksals« ergab sich eine Möglichkeit, seinen Beitrag zur Affektwirklichkeit (Trieb) als Annäherung an die transzendentale Lebenswirklichkeit zu verstehen. Denn der »Affektbetrag« ist nach Freud sowohl das Wesen des Affekts wie der Vorstellung, so dass die originäre Selbsterregung des Affekts durchaus im Sinne der immanenten Selbstaffektion jenes (mit-)patischen Lebens verstanden werden kann, welches allen Objekten und deren Repräsentanz vorausliegt. Sieht man in der Vorstellung weniger die notwendige Deutung eines Vor- oder Un-Bewussten als vielmehr die in jeder Vorstellung gegebene Einlagerung des genannten Affektbetrags, dann ist dieser zwar unsichtbar in seiner ursprünglichen, radikal phänomenologischen Bestimmtheit, aber er manifestiert sich als absolute oder ur-leibliche Subjektivität, die bei Freud mithin in allen »Störungen« und »Komplexen« von Affekt/ Vorstellung nicht grundsätzlich verkannt wurde und deshalb radikal phänomenologisch in ihrer Primordialität wieder gefunden werden kann. Demgegenüber scheint Lacan eine thematische Wende vorzunehmen, wie wir schon andeuteten, indem er aus der theoretischen (phänomenologischen) Unbestimmtheit der Grundgegebenheit der Metapsychologie Freuds einerseits eine Verdoppelung des Begriffs des »Ich« vornimmt, nämlich als Ich und Subjekt (die strukturell verschieden sind), und andererseits einen »Rest« hinzufügt, welchen er das »Objekt klein a« (objet a) nennt. Da Lacan nicht nur als Interpret Freuds zu verstehen ist, insofern er als ein eigenständiger Denker und Theoretiker gesehen werden muss, ist auch von vornherein zu unterstreichen, dass er strukturell nur eine einzige Phänomenalisierungsweise als universales Prinzip kannte, nämlich die Ekstase als bewusste wie unbewusste Sprachwirklichkeit, so dass das freudsche Unbe211 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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wusste seine eigenständige (originär phänomenologische) Affektwirklichkeit verliert. Mit Rückgriff auf Descartes sahen wir schon, dass dem ego cogito von Lacan jegliche Innerlichkeit als Immanenz genommen wird, was aber eben nicht nur eine Ersetzung dieses Ego durch eine radikale Außenheit (Struktur, Sprache, Objekt) zur Folge hat, sondern auch die Grundcharaktere des lebendigen Individuums wie Leib, Affektivität, Begehren etc. sind keine wesenhaften Modalitäten solch transzendentaler Lebendigkeit mehr, sondern das Ego nennt sich bloß das Begehren, ohne es unmittelbar zu erproben. Dadurch bleibt die Subjektivität als »Ich« wie »Subjekt« für immer unvollendet, um letztlich sogar für unmöglich als Ausschluss oder Trennung von sich selbst gehalten zu werden.

1) Spiegel und Subjekt Dieser »Mord« am Subjekt, welcher sich in die (post-)strukturalistische Linie der Philosophien vom »Tod des Subjekts« nach dem »Tode Gottes« im Sinne Nietzsches einschreibt, 1 beginnt 1936 bei Lacan mit seiner Untersuchung zum »Spiegelstadium«, welches zwar öfters konzeptuell verändert, aber nie völlig von ihm aufgegeben wird. Spiegel/Sehen zeigen nicht nur deutlich die absolute Vorgegebenheit der Ekstasis als phänomenologischer Vor- oder Grundgegebenheit, sondern auch die Vereinnahmung des Imaginären unter diese Prämisse. In Bezug auf Descartes wird jede Philosophie zurückgewiesen, die direkt dem Cogito entstammt, wie wir schon in unserer Einleitung sahen, und in Bezug auf Freud wird die Konzeption des Ich als System von Wahrnehmung/Bewusstsein aus der »psychoanalytischen Erfahrung« ausgeschlossen. 2 Auf diese Weise wird das Ich zu einer Funktion des originären »Missverständnisses«, nämlich im Verhältnis zum Bild seines eigenen Körpers. Denn das Spiegelstadium entspricht

Vgl. M. Henry, »Die Kritik des Subjekts«, in: M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 33–50. 2 Vgl. J. Lacan, »Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je telle qu’elle nous est révélée dans l’expérience psychanalytique«, in: Écrits, Paris, Seuil 1966, 93– 100, hier 93 (dt. »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, in: Schriften I, Olten/Freiburg, Walther 1973, 61–70), sowie später beispielsweise in: Le Séminaire VI: Le désir et son interprétation, Paris, Éditions de la Martinière 2013, 206 ff. 1

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Spiegel und Subjekt

kaum einer wirklichen Selbsterkenntnis in dem, was das Subjekt von sich erkennen könnte. Daher ist diese Identifikation eben imaginär, da sie von vornherein nur eine solche mit dem Bild des eigenen Körpers bildet, insofern ein »Selbst« vor dem Spiegelstadium gerade noch nicht existiere. Dass sich das Subjekt zunächst im Anderen erkenne, bedeutet also nicht nur eine ursprüngliche Entfremdung, sondern ein tatsächliches Missverständnis oder eine »Unkenntnis« (méconnaissance), weil ein solches Erkennen als gespiegeltes Bild vom Anderen her eine Illusion darstellt. Aber Lacan geht noch einen Schritt weiter, indem diese »Gefangennahme« durch ein Bild zugleich eine tiefe Nichtübereinstimmung mit der eigenen körperlichen Motrizität darstellen soll, insofern der eigene Körper als ideale Einheit oder »heilvolle imago« gesehen werde, wodurch die Identifikation mit derselben die Illusion einer antizipierten Reife verwirkliche. Das heißt, es gibt eine primäre innere Tendenz, die eigene Ungenügsamkeit übersteigen zu wollen, aber der Mensch als das einzige »zu frühzeitig geborene« Lebewesen bleibt nichtsdestoweniger in eine tiefe Verzweiflung hineingeworfen. Das illusorische Eigenbild motiviert daher die innere Tendenz, einen Triumph dort zu erreichen, wo es Zeichen (signes) eines »Phänomens der Anerkennung« gäbe. Dieser »imaginäre Kern« der Subjektivität folgt insgesamt einer fiktiven Linie, deren dialektische Synthesen sich stets nur asymptotisch der Wirklichkeit des Subjekts anzunähern vermögen, um als »Ich« die Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität (auf)lösen zu können. Die anfängliche biologische Unreife im Kontrast zu einer imaginären Einheitsform des Körpers bildet folglich eine prinzipielle Unabschließbarkeit der Ich-Existenz, die virtuell dem Wahnsinn ausgesetzt sei. Durch den Zusammenhang von ursprünglicher Ungenügsamkeit und Antizipation bilden sich Phantasmen, aus denen sich wiederum eine rigide Struktur der geistigen Entwicklung ergebe, oder mit anderen Worten folgt aus dem Bruch zwischen Innenwelt und Umwelt eine unausschöpfbare Quadratur der ständig neuen notwendigen Zusammenfügungen des Ich. Letzteres ist eigentlich nur die Wiederholung der – unzählige Male – unternommenen Sammlung einer entzweiten Wirklichkeit, deren affektiver Wert aufgrund narzisstischer Liebe zur ambivalenten Rivalität und Aggressivität wird. Diese zweite Phase der Logik des Werdens des Subjekts impliziert insofern den virtuellen Wahnsinn, als Lacan denselben als die »ständige Möglichkeit eines offenen Risses (faille) im menschlichen 213 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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Wesen« versteht. 3 Bruch, Spalte oder Riss sowie ambivalente Aggressivität und die menschliche Leidenschaft für das Bildhafte (image) gehören mithin zusammen, wodurch auch die Identifikation im Kern als »Entfremdung« meiner selbst eine Gestaltübertragung auf die Anderen vornimmt, von denen ich mich dann kaum unterscheiden kann. Denn wenn es keine andere Identität als diejenige des entfremdeten Bildes von mir selbst gibt, dann bleibt auch nur eine weitgehende illusionäre Verschmelzung mit den anderen unzähligen Ichen möglich. Das »Werden des Subjekts« im Unterschied zum Ich, welches mit den imaginär Anderen identisch ist, hat also eine Differenz zwischen dem Ich und dem Anderen herauszubilden, das heißt in hegelschen Termini zwischen dem An-Sich und dem Für-Sich. Die Aggressivität als Bild körperlicher Zerteilung impliziert daher ein »Chaos«, dessen Unordnung als »negative Libido« zu überwinden wäre, aber da sich diese Dialektik im Identifikationsraum mit der »Wahrheit« des imaginär Anderen vollzieht, gibt es letztlich keine mögliche Lösung bei Lacan. Das Subjekt vermag diese Grenze nicht zu überwinden, es sei denn in einem »narzisstischen Selbstmord«, indem der Andere – das Subjekt selbst – getötet wird. Erneut wird hier sichtbar, dass der Analytiker dem Patienten/Subjekt »den reinen Spiegel einer Oberfläche ohne Vorkommnisse« entgegenzuhalten hat, um ihn bis zur ekstatischen Grenze des »Du bist das« (Tu es cela) zu begleiten, wo sich sein tödliches Geschick als Chiffre offenbart – und erst von diesem Punkt an kann dann die »eigentliche Reise« der Subjektwerdung weitergeführt werden. 4 Diese frühe Analyse des Spiegelstadiums mit ihren therapeutischen Konsequenzen impliziert ohne Zweifel, dass Lacan zur Wahrnehmung der Gesamtgestalt des eigenen Körpers vordringen möchte, um die motorische Unzulänglichkeit desselben kompensieren zu können, welche nur eine imaginäre Beherrschung des Körpers als an sich lebendigen Leib zulässt. Aber abgesehen davon, dass Freud ein solches Spiegelstadium nicht kennt, wenn er vom (triebhaft) Somatischen spricht, scheint Lacan für den subjektiven Leib keine andere Erklärungskategorie als die Objektivität des Körperseins (corps) zu kennen, da er ein originäres oder selbstaffektives Ich in seiner pathischen Lebendigkeit ablehnt. Ohne letzteres bleibt es allerdings phänomenologisch problematisch, die »Anziehungskraft 3 4

Vgl. Écrits (1966), 176. Vgl. ebd., 100 u. 109.

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der Identifikationen« seitens der anderen Iche zu erleben, da es ohne ein originär subjektives Ich keinerlei Unterscheidungskriterium zwischen meinem Körper und dem der Anderen im Grunde geben könnte. Indem Lacan an einer rigiden Identifikation festhält (welche im »Ichideal« Freuds nicht die Übertragung des verwandelten kindlichen Narzissmus auf Andere als Gewinn eines erweiterten Ich berücksichtigt), konnten seine weiteren Analysen zur Symbolik auch nur bedeuten, dass die Wahrheitswerdung des Subjekts allein jenseits des imaginären Feldes zu erwarten ist. Dabei bleibt jedoch festzuhalten, dass für ihn das Imaginäre das Wirkliche einschließt und formen kann, und das Wirkliche seinerseits das Imaginäre beinhaltet. Und genau hier findet auch die schon erwähnte Identifikation zwischen Sprache/Symbolik in der Konstitution des Wirklichen statt. 5 Dabei findet sich zunächst als allgemeine Voraussetzung, dass im Selbst vor dem »Ich« alles ohne Unterscheidung gegeben ist, nämlich jegliches Es, alle Objekte, aber auch die Begehren, Strebungen etc. Gegenüber dieser ebenso absoluten wie chaotischen Wirklichkeit formt das Körperbild einen »Behälter«, von dem aus sich ein Verhältnis der Zugehörigkeit ankündigen kann, etwa im Existenzurteil, was zum Ich gehöre und was nicht. Die Andersheit des Körpers im Spiegelstadium ist mithin nicht nur die Grundstruktur aller menschlichen Phantasmen, sondern auf dieser reinen »Oberfläche« des Ich ohne Tiefe oder wirkliche Innenwelt errichtet sich auch der Bezug zum Außen als Umwelt. Obwohl das »absolute Subjekt« also an sich undenkbar ist, gibt es durch diese Spiegelung des Ich als »Selbsterkenntnis« im Anderen des Körpers einen Grundtypus der Unkenntnis (mé-connaissance), das heißt die entfremdende Projektion des ursprünglichen (chaotischen und nicht-konstituierten) Begehrens ins Andere des Selbst hinein, wodurch sich letzteres in einer »libidinösen Fragmentierung« befinde. Dieser Entfremdungsprozess des »zerstückelten Begehrens« wird von Lacan auch als das »X des ewigen Lebens« bezeichnet, aber es vermischt sich als Bild der »absoluten Herrschaft« zugleich mit dem Bild des Todes, sofern der Mensch diesem Bild stets als »Heil« unterworfen ist. Leben/Tod verbinden sich mit anderen Worten zu einem »Kampf des reinen Prestiges«, wobei innerhalb einer solchen (von Hegel entlehnten Dialektik der Herrschaft/ 5 Vgl. J. Lacan, Le séminaire I: Les écrits techniques de Freud (1954), Paris, Seuil 1974, 88 u. 94.

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Knechtschaft) die ursprüngliche Libido durch eine imaginäre Phase hindurch zu gehen hat. 6 Diese Dialektik impliziert allerdings eine fundamentale Sackgasse, denn entweder gibt es nur einen »Selbstmord der narzisstischen Liebe« oder die illusorische »Zerstörung des Anderen«. Gegen Hegel argumentiert Lacan nun, dass sich das Verhältnis von Herrschaft/Knechtschaft nur im imaginären Register abspielt, wo die Bewusstseine in ein Ausschlussverhältnis eintreten, um mangels der Anerkennung des Begehrens jegliche Ko-Existenz zu verneinen. Was Hegel den »Mord des Begriffs« mittels der Verzeitlichung der Erfahrungsgegenstände nannte, wird daher genau hier zum zuvor schon angekündigten Übergang zum Symbol, welches das fluide Ding als Spur ergreifen kann, indem jetzt die Dauer des Unergreifbaren beibehalten wird, obwohl es als Sache im Begriff aufgehoben oder getötet wurde. Das Symbol stellt anders gesagt die gegenseitige Umkehr von Anwesenheit/Abwesenheit dar, was nichts anderes bedeutet, als dass die Zerstörung des existierenden Dings die Welt der Negativität eröffnet, welche die Welt des Begehrens darstellt – denn das getötete Ding (welches zugleich Subjekt ist) konstituiert dann die Möglichkeit des Begehrens. Im Bezug zum Anderen als Andersheit schlechthin (groß A bei Lacan) hat das Subjekt folglich das zunächst verkannte Begehren wieder zu erkennen, was die Wende der Negativität als Begehren/Selbst ausmacht. Die Andersheit des Anderen besitzt demzufolge nicht nur eine imaginäre Funktion (Idealich), sondern ebenfalls eine symbolische Aufgabe, wonach das Begehren als austauschbar vom Anderen her zurückkehrt, nämlich als leere Gestalt der ursprünglichen Identifikation des Ichideals. Da das Symbol zugleich die Ebene der sprachlichen Intersubjektivität darstellt, heißt dies naturgemäß, dass Sprache »Anerkennung« transportiert, welche als »symbolische Gabe« eine ursprüngliche Liebe zwischen zwei Subjekten impliziert. In diesem Verhältnis gegenseitiger Anerkennung wird das Subjekt, welches über die Identifikation des Ich bloß mit dem Imaginären verbunden war, in den Bereich des Seins geführt, welcher allerdings nunmehr nicht einfach die unmittelbare (naive) Präsenz des Wirklichen bezeichnet, sondern die dialektische Vermittlung einer Seinsgegenwart durch die gegenseitige Anerkennung. Dieses Sein ist daher auch nur die »Spalte« oder die »Öffnung« für das Wort (parole), welches dadurch als Offenbarung 6

Vgl. ebd., 171 f. u. 193.

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Spiegel und Subjekt

oder Wahrheit allerdings zweideutig ist, insofern der Andere als Name weiterhin mit dem Ich identifiziert bleibt. 7 Als »Ich-Symbol« spricht mithin die Wahrheit des Ich, jedoch als verborgenes Begehren, da es weiterhin für Lacan keine unmittelbar lebendige Identität des Ich mit sich selbst gibt. Dadurch bleibt aber auch die Position des Anderen brüchig, denn eine Andersheit kann es wohl nur dann geben, wenn es zunächst auch ein mit sich selbst identisches Ich gibt, welches die Andersheit des Anderen erkennt, wie einzuwenden wäre. Nichtsdestoweniger wird hier bereits der therapeutische Weg der analytischen Kur bei Lacan sichtbar, nämlich als Weg von einem »leeren Wort« zu einem »vollen Wort«, 8 was eine gewisse Analogie mit dem lebensphänomenologischen Bezug zwischen dem je erfüllten »Wort des Lebens« als Selbstaffektion und jenem »Wort der Welt« besitzt, welches die Wirklichkeit seines Referenten (Bedeutung) nicht aus sich selbst heraus als Andersheit, Differenz oder Außenheit zu begründen vermag. Auf diesem Hintergrund wird dann die Therapie und Supervision, wie wir schon öfters andeuteten, zur Anerkennung eines gegenseitigen Pathos als »Mit-Pathos«, welches die Intensität des Lebens in seiner unmittelbaren Identität mit dem Ich/Mich selbst ist. Im Gegensatz zum Cogito Descartes’, welches Lacan also einseitig als einen selbstreflexiven Spiegel der Subjekttransparenz interpretiert, soll das zuvor skizzierte Spiegelstadium mit seinen imaginären wie symbolischen Konsequenzen keine bloße Arbeitshypothese darstellen, sondern die Lösung des »Gordischen Knotens« selbst, das heißt des Bezuges von Identität und Begehren. Der Vers des Dichters Rimbaud: »Ich ist ein Anderer« will mithin bei Lacan das dem Ich unbekannte oder unbewusste Subjekt zum Ausdruck bringen, den »Kern unseres Wesens«. Dabei wird diesem verkannten Selbst nicht Vgl. H.-D. Gondek, Angst, Einbildungskraft, Sprache. Ein verbindender Aufriss zwischen Freud, Kant und Lacan, München, Fink 1990. 8 Zum Verhältnis von parole vide/parole pleine vgl. auch H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott. Ein Gespräch zwischen Psychoanalyse und Glauben – Jacques Lacan und Simone Weil, Düsseldorf, Patmos 1983, 264 ff. Danach handelt es sich im engeren Sinne bei dem »vollen Sprechen« um ein »verantwortliches Sprechen«, welches wechselseitig das »Fehlen-zum-Sein« anerkennt und nicht das »erlösende Wort« vom Anderen erwartet, welches es nicht geben kann – und insofern »leeres Sprechen« bleibt. Durch die Unterscheidung dieser beiden Sprechweisen will Lacan, anders gesagt, im Bereich allgemeiner Begegnung die ich-zentrierte Rede auf bloße Objektinformation von der »Bitte« trennen, welche den Anderen immer schon anerkannt hat, indem ohne Absicht zu ihm gesprochen wird. 7

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das Recht abgesprochen, sich als »Ich« auszudrücken, aber es bleibt hinsichtlich der scheinbaren Transparenz des Cogito nur ein dezentriertes Selbst, welches weder in sich noch im percipi der Weltdinge wirklich wahrgenommen werden kann. 9 Vielmehr erscheint durch die »Zerstückelung« der Objekte als Vor-das-Ich-Gestelltes ein quod, welches die Angst hervorruft und vor dem das Ich sich immer wieder auflöst. Letztlich ist dieses quod die schon erwähnte Öffnung oder Spalte, wo die Erfahrung des unbewussten Subjekts als solche hervortritt – und damit die Angst des Todes: Du bist nicht das, was vor dir in aller Weite entfernt ist. Mit anderen Worten manifestiert sich hier ein Wirkliches ohne mögliche Vermittlung, eine letzte Wirklichkeit des »wesenhaften Objekts« (auch »das Ding« genannt), welches kein Objekt mehr ist, sondern ein Objekt der Angst ohne weiter angebbare Kategorien bildet. Ungestaltet auf der imaginären Ebene und unbenennbar im symbolischen Bereich handelt es sich um ein Selbst ohne Ich, um ein absolut Anderes, so dass die Angst eine Andersheit jenseits aller Intersubjektivität berührt. Was in solcher Angst ohne Ich und Realobjekt als Tod erfahren wird, ist also nicht so sehr auf die Aggressivität bezogen als vielmehr auf das hinter allem Benennbaren auftauchende Unbenennbare auf der symbolischen Ebene. Im Augenblick der Konfrontation von Begehren und diesem unbenennbaren Objekt stellt sich ein »Todestrieb« ein, der nicht der zuvor genannte »Suizid narzisstischer Liebe« ist, sondern die »Subjektivierung des eigenen Todes« im heideggerschen Sinne als unübersteigbare Möglichkeit des Subjekts. Verbunden mit Freuds Diktum: »Wo Es war, soll Ich werden«, handelt es sich um die »Auferstehung« des Ich vom Tode, wodurch das Selbst zur Handlung, zum Wort, zum Sein seines Wesens (être) hingetrieben wird, denn das »Wo« ist der Ort solchen Seins, das »Es war« das Sich-Sein (s’être). Das Ich-Werden mutiert daher zur radikalen Exzentrizität des Sollens des Zu-Mir-Kommens am Ort des Seins als mein Wesen selbst, was als eine Kurzformel der therapeutischen Finalität nach Lacan angesehen werden kann. 10 Denn er erstellt hier Vgl. J. Lacan, Le séminaire II: Le moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychanalyse, Paris, Seuil 1980, 59 f. u. 145 (dt. Das Seminar. Buch II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Olten/Freiburg, Walther 1980). 10 Vgl. J. Lacan, Écrits (1966), 316 u. 417 f. Wie grundsätzlich eine solche Position ist, zeigt sich etwa an der Einschätzung jeder Erwartungs-, Zweifels- und Aufschiebungsstruktur als Zwangsverhalten, denn wie bei Hegel weiß der Herr direkt um den Tod 9

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auch eine Parallele zu Freuds Kulturarbeit als der »Trockenlegung der Zuydersee«, was eben in diesem neo-psychoanalytischen Kontext heißt: die Zerstörung des Dings (chose) im Akt des Wortes (parole), wodurch mittels des Gegensatzes von Abwesenheit/Anwesenheit bzw. Erscheinen/Verschwinden im »moralischen Sinne« eine »Herrschaft über das Ding« intendiert ist. Was bei Freud der für immer unsichtbare »Nabel des Traums« ist, bedeutet demzufolge für Lacan die abgründige Beziehung zum »rätselhaften Bild« des Todes, welches sich im Feld des Imaginären knüpft. Denn da es im Phänomenbereich keinen ergreifbaren Punkt dieses Nabels gibt, ist dies der Punkt des hervorbrechenden Bezuges des Subjekts zum Symbolischen, das heißt zum »Loch« oder zum »Knoten« des Wesens des (seines) Seins. Die Verbindung von Symbol und Wirklichem ist der Ort des »kopflosen Subjekts«, das heißt ohne Ich, in einem Gegenüber mit seiner Spiegelung, wo das Bild seines Todes zugleich der Punkt des SichVerlierens des Ich wie das Hervorbrechen des Seins ist. Aber dieses »letzte Wort« (mot) des Seins ist eben nur ein Wort, welches bedeutet – anders gesagt die Benennung als die Stimme von Niemandem als »Ich des Subjekts«. Zu verstehen bleibt, wie sich dieses ichlose Sein des Subjekts als Begehren ergreift, nämlich in einer Dialektik der schon genannten Entfremdung, innerhalb derer sich je das »Begehren der Anerkennung« und der »Anerkennung des Begehrens« für das Subjekt ausdrückt. 11 Zusammen mit der Liebe und dem Hass ist der Mangel oder das Fehlen (manque) jenes grundsätzliche Element, um das unbewusste Begehren zu definieren, denn letzteres ist nicht bloß »Bedürfen« (besoin), weshalb der von Lacan gemeinte Mangel hier radikal auftritt, das heißt ohne jedes Objekt. Schon für Freud ist die Welt eine solche der Libido als Begehren im Allgemeinen, aber das lacansche Subjekt ist in seinem Wesen oder Sein (être) ein Begehren von einem Ding, welches nichts ist. Daher bestimmt sich das Begehren nicht in einem »Verhältnis des Seins zu sein«, sondern in einem »Verhältnis des Seins zum Mangel«, denn ein Subjekt bezieht sich so auf ein Ding, dass es durch den Mangel zum Sein wird. Das Sein wird mithin durch

des Ich, während der Sklave seinen eigenen Tod über den erwünschten Tod des Herrn zunächst nur aufschiebt. 11 Vgl. Le moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychanalyse (1980), 130, sowie Le Séminaire III: Les psychoses (1955–1956), Paris, Seuil 1981, 295 u. 202 (dt. Das Seminar. Buch III: Die Psychosen, Olten/Freiburg, Walther 1980).

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ein Fehlen, während dem Begehren als solchem nichts fehlt, so dass es auch nichts verlangt, zumindest nichts Benennbares. Dadurch lässt aber das Begehren sein Nichts (rien) in die Welt der Dinge eintreten, so dass das Benennen zur eigentlichen Handlung aus dem Begehren heraus wird, nämlich zur »Errichtung einer grundsätzlichen Not oder Verzweiflung, wodurch sich das Sein als Gegenwart auf dem Grund von Abwesenheit erhebt«. 12 Diese ebenso wirkliche wie unmittelbare Macht des Subjekts als Errichtung des Begehrens ist nicht zu verwechseln mit dem klassischen Konzept der »Macht des Bewusstseins« oder der »Bewusstwerdung«, welche einen abstrahierenden Akt der Rede (parole) bilden. Die Dialektik von Anwesenheit/Abwesenheit ist im Verhältnis von Begehren/Nichts vielmehr die erwähnte Welt der Symbole, da der Mangel, welcher über die Erfahrung des Begehrens zum Sein führt, zugleich zu einem »Selbstgefühl« in Bezug auf dieses Sein als Nichts wird. Indem das Subjekt die Bewegung über das Nichts als sein Sein hinaus wiederholt, gewinnt es also nicht nur ein Selbstbewusstsein innerhalb der Welt der Dinge, sondern zugleich auch einen strukturierenden Zwang seines eigenen Begehrens hinsichtlich seiner selbst wie der Welt. Anders gesagt schafft das Subjekt seine Welt auf dem Hintergrund einer Abwesenheit, wo das Sein nicht fehlt, aber das Subjekt nicht erfüllt. Dieses Nicht-Wissen um das Nicht-Wissen der Erfüllung ist für Lacan das Unbewusste in den Bewusstseinsphilosophien, die sich als Wissen verstehen wollen, nämlich als die Einbildung eines letzten Objekts unter all den Dingen, ohne jedoch in ihrem Wissen als Ego etwas von dem zu wissen, was das Wesen des Seins dieses Ich in seinem radikalen Begehren darstellt, nämlich eine Möglichkeit logischen oder theoretischen Zugriffs auf das »Sein« als Unbewusstes. Wir wissen schon, dass das Begehren als das »Nichts des Benennbaren« der mit dem Leben verbundene Tod ist, wodurch das Leben zu nichts anderem wird als zu einem »Umweg ohne Bedeutung« – ein wesentlich entfremdetes oder aus sich heraus ek-sistierendes Leben. Dieses Leben ist eine bloße »Blase«, welche sich auflöst in eine Flüssigkeit oder Aufgedunsenheit ohne Ursprung und Konsistenz. 13 Im Todestrieb kommt dieses Leben als reines Sein-zum-Tode zum Ausdruck, das heißt als der Zwang, zu jenem Verdrängten zurückzukehren, in welches das Subjekt niemals wirklich eingetreten ist. 12 13

Vgl. ebd., 262. Vgl. ebd., 270 f.

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Mit anderen Worten ist das lacansche Verdrängte das Nicht-Sein selbst, und zwar als die Wahrheit des Subjekts in seiner Verdunkelung oder der Entfremdung, die über jedes Lustprinzip sowie jedes Bedeutsame oder alle intersubjektiven Beziehungen hinaus sind. Von da aus erkläre sich der »Automatismus der Wiederholung« als die Triebfeder des Begehrens selbst, und damit auch als Basis der Entwicklung der Welt der Symbole. Durch letztere verwirklicht sich das Subjekt stets in einem Anderswo, da seine Wahrheit ihm immer durch irgendwelche Seiten der mittels des Begehrens symbolisierten Welt verdunkelt bleibt. Durch die Negation als positiven Wert im hegelschen Sinne der Bewusstseinserfahrung vollzieht das Subjekt infolgedessen die Annahme seines Wesens als Sein-zum-Tode, wobei der Todestrieb als »letzter Umweg« des Lebens die Verweigerung der Heilung ist, »denn das Leben will nicht heilen«, insofern die Heilung nichts anderes wäre als eine Rede, die woanders her käme und das Subjekt bloß durchzöge, ohne ihm eine dauerhafte Substanz zu verleihen. Wenn das Leben also nur ans Sterben denkt, dann bleibt uns allein jenes intersubjektive Spiel, »wo das Begehren für einen Augenblick anerkannt wird, jedoch nur um sich in seinem Wollen zu verlieren, welches das Wollen des Anderen ist«. 14 Einem solchen ununterbrochenen Hin und Her von diesem zu jenem Anderen will das Leben sich entziehen, um sich in einem »Fluch ohne Rede« zu bejahen. Das unbewusste Begehren entspricht in dieser Perspektive dem freudschen »Es«, welches für Lacan jedoch erst durch die Botschaft des absolut Anderen (l’Autre mit großem A) zum »Ich« wird. Durch den Eintritt in das Wirkliche des Signifikanten mittels Identifikation auf der Symbolebene wird das »Ichideal« als anfängliche Bejahung dieser primordialen Signifikanz errichtet, was allerdings zugleich auch eine entfremdende »Verwerfung« oder »Ausstoßung« (forclusion) über die freudsche »Verdrängung« hinaus impliziere. 15 In der Unterscheidung von »Verdrängung« (refoulement) und »Verwerfung« (forclusion) rekurriert Lacan hierbei auf seine Übersetzung des deutschen Begriffs »Verworfen/Verwerfung«, wie er sich mit zahlreichen Nuancen bei Freud schon findet und mehr meint als ein bloßes Zurückweisen (»Verleugnung«), welche sich semantisch zwiÉcrits (1966), 320. Vgl. hierzu J.-M. Palmier, Lacan. Le Symbolique et l’imaginaire, Paris, Delarge 1972, 84 ff.

14 15

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schen Verdrängung und Verurteilung bewegen kann. Eher muss man auf den Begriff der »Abwehr« zurückgreifen, den Freud 1894 schon in einem Text über die »Neuropsychosen« verwandte, da nach dessen Aussagen das Ich sowohl die unerträgliche Vorstellung zusammen mit deren Affekt »verwirft«. Dies hat zur Folge, dass das Ich sich so verhält, als ob die entsprechende Vorstellung niemals bis zum Ich gelangt sei, was Lacan letztlich über die »Kluft« zwischen Subjekt/ Sprache im »Intervall« des Sprechens selber thematisieren wird, wo das Selbst immer schon »verschwunden« oder »durchgestrichen« ist, wie unsere weiteren Ausführungen zeigen werden. Eine wichtige Quelle zum Verstehen der »Verwerfung« ist für Lacan außerdem die vierjährige Analyse des »Wolfsmenschen« durch Freud. Denn die Andersheit im kurz zuvor Ichideal bleibt nicht nur imaginär (wie bei den vielen anderen Objekten), sondern sie ruft als das absolut Andere stets die Wiederholung als Eroberungswille des ständig verlustigen Objekts im Begehren hervor. Da sich diese Psycho-Analyse im Bereich des radikalen Mangels vollzieht, wie wir sahen, ist innerhalb eines solchen »Fehlens an Sein« auch der primordiale Signifikant keine wirkliche Bedeutung im intentionalen Sinne, da er nichts bedeutet, sondern nur jenes Mittel darstellt, damit sich das Subjekt im Wirklichen manifestieren kann. Das Subjekt benutzt das »Spiel des Signifikanten« nicht, um etwas zu bedeuten, sondern um darüber hinwegzutäuschen, was es zu bedeuten gibt. Bedeuten (signifier), ohne Bedeutsames (significatif) zu signalisieren, was sich an Descartes’ Hypothese vom »Lügengeist« beim hyperbolischen Zweifel anlehnt, dient innerhalb von Lacans Theorie dazu, die Subjektivität dieses Subjekts jeder wissenschaftlichen Aussage auf dem Boden eines ego cogito zu entreißen. Spricht die Psychoanalyse von Psychosen und Neurosen, so hat sie mit solchen Begriffen des »Subjektiven« das Feld der Wissenschaften verlassen, weshalb sich der Analytiker letztlich nicht für das Einstellen von Bedeutungen interessiere, sondern eben für das absolut Andere. Es gibt mithin auf dieser praktischen oder therapeutischen Ebene einen »irreduziblen Kern« nämlich als Verbindung von Todestrieb und notwendigem Korrelat der Rede, wodurch sich das Subjekt an das absolut Andere wendet, aber dabei nie weiß, ob es nicht getäuscht wird. Dieses Andere radikaler Andersheit kann daher als jener Ort bezeichnet werden, wo das Ich mit dem spricht, der als Anderer hört, aber der auch über das möglicherweise fehlende Hören entscheidet, ob man gesprochen hat oder nicht. Bejahung und Verneinung gehören deshalb in der dialek222 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Spiegel und Subjekt

tischen Beziehung zum absolut Anderen zusammen, nämlich als Verwerfung des »Es«, welches an sich in den symbolischen Prozess integriert sein will. 16 Dass bei der anfänglichen Bejahung als erste Symbolisierung der »Tod des Dings« nicht dessen Verschwinden bedeutet, liegt auf der Hand, da es im Symbol aufgehoben ist, welches ein »ursprüngliches Inneres« darstellt, nämlich den ersten Körper des Signifikanten. Was Freud als Primärprozesse bezeichnet, worin das attributive Urteil im philosophischen Sinne seine Wurzeln habe, ist das Zum-Sein-Kommen irgendeines Wirklichen, so dass die Verwerfung genauer jenes »erste Außen« bildet, was außerhalb der Symbolisierung verbleibt. Gerade in der Psychose wird dieser Inauguralakt der Bejahung verneint, insofern die Verwerfung sich auf das bezieht, was in der Bejahung als »Sein-Lassen« im Sinne Heideggers von der ontologischen Differenz Sein/Seiendem verloren geht. Diese erste Trennung zwischen einem »Innen« und »Außen« beim Subjekt in Analogie zu Freuds »Einbeziehung ins Ich« und »Ausstoßung aus dem Ich« hat allerdings für Lacan auf der Ebene des Wirklichen keinerlei Sinn, da letzteres ohne Risse ist. 17 Jedes Existenzurteil verbleibt daher insofern zweideutig, als Sein/Nicht-Sein in Bezug zum Symbol ein- wie ausgeschlossen sind, da die (imaginäre) Vorstellung eine Existenzsetzung verneint, die wieder gefunden werden kann. In therapeutischen Termini handelt es sich in der Tat um einen narzisstischen Bezug zum Bild, insofern dieses sowohl als seiend wie nicht-seiend erscheint. Das Wirkliche im Sinne des primordialen Signifikanten ek-sistiert für Lacan daher nur auf dem Boden einer vorauszusetzenden Abwesenheit. Auch wenn das Wirkliche nicht als Vorstellung für das Subjekt existieren sollte, so gibt es doch stets einen Bezug zwischen Signifikanten und ausgeschlossenem Wirklichen, was Lacan das Gesetz im absoluten Sinne nennt (la Loi groß geschrieben). Dieses grundlegende Gesetz ab origine bezeichnet nichts anderes als das Gesetz der symbolischen Artikulierung, wobei die jeweils vom Subjekt erlebte Wirklichkeit prinzipiell mit einer symbolischen Nichtung (néantisation) wie bei Hegel und Sartre verbunden ist, insofern die Rede als tradi-

16 Vgl. L. Lacan, Le Séminaire IV: La relation d’objet (1956–1957), Paris, Seuil 1994, 46 (dt. Die Objektbeziehung, Olten/Freiburg, Walther 1982); Les psychoses (1981), 167, 171, 211 u. 286; Écrits (1966), 53 u. 431. 17 Vgl. Le moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychanalyse (1980), 122; Écrits (1966), 388.

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tionelle Vermittlung jeweils durch einen bestimmten Signifikanten strukturiert ist. Dass das Wirkliche schon da ist, aber als Objekt, welches das Subjekt bei Weitem nicht befriedigt, ist tiefenpsychologisch das Phänomen der Halluzination, wo das Verdrängte, welches ursprünglich verworfen wurde, an der Grenze als Befriedigung zurückkehren kann. 18 Es handelt sich hierbei nicht um eine Projektion, denn der Psychotiker wendet sich nicht an das absolut Andere (Autre, groß A), das für ihn nicht existiert, sondern an ein imaginär Anderes (autre, klein a), welches sein Doppel ist. Dort, wo der eigene Körper wie im anfänglichen Spiegelstadium zerstückelt erscheint, erscheint auch die Welt wie zerteilt, nämlich außerhalb der allgemein strukturierenden Symbolisierung des Subjekts. Das verworfene Element kehrt als »Loch« oder »Spalte« für den Psychotiker zurück, um es durch eine halluzinatorische Gegenwart zu füllen, der er seine eigene Botschaft entnimmt, die so jedem Verstehen gegenüber verschlossen bleibt. Die Dialektik der Anerkennung vollzieht sich dann im gespiegelten Bezug von Ich/imaginär Anderem, aber da niemand wissen kann, worum es sich handelt, herrscht hier eine »unwirkliche Wirklichkeit« vor. Die Erprobung der Wirklichkeit und das Unwirklichkeitsgefühl erscheinen in diesem Fall identisch, aber der Text ist unterbrochen und lässt den Träger der Erinnerung nackt auftreten, das heißt ohne symbolische Vermittlung, die normalerweise Welt und Wahrnehmung miteinander verbindet. 19 Lacan bemerkt zu dieser Problematik des Verhältnisses von Wirklichkeitsgefühl und Unwirklichkeit in der Psychose des Weiteren, dass der Ödipuskomplex durchlebt wurde als Bezug von Kastration/Vater. Bevor wir jedoch dazu übergehen, bleibt allgemein festzuhalten, dass die Bejahung/Verneinung dem Subjekt etwas erscheinen lässt, was das Symbol verneint, denn es handelt sich bei der Schaffung durch das Symbol eher um einen Mythos denn um eine Genese. Es ist diese Negation der Negation, damit das Nicht-Sein des Subjekts zum Sein gelangt, welche den Durchgang durch den Vater verlangt. Der Ödipuskomplex als Bezug des Kindes zur Mutter ist von vornherein triangulär, da hierbei ein Objekt gegeben ist, welches der Phallus ist – der als Dritter als eine Art Schiedsmann zwischen Mut-

18 19

Vgl. Écrits (1966), 388 f. u. 392. Vgl. ebd., 382.

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ter und Kind auftritt. Für die prinzipiell an der Sprache orientierte Neo-Analyse Lacans ist der Vater daher vor allem jener wesentliche Punkt, wo sich Signifikat und Signifikant miteinander verknüpfen. Der Vater tritt nämlich nicht als eine der Größen im ödipalen Verhältnis selbst auf, sondern als die Stabilität desselben, weshalb die Frage nach dem »Vater« für den Analytiker für immer wie ungelöst bleibt, insofern es sich um eine mythische oder sakrale Person handelt. Denn der »Name des Vaters« ist nur im Diskurs als Rede des absolut Anderen gegenwärtig, ohne von irgendjemandem ausgesprochen werden zu können. Nur wer tatsächlich das »Ich bin, der ich bin« des monotheistischen Gottes der Bibel aussprechen könnte, würde diese absolute Stellung des symbolischen Vaters kennen und ihm zu antworten vermögen. Innerhalb der Konstellation des Symbolischen handelt es sich mithin um eine Notwendigkeit dieser imaginären Dialektik, damit der Phallus etwas anderes sei als ein »Meteor«, wie Lacan schreibt. 20 Die radikale Andersheit des radikal Anderen muss durch diese Unbekanntheit des Namens des Vaters bewahrt werden, um als irreduzibler Signifikant in symbolischer Hinsicht auftreten zu können. Kehren wir an dieser Stelle kurz zum Spiegelstadium zurück, wo es ein erstes »Befriedigungserlebnis« gibt, welches nahezu unwiederholbar bleibt, so begegnen wir dort auch dem Phallus in seiner besonderen Objektbedeutung. Insofern in der Tat der anfängliche Körper als Bild der Ganzheit erlebt wird, ist er Quelle einer Freude, deren Anerkennung ein Erleben der Befriedigung bildet, welches sodann jedoch vom Subjekt als Mangel dessen erfahren wird, was ihm als Objekt fehlen kann. Nicht das Bild dieses Objekts und weiterer Objekte später ist das, was fehlt, sondern der Mangel dieses Fehlens besteht in der Illusion von einem Etwas darüber hinaus. Die Illusion eines solches Nichts (rien) ist die Bedeutung der Liebe an sich, insofern das Objekt nicht für das geliebt wird, was es ist, sondern für das scheinbar Fehlende. Denn wer hinter dem imaginären Bild des Subjekts als symbolisch ganz Anderer, als Ichideal spricht, ist die Funktion eines Schleiers oder Vorhangs. Gerade das, was hinter letzteren als Bild verwirklicht wird, ist die grundlegende Situation der Liebe, welche ein »Idol der Abwesenheit« verehrt, wie Lacan außerdem von Vgl. Les psychoses (1981), 355, 303 f. u. 359; dazu auch S. Lippi, Transgressions. Bataille, Lacan, Paris, Erès 2008, 137 ff. u. 157 ff., zum Verhältnis von Vater, Sexualität, Namen und Lust.

20

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diesem Vorhang noch schreibt. 21 Das Fehlen als erlebter Mangel wird so zu seinem »Ort zu sein«, ohne dass jedoch das »Es« des Subjekts einen Signifikanten dafür besäße. Diese Dialektik von Sein/Haben schreibt das Subjekt als sein Fehlen des Seins in den Objektbezug ein, und der Phallus ist jenes Etwas, welches man weder hat noch ist, wie wir schon sahen, um genau diese Spannung als Frustration, Privation und Kastration in den Objektbezügen als gleichzeitige Dialektik mit der radikalen Andersheit zu leben. Die erste Stufe hierbei ist die Frustration, wo sich das Objekt des Mangels als das konstituiert, was verloren und wiedergefunden werden muss. Beim Kind identifiziert sich das Lieben desselben mit dem Geliebtwerden, was in der Abwesenheit der Mutter zur Frustration wird. Die Mutter als Agent solcher Frustration gehört bereits dadurch dem Gegensatzpaar Gegenwart/Abwesenheit als Grundkonstellation der symbolischen Ordnung an, wobei bei der Nichtbeantwortung des Verlangens des Kindes nach der Mutter diese in dessen Augen zu einer launenhaften wie allmächtigen Figur wie bei Melanie Klein wird. Und genau durch diese Funktion wird der weitere Zugang zu den Objekten bestimmt, wodurch sie aufhören, bloße Gegenstände der Befriedigung zu sein, das heißt eines wirklichen Bedürfens – sie werden vielmehr »Objekte der Gabe«, um in das genannte Bedeutungsspiel von Gegenwart/Abwesenheit einzutreten. Lacan erhebt auf diese Weise die frühe Muttererfahrung zum »Beginn der Strukturierung jeglicher Wirklichkeit«, was zugleich jene »Krise« einschließt, die später beim Kind hinsichtlich der Allmacht der Mutter wieder aufbrechen wird. 22 Wenn die Mutter dem Kind in der ersten Phase antwortet, ist das gewährte Objekt nicht nur Gabe, wie wir sahen, sondern der gesamte Mutterleib erscheint dem Kind als ein »gewaltiger Behälter«, worin alle frühen Phantasma-Objekte vereint vorhanden sind. Das als unbedingt verstandene und geltende Verhältnis von Verlangen/Gabe bildet ein solches Objekt, welches aus der Sicht des Kindes mit vollem Recht bei der Mutter angefragt wird. Aber da die Gabe nicht wirklich umsonst ist, weil sie dem Kind als Objekt erscheint, welches es als das Subjekt weder ist noch nicht ist, nimmt dieses Objekt (wie alle späteren) seine Stelle in der symbolischen Kette ein; das heißt, es erscheint für einen verschwindenden Augenblick, um an anderer Stelle wieder21 22

Vgl. La relation d’objet (1994), 176 u. 219 f. Vgl. ebd., 67 ff.

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zuerscheinen. Dies kann auch so formuliert werden, dass die Mutter ein »virtuelles Feld symbolischer Nichtung« darstellt und das Kind auf diesem Weg die retroaktive Projektion einübt, denn das Begehren hinter dem Verlangen eines bestimmten Objekts wird zur Metapher im Sinne der Substitution und der Sinnerscheinung. Um zu wissen, was es für die Mutter ist, nimmt das Kind den Platz der Mutter ein, konstituiert sich dadurch als Subjekt des Begehrens und als Metonymie des Verhältnisses von Objekt/Illusion innerhalb der Metapher Liebe/Begehren. Diese Verschränkung von Metapher/Metonymie bedeutet praktisch den ununterbrochenen Verweis von einem Signifikanten zum anderen, wobei das Signifikat selbst ein X bleibt, da das Kind in seinem Begehren als leeres Signifikat das Begehren der Mutter bildet, welches auf diese Weise in der »Auslassung des Signifikanten« das »Fehlen zu sein« in der Objektbeziehung festmacht. Indem stets ein Jenseits oder Darüber-Hinaus (au-delà) des Objekts aufgesucht wird, avanciert der fehlende Signifikant zugleich zum negativen Aspekt des Subjektseins selbst – zum Phänomen des Erlöschens (fading), das heißt zur Matrix der Verneinung. 23 Das Begehren widersetzt sich daher für Lacan jeder Zurückführung auf ein Bedürfen, womit das Begehren nicht nur ein unbefriedigtes Verlangen bildet, sondern eine »absolute Bedingung« darstellt, die nur sich selbst kennt. In der Frustration wird die Enttäuschung einer kompensatorischen Befriedigung erlebt, aber dahinter verbirgt sich nicht nur der Abweis eines Objekts als nichtiges Etwas, sondern dadurch hebt sich die Antwortdimension durch ein Ja oder Nein hinsichtlich des Begehrens selbst auf – mit anderen Worten die Dimension des Anderen schlechthin. In der Frustration wird somit die symbolische Ordnung als solche in Frage gestellt, denn schon das Kind wird vom enttäuschenden Aspekt des symbolischen Spiels erdrückt, wenn es die Brust der Mutter als orales Objekt der Befriedigung ergreift. Weil nun das Begehren das einzig verstehbare Subjekt für Lacan ist, der »Kern unseres Wesens«, wie wir schon sahen, sind Begehren und Lust auch in existentieller Hinsicht eins, da das Subjekt allein im Begehren sich seiner selbst zu erfreuen vermag, das heißt seine Existenz als eines Ek-sistierens im Anderen unter symbolischer Form erlebt. Insofern kann Lacan auch sagen, das Subjekt habe »Lust« (jouissance) zu begehren, wobei der Sinn des Begehrens niemals definitiv artikuliert werden kann. Wie Freud findet Lacan daher auf dem 23

Vgl. ebd., 125, 158 u. 185; Écrits (1966), 515 u. 665 f.

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Grund des Triebs als Begehren hier das Leiden als Masochismus wieder, was heißt, dass sich das Subjekt als »Subjekt des Begehrens« im Sinne einer lebendigen Existenz als Selbsterleiden ergreift. 24 An diesem existentiellen Ort des »Fehlens-zu-sein« (manque-àêtre) ereignet sich folglich schon beim Kind sehr früh eine grundlegende Krise, wenn es realisiert, dass die Mutter keinen Penis hat. Die dabei gemachte Voraussetzung eines vorhandenen Penis zeigt an, dass es sich um ein symbolisches Objekt handeln muss, dessen Privation das Kind schon erfahren hat, weshalb Lacan hierfür den schon erwähnten Begriff Phallus einführt. Indem er nämlich die beiden deutschen Wörter »Lust« und »Trieb« als Ruhe und Errichtung des Begehrens versteht, bedeutet dies für die Interpretation des realen Begehrens, dass dieses niemals als befriedigt auftritt und somit stets eine gewisse Spannung auf der Ebene des »Lustprinzips« aufrecht erhalten wird, was auf der imaginären Ebene dem Phallus entspricht. Denn das Begehren gibt sich bildhaft nicht nur als total erfüllend, sondern sogar als triumphierende Freude (jubilation), wodurch das Subjekt im Überlassen an letztere realisiert, dass es etwas verpassen kann. Der Phallus bezeichnet daher ein zusätzliches Objekt als Mangel aufseiten des Subjekts in der Beziehung zum absolut Anderen. Phallus als Ausdruck des begehrenden Lebens in seiner vitalen Ausrichtung eines Dranges ohne Grenze tritt mit anderen Worten in den Bereich des Signifikanten ein, indem jede Sperre oder Schranke (barre) einer Begrenzung aufgehoben scheint, so dass sich der Phallus notwendigerweise ebenfalls als Bild der Transgression manifestiert, ohne jedoch die Grenze und das damit verbundene Gesetz endgültig ablegen zu können. 25 Die Entdeckung des Kindes in Bezug auf die Mutter ist daher real, wie auch immer die empirischen Umstände sind, aber der Sinn ergibt sich nur in Bezug auf ein symbolisches Objekt. Das Kind erfährt nämlich, zugleich mit der Abwesenheit des Penis bei der Mutter, deren eigenes begehrendes Verlangen, wodurch ihre angenommene Mächtigkeit erschüttert wird, das heißt nicht das geben kann, was das Kind erwartet. Nicht das Kind wird geliebt, sondern ein bestimmtes Bild – jener Phallus, welchen das Kind seinerseits verwirklicht, um Vgl. J. Lacan, Le Séminaire V: Les formations de l’inconscient, Paris, Seuil 1998, 382 u. 313 (dt. Die Bildungen des Unbewussten, Wien Turia & Kant 2006); Le désir et son interprétation (2013), 538 ff. 25 Vgl. Les formations de l’inconscient (1998), 347. 24

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dabei gleichzeitig das Begehren der Mutter zu verwirklichen. Der erfahrene Mangel innerhalb des narzisstischen Selbstbezuges der Mutter führt folglich dazu, dass sich das Kind als ihr sie erfüllendes Objekt erblickt. Natürlich bedeutet das Kind als imaginärer Phallus der Mutter einen »Betrug«, da das vorausgesetzte Begehren bei seiner Mutter – wie sein eigenes Begehren – nicht erfüllt zu werden vermag. Das frühe Kind als Mädchen wird seine Klitoris als etwas verstehen, das niemals ein Penis wird, um gemäß der symbolischen Gleichung Penis-Kind zu versuchen, das Begehren der Mutter zu erfüllen. Dieser Situation entsprechend wird der kleine Junge seinerseits seinen Penis als etwas Unvollkommenes verstehen, um ebenfalls zu erleben, dass er das Begehren der Mutter nicht erfüllen kann. Er wird sich mit anderen Worten all den Widersprüchen gegenüber befinden, letztlich einem unendlichen Abgrund, einem imaginären Bild korrespondieren zu sollen und etwas zu besitzen, was etwas Wirkliches als Penis darstellt. Insofern ist es das Dilemma des Kindes, und zwar des Mädchens wie des Jungen, »zu sein oder nicht zu sein«, 26 das heißt zu lieben und geliebt zu werden, während sich vonseiten des Vaters eine andere Spannung präsentieren wird, nämlich den Phallus »zu haben oder nicht zu haben«. Da das Kind das Begehren der Mutter nicht zu erfüllen vermag, erfährt es dieselbe in ihrem Verlangen nicht nur als unstillbar, sondern in symbolischer Hinsicht als ein orales Phantasma, als den verzehrenden Rachen eines Medusenhauptes. 27 In dieser hilflosen Situation wird nun der Vater insofern herbeigerufen, als das Kind nach jemandem Wirklichen ruft, der sich als dritte Person in der Mutter-Kind-Beziehung positioniert. In ihrem Sprechen lässt die Mutter den Vater als denjenigen auftreten, der das letzte Wort hat, das heißt als »Namen-des-Vaters«, welcher eng mit dem Ausdruck des zuvor schon erwähnten Gesetzes verbunden ist. Auf diese Weise gewinnt die väterliche Macht über die Botschaft der Mutter die Funktion des Besitzers des Phallus. Denn als Gesetz ist der Vater das Verbot hinsichtlich jener Frage, welche das Subjekt gegenüber dem absolut Anderen stellt, um dem metonymischen Begehren einen Signifikanten zu geben. Der Andere im radikalen Sinne ist der Signifikant des Vaters, da sein Name (Gesetz) bestätigt, dass es keinen Sinn im Begehren gibt. Diese Leere des Sinnes – dessen Nicht Wie erinnern hier nochmals an die »Hamlet«-Deutung Lacans in unserer Einleitung bereits. 27 La relation d’objet (1994), 195. 26

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(ne pas) – ist jene Schranke, welche jeden Sinn der Zensur unterwirft, indem sie ihn vernichtet. Die »Wahrheit« dieser radikalen Dimension des »Nicht« als solchem, welches vom absolut Anderen sanktioniert wird, ist »die Dimension des Alibi der Wahrheit«, nämlich das »Ich bin«, aber stets als Offenbarung des Anderswo-Seins in Bezug auf die Sinnkette jeder Rede, mithin auch hinsichtlich des »Ich denke« als metonymischem Begehren. 28 Das Cogito bei Descartes ist somit für Lacan letztlich eine Negation oder Subtraktion, wie wir schon andeuteten, denn ich gelange auf dem Weg vom »Ich denke« zum »Ich bin« nur dadurch zum Sein, indem ich erfahre, dass ich nirgendwo im Denken bin: »Ich bin dort nicht, wo ich das Spielzeug meines Denkens bin; ich denke an das, was ich bin, aber dort, wo ich nicht zu denken denke.« 29 Dies ist also das zuvor genannte Alibi der Wahrheit, dass letztere nirgendwo gesagt werden kann – es sei denn nur als immer abwesend oder anderswo, weshalb die Wahrheit »in mir« auch nur als das/der Andere sprechen könne. Der Name-des-Vaters als Metapher des Sinnes substituiert sich, wie wir sahen, dem Signifikat des Begehrens der Mutter, was es dem Kund erlaubt, deren unerfüllbaren Wunsch, von dem es selbst ausgeschlossen ist, in den Bereich der Signifikanten einzuschreiben. Dann wird die Schranke des »Nicht« (ne pas) seitens des symbolischen Vaters niedergerissen, was aber strukturell nichts anderes bedeutet, als dass jeder Signifikant aufgehoben werden kann. Das Wirkliche, die Latenz, welche sich unter dem Signifikanten befinden, besagen folglich, dass das Subjekt selber aufgehoben wird – aber dergestalt, dass das Wirkliche seinerseits die Würde des Signifikanten erlangt. Denn indem jedes Signifikat zurückgerufen werden kann, um nichts mehr zu bedeuten, wird gerade der Phallus zur Errichtung des Signifikats schlechthin, denn die Kastration will nichts anderes besagen, als dass das Subjekt eine symbolische Verpflichtung oder sogar Schuld (dette) insofern eingeht, als es Subjekt der Rede ist. Es gibt etwas Wirkliches, um es als Signifikant wiederzuerhalten – jenes Fleisch (chair) in der Tat, welches das Leben zahlt, um daraus das Signifikat des Signifikanten zu machen, und da es unmöglich ist, den Phallus dem imaginären Körper wiederzugeben, ist es »der verlorene Phallus des einbalsamierten Osiris«. 30 28 29 30

Les formations de l’inconscient (1998), 19, 25 u. 119. Écrits (1966), 577. Ebd., 629 f.

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Spiegel und Subjekt

Die soeben angeführte Kastration beraubt folglich das Subjekt eines Imaginären und betrifft das Objekt seines Begehrens, das heißt den Phallus, der selbst zunächst imaginär ist, wie wir sahen. Aber der Vater nimmt ihn nicht nur weg, sondern gibt ihn ebenfalls, weil er ihn besitzt – jedoch nicht als Objekt des Begehrens, sondern als »Signifikat des Begehrens«. Anders gesagt ist der Name-des-Vaters jenes Signifikat, welches im Inneren dieses Signifikats bedeutet, dass das Signifikat existiert. Das absolut Andere ist der Ort der Hinterlegung des Signifikanten, und zwar als jene Autorität, welche das Gesetz begründet, was nichts anderes heißt, als aus der Gesamtheit des Systems der Signifikanten ein Gesetz zu machen. In Bezug auf die Mutter impliziert dies ein Verbot, und der Phallus bezeichnet hinsichtlich der Mutter als Objekt des Begehrens das durchgestrichene Begehren, welches das Begehren des absolut Anderen ist. Denn das Begehren erscheint für das Subjekt stets als Begehren des Anderen, worin das Subjekt nämlich begehrt, vom Anderen begehrt zu werden, weil es diesem fehle. Der Phallus muss daher geopfert werden, denn er ist der Preis, damit das Begehren als Signifikat in das Verlangen als Anfrage eingeführt werden kann. Er ist der Ort, wo das Ich wird, indem das Begehren artikuliert wird – ein Es zur Rede wird. Und dies hängt zwangsläufig vom absolut Anderen ab, denn dessen Bedeutung muss anerkannt werden. Insofern ist das Signifikat des Vaters hinter diesem Anderen, sogar jenseits dieses radikal Anderen, weil sich nur so – an diesem Ort von Ich/Es/Rede – die »Anerkennung des Begehrens als Begehren der Anerkennung bildet«. 31 Das Prinzip dieser Anerkennung ist die symbolische Aktion als Kastration, denn sie bewirkt, dass das absolut Andere seinerseits symbolisiert, mithin durchgestrichen wird, da nur so das Subjekt zu erkennen vermag, dass es seinerseits vom Signifikanten gezeichnet ist, nämlich als der verbleibende Rest dessen, was durch die Anfrage oder Bitte (demande) im Raum der Signifikanten erfüllt zu werden vermag. Das »Jenseits« vom Begehren des Subjekts und Begehren des radikal Anderen ist daher die Dimension des Phallus als wirklicher Bereich des Begehrens, wo mithin das Es im Anderen als Ich der Rede wird. Ich bin also nicht der Phallus, sondern ich bin vielmehr an dem Platz, welchen der Phallus in der Reihe der Bedeutungen einnimmt. In diesem sprachstrukturalistischen Sinne interpretiert Lacan daher Freuds bekannte

31

Ebd., 524.

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Aussage: »Wo Es war, soll Ich werden«, 32 wie wir schon in unserer Einleitung erwähnten. Die letzte Bedeutung des Signifikats »Phallus« ist es somit, dass sich seine Natur im Bedeuten niemals mitteilt, so dass alles Bedeuten nichts anderes als der Tod ist – die unerfüllbare Dimension des Unbenennbaren. Jedes Signifikat schreibt so in das Leben des Subjekts das »Fehlen-zu-sein« ein, weshalb der Phallus zugleich das Aufbrechen vitaler Macht (Affekt, Trieb etc.) wie aber auch die wesenhafte Hinfälligkeit aller Bedeutung vertritt, da eine Teilung, Trennung oder Spaltung in das Subjekt eingeführt wird, um auf diese Weise gerade als begehrendes Subjekt ein geteiltes Subjekt zu bleiben, von dem die Endlosigkeit der menschlichen Worte zeugt. Der Wahn ist die Aufhebung solcher Teilung, und die tiefenpsychologische wie existentielle Notwendigkeit für den Menschen als Subjekt des Begehrens, den Platz des radikal Anderen in sich selbst einzuberaumen, erweist den symbolischen Vater als einen »toten Vater« letztlich. Woran daher der Neurotiker leidet, ist der Logos selbst als eine andere Form des Wahns, wie wir schon sahen. Der Vatermord ist daher notwendig, denn dadurch ist mythologisch ausgesagt, dass das Subjekt schuldig werden muss, indem es den Anderen zu töten hat, da sich nämlich das Subjekt für immer an das Gesetz bindet, denn »der symbolische Vater, indem er dieses Gesetz bedeutet, ist gerade der tote Vater«, 33 wodurch das »Es/Ich-Werden« zugleich ein »Ich-Sterben« impliziere.

2) Begehren und Phantasma Mit Spinoza kann Lacan – als Rückblick auf das bisher schon von uns Gesagte – anerkennen, dass die cupiditas das Wesen des Menschen ist, wobei er mit désir den deutschen Begriff Begehren oder Lust übersetzt, in dem das Paradox der gesamten ethischen Frage für den Menschen beschlossen sei, insofern dieses Begehren zugleich die Mitte unserer Subjektivität selbst ausmache und in seiner Widerständigkeit wie eine »Urverdrängung« auftrete. In diesem genannten Paradox des Begehrens werde die Problematik des Spiegelstadiums wiederholt, welches den Menschen während seines ganzen Lebens in seinen Identifikationen begleitet, insofern dieser nur zum Sein kommt, indem er 32 33

Vgl. Les formations de l’inconscient (1998), 486. Écrits (1966), 556.

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sich darin verliert, da er sein eigenes Sein nur als »Fehlen-zu-sein« verstehen kann und dieser Mangel sich eben stets mit dem Begehren des Anderen im radikalen Sinne vermische. 34 Für Lacan ist das Begehren also keineswegs mit einem einfachen vitalen Elan zu verwechseln, sondern es befindet sich jenseits dieses Gefühls eines natürlichen oder dunklen Dranges als »Trieb«, das heißt innerhalb einer singulären Zeitfolge, welche weiterhin als Kette der Signifikanten zu verstehen bleibt. Das Begehren ist streng betrachtet daher auch nicht diese Folge von Bedeutungen selbst, sondern eher die Verortung des Subjekts in Bezug auf diese Folge, worin es sich in der Dimension des Begehrens nach dem Anderen widerspiegelt. Mithin gibt es auch für Lacan in seinen späteren Analysen nach der anfänglichen Untersuchung zum Spiegelstadium kein anderes Zeichen für die Gegebenheit des Subjekts als die Aufhebung desselben. Die Geburt des Subjekts ist ganz offensichtlich identisch mit seinem Verschwinden hinter einem Signifikanten, der zugleich als Verlust im Sinne einer nie wieder geschlossenen Wunde empfunden werde. Denn die Einschreibung in die Andersheit im absoluten Sinne von »groß A« ist zweifach unstabil, da es einerseits keinen Signifikanten für das Andere des Anderen gibt und dadurch wiederum auch keine Garantie für die Wahrheit der Folge der Signifikanten selbst besteht – es sei denn nur, um an den »guten Willen« des Anderen zu glauben. In der nicht zu verdoppelnden Andersheit des Anderen erblickt Lacan daher gleichzeitig das große Geheimnis wie den Wert der (Neo-)Psychoanalyse, nämlich als jener Problematik des Begehrens, welche die Philosophie auf fast neurotische Weise umgangen habe. Denn anstatt das philosophische Subjekt mit dem Selbstbewusstsein als »Ich denke« zusammenfallen zu lassen, unterwerfe die Psychoanalyse die scheinbar unmittelbar aufgefundene Evidenz des Selbst einem Zweifel, indem es keineswegs so sicher sei, dass »ich bin«, sofern »ich denke«, da Denken stets das Existieren im »Schnitt« der Bedeutungskette beinhalte. 35 Das traditionelle Subjekt der PhilosoVgl. J. Lacan, Le Séminaire VI: Le désir et son interprétation (2013); 18 ff.; Écrits (1966), 666. 35 Zwar übernimmt Lacan hierbei den Differenzgedanken von Ferdinand de Saussure als interne Unterscheidung im Sprachsystem, ohne aber die Referenz auf die Realität in den Bedeutungen zu berücksichtigen, weshalb er auch nicht an letzten fixen Elementen wie etwa den Lauten festhält. Da das Unbewusste sich jeder wissenschaftlichen (auch strukturalistischen) Zugänglichkeit entziehe, muss das Unbewusste gerade ein »Anderswo des Sprechens« im Sinne eines ständigen, nicht in irgendwelchen 34

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phie würde in der Tat nicht nur in einer solchen Bedeutungskette seine eigene – unmögliche – Subjektivierung vollziehen, sondern es wäre in seinem »Ich bin« auch zur unendlichen Wiederholung des Denkens gezwungen, um im Denken seiner selbst ein sum bleiben zu können. Wie bekannt, führt Lacan hier eine Unterscheidung zwischen dem Subjekt der Aussage und dem Subjekt des Ausgesagten (énonciation/énoncé) ein, wodurch sich das Subjekt stets als Anfrage artikuliere: »Ist es – dieses Subjekt?« Das heißt, bin ich der, der ich mich denke? Dass diese Frage im Anderen schlechthin keine Antwort zu finden vermag, entspricht nicht nur der Unmöglichkeit, die Andersheit des Anderen in einer weiteren Vorstellung oder Bedeutung zu verdoppeln, sondern besagt zugleich in der Aufdeckung einer illusionären Selbsttransparenz des Cogito den schon früher genannten Hinweis auf die eigentlichere Wahrheit des Subjekts als eines »Es« oder »Unbewussten«. Dies bedeutet aber für Lacan eben keine neue Metaphysik einer tieferen Einheit oder Ursprünglichkeit des Subjekts, sondern jene Opazität des Signifikanten, die für immer das Sagen (Dire) vom Gesagten (Dit) trennt und daher die (Neo-)Psychoanalyse zu einem uneinholbaren Sprechen zwischen Patient und Analytiker mache, ohne auf ein bestimmtes »Etwas« im Sinne einer »Störung« etwa abzuheben, die über die Deutung benennbar wäre. 36 Oder wie Lacan auch sagt, führt das Gleiten des Bewusstseins zwischen dem Ich und seinem angeblich transparenten Selbst zur Verdeckung der Verwechslung gerade dieses Selbst, welche schon Hegel in seiner »Phänomenologie des Geistes« so deutlich als Irrtum aufgewiesen habe. 37 In diesem Mangel, der mit der irrtümlichen, weil imaginären Selbstbezeichnung des Subjekts entsteht und durch die Anfrage oder Bitte an den Anderen ausgeglichen werden soll, lässt das Subjekt etwas aufkommen, was Lacan eben das »Objekt klein a« nennt Elementen abschließbaren Sprachbezugs zwischen Selbst und Anderem beibehalten, wodurch Objekt und Sein in jedem Diskurs für immer voneinander geschieden bleiben – wofür nach Freud gerade das Symptom einstehe. Vgl. H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott (1983), 51–66, zur weiteren Darstellung dieser Implikationen von Sprache/Unbewusstem. 36 Zur Situation der Psychoanalyse Freuds in den verschiedenen Stellungnahmen Lacans zu dieser Frage vgl. schon J.-M. Palmier, Lacan (1972), 67 ff. u. 103 ff., sowie in Bezug auf die neu gegründete »École française de psychanalyse« durch Lacan: S. Lippi, Transgressions (2008), 225–231: »Transgresions à l’»Église« u. 232–238: »Contre une psychanalyse »incestueuse«. 37 Vgl. Écrits (1966), 809 f.

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Begehren und Phantasma

(objet a). Es ist das Objekt des Phantasmas 38 als Träger des Begehrens und damit auch des Subjekts, insofern letzteres durch den fehlenden Signifikanten durchgestrichen ist, was Lacan auch als »fading in der Trennung der Anfrage« bezeichnet. Das Objekt des Begehrens ereignet sich mithin in der Ek-sistenz, um diese zu stützen, aber das Subjekt ist mit diesem Objekt insofern als einem Versagen oder Mangel konfrontiert, als es keineswegs das Begehren des Begehrens als solchem ist. Denn das Begehren hat kein anderes Objekt als das Aufrechterhalten einer Dimension jenseits aller Dinge, was genau das »Objekt klein a« als Phantasma ausmacht. Dabei wird »a« als ein reales Element des Subjekts betrachtet, da es ausreicht, jene jenseitige Dimension in jeder Erfahrung beizubehalten, durch welche das Sein stets von dem verschieden ist, was sich als Objekt der Befriedigung einstelle. Als »Rest« lässt folglich das »Objekt klein a« das Sein als verlorenes Sein übrig, so dass sich das Subjekt in das absolut Andere mittels der Anfrage (demande) als Rede einschreibt, um angesichts der Furcht vor dem möglichen Verlust seines Begehrens ein Supplement des fehlenden Signifikanten in sich durch den Anderen zu finden. Das »Objekt klein a« ist mit anderen Worten ein Bild, insofern die Widerspiegelung im Anderen das Subjekt selbst als sprechendes Subjekt ist. Auf der imaginären Ebene gewinnt also etwas als Bild des Subjekts eine Geltung, indem dieses Etwas als Objekt des Begehrens durch einen besonderen Signifikanten gekennzeichnet ist, welcher zugleich das Verbot (interdit) darstellt. 39 Für Lacan ist das Wirkliche seiner grundsätzlichen Bestimmung nach ohne Mangel, also Fülle, wie wir schon sahen; aber in der symbolischen Ordnung mangelt es dem Subjekt gerade an dem Objekt, was als Objekt des Begehrens niemals irgendeine Lust oder Freude (jouissance) kennt. Da dieses Objekt ohne möglichen Erfüllungsgehalt als solches das Verbotene ist, trägt das Subjekt in die Fülle des Wirklichen die reine Aktion des Signifikanten als Träger der Rede hinein, das heißt eine »Nichtung« als Bild des abwesenden Phallus, was Lacan auch mit dem Zeichen minus-phi (- φ) versieht. Damit wird das Verhältnis des Verhältnisses zum Logos gekennzeichnet, 38 Es findet sich im Französischen sowohl die Schreibweise phantasme wie fantasme, wobei erstere eher die unbewussten imaginären Produktionen bezeichnet, die zweite bewusste Produktionen, wie etwa auch bei Melanie Klein; vgl. J.-M. Palmier, Lacan (1972), 32 Anm. 29. 39 Vgl. S. Lippi, Trangressions (2008), 182 ff., sowie die einzelnen Seminarsitzungen in J. Lacan, Le désir et son interprétation (2013).

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mit anderen Worten die schon zuvor erwähnte Kastration, die hier auf der Ebene des Imaginären effektiv vollzogen wird, denn der tiefste Sinn dieser Kastration besteht darin, dass etwas Wirkliches durch den imaginären Bezug die bloße Funktion des Signifikanten erhält. Das Objekt der Kastration ist folglich der Phallus, während das »Objekt klein a« als Wirkung dieser Kastration verbleibt, nämlich als Vermittlung zum Wirklichen, welches der Anfrage widersteht und immer wieder als das »Unerbittliche« denselben Platz einnimmt. Und dies in jener Spalte oder Trennung, worin sich die Rede als das »wesenhafte Skandieren« errichtet. 40 Auf der imaginären Stufe nimmt das »Objekt klein a« die Funktion ein, den Punkt des genannten Bezuges des Subjekts zu seinem reinen Sein als Subjekt zu bezeichnen, um in diesem Verhältnis der Trennung die Synkope des Signifikanten aufzuhalten. Denn der Signifikant vertritt das Subjekt in seinem Verhältnis zur Kastration, mithin zu dem, was es nicht ist, das heißt kein Phallus, da dessen symbolische Kastration denselben als negatives Objekt auszeichnet. Was Lacan das »Fehlen-zu-sein« als Mangel des Phallus für das Subjekt nennt, kann psychoanalytisch auch die tatsächlich psychische Spannung des Subjekts genannt werden – nämlich die »Vorstellungsrepräsentanz« der »Triebregung«. Das »Objekt klein a« als symbolische Privation des Phallus erhält dadurch seinen Platz als »Andersheit, Bild und Pathos«, insofern sich das Subjekt in einer imaginären Andersheit erlebt, mit anderen Worten vor einem Element, welches die Andersheit auf der imaginären Ebene ist. Wenn das »Objekt klein a« als Phantasma auftritt, verschwindet das Subjekt dort, wo »es spricht« und sich als »Ich« artikulieren möchte, von seiner Stellung als Subjekt, insofern es sich als Begehren in diesem Träger des Phantasmas verwirklicht. Diese aphanisis in der Struktur des Phantasmas bedeutet folglich sowohl das durchgestrichene Subjekt (das Symbolische) wie die Spaltung (das Wirkliche) vom Anderen (das Imaginäre). Eine solche Topologie oder Struktur von Symbolischem, Imaginärem und Wirklichem, was letztlich für Lacan identisch ist, impliziert mit anderen Worten die Verdunkelung Da jede Rede als Satz, Abschnitt, Text etc. »punktiert« oder »skandiert« auftritt, leitet sich aus dieser linguistischen Notwendigkeit auch die Praxis lacanscher Therapiesettings ab, Sitzungen auf dem Höhepunkt eines analytischen Moments abrupt abbrechen zu können, damit die Eigenarbeit des Patienten von diesem selber bis zum darauf folgenden Gespräch fortgesetzt werde; vgl. B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik. Eine lacanianische Annäherung für klinische Berufe, Wien/ Berlin, Turia & Kant 2013, 79 ff.

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des Subjekts genau an dem Punkt, wo a das Maximum seiner Geltung erreicht, was einschließt, dass das Phantasma dem Subjekt opak bleibt, und zwar wegen der Opazität des Signifikanten. Denn das »Objekt klein a« tritt auf als das Anzeichen des Begehrens, anders gesagt als sublimierende Funktion einer Abwesenheit, deren »Ist es?« nichts anderes ausdrückt, als dass dort im Sein »es spricht«. Das Ichideal als Schleier, von dem wir schon sprachen, findet sich mithin in seiner Funktion bezüglich der Ausrichtung auf das »Objekt klein a« wieder, welches die Dimension des Darüber-Hinaus des Begehrens beizubehalten erlaubt. Das Subjekt sucht darin »den Schatten des anfänglich verlorenen Lebens«, welcher der »Schatten des Nichts« (rien) ist, insoweit sich der Begriff des Subjekts als sein Wesen/Sein (être) auf ein Nichts (rien) zurückführt, welches das metonymische Objekt herbeiruft. 41 Wir sehen hieran, wie die Dialektik von Anwesenheit/Abwesenheit als apriorisches Differenzdenken sowohl die Struktur der Sprache wie des Subjekts durchwalten soll, um sie letztlich als das Selbe zu verstehen, denn der Signifkant hat für das Subjekt keine andere Rolle, als das Subjekt für einen anderen Signifikanten darzustellen. Alle anderen Signifikanten repräsentieren daher für einen bestimmten Signifikanten das mögliche Subjekt, was aber nichts anderes bedeutet als: Das Subjekt wird durch einen Signifikanten als Nichts (rien) repräsentiert. Diese reine Metonymie eines sprachlich-alteriologischen Verhältnisses des »Einen für das Andere« wird vom Phantasma in seiner Rolle als »Schirm« (écran) undurchsichtig gemacht, da das »Objekt klein a« jenen imaginären Ort ausmacht, wo das Subjekt eine maximale Dichte zu besitzen scheint, welche aber nichts anderes als die Opazität des Signifikanten in Bezug auf das Sein des Subjekts ist. Dieses Objekt a ist wie der Stoff jenes »Ich«, welches anfänglich verdrängt wurde, das heißt in der Aussage des »Ich bin« verschwindet, um immer wieder neu reflexiv-bildhaft vergewissert zu werden, so dass die psychoanalytische Liste dieses Objekts a unendlich ist und etwa als Brustwarze, Phallus oder Harnfluss auftritt, aber auch als Blick oder Stimme nach Lacan, denn in ihrer »Vorstellungsrepräsentanz« ist ihnen gemeinsam, dass sie als Träger einer imaginären Symbolisierung die Struktur der Trennung offenbaren, insofern das SubÉcrits (1966), 682; zur genannten Topologie von Symbolik, Realem und Imaginärem vgl. auch H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott (1983), 116 ff.

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jekt sich mit dieser Trennung über die Wahl von Partialobjekten identifiziert. Partialobjekt besagt hier nicht, dass es sich um Teile eines Ganzen handelt, sondern um etwas Unbenennbares, welches nur im Unbewussten artikuliert zu werden vermag, nämlich als Diskurs des absolut Anderen, welcher das Nichtwissen des Subjekts hinsichtlich seines Begehrens bleibt. Das Rätsel des durchgestrichenen Anderen als die ständige Dialektik von Anwesenheit/Abwesenheit besagt daher in subjektiver Hinsicht, dass das Subjekt als die Andersheit – als seine je eigene imaginäre Andersheit – danach begehrt, seine Signifikanten als die Fülle seines Seins zu erfahren, aber dabei nur auf die Trennung der Opazität sich selbst gegenüber stößt – auf seine Abwesenheit in einer imaginären Anwesenheit. Wie in der Sprache sich die Bedeutungen nur durch ihre jeweilige Differenz voneinander aufheben, um »etwas« zu bedeuten, so ist auch das Objekt a wie eine Spalte oder ein Skandieren im Phantasma, so dass Teile des eigenen Körpers als Begehren dessen aufgefasst werden, was sich dem Begehren im Anderen darbietet. 42 Aber da das Subjekt in seinem Selbstbewusstsein seinerseits nur ein solches Partialobjekt darstellt, durch welches das Subjekt zu sich gelangen will, ist dadurch letztlich nur die hervorbringende Funktion des Unbewussten ausgedrückt. Das Objekt a hebt mithin keineswegs die Unkenntnis hinsichtlich dieses Unbewussten auf, denn was im »Es spricht« begehrt, um vom Anderen als Begehren anerkannt zu werden, ist am Ende der »tote Vater« als »Name-des-Vaters«, dessen Autorität als Gesetz im Erkennenwollen dessen, ob ich will, was begehrt wird, die Grundfrage meines Lebens als wanted oder unwanted in Bezug auf meine Geburt im Leben wiederholt. Das Begehren aber nicht zu wollen, errichtet den Phallus als Signifikanten, um diese an das Gesetz zu binden. In diesem Bereich der Illusion hat das Subjekt den Preis für sein Begehren zu zahlen, weshalb nach Lacan die Psychoanalyse eine Revision der Ethik fordern muss, sofern letztere als die Suche des Menschen nach dem Glück angesehen wird, aber wie Freud bereits aufzeigte, gewinnt die Wahrheit dieses Gesetzes ihre Berechtigung nur durch das Verbot. 43 »Das Ding« nimmt daher die Mitte der menschlichen Erfahrung Vgl. Écrits (1966), 814 ff. Vgl. J. Lacan, Le Séminaire VII: L’éthique de la psychanalyse 1959–1960, Paris, Seuil 1986 (dt. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Quadriga 1995). 42 43

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und Aktivität ein. Als ein stets Anderes scheint der Mensch dieses »Ding« mit seinem unsichtbaren Gesetz überall wieder zu finden, meist mit Bedauern, so dass dieselbe schon genannte Dialektik von Anwesenheit/Abwesenheit sich erneut auftut, nämlich hier als Verlust/Wiederfinden des »Dings« als Objekt. Das »Lustprinzip« aus Freuds Theorie ist nicht so sehr, was sich diesem Ding entgegensetzt, sondern vielmehr verhindert, es zu erreichen, weil es dieses Ding in einer gewissen Entfernung hält, die zugleich Nähe ist, so wie Freud diesbezüglich ebenfalls vom »Nebenmenschen« schreibt. Dass der Andere als Nächster (autrui) zugleich der am meisten Fremde zu sein vermag, weil er uns entgeht, übersetzt die lacansche Bedeutung von La Chose, da sie sich als ausgeschlossenes »Ding« in einer innersten Außenheit befindet, welche als verlorenes Objekt durch die Bindung an das »Befriedigungserlebnis« die Intervention des »Nebenmenschen« impliziert. Dieser entspricht genau der ersten Wirklichkeitsauffassung, da sie im »Neben« die Trennung wie die Identität oder Ähnlichkeit zugleich anzeigt. Als anderes Subjekt ist allerdings der Nächste/Andere als »Nebenmensch« imaginär, da alle Attributionsurteile von subjektiven Eigenschaften in das subjektive Feld der Vorstellungen eintreten, welche die Assoziation gemäß dem »Lustprinzip« in Gang setzen. In solchem Zusammenhang muss »das Ding« weniger als das »Neben« letztlich gesehen werden (auch wenn es sich über den »Nebenmenschen« ankündigt), denn als das »Fremde«, weil es als isoliertes Element am Anfang keine Intuition davon seitens des Subjekts zulässt. Daher kann Lacan sagen, »das Ding« als das Fremde drücke die »ursprüngliche Teilung der Wirklichkeitserfahrung« aus, was insofern dennoch wiederum der Erfahrung des Nebenmenschen entspricht, als dieser im Sinne des imaginär Anderen des »Befriedigungserlebnisses« spricht, das heißt gerade nicht als eine Identität mit mir vereinbar ist. Die Macht des Anderen als Sprechender kennzeichnet das Subjekt als das absolut Andere des Subjekts, so dass das Subjekt wieder zu finden bleibe, aber gerade dies erlaubt das »Befriedigungslerlebnis« nicht, da »das Ding«, welches gesucht wird, von Anfang an in ein erstes Außen verlegt wurde. Mit anderen Worten ist »das Ding« aus dem Verhältnis von Subjekt/Signifikant ausgeschlossen, wodurch der Einfluss des Signifikanten auf das psychisch Wirkliche in Frage steht, denn das Subjekt versucht durch den immer wieder verschwindenden Signifikanten zu verstehen, wer es ist – genauer gesagt, was es für den Anderen (gewesen) ist. Aufgrund solch struktureller oder sich immer neu wiederholender Abwe239 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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senheit ist »das Ding« außerhalb des Bezeichneten (hors-signifié), und in seinem pathischen Bezug zu sich selbst bewahrt das Subjekt die dadurch gegebene Distanz zu sich selbst, nämlich in einem primären Affekt, welcher jeder Verdinglichung voraus liegt, da es sich um ein Nicht-Wissen handelt. 44 Am Ende jeder »spezifischen Aktion« als »Mittel zur Reproduktion der Lust« findet sich daher »das Ding« als X der Bedeutung des Begehrens des Anderen, welches das Subjekt wieder findet, und zwar anstelle der Befriedigung ist es die Wiederkehr eines Zeichens durch die Rede des Anderen, die das gesamte symbolische System impliziert und dem wieder gefundenen Objekt entspricht. Daraus folgert Lacan, dass das »Lustprinzip« nichts anderes aufsuchen ließe als die Herrschaft des Signifikanten, welcher der Sinn selbst des Glücks sei, sofern der traditionelle Sinn des Glücks die Begegnung bezeichnet. Die »spezifische Aktion der Lustbefriedigung« enthält daher nicht nur den Sachverhalt, dass ihr immer etwas fehlt, sondern die aufgesuchte Lust prinzipiell die Wiederholung beinhaltet, wodurch stets eine Differenz innerhalb des gesuchten/gefundenen Objekts gegeben bleibt. Und wenn jedes Sagen als reine Aktion des Signifikanten auftritt, da kein Signifkant jemals als Gesagtes erfüllt, was es verspricht, dann enthält jeder Diskurs als Sagen (dire) auch das Verbieten (inter-dire). In diesem Inter als Intervall oder Schnitt ruht das Objekt des Mangels, des Begehrens als »das Ding« einer Lust, welche nie gesagt, sondern unter-sagt, verboten werden kann. Die Lust (jouissance) spricht daher zwischen den Zeilen des Gesetzes, wie das Inzestverbot zeigt, da die Mutter als verbotenes Objekt den Platz »des Dings« besetzt hält und so als Grundlegung des Gesetzes verstanden werden kann. Wenn Freud als Korrelation des Triebs das inzestuöse Begehren freigelegt hat, dann hat er damit nach Lacan das grundlegendste Gesetz vom Begehren überhaupt aufgezeigt. 45 Das Gesetz als Ver-bot (inter-diction) versagt daher dem Subjekt die Lust nicht als solche, sondern macht aus einer fast natürlichen Schranke ein durchgestrichenes Subjekt, insofern das Vergnügen (plaisir) der Lust Grenzen setzt. Als verbotene Lust nennt sich das Begehren »unbefriedigt« bzw. Begehren von etwas Anderem, das in der Struktur des »Lustprinzips« und dessen Signifikantenabhängigkeit als solcher gegeben ist. So vermag das Verlangen nach der Mutter 44 45

Vgl. ebd., 64 f., 68, 142 u. 161. Vgl. ebd., 82.

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nicht befriedigt zu werden, weil es als Begehren die tiefste unbewusste Struktur des Menschen selbst ist, nämlich als immer wieder zu suchendes und nicht zu erreichendes Ziel, was als das Gesetz des Verbots des Inzestes bezeichnet werden kann. Dieses unbewusste Verhältnis mit »dem Ding« sagt daher aus, dass das Begehren kein anderes Verhältnis mit diesem hat als dieses verbotene Verhältnis, denn dadurch wird die Beständigkeit des Subjekts als Träger des Wortes oder der Rede garantiert. »Das Ding« im Herzen der subjektiven Aktivität stellt damit jene »verborgene Einheit« da, um die herum sich die ganze Bewegung der Vorstellung organisiert und moduliert, welche als »Vorstellungsrepräsentanz« die ersten Bündelungen der psychischen Organisation vornimmt, das heißt als das grundlegende Funktionieren der Signifikantenkette. Lacan unterschied dabei diese »psychische Materie« von der Affektivität, da es nicht die Affekte wären, welche jenes ökonomische oder dynamische Wesen benennen, das an der Grenze des analytischen Horizontes gesucht wird. 46 Die Affekte sind für Lacan also eher als bloßes »Signal« einzuordnen, während das energetisch dunkle Feld »des Dings« nicht nur das Subjekt innerhalb der intersubjektiven Vermittlung des Signifikanten bezeichnet, sondern jenes Feld des Lustprinzips, welches jenseits des Lustprinzips ist, das heißt den Trieb als Todestrieb. Obwohl »das Ding« mithin nicht das Gute ist, kann es in Verbindung mit der Vorstellungsrepräsentanz das Wohl im kantischen Sinne herbeiführen. »Das Ding« als Quelle allen Wohls auf der Ebene des Lustprinzips ist in sich keinerlei Gutes, da es sich im Bereich der unbewussten Erfahrung auch bereits als das gibt, was das böse Objekt ist, nämlich als Gesetz launenhafter Willkür von Zeichen, wo das Subjekt durch keinerlei »Sicherung« garantiert ist, um noch einen weiteren kantischen Ausdruck bei Lacan zu gebrauchen. Als Höchstes Gut tritt »das Ding« am Horizont transzendenter Güter als Trugbild wie eine Fata Morgana auf, worauf sich das Begehren seinem strukturellen Wesen nach bezieht. Aber das Höchste Gut im Sinne Freuds bleibt die Mutter als Inzestobjekt, das heißt etwas Verbotenes, welches die Grundlage des moralischen Gebotes überhaupt abgibt. Die Moral bezieht sich folglich auf ein verlorenes Gut, welches ein solches bleibt, denn das Böse als sein Gegenteil bezieht sich nach Lacan ebenfalls auf nichts anderes, mit anderen Worten auf »das Ding«, welches als verbotenes das Böse ist. Das Gesetz hat daher kein anderes Gut zum 46

Vgl. ebd., 65, 72 u. 77.

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Gegenstand als das, was nicht das Gute ist, denn dieses stellt sich – über das Wohl als Lustprinzip hinaus – gegen jedes Objekt. An dieser Stelle trifft sich Lacan zutiefst mit Kant, der das moralische Urteil von jedem Objekt befreit hat, indem er es von jedem Gefühl oder Interesse für die Erfüllung des Gebotes befreite, um ein ethisches Feld als solches zur Geltung zu bringen. Das heißt, dass das moralische Gesetz durch die symbolische Struktur das Wirkliche zum eigentlichen Gewicht macht, »sich vergegenwärtigt« – und sich so gegen das Vergnügen wendet, wodurch das Wirkliche zur Garantie für »das Ding« zu werden vermag. 47 Was Kant als »pathologisches« Interesse im Zusammenhang mit dem moralischen Gesetz bezeichnet hat, ist dementsprechend all das, was das Subjekt für ein Objekt erleiden kann. Dieses »pathologische Objekt« verbindet sich in der Sichtweise Lacans mit dem Begriff des »imaginären Ich«, weshalb die Artikulierung eines moralischen Gesetzes im Sinne einer Befreiung nichts mit der traditionellen Moral zu tun haben kann, da diese auf der Voraussetzung des Möglichen eines entsprechenden Handelns beruht, das zu tun sei. Letztlich entwickelt sich die traditionelle Moral in diesem Möglichen als einem Verhältnis zum Unmöglichen, nämlich als ein »Du sollst!«, welches im Prinzip durch nichts bedingt ist – es sei denn eben durch jenes Objekt als »das Ding«, welches das Unmögliche selbst ist. Was sich mithin diesem »Ding« schließlich substituiert (und zwar als sein Gegenteil wie sein Identisches), ist die Wirklichkeit als Befehl und Ordnung. Mit Kant gesprochen wäre »das Ding« infolgedessen das reine Gewebe des Signifikanten als die reine Maxime, welche all ihrer Bezüge zum Individuum beraubt ist. Dass sie mit dem »Guten« als Regel dann übereinfällt, heißt eine Distanz beibehalten, da das moralische Gesetz von allem zu befreien ist, was nicht »un-bedingt« wäre. 48 Diese Anerkennung Kants hinsichtlich des reinen oder kategorischen Imperativs ist aber zugleich auch die Grenze Kants, um ihn auf eine Stufe mit Sade stellen zu können, denn wenn Sade den einleitenden Schritt betreffs radikaler Subversion in der Moral vornimmt, so ist Kant bereits jener Punkt, um den herum sie kreist. Kant hat in der Tat die Funktion »des Dings« als jenes Feld gesehen, in dem sich das Gesetz errichtet, ohne diese Sichtweise jedoch zu Ende zu führen, 47 48

Vgl. ebd., 363 f., außerdem 28, 85 f. u. 92. Vgl. ebd., 68.

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weil die Definition Kants jene wichtige Stelle leer lässt, wo die Existenz »des Dings« im Schoß des Wirklichen auszumachen wäre – nämlich am Ort des Begehrens. Deshalb substituiert sich dem »Du sollst!« im Sinne des kantischen Imperativs nur allzu leicht das Phantasma der Lust bei Sade als Imperativ, auch wenn dieses Phantasma als solches fast illusorisch ist. Aber nichtsdestoweniger kann es wie ein universales Gesetz auftreten, insofern seine Maxime lautet: »Ich habe das Recht, deinen Körper lustvoll zu genießen, und dieses Recht werde ich ohne irgendeine Grenze ausüben, ohne in der Laune meiner Leidenschaft innezuhalten.« War es bei Kant eine innere Stimme, die das Gesetz erlässt, so ist es bei Sade die Aussage eines Anderen; aber diese Zweipoligkeit zwischen dem Machtausübenden und dem Opfer ist in den Augen Lacans nichts anderes wiederum als die Spalte des Subjekts im Sinne der Trennung zwischen Aussage und Ausgesagtem auf der Sprach- und Bedeutungsebene. Hierin ist Sades Maxime – strukturell gesehen – sogar ehrlicher als der Anruf einer Stimme aus dem Inneren heraus, denn als Maxime aus dem Mund des Anderen lässt sie diese Trennung im Subjekt klar erblicken. Diese Wahrheit ist in Kants »Kritik der praktischen Vernunft« verschleiert, aber wenn wirklich jedes Gefühl aus dem moralischen Gesetz verbannt ist, dann ist schließlich eine sadistische Welt verstehbar, auch wenn es sich um die Karikatur einer radikalen Ethik handelt. 49 Es bleibt mithin weiter zu verfolgen, woran im Verhältnis zum »Ding« die Ethik scheitert, auch gerade als Ethik des Triebes, der Lust und des Erotischen. Aus dem zuvor Gesagten geht hervor, dass ohne Ver-bot (inter-dit) des Gesetzes das Subjekt betreffs seines Begehrens nicht weiß, dass es immer auch »das Ding« seines Nächsten begehrt. Somit ist das begehrte »Ding«, welches in sich indifferent ist, durch die Rede in einem verbotenen Verhältnis begründet – nicht in einer »Intimität«, sondern in einer »Extimität«, wie Lacan schreibt. Da »Ding« und Gesetz korrelativ sind, befindet sich das Begehren mit dem Gesetz in einem dialektischen Verhältnis, wodurch zugleich das Begehren wiederum zu einem »Todesbegehren« wird. 50 Wie der Apostel Paulus schon in seinem Römerbrief festgehalten hat, nimmt die Sünde (welche Mangel und nicht Teilhabe am »Ding« nach Lacan bedeutet) überhand, und dieses Paradox kennzeichnet den Misserfolg der Ethik, welche »das Ding« unter ein Ver-bot stellt. Die Menschheit 49 50

Vgl. Écrits (1966), 768 ff. Vgl. L’éthique de la psychanalyse (1986), 100 f.

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hat daher dieses Gesetz übertreten und eine Erotik für das Verhältnis von Begehren und Transgression eingeführt, welche dem zuvor schon erwähnten »Objekt klein a« entspricht. Kant hat dies signalisiert, weshalb er gezwungen war, auf das »Ding an sich« (la Chose-en-soi) zu verweisen, welches aus der Unverfügbarkeit heraustretend – wie bei Sade – zu einem Dasein wird, das uns hin und her wirft, martert: »Leihen Sie mir einen Teil Ihres Körpers, der mich einen Augenblick befriedigen kann, und genießen Sie, wenn es denn gefällt, einen Teil des meinigen, der Ihnen angenehm sein kann.« Diese Weise des Auftretens des Objekts gilt als Perversion, da das Subjekt sich selbst zum Mittel der Lust des Anderen macht, indem es ihm das »Objekt klein a« seines Phantasmas substituiert und so seinen Körper zerstückelt, wie es dem Zustand vor dem »Spiegelstadium« entsprach, aus dem heraus sich die imaginäre Ich- und Objektstruktur entwickelt. Vergleicht man diesbezüglich die zwei möglichen Formen der Transgression, das heißt Sublimierung und Perversion, dann handelt es sich beides Mal um eine Art Köder, indem das »Objekt klein a« als imaginäres Element des Phantasmas eben als das angesehen wird, was »das Ding« wäre, welches aber unzugängliche Lust, unmögliches Begehren bleibt. 51 Dieser Sachverhalt entspricht der Leere als Ort des »Dings« innerhalb des Wirklichen, denn in der Vorstellung ist diese Leere in der Tat nichts (nihil). Deshalb wurde von uns schon festgehalten, dass die Vorstellung stets in einem Zusammenhang eines unbewussten Systems von »Vorstellungsrepräsentanzen« gefangen ist, welche den Zugang zur Lust (jouissance) durchstreichen, insofern sie an das Lustprinzip gebunden bleiben. Das »Realitätsprinzip« bildet dazu die »dialektische Korrelation« wiederum, insoweit wir »Wirkliches mit Vergnügen (plaisir) erstellen«. Lacan kritisiert hier nicht die hedonistische Tradition als solche, weil sie die positiven Wirkungen des Vergnügens unterstrichen habe, sondern weil sie nicht sagt, worin das Gute eigentlich bestehe – und uns so von unserer Lust/ Freude im Sinne der jouissance fernhalte. Denn das Lustprinzip bildet begrifflich ein »Jenseitiges«, um uns darunter zu halten, während genau dieses genannte Jenseitige nichts anderes als das Feld »des Dings« ist, welches sich allerdings mit dem Todestrieb vermischt, wie wir bereits wissen. 52 Aber warum ziehen wir nach Lacan in unserem Dasein den Tod 51 52

Vgl. S. Lippi, Transgressions (2008), 95 ff. u. 239 ff. Vgl. L’éthique de la psychanalyse (1986), 119, 124, 146 u. 218.

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vor? Der »Todestrieb« erscheint destruktiv, aber er ist in den Augen Lacans nur wie ein Vorspiel zu einem »kreativen« Tun, nämlich als creatio ex nihilo. Alles, was existiert, wird vom Todes- als Destruktionstrieb in Frage gestellt, was für das System des Signifikanten heißt, dass von dessen Funktion her alles in Frage gestellt werden kann. Da der Signifikant nur in Gestalt des Schnitts oder der Trennung, mithin der Distanz oder Differenz existiert, aber nicht an sich, wie mit Verweis auf das strukturalistische Sprachverständnis immer wieder zu betonen bleibt, berührt das Subjekt in Bezug auf diese Signifikantenkette die Grundwahrheit, dass es darin als solches nicht vorkommt. Deshalb ergibt sich der Todestrieb aus diesem Verhältnis zwischen Subjekt und Signifikant, insofern das Subjekt im Signifikanten die Bedeutung seiner selbst als Fehlen, Destruktion oder Tod berührt, wodurch jeder »Partialtrieb« im Sinne Freuds virtuell einen »Todestrieb« darstellt. Anders gesagt »tötet der Buchstabe«, wie es bereits in der Bibel heißt, aber wir lernen diese Wahrheit nur vom Buchstaben selber, dass es sich mit jedem Trieb tatsächlich so verhält. Hervorbringung ex nihilo ist daraufhin jede Tätigkeit als Todestrieb in dem Maße, wie stets »etwas Anderes« begehrt wird und deshalb das Begehren immer wieder neu ansteht, weshalb in solchem Tun Zerstörung und Schöpfung zusammenfallen, nämlich als Nichts (rien) des Subjekts, dessen Sein oder Wesen nie für sich in einem ursprünglichen oder substantiellen Sinne existiert, sondern immer nur im Begehren des Anderen. Das heißt als »Zwischen« der Begegnung und der Rede, die sich beide nie zu einer endgültigen Identität schließen können, weshalb sich in Bezug auf Lacans neo-psychoanalytische Theorie und Praxis der Therapie auch von einer »Erfahrung des Realen als Erfahrung des Unbewussten im Zerfall der verfehlten Begegnung« sprechen lässt – verfehlt in dem Sinne, dass sie eben nie zustande kommt. 53 Lacan nennt nun diesen Zusammenhang von Hervorbringung/ Todestrieb auch eine »kreationistische Sublimierung«, weil dadurch ein Objekt zur Würde »des Dings« erhoben werden kann. Indem in der Tat jedes Ding in seiner Leere ergriffen zu werden vermag, das heißt ohne irgendeine wirkliche Substanz, ist es möglich, es vollständig zu depersonalisieren, um ihm den Sinn eines reinen Signifikanten zu geben, was für Lacans Wirklichkeitsverständnis impliziert, dass es 53 H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott (1983), 125 ff., sowie J. Lacan, L’éthique de la psychanalyse (1986), 251 f.

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Realität nicht vor der Sprache gibt, sondern von dieser nur als Wirkliches bezeichnet wird, etwa als wahr und falsch, um dadurch erfahrbar zu werden. 54 In diesem Sinne tritt die Sublimierung als der Symbolisierungsvorgang eines Objekts selbst auf, aus dem ein Signifikant wird, aber wir sehen jetzt noch deutlicher, dass sich dieser Vorgang als creatio ex nihilo von einem »Loch« aus vollzieht, nämlich vom »Ding« als leerem Bild aus, wobei dann das »Objekt klein a« als »Repräsentant der Vorstellung« fungiert. »Das Ding« bleibt daher unbewusst, so dass alle vom Menschen geschaffenen Formen der Ordnung der Sublimierung angehören, um auf eine bestimmte Weise die nicht verstehbare Leere »des Dings« durch die »Objekte klein a« zu repräsentieren. Wir entdecken hier das von Hegel entlehnte Schema der Dialektik von Gegenwärtigung/Verschwinden in der Bewusstseinserfahrung wieder, wobei jedoch im neo-psychoanalytischen Kontext Lacans die Sublimierung im ausgeführten Sinne nicht nur der imaginären Funktion des Phantasmas zugeordnet wird, sondern in ihrer aktiven Bewegung nunmehr auch den Trieben im Plural. 55 Wenn Lacan »Trieb« auch mit dérive (Abtrift) in Anlehnung an den englischen Begriff drive übersetzen möchte, dann ist damit sowohl der Trieb in seiner Tatsache als »Schatz der Signifikanten« bezeichnet wie als das Verschwinden des Subjekts, wenn Anfrage und Signifikant zusammentreffen. Da der Trieb in dieser Bedeutung nicht weit vom Feld »des Dings« entfernt ist, versteht Lacan ihn auch als ursprünglich von jedem Ziel abgewandt. Was sich vom »Ding« offenbart, ist mit anderen Worten der Ort der Triebe, wodurch zugleich deutlich gemacht wird, dass bei der Befriedigung der Triebe Verdrängung/Wiederkehr des Verdrängten immer zusammenspielen, und zwar als reines Spiel des Signifikanten im Sinne sich substituierender Bedeutungen für die gewöhnliche Befriedigung. Hingegen befriedigt die Sublimierung auf andere direkte Weise, ohne Rückkehr des Verdrängten und der Verdrängung, da letztere mit der Wiederkehr des Verdrängten identisch ist. Denn der Begriff der Sublimierung enthält die Idee einer Veränderung, welche allerdings nicht im Ziel besteht, wie man nach Freuds Hinweisen glauben möchte, sondern im Objekt, das heißt als Befriedigung der Tendenz in der Veränderung ihres Objekts. Es handelt sich in dieser Veränderung ohne Vgl. H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott (1983), 132 ff. 55 Vgl. L’éthique de la psychanalyse (1986), 87, 133, 157 u. 169. 54

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Begehren und Phantasma

Verdrängung nicht um ein neues Objekt, sondern um die Veränderung des Objekts in diesem selbst. Dieses Objekt ist der Trieb oder die Libido, welche im Spiel des Signifikanten als grundsätzlich entfremdet von Lacan verstanden werden. Es ist ebenfalls das Begehren als Metonymie, sofern darin ein Ausschluss und ein unaufhörliches Gleiten innerhalb der Signifikantenkette stattfinden; gleichzeitig ist es das Objekt des Phantasmas, welches sich abtrennt und fallen gelassen wird. Die Veränderung des Objekts innerhalb der Sublimierung ohne Entfremdung durch die Verdrängung des vom Signifikantenspiel geprägten Triebes ist mithin ein impliziter oder expliziter Übergang vom Nicht-Wissen zum Wissen, anders gesagt die Anerkennung, dass das Begehren nichts anderes ist als die Metonymie des Diskurses der Anfrage an die jeweilige Andersheit. Das »Objekt klein a« enthält diese Anerkennung insofern, als das Ausgesagte des Begehrens den metonymischen Bezug eines Signifikanten zum anderen beinhaltet, woraus für die therapeutische Praxis eine gewisse »Aszese« des »in Zucht genommenen Vergnügens« erwächst, um daraus eine »gelebte Substanz für das Subjekt« hervorbrechen zu lassen, und zwar als reiner Schnitt des Signifikanten, als Todestrieb, Sein oder Begehren ex nihilo 56 . Wenn es für Lacan über die Sublimierung eine gewisse Möglichkeit des Glücks gibt, unser Streben als Tendenz des Begehrens zu erfüllen, dann nur als jener einzige Augenblick, wo sich die Phantasmen hervorbringen. Das einzelne Phantasma selbst gibt uns keinen Zugang zur Lust, zum »Ding«, wie wir sahen, weil die Schranke hierzu das Phantasma selbst als Prinzip des Vergnügens ist. Das Gute hält uns in seiner gewöhnlichen Funktion von der Lust fern, da es uns das Trugbild eines Jenseitigen vorspiegelt, wohinein Lust wie Freude projiziert werden. Nur durch das Andere zugänglich, haben wir weder durch irgendeine innere affektive Bewegung noch durch einen intuitiven Weg nach Lacan die geringste Idee vom Guten, während das Schöne hingegen uns nicht täuscht. Denn beim Schönen wohnen wir der Aufhebung des Horizontes des Begehrens bei, und zwar als Zerstörung eines jeglichen Objekts, was an Kants »interessenloses Interesse« erinnert. Das Wahre als »das Ding« wird so vom Schönen angezeigt, obwohl es »das Ding« verbirgt. Mit bekannten biblischen und antiken Metaphern, die sowohl an die Unsichtbarkeit Jahwes im Alten Testament wie an die Ideen bei Platon erinnern, wäre das Wah56

Vgl. ebd., 399 f. u. 181.

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4. Die Neo-Psychoanalyse Lacans

re des Guten nur in seiner blendenden Schönheit zu sehen, welche aber das Sehen selbst gerade verhindert, weil »das Ding« als das Wahre immer nur verborgen gegeben ist. Das Schöne gewinnt damit die Rolle einer äußersten Schranke, um den Zugang zu einem grundsätzlichen Furchterregenden zu verbergen, was nichts anderes besagt, als dem Subjekt vor dem unbenennbaren Feld des radikalen Begehrens Einhalt zu gebieten. Dieses Feld ist die »absolute Zerstörung«, die »Zerstörung über die Verwesung hinaus«, so dass das Schöne diesbezüglich das Begehren einschüchtert, es verbietet, 57 wie Lacan dies an der emblematischen Figur der Antigone in der griechischen Tragödie verdeutlicht. Diese lässt jenseits des Imaginären ein anderes Imaginäres ex nihilo erscheinen, um so durch die kathartische Wirkung des Theaters von jeglicher imaginären Ordnung sowie den Leidenschaften gereinigt zu werden – insbesondere von Mitleid und Furcht. Unter Verwendung von Aristoteles’ Begriff der Katharsis versteht Lacan allerdings ein solch reinigendes Vermögen des Bildes als »zwischen-zwei-Toden«, weil sich der Glanz der Schönheit dieses Bildes wiederum aus der Aufhebung aller Objekte ergibt. Wird in der Tat dieses Bild als Trennung oder Schnitt betrachtet, als Sein des Subjekts, als Todestrieb ex nihilo, dann wird verständlich, dass es sich bei diesem Bild um das reine Begehren handelt, das heißt um das Begehren nach dem Tod als solchem. Dieser ist nicht zunächst der biologische Tod, sondern der nunmehr schon öfters unterstrichene Platz des Begehrens als Verhältnis des Subjekts zu seinem »Fehlen-zu-sein«, was damit auch zu einem Verhältnis des Subjekts zu seinem »zweiten Tod« wird – zu jener Schranke, an der alles vergessen wird. In der Libido (sofern sie ein Trugbild der Befriedigung ist, ein Bild der Abwesenheit jenseits des Feldes des »Dings« als Andersheit) können wir in flüchtigen Augenblicken diese Konfrontation mit dem Jenseitigen der Abwesenheit vergessen, woran der »zweite Tod« erinnert. Dies heißt nochmals nichts anderes, als dass alles Existierende geboren oder entstanden ist und dadurch nur im Mangel an Sein gegeben wird, weshalb der »zweite Tod« noch über den natürlich eingetretenen Tod hinaus gedacht werden kann. Dieser physische Tod vermag nämlich auf sich warten zu lassen, er kann sogar herbeigesehnt werden, was aber dabei verlangt wird, ist eigentlich der »zweite Tod«. Dieser Wunsch ergibt sich ebenfalls bei der Lust als Transgression des Begehrens, da sich eine solche Verwirklichung in ihrem Zielver57

Vgl. ebd., 256 u. 280; Écrits (1966), 776.

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Begehren und Phantasma

langen als Grenze setzt, wo der »zweite Tod« als der letztmögliche auftritt, wie es der mit dem Schönen verbundene Schmerz besonders zeige. Denn das Schöne hat hier nichts mit einem Ideal zu tun, welches mit dem Idealich verbunden werden kann, sondern mit einer »Grimasse«, um vom Mitleid und der Furcht wie in der antiken Theaterkatharsis zu heilen. 58 Die Furcht ist jenes Gefühl, nicht mehr begehren zu können, mithin die aphanisis als mögliches Verschwinden des Begehrens, so dass der Schmerz in existentieller Hinsicht jenes Feld für uns darstellt, wo sich genau die Möglichkeit abzeichnet, sich als subjektives Sein nicht mehr bewegen zu können. Der »versteinerte Schmerz« sei daher der Schmerz zu existieren schlechthin, wobei Subjekt und Begehren weiterhin identisch gedacht werden, nämlich als reines Begehren im Sinne des reinen Seins als unzerstörbares Verhältnis. Mit anderen Worten ist der Schmerz eine stasis, welche das Existierende, das Subjekt, als das bestimmt, was nicht in das Nichts (néant) zurückkehren kann, woraus es hervortrat. Mithin handelt es sich wiederum um eine Schranke, wie sie Sade in seinem Phantasma als ewigen Schmerz auffasste. Der Schmerz ist daher der Signifikant jener Grenze, »wo das Subjekt in seinem Schmerz besteht«, folglich die Grenze des »zweiten Todes«, denn was an dieser Grenze angezeigt wird, ist die Unmöglichkeit für das Sein des Subjekts, sich weiter zu bewegen. Deshalb hat Kant unter den sonst als »pathologisch« verstandenen Gefühlen hinsichtlich einer reinen Ethik den Schmerz davon ausgenommen, da er eine gefühlsmäßige Korrelation zur Moral in ihrer Reinheit abgebe. Sade sah Ähnliches im Prinzip, wenn er zur Erreichung »des Dings« alle Schleusen des Begehrens öffnen wollte, um am Horizont derselben den Schmerz auftreten zu lassen – den des Anderen oder des Subjekts selber. Der Zugang zum »Ding« kann aber auch durch die zuäußerst angestrebte Lust nicht erzwungen werden, da »das Ding« unerreichbar für die Lust bleibt – ebenso wie die Verbindung von Schönheit und Schmerz im imaginären Feld des Phantasmas verbleibt, weil das radikale oder unnennbare Begehren absolute Zerstörung ist: die Leere, das Fehlen, der zweite Tod des Subjekts. 59 Wenn die Lust nun ihrerseits ein Böses ist, dann deshalb, weil sie in sich das »Böse des Anderen« beinhaltet. Lacan stellt hierbei eine 58 59

Vgl. L’éthique de la psychanalyse (1986), 341 u. 345; Écrits (1966), 776. Vgl. L’éthique de la psychanalyse (1986), 304 u. 97.

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4. Die Neo-Psychoanalyse Lacans

Verbindung mit Gott als dem Anderen dar, der nach Nietzsche tot ist, was im strukturalistischen Kontext Lacans heißt, dass er der durchgestrichene Andere ist – der Abwesende. Diese Abwesenheit, und nicht sein Tod, sei für den Eintritt des Bösen in die Welt verantwortlich, denn sie bezeichnet die Abwesenheit seines Signifikanten als letzte Antwort hinsichtlich der Garantie, welche vom absolut Anderen im Sinne jenes Gesetzes ausgedrückt ist, welches im Tiefsten des Unbewussten ruht und mit dem Sinn des Todes identisch ist. Wenn mithin die Problematik des Bösen neu von der Frage der Abwesenheit Gottes her zu stellen ist, welche letztlich das Durchstreichen der Anerkennung durch das radikal Andere bedeutet, dann impliziert dies die Notwendigkeit, dass sich das Subjekt in seinem Bezug zu solcher Andersheit selbst als durchgestrichen wiedererkennt. Dadurch setzt sich das Subjekt zugleich in seinem Verhältnis zum Signifikanten dergestalt, dass das Subjekt nicht wusste, das heißt tot war – nämlich das Subjekt als der schlechthin Andere als Subjekt der Aussage. Dieses unerkennbare oder verborgene Subjekt ist von dem des Ausgesagten verschieden, weil das sich im Sprechen mit sich selbst identifizierende Ich nicht das Selbst ist, wie wir als theoretische Grundvoraussetzung bei Lacan seit dem »Spiegelstadium« zeigten. Das Böse wird mithin aktiv, weil das Subjekt in seinem Verhältnis zum Signifikanten es nicht wusste, und dieses sein Nicht-Wissen bedingt die Illusion eines Jenseitigen der Funktion des Guten in Bezug auf das Begehren. Das Durchbrechen dieser Illusion stellt sich daher als »eine Frage des Wissens« (science) – »eines Wissens des Guten und Bösen«. Indem wir nämlich vom Verbot ausgehen, gelangen wir zunächst zur Erkenntnis des Guten, aber von da aus gelangen wir nur zur Erkenntnis des Bösen in Wirklichkeit, welches nicht die Erkenntnis des Höchsten Gutes ist, sondern des verbotenen Guten. Anders gesagt erreichen wir eher über das Böse als über das Gute die Lust, aber eben nicht als das Höchste Gut, sondern als das verbotene Gute. Lacan stellt folglich seine Frage nach Gut/Böse nicht in Abhängigkeit vom Wert, von dem her die Dinge gewöhnlich axiologisch aufgeteilt werden, sondern mittels des Zugangs hinsichtlich »des Dings«, was besagt: hinsichtlich des Wissens der Lust oder Freude als »dem Ding«. Deshalb ist uns die Lust nicht wegen des Bösen verboten, sondern letztere bleiben uns vielmehr unter-sagt, bevor wir wussten, dass Gott tot war. 60 60

Vgl. ebd., 217 u. 277.

250 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Begehren und Phantasma

Um noch besser zu verstehen, was das Wissen vom Bösen und vom toten Gott als seine Abwesenheit im Signifikanten darstellt, gehen wir des Weiteren von der Bosheit unseres Nächsten aus, welche auch jene Bosheit ist, vor sich selber zurückzuweichen, und die ebenfalls in mir ist. Lacan setzt, dass mir nichts näher sei als das eigene Herz meiner Lust, dem ich mich dennoch kaum zu nähern wage. Denn sobald ich mich ihm nähere, breche jene unergründliche Aggressivität in mir auf, welche ich dann gegen mich selbst wende und anstelle des verschwundenen Gesetzes sich dessen Gewicht auf jene Grenze lege, die es mir verhindere, den Abstand zum »Ding« zu überschreiten. Wenn Lacan hierzu das Gebot aus dem Neuen Testament aufgreift, »meinen Nächsten zu lieben wie mich selbst«, dann würde ich deshalb davor zurückweichen, es zu tun, weil sich am Horizont solcher Liebe etwas zeige, was an einer unerträglichen Grausamkeit teilhabe, insofern die Nächstenliebe in ihrer eigenen Richtung der grausamste Weg sein kann. Das »Selbe« in mir, um den Nächsten zu bezeichnen, ist für ihn zugleich »das Ding« – jenes Innere als Leere, von denen wir nicht wüssten, ob sie mir oder niemandem zugehörten. Es gibt hier folglich eine gewisse Grenze zu überschreiten, und wenn dabei die Leere das Bild der zu entdeckenden »Leere Gottes« bildet, dann besteht die Macht Gottes gerade darin, »in dieser Leere selbst voranzuschreiten«. Auf diese Weise offenbart sich die Richtung auf den Anderen hin als Anerkennung des Nächsten in der »Dimension des Abenteuers«. Sade sprach schon von der Gestalt Gottes als dem »Höchsten Wesen an Bosheit«, und für Lacan gilt in diesem Kontext, dass sich auf einen solchen Gott der Bosheit das ausgesprochene Gesetz als Verbot beziehe. Geschichtlich sei die Frage der Nächstenliebe mit dem Tod Gottes identisch, denn ohne dieses Gebot zu zerstören (durch die Aufbewahrung seiner Zerstörung selbst befinde es sich vielmehr auf einer veränderten Ebene), lautet das einzige Gebot in Zukunft: »Du wirst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!«. Wenn für das Empfinden der Neuzeit auf ideologisch unerträgliche Weise der Gipfel des ethischen Gebots mit diesem Gebot der Nächstenliebe zusammenfalle, dann deshalb, damit sich das menschliche Subjekt in Bezug auf das Begehren selber zu seinem eigenen Nächsten mache. 61 Dennoch führt diese Anerkennung des Gebots der Nächstenliebe als Selbstanerkennung des eigenen Begehrens zur Zerstückelung des Körpers des Nächsten. Eine gewisse Grenze wird in der Nächstenliebe 61

Vgl. ebd., 231 f. u. 92, sowie Le désir et son interprétation (2013), 484 ff.

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4. Die Neo-Psychoanalyse Lacans

überschritten, nämlich jene mit dem Feld des Imaginären identische Grenze. Einerseits werde ich in der Tat durch dieses Gebot in Bezug auf den Anderen zu einem ihm Gleichen und andererseits würde ich dadurch aufhören, bei der Begegnung mit ihm gewisse Etiketten zu verwenden. Die Liebe zum Nächsten ist daher etwas anderes als jene narzisstische Liebe, die leicht mit dem Altruismus verwechselt wird, so wie auch unser Mitleid nur durch das Bild des Anderen vermittelt ist, welches schnell in Aggressivität umschlägt, wenn ich mich im Feld meines Nächsten befinde – nämlich im Feld meiner Lust und meines Vergnügens. Die Identifikation mit dem Anderen als dem »Selben« ist also nicht frei von Grausamkeit, denn ich habe mir ein Bild von mir wie von ihm gebildet, woran ich nur zu gern eben meine Etiketten festhefte. Jenseits von diesem Bild ist demzufolge eine Leere aufzusuchen, welche im Bild des Anderen selbst nicht gesehen wird, da sie über das lustvolle Vergnügen meinerseits hinausliegt. Wie aber ist dieses Jenseitige der Nächstenliebe zu erreichen, welche zugleich das Gesetz des Verhältnisses des menschlichen Subjekts zu sich selbst darstellt, das heißt zu seinem eigenen Begehren als seinem »Nächsten«? Was hierzu benötigt wird, ist ein Verbrechen, um es mit Sade zu sagen, wo wir den zuvor erwähnten Gott als das »Höchste Wesen an Bosheit« handeln sehen. Diese Bosheit versteht sich nicht unbedingt im Sinne der Aggressivität, die damit nichts zu tun hat, weil es sich um eine Übertretung (transgression) handle, welche sich gegen die Gesetze der natürlichen Ordnung zu wenden scheint, wie es nochmals Sade es sich vorstellte. Lacan nennt dies das »geringfügige Phantasma«, da es aus dem ex nihilo erfolge. 62 Mit anderen Worten ist die Triebfeder dieser Bosheit der »Todestrieb« als das Jenseitige des »Lustprinzips«, da es sich als Zerstörung um eine Schöpfung vom Nichts (rien) aus handelt, um jenseits des Imaginären das »Objekt klein a« des Phantasmas als eines anderen Imaginären einzuführen. Wenn Sade illustrieren kann, dass die Lust als Transgression des Begehrens eine Zerstückelung des Körpers des Nächsten zur Folge hätte, so ist dahinter noch ein weiteres Phantasma gegeben, nämlich der »unzerstörbare Charakter des Anderen«. Dieses andere Phantasma steigt aus der Gestalt des Opfers empor, und das Subjekt löst dessen ewiges Leiden von ihm ab, um das Opfer eine »ewige Pein« ertragen zu lassen, von der es als Subjekt im Sinne eines

62

Vgl. L’éthique de la psychanalyse (1986), 238.

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Begehren und Phantasma

unzerstörbaren Trägers durchgestrichen ist – als »der Schmerz zu existieren«. Sades testamentarisch letzter Wunsch, dass von ihm selber und seinem Grab für die Menschen nichts übrig bleibe, kann daher für Lacan nur heißen, dass dieser unsinnige Wunsch einer »ewigen Pein« ausschließlich den Ausdruck des »reinen Begehrens« zu bedeuten vermag: »das Begehren des Todes als solchem«. Das Verbrechen, welches die abstoßende Routine der Natur für Sade durchbrechen sollte, impliziert daraufhin eine äußerste Konsequenz, wonach sich die Auflösung des Subjekts noch verdoppelt, um die zerfallenen Glieder unseres Körpers ihrerseits gänzlich zerstört sein zu lassen, damit sie sich nicht wieder erneut vereinen können. 63 Wiederum handelt es sich hier um die These vom »zweiten Tod« bei Lacan, was zum einen besagt, dass das Subjekt in seinem Verhältnis zum Signifikanten nicht wusste, dass es tot war, und dass die Symbolisierung seines Begehrens im Grunde etwas Unbenennbares darstellt. In dieser Neo-Psychoanalyse eines sprachlich-symbolisch strukturierten Unbewussten steht somit der Tod am Anfang, indem er die Existenz des Menschen als eine Signifikantenkette trägt, weshalb die Subjekte in ihrer Entfremdung eine fundamentale »Hilflosigkeit« an den Tag legen. Nie sind die Menschen als Subjekte wirklich ge-wesen, und ihre Ge-wesenheit als Vergangenheit ist im Grunde eine unvollendete Zukunft, von der sie nicht wissen, was sie dann sein werden, denn stets impliziert die einzelne wie letzte Erfahrung des Menschen, dass sein Selbstverhältnis der Tod für ihn aufgrund der für das Subjekt an keiner Stelle zu schließenden Rede an Andere ist, »von denen keinerlei Hilfe zu erwarten ist«. Der »zweite Tod« kann angesichts dieser Lage, welche die Verzweiflung nährt, nur die Einschreibung des ausgeschlossenen und unbenennbaren Begehrens in den Ort des Symbolischen bedeuten, aber jetzt am Ende der Analyse zu Ethik und Tod als Verneinung im Sinne der Zerstörung des Signifikanten. Die Psychoanalyse als Ethik, von der wir auf den letzten Seiten sprachen, ist folglich die Verwirklichung eines Begehrens im Sinne eines Jüngsten Gerichtes: »Habt ihr gemäß dem Begehren in euch gehandelt?« Nicht unserem Begehren nachzugeben, ohne darauf zu verzichten, weil es in uns wohnt, heißt seine Inanspruchnahme der Dinge als Güter zu durchschauen, welche als Metonymie stets das »etwas Anderes Wollen« einschließen – und damit

63

Vgl. Écrits, 776.

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4. Die Neo-Psychoanalyse Lacans

das Jenseitige einer Illusion, wovon nur ein Tun befreien kann, für welches der Tod des Ödipus als Paradigma erscheint. 64 Das letzte Wort des Ödipus enthält in der Tat einen letzten Wunsch: »Besser nicht sein!« Der Akzent ist hier nach Lacan auf das Nicht (ne pas) zu legen, denn diese Negation entspricht der notwendigen »Spaltung zwischen Aussage und Ausgesagtem«, welche das Hervorbrechen des Subjekts auf der Grundlage des Signifikanten, mithin auf dem Boden eines unbekannten Seins als Wirklichkeit begründet. Soll jedoch die menschliche Existenz gemäß dem vollendeten Tod des Ödipus ihr Ende finden, dann deshalb, weil es kein zufälliger Tod ist, sondern der wirkliche Tod, indem Ödipus selber sein Wesen und Sein (être) streicht. Dieser privilegierte Tod ist daher der »Triumph des Seins-zum-Tode«, aber er bedeutet nicht wie bei Heidegger die letzte irrelative Daseinsmöglichkeit als unsere eigentliche Möglichkeit schlechthin, sondern ein tragisch-komisches Schicksal, welches sich als »Entfremdung« wie als »Entfliehen« bereits am genannten Anfang befindet, der eben kein fester oder ewiger Ursprung sein kann. Vom Anfang unserer Existenz an herrscht ein unaufhörliches Gleiten unter das Ephemere der Signifikanten, wie wir wissen, da wir uns nach Lacan nie am Ort eines möglichen Rendezvous mit uns selbst einfinden. Eine Zustimmung in dieses Gleiten als Gesetz der Signifikanten ohne Halt im »Garn« derselben ist daher nur möglich als der nicht benennbare Tod. Deshalb tritt das Begehren als tragisch auf; es ist Begehren des »zweiten Todes«, insofern sich das Begehren selbst der Ordnung der Welt entzieht und sich als »Sein des Nicht-Seienden« bejaht. Denn das Subjekt vermag niemals ein festzuhaltendes oder definiertes Seiendes zu werden, wenn es durch das Gleiten der Signifikanten als solches bestimmt ist. Daher gibt es auch kein anderes Objekt für das Begehren als jenes, welches man für die Befriedigung des Begehrens zahlt: »ein Pfund des Fleisches« unseres Körpers. Dies ist es, was jeweils den Rang eines bestimmten Signifikanten erhält, um das verschwindende Subjekt, sein fading, am Ort der Symbolisierung zu bezeichnen. 65

64 65

Vgl. L’éthique de la psychanalyse (1986), 351 u. 362. Vgl. ebd., 361 f. u. 353.

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Verlust und Leere des Subjekts

3) Verlust und Leere des Subjekts Wir wissen, dass das Cogito Descartes’ für Lacan keinen absoluten Anfang im radikal phänomenologischen Sinne darstellt, sondern nur ein »subjektives initium« bildet, welches dem Subjekt vorausgeht und als Anker oder Einwurzelung dient, ohne zwischen dem sum und cogito eine ursprüngliche Einheit zu schaffen. Da demzufolge zwischen der Aussage (Selbst) und dem Ausgesagten (Ich) ein nicht zu füllender Abstand für immer gegeben bleibt, ist die einzig denkbare »Einheit« jene »minimale Notion«, welche es erlaubt, dass die Signifikantenkette in all ihren Elementen trägt, um stets dieselbe zu sein. Das Gemeinsame jedes Signifikanten besteht mithin darin, jeweils die »Einzigkeit eines Merkmals« (trait unaire) zu besitzen, um die Identifikation des Selben mit dem Selben zu ermöglichen, das heißt das Wirkliche als Selbigkeit »reiner Differenz«. Diese »distinktive Einheit«, welche nichts mit der kantischen Einheit objektiv bestimmbarer Phänomene zu tun hat, bedeutet nochmals nichts anderes, als dass der Signifikant und die Rede (parole) die Differenz als solche in das Wirkliche einführen, da jeder einzelne Signifikant vom anderen Signifikanten unterschieden ist, wodurch das Subjekt sich jeweils als Ereignis »markieren« kann, ohne durch solche »Identifikation« eine bleibende Einheit als Substanz beanspruchen zu können. Das ergo sum kann daher für Lacan nur jenes »Unbekannte« bedeuten, welches sich retroaktiv als das Signifikat X des »Ich denke« präsentiert, insofern jedes cogito durch die Signifikantenkette vermittelt bleibt. Nicht in radikal ontologischer Hinsicht, sondern nur als Folge einer solchen Signifikantenkette innerhalb ausgesagter Elemente verweist mithin das »Ich denke« auf ein »Ich bin«, das aber nur ein X des gesuchten Subjekts darstellt. Der Anfang oder Ursprung des »Ich denke« bleibt mithin als hervorbringende Identifikation unbekannt, da die »latente Benennung« im Akt der Aussage als Name des Subjekts ausgelassen wird, was für Lacan nichts anderes bedeutet als die Wirklichkeit des Unbewussten im Sinne eines unbekannten Kerns des Subjekts, wie wir schon sahen. 66 »Es spricht« daher im Subjekt, und das Subjekt bildet dessen Träger und Effekt, was einerseits die Wesenhaftigkeit des Begehrens als »Sein« das Subjekts beinhaltet und andererseits dessen stete 66 Vgl. insgesamt auch J. Lacan, Séminaire IX: L’identification (1961–1962), Paris, Éd. Transcription 1960.

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4. Die Neo-Psychoanalyse Lacans

»Flucht nach vorn« als der Ablauf der Signifikanten. Jedes »Objekt klein a«, welches folglich benannt wird, ohne dass das Subjekt in diesem Vorgang um sich – um seinen »Namen« – weiß, ist eine radikale Andersheit, um auf diese Weise das Merkzeichen des je einzigartigen Signifikanten zu wiederholen. Für Lacan ist das Subjekt daher ein »selbsterotisches Felsgestein«, eine »autistische Lust«, wobei sich jedes Mal retroaktiv das »Ich bin« als das X des »Ich denke« im Sinne einer Bedeutung verdoppelt, wodurch das Unbewusste jenes NichtWissen bleibt, welches als Anruf der Leere im Zentrum des Wissens operiert, was gleichfalls für das Subjekt der traditionellen Philosophie nach Lacan gelten soll. Mit diesem Vorurteil eines in sich selbst wissenden Subjekts sei gerade dann auch therapeutisch zu brechen, um zu vermeiden, dass ein solches Wissen mittels der eigenen Vorstellungen vorausgesetzt wird, welches nur das illusorische Andere seiner selbst zu sein vermag. Das wirklich radikal Andere, wie wir zeigten, ist der Signifikant, welcher »buchstäblich« tot ist (das heißt als lettre), da er nicht zu geben vermag, wonach das Subjekt verlangt und daher als permanentes Begehren des Anderen durch die nicht abschließbare Signifikantenkette hindurch zu bestimmen bleibt. Dies setzt radikal phänomenologisch natürlich voraus, dass das Subjekt stets und ausschließlich ein Subjekt des Diskurses ist und es kein anderes Subjekt gibt, welches außerhalb des Feldes der Signifikanten gegeben wäre. Die Subjektivität erwiese sich dadurch mit dem Sinn oder dem Symbolischen identisch, was jedoch seinerseits ein phänomenologisches Vorurteil implizieren dürfte, wie wir auch schon im hermeneutischen Apriori Ricœurs erkannten und was sich auch in der Transzendenzvorgabe von Daseins- und Existenzanalyse wiederholt. Nach diesen Voraussetzungen muss gleichfalls das Unbewusste notwendigerweise ein Nicht-Wissen sein, weil es nicht bedeuten kann oder nicht transparent ist, insofern es kein radikales Lebenswissen impliziert. Was Lacan trotz allem mit Descartes’ Denken beginnen lässt, ist letztlich das Autonomieproblem, denn wenn es zwischen Wahrheit und Wissen keine unmittelbare Entsprechung gibt, dann bleibt nur das Andere als »antinomisches Korrelat«, welches zu befragen ist, indem »zu nichts in nichts« voranzugehen ist, das heißt eine »Gewissheit« ent-schieden werden muss, die nur ein Übergang zu sein vermag. Dies erlaubt im Übrigen zugleich eine Wiedererrichtung der freudschen Psychoanalyse als »Wissenschaft«, insofern das Verdrängte (Descartes’ Cogito) als Symptom (Freuds »andere Wissen256 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Verlust und Leere des Subjekts

schaftlichkeit«) im »zerlöcherten Subjekt« wiederkehre. 67 Diese Wiederkehr der Wissenschaft über die Psychoanalyse ist eine andere Wiederkehr der Wahrheit als die direkte Auseinandersetzung des Subjekts mit der Wahrheit im Sinne Descartes’, welche das Subjekt ihrerseits zerteilt, insofern es eben die Kenntnis des Unbewussten nur anderweitig in einem solchen Kontext zu erwarten vermag. Unabhängig von der ideengeschichtlichen Frage, ob Freud ohne die cartesische Vorgabe des Cogito seine Psychoanalyse überhaupt hätte konzipieren können, 68 gibt es eine wichtige therapeutische Relevanz dieses Verhältnisses für die Praxis, nämlich die notwendige Unterscheidung von Unbewusstem und Symptomen, Träumen, Fehlleistungen etc. im Sinne Freuds. Das Unbewusste hat in der Tat einen Wahrheitseffekt, insofern in der Analyse keine Übersetzung von der Sprache des Unbewussten in eine andere (signitive) Sprache vorgenommen wird, sondern etwa eine »Skandierung« der Sitzung, durch die das Subjekt dann die Arbeit der »Ich-Werdung« aus dem »Es war« des Unbewussten heraus übernehmen kann. Das Subjekt greift hier seine eigene Bestimmung auf, wie wir bereits hervorhoben, um sein eigenes (nie zu Tage tretendes) Cogito zur Gewissheit werden zu lassen, auch wenn dies im lacanschen Sinne immer nur im Sinne der Nachträglichkeit der Signifikanten gelingen soll. Wenden wir uns unter solchen Bedingungen kurz der Bedeutung des Traumas zu, welches nach seiner etymologischen Wurzel auch als »Wunde« bezeichnet werden kann, so stammt letztere von einem unvergessbaren Anderen, nämlich als eine erste Einschreibung in die Wirklichkeit durch eine erste Identifikation im Sinne eines einzigartigen Merkzeichens, wobei der Körper als X eben nochmals vorausliegt, wie auch Lacan anerkennt. Anstatt sich für eine solche Anfangssituation jedoch zu fragen, was es erlaubt, dem Körper in seiner inneren Bewegtheit einen Spiegel vorzuhalten, damit sich überhaupt etwas im Bild davon er-hält, nämlich eine vorauszusetzende originäre Ipseität im radikal phänomenologischen Sinne, geht Lacan – außer von Descartes – zusätzlich vom hegelschen »Begriff« als »Zeit des Objekts« aus: das heißt von einer Hypostasierung der Außenheit. Dadurch wird die Dauer des Sich-Ereignenden bewahrt, denn der Begriff der Zeit »tötet« das Ding (Situation, Ereignis etc.), indem die Vgl. Ph. Julien, Pour lire Jacques Lacan. Le retour à Freud, Paris, EPEL 1990, 137 ff. Vgl. M. Henry, Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, 5–16, wo Freud als »später Erbe« Descartes’ charakterisiert wird. 67 68

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4. Die Neo-Psychoanalyse Lacans

»Wirklichkeit« nur in der Idealität des Wortes (mot) »aufgehoben« wird. Die Sprache repräsentiert daher nicht die Wirklichkeit, sondern das Subjekt, welches Negativität ist, das heißt die Trennung von sich und von dem, was ist, reduziert alles auf ein Nichts, indem es keinen beständigen Inhalt garantieren kann. Diese »Identität« von Diskurs/ Subjekt im Sinne des Hegelkommentars von Alexandre Kojève, den wir bereits erwähnten, 69 hält daher im Schoß der Wirklichkeit einen Irrtum aufrecht – nämlich ein Ideal als Nichtung an Wirklichem. Descartes gewann hingegen die Selbstgewissheit der Subjektivität des Subjekts, indem er die gesamte Wirklichkeit als Täuschung durch den hyperbolischen Zweifel aufhob, während für Lacan und die französischen Neo-Hegelianer der Diskurs des Subjekts nur um den Preis des genannten »Mordes« der Dinge hervortreten kann. Die Sprache als Negativität des Subjekts errichtet sich, indem das Subjekt sich durch solche Verneinung nur als das manifestiert, was als Ek-sistenz ein Zerrissenwerden oder ein ständiges Hinausgehen über sich selbst als subjektive Präsenz in allen Dingen ist, welche daher nichts sind, so dass eben auch letztlich dieses Subjekt als Sprache die »Abwesenheit einer Wirklichkeit« ausmacht – das ständige Verschwinden seiner selbst. 70 Hier stellt sich eine prinzipiell phänomenologische Frage mit weiteren Konsequenzen, denn jedem Wort geht eine leiblich-affektive Gegebenheit voraus, so dass nicht nur die Sprache als Wort kein absolut Erstes zu sein vermag, sondern dem Buchstaben stets ein Sprechen vorausgeht, welches mehr als ein »Phonem« ist und keineswegs tot gesagt werden kann wie ein idealisiertes Ding der Aussage. Außerdem impliziert der erste Andere, ob er vergessen ist oder nicht im Trauma, ebenfalls seinerseits ein unmittelbar affektives Selbst, welches sich nur über eine impressionale Rezeptivität erschließen kann, bevor überhaupt eine Rede zum Wort und gegenseitigen Diskurs wird. Die intersubjektive Situation zeichnet sich daher eher als eine unmittelbare Zwischenleiblichkeit oder sogar als ein Mit-Pathos bzw. Intensität ab, was für die Therapie fundamentaler letztlich sein dürfte als die ausschließlich angenommene Verbindung von Unbewusstem/Sprache in der Lacanschule. Damit gewinnt auch das BeVgl. unser Kap. I,3.3 Anm. 18 Vgl. M. Borch-Jacobson, Lacan. Le maître absolu, Paris, Flammarion 1995, 228 f.; M. Henry, Affekt und Subjektivität (2005), 79 ff., zu diesem Neo-Hegelianismus in Frankreich.

69 70

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Verlust und Leere des Subjekts

gehren einen anderen Status, welcher den Zusammenhang von Affekt/Trieb neu erfahren lässt, nämlich als gegenseitige Immanenz, welche zwar in ihrer Reziprozität unsichtbar bleibt, aber deshalb nicht weniger effektiv als Wirklichkeit des Anderen ist, welcher mithin nicht nur imaginär und symbolisch vermittelt ist. Ein Kind, welches eine Angst durchlebt, etwa in der Dunkelheit der Nacht, nimmt die Stimme der Mutter oder eines Anderen, die ihn beruhigen wollen, nicht so sehr als einen diskursiven Signifikanten wahr denn als eine Stimme affektiver Präsenz, durch welche sich die Angst mehr löst als durch eine Erklärung hinsichtlich einer nicht existierenden Gefahr. Dies lässt auch die Kritik der Lacanschule an der »therapeutischen Beziehung« als allgemein stabilisierendem Faktor weniger apodiktisch erscheinen, als es der theoretische Primat des pointierenden oder skandierenden Wortes in solcher Analyse wahrhaben möchte, denn es geht in einer solchen Beziehung um mehr, als im Sinne Winnicotts nur eine »korrektive emotionale Erfahrung« zu ermöglichen, welche die »Arbeitsbeziehung« festigen soll. 71 Aus demselben Grund ist auch das minimale Merkzeichen des Signifikanten, wodurch ein Bezug zum Anderen hergestellt werden soll, einer genaueren Betrachtung zu unterwerfen. Wie kann ein virtuelles Subjekt mit dem einzigen »Zug« (trait), welchen es als ein solches Merkzeichen zu seiner Disposition hat, mit dem Anderen zusammentreffen, falls auch dieser nicht zuvor im phänomenologischen Sinne gegeben ist und sich seinerseits sofort wieder auflöst, sobald der Signifikant in der Rede verschwindet, um einem anderen Signifikanten Platz zu machen? Da der Andere stets nur in einem imaginären Spiegelbild existiert (was Lacan als seine Wirklichkeit nicht leugnet), können der Andere wie das Subjekt ausschließlich als Transzendenz ohne Immanenz füreinander einen Bezug aufnehmen, was besagt, dass hier nur ein objektivierendes oder intentionales Bewusstsein am Werk ist. 72 Da das minimale Merkzeichen X des Signifikanten als »Zug« in der Begegnung mit dem Anderen zugleich über das Ausgesagte ein »Ideal des Ich« darstellt (insofern das Selbst der Aussage verschwindet), bleibt phänomenologisch offen, woher dieses »Ich« eines reinen Transzendenzbezugs stammen soll, wenn es nicht Vgl. B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik (2013), 83 ff.; dazu auch unser »Ausblick« Teil 2. 72 Vgl. J. Lacan, Le Séminaire VIII: Le transfert, Paris, Seuil 2001, 418 (dt. Die Übertragung. Das Seminar, Buch VIII, Wien, Passagen 2007); Écrits (1966), 809. 71

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4. Die Neo-Psychoanalyse Lacans

zuvor seiner Immanenz transzendentaler Lebendigkeit entrissen wurde. Aufgrund seiner Cogito-Kritik ist die Transparenz des Ich als Bewusstseinsakt für Lacan eine Täuschung, weil die opake Bestimmung durch den Signifikanten nicht gesehen werde, was aber eben nicht beantwortet, wie ein Signifikant originär in einem Subjekt leiblich verwurzelt ist und durch die ur-pathische Verbindung von Affekt/Sprechen hervorbricht. Wir hoben schon hervor, dass auch der Körper in gewisser Weise primordial für Lacan ist, da sich der eigene Körper im Spiegelbild wieder erkennt, aber der Ort des Ichideals ist als symbolische Introjektion gleichzeitig ein Trug, weil die Erkenntnis des Ich eine unaufhebbare Unkenntnis desselben bleibt. Das heißt, der Körper ist kein ursprünglich selbstaffektiver Leib mit einer immanenten Wirklichkeit als Ipseität affektiver Selbstbewegung, sondern bloß eine faszinierende »Gestalt« der Einheit des Körpers, welcher zwar das Begehren motiviert, aber ein »Schatten« bleibt, nämlich die wesenhafte Opazität von Narzissmus/Objekt. Da die narzisstische Identifikation illusorisch ist, bleibt nur als Hoffnung der Befreiung die Wirklichkeit des Begehrens, welches irreduzibel mit dem eigenen Körper verbunden ist. Das Objekt selbst dieses Begehrens ist jedoch schließlich weder ein Spiegelbild noch eine Erkenntnis, sondern ein unbekanntes Objekt, welches begehrt wird und über die Funktion des Phallus die vom Subjekt unbewusst maximale Investitur auf das Andere/den Anderen hin erfährt, welche immer die radikale Trennung für das Subjekt bleiben werden 73 – mithin ohne Möglichkeit, die Immanenz des Begehrens als pathische Leiblichkeit aller Bezüge in sich selbst zu erproben. Natürlich können wir Lacan dabei radikal phänomenologisch zugestehen, dass es niemals ein »Sehen des Sehens« gibt und folglich jeder Blick auf das eigene Selbstbild zur Illusion verdammt ist. Aber bedeutet dies, dass das Subjekt sich prinzipiell verkennt, da auch Lacan voraussetzt, dass ein Subjekt – außer ein Dasein als idealer Signifikant zu sein – ebenfalls ein wirklicher Leib ist (was wir als Immanenz bezeichnen), so dass die Verwurzelung des Blicks in einem solchen Leib sich nicht nur in einen symbolischen Körper auflösen kann? Und selbst wenn die Illusion des Sich-Selbst-Sehen-Wollens über den Signifikantenaustausch mit den Anderen verläuft, ist dann der eigene Leib/Körper nur ein »Loch« – weder Sein noch Nicht-Sein, 73

Vgl. Le transfert (2001), 440 f. u. 453 f.

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sondern bloß die Radikalität eines immer gespaltenen Zum-SeinWerdens? Ohne Zweifel engagiert sich nämlich das Subjekt jeweils innerhalb der Dialektik der Anerkennung, wobei das »Objekt klein a« das Mittel wie den Gegenstand seines Begehrens abgibt, mithin eine leibliche Selbstbewegung impliziert, welche wohl kaum der Signifikant als so genanntes »subjektives initium« in sich besitzen dürfte, sondern eine ursprüngliche Lebendigkeit als Wirklichkeitsvollzug der Ipseität selbst voraussetzt. Auf jeden Fall muss der eigene Leib originär oder subjektiv bereits gegeben sein, um sich mit dem eigenen »Körper« identifizieren und Bezug zum Anderen als ebenfalls leibliche Immanenz aufnehmen zu können. Es herrscht also am Ursprung des Selbst eine phänomenologische Selbsterkenntnis vor, und zwar dank dieser genannten Leiblichkeit als »Fleisch«, auch wenn deren unmittelbare Gegebenheit unsichtbar bleibt und niemals ein imaginäres Objekt zunächst darstellt. Kein Sehen und kein Berühren kann mir in der Tat die Existenz meines Leibes garantieren, sondern nur das Sich-Empfinden als immanente Selbstaffektion eines solchen Sehens und Berührens, so dass eine anfänglich »zerstückelte« Körperlichkeit ein phänomenologischer Widerspruch in sich ist, da gerade auch in psychotischen Erlebnisweisen, die eine solche Zerstückelung vorauszusetzen scheinen, die fehlende Identität als Leid erlebt wird, was nicht der Fall sein könnte, wenn um diese Identität nicht schon implizit »gewusst« würde. 74 Blicken wir gleichfalls auf die »narzisstische Liebe«, von der Lacan sagt, ich liebte nur meinen eigenen Körper, indem ich eine solche Liebe auf den Körper des Anderen übertrage. Mit anderen Worten handelt es sich um eine Libido, welche dann auf beiden Seiten gegeben sein muss, so dass der Andere als ein mir Gleicher auftritt, aber für Lacan ist die Liebe vor allem als Ursache das »Objekt klein a« im Sinne einer Triebregung, die ihr Objekt als Begehren anvisiert, um im ständigen Jenseitigen solcher Liebe nur einen Mangel anzuzeigen, nämlich das, was dem Anderen in dessen Körper fehlt. Gesucht werde weniger das Begehrenswerte als das seinerseits im Anderen Begehrende, welches seinen Mangel konstituiert. Strukturell ist folglich die Liebe durch einen Mangel ausgezeichnet, der für immer ein Fehlen beinhaltet, was nicht nur jedes Trauma, sondern das Subjekt als solVgl. zur Diskussion eine praktische Falldarstellung aus der Sicht der Lacanschule von R. Lefort, Naissance de l’Autre. Deux psychanalyses: Nadia (12 mois) et Marie Françoise (30 mois), Paris, Seuil 1980.

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ches nach Lacan bestimmt, wie wir wissen, da sich das »Objekt klein a« durch das minimale Kennzeichen X des Signifikanten »verfleischlicht« oder »Leib wird« (fait chair) – anders gesagt »Fleisch des Genusses«. Wiederum kann man Lacan hier zugestehen, dass er von einer fundamentalen Frage bewegt wird, die auch für die Therapie zentral ist, ob es in der Tat eine nicht-narzisstische und nicht-imaginäre Liebe gibt. Das Kriterium für eine echte Liebe im symbolischen Feld ist daher die Anforderung eines Zugangs zum radikal Anderen, der nicht nur mein Ich und dessen Objekte im Anderen zu befriedigen sucht. Wenn Lacan auch später anerkannt hat, dass die Liebe nicht nur narzisstisch sei, sondern auch sexuell sein kann, dann ist in der Sexualität dennoch kein nicht-narzisstischer Automatismus zu erblicken, da die Liebe durch die kontingente Begegnung von zwei unbewussten Polen getragen wird, die auf der symbolischen Ebene ebenso wirklich wie imaginär sein kann. Natürlich bleibt gerade hierbei die Möglichkeit, über das »Objekt klein a« hinaus auf dasselbe zu verzichten, um eine wirkliche Alterität zu erreichen, aber auch dann wäre der Andere als solcher verfehlt, um weiterhin das Prekäre im (erotischen) Verhältnis zum Anderen zu unterstreichen. 75 Bei Freud betrifft die Kritik des Narzissmus vor allem die Illusion, welche die Wahrheit des Unbewussten nicht erkennen will, während der Spiegelcharakter desselben Narzissmus bei Lacan sichtbarer Weise prinzipiell die Illusion des Bezuges zum Anderen unterstreicht, was therapeutisch die Erkenntnis impliziert, das strukturierende Moment des Ich-Imaginären zu übersteigen. Die wahre Liebe wäre dann eine Loslösung im Sinne einer Weisheit, die sich insofern mit dem lacanschen »Atheismus« trifft, als der Zugang zur radikalen Andersheit einen Raum für solche Weisheit bietet, ohne »Gott« intervenieren zu lassen. 76 Aber auch hier bleibt bestehen, dass die Überlagerung des absolut Anderen (als »großes A«) für den sexuell Anderen das »Objekt klein a« nicht aufhebt, welches sich so zwischen die Alterität der Geschlechter schiebt – mithin ein nicht-sexuelles Objekt darstellt. Hieraus ergibt sich als Theorie Lacans, dass Mann und Frau sich nur Vgl. F. Balmès, Dieu, le sexe et la vérité, Paris, Erès 2007, 143 ff. u. 157 f. Gott ist für Lacan allerdings nicht ganz undenkbar, insofern »das Andere« prinzipiell jener »Ort« ist, »der nichts weiß«, mithin »Gott fehlt« im Sinne des Unbewussten. Aber ein Zugang zur Verehrung Gottes sei dies nicht, sondern höchstens eine Spur desselben im Sprechen; vgl. H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott (1983), 111–114, vgl. auch schon unsere Anm. 17 im Kap. I,3.3 sowie ebenfalls Teil 3 unseres »Ausblicks« zu Religion/Therapie.

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begegnen können, indem ein »Objekt klein a« als Substitut dient. Dies würde heißen, dass das Begehren die narzisstische Schranke im symbolischen Feld übersteigen kann, mit anderen Worten sich jenseits der bloßen Interessen des Ich verwirklicht (zumindest im freudschen, wenn auch nicht unbedingt im personalen oder spirituellen Sinne). Aber auch hier bringt die Regelung über das »Objekt klein a« eine Entwertung des Anderen wie auf der Ebene des Imaginären mit sich, indem er als Geschlechtswesen nicht direkt berührt wird. So bleibt die Tatsache bestehen, dass stets eine kontingente Begegnung stattfindet, die letztlich für Lacan weder nur unbewusst (narzisstisch) oder desinteressiert noch rein geschlechtlich ist, sondern einen Bezug zwischen zwei Subjekten in all ihrer Komplexität bildet. Innerhalb dieser Problematik der Begegnung mit dem Anderen, von der die Erotik eine besonders intensive Form darstellt, behält nun die minimale Einzigkeit des Signifikanten insofern eine entscheidende Wichtigkeit bei, als für Lacan das X als »Zug« zum »Objekt klein a« hin die »Errichtung des Begehrens« an sich bewirkt und als »Schlüssel des menschlichen Begehrens« zum Gegenstand der Psychoanalyse als solcher wird. Dies besagt nicht, dass das »Objekt klein a« das eigentliche Objekt der Psychoanalyse als Wissenschaft sei, sondern die schon unterstrichene Spaltung des Subjekts zwischen Wahrheit und Wissen, welche gerade die zentrale Rolle des »Objekts klein a« als »Rand des Wirklichen« ausmacht. 77 Denn die Spaltung bewirkt die Spannung zum radikal Anderen hin im Sinne »des Dings«, welches genau in diesem Ereignis des X der Einzigkeit des Signifikanten vorgezeichnet ist – eben als unsichtbares Merkzeichen, insofern der Andere in jedem Subjekt immer schon über die Signifikantenkette gekennzeichnet bleibt. Das verschwundene oder durchgestrichene »Ding« hinterlässt also letztlich die Einzigkeit von X, und zwar als Effekt der Libido, wie hier noch zu unterstreichen war, nämlich als wirkliche Lust in unserem so verfleischlichten Leib als X seinerseits. Und dieses Ereignis ist kein zufälliges, sondern hat das Subjekt immer schon betroffen, indem es sich in der Einzigkeit eines »Einst« oder »Damals« ereignete (cette fois-là). Es muss also für Lacan auf der Ebene des Unbewussten gesucht werden, wie sich die Wahrnehmung ursprünglich als Befriedigung herausbildete, da das Unbewusste dem Modus seiner Wiederkehr Vgl. Écrits (1966), 865, sowie F. Balmès, Dieu, le sexe et la vérité (2007), 186 f., 204 f. u. 209 f.

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folgt, so dass »das eine Mal« das »identisch Identische« als jenes Damals beinhalte, welches in den unterschiedlichen Vorstellungsweisen die Wiederkehr des Affekts erwarten lässt, und zwar nach Freud als Objekt in der äußeren Welt. Da Lacan das Objekt je nur als ein Zeichen sieht und auch noch kein Subjekt gegeben ist, welches sich in dieser Anfangssituation zu affizieren und wahrzunehmen vermöchte, reduziert er dieses Ereignis auf das Hervorbrechen eines ursprünglichen Signifikanten in seiner einmaligen Darbietung, das heißt als Augenblick jenes »Urverdrängten«, welches zu einer unbewussten Existenz wurde. Da dieses Einst-Verdrängte in seiner Einmaligkeit für immer fehlen wird, bedarf es jedoch für die weitere Verdrängung zumindest einer Wiederholung, welche keine andere als jene strukturelle Kennzeichnung des Subjekts bei Lacan bildet, durch die letzteres die ursprüngliche Einmaligkeit des verdrängten Objektes für sich wiederholt, um sich als radikale Differenz für immer zu wiederholen. Denn der »Automatismus der Wiederholung« betrifft stets die Differenz in ihrer jeweiligen Einzigkeit, wodurch im Sinne Lacans die lebendige Individualität mit der sich wiederholenden Funktion des Signifikanten verbunden ist – allerdings als ein verlorener Signifikant des verdrängten ersten Merkzeichens als wiederverlangtes Objekt. Die Wiederholung der Wahrnehmung, die stets nur einen anderen Signifikanten ergreifen kann, nicht jedoch den verlorenen ursprünglichen Signifikanten, ist somit an die Existenz eines »Ortes der Andersheit« gebunden, worin sich diskursiv das Verhältnis von Abwesenheit/Anwesenheit als Ek-sistenz für das Subjekt reproduziert. Wie bei Nietzsche gibt es somit die »ewige Wiederkehr« einer möglichen Lust als Wiederholung des Begehrens eines verlorenen Objekts als »Rest« unabschließbarer Subjektivierung. Das Subjekt bleibt, anders gesagt, die Erscheinung eines Zeichens als Kontingenz, denn den Ursprungsakt der Übernahme der Zeicheneinschreibung können wir nur akzeptieren, aber nicht erkennen. 78 Wenn allerdings Ursprungsverhältnisse nicht streng als radikal phänomenologische Problematik analysiert werden, enthalten sie eine Tendenz zur Mythologisierung von Urszenen hin, wie man auch bei Freud beobachten kann, so dass in diesem Zusammenhang bei Lacan von einem unaufgeklärten epistemologischen Bezug zwischen der Struktur einer metapsychologischen Notwendigkeit quasi-transVgl. M. Hatzfeld, »Trait unaire et privation«, in: E. Porge u. A. Soulec (Hg.), Le moment cartésien de la psychanalyse, Paris, Arcanes 1996, 75–102, hier 98.

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zendentaler Natur von Subjekt/Verdrängung und seinem Versuch einer Ursprungserzählung gesprochen werden kann. Denn was bleibt letztlich mehr von diesem »subjektiven initium« zu sagen, als dass eine Begegnung zwischen dem zukünftigen Subjekt mit einem reinen Merkzeichen/Zug (trait) stattgefunden habe? Die Markierung des Subjekts durch ein solches Kennzeichen hat sich als Trauma oder sonstiges Ereignis in Gestalt eines »Buchstabens« in das Subjekt eingeschrieben, dessen Signifikantenstruktur dasselbe Subjekt dann immer wieder durch sein Verhalten hindurch wiederholen wird, um den »Sinn« desselben zu gewinnen. Aber Lacan löst sich nicht von dem transzendenten Blick auf ein solches Ereignis, so dass die Subjektivierung auch nur mit einem doppelten, weil unsichtbaren X zu arbeiten vermag. Zum einen wird dem ursprünglichen, einmaligen Zeichen als X ein Ich zugeordnet, was sich in der Identifikation mit dem Bild des Anderen als X wiederholt. Diese imaginäre Konstitution in Bezug auf den ursprünglichen Signifikanten X und als symbolische Projektion auf die Andersheit als bleibendes X muss notgedrungen unsicher bleiben, da dieses »Wirkliche« als X subjektiv nicht ge-halten werden kann. In existentieller Hinsicht ist eine solche radikale Offenheit für Begegnungen und Situationen kein theoretisches Problem, sondern ein praktisches der Therapie in ihrer Arbeit, da jegliche Offenheit ein primordiales wie fortdauerndes Sich-Öffnen-Können benötigt, welches nur auf einer ermöglichenden Selbstgegebenheit des »Subjekts« beruhen kann, welche affektiv zu erschließen ist – und nicht über theoretische Subjektkonstruktionen wie bei Lacan. Sein Versuch, das ursprünglich verdrängte Kennzeichen X als »Subjektivierung« über das Spiegelstadium zugänglich zu machen, bleibt daher epistemologisch ein Problem, da die Verdrängung einem lebendigen Immanenzvorgang entspricht, welcher sich jedem ek-statischen Blick entzieht und folglich phänomenologisch anders zu fassen bleibt – als rein pathische Lebensgegebenheit einer noch »dritten Genealogie«. 79 Betrachten wir diese Frage abschließend noch unter dem Gesichtspunkt der Privation (Verlust), welche konstitutiv für das Subjekt als Träger des Anfangszeichens X sein soll, so bedeutet dies die Abwesenheit des »Objekts klein a« auf der symbolischen Ebene und eines Signifikanten schlechthin für das Subjekt. Als »Leere« besagt dies, dass das Subjekt durch die abwesenden Signifikanten an seinem 79

Vgl. diesbezüglich schon unser Kap. I,3 mit einer ähnlichen Kritik an Freud.

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4. Die Neo-Psychoanalyse Lacans

eigenen Ort selbst abwesend sein muss, wovon das Subjekt zunächst – als Existenz im absolut abwesenden »Ding« – nichts weiß. Daher ist die Ursprungserfahrung des Unbewussten keineswegs das Verbot, sondern das Nicht-Gesagte (non-dit), insofern das Subjekt nicht der Herr seines Sagens als Identifikation mit sich selbst ist. Denn um zu wissen, dass der erste Signifikant ihm fehle, hätte es bereits einen Signifikanten geben müssen, um es (sich) zu sagen, aber der Signifikant, von dem aus das Subjekt im Diskurs sprechen wird, ist immer schon ein Ort, aus dem es verworfen oder ausgeschlossen wurde. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass Lacan für das X des Signifikanten wie für das X des Objekts des Begehrens wie auch für das X des Anderen von einer Verfleischlichung sprach, weshalb es trotz aller Leere hier ein Gewicht des Wirklichen gibt – nämlich als Lust des Begehrens. Das mangelnde symbolische Objekt setzt folglich im Raum der imaginären Abwesenheit wie Projektion immer schon ein »Objekt« voraus, welches phänomenologisch ge-geben oder ge-wesen ist: ein »Subjekt« in seinem Selbst-Empfinden. Auch wenn der Phallus für Lacan jene diskursive Instanz darstellt, durch die alle anderen Benennungen getilgt werden, um selbst unsagbar zu bleiben und schließlich die Leere für das Subjekt ohne Unterlass fortzuzeigen, kann dennoch eine solche Privation nicht erlebt werden, ohne schon eine vorherige »Fülle« – die des sich-selbst-erprobenden Lebens – erfahren zu haben. Gewiss, es gibt bei Kant jenes nihil negativum, welches in seiner erkenntnistranszendentalen Systematik einen »leeren Gegenstand ohne Begriff« bezeichnet, und es scheint, dass Lacan diesen Gegenstand als Objekt X in das Netzwerk seiner Signifikantenkette übernommen hat, um dabei gleichzeitig das Subjekt als eine negative Wirklichkeit eines Möglichen zu bestimmen, ohne welches kein Subjekt sich jemals in seiner anfänglichen Konstitution (Subjektivierung) hätte »halten« können. Die zuvor erwähnte Privation erscheint daher als Rest einer Identifikation mit dem »Objekt klein a« seitens der Identifikation des Subjekts mit dem X des einmaligen ersten Signifikanten, der fehlt. Das negativum im Sinne Kants bestimmt folglich noch besser als das privativum jenes Nichts (rien) des Objekts des Begehrens, da es sich nach der Formulierung Kants um die Gegebenheit von etwas ohne Begriff handelt. Da wir wissen, dass Lacan eine Wissenschaftlichkeit der (Neo-)Psychoanalyse diesseits der rationalen oder reflexiven Logik errichten will, insofern letztere von Anfang an das Objekt des Begehrens verfehlt (was auch dem philosophischen 266 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Verlust und Leere des Subjekts

Denken vorgeworfen wird, wie wir wissen), blieb die ursprüngliche Verwerfung des Subjekts jenes negativum, um jedes Phantasma einer abschließenden Konzeptualisierung bzw. integralen Symbolisierung als operatives Ziel von psychoanalytischer Erkenntnis abzuwehren – und dies zugunsten einer Wahrheitsdynamik therapeutischer Praxis, welche aber dennoch letztlich nicht die ko-pathische Ursprungsgegebenheit der Leiblichkeit als Grund jeglicher Relationalität ausblenden kann, wie uns scheint. Denn wenn die Privation immer als Entfremdung auftritt, dann deshalb, weil sich im Diskurs stets ein bleibendes Begehren wieder einstellt, welches durch den Signifikanten per se als Verlust ausgeschlossen wird, ohne jedoch in solcher »Entfremdung« jemals das Begehren als Pathos verloren zu haben, wie wir in unserer Gesamtuntersuchung zeigen möchten. Das Nichts des Subjekts als anfängliche Leere der Ursprungstrennung mittels der Einzigkeit des Signifikanten als X wird zur durchgehaltenen Frage an den Anderen bei Lacan, um die Antwort auf das zu geben, was das Subjekt in seiner Spaltung zwischen Bedürfnis und Forderung als Anfrage bzw. Bitte begehrt. Aber es handelt sich um ein verdoppeltes Phantasma im Grunde, denn als gesuchtes Objekt der Anerkennung für das Begehren des Subjekts ist der Andere selbst ein Begehren, so dass bei Lacan nicht nur anale, orale und ödipale Fixierungen als Formen eines ursprünglichen Phantasmas bleiben (Exkremente, Brust, Phallus), sondern auch Stimme und Blick des Anderen, da das Subjekt sich in deren Entzug immer wieder neu von sich trennt, um sich als Objekt des Begehrens darin fortzuschreiben, was mit der Kastration zusammenfällt. Denn das Begehren gilt im Feld des Sehens etwa dem Blick des Anderen, wie wir schon sagten, wobei dem Blick die Funktion des »Objektes klein a« zufällt. Dieser Blick wird naturgemäß stets verfehlt, weil er vom Auge verschieden ist, und sein Wiederfinden im Angeschautwerden stellt den Ursprungsverlust wieder her, denn so wie das Subjekt den Blick fassen will, wird es unmittelbar zu jenem schwindenden Punkt, mit dem es sein eigenes Verschwinden wahrzunehmen scheint. 80 Wenn daher Lacans Denken ein Subjekt theoretisch allein als Ausgeschlossenen kennt, welcher stets nur im Begriff steht hervorzutreten oder anzukommen, dann ist in solcher Sichtweise eine lebendige Vgl. J. Lacan, Le Séminaire XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse (1964), Paris, Seuil 1973, 90 f. (dt. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten/Freiburg, Walther 1978).

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4. Die Neo-Psychoanalyse Lacans

Unmittelbarkeit als Ursprung und Fülle negiert oder kann nur des sich selbst täuschenden Narzissmus verdächtigt werden. Denn die Substitution des lebendigen Lebens durch ein ihm fremdes Prinzip wie das Symbol leert die Subjektivität von jeglicher Wirklichkeit, obwohl das subjektive Leben als Intensität nicht aufhört, alle Potenzialitäten (einschließlich der Symbolisierung und des Imaginären) hervorzubringen. Lacans (Neo-)Psychoanalyse arbeitet aus solcher Perspektive mit überdeterminierten Begriffen aufgrund der Hypostasierung von Differenz oder Andersheit, weshalb in einem weiteren Schritt eine solche Rückführung der Implikationen des Signifikantenprimats auf ein effektiv fleischliches Pathos für den therapeutischen Bereich sichtbar gemacht werden soll.

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5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

1) Der »aufgeschobene Tod« im Begehren In einer paradoxen Formulierung ist der Affekt in radikal phänomenologischer Perspektive das, was das Leben zuviel hat, nämlich als sein eigenes Übermaß, woraus sich die immanente Selbstgegebenheiten wie Bedürfen und Trieb unmittelbar ergeben, insofern sie jene intensive oder ur-leibliche Bewegung des Lebens bilden, sich selbst in seinem Handeln zu verändern – sich von seiner selbsterdrückenden Last als »endogenem Reiz« zu befreien. Dass man solchem Leben nicht zu entfliehen vermag, weil es letztlich keinen inneren Rückzugsraum gegen eine solche immanente »Selbsterregung« gibt, gehört – trotz naturalistisch geprägter Begriffe wie »Reiz« und »Affektbetrag« – zu den phänomenologisch zu nennenden Grundüberzeugungen Freuds, von denen sich Lacan unterscheidet, indem er von Anfang an ein gespaltenes Subjektsein über seine Theorie der stets differenten Signifikantenkette annimmt. In dieser Hinsicht bleibt daher weiterhin zu klären, wie Begehren/Affekt bereits ein Ich/Mich implizieren und keineswegs bloß ein anonymes oder unzugängliches »Es« im Sinne einer Sprachdialektik des Unbewussten. Die »Hilflosigkeit«, von der auch Lacan betreffs einer solch unaufhebbaren strukturellen Bestimmung sprach und die besonders in Angst und Schmerz mit ihren konfliktuellen Anfragen emportaucht, gründet wegen des Übermaßes des rein subjektiven Lebens letztlich in dessen Passibilität. Über eine bloß psychologisch gesehene »Empathie« hinaus begründet letztere daher auch jenes reziproke gemeinschaftliche »Mit-Pathos«, welches die Basis oder das Ethos der »therapeutischen Beziehung« stiftet und in einem meta-praktischen Sinne auch für jede Supervision gilt. Für Freud wie Lacan gibt es in der Tat für die psychische Anfangssituation des Kindes eine »Selbsterotik«, welche den Narzissmus grundsätzlich speist, und im ersteren Fall die Entwicklung des 269 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

Ich einschließlich späterer Objektintegration orientiert, während im zweiten Fall dieser »primäre Narzissmus« ab dem Spiegelstadium der radikalen Andersheit (groß A) geopfert wird. Wie wir gezeigt haben, beinhaltet diese Konstruktion des »Ich« durch den »Anderen« nach Lacan eine konstitutive Entfremdung der Identität des Selbst, insofern es sich aufgrund dieser Voraussetzung in der Folge nur imaginär selbst ergreifen kann. Aber es muss hier nicht nur nochmals kritisch gefragt werden, ob es nicht in irgendeiner Weise schon ein »Ich« gibt, damit überhaupt eine Identifikation mit einem Anderen (als Spiegel wie Adressat des Signifikanten) statthaben kann, sondern ob jede Form von narzisstischer Selbstliebe nicht gleichfalls schon eine libidinöse Investitur desselben »Ich« voraussetzt, oder – radikal phänomenologisch genauer gesagt – zu jener Ipseität gehört, welche als Lebendigkeit jedes Ich/Mich selbstaffektiv zeugt? Nur auf diesem Boden kann überhaupt die libidinöse Wahrnehmung des Anderen statthaben, welche als notwendige Begegnung im existentiellen, erotischen wie psychologischen Sinne in einer vorherigen Proto-Relation von Leben/Ipseität wurzelt, wodurch auch die »Selbstliebe« zunächst kein bloß »narzisstisches« Phänomen im (neo-)psychoanalytischen Sinne darstellt, sondern eine phänomenologisch-ontologische Selbstgegebenheit der Lebensrealität. Mit anderen Worten verweist aller (späterer) Narzissmus mit seinen möglichen gewaltigen Verschiebungen und Verzerrungen, wie die therapeutische Praxis immer wieder offenbart, auf eine originäre Selbstliebe des Lebens, welche nichts »Narzisstisches« im (meta-)psychologischen Sinne bildet, sondern vielmehr die Grundlage für jede (Selbst-)Heilung bleibt. Wenn Lacan daher meint, hinsichtlich seines Psychoseverständnisses den »mythischen und unbekannten Rest« des freudschen Begriffs des Narzissmus aufklären zu müssen, so vollzieht er diese Arbeit jedoch weniger im Sinne einer Vertiefung dieser Problematik Narzissmus/ Leben als im Sinne einer hegelschen Freudlektüre mittels der Dialektik gegenseitiger Anerkennung von Herr/Knecht, um daraufhin seinerseits Hegel als Bewusstseinsphilosoph einer freudschen Lektüre mit Hilfe eines bereits bei Descartes vermissten »nicht-wissenden Begehrens« aufzuklären. 1 Es ergibt sich hieraus schon eine offensichtliche Überbestimmtheit der neo-psychoanalytischen Begrifflichkeit bei Lacan, insofern eine formale Struktur der Differenz als Andersheit oder Außenheit 1

Vgl. M. Borch-Jacobsen, Lacan. Le maître absolu, Paris, Flammarion 1995, 46 f.

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Der »aufgeschobene Tod« im Begehren

(bzw. Trennung und Distanz) nicht mehr jenen lebendigen Prozess zu ergreifen bekommt, der sowohl bei Descartes, Hegel wie Freud als Grundbewegung aller Subjektivität noch erkennbar ist. Dass zumindest in Freuds »Metapsychologie« von 1915 Narzissmus und Selbsterotik noch eins sind, um sich über interne passive Momente wie »Lavamassen« voranzubewegen, schließt ein, dass sich auch die narzisstische Bewegung auf den Anderen zu aus dem eingangs genannten Übermaß des subjektiv-leiblichen Lebens als Ipseität speist, um deren Paroxysmus anzuerkennen wie zu entgehen, was damit für die Vorgegebenheit eines selbstaffektiven Lebens in allen pathischen Vollzügen sprechen dürfte. Die Selbstliebe, mit der Affekt und Trieb sich selbst genügen, das heißt immanent empfinden, kann natürlich später intentional zu Liebe wie Hass gegenüber Objekten werden, aber dies eben nur auf dem Boden einer originären Einheit der Selbstlust, welche Freud nicht vom »Ich« trennt, so dass von den historischen psychoanalytischen Quellen her eine Immanenz als radikal phänomenologische Grundgegebenheit plausibel erscheint und eine prinzipielle oder strukturelle Gespaltenheit des Subjekts zu Beginn seiner Existenz eher unwahrscheinlich macht. Dies mindert nicht die lacansche theoretische Weiterentwicklung hinsichtlich eines wichtigen Zusammenhangs von Unbewusstem/Sprache, um dieser diskursiven Beziehung noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als es die Analyse von Träumen und Fehlleistungen klassischerweise schon tat, aber es wird die Überdeterminiertheit dieser angeblich reinen Sprachstruktur betreffs der Lust- und Begehrensproblematik fraglich. Diese setzt nämlich letztlich einen objektiv oder symbolisch »zerstückelten« Körper voraus, um dadurch jenen selbstpathischen Leib zu ignorieren, welcher all diese Phänomene ermöglicht, indem er sie in seiner immanenten Intensität erprobt. Selbstund Fremdliebe, Liebe und Geliebtwerden, sind daher im originären »Chiasmus« von Passibilität/Bewegung verankert, so dass eine Begegnung nicht ausgeschlossen ist, wo sowohl eine gegenseitige Liebe der Personen wie gemeinsamer Objekte im Sinne von Kooperation möglich ist, ohne den Narzissmus negativ psychologisieren bzw. ausschließlich mit einer verdeckten Aggressivität verbinden zu müssen. Anders gesagt bedeutet der meta-psychologische oder transzendentale »Narzissmus« jenes Können, in welchem das Leben seine eigene innerste Selbstfreude/Lust (jouissance) ergreift, um jene Bewegungen auszuführen, welche sich unter dem Übermaß des Lebens als »Trieb« herauskristallisieren, ohne die Frage eines originären Ethos 271 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

der Gemeinschaftlichkeit im Sinne des »Mit-Pathos« ausblenden zu müssen. 2 Angewandt auf die Frage der bloßen »Gestalt« eines durch die Spiegelidentifikation überwundenen »zerstückelten Köpers« gemäß Lacan, kann daher festgehalten werden, dass der primäre oder endogene Narzissmus einen subjektiven Leib impliziert, der die »äußeren Reize« im Sinne Freuds nur dank der selbstaffektiven Gegebenheit dieses Leibes erfährt. Damit entfällt die apodiktische Entfremdung des Subjekts als ursprüngliche Wirkung einer Imago im Sinne eines unbewusst eingeprägten Bildes von einem Anderen im neo-psychoanalytischen Ansatz, welches Bild sich dann als Differenz des Signifikanten X weiterzeuge. Denn wenn es heißt, dass sich das Subjekt hierbei »zuallerst im Anderen erlebt« (éprouve), insofern »sich das Subjekt in seinem Selbstgefühl mit dem Bild des Anderen identifiziert und der Andere in sich dieses Gefühl einfügt«, 3 dann bilden Selbstgefühl und Erleben zunächst originär phänomenologische (wie tiefenpsychologische) Gegebenheiten, welche als apriorische Bedingung einer Spiegelung im Anderen vorausgesetzt bleiben und nicht ursprünglich aus derselben hervorgehen können, wie wohl auch die jüngere Säuglingsforschung zeigt. Das Bild bzw. die Vorstellung vom eigenen Körper in der Außenheit bedeutet daher nicht nur ein transzendentes Phänomen, welches sich dem eigenen oder fremden intentionalen Blick darbietet, sondern setzt bereits ein »Körper-Ich« voraus, um Freuds Ausdruck zu verwenden, worin selbstaffektive Manifestationen wie Lust und Schmerz zur radikal phänomenologischen Erprobung der Immanenz eines solchen Leibes gehören. Imaginäre Projektionen auf einen solchen Leib/Körper sind Oberflächenphänomene, wie sie über visuelle und taktile Bewegungen statthaben, aber sich keineswegs auf solche Spiegelungen oder Projektionen im Sinne Lacans beschränken. Führen wir daher weiterhin die neo-psychoanalytische Überbestimmung auf diese radikal phänomenologische wie tiefenpsychologische Ursprungsgegebenheit zurück, dann ist auch das Bedürfen (besoin) nicht nur eine vitale Funktion als Mangelerlebnis, wodurch die Anfrage an den Anderen erfolgte, um mein Begehren als Selbst Vgl. E. J. Lee, Pour une critique phénoménologique de la psychanalyse: Henry, Freud, Lacan, phil. Diss. Universität Straßburg 2009, 205 ff. 3 J. Lacan, Écrits, Paris, Seuil 1966, 181, vgl. bereits auch die Hinweise auf die Säuglingsforschung in unserem Kap. I,3 Anm. 28 28 u. 75 29. 2

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dadurch zu symbolisieren und zugleich zu verlieren, sondern es enthält eine gleichursprüngliche Modalisierung des Triebes als unmittelbare Lebensselbstoffenbarung im Sinne intensiver Immanenz oder Fülle. Die äußeren Objekte des Bedürfens sind so an eine selbstaffektive Identifikation zurückgebunden, welche die Projektion nach außen insofern einen »Narzissmus« sein lässt, als das innere Erproben von Lust/Unlust bzw. Freude/Schmerz eine Veränderung des Affekts herbeiführen möchte, welche dann als »Liebe« und »Hass« in Bezug auf die wahrgenommenen Objekte erscheint, aber im Grunde selbstaffektive oder selbsterotische Phänomene darstellt. Die Attributionsurteile von Eigenschaften, die Freud wie Lacan mit dem Oraltrieb als Introjektion (Verzehr) und Ausstoß (Abneigung) in Zusammenhang bringen, sind daher triebhafte Tendenzen, welche auf Begehren und Widerwillen beruhen, aber über ihre biologische wie psychologische Motrizität hinaus in der Selbststeigerung des Lebens verankert sind, nämlich als Zustimmung oder Flucht in Bezug auf das immanente Pathos eines jeden Individuums als Ich/Mich. Ob dies nun Eros (Freud) oder Glück/Freude (Henry) genannt wird, was in das Gegenteil von Verneinung und Abkehr im Sinne der affektiven Grundpolaritäten von Erfüllung/Leid umschlagen kann, ist phänomenologisch sekundär gegenüber dem Grundsachverhalt, dass es sich auf jeden Fall um vorsprachliche Selbstbestimmungen des pathischen Lebens handelt, welche danach erst das Spiel der Signifikanten bewirken. Wahrnehmen, Urteilen wie Sprechen lassen sich daher nicht ausschließlich in eine strukturalistische Sichtweise einfügen, insofern das »Lustprinzip« oder »Begehren« an die ursprünglichen Modalisierungen des rein phänomenologischen Lebens zurückgebunden bleiben, welches einer inner-affektiven Teleologie folgt, die ebenso vorintentional wie vor-begrifflich ist. Falls »Urteilen« epistemologisch wie erkenntniskritisch nur ein »Sagen« (dire) sein soll, welches sich ausschließlich als hegelsche Negativität im »Gesagten« (dit) ausdrücken kann, indem es die impressionale Ego-Wirklichkeit als täuschende sinnliche Unmittelbarkeit aufhebt, dann wäre in der Tat das Sein nur »ein Loch im Wirklichen«. 4 Aber keine Bedeutung vermag jemals sprachlich formuliert zu werden, bevor sie nicht zuvor in uns ein »impressionales Fleisch« als Affekt besessen hätte, so dass das Wort oder die Rede nicht nur eine Abwesenheit als »Mord« des Dings J. Lacan, Le séminaire I: Les écrits techniques de Freud (1954), Paris, Seuil 1974, 254.

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darstellt, sondern ebenfalls einen affektiven Rückverweis in allem Sprechen und Vorstellen beinhaltet. Versteht man die lacansche Priorität des Zusammenhangs von Sprache/Unbewusstem in diesem Sinne als eine unaufhebbare Verknüpfung von Affekt/Wort im Sinne der Selbst-Narrativität des je subjektiven Lebens, dann ist seine Theorie ein hilfreicher Hinweis auf diese so wichtigen therapeutischen Bedingungen, insofern dann der Akzent der analytischen Interaktion nicht so sehr auf irgendeiner abstrakten »Deutung« liegt, sondern auf dem Sicheinstellen einer inneren Veränderung im Patienten, die ihrer eigenen Zeitlichkeit von erwarteter Wahrheit im Sinne eines inneren Selbstempfindens oder Hörens folgt. 5 Wenn sich jedoch das Subjekt mittels jeder Aussage in jedem Ding als das X seiner selbst »tötet«, indem es im Signifikanten als ein »Nichts« (rien) verschwindet, dann ist jeder Signifikant in der Tat nur noch der (analytisch aufzudeckende) »Eintritt des Seins des Todes« auf der Subjektebene, 6 wo die inner-affektive Verbindung mit dem »Wort des Lebens« (Henry) aufgrund epistemologischer oder sogar nihilistischer Vorentscheidungen zerstört wurde. Kein Begriff enthält natürlich die empirische oder sinnliche Wirklichkeit eines erlebten Dings oder Sachverhalts, worin Hegel, Kojève und Lacan Recht zu geben bleibt, aber dies schließt nicht ein, dass damit das unmittelbar impressionale Erleben selbst auch aufgehoben wurde, um über Vorstellung und Wort »Begriff« im Sinne dialektischer Bewusstseinserfahrung zu werden. Wenn das Sein sich nur symbolisch manifestieren sollte, dann wäre das Subjekt in der Tat nur ein verneintes Begehren, weil es sich in der Aussage als Vollzugsweise des Sprechens selbst vergessen muss. Aber wenn Wissen und Wahrheit des Begehrens dergestalt auf der Diskursebene auseinander fallen, dann heißt dies eben noch keineswegs, dass das Selbstwissen des Lebens als innere subjektive Praxis des Begehrens als solches aufgehoben oder negiert wurde. Ein Hören auf dieses »Wort des Lebens« bleibt demzufolge stets möglich, auch wenn es im Gesagten als unmittelbare Wahrheit nicht mehr vernommen wird, da Bedeutungen auch phänomenologisch »Irrealisierung« als intentionale oder noematische »Idealisierung« besagen. Für Freud bezog sich das Sagen als »Bejahung« auf die Frage, ob etwas Wahrgenommenes, ein Ding, ins Ich aufgenommen werden Vgl. B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik. Eine lacanianische Annäherung für klinische Berufe, Wien/Berlin, Turia & Kant 2013, 115 ff. 6 J. Lacan, Écrits (1966), 388 ff. 5

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soll oder nicht, wodurch die Verwurzelung des Primärprozesses eines attributiven Urteils von Person- wie Sacheigenschaften erklärt werden sollte. Mit anderen Worten handelt es sich, phänomenologisch gesprochen, dabei um die erste Manifestation des Seins für uns, denn nur von dieser Erscheinensweise aus kann etwas als seiend erfahren und entsprechend benannt werden. In einem heideggerschen Sinne verbindet Lacan diesbezüglich ein ursprüngliches Entbergen des Seins mit dem Vergessen desselben in einem Sagen, denn die Bejahung als primordiale Symbolisierung bezieht sich in einem solchen ersten Aussagen (énoncer) auf etwas, das ist, wobei in der entsprechenden Benennung dieses Seiende auch gleich wieder aufgehoben wird, indem sich das Subjekt selbst in diesem Vorgang verneint, da die Wirklichkeit von vornherein durch die »symbolische Nichtung« gekennzeichnet ist, wie wir wissen. Nur durch diesen »Mord« sei das Subjekt im Sinne eines momentanen »Ist«, da die einzige Weise seiner Manifestation als »Wahrheit« das Wort oder die Rede darstellt, denn indem sich das Subjekt in jeder perzeptiven Gegenständlichkeit aussagt, die es ausspricht als Benennung, reduziert es sich selbst auf jenes »Nichts« (rien), welches das »Nichts-Begehren« (désir-néant) ist. In diesem Sinne ek-sistiert das Subjekt nur in der Exzentrizität seiner jeweiligen Aussage, so dass die Wirklichkeit (la réalité), das ist, was gesagt wird, während das Wirkliche (le réel) etwas anderes ist, nämlich die vorgegebene Möglichkeit, dass sich überhaupt etwas in der primordialen Bedingung der Bejahung als Seinsoffenbarung anbietet. Insofern aber diese primordial sich offenbarende Wirklichkeit sofort auch verneint wird durch die Bejahung seitens des Subjekts, ist der Vorgang der Entbergung des Seins/Wirklichen unmittelbar auch zugleich verdunkelt. Wenn jedoch die Entbergung als solche selbst die Verdunkelung bildet, dann ist auch niemals etwas von dieser Entbergung in die Bejahung eingetreten, obwohl letztere als die primordiale Bedingung gesetzt wird. Indem nur das symbolische Gewebe der Wirklichkeit und des Imaginären durch die Bejahung konstituiert wird, welches den »Schatz der Signifikanten« als »Inneres« des Subjekts ausmache, bedeutet die Bejahung unmittelbar Verwerfung des Wirklichen durch die Bejahung selbst – und damit Ausschluss des Wirklichen als dem »Außen« des Subjekts. Dies ist die Weise, wie Lacan epistemologisch und analytisch-therapeutisch die »Einbeziehung ins Ich« und die »Ausstoßung aus dem Ich« im Sinne Freuds für sich versteht. Innen wie Außen muss man sich allerdings bei Lacan als zwei Phänomena275 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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litätsweisen der Gegebenheit für das Subjekt vorstellen, da beide am selben Ort gegeben sind, und zwar nicht als das rein Wirkliche, das alles ist, sondern als das Wirkliche im Sinne des Unbewussten, dessen Korrelat die als Signifikantenkette strukturierte Wirklichkeit des Bewusstseins bildet. Hierbei erweist sich das ursprüngliche Innen des primordialen Signifikanten X als das »Es spricht«, welches im Ausgesagten (énoncé) dem Erscheinen/Verschwinden des Wirklichen entspricht. Allerdings weist Lacan ausdrücklich darauf hin, dass es sich beim Ausschluss des ursprünglichen Außen nicht um das »Innere des Körpers« handelt, sondern um den »ersten Körper des Signifikanten« – und dieser erste Körper (worin sich nach Freud die Welt der Realität bilde) ist bereits durch Signifikanten »punktiert«, oder skandiert, wie sich auch sagen ließe. 7 Sehen wir von der problematischen Metaphorisierung des Signifikanten als »Körper« hier ab, da sie so etwas wie einen »Leib« anstelle des Subjektiven suggeriert, so bedeutet das Attributionsurteil mithin in der Perspektive Lacans, dass alles Qualitative eines Objekts als Attribut formuliert werden kann. Insofern entspricht die freudsche Introjektion bei ihm einer symbolischen Introjektion, da die ausgedrückten Worte als erste Einschreibung des Signifikanten in das Subjekt eintreten und die Vorstellungen als signitive Artikulierungen auftreten. Der Ausschluss außerhalb des Subjekts bedeutet daher keinen Ausschluss außerhalb des Ausgesagten, das heißt außerhalb der Signifikantenstruktur, so dass also nicht etwas ausgeschlossen wird, weil es schlecht erschiene, oder etwas introjiziert wird, weil es gut wäre. Der impressional-affektive Aspekt hat offensichtlich keine Relevanz für Lacan, sondern ihn interessiert nur der Affekt, wie die Sprache denselben wiedergibt, um ihn in einem intersubjektiven Dialog kommunikativ zu ver-äußern, was wiederum nahe der hegelschen Grundthese der Negation der Bewusstseinserfahrung ist. Wie bekannt ist, vermag sich bei Hegel das innere Gefühl nicht selbst zu fassen und sei deshalb schlechthin »ineffabel«, so dass Affekt und Gefühl die dialektische Diskursform annehmen müssen, um überhaupt an den Tag zu gelangen, das heißt erscheinen zu können. Für die analytische Kur bedeutet dies besonders nach Lacan, dass Affekt Vgl. Écrits (1966), 388 f.; Le Séminaire III: Les psychoses (1955–1956), Paris, Seuil 1981, 171 f. (dt. Das Seminar. Buch III: Die Psychosen, Olten/Freiburg, Walther 1980); zur »Ausstoßung« etwa der »halluzinierten Brust« ebenso S. Lippi, Transgressions. Bataille, Lacan, Paris, Érès 2008, 148 f.

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wie Gefühl ausschließlich in einem auf das Unbewusste konzentrierten (und entsprechend auch linguistisch wie rhetorisch kontrollierten) Gespräch zwischen Analysandem und Analytiker formuliert werden können. 8 Im Sprachprozess geht daher für Lacan im Grunde nichts verloren, da es sich um einen unabschließbaren Prozess der Ekstase des Subjekts handle, welches stets in dem von ihm Ausgesagten zugleich erscheint wie verschwindet, weshalb die Therapiestunde auch abrupt bei gewissen Höhepunkten unterbrochen werden kann, so wie sie andererseits unendliche Bedeutungen hervorzubringen vermag, falls dies für die Analyse geeignet erscheint. Da es allerdings ein Wirkliches des Subjekts im Sinne eines Seins desselben (ohne »Ich«) gibt, muss gefragt werden, wie es um jenes Erleben des Wirklichen steht, wenn es »außerhalb der Symbolisierung gegeben ist«? 9 Für Freud findet diese Begegnung mit dem Wirklichen einer äußeren Welt durch die Wahrnehmung statt, während sie in das Innere der Vorstellung versetzt, was durch die imaginäre Reproduktion der ersten Wahrnehmung gebildet wird. Aber da die Realität nicht nur das ist, was ist, sondern nach Lacan vor allem im Sagen des Subjekts als symbolisches Gewebe besteht, wird zwar dieser Vorgang vom Lustprinzip in die Wege geleitet, ohne jedoch dessen Herrschaft zu unterliegen. Denn stets wird etwa fehlen, so dass die Wirklichkeit die grundlegende Nichtübereinstimmung vom gesuchten und gefundenen Objekt bildet. Diese strukturell differente »Wahrheit« bleibt unsagbar, und deshalb entspricht sich bei Lacan auch nicht mehr das Subjekt der Aussage und des Ausgesagten wie im klassischen philosophischen oder metaphysischen Denken. In der Wirklichkeit, welche das Subjekt auf der Skala seiner Objekte zusammenfügt, ist das Wirkliche bereits gegeben, nämlich als von der primordialen Symbolisierung getrennt, wie wir sagten. Insofern bleibt der Ausdruck »Existenz« bei Lacan äquivok, denn er bezeichnet sowohl das Existierende (die Wirklichkeit, Realität) wie das Ek-sistieren (das Wirkliche oder das Symbol): »Denn nichts existiert, es sei denn auf einem vorausgesetzten Hintergrund von Abwesenheit. Etwas existiert nur, indem es nicht existiert – das heißt jenes Symbol, welFür eine radikal phänomenologische Kritik am hegelschen Verständnis des Gefühls und Affektiven vgl. schon R. Kühn, Anfang und Vergessen. Phänomenologische Lektüre des deutschen Idealismus – Fichte, Schelling, Hegel, Stuttgart, Kohlhammer 2004, 311 ff.; für eine diesbezügliche Kritik an Lacan vgl. M. Borch-Jacobsen, Lacan. Le maître absolu (1995), 99 f. 9 Vgl. Écrits (1966), 388. 8

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ches vom Subjekt zu Beginn von der Bejahung ausgeschlossen wurde und nicht in das Imaginäre eintritt.« 10 Stellen wir dieselbe Frage nach dem Zusammenhang von Attributions- und Existenzurteil unter radikal phänomenologischen Voraussetzungen, so ist die Einheit bzw. Differenz von Affekt und Vorstellung, wie Freud und Lacan sie fassen, genauer zu bestimmen. Bei der Erfahrung eines Objekts, welches Lust und Befriedigung verspricht, fallen Bedürfen und Begehren als ein und dieselbe Bewegung des subjektiven Lebens im Sinne permanenter Modalisierungen zusammen, denn die Erprobung des Lust verheißenden Objekts ist zugleich eine innere affektive Erfahrung, die den Gesetzen der immanenten Lebenssteigerung als Pathos unterliegt. Tritt eine Verhinderung bei der Lusterfüllung ein, so dass das verlangte Objekt halluziniert wird, dann bleibt die Immanenz des entsprechenden Affekts als Gefühl des Bedürfens wie des Begehrens in der Einheit der halluzinatorischen Vorstellungsproduktion dennoch erhalten. Je größer nämlich die Kraft der Intensität der Selbstbeladenheit des Ich/Mich mit dem dergestalt hervorgebrachten Bild des Wunschobjektes sein wird, desto größer wird auch die Energie werden, das Bild durch dieselbe Kraft zu zerbrechen oder aber zu vergrößern. In dem einen wie dem anderen Fall belädt sich der Affekt umso stärker mit sich selbst, so dass die Frage nach der rationalen Wirklichkeit der entsprechenden Wahrnehmung sekundär ist, insofern die Irrealität des Bildes solange nicht davon unterschieden werden kann, wie die Tatsächlichkeit einer Veränderung des Objekts nicht eingetreten ist, nämlich die Lusterfüllung oder deren realisierte Unmöglichkeit im Sinne einer Frustration/Kastration. Als Objekt des Begehrens ist dieses Objekt auf jeden Fall vom reinen Begehren her bestimmt, und die Halluzination als Antwort auf eine nicht-effektive Lusterfüllung endet dann, wenn solches Imaginationsgeschehen letztlich wieder ein Handeln herbeiführt, welches einer wirklichen Veränderung in der äußeren Objektwelt entspricht. Ein Objekt rein imaginärer Natur hat niemals in der Welt irgendwo existiert, aber ein Lustobjekt, welches einmal eine wirkliche Befriedigung hervorgerufen hat, kann auch intentional wiedergefunden werden, selbst wenn eine erneute Lusterfüllung aufgrund neuer Umstände nicht möglich ist. Wenn daher »Wiederfinden« nicht bedeutet, dass das Objekt durch die Signifikantendifferenz prinzipiell verloren war, dann wird 10

Ebd., 392.

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auch Lacans Grundthese problematisch, die Erfahrung der (traumatischen) Erfüllung sei stets an das Wiederaufsuchen »des Dings« (la Chose) gebunden, welches als »wirkliche Andersheit« schon im vorichlichen oder vor-existentiellen Sinne für immer als Signifikant X verloren gewesen ist. Denn weder können Bedürfen und Begehren deutlich voneinander getrennt werden, oder es wäre in der Tat von einer für immer verlorenen Lust auszugehen, nur weil das/der Andere schon immer der »Tod« im Spiel von Anwesenheit/Abwesenheit des Objekts wäre. 11 Da der Affekt jedoch in einer immanenten Lebendigkeit prinzipiell zunächst kein Objekt kennt, so dass dieses auch transzendental oder apriorisch nicht »verloren« werden kann, ist gleichfalls das Bedürfen schon immer mehr als eine bloß vitale Kraft im Sinne Lacans, nämlich die absolut selbstaffektive Erprobung des Lebens als solchem, welche bei wirklicher wie halluzinatorischer Lusterfüllung gegeben bleibt, weshalb auf dieser Ebene der Schmerz über den »Objektverlust« immer möglich ist, insofern das reine SichSelbst-Erleiden des Lebens primordial bleibt. Aus diesem nicht hintergehbaren Ur-Leiden ergeben sich die leiblichen Bewegungen wie der Schrei der inneren und äußeren Not, von der auch die Halluzination als reiner Affekt eben noch spricht. Aber die Idee eines primordial verlorenen Objekts ist ein theoretisches Konstrukt, welches die theologischen wie philosophischen Lehren über das Begehren von Augustinus bis Hegel bei Lacan beherrscht, ohne die rein immanente Wirklichkeit des selbstaffektiven Lebens analysiert zu haben, welche auch schon beim Säugling und dessen Bedürfniserfüllung oder -enttäuschung am Werk ist und sich daher im Lächeln, Schreien und anInsofern relativiert denn auch J.-M. Palmier, Lacan. Le Symbolique et l’imaginaire, Paris, Delarge 5 1972, 93 ff., die Differenzierung von »physiologischer Begierde« (besoin), der Frage oder Bitte (demande) als Ebene der Frustration und Liebe des Anderen und dem Begehren (désir) im Sinne der Anerkennung durch das Begehren des Anderen. Aufgrund der sprachlichen Einflüsse sei jedes Bedürfen (Begierde) schon immer durch Frage/Bitte und Begehren durchsetzt. Dies zeigt in unseren Augen nur, dass die eigentliche Erfahrungsebene als Immanenz der affektiven Erprobung nicht unter rein sprachlichen Voraussetzungen wirklich eingeholt und anerkannt werden kann, was wir hier durch den Zusammenhang von Affekt/Vorstellung (Halluzination) in Bezug auf Lust/Objekt exemplarisch illustrieren möchten, ohne spezifische (»psycho-pathologische«) Phänomene wie bei Anorexie oder Obsession etwa zu leugnen, in denen ein Mangel in Bezug auf die frühe Rolle von Mutter oder Vater zum Ausdruck kommt: bloße Bedürfnisbefriedigung ohne Zuwendung an wirklicher Liebe bzw. frühe Trennung vom Objekt des Begehrens als ödipale Verhinderung des eigenen Lustverlangens.

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deren Körperbewegungen äußert, die keinen »zerstückelten Körper« voraussetzen, sondern eine Ur-Leiblichkeit als identisch mit dem pathischen Affekt und dessen Ausdruck als inner-affektive Intensität. Bei Freud dürfte es jene so genannte »endogene Erregung« sein, vor welcher das Ich niemals fliehen kann, und zwar im Unterschied zum Objekt, welches »im Außen« ist, aber durchaus auf halluzinatorische Weise an meiner leiblich-affektiven Erprobung qua Leiblichkeit stets teilhat. Eine ähnliche Analyse führt ebenfalls zur Infragestellung der Identifikation als Spiegelung oder entfremdende Symbolisierung, da auch hierbei der Affekt weder opak oder formlos ist. Vielmehr ist der grundsätzliche Zweifel erlaubt, ob der Affekt im radikal phänomenologischen Sinne jemals durch ein anderes, ihm äußeres Prinzip verstanden werden kann, welches anstelle der selbsttransparenten Intensität der Immanenz letztlich die Absolutheit des ekstatischen Sehens durchscheinen ließe. Die transzendentale Affektivität als Proto-Relation zwischen passiblem Leben und radikaler Individuierung ist daher die phänomenologisch konkrete Möglichkeit jeglicher Identifikation als eine der Potenzialitäten des Lebens, womit die absolute Trennung Lacans zwischen dem Subjekt als Wirklichkeit des Selbst und dem Imaginären als Modus des Ich in symbolischer Hinsicht erneut fragwürdig wird. Denn die Fremderfahrung im Sinne Husserls und seiner Nachfolger ist eine wirkliche Erprobung des »anderen Ich« auf der Ebene der radikalen Vorgegebenheit eines gemeinsamen mitpathischen Lebens, in dem sich jedes Individuum jeweils als »Ich« (Mich) originär erprobt (Henry). Ich bin daher nicht bloß »wie ein Anderer«, dessen Begehren ich als die Anerkennung meines eigenen Begehrens aufsuchen will, so als gäbe es zuvor keine Gemeinschaftlichkeit oder identisches Leben bereits (und zwar auf der Ebene eines jeden Affekts), sondern der »Andere« ist mir immer schon »identisch«, insofern er ein »Ich« wie ich selbst bin. Eine Intersubjektivität als rein sprachliche Begegnung von der Trennung der Signifikanten aus setzt mit anderen Worten stets schon eine absolute Subjektivität voraus, welche vor allem zunächst das je eigene Sich-Erfreuen und Sich-Erleiden erprobt, um genau diese vorzeitliche Grundverwirklichung des rein phänomenologischen Lebens auch beim »Anderen« realisiert zu wissen – nämlich über den Affekt, da ich niemandem »begegnen« kann, ohne ihn zugleich als originär lebendig zu erfahren. Natürlich können Begegnungen relational, existentiell oder dialogisch verfehlt werden, aber die »fehlende Begegnung« ist als prinzipieller »Tod« im 280 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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Sinne gegenseitiger Entfremdung nicht die transzendentale Ausgangssituation von reziproker Identifikation im Bereich des ursprünglich mit-pathischen Lebens. Bei Lacan ist der Andere von Beginn an ein Spiegel des Ich, und mein Sagen macht aus ihm – mittels des Ausgesagten – das und den Anderen schlechthin (»groß A«), um Zeichen von ihm zu empfangen, welche den mythischen Augenblick der nie realisierten Lustbefriedigung enthalten, insofern das Objekt im Zeichen selbst verloren ging. Die (wieder rein metaphorische) »Geburt« in der Sprache soll identisch mit diesem ursprünglichen Objektverlust sein, da jedes Wort die Objekte tötet, weshalb das Begehren danach strebt, »das Ding« als strukturelles X in allen Signifikanten wiederzufinden, um meine verlorene oder nie wirklich realisierte Lust beim Anderen zu erreichen. Der Bezug des Subjekts auf einen Signifikanten ist daher Tod wie Phantasma zugleich, da das Subjekt verschwindet, sobald es als Begehren zum Anderen hin spricht. 12 Nun lässt sich kaum bezweifeln, dass Laute und Bewegungen des ersten Anderen (Mutter etc.) zunächst impressional erfahren werden, das heißt nicht als Gegenstand der Wahrnehmung, sondern als affektive Erprobung im eigenen Leben (des Säuglings). Auch wenn eine Erinnerung daran später nicht möglich ist, bleiben solche Bewegungen eingeschrieben in die leibliche Nacht als »Gedächtnis« des originären Empfindenkönnens, welches die Ur-Leiblichkeit eines jeden Menschen schlechthin bildet. Lacan wollte im »Nebenmenschen« als Begriff Freuds für den Anderen nur die Trennung (das »Neben«) sehen, bzw. die Identifikation als eine Spiegelung darin, aber jenes »Neben« (als der »Nächste«) ist nur möglich, weil es zuvor einen gemeinsamen »Ort« für alle Relationen gibt – den gemeinsamen Grund eines selbstaffektiven Lebens, in dem alle Affekte und Bewegungen als proto-relationales Grundpathos wurzeln. Daher ist der Andere nicht »wie« ich im strengen Sinne, das heißt bloß als ein mir ähnliches Bild, von dem ich meinerseits als ein anderes Bild getrennt bin, sondern der Andere ist ein mir Gleicher im Leben, auch wenn seine Ipseität nicht die meine bildet. Den Anderen lieben oder zu begehren heißt demzufolge, das selbe Leben in Vgl. J. Lacan, Le Séminaire VII: L’éthique de la psychanalyse 1959–1960, Paris, Seuil 1986, 64 f. (dt. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Quadriga 1995); Écrits (1966), 656. Ebenso Séminaire VI: Le désir et son interprétation, Paris, Éditions de la Martinière 2013, 291: »Das Phantasma ist für uns die Axe, die Seele, das Zentrum, der Schlussstein des Begehrens.« Vgl. auch ebd., 263 ff. u. 335 ff. zum Objekt des Begehrens in Abhängigkeit von der Anfrage an den Anderen.

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jedem Einzelnen zu lieben, ohne die Andersheit der Ipseität aufzugeben. Für Lacan ist zudem der »Nächste« letztlich mein eigenes Herz, dem ich mich nicht zu nähern wagte, wie wir schon sahen, weil es jene Aggressivität gegen mich selbst enthalte, aus dem das »Unbehagen in der Kultur« im Sinne Freuds entspringe. Diese Aggressivität als Nicht-Wissen über das Innerste meines Herzens ist Leere oder Nichts (rien), wodurch auch der Andere gehasst werde, weil er mir meine Lust raube. Und da ich das verlorene »Ding« dieser unmöglichen Lust in meinem Begehren wieder finden möchte, kämpfe ich gegen jene imaginären Wände an, welche die Trennung der Signifikanten zwischen den Anderen und mir entstehen lässt, um zu sehen, was dahinter das eigene Bild sei. Auch wenn nun Lacan zugute zu halten bleibt, dass er diese hegelsche Anerkennungsdialektik um die (therapeutisch-analytische) Wahrheit der Obsession neben dem Kampf von Herr/Knecht im Zusammenhang mit der Haltung von Stoa, Nihilismus und Religion erweitert hat, 13 so bleibt doch, dass in der Mitte dieser Vermittlung die ekstatische Struktur von (sa)voir, faire (sa)voir und se faire (sa)voir maßgeblich bleibt, das heißt als bald imaginäre bald symbolische Ordnung von Wissen/Sehen, Sehen/Wissen-Lassen sowie Sich-Sehen/Wissen-Lassen. Die Wirklichkeit des Affekts (als »Objekt klein a«) sowie die Wirklichkeit der Liebe als Leiblichkeit wird dabei unilateral der sprachlichen Formalität von Subjektivierung/Objektivierung untergeordnet. Freud hat in solchem Zusammenhang sicher das Gebot der christlichen Nächstenliebe insofern als zutiefst unverständlich aufgenommen, als er von einem originären Egoismus der Individuen ausging, welcher die Erfüllung dieses Gebotes als unwahrscheinlich erscheinen ließ. Aber damit war der Andere als ein mir gleiches Ich nicht geleugnet, auch wenn Freud – wie Lacan – die transzendentale Wirklichkeit eines allen Individuen gemeinsamen radikal phänomenologischen Lebens nicht analysiert hat. Dies hielt ihn allerdings nicht davon ab, etwa 1921 in seinen Untersuchungen zur »Psychologie der Massen« für die Psychoanalyse eine Identifikation mittels der Gefühlsbindung an eine andere Person anzuerkennen, was über die bloße Teilidentifikation wie mit der Mutterbrust noch hinausgeht. Aber selbst eine solche Identifikation mit der mütterlichen Brust (oder eines Teils des Anderen) ist mehr als »Spiegelung« im Sinne Lacans, da das Empfinden von »Ich bin (genieße) die Brust« eine af13

Vgl. Écrits (1966), 314, dazu J.-M. Palmier, Lacan (1972), 98.

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Der »aufgeschobene Tod« im Begehren

fektive Wirklichkeit darstellt, welche mein Leben selbst ist – und nicht nur ein distanziertes Erfassen eines Objekts durch ein isoliertes Ich. Wenn also bereits eine Dingidentifikation das eigene Sich-Empfinden insgesamt voraussetzt, dann muss das Bindungsgefühl zu einem Anderen als Trieb, Libido, Eros, Begehren etc. die Impressionabilität eines gemeinsamen Lebens implizieren, so dass in jeder Selbstaffektion die Anderen immer schon potentiell mitgegeben sind. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass »ich der Andere bin« (sowie umgekehrt), was demzufolge eine Korrektur des lacanschen Prinzips des strukturellen »Ich bin ein Anderer (für mich selbst)« darstellt. Der freudsche Narzissmus wie die hegelsche Dialektik der imaginären Identifikation über Kampf, Prestige und Meinung verlangen daher radikal phänomenologische Weiterführungen, die für jede Psychotherapie zentral sind, sofern weder ein solipsistisches Begehren noch ein rein intersubjektiver Weltsinn (äußere Relation als Anerkennung) hypostasiert werden können, sondern Begehren/Sinn bzw. Trieb/Intentionalität stets zusammen auftreten, nämlich gemäß der Intensität oder Selbstbewegung des rein phänomenologischen Lebens. Selbst innerhalb der Dialektik von Sadismus/Masochismus ist das lebendige Grundverhältnis von Passibilität/Aktivität noch vorausgesetzt, um überhaupt Leiden erfahren oder zufügen zu können, insofern jeweils eine (perverse) Identifikation des eigenen Ich mit der Macht oder dem Leiden des Anderen stattfindet. Dass es sich hierbei um »sexuelle Lust« handeln soll, wird nur dann verständlich, wenn man mit Freud annimmt, dass sich die Lust bei diesen Erotikformen als marginale Effekte in einer Reihe von inneren Prozessen verwirklicht, da diese gewisse »qualitative« Momente übersteigen, wie Freud etwa in den »Drei Abhandlungen über Sexualtheorie« ausführte. Das »Qualitative« ließe sich in der Tat mit der reinen Subjektivität vergleichen, deren Passibilität stets eine Steigerung impliziert, so dass die Gleichzeitigkeit von Libido/Schmerz prinzipiell nicht ausgeschlossen sein muss. Versteht man mit Freud den »primären Masochismus« (wie den »primären Narzissmus«) in einem solch prinzipiell phänomenologischen Sinne der ursprünglichen Möglichkeit des Sich-Selbst-Empfinden-Könnens, dann geht es dabei zunächst nicht um einen Versuch der (sadistischen) Selbstzerstörung, sondern um die Grunderfahrung der passiblen Ohnmacht sich selbst gegenüber, die immer auch Flucht vor einem selbst und ein Ressentiment sich selbst gegenüber impliziert, indem die Selbststeigerung des Lebens sich scheinbar nur nach außen in einer projizierten Befreiung zu 283 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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»entladen« vermag. Hier erst entsteht dann der wirkliche Sadismus und Masochismus, der zerstören will, aber dennoch stets als Aggressivität das Sich-nicht-mehr-Erleiden-Können weiterhin voraussetzt. Unsere Untersuchung zeigt daher immer deutlicher, dass die theoretische Konzeptualisierung des rein phänomenologischen Anfangs als Psyche, Affekt oder Trieb etc. nicht unschuldig sein kann, sondern jeweils darüber entscheidet, was als primär oder prinzipiell für die weitere Analyse angenommen wird. Im vorliegenden Fall ist der »primäre Masochismus« bei Freud also wohl kaum die Wendung eines zunächst nicht-sexuellen, sondern hetero-aggressiven Triebes auf sich selbst bzw. der Übergang zur Selbsterotik als Sexualisierung eines solchen umgekehrten Triebes, 14 sondern eher ein »Ur-Leiden« im Sinne Nietzsches, nämlich der Geburt im Leben ab-gründig ausgesetzt zu sein. Dieses »Ausgesetzt-Sein« als »Gewalt des Lebens«, wie wir von Beginn unserer Arbeit an sagten, vermag vorrangig einen analytischen/therapeutischen Boden für all jene Phänomene abzugeben, die sich dann als gelungene oder verfehlte Identifikation im Bereich libidinös geprägter Relationen einstellen. In Bezug auf Lacan als Neo-Psychoanalyse ergibt sich daher nicht nur die abschließende Fragestellung, ob das sekundäre Ich der Spiegelung hinsichtlich einer sich daraus ergebenden Subjektivierung als Phantasma solche Kategorien beinhaltet, welche der Ursprungssituation der transzendentalen Lebendigkeit des Menschen nicht entsprechen, sondern ob vom selben Autor jemals etwas anderes als ein Subjekt der Re-präsentation gedacht und analysiert worden ist? Natürlich liegt bei Lacan nicht länger das klassische Subjekt/Objekt-Verhältnis vor, sondern eher das Zusammenfallen von Subjekt/Objekt als »Differe(ä)nz« schlechthin, womit das Projekt der Moderne deutlich unterschrieben wird, wie es im Grunde seit Kant vorgezeichnet war: die Subjektivität als Bedingung der Objektivität kann nicht mehr sein als die Gesamtheit der letzteren selbst, worunter dann auch das »Subjekt« fällt. Hegel formulierte dies nur auf seine geschichtlich-dialektische Weise neu, indem es kein »Ansich« vor der Vermittlung durch das »Fürsich« gebe, mit anderen Worten keine Immanenz des Gefühls, Affekts, Lebens, Subjektiven etc. ohne seine Gegenständlichkeit als speculum oder Licht, was bei Lacan zum Spiegelbild als

Dies entspricht der These von J. Laplanche, Vie et mort en psychanalyse, Paris, PUF 2008, 137 f.; zu den verschiedenen Erotikformen vgl. auch schon unser Kap. I,3.1.

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»Schwelle der sichtbaren Welt« wird. 15 Die Anwesenheit als prinzipielle Sichtbarmachung seit dem griechischen Denken, welches sich durch den Primat der Vorstellung in der Moderne vollendet, wird bei Lacan so zur Vorherrschaft des imaginären Narzissmus. Die Ek-stasis behält hierbei in allem ihr Recht als »optisches Schema« der von Lacan eingefangenen Verfremdung des Ich durch sein Bild, ohne letzteres selbst zu erschüttern, wie es die Konfrontation mit dem lebendigen Begehren als psychoanalytischer Grundgegebenheit an sich erwarten ließ. Wenn jedoch im Grunde ein traditioneller Subjektbegriff (auch wenn er hier als ursprüngliche Entfremdung des imaginär und symbolisch Anderen gedacht ist) Analyse und Therapie theoretisch leiten soll, dann ist Vorsicht angesagt, insofern das zuvor von uns unterstrichene »Ausgesetztsein« der Subjektivität als selbstaffektive Erprobung phänomenologisch durch nichts anderes substituiert werden kann, ohne zu leugnen, dass die Beziehung zu Anderen fundamental für das Selbstverständnis in der Therapie mit ist. Es bleibt jedoch äußerst problematisch, die Selbst-Vorstellung durch eine absolut wirkende Hetero-Vorstellung (»groß A«) prinzipiell zu ersetzen wie bei Lacan. Das Ich ist dann nicht nur für sich ein imaginäres Bild, sondern es verschwindet sogar als Selbst im symbolischen Kontext des Anderen, um eine Abwesenheit seiner selbst zu sein, insofern jegliche Repräsentation das Nichts eines ausgesagten Subjekts als Signifikant setzt. Ohne Zweifel bedeuten die Signifikanten weiterhin etwas auf der Symbol- oder Sinnebene, aber letztlich stets das Selbe – nämlich das Verschwinden des Subjekts in seinem Erscheinen selbst. In der Therapie lässt sich dies durchaus strukturell für die Dekonstruktion von illusionären und imaginären Sinnkonstrukten verwenden, aber es bleibt die Frage des Sich-Selbst-Empfinden-Könnens, um das reine Ausgesetztsein ins Leben als eine transzendentale Geburt zu verstehen, die selber keine Illusion mehr sein kann – denn genau dies ist diesseits aller Vorstellungen zu leben. Obsession, Zwang, Psychose, Neurose etc. sind versuchte Antworten auf dieses radikale Ausgesetztsein, wobei in der Tat verschiedene libidinöse Konstellationen der existentiellen Anfangsrelationen für das Kind eine Rolle spielen, aber auch die Relation im familiären oder intersubjektiven Sinne ist keine hinreichende Gegebenheit ohne die absolut phänomenologische Vorgegebenheit des Lebens als dessen Selbstgebung, weshalb weder traumatisierende Situationen noch relatio15

Écrits (1966), 95.

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nale Prozesse allein zur Erklärung von »Triebschicksalen« herangezogen werden können. Diese verweisen stets in das Abyssale des Lebens letztlich, um von daher verstanden und »therapiert« werden zu können – und zwar nicht von einem theoretischen Begriff »Leben« her, sondern von der je individuellen Subjektivität als dem allein wirklichen oder intensiven Leben aus. Eine Auto-Hetero-Repräsentation wie bei Lacan (Selbst/Ich) macht daher das Subjekt nicht nur zu seiner ständigen Vor-Stellung seiner selbst, sondern das gesuchte subjektive Sein erschöpft sich im doppelten Sinne in dieser ständigen Ex-Position seiner selbst: es ist phänomenologisch nichts anderes dann als dieses fortwährende Aus-Sich-Heraustreten, worin sich all seine Energien als Begehren aufzehren sollen. Das »Ansich« eines solchen Subjekts besitzt nicht nur keine phänomenologische Substantialität oder Materialität im Sinne einer affektiven bzw. pathischen Leiblichkeit, sondern es existiert nur als sich selbst je erneut aufhebende Aussage – mithin als ein Nichts ohne Grund, das heißt als ausschließliche Negativität. Wenn letztere das einzige »subjektive« Erscheinensgesetz des »Fürsich« wie bei Hegel ist, dann bildet diese Dialektik der Signifikanten dennoch keine Geschichte im Sinne irgendeines Werdens des absoluten Geistes mehr, zu dem das Bewusstsein hinfinden soll, sondern nur eine Dialektik des Immer-Gleichen des Sich-Sagens als Nicht-Sein. Der »Mord« eines jeden Dings nach Lacan bedeutet daher zugleich eine Selbsttötung (die dem Narzissmus widerstreitet), um im Diskurs des je Anderen das Unbewusste als Begehren eines solchen Nichts (rien) zu leben, wobei das Signifikat für immer ein unerkennbares oder nicht fassbares X bleibt. Die »Wahrheit« als aletheia eines solchen Subjekts bleibt also das Sich-Selbst-Sagen als das eigene Verschwinden, wodurch es für den Anderen eine vorübergehende Funktion als Vorstellungsvertreter im Raum der Ek-stasis ohne Leben (Fleisch) einnimmt. Das Phantasma bei Lacan als Sich-Wissen-Wollen bzw. als Begehren eines stets entweichenden und damit unbekannten Objekts wird selbst zu einem imaginären Objekt, welches unaufhörlich aus dem Feld des Symbolischen herausgeschleudert wird, um sich als Verlust solcher Bedeutungssuche wiederzufinden, wie wir zeigten. Brust, Phallus, Blick, Stimme etc. des Anderen werden dergestalt zu einem scheinbar wirklichen Objekt (»klein a«), welches jedoch als verloren auftritt, um dem nicht vorstellbaren Begehren nur die Möglichkeit einer täuschenden Identifikation darzubieten. Ein solches Phantasma ist dementsprechend wie ein »Fens286 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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ter« oder ein »Spalt« bzw. auch wie ein »Schlüsselloch«, um jener Szene einen Halt zu geben, worin das Subjekt dann selbst stets wieder verschwindet, indem es sich zu sehen meint, um jedoch zu realisieren, dass es nicht tatsächlich jenes Objekt für das Begehren des Anderen ist, woran es in seiner Projektion glaubte. Heruntergebrochen auf die therapeutische Ebene kann deshalb bei der Diskussion psychoanalytischer Deutung ein Lacanianer wie Bruce Fink zu der relativ schlichten Feststellung gelangen: Ist der Prozess beendet, worin sich die Signifikanten (Rationalisierungen) »in das Loch werfen, das die Verdrängung produziert hat« (Lacan), dann »kann ein Wandel im Hinblick auf die ›subjektive Haltung‹ stattfinden; ein Wandel, der die Art und Weise betrifft, wie der Analysand sein Leben genießt; ein Wandel, der dem unendlichen Versuch, das zu erklären, was unerklärlich ist, ein Ende setzt.« 16 Was dieses neu gewordene »Genießen« ist, wird nicht weiter gesagt, so als würde sich die Selbstverständlichkeit des Lebens im verbalen Sinne (»leben«) unmittelbar schon dadurch einstellen, falls die Hypostase des Erklären-Wollens ihr notwendiges (therapeutisches) Ende gefunden hat. Der phänomenologisch unaufgeklärte Zusammenhang von Erklären/Leben setzt daher des Weiteren die lacansche Problematik des Triebes als Begehren frei, welches eben kein Affekt ohne Sagen ist bzw. ein bloßes Fehlen des Objekts, das beim Anderen durch die »Schlüssellochperspektive« wie bei Sartre gesucht wird. Das Objekt des Triebes ist für Lacan nämlich jener Blick, der sich im Auge des Anderen wieder erkennen möchte, was zweifellos nicht geht, weshalb sich eine »Magie« der Gegenwärtigung herausbildet, welche als »Schatten hinter dem Vorhang« des Blicks nur wiederum die eigene Abwesenheit inszeniert. Denn der Trieb kehrt unweigerlich wieder, nachdem er sein (abwesendes oder fehlendes) Objekt umkreist hat und nicht realisieren kann, dass er nicht das verlorene Objekt für das Begehren des Anderen darstellt. 17 Die Zirkularität des Triebes bringt also nur scheinbar ein neues Subjekt hervor, aber es gibt ebenso wenig dieses neue Subjekt im Augenblick der Triebverwirklichung (im Anderen) wie es ein vorheriges Subjekt schon gegeben hätte – sondern nur die Zirkularität des Triebes als SignifikanGrundlagen der psychoanalytischen Technik (2013), 138 f. Vgl. J. Lacan, Le Séminaire XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse (1964), Paris, Seuil 1973, 162, 166 u. 243 (dt. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Freiburg/Olten, Walter 1978).

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tenkette selbst. Dabei hat der Blick eine besondere Funktion in der Triebanalyse nach Lacan, indem das Objekt im narzisstischen Feld der Magie und der Fata Morgana als jenseits des reinen Bildes im Außen erscheint. Dieser Primat des Räumlichen und Visuellen erklärt deshalb das Phantasma besonders angemessen bei Lacan, insofern die Sicht als das Imaginäre am besten für den Patienten die Kastration der »narzisstischen Objektwahl« (Freud) verkennen lässt. 18 Diese Vorrangstellung der Sicht oder des Blicks kann allerdings nicht den phänomenologischen Sachverhalt verdunkeln, dass wir uns weiterhin in der Hypostase der Vorstellungs-Ekstasis bewegen, die das Erklären der Objektwerdung einschließlich seines permanenten Verlustes gegenüber der lebendigen Intensität der inner-pathischen Objekterprobung bevorzugt. Wenn die freudsche Entdeckung des Unbewussten einen gewissen Bruch mit der philosophischen Tradition darstellt, welche im Unbewussten nur eine Latenz des wachen Bewusstseins bzw. der Wiedererinnerung sah, so verweisen eben die Alltagsphänomene wie Lapsus oder anderer Fehlleistungen, aber auch die neurotischen und psychotischen Symptome, auf eine phänomenologische Eigenständigkeit des »Unbewussten« als eines affektiv unsichtbaren »Lebendigseins«, welches prinzipiell in keine Vorstellungskategorien eintritt, weil es einer anderen Erscheinensweise als der Phänomenalisierung des Lichts oder der Schau angehört. In diesem Sinne hätte Freud daher mit einer lange Zeit vorherrschenden »Metaphysik der Vorstellung« gebrochen, wenn auch der positivistische oder naturalistische Akzent einem teilweise naiven Realismus verhaftet bleibt, der nicht einfach als die besondere »symptomale Wissenschaftlichkeit« der Psychoanlyse hinwegdiskutiert werden kann, welche nur dem Analytiker in der Praxis zugänglich sei. Trotz dieser Einschränkungen ist der von Freud geleistete ontologische Umsturz nicht zu verkennen, welcher von der Lebensphänomenologie Michel Henrys 19 mit Hilfe einer doppelten originären Erscheinensweise auch phänomenologisch legitimiert zu werden vermag. Durch die radikale Phänomenalisierung des Ontologischen ist auch das »Unbewusste« nicht länger nur ein vergessenes oder verdrängtes Sein, wie wir schon öfVgl. Ph. Julien, Pour lire Jacques Lacan. Le retour à Freud, Paris, EPEL 1990, 187 f. Vgl. »Genealogie des Freudianismus«, in: M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 93–105.

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ters unterstrichen, sondern ein eigenständiges Erscheinen, welches seine Stätte im unsichtbaren oder vorsprachlichen Pathos des leiblichen Affekts besitzt. Die Neo-Psychoanalyse Lacans kann durchaus die Aufmerksamkeit für wichtige Sprachabläufe innerhalb der Kur schärfen, was ohne Zweifel ein großer Gewinn ist, der weiterhin festzuhalten bleibt, aber der Primat der Signifikantendifferenz als angeblicher Manifestationsweise eines im Anderen vergessenen Selbst lässt nicht die ursprüngliche Einheit von Selbsterscheinen/Erscheinung im und als Leben zum Tragen kommen. Das Problem in der Therapie ist demzufolge also nicht, dass es zu wenig »Subjekt« gibt, sondern zu viel Intensität desselben, das heißt eine zu durchquerende Ausgesetztheit ins Leben als Unerträglichkeit desselben, wo die transzendentale Lebensgeburt als auch eine existentielle Notwendigkeit im Sinne phänomenologisch absoluter Bedingung nicht mehr »begehrt« werden kann. Anders gesagt muss das freudsche Unbewusste als Trieb (Libido, Eros) zunächst im rein phänomenologischen Sinne überhaupt möglich sein, so wie auch die sprachliche Differenz als Trennung und Entfremdung vom Wirklichen (des Subjekts) im Sinne Lacans ihre Berechtigung in der zweifachen Phänomenalität von Welt/Leben findet, insofern das Objekt oder Ding eine Weise der Erprobung apriorischer oder leiblicher Affektivität darstellt und sich nicht in einer leeren Bedeutung für das Begehren erschöpft. Wir lesen daher Lacan gewinnbringend als eine Problematisierung des Zusammenhangs von Begehren/Sinn, der mit einer klassischen Annäherung reiner Intentionalphänomenologie (Husserl) oder dekonstruktivistischer Differenzmethode (Heidegger, Derrida) nicht zufriedenstellend gelöst ist, insofern weder das Begehren dem Sinn noch der Sinn dem Begehren zu opfern ist – oder beide nur eine unbenennbare »Spur« hinterlassen, welche als Fragment oder Fraktur (Nancy) zu keiner »Sammlung« fähig wäre. Will man daher einen bloßen Parallelismus oder Gegensatz von Begehren/Sinn hinterschreiten, um eine Einheit des individuellen Erscheinens selbst unter narzisstischen Verzerrungen noch beizubehalten, dann gibt es eine ursprüngliche Ko-Existenz von Begehren und Sinn, indem diese beiden Begriffe in ihrer phänomenologischen Realität das Gesamt der möglichen (konkreten) Modalisierungen leiblich-affektiver Bewegung umfassen. Mit Blick auf Freud hin gesprochen, gibt es somit kein »Es« ohne »Mich«, so wie es auch keinen sprachlichen Sinn (Signifikant) ohne affektive Rückbindung an dasselbe Mich/Ich zu geben vermag. Die Frage des Narzissmus als Illusion vieler Übertragungs289 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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und Projektionsprobleme in Bezug auf Objekte und Personen kann daher im Zentrum von Analyse und Therapie wie Supervision bleiben, aber älter als dieser Narzissmus ist die Selbstliebe des Lebens, welche ein Individuum als Geburtsstätte seiner Existenz wieder erkennen kann, ohne den kränkenden und frustrierenden Täuschungen des (psychologischen) Narzissmus unterliegen zu müssen. Kein Affekt realisiert in der Tat ein reines »Es«, sondern jeder »Affektbetrag«, wie Freud ihn nennt, ist mehr als ein anonym energetischer Triebvorgang, sofern es sich bei der geringsten Bewegung des Leibes schon um eine effektive Phänomenalität in der »ersten Person« (Maine de Biran, Henry) handelt. In radikal phänomenologischen Termini entspricht dies einem Gegeben-sein als Selbstgebung im reziproken Sinne von Leben/Ich, deren Kraft identisch ist. In der reinen Außensicht (Intuition, Sinn, Sprache, Projektion etc.) kann dabei Entfremdung und Verdrängung auftreten, weil die Einheit des ursprünglichen Ich/Leben nicht länger dabei erprobt wird, das heißt das »Mehr« des affektiven Ausgesetztseins nur als »Problem« oder »Störung« erlebt wird, anstatt gerade aus dem Selbsterscheinen des Lebens heraus verwirklicht zu werden, indem fremde Kategorien des Welterscheinens auf der Ebene des Sinnes und der Relation ausschließlich zum Verständnis dieses Lebens herangezogen werden. 20 Der Begriff des Komplexes bei Freud kann daher mit Recht als die Heterogenität oder Duplizität von Phänomenen verstanden werden, wie beispielsweise das Verhältnis von Unbewusst/Bewusst, Affekt/Vorstellung oder Trieb/Verdrängung. Damit wird der klinischen Praxis grundsätzlich Rechnung getragen, möglicherweise direkter als eine systematisierende Theorie, die wie bei Lacan einen weiten philosophischen Horizont offenbart, sich aber selbst entgegen allem philosophisch kritischen Selbstverständnis vom Gespräch Psychoanalyse/Denken abschneidet, insofern kein philosophisches Denken das Begehren angemessen thematisieren könne. Wenn nun die Phänomenalität des Lebens mit der des Begehrens als Affekt selbst identisch ist, ergibt sich hinter Vorstellungsdenken und Verdrängungsgenese indes eine »dritte Genealogie« des Affekts als solchem, wo Tiefenpsychologie und radikale Phänomenologie gemeinsam zur Geburtsstätte des »Ich/Mich« vorstoßen können, ohne die szientistischen Mythen des 19. Jahrhunderts oder die gegenwärtige DifferenzhyposKonkrete Beispiele für die therapeutische Praxis sollen im folgenden Kap. II,6 diskutiert werden.

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tase der Moderne einfach zu wiederholen. Überzeugend aufzuweisen, warum ein Affekt stets Bedürfen wie Begehren im Zusammenhang mit einem »Ichgefühl« impliziert, das freudig oder äußerst schmerzvoll sein kann, erscheint daher als das Grundproblem des Übermaßes des Lebens in dessen Selbst-Aussetzung als Selbststeigerung, Ressentiment und Flucht, in denen der Narzissmus auf je besondere Weise seine Rolle spielt, um einen solchen Affekt als Triebgeschehen im Sinne der Erfüllung oder Kreativität bzw. der imaginären wie halluzinatorischen Ersatzbefriedigung zu durchleben oder zu leugnen. All diese Phänomene gehen von einem radikal erprobten Sich aus und führen trotz Verdrängung oder Flucht zu demselben zurück, weil es niemals eine »Befreiung« von einer solchen Ipseität als Ursprungsidentität zu geben vermag, solange wir impressional empfindende Wesen sind, die in diesem Sinne niemals einen »Tod« signieren, wie es die lacansche Theorie fordert. Natürlich gibt es intentional durchaus die Differenz als Grunderscheinen von Welt, Sprache und Sinn, aber das Leben kann zu keinem Augenblick unterbrochen oder davon getrennt werden – denn dann wären wir sofort in der Tat im Nichts und im Tod in ontologischer Hinsicht. Somit gibt es letztlich nicht zwei Kräfte im Sinne eines freudschen Dualismus, das Ich und die Verdrängung, die sich ignorierten oder gegeneinander strebten, ohne sich zu kennen, sondern die Idee einer objektiven Vorstellung ist zugleich stets im Zusammenhang mit einem »nie unbewussten Affekt« zu sehen, der als Lebensaffektion bei aller ekstatischen Unsichtbarkeit niemals völlig vergessen werden kann. Selbst unerkennbar ist solcher Affekt als Kraft bis in jede Vorstellung (einschließlich des Imaginären und Phantasmas) hinein gegeben, wobei allerdings hinter der scheinbaren Freiheit eines solchen Hervorbringungsprozesses nicht die originäre Nicht-Freiheit der Passibilität vergessen werden darf, welche auch als Hindernis, Widerstand oder Zwang erlebt werden kann, falls sich das Übermaß den Kategorien der Vorstellungen nicht einfügt – diese aber über ein bestimmtes Ichbild an ihren rigiden Sinnvorgaben festhalten wollen. Begehren/Sinn können im Prinzip kreativ ineinander überfließen, aber ihre Reziprozität kann als fluider Übergang untereinander auch blockiert werden, wenn Selbstanspruch, Moralität oder Ideologie (Zeitgeist) eine solche Fluidität als Selbstbewegung des Lebens im Sinne einer zu erneuernden »Metaphysik der Intensität« nicht zulassen. Hier kann die lacansche Signifikantenlehre eingreifen, wenn Bedeutungen und Relationen zu einseitig rationalisiert oder fixiert wer291 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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den. Gleiches gilt für das Unbewusste als Handeln, welches uns oft als instinktiv erscheint, aber an sich der inneren Modalisierung des subjektiven Lebens im Sinne von Bedürfen und Begehren gemäß einer immanenten Teleologie des Affektiven folgt, welche nie ohne Angst sein kann, da diese jenes Gefühl ist, dem lebendigen Sich nicht angemessen entsprechen zu können. Hier ist das »Hören« auf das innere »Wort des Lebens« besonders notwendig, um diese innere Teleologie nicht mit der rein welthaften Finalität verwechseln zu wollen, welche die Angst des Sich bis hin zur scheinbaren Unmöglichkeit der Existenz selbst steigern kann, um sich als »Todestrieb« oder Suizidialität zu erleben. All diese pathischen Prozesse sind »unbewusste« Prozesse, die zunächst keiner Symbolisierung im Sinne Lacans unterliegen, aber gerade durch dieselbe als einer objektivierenden Außenheit die eigenständige »Sprache« des Affekts als Empfinden nicht mehr unmittelbar zulassen. Gerade das Hervorbrechen der Angst als Frage der Ipseität nach sich selbst zeigt, dass das »Unbewusste« ohne Vorstellung ist, was aber nicht heißt: ohne eine andere Phänomenalisierung, nämlich eine Lebensphänomenalisierung, die wir auch die Selbstaffektion des Lebens genannt haben. Da eine solch ipseisierende oder selbstaffizierende Phänomenalisierung ebenso konstitutiv wie konstant für jedes Individuum als Erscheinens-Möglichkeit aller Wirklichkeit (Welt/Sinn) ist, müssen die anonymen Prozesse bei Freud (Es/Über-Ich) wie bei Lacan (Differenz/Entfremdung) radikal phänomenologisch hinterfragt bzw. weitergeführt werden. So sieht Lacan zwar, dass es einen Unterschied zwischen der Evidenz eines »Ich sehe, dass ich mich (mir selbst) vorstelle« und einer unmittelbaren Wärmeempfindung gibt, die impressional meinen ganzen Leib ergreift, was von der Sicht als ekstatischem Blick der Wahrnehmung oder der inneren Idee nicht ebenso direkt gesagt werden kann. Aber wie Heidegger hinterschreitet Lacan nicht dieses »Vor« der Vorstellung im Sinne einer primordialen Phänomenalisierung der Distanz oder Differenz auf eine pathische Immanenz hin, welche jede Art von Transzendenz selbstaffektiv durchzieht, um sie radikal phänomenologisch zu gründen. 21 Da alle klinischen Phänomene wie Neurose, Psychose oder Obsession und Perversion auf ein Leiden zurückgehen und sich als ein solches darstellen, gibt es nicht nur einen »inneren Konflikt« zwischen Begehren und (Nicht-)WolVgl. J. Lacan, Le Séminaire XI: Les quatre concepts fondamentaux fondamentaux de la psychanalyse (1964), 76 f.

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len bzw. Libido und Verdrängung, sondern stets auch das Erleiden eines immanenten Triebes, welcher sowohl als Befriedigung wie Triebverzicht nicht aufhört, eine Kraft oder eine Energie zu bleiben. Letztere bilden jenes zuvor schon erwähnte abyssale »Mehr« des je subjektiven Lebens, dem wir als Sich (Ipseität) ohne Ausflucht als Tatsache einer permanenten Affektwirklichkeit ausgesetzt sind. Jeder Ek-stasis von Sinn, Signifikant oder Repräsentation bzw. Welt-Relation liegt somit eine Stasis (Immanenz) im Übermaß des apriorischen Lebens und seiner inneren Modalisierungen als leiblicher Intensität voraus, so dass jegliche Symptomatik in dieser Ur-Phänomenalisierung des je subjektiven Lebens als Ich/Mich gründet. Ob als Kreativität (Genuss, Erfüllung) oder lastende Triebfrustration (Verdrängung, Verwerfung, Kastration) – jedes Mal steht die Frage einer fundamentalen Lebbarkeit solcher Situationen an, die affektiv an die innersten Gesetze des Begehrens verweisen, so wie sie zugleich existentiell eine Sinn(neu)orientierung verlangen, wo die Einheit von Pathos/Intentionalität wieder zu erlangen ist. Die Heilung im analytischen oder therapeutischen Sinne dürfte demzufolge nicht unter Vernachlässigung oder sogar Ausblendung des Leidens im transzendentalen Sinne letztlich erfolgen, wenn den ätiologischen, nosologischen und lebensweltlichen Fragen desselben die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wobei die Versprachlichung einschließlich Biographik, Traumarbeit etc. einen wichtigen Aspekt dieses therapeutischen Prozesses darstellt, welcher jedoch kaum um die »Konfrontation« mit dem reinen »Ausgesetztsein« im Leben als Passibilität oder Pathos ohne Zeit und Namen (Biographie) auskommen dürfte. Lacan konnte oder wollte nicht verstehen, dass »die Wahrheit des Schmerzes der Schmerz selbst« ist, nämlich als die reine Phänomenalität des Schmerzhaften im zeitlosen Ausgang von einem Sich-Erleiden des Lebens als Selbstaffektion aus, welche die transzendentale Ermöglichung jeglichen spezifischen Leidens darstellt, sei es organisch, psychosomatisch oder psychopathologisch. 22 Was der Schmerz als ursprüngliches Sich-Erleiden rein phänomenologisch offenbart, ist genau jenes Sich, welches ich als Ipseität in der reinen Affektabilität diesseits aller Welt- oder Vorstellungskategorien bin. Aber jeder Schmerz ist in diesem Sinne nicht nur die pathische Reduktion allen Weltseins, so wie die Angst nach HeidegVgl. M. Henry, »Leid und Leben«, in: M. Henry, Affekt und Subjektivität (2005), 124–139, hier 127 f.

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ger das »Nichts« des Seins als Entzug desselben in jedem Seienden hervorruft, sondern das reine Erleiden impliziert zudem eine noch tiefere lebendige Offenbarung, nämlich den radikal phänomenologischen Sachverhalt, dass jedes Erleiden letztlich nur möglich ist innerhalb des Selbstgenusses (auto-jouissance) des Lebens. Denn es muss in der Tat nicht nur phänomenologisch aufgewiesen werden können, wie eine Schmerzerfahrung ein gleichzeitiges Freudeerlebnis nicht ausschließt, sondern worin letztlich die Einheit von Schmerz/Freude als dem absolut phänomenologischen Wesen des Lebens und jeder Ipseität selbst besteht. Bei Lacan vermisst man also nicht nur dieses affektive Ineinander von scheinbar gegensätzlich erlebten Affektionen, sondern die prinzipielle Fragestellung nach dieser Ur-Phänomenalität, welche im »unbewussten Leben« als dessen Selbstbewegung vor der sprachlichen Differenz von Bedeutungen liegt. Ohne jeden Zweifel kann auch eine radikale Phänomenologie als »Lebensphänomenologie« von den psychiatrischen wie tiefenpsychologischen Erkenntnissen im Sinne klinischer Praxis lernen, aber wenn Lacan dem Schmerz eine unmittelbar immanente Wahrheit aberkennt oder zumindest ignoriert, dann ist sein Umkehrschluss noch problematischer, dass nämlich »die Wahrheit die Ursache« des (neurotischen) Leidens wäre. Lacan fasst hierbei Wahrheit nur im klassischen philosophischen Sinne als Selbstevidenz des Bewusstseins wie bei Descartes, wie wir schon darstellten, ohne zu sehen, dass ein solcher Wahrheitsbegriff sich im Grunde mit dem Objektivierungsdenken seit den Griechen bis heute deckt, dem er an sich eine »andere Wissenschaftlichkeit« der (Neo-)Psychoanalyse entgegenstellen wollte. Der Neurotiker wisse sich nämlich bereits von vornherein in der Gewissheit der Wahrheit, wobei in beiden Fällen die Wahrheit ein Diskurs (Vorstellung) sei. Da sich für Lacan Wissen und Wahrheit jedoch für immer unterscheiden, weil es eine prinzipielle Differenz von Sagen/Ausgesagtem gibt, wird das Unbewusste zum »Subjekt«, welches die Wahrheit besitze, aber vom Ich gerade ignoriert würde und zur imaginären Symbolik im Anderen führe. Diese Spaltung lässt bei Lacan wiederum alles zum Blick (Spiegel) werden, weil von den Individuen versucht werde, das Ich/Selbst in einer wissenden Schau einzufangen, was nicht gelingen kann, da in der Tat niemals irgendeine Objektivierung (»Objekt klein a«, »das Ding«) mit der ursprünglichen Subjektivierung (Leibbewegung, Begehren, das Wirkliche) identisch zu sein vermag. Dass der Neurotiker zwanghaft in seiner (diskursiven) Vorstellungshypostase fixiert ist, muss in kli294 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Der »aufgeschobene Tod« im Begehren

nischer Sicht nicht in Frage gestellt werden, ihm allerdings jede »Wahrheit« im Sinne eines immanent authentischen Erlebens abzusprechen, ist deshalb nicht möglich, weil die Trennung Wissen/ Wahrheit genau eine »metaphysische Problematik« widerspiegelt, welche den eigentlichen Leidenskern der Neurose bilden dürfte, nämlich von der Unmittelbarkeit des inneren Pathos des Lebens existentiell getrennt zu sein, um sich einer intuitiven oder unmittelbaren Wahrheit zu über-lassen, welches das transzendentale Leben ohne diskursive Vergewisserung selbst ist. 23 Wenn das Subjekt für Lacan in der Vorstellung von sich selbst verschwindet, weil deren Objekt nicht das Sein (être) der Subjektivierung als solcher bilden kann, dann ist damit noch nicht ausgeschlossen, dass es ein Sein gibt, welches zugleich die Wahrheit seiner selbst bildet, ohne durch ein objektives oder diskursives Wissen vermittelt sein zu müssen. Aus diesem Grunde plädieren wir in unserer gesamten Untersuchung für eine originäre Einheit von »unbewusstem Leben« und Affekt diesseits jeglicher Vorstellungskategorien, aber in Übereinstimmung mit der Intensität leiblicher Bewegung als Immanenz pathischer Modalisierungen, die deshalb auch in klinischen Phänomenen wie Neurose oder Psychose gegeben bleiben. Der in diesem radikalen (unbewussten) Sinne verstandene Affekt als originäre Affektabilität bringt jede Vorstellung hervor oder verdrängt sie ebenfalls, was auch für das Handeln wie »Fehlleistungen« gilt, so dass hier weiter von »Komplexen« als Bezug von Affekt/Vorstellung bzw. Trieb/Begehren gesprochen werden kann, die immer auch eine entsprechende »Identifikation« des Ich/Mich als Ipseisierung und Relationalität implizieren. Die (Neo-)Psychoanalyse hat daher ein älteres Entstehungsmotiv als nur die (historisch) beobachteten Phänomene von Hysterie, Psychose, Perversion etc., insofern in aller Genealogie von affektivem oder subjektivem Leben welcher Art auch Für diese Sichtweise der Neurose in der Tradition humanistisch orientierter Psychotherapien wie etwa bei Polak und Müller-Suur vgl. die entsprechenden Texte in Psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur 9 (2014) 116–159 (P. Polak, »Zum Problem der noogenen Neurose«) u. 160–187 (H. Müller-Suur, »Abgrenzung neurotischer Erkrankungen gegenüber der Norm«). Ebenso V. E. Frankl, Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Bern, Huber 3 2005, 167: »Dieses metaphysische Bedürfnis muss in psychologistischer Optik wie das bloße Symptom einer Neurose imponieren« und entsprechend psychotherapeutisch (logotherapeutisch) behandelt werden. Hingegen sagt Lacan, Le désir et son interprétation (2013), 275: »Die gänzlich grundlegende Triebfeder der Neurose besteht darin, nicht zu wollen, dass der Andere (l’Autre) kastriert werde.« 23

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5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

immer eine originäre Meta-Genealogie am Werk ist, so dass es fraglich erscheint, epistemologisch allein von Krankheitsbildern auszugehen, um daraus eine vermeintlich umfassende Theorie »psychopathologischer« Erscheinungen zu erstellen. Denn wenn die Verdrängung stets eine Flucht vor dem Affekt als solchem im Sinne einer nicht aufhebbaren Kraft ist, dann ruht die Antwort auf jede Weise von Verdrängung – gewohnheitsmäßig, neurotisch oder psychotisch – im Übermaß jenes Sich, welches meint, sich nicht mehr selbst ertragen – dem Leben nicht länger ausgesetzt sein zu können. Lacan gedachte dieses Übermaß aufzulösen, indem er die freudsche Ichwerdung vom »Es« her zum Bewusstsein eines notwendigen »Verschwindens« der subjektiven Objektansprüche führen wollte, die nur ein gefälschtes Begehren implizierten, weshalb ein primordialer »Tod« in allem Genießen anzuerkennen sei. Aber der lebendige Trieb kehrt nicht nur ständig wieder, weil er einen solchen Tod nicht kennt, sondern die Subjektivität ist prinzipiell nicht zum Verschwinden im Sinne eines Schweigens zu bringen, solange sie mit der Impressionabilität als »Fleisch« oder Pathos identisch ist. In dieser Hinsicht kann der Triebwiderstand im Sinne der Sublimierung als des Übergangs von Begehren/Sinn kreativ genutzt werden, wobei dann der Andere als Relation nicht ausgeschaltet wird, aber nicht ausschließlich für die Ich-Konstitution maßgeblich ist, weil diese über eine Ipseisierung verläuft, die auch als Ermöglichung aller Intentionalitäten und Relationen dient. Die Andersheit oder Differenz ist daher niemals das ursprünglichste Phänomen, um wie bei Lacan als letzte theoretische Referenz für die Phänomenalisierung dessen herangezogen werden zu können, was als subjektives Leben nicht reduziert werden kann, weshalb das libidinöse oder energetische Unbewusste bei Freud auch nicht völlig von der Neo-Psychoanalyse absorbiert zu werden vermag, um alles der Diskursinstanz zu unterwerfen, welche das Pathos des Lebens im Sinne unhintergehbarer Affektabilität oder immanenter Ausgesetztheit als Intensität verschweigt bzw. sogar ganz aus dem Blick verliert, weil es nicht »gespiegelt«, sondern nur inner-narrativ erprobt werden kann. Die Wahrheit – und das Wissen darum – ist zunächst ein Schrei, für den jeder Diskurs offen bleiben muss, und die therapeutische Kunst besteht darin, diesen Schrei zu vernehmen, obwohl er keine direkt entzifferbare Bedeutung im Sinne eines Dings oder Signifikats transportiert, da er nur die Unmittelbarkeit des Leidens als Wahrheit leiblich-subjektiven Seins ausdrücken kann, dem letztlich alle analytische Aufmerksamkeit noch hinter den »Worten 296 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Heidegger und die Daseinsanalyse

des Unbewussten« innerhalb der Therapie zu gelten hat. Was bisher als Kritik an der lacanschen Hypostase der Differenz als Ek-stase, Spiegelung oder Schau vorgetragen wurde, soll durch eine entsprechende Analyse auch in anderen Therapierichtungen verifiziert werden, um einen breiteren Boden für unsere radikal phänomenologische Untersuchung des Zusammenhangs von Begehren/Sinn zu gewinnen, der die tiefenpsychologischen wie phänomenologischen Implikationen dieses Verhältnisses in Bezug auf eine erneuerte »Metaphysik« der Leiblichkeit oder subjektiven Erprobung danach zusammenführen möchte.

2) Heidegger und die Daseinsanalyse Wenn es somit ein gemeinsames Thema zwischen Philosophie, Psychologie, Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie wie Supervision geben sollte, dann ist es sicherlich die Einheit des Menschen als eines je unverwechselbaren Individuums in seinem Begehren, dem das Gelingen seiner Existenz (wieder) ermöglicht werden soll, wie immer auch die Umstände im Einzelnen aussehen mögen. Wenn wir bei dieser weitergeführten Analyse kaum auf geschichtliche Vergleiche eingehen, wie sie die lange Tradition von Philosophie und Heilkunst bereit hält, 24 so liegt dies an der schon genannten durchgehenden Absicht, letztlich eine grundsätzliche Meta-Genealogie des individuellen Lebens zu entwerfen, welche frei ist von bestimmten Vorgaben der einzelnen Schulen. In diesem Sinne handelt es sich also radikal phänomenologisch gesehen weiterhin um eine transzendentale Vorgehensweise, das heißt ohne letzte empirische Abhängigkeiten, damit jede Biographie – ob gesund oder krank – sich darin einschreiben kann. Die tiefenpsychologischen Aspekte im Sinne der (Neo-)Psychoanalyse dienen dabei dazu, die praktischen Fragen der Therapie nicht aus den Augen zu verlieren, das heißt angemessene Interventionsformen in der therapeutischen Begegnung, welche in der Tat keine Reflexion über den Affekt ist, sondern dessen (Re-)Aktualisierung, um im praktischen Affektaustausch als Übertragungsgeschehen ein singuläres Empfinden sich selbst in seiner lebendigen Berührung immanent oder real (wieder) zugänglich zu machen. Zu denken wäre etwa an die philosophischen Trost- und Krankheitsbücher von Boethius, Pascal, Kierkegaard und Rosenzweig.

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5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

Gerade hinsichtlich einer solchen phänomenologisch therapeutischen Analyse gibt es nun ein herausragendes Beispiel, welches Martin Heidegger zusammen mit dem Arzt Medard Boss in den »Zollikoner Seminaren« vorgelegt hat. 25 Es handelt sich in diesem Dokument um vorbereitende Texte oder Gesprächsprotokolle mit der Absicht, Mediziner und Psychiater in die daseinsanalytische Methode ärztlichen wie psychotherapeutischen Handelns einzuführen. In einem vergleichbaren Bemühen wollen wir daher hieran anschließend mit der lebensphänomenologischen Vorgehensweise noch enger vertraut machen, sofern sie eben die zuvor genannte Meta-Genealogie als die innere Geschichte oder Historialität eines jeden Menschen selbst versteht, in der so etwas wie eine »Krankheit des Lebens« (Nietzsche) überhaupt aufbrechen kann. Durch den Vergleich mit Heidegger und ebenso Binswanger dürfte unmittelbar deutlich werden, wie sich prinzipiell ein radikal phänomenologisches Verständnis von herrschenden Vormeinungen allgemein zu lösen hat, wie sie mit jeder rein naturwissenschaftlichen oder auch (neo-)psychoanalytischen Betrachtungsweise gegeben sind, ohne den therapierelevanten Dialog aufzukündigen. Exemplarisch lässt sich eine solche Kritik gerade an Heidegger deshalb durchführen, weil er als einer der maßgeblichsten Denker der Gegenwart die Verstehensvoraussetzungen von Sein, Existenz und Welt wie kein anderer mitbestimmt hat und sich solche Spuren nicht nur in der Daseinsanalyse, sondern auch in anderen humanistischen Psychologien und in der Neo-Psychoanalyse finden, wie wir zuletzt bei Lacan sahen. Aus den erwähnten »Zollikoner Seminaren« ergeben sich im Wesentlichen drei heuristische wie epistemologische Schwerpunkte, die für unsere Untersuchung bedenkenswert sind. Zum einen versucht Heidegger, die Vorgehensweise der technisch orientierten Naturwissenschaften zu klären, um seine Zuhörer für eine andere Sichtweise zu sensibilisieren, welche stets das »gesamtmenschliche Phänomen« vor Augen hat. Daraus folgt zweitens eine Bestimmung des menschlichen Existierens als »Da-sein« in der Offenheit oder »Lichtung« des Seins, was schließlich zur Behandlung besonderer Probleme führt, wie sie vornehmlich auch den Arzt, Psychologen und Therapeuten heute interessieren – nämlich das Verhältnis von Vgl. M. Heidegger, Zollikoner Seminare. Protokolle – Gespräche – Briefe (Hg. M. Boss), Frankfurt/M., Klostermann 1987; dazu F.-W. von Herrmann, »Medard Boss und die Zollikoner Seminare Martin Heideggers«, in: Daseinsanalyse 20 (2004) 8–19.

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Leib und Seele, die affektive Lebensgestimmtheit insgesamt sowie der »stresshafte« Umweltbezug im Zusammenhang mit der gelebten Zeitlichkeit als unserer Endlichkeit. Greifen wir diese drei Punkte zunächst nacheinander auf, um dann in einer solchen Sichtweise sich transzendierender Existenz (wie im Differenzdenken Lacans) prinzipielle Schwierigkeiten und Versäumnisse auszumachen, die uns eine vertiefte phänomenologische Lebensanalyse dringlich erscheinen lassen. Medizinisches und therapeutisches Denken, sofern es sich weitgehend naturwissenschaftlich verstehen sollte, ist in der Tat kausales Erklärenwollen unter Ausblendung eines ontologisch, das heißt seinsmäßig »Unumgänglichen«, auf dem alles Erklären bereits beruht. Dies zeigt sich insbesondere an dem Vorverständnis, mit dem Fragen an unsere Wirklichkeit herangetragen werden, ohne die ihr je spezifisch zukommende Seinsweise zu beachten. Kausalitätsdenken unternimmt methodologisch gesehen nach Heidegger einen Erklärungsversuch auf ein »Woraufhin« vor, welches dann rückblickend als eine »Wirkung aus …« dargestellt wird. Aber gerade dieses »Aus« ist dann keine wesensmäßige – oder eben phänomenologische – Selbstdarstellung des beobachteten Gegenstandes aus sich selbst heraus, sondern dieser unterliegt dabei der Vorstellung des »Vorhandenen«. Dies bedeutet, dass die Gegen-stände oder Ob-jekte nach der Wirkungsweise der manipulativen Wirkung, mithin nach dem Erfolg versprechenden Einwirken aufeinander bestimmt werden. Dass dies heute bei allen empirischen Erfolgen in experimenteller Hinsicht besonders auch für die Neurowissenschaften gilt, dürfte auf der Hand liegen, da die Ebene des Kausalen nur auf ein bestimmtes Organ und dessen Funktionen, nämlich das »Gehirn« verlegt wird, ohne sich die erkenntniskritischen und epistemologischen Grundfragen bei einer solchen Isolierung eines bestimmten Objektbereichs immer genügend zu vergegenwärtigen. 26 Phänomenologisch zu sehen und zu analysieren lernen, besagt mithin im Gegensatz dazu für Heidegger und die Daseinsanalyse, sich zuallererst einen Wesensunterschied vertraut zu machen: »Die bisherige Psychologie, Anthropologie, Psychopathologie betrachtet den Menschen als einen Gegenstand in einem weiten Sinne, als etwas VorhandeVgl. für eine entsprechende Untersuchung und Stellungnahme Th. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart, Kohlhammer 2007.

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nes, als einen Bezirk des Seienden, als Gesamt des erfahrungsmäßig Feststellbaren am Menschen. Versäumt wird dabei die Frage, was der Mensch und wie der Mensch ist; dass er sich nämlich grundsätzlich, seinem Wesen nach, zu anderen Seienden und zu sich selbst verhält und dies seinerseits nur dem möglich ist, wer Sein versteht.« 27

Was wir eingangs das Transzendentale des Menschen nannten, bedeutet mithin für Heidegger, dass sich das eigentliche Sich-Verhalten des Menschen nicht vordergründig an feststellbaren (ontischen) Einzelfakten ablesen lässt, sondern es ist begründet im verstehenden Sinnbezug des Menschen insgesamt, wie dies Heidegger grundlegend in seinem frühen Hauptwerk »Sein und Zeit« von 1927 erschlossen hatte. Fasst man die neuzeitliche Ideengeschichte seit Descartes unter dem Stichwort der sich selbst bewussten Subjektivität als »Ich denke« (Cogito) und der wirklichkeitskonformen Objektivität, so vermag weder eine anthropologische noch eine andere empirische Bestimmung allein die beiden zu erklären, wie gerade auch die Analyse von Begehren/das Andere bei Lacan schon zeigte, der seinerseits von der Fundamentalontologie beeinflusst war. Denn Subjektives wie Objektives ergeben sich nach Heidegger erst aus dem »Unumgänglichen« des Seins, welches sich in unserer Ek-sistenz als Bezüglichkeit bildet, besser gesagt sich als Da-sein er-öffnet. Die Folgen aus dieser Sichtweise sind für jede psychotherapeutische Theorie wie Praxis weit reichend, da es um nichts Geringeres geht, als den Begriff der zerlegenden Analyse, wie er erkenntniskritisch und wissenschaftlich sowie teilweise psychoanalytisch maßgeblich vorherrscht, in eine phänomenologische Ganzheitsschau umzuwandeln. Unter Berücksichtigung Kants, Freuds und Binswangers, dem Begründer der medizinisch psychiatrischen »Daseinsanalyse« vor Medard Boss, formuliert Heidegger dementsprechend: »Die Analytik ist als ontologische kein Auflösen in Elemente, sondern Artikulation der Einheit eines Strukturgefüges.« 28 Daseinsanalyse im engeren philosophischen Sinne Heideggers meint also den Vollzug solcher Analytik, ohne die Einheit der Existenz in der Welt aus dem Auge zu verlieren. Und dies gibt zu verstehen, warum alle besonderen Ausdrucksweisen menschlichen Daseins immer das Ganze der Existenz spiegeln und nicht künstlich oder 27 28

Zollikoner Seminare (1987), 197. Ebd., 150.

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Heidegger und die Daseinsanalyse

sogar gewaltsam abgespaltet werden können. Die Frage nach Heilung und Therapie ist demzufolge auch keine andere im Sinne Heideggers als das Wahrnehmen und Sich-Wieder-Hineinversetzen in eine solche Ganzheit: »Bei ärztlichem Helfenwollen: Zu beachten, dass es immer um das Existieren geht und nicht um das Funktionieren von etwas. Wenn man nur Letzteres beabsichtigt, hilft man gar nicht zum Dasein. Dies gehört zum Ziel. – Der Mensch ist wesensmäßig hilfsbedürftig, weil er immer in der Gefahr ist, sich zu verlieren, mit sich nicht fertig zu werden. […] Jede Krankheit ist ein Verlust an Freiheit, eine Einschränkung der Lebensmöglichkeit.« 29

Krankheit als ein Phänomen der »Privation« an der einen und ganzen Existenz sollte deshalb nicht nur als Negation gesunder, »normaler« psychosomatischer Zuständlichkeiten gesehen werden, sondern in jedem Kranksein offenbart sich das »Abgehen einer wesensmäßigen Zugehörigkeit«. 30 Bereits unabhängig von jedem besonderen klinischen Krankheitsbild ist deshalb selbst die ausschließlich psychosomatische Auffassung vom Menschen nach Heidegger eine Verkürzung desselben. Denn wo immer auch der Schnitt zwischen Leib und Seele angesiedelt wird, er setzt bereits einen Standpunkt voraus, von dem her so etwas wie Leibliches und Seelisches überhaupt erst erscheinen können. Jede Art von Psychosomatik beruht mithin letztlich auf bewusst oder unbewusst philosophischen Vorgaben, welche sie selbst nicht mehr einlösen kann. Deshalb bleibt trotz der nicht zu leugnenden Bereicherung der medizinischen Forschung durch die Psychosomatik ihr Verstehensmodell im oben genannten kausal naturwissenschaftlichen Denken gefangen – und dies gilt mehr und mehr auch für die gegenwärtigen Psychotherapien, sofern sie entsprechender EffizienzkonEbd., 202. Vgl. ebd., 58 f. Der Begriff der Privation ist für das Krankheitsverständnis der Daseinsanalyse als Psychotherapieform seit Binswanger dann grundlegend geworden, bedeutet allerdings nicht »Defizit« oder »Defekt«, sondern Einschränkungen des »Freiseins-für verschiedenste Möglichkeiten des Verhaltens«, wobei Kranksein und Behandlung auch Aufschlüsse über die Seinsart menschlicher Existenz unabhängig von Krankheit oder Gesundheit ermöglichen können; vgl. J. Jenewein, »Das Menschenbild der Daseinsanalyse«, in: H. G. Petzold (Hg.), Die Menschenbilder in der Psychotherapie. Interdisziplinäre Perspektiven und die Modelle der Therapieschulen, Wien, Krammer 2012, 549–570, hier 556 f. Entsprechend wird in diesem Beitrag auch das daseinsanalytische Verständnis von Depression, Neurose, Anankasmus, Hysterie, Narzissmus und Schuld als auch von Lebensgeschichte und Deutungsarbeit dargestellt.

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trolle in rein empirischer Hinsicht unterliegen. Die Leiblichkeit insbesondere ist aus keiner menschlichen Vollzugsweise der Existenz wegzudenken, so dass sie auch nie objekthaft von außen in den Blick zu bekommen ist, es sei denn eben nur als biochemisch und physikalisch bedingter »Körper«, das heißt reduziert um die eigentliche Dimension des subjektiven Leibes. Leiblichsein (oder auch »leiben«, wie Heidegger sagt) gehört »in den Bereich jenes […] optisch nicht sichtbaren Vernehmen-Könnens von Bedeutsamkeit und Begegnendem, aus dem das ganze Da-sein besteht«. 31 Das Seelische andererseits, insoweit damit psycho-logisch affektive wie kognitive Zuständlichkeiten gemeint sind, also zum Beispiel Wollen, Strebungen, Triebe, Ängste, Hass, Liebe und Erkennen, sind »Beziehungsarten zum Anwesenden«. Diese bilden bestimmte »Modi des Angesprochenseins und des Entsprechens«, denen jeweils eine Tönung der Neigung und Abwehr zu Eigen ist. Aber noch entscheidender bleibt, dass der Bereich des Natur-Kausalen hier überboten wird von der Motivation, die selbst wiederum im Freiheitsgeschehen der sinnvernehmenden »Offenständigkeit« des Menschen als Ek-sistenz wurzelt: »Der Mensch hält sich bei dem auf, was ihn angeht.« 32 In der Grundgestimmtheit solcher existenzialen Sorge wird dieses »Angehen« zur ängstlichen Befürchtung sowie aber auch zur liebenden Fürsorge, weshalb Heidegger hier Binswangers 33 Kritik an seinem als »Trübsinn« interpretierten Sorgebegriff, wie wir noch sehen werden, zurückweist. Damit sind für Heidegger die Affekte insgesamt aus einem scheinbar bloß äußeren »Antun« (af-ficere) herausgenommen in einen »je-meinig ekstatischen Bezug« hinein, das heißt, sie gehören zu »meinem In-der-Welt-sein« als solchem. 34 Der Stressbegriff als modernes Phänomen des Krankseins ist daher beispielsweise verwirrend, indem er Reiz und Belastung konzeptuell zusammenbringt, ohne die Grundbefindlichkeit der »Ausgesetztheit« des Menschen in der Ek-sistenz vorab zu klären. Als Zollikoner Seminare (1987), 113 f. u. 293; zur aktuellen Diskussion vgl. ebenfalls H. Lang (Hg.), Somatisierung. Klinik, Ursachen, Therapie in einem Kernbereich psychosomatischer Erkrankungen, Würzburg, Königshausen & Neumann 2014. 32 Zollikoner Seminare (1987), 272 f. 33 Vgl. Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (1942), in: L. Binswanger, Ausgewählte Werke, Bd. 2, Heidelberg, Winter 1993; dazu auch M. Herzog, Weltentwürfe. Ludwig Binswangers phänomenologische Psychologie, Berlin/New York, De Gruyter 1994. 34 Vgl. Zollikoner Seminare (1987), 202. 31

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Heidegger und die Daseinsanalyse

Beanspruchung gehöre auch der Stress seiner Bedingung nach zu den Möglichkeiten des »Angesprochenwerdens« als Da-sein überhaupt, mit anderen Worten zu einem existenzialen Sachverhalt, der nicht als »Komposition von Mensch und Welt« aufgerechnet werden kann. Vielmehr handelt es sich um den »hermeneutischen Zirkel« von Beanspruchung und Entsprechen, deren Auslegung für den Menschen nur in seiner Endlichkeit möglich ist. Phänomenologisch betrachtet gehöre daher die Stressanalyse in diesen prinzipiellen Endlichkeitsaufweis, wo sich für Heidegger herausstellt, dass »der Mensch in seinem höchsten Sein in sich gerade durch seine Offenheit für das Sein begrenzt ist«. 35 Dieser ek-statisch begrenzte Existenzvollzug zeigt sich sicherlich am fundamentalsten im Zeiterleben, denn darin wird deutlich, dass der Mensch nicht in der Zeit als einer bloß linearen »Jetzt-Folge« zu existieren vermag, sondern immer eines »Gegenüber« bedarf. In zeitlicher Hinsicht ist dies das »Sich-Aufhalten-Können« in der Welt einschließlich Gewesenem und Kommendem. Mit diesen großen Linien der Daseinsanalyse im Sinne Heideggers und einigen exemplarischen Hinweisen für die Praxis dürfte für jeden therapeutisch Interessierten – gleich welcher Richtung – einsichtig gemacht worden sein, dass auf jeden bloß psychologischen, anthropologischen oder (neo-)psychoanalytischen Therapieansatz ein kritisches Licht fällt, falls man sich den phänomenologischen Herausforderungen Heideggers stellt. Unabhängig von der geschichtlichen Entstehung und Weiterentfaltung der daseinsanalytischen Therapieschule geht es folglich um einen prinzipiellen Dialog zwischen Naturwissenschaft, Psychotherapie und Philosophie als Phänomenologie und Hermeneutik, wie wir dies auch schon in der Freudlektüre durch Ricœur deutlich sahen. Denn zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle zumindest im heideggerschen Sinne sagen, dass Störungen oder Verzerrungen in der menschlichen Existenz stets die phänomenologische Grundstruktur unseres In-der-Welt-seins als Transzendenz berühren, das heißt den je transzendentalen Bezug zu Dingen und Situationen in Zeit und Raum. Außer der Daseinsanalyse bei Medard Boss (1903–1990) 36 hat sich beispielsweise auch die Existenzanalyse wie Logotherapie Viktor E. Frankls 37 unter anderem von Ebd., 180 f. Vgl. Psychosomatische Medizin, Bern, Huber 1958; Praxis der Psychosomatik, Bern, Benteli 1978. 37 Vgl. »Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie«, in: V. E. Frankl u. a. (Hg.), 35 36

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5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

solchen Grundvoraussetzungen des heideggerschen Denkens aus entwickelt, wodurch sich Unterschiede wie Überschneidungen zum lebensphänomenologischen Verständnis des »Ausgesetztseins« des Menschen ergeben – nämlich als Existenz in der Welt bzw. als Sich im Leben. Auf diesem Hintergrund ist somit verständlich, dass zuvor schon die an der Phänomenologie Husserls wie Heideggers und der Psychoanalyse orientierte »Daseinsanalyse« Ludwig Binswangers (1881– 1966), den wir schon erwähnten, jeden Menschen und seine Eigenarten als einen gelebten Weltentwurf auffasste, dessen Raum, Zeit, Symbolik und innere Wahrnehmungslogik nicht nur an dem gemessen werden kann, was als normal gilt. Die Normalität geht vielmehr vom jeweiligen Individuum selbst aus, welches daseinsanalytisch in seinen »pathologischen« Lebensweisen nicht als mangelhaft und vom Normalen axiologisch abweichend aufgefasst wird. Es stellt in seiner Welt ein Kriterium für sich dar, von dem aus die Außenwelt und die variierenden Welten der Mitmenschen verstanden und eingeordnet werden. Insofern kann für Binswanger der Satz Hegels als programmatisch gelten: »Die Individualität ist, was ihre Welt als die ihrige ist.« 38 Binswanger entwickelte daher eine Therapieform, um den Menschen von diesem selbst und seinen Maßstäben aus zu verstehen, was sich etwa anhand der so genannten »Ideenflucht« gut zeigen lässt, denn diese letztere besteht in einem sprunghaften Denken, Sprechen, Wollen und Handeln, wie es sich beispielsweise besonders in der »manisch-depressiven Antinomik« finden lässt. Übersprungen werden dabei sonst wichtige Zusammenhänge und Bedeutungsglieder, so dass es zu einer Nivellierung der Weltsicht kommt. Eine solch eigene Welt kennt nur einen beschränkten Zugang zum Verhalten anderer Menschen, deren Reaktionen ebenfalls tendenziell überhört oder »passend« gemacht werden, insofern »die Auseinandersetzung Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, Wien, Urban & Schwarzenberg 1959, 663–736. Zu erwähnen wäre außerdem die »anthropologische Psychotherapie« von Viktor von Gebsattel; vgl. seinen Text »Zum personalen und anthropologischen Aspekt der Neurosen«, in: Psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur 9 (2014) 52–108. 38 Zit. L. Binswanger, Über Ideenflucht, Zürich, Art 1933, 194. – Vgl. außerdem die späteren Werke: Drei Formen missglückten Daseins. Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit, Tübingen, Niemeyer 1956; Melancholie und Manie. Phänomenologische Studien, Pfullingen, Neske 1960; Wahn. Beiträge zu einer phänomenologischen und daseinsanalytischen Erforschung, Pfullingen, Neske 1965.

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Heidegger und die Daseinsanalyse

von Ich und Welt selbst in einer gegensätzlichen anthropologischen Strukturform erfolgt, wovon die hinsichtlich ihres Inhaltes oder ihrer Form oder hinsichtlich beider gegensätzliche Themenbildung selbst nur einen Ausschnitt darstellt«. 39 Die Ideenflucht des normalen Erwachsenen begegnet den Einwürfen und kritischen Bemerkungen Anderer meist auf eine »geordnete« Weise, eben ausgehend von der eigenen Welt, so dass Fremdperspektiven als schief und unpassend erklärt werden. Da jeder Mensch in gewisser Weise ein »Ideenflüchling« ist, da nicht alle intersubjektiven Kontexte gleich überschaut werden können, lässt sich mit Binswanger sowohl der pathologische Fall wie auch der »normale« Mensch in seinen je eigenen Orientierungen beschreiben und erfassen. Beachtet man diese Ideenflucht im Alltag, so kann dadurch ein Zugang zu sich selbst und zum rätselhaft wirkenden Verhalten Anderer gewonnen werden. Insofern dabei für Binswanger 40 letztlich die weitesten Grundformen des Daseins Liebe, Existenz und Umgang sind, versucht er nicht nur, Heideggers zuvor erwähnten Sorgebegriff zu einer sozial-ontologischen Grundform zu erweitern, sondern gerade über »Liebe« und »Umgang« einen Grundriss phänomenologisch-psychologischen Erkennens für die psychotherapeutische Praxis überhaupt zu entwerfen. Dabei stimmte er mit Heidegger darin überein, dass es nicht möglich sei, durch eine vergegenständlichende Analyse im Kausalsinne die Verhaltensweisen und Funktionen des Menschen als dessen eigentliche Wirklichkeit zu verstehen. Wie das Beispiel der »Ideenflucht« zeigte, ist vielmehr von einem psychologisch-anthropologischen Erkennen auszugehen, welches sowohl die Subjektivität des erkennenden Subjekts wie das Erkannte daseinsanalytisch einschließt, was Binswanger in die Formel goss: »Psychologie ist die Wissenschaft von dem Frage-Antwort-Spiel des Daseins mit sich selbst.« 41 Hieran zeigt sich, wie geisteswissenschaftliche Positionen auf die vorwiegend somatisch orientierte klinische Psychiatrie von ihm einerseits übertragen wurden und andererseits Binswanger die phänomenologische Philosophie durch eine empirisch orientierte Sozialontologie korrigieren wollte. In dieser Hinsicht hält Über Ideenflucht (1933), 204. Vgl. ebd., 197: »Die Abweichung von der Norm, ›das Abnorme‹, erweist sich jetzt nicht als Chaos, sondern als ein eigenartiger Kosmos, eine eigentümliche Welt, anthropologisch gesprochen als eine eigentümliche Form des In-der-Welt-Seins, die sich bis in alle Zweige und Verästelungen dieser Form nachweisen lässt.« 41 Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (1993), 441. 39 40

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5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

später auch Medard Boss als Leiter der Daseinsanalyse in Zürich die »spekulativen Superstrukturen« der freudschen psychoanalytischen Theorie für unzureichend, wenn nicht sogar überflüssig, während die Psychoanalyse als praktische Behandlungsform durchaus berücksichtigt wird. Aber man muss sich dennoch fragen, ob die freudsche – und danach auch lacansche – Sichtweise des Menschen auf einen bloßen homo natura reduziert werden können, das heißt die Hypothesen der Triebdynamik und -ökonomie nicht doch auch weiterführen als das strukturell neutrale »Seinsverstehen« bei Heidegger ausgehend von der »Lichtung des Seins«, insofern eben Trieb/Begehren nicht bloß somatisch-psychische Grundbewegungen im menschlichen Leben anzeigen, sondern letztlich eine radikale Immanenz oder Intensität desselben. Denn die Daseinsanalyse würde als klassisch phänomenologisch orientierte Therapieform wohl, wie wir schon bei Ricœurs Freudverständnis sagten, nur schwerlich durch eine bloße »Hermeneutik des Daseins« 42 das Begehren als Grundform menschlichen Lebens integrieren können, da es in der therapeutischen Praxis nicht nur um eine Reduktion einseitiger Auffassungen von der menschlichen Existenz geht, sondern um das effektive Vernehmen eines lebendigen Affektes, welcher schon immer vor der Wahrheit von Sein und Existenz gesprochen hat. Denn wie sollen im ausschließlichen Welterscheinen Bedürfen, Begehren, Trieb, Leiden, Lust, Eros etc. verstanden werden, falls deren ursprünglichere Eigenphänomenalität nicht erkannt, das heißt erprobt wird? Anstelle der originären Passibilität scheint die Daseinsanalyse vor allem jenen Menschen im Auge zu haben, der sich gegenüber seinen Weltmöglichkeiten in Raum und Zeit frei hält, bzw. therapeutisch auf eine solche intentionale Autonomie des Verhaltens hinzuwirken bleibt, die im heideggerschen Sinne einer »Entbergung« der phänomenologischen »Seinswahrheit« entsprechen soll, während der kranke Mensch die Selbstflucht vor einem solchen Wahrheitsereignis (in) der Welt darstelle. Mit anderen Worten ist der Mensch in der Sicht der Daseinsanalyse ein solcher, der sich vorrangig seiner möglichen Verhaltensweisen annimmt, um »verantwortliche« Bezüge zu den Dingen und den Anderen einzugehen, wobei in dem entsprechenden Zwiegespräch zwischen Arzt und Patient das Symptom als ein Strukturglied des »Da-seins« selbst gesehen wird. Vgl. zur neueren Diskussion auch H. Lang u. a. (Hg.), Grenzen der Interpretation in Hermeneutik und Psychoanalyse, Würzburg, Königshausen & Neumann 2014.

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Heidegger und die Daseinsanalyse

Der Kranke soll sich in diesem Gespräch selbst zu Wort bringen, so dass seine Ausdrucksweise der eigentliche Leitfaden bleibt, wobei Binswanger von einer »Schicksalsverbundenheit« als therapeutischmitmenschlichem Verhältnis ausging, um in einem »verstehenden Miterleben« die »innere Lebensgeschichte« des Patienten in Erfahrung zu bringen und zu ihrer reichsten Entfaltung zu verhelfen. Durch Einflüsse von Bergson und Dilthey wird dieser personale Ansatz einer »Ich-Du-Beziehung« allerdings auch in einen überpersönlichen Bereich der Kultur eingebettet, was die Psychotherapie über die rein psychologische Forschung hinaus an den »Wesenheiten der Kultur« teilhaben lässt. Die Therapie erscheint dann letztlich in dieser Hinsicht als ein Sich-Freimachen für die eigene »Sorge« im heideggersche Sinne, wobei auch der Andere in seinem je eigenständigen Dasein »gelassen« wird, was dem praktischen Konzept der »Liebe« bei Binswanger 43 entspricht. Aber die Frage bleibt, ob hierbei die Grundbezüge eines immanenten Lebens ausreichend berücksichtigt sind, insofern Sorge und Begehren keineswegs dieselbe Ursprünglichkeit beanspruchen können, da letzteres subjekv-pathisch ist, während die Sorgestruktur eine neutrale Existenzialgröße darstellt – so wie der differente Signifikant bei Lacan. Wie will die Daseinsanalyse auf Narzissmus oder Selbsterotik in neurotischer Verzerrung als therapeutische Gegebenheiten beispielsweise antworten, wenn die Sorge nur einen Weltentwurf meint? Narzissmus wie Erotik sind dabei ihrerseits nicht ohne einen fundamentalen Weltbezug über die intensive Leiblichkeit, da sie in radikal phänomenologischer Auslegung eben eine vorgängige Insofern spricht er auch von einer »phänomenologischen Anthropologie« bzw. »existenzialen Anthropologie«; vgl. Über Ideenflucht (1933), 188 f., während der Begriff »Daseinsanalyse« als Therapieform erst ab 1941 verwandt wird. Als allgemeines Therapieziel könnte daher folgender Satz ebd., 295, gewertet werden: »Hinsichtlich der Mitte zwischen beiden Existenzformen, der ›gesunden‹ Form der Auseinandersetzung von Ich und Welt, ist aus all dem zu lernen, dass sie weder in der Vorwegnahme von Welt (im bloßen Wünschen und Phantasieren, d. h. Vorwegnehmen der Weltzukunft […] und im bloßen Fürchten) besteht, noch in der Zurückhaltung oder Retention von Welt (dem ›Nichthinwegkommenkönnen‹ über Gedanken und Geschehen, dem Kleben an der Vergangenheit und der Wiederholung), desgleichen weder im reinen Aufgehen in der Einheit und Fraglosigkeit des Daseins, noch im reinen Aufgehen in seiner Problematik.« Vgl. auch G. Condrau (geb. 1919, Nachfolger von Binswanger und Boss in der Leitung der daseinsanalytischen Schule in Zürich): Daseinsanalyse, Dettelbach, Röll 2 1998; Sigmund Freud und Martin Heidegger, Bern, Huber 1992.

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Affektivität implizieren, welche nicht in das Seinsverstehen als reine Transzendenz aufzugehen vermag. Denn jedem Verstehen von Existenz/Sein geht bereits ein originäres Erleiden voraus, welches niemals einer Hermeneutik in seinem Sich-Selbst-Erleiden zugänglich gemacht werden kann, wie gerade auch Lacan unterstrich, wenn er sagte, dass jedes Sprechen aus dem Leiden käme: »Es spricht (ça parle), und zwar da zweifellos, wo man am wenigsten darauf gefasst war, da, wo es leidet,« 44 ohne dann allerdings ein solches Leiden diesseits der Sprache weiter aufzusuchen. Denn bevor der Mensch »in die Welt geworfen« ist, wird er in sich selbst affiziert, was Welt als Bezug und Bewegung nicht ausschließt, wie wir zeigten – wohl aber ein »Seinsverstehen« als Erstgegebenheit der ursprünglichen Selbstverwirklichung, nämlich als ständiges Sich-Empfinden (Affekt) seiner selbst. Dies hebt nicht nur die Subjekt/Objekt-Spaltung auf wie auch in der Daseinsanalyse, sondern ebenfalls die »ontologische Differenz« von Sein/Seiendem als Grundvoraussetzung jeder Welteröffnung im Sinne Heideggers. Wird die »Subjektivität« durch Sorge und Weltstruktur im Sinne transzendenten Verhaltens zu Dingen und Anderen als »Begegnisarten« verstanden, so ist die Subjektivität dann nicht nur ein Nichts (Negativität), sondern es wird zugleich auch jenes Ur-Leiden und jene Ur-Freude als »Seligkeit des Lebens« (Lustprinzip) evakuiert, welche nach Nietzsche, Freud wie Henry 45 durch nichts aufgehoben werden können. Diese Hypostase einer einseitigen Weltphänomenalität bleibt daher (wie für den Diskursprimat bei Lacan) im ureigensten Interesse einer jeden Psychotherapie und Supervision selbst zu hinterfragen, so dass wir im Folgenden jetzt genauer auf die eigenständige Meta-Genealogie des individuellen Lebens eingehen, so wie diese sich in uns über die inneren affektiven Verwandlungen von Bedürfen und Begehren bis hin zu Anstrengung und Tun in der schweigenden Selbstvergessenheit des Lebens entfaltet. Denn letztlich bleibt der Zusammenhang von Existenz und Leben bei Heidegger schon unaufgeklärt, insofern das abgründige Lebensgesetz, welches zwischen Begehren und Befriedigung herrscht und das für uns Menschen am schwierigsten zu erfüllende ist, als rein inner-narrative oder historiale BeweÉcrits (1966), 413. Vgl. zur entsprechenden Stellungnahme gegenüber der Daseinsanalyse seinen Beitrag »Phänomenologie und Psychoanalyse«, in: M: Henry, Affekt und Subjektivität (2005), 106–123, hier 122 f.

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gung keineswegs von einer bloß formalen Sorgestruktur erfasst wird. Sowohl von der praktisch therapeutischen Wirklichkeit wie von der einseitigen Voraussetzung der Existenz als Transzendenz oder In-derWelt-sein her (Differenz) ist deshalb weiterhin hier auf eine noch andere Phänomenalität zu verweisen, wie sie sich lebensphänomenologisch ergibt. Dabei ist daran zu erinnern, dass die Phänomenologie als eine der maßgeblichsten Richtungen innerhalb der Gegenwartsphilosophie bis heute nicht nur – im Unterschied zu den Wissenschaften – nach einzelnen Gegenstandsbereichen fragt, sondern nach dem ursprünglichen Wie ihres Selbsterscheinens überhaupt. Zeit, Sorge, Erinnerung, Wahrnehmung, Phantasie, wie aber auch Liebe, Krankheit und Umgang etc. sind solche spezifischen Erscheinensweisen unseres »Bewusstseins« als Dasein, in denen uns die Gegenstände oder die gesamte Existenz als reines Phänomen gegeben sein können. »Reines Phänomen« bedeutet dabei ein solches Gegebensein der Erscheinungen oder Dinge in unserem immanenten Bewusstseinsleben, ohne hinsichtlich der äußeren Existenz oder Nichtexistenz der Welt, ihrer Ereignisse oder Situationen zunächst ein Urteil zu fällen, wie es die methodische Reduktion als Epoché vorschreibt. Daher schließt die Phänomenologie von vornherein nichts aus dem Erscheinenkönnen aus, sondern das, was jeweils im intentionalen Bewusstsein als »Gegebenheit« erscheint, hat stets vollen Anspruch auf sein immanentes Sein. So gehören die erhabensten wie schlichtesten Phänomene in diesen Bereich der phänomenologischen Analyse, ohne von irgendeiner empirischen Theorie abhängig sein zu müssen, wie Heidegger selber nach Husserl grundsätzlich zeigte. Der Vorteil einer solchen methodischen Haltung dürfte unmittelbar für jeden Therapieverständigen einsichtig sein, sofern es dabei stets um individuierte Erscheinensweisen geht, denen ihr volles Recht auf ihr impressionales Sosein zugestanden wird, anstatt sie sofort äußeren klassifizierenden Kategorien zuzuordnen, wie sie unter anderem für das Verständnis jeder nosologischen »Psychopathologie« etwa maßgeblich sind. Entsprechend dem bisher geschilderten reduktiven Vorgehen der Phänomenologie müssen wir daher auch auf den Begriff der Ek-sistenz oder Transzendenz bzw. des »Dimensionalen« bei Heidegger und der Daseinsanalyse als Therapieform zurückkommen, um zu sehen, was er als Phänomenalität genau beinhaltet. 46 Dabei stoßen wir auf die Grundtatsache allen welthaften Erscheinens von größter Wichtig46

Vgl. auch zur gegenwärtigen Diskussion M. Staudigl u. Ch. Sternad (Hg.), Figuren

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5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

keit: Wie immer das Dimensionale des Seins im Einzelnen auch verstanden wird, es ist etwas Er-Öffnendes, in dessen so gegebener Offenheit oder Differenz ein Sich-Zeigen ebenso möglich wie notwendig ist. »Sichzeigen« aber bedeutet nichts anderes, wie Heidegger besonders in »Sein und Zeit« schon ausführte und von Binswanger und seiner Schule wiederholt wurde, als den Begriff des »Phänomens« in seiner trivialsten Bedeutung, nämlich als eine Phänomenalität im Lichte der Wahrnehmung. Denn alles, was als Gegenstand, Situation, Meinung, Bedeutung, Signifikant oder Sinn in einer Welt erscheint, und sei es auch ein »Konflikt«, zeigt sich uns, indem es in einer Distanz bzw. Differenz sichtbar wird – und dies eben für das Auge der äußeren Wahrnehmung oder der inneren Introspektion bzw. ebenfalls im Sinne einer spekulativen Idee oder intelligiblen Vorstellung. Die Bedeutsamkeit dieser welthaft phänomenologischen Wahrheit als Erscheinensgesetz kann also in kritischer Hinsicht gar nicht genug unterstrichen werden, weil das transzendent Dimensionale als der prinzipielle Sichtbarkeitsraum keinerlei Ausnahme für ein anderes Erscheinen in sich zulässt: Alles, was ist oder sein soll, muss sich in der Distanz oder Eröffnung solcher Sichtbarkeit zeigen. Aber wenn es grundsätzlich etwas geben sollte, was sich uns niemals auf diese Weise zeigt und dennoch das Entscheidenste unserer selbst bedeutete? Wären wir dann nicht für immer davon ausgeschlossen, wie die Analyse zu Leiblichkeit als Intensität und Pathos zu Beginn dieses Buches schon zeigte, um ein »neues Denken« heute einzufordern? Wir müssen daher auf eine unmittelbare Konsequenz des phänomenologischen Grundsachverhaltes des »Dimensionalen« eingehen. Wenn das Dimensionale das Sehen-Lassen von allen Phänomenen in ihrem Sich-Zeigen überhaupt ist, dann bedeuten auch Sorge (Heidegger), Realitätsprinzip (Freud), Umgang (Binswanger) oder Sinn (Frankl) bzw. das/der Andere (Lacan) als umfassende Ausdrücke unseres Weltbewusstseins einschließlich des »Subjekts« nichts anderes als dieses Weltsein selbst. Und da die phänomenologische Grundleistung unseres intentionalen Bewusstseins genau im Sichtbarmachen der Erscheinungen beseht, sind Existenzdimension und jede Weise intentionalen Bewusstseins oder Da-seins identische Begriffe innerhalb der phänomenologisch betrachteten reinen Weltwahrheit der Transzendenz. Transformationen eines phänomenologischen Grundbegriffs, Würzburg, Königshausen & Neumann 2014.

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im Sinne des Erscheinenkönnens. Das heißt, diese Wahrheit der Welt ist nicht irgendein besonderer (ontischer) Inhalt, dieser Tisch hier und jener Baum dort, sondern die Welt – ontologisch – als transzendent oder ek-statisch gegebener Raum der Offenheit: »So kommt es denn bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen als der Ek-sistenz darauf an, dass nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der Ek-sistenz. Die Dimension ist jedoch nicht das bekannte Räumliche. Vielmehr west alles Räumliche und aller Zeit-Raum im Dimensionalen, als welches das Sein selbst ist.« 47

Mit einem Begriff, den Viktor E. Frankl für seine Psychotherapierichtung der »Existenzanalyse« beispielsweise Heideggers fundamentalhermeneutischen Grundanalysen besorgt welthaften Existierens entlehnt hat, können wir dieses Weltsein als Wahrheit unserer Intentionalität oder Bewusstseins auch das Bei-den-Dingen-sein unserer Existenz nennen: »Geistig Seiendes ›ist bei‹ anderen Seienden […], und zwar um den Verzicht auf weitere Fragen – und so denn auch auf die Frage, was dahinter stehe, hinter dieser letzten, äußersten Möglichkeit des Geistes, ›bei‹ anderem Sein zu ›sein‹.« 48 Wir wissen durch das bisher Gesagte, dass in dieser berechtigen Aussage etwas Fundamentales unseres Weltbezuges festgehalten wird, aber zugleich spüren wir auch, dass etwas noch Grundsätzlicheres zurückgedrängt wird, nämlich das radikal ermöglichende phänomenologische Wesen dieses Bei-Seins an sich. Es ist nichts Geringeres als die Frage nach dem originären Leben oder Begehren im Sinne der (Neo-)Psychoanalyse wie auch Lebensphänomenologie als jener tieferen Art des Erscheinens, welche nicht in das bisher genannte Dimensionale fällt und dennoch als Eindruck, Gefühl oder Affekt das eigentlich Lebendige unserer Existenz ausmacht. Mit anderen Worten ist unsere Bewusstseins- oder Daseinswirklichkeit umfassender als bloßes SehenLassen oder Sprechen im Sinne von Sich-Zeigen, welches wir – außer als Transzendenz – auch als Intentionalität bezeichnet haben, insoweit diese beiden phänomenologischen Grundbegriffe die Weise un47 M. Heidegger, Über den Humanismus (Brief an Jean Beaufret 1946), Frankfurt/M., Klostermann o. J., 22. 48 »Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie« (1959), 673 f.; vgl. dazu auch W. Rohr, Viktor E. Frankls Begriff des Logos. Die Sonderstellung des Sinnes in Substanz- und Relationsontologie, Freiburg/München, Alber 2009, sowie zum Vergleich A. Längle u. A. Holzhey-Kunz, Existenzanalyse und Daseinsanalyse, Wien, Facultas 2008.

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5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

seres eröffnenden Zugangs zur Welt oder unser Bei-den-Dingen-sein meinen, die so in der Sprache Lacans immer auch ein imaginär besetzbares Andere oder Signifikat (Sinn) bleiben. Dass jedes daseinshafte Bewusstsein als Dimensionalität der Weltoffenheit also zugleich Intentionalität und Transzendenz ist und damit die (differäntiellen) Grundstrukturen unserer Existenz bezeichnet sind, wollen wir kritisch an der Problematik solcher Ek-sistenz als Zeitlichkeit letztlich herausstellen. Ek-sistenz als »Herausstehen« im wörtlichen Sinne, um so »bei« den Dingen zu sein, setzt in der Tat immer schon voraus, dass das, was mir im Jetzt gegenwärtig gegeben ist, erwartet und erinnert wurde, denn ich muss das NochAusstehende mit einem Schon-Einmal-Gewesenen identifizieren können. Die existentielle oder transzendente Grundform des Beiseins ist also genauer gesehen Intentionalität als zeitlich differentes Bewusstsein von einem gegenwärtig Selben, wie schon Edmund Husserl, der Begründer der klassischen Phänomenologie, ab 1900 ausführte. 49 Ich entwerfe mich dabei allerdings nicht auf etwas hin, was als »Objekt« schon vorher gegeben wäre, sondern mein Entwurf ist in seiner zeitlichen Dimensionalität als Vergangenheit, Kommendes und Aktuelles jene Art und Weise, wie mir überhaupt etwas als Gegen-über erscheint, um bei ihm sein zu können, und zwar als Nähe wie Ferne oder Anderes. Es gibt also zunächst nicht Subjekt und Objekt, um diese dann irgendwie naiv, psychologisch, spekulativ, diskursiv oder kognitivistisch miteinander in Beziehung zu setzen, wie Heideggers Kritik mit Recht lautete, sondern das Bei-Sein ist als meine ursprünglich intentionale Bewusstseinsweise schon immer zeitliche Ek-sistenz als Bezug. In bin folglich gemäß dieser transzendent phänomenologischen Welt- und Daseinsverfasstheit schon immer aus »mir« herausgetreten, um solche Ek-sistenz als reine Weise der Begegnung, des Verstehens oder des Sinns zu leben, weshalb Lacan aufgrund eines solch anfänglichen »Risses« die Rede als Grundform des Bezugs zur Andersheit in den Mittelpunkt psychoanalytischer Betrachung stellen konnte und damit auf seine Weise die absolute Vorgabe des Dimensionalen oder der Transzendenz theoriebegründend teilt. Das Sich-Auf-Etwas-Richten, um »bei etwas zu sein«, wie Frankl seinerseits sagt, ist mithin eine Grundstruktur, welche mir dann in ihrer Vgl. Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Hamburg, Meiner 1986, sowie auch schon unser Kap. I,3.2 über die Implikationen der zeitlichen Verfasstheit der Phänomene.

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individuellen Ausprägung im Einzelnen Aufschluss über die je singuläre Art und Weise gibt, wie ich Bezüglichkeit als Dasein, Transzendenz, Sinn, Zeit oder Sprache überhaupt lebe. Was in solcher Vorgegebenheit aber niemals möglich ist, besteht darin, innerhalb von Zeit und Transzendenz als Differenz oder Spaltung aus diesen selbst heraustreten zu können, um mich von ihnen prinzipiell zu distanzieren. Letzteres ist immer nur partiell in einem engeren psychologischen oder hermeneutischen Verständnis möglich, um beispielsweise andere Wertperspektiven oder (inter-)kulturelle Verstehensvoraussetzungen zu gewinnen, wie jede Psychotherapie und Supervision weiß. Mit der zuletzt genannten Unmöglichkeit, aus Zeit und Transzendenz als Trennung oder Juxtaposition von allen Dingen untereinander heraustreten zu können, berühren wir jedoch schon das eigentliche Dilemma der phänomenologischen Dimensionalität als angeblich allein gegebenem intentionalen oder zeitlichen Bewusstsein. Im Sinne struktureller Transzendenzformen ex-plodieren Intentionalität oder Zeitlichkeit ständig in ein je anderes Bei-Sein hinsichtlich der Dinge, denn die Verstehenshorizonte und -aspekte der Gegenstände und Situationen ändern sich in stetigem Wechsel. In diesem Taumel von Auftauchen und Wiederverschwinden der Phänomene, welche das Bewusstseinsgesetz ihres Sehnlassens von Welt selbst sind, findet zwar ständig Transzendieren statt, aber die Transzendenz kann sich letztlich eben nicht selbst transzendieren. Wenn sie jedoch immerwährendes Transzendieren sein soll, was ermöglicht dann ihr Bei-Sich-Selbst-Bleiben, das heißt die von Heidegger und seinen Nachfolgern bloß vorausgesetzte Tatsache, dass sie nicht aufhört, Transzendenz (Differenz) zu sein? Und wenn dieses Transzendieren ein Bei-sich-Bleiben als diese meine Existenz ist, was garantiert dann bei diesem Immer-Wieder-Außerhalb-Seiner-Selbst-Sein die Identität solcher Ek-sistenz als einer wirklichen Selbstheit, die auch Lacan für das reine Subjekt als Begehren anerkennt, selbst wenn er es vom »Ich« und dessen imaginären Dingfixierungen abkoppelt? Worin besitzt, noch anders gefragt, das Bei seine notwendige Konsistenz, weil es sonst unweigerlich durch das unaufhaltsame AußerSich-Werden der Zeit oder der Dimensionalität bedroht wäre? Denn falls »ich« mich nur intentional im Bewusstseinsleben als Ek-sistenz auf etwas hin entwerfe, ist solcher Ent-Wurf gleichzeitig uneinholbares Geworfen-Sein oder reine Zeitlichkeit in unüberbrückbarer Distanz zu mir selbst, wie die Folge aus Heideggers Grundannahme 313 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

lautet, welche die Daseinsanalyse als Therapieform teilt und auch unter der Form des Unbewussten als »das Ding« bzw. der Signifikant X in der Neo-Psychoanalyse wiederkehrt. Für jeden einsichtbar stoßen wir hier daher auf eine ontologisch wie zugleich auch psychotherapeutisch dramatische Situation, wenn wir unser Leben nur als ein solch Dimensionales verstünden. Wir sind dann nämlich in letzter Konsequenz gezwungen, in aller Deutlichkeit und Klarsicht uns zugestehen zu müssen, dass wir selbst Nichts sind, weil die zeitliche Intentionalität jedes »Sinnes« diesen unmittelbar wieder aufhebt, damit ein anderer Sinn sein kann, wie gerade auch die Debatte zwischen Ricœur und Freud bzw. Lacan und Freud zeigte. Unsere Existenz als bloß zeitliche Biographie wäre somit eine unabschließbare Odyssee, der niemals eine Heimkehr – bzw. ein radikal phänomenologischer Grund wie Halt – beschieden wäre. Eine solche Situation der Verzweiflung, wie sie alltäglich in Beratung, Therapie und Supervision zur Sprache kommt und der eine bloße psychologische Relativierung der Identitätsfixierungen oder Situationen nicht gerecht wird, lässt sich natürlich heroisch wie zynisch leben – als Ja zum Absurden (Camus), als Dialektik der Freiheit (Sartre) oder als Dasein-zum-Tode als unsere Eigentlichkeit (Heidegger) bzw. als unerbitterlicher Riss im Sein des Subjekts (Lacan), ohne hier auf das weitere fluktuierende Differenzerleben in der Postmoderne als »Selbstsorge« bzw. »Lebenskunst« (Foucault) nochmals einzugehen. Aber das Auflösen von ontologischen oder phänomenologischen Grenzfragen in irgendeine Form von Ethik, Verhalten oder Verneinung ist immer ein Zeichen für ein einseitiges Phänomenalitätsverständnis, welches sich alle Psychotherapien vor Augen führen müssen, um die Patienten nicht in ein ewiges Labyrinth der Sinnfindung oder in einen zeitgenössisch unterschiedlich artikulierten Nihilismus des aufgeschobenen »Todes« zu schicken, der als angebliche »Befreiung« gefeiert wird. Zu befragen bleibt daher hinsichtlich einer Grundlegung von Therapie und Supervision eine weitere Phänomenalisierungsweise, die keinerlei Abstriche am bisher beschriebenen Weltbezug zu machen hat und dennoch zugleich die Einsicht in eine unauflösbare Ipseität ermöglicht. Denn gleich wie sich dann das jeweilige »BeiSein« im Einzelnen darstellt, so gibt es noch ein viel tieferes Bei-Sich, welches niemals verschwinden oder verloren gehen kann, weil es keiner veräußernden Dimensionalität angehört, sondern eine absolute Lebensweise innerer Reziprozität ohne jede denkbare Entfremdung 314 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Heidegger und die Daseinsanalyse

bildet, das heißt eine unauflösbare Verknüpfung von Leben/Individuum als reiner Intensität. Was niemals abwesend ist, ohne jedoch vorgestellt oder intendiert werden zu müssen, nennen wir in dieser Untersuchung weiterhin »Leben« in einem prinzipiellen Sinne – nämlich als jenes absolut phänomenologische Leben, welches ich unmittelbar als das meinige empfinde und das mir in keinem Augenblick als mein Selbstsein fehlen kann. Würde es auch nur durch das allerkleinste zeitliche Intervall einer Transzendenz oder eines Signifikanten unterbrochen, wie wir festhielten, so herrschte ohne Aufschub in der Tat das Nichts und der Tod, welche Lacan für das Begehren mit einer gewissen Konsequenz in Anspruch nimmt, sofern das Begehren niemals ein erfüllendes Objekt finden kann, wodurch Ich und Selbst zusammenfielen. Allerdings widerspricht eine solche Konzeption – wie auch die Heideggers oder Freuds – der unmittelbaren Gewissheit des Lebens als Selbstaffektion oder Passibilität in jedem Augenblick, denn weder ein Sein-zum-Tode noch ein Todestrieb vermag eine letzte Wirklichkeit zu beanspruchen, da beide nur im Leben selbst wiederum empfunden werden können und keinerlei Zukunft als transzendentale Lebendigkeit aus sich entlassen. Im Gegenteil, das rein oder absolut phänomenologische Leben ist sich seiner selbst ständig gewiss, indem es sich selbst empfindet und sich dergestalt ohne Unterbrechung vollzieht. Dieser immanente Vollzug als verbales »leben« ist seine Unmittelbarkeit im Sinne jenes Mich-Empfindens, welches mit dem Wandel aller Eindrücke, Stimmungen und Gefühle wie Handlungen ohne Unterlass gegeben bleibt. Es findet hierbei daher eine affektiv materiale oder praktische Phänomenalisierung statt, die keinerlei Zweifel mehr erlaubt, denn selbst jedes Zweifeln setzt dieses Sich-Empfinden noch voraus, um überhaupt zu wissen, dass ich es bin, der da zweifelt. Wir erwähnten schon, dass Descartes nicht nur diese unbezweifelbare Gegebenheit Cogito genannt hat, was alles andere als »Ich denke« in einem rationalen, propositionalen oder reflexiven Sinne heißt, sondern das rein impressionale Bewusstsein als Selbstaffektion oder Pathos bedeutet, wie Michel Henry 50 als maßgeblicher Phänomenologe der letzten Jahrzehnte in seiner Kritik an Freud, Husserl, Heidegger, MerleauPonty wie Lacan überzeugend aufgewiesen hat. Und in diesem Sinne eines absolut subjektiven Selbstempfindens der affektiven Gewissheit 50 Vgl. Affekt und Subjektivität (2005), Kap. I,1: »Phänomenologie des Lebens« (S. 13–32).

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5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

(und nicht bloß der gedachten intentionalen Evidenz) meiner selbst können wir auch in einem zweiten fundamentalen Sinne sagen, dass solches Selbstempfinden reines Leben ist, welches »Unbewusstes« und »Sinn« oder »Signifikant« (Relation) in ihrer psychologischen Hypostasierung als angenommene Letztgegebenheiten relativiert. Jenes ursprünglich pathische Selbstempfinden bezeichnet in seiner konkreten Ermöglichung durch das Leben die transzendentale Verlebendigung all unserer noetischen und praktischen wie sprachlichen Vollzüge von einer ursprünglichen Phänomenalität aus, welche zugleich das Bei-Sich-Bleiben oder die oben eingeforderte Immanenz jeglichen Transzendierens einsichtig macht, um auf dieser Basis auch ein neues therapeutisches wie kulturelles Denken zu erlauben. Im Unterschied zu Nichts, Riss, Spaltung oder Tod, welche unter der zeitlichen Existenz eine Bodenlosigkeit aufreißen, die nicht vom Dimensionalen des Bewusstseins her jemals zu füllen wäre, bedeutet die Selbstaffektion des Lebens eine phänomenologische Materialität absoluter Natur. Was sich nämlich in der Tat ständig als eine solch urleibliche Materialität gibt, die weder Distanz noch täuschende Sichtbarkeit kennt, ist die reine Selbstgebung des Lebens. Und da es das Leben immer nur als individuiertes Leben in seiner je einmaligen Subjektivität gibt, ist solches sich-selbst-empfindendes Leben eben gleichzeitig meine originäre Leiblichkeit, oder noch genauer gesagt mein passibles oder impressionales Fleisch, wie wir ganz zu Beginn unseres Buches schon ausführten. Dieses Fleisch als die rein phänomenologische Gewissheit des Empfindens ist nicht der äußere, in der Welt oder introspektiv wahrnehmbare Körper, wie gleichfalls Heidegger richtig sah, sondern das absolute Leben in seinem inneren Sichgeben und Sichempfangen. Daher ist ebenfalls diese absolut phänomenologische Gewissheit keine psychologische »Selbsterfahrung« als beobachtbarer Feststellung, so wie sie auch von keinem »Spiegelstadium« abhängt, wo sich das Ich nach Lacan imaginär über den Anderen erstellt, sondern sie ist vielmehr die unbedingte Voraussetzung für jede Erfahrung als eines lebendigen oder empfundenen Erfahrens (Erprobens), wie immer auch die sprachliche Signifikanz dazu lauten mag. Mit dem lebensphänomenologischen Gewissheitsbegriff als transzendentaler Affektabilität in ihrer je pathischen Unmittelbarkeit von Eindruck, Gefühl oder Handeln und Begehren erschließt sich mithin eine phänomenologische Erfahrensweise, die kein bloß neutrales, strukturelles oder anonymes Apriori mehr ist, wie es der ekstatische Bezug des Da-seins oder der Ek-sistenz bzw. der Rede als 316 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Heidegger und die Daseinsanalyse

Logos (Signifikant) darstellt. Im Gegenteil ist dieses, mir jederzeit gegebene Erfahren ein effektiv vollzogenes »Ich-Kann«, welches mir als leiblich-geistiges Können ständig vom Leben her ohne Distanz oder Entzug zur Verfügung gestellt ist. Weil ich ein im Leben transzendental Geborener bin, und nur in ihm, bin ich mit allen Potenzialitäten des Lebens in seiner absoluten Fülle ausgestattet, welche nie durch die Weltveräußerung in Frage gestellt zu werden vermag. Dies bildet deshalb das Kernstück jeder Psychotherapie und Supervision, wie es hier prinzipiell zusammengefasst werden kann, um auch der einseitigen Festlegung des »unbewussten« Lebens auf das Sprechen zu begegnen, da das Wort in jeder Hinsicht als Signifikant wie Signifikat nur eine Weise der inneren Modalisierung des Lebens darstellt. Wir haben damit nicht nur einen wirklichen Zugang zum Grund des Lebens in Anschlag gebracht, welcher von vornherein die Leiblichkeit nicht ausspart, die hier tiefer reicht als Heideggers »Leiben« im Sinne von vernehmender Welterschließung 51 oder Freuds wie Lacans Trieb als »Begehren« auf der Ebene eines vitalen Drangs. Denn insofern sich jedes affektiv leibliche Empfinden zunächst und vor allem als ein je bestimmter Eindruck gibt, »spricht« darin ohne Vorstellung und Worte (Signifikat) das phänomenologisch Absolute solchen Empfindens, welches niemals »verdrängt« werden kann. Es ist absolut, weil ich es im Augenblick des Empfindens einerseits durch nichts Anderes real oder imaginär ersetzen kann und es reicht andererseits in den nicht von mir geschaffenen Grund des Lebens hinab, auf den auch jede Rede angewiesen bleibt. Der Schmerz als Schmerzen im verbalen Sinne bleibt solange Schmerz, wie er sich als Schmerz zu empfinden gibt, und er sagt nichts anderes als dieses sein Schmerzvoll-Sein, ohne dass dies mit einem primären Sadismus/Masochismus verbunden wäre. Nichts anderes im Schmerz könnte mich über den Schmerz belehren als dieses reine Schmerzempfinden selbst – keine Idee oder Theorie, und wäre sie noch so wissenschaftlich oder psychoanalytisch »objektiv«. Das Gleiche gilt von der Freude, von jeder Anstrengung, mithin von jeder Weise oder Modalisierung des phänomenologischen Lebens als Bedürfen wie Begehren. Die sich hieraus ergebende psychotherapeutische Frage ist grundlegend, denn anstelle des zuvor ausgeführten Nichts der Zeit und der welthaften Dimensionalität des Außen oder Anderen als Dif51

Vgl. G. Condrau, Leiben und Leben, Bern, Benteli 1977.

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ferenz bewegt sich mein lebendiges Empfinden in der durch nichts aufhebbaren Gewissheit solchen Empfindens, ohne ontologisch mit der Neurose oder Psychose identisch zu sein, die sich natürlich auf der existentiellen oder klinischen Ebene herausbilden können, wenn diese Selbstgewissheit des Lebens in einem Etwas oder Lebensentwurf fixiert wird. Anstatt also der Zeit und ihrer transzendentalen Geworfenheit letztlich generativ oder biographisch ausgeliefert zu sein, aber auch ohne einem scheinbar ziellosen Trieb und seinen Phantasmen zu gehorchen, schreite ich mit Gefühl und Eindruck, Anstrengung und Tun in ihrer je pathisch leiblichen Materialität oder Intensität von Gewissheit zu Gewissheit als Grundbezug aller Relationalität. Somit zeichnet sich durch das reine Gefühl eine innere Meta-Genealogie meiner Subjektivität ab, die nicht erst in einen gedachten oder projizierten Sinn erhoben werden muss, um Geltung und Gewissheit meiner selbst hervorzubringen. Im Gegenteil bietet sich in jeder Affektivitätsweise ein Grund an, der absolut vertrauenswürdig und »gut« ist, weil er den Grund des absoluten Lebens selbst bildet, das heißt jene ewige Weise, wie das Leben in sich zum Leben für sich durch sich selbst wird. Und da solches Leben passibel empfangen wird, bin ich infolgedessen um so mehr »Ich« als »Mich«, je tiefer der Ab-Grund wird, mich nicht selber erschaffen und gründen zu können, da meine absolute Herkunft aus dem mir rein gewährten Leben unauflösbar ist. Genau aus dieser radikal phänomenologischen Grundsituation heraus erwächst aber auch die Angst, da ich mich nicht selbst wollen kann, ohne in diesem »Selbstverhältnis« das Leben in seiner immanenten Reziprozität zu wollen, denn um diesem Leben zu entsprechen, will es so gelebt werden, wie es sich selbst lebt – das heißt in jeweiliger Übereinstimmung mit sich selbst. Anders gesagt lastet das Leben in seiner reinen Selbsterprobung ohne äußere Ausfluchtmöglichkeit mit dem ganzen Gewicht seiner selbst so ausschließlich auf sich selber, dass eine Unerträglichkeit geboren wird – nämlich sich als dieses Leben in seiner absoluten Subjektivität des unausweichbaren Selbstempfindens nicht mehr zu wollen. Aber genau aus dieser radikal phänomenologischen oder – wenn man will – »metaphysischen« Unmöglichkeit, seinem Leben nicht entfliehen zu können, wird der Trieb, der Affekt oder auch die Energie geboren, ein solch unverwechselbares Leben individuierter Natur in eine Lebensweise zu überführen, welche es erträglich, das heißt »glücklich« sein lässt. Jeder Begriff eines ziellosen Unbewussten, eines imaginär Sinnhaften oder rein 318 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Heidegger und die Daseinsanalyse

transzendent Intentionalen, der dieser Meta-Genealogie des ab-gründigen Sich-Selbst-Wollens des Lebens in seiner innersten wie kulturellen Selbststeigerung nicht Rechnung trägt, verkennt daher den phänomenologischen Grundsachverhalt, dass das Leben niemals bloß blind, anonym oder durch Andersheit vermittelt ist, sondern in einem rein praktisch immanenten Vollzugswissen immer um sich sowie darum weiß, was es zu tun hat, um seinem innersten Empfinden zu entsprechen. Komme ich in der Tat mit dieser lebensgenealogisch gewonnenen Einsicht auf meine Alltagswahrnehmung mit ihren Projektionen und Identifikationen zurück, so geht diese stets durch die Selbsterprobung des absoluten Lebens hindurch und vermag letzteres in jeder Äußerung wiederzuentdecken. Im Zusammenhang mit der dabei ebenfalls gegebenen »Ich-Kann«-Gewissheit, die all unser Tun und Denken begleitet, sofern es mein Erleben darstellt, welches sich effektiv vollzieht, ergibt sich dann für die Therapie und Supervision die praktische Empfindens- wie Thematisierungsmöglichkeit solchen Könnens, auch wenn es vielleicht ein momentan erlebtes »NichtKönnen« bildet – und gerade darin noch ein Können des Lebens bleibt, weil es zumindest empfunden werden muss, um zu sein. Die Ohnmacht als solche in ihrem Mich-Affizieren bricht so die Illusion eines nur egozentrischen, selbsterotisch oder imaginär ersatzhaften Könnens auf, um es seiner wirklichen Quelle zurückzugeben, das heißt einem inneren »Selbstverhältnis«, welches sich nunmehr auch bewusst durch die Selbstaffektion des phänomenologisch Absoluten als »Selbstliebe« des Lebens bestimmt, ohne meiner lebendigen Individuierung oder Selbstheit irgendetwas von ihrer Eigenwirklichkeit zu nehmen, da dieser Ipseität nicht die spiegelbildliche Illusion eines bildhaft oder reflexiv erstellten Selbst anhaftet. Im Grunde ist dann jeder Augenblick eine effektiv gegebene Möglichkeit, im originären Wie seines meta-genealogischen oder radikal phänomenologischen Erlebens jene transzendentale Geburt mitzuvollziehen, ohne die meine Existenz hier und jetzt nicht wäre. In jedem Laut, Eindruck, Tun, Schweigen und Gedanken erprobe ich daher jenes volle »Wort des Lebens«, welches seit meinem allerersten Empfinden – vor allem relativen »Spiegelstadium« – nicht aufgehört hat, in seiner absoluten Affektivität verlebendigend zu mir zu sprechen, und daher nie ein leeres Wort ist. Die Transzendenz, das Dasein als Existenz oder Andersheit können dann keine bloß formale Seinsoder Redestruktur des Unbewussten mehr bedeuten, sondern sie wur319 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

zeln in der Unaufhebbarkeit des je lebendigen Individuums, welches radikal phänomenologisch alle Wirklichkeit als Erscheinung oder Erfahrung in sich trägt. Diese meta-genealogische Grundgegebenheit als Pathos des Lebens bestimmt daher jede Therapie und Supervision in ihrer rein phänomenologisch gegründeten Theorie wie Praxis, ohne die tiefenpsychologischen Implikationen von Trieb, Bedürfen und Begehren als existentielle Bedingungen leugnen zu müssen. Das »Unbewusste« kann sich folglich wirklich als identisch mit dem »Leben« erweisen, wenn in der Tat eine prinzipielle Reduktion aller Verstehens- und Interpretationskategorien als bleibender Abstand zu diesem Leben vorher vorgenommen wird.

3) Therapie und »Klinischer Blick« Die im weitesten Sinne hermeneutisch oder phänomenologisch orientierten Psychologien im klassischen Sinne stützen sich insofern mit Recht auf die »Sinngegebenheit« aller Erscheinungen für uns, als diese stets ein intentionales Meinen beinhalten, wie wir schon sahen. Allerdings haben Husserls wie Heideggers Epoché- und Destruktionvorgaben bisheriger metaphysischer Ontologie sichtbar gemacht, dass ein »Ruin der Vorstellung« insofern in den Sinnprimat selbst eingeschrieben ist, als kein Sinngeschehen teleologisch in transzendenter Hinsicht abschließbar ist. Dieser unendlichen Endlichkeit als Methodenhypostase der phänomenalen »Schau« oder »Spiegelung« (Lacan) stellt sich die Ur-Affektivität des sich selbst generierenden Lebens gegenüber, dessen Zugänglichkeit psychotherapeutisch wie methodologisch hier in einer phänomenologischen Selbstradikalisierung weiter präzisiert werden soll. Naivität wie Illusion jeder faktuellen oder reflexiven »(Sinn-)Selbsterfahrung« müssen an die reine Passibilität als affektiven Grund lebensimmanenter Modalisierung (Sich-Empfinden) zurückverwiesen werden, und zwar in einer originären Gemeinschaftlichkeit phänomenologischer (therapeutischer) Reziprozität. Sinn ist nämlich für ein Bewusstsein wie dem unsrigen, was für dieses Geltung hat, und zwar auf dem Hintergrund eines Horizontes, der des Näheren sinnlich oder abstraktiv ideell sein kann, wie in der einfachsten Wahrnehmung oder als begriffliche bzw. kategoriale Vorstellung. Letztere Unterscheidung berührt nicht die Horizontalität als solche, die den Geltungsraum abgibt für jeden Sinn, sofern dieser intentional ist, das heißt, im Raum des 320 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Therapie und »Klinischer Blick«

Gegen-über vermeint wird, welchen der Horizont eröffnet. In dieser letzteren Bedeutung ist Horizont identisch mit dem phänomenologischen Weltbegriff als Differe(ä)nz schlechthin, wie wir aufwiesen, denn in der horizontalen oder ek-statischen Eröffnung als Offenheit des Außen zeigt sich alles, was sich uns als von uns vermeintes Sein im Sinne von Dingen, Situationen, Ereignissen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Diskursen usw. zeigen kann. Diese Ek-stasis der primordialen Bewusstseinsintentionalität – als »Quellpunkt« des Ego für Husserl, als »In-der-Welt-sein« des Daseins für Heidegger – ist letztlich zeitlich strukturiert, denn die Eröffnung des Sich-Eröffnens oder Sich-Veräußerns der Welt in ihrem ersten »Außer-Sich« vollzieht sich als das Hervorbrechen eines jeden Jetzt-Momentes in seinem Ineinander mit dem Kommenden der Erwartung und dem Vergangenen notwendiger Erinnerung an ein »Soeben-gewesen«. Jeder Sinn ist somit zeitliche Synthesis, wie schon Kant gesehen hat, das heißt, er bricht impressional in einer scheinbaren Gegenwart hervor, um sofort wieder zu verschwinden, und zwar bis an die Grenze eines retentional nicht mehr Erinnerbaren, des phänomenologisch Unbewussten, welches hier des Näheren einen Vergleich mit der tiefenpsychologischen Unbewussten in Bezug auf den transzendental »Klinischen Blick« für die Therapie nahe legt. Alles Bemühen um eine Vereinheitlichung solchen Sinnes, seine Totalisierung oder Sammlung, sei es sprachlich, historisch oder biographisch, ist also nicht deshalb prinzipiell zum Scheitern verurteilt, weil unser Denken – etwa hinsichtlich seiner Aufmerksamkeit oder seiner Erinnerungslatenz – mangelhaft »endlich« wäre. Vielmehr trägt das Denken (Logos) als intentionale Sinnstruktur diese zeitliche Horizontbegrenzung von Natur aus in sich. Es kann sich mit anderen Worten nur im Raum des Re-präsentierens vollziehen, worin allein das erscheint, was im Augenblick von ihm als Gedanke, Gefühl, Entscheidung usw. aktualisiert wird, was man »Signifikant« mit Lacan nennen kann. Die Struktur des Gegen-über dieser Vor-stellung erlaubt es nicht, dass irgendwann einmal unser ganzes Bewusstseinsleben insgesamt in einem Erleben als Gegenwärtigung gegeben wäre, weshalb unter anderem auch Freuds Konstruktion eines Unbewussten von einer klassischen Konzeption des Bewusstseins abhängig bleibt, von dem her es in kritischer Rückwendung konzipiert wurde. In Bezug auf die zeitlich ekstatische Bewusstseinsstruktur als Horizontintentionalität sind wir mithin bereits für immer von uns getrennt, wenn wir die Einheit, das radikal phänomenologische »We321 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

sen« unserer selbst in einer irgendwie intentional vermeinten Sinnvorstellung oder -erklärung suchen wollten. Man kann sich mit dieser Situation auf verschiedene Weisen arrangieren: wie wir schon andeuteten: nihilistisch, religiös, wissenschaftlich progressiv, esoterisch, postmodern spielerisch. Die Psychotherapie hat ihre Lösungen je in Abhängigkeit von vorausgesetzten Philosophien oder Anthropologien beispielsweise gefunden, nämlich als Verhaltenskorrektur, Realitätsanpassung, Lebensstil, Situationssinn, personaler Existenzsinn permanente Kastration und weiteres mehr. 52 Da wir hier phänomenologisch fragen, und zwar radikal phänomenologisch, können wir uns mit dieser theoretischen wie praktischen Situation nicht bescheiden, denn wir nehmen im jeweiligen Sinnvollzug immer etwas in Anspruch, dessen Ursprünglichkeit tiefer wurzelt als der deskriptiv erhebbare Sinn – und gerade darauf scheinen uns die Leiden wie Freuden, mit der es die Psychotherapie sowie zuletzt jedermann in seinem Leben zu tun hat, zu verweisen, wie wir erneut unterstreichen möchten. Sinn tritt nämlich nicht nur immer schon affektiv gefärbt auf, in dieser gefühlten Stimmung von Bedrohlichkeit, Langeweile, Faszination oder Anstrengung, Liebe wie Hass, sondern die Frage ist zuäußerst gesehen: Wie erscheint jedes Erscheinen in sich selbst, damit es überhaupt erscheinen kann? Wer oder was trägt die Intentionalität in ihrer transzendenten Eröffnung selbst, so dass sie bei allem Je-über-sich-Hinaus stets bei sich verbleiben kann, nämlich als Ek-sistenz, die notwendigerweise unentwegte Kohärenz und Konsistenz besitzt? Es muss dies eine Ur-Affektion sein, um es zu wiederholen, die das ohne Kluft oder Abstand mit sich zusammenschweißt, was sich – so flüchtig es auch impressional sei – in seinem Erscheinen als Erscheinung nicht verliert. Gäbe es nur entfaltende Weltekstasis, das heißt ausschließliches Dif-ferieren des Hervorbrechens, als Zeitlichkeit, als »Ereignis«, wie bei Husserl und Heidegger, oder als »Aufschub« wie bei Derrida, dann gäbe es nichts, was irgendwie sein könnte: Es wäre schon tot, bevor es überhaupt geboren ist – weil es noch nicht einmal ins Leben gelangt –, wodurch Lacan durchaus mehr Klarsicht beweist als Binswanger oder Frankl etwa. Folglich ist für uns als lebendige Wesen ein »Ort«, besser eine Vgl. H. G. Petzold (Hg.), Die Menschenbilder in der Psychotherapie (2012), 15–40: »Einführung – Unterwegs zu handlungsleitenden Menschenbildern«; zuvor schon Integrative Therapie. Modelle, Theorien & Methoden einer schulenübergreifenden Psychotherapie, 3 Bde., Paderborn, Junfermann 2003.

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Weise auszumachen, wo das genannte Sich-Affizieren des Erscheinens als Selbsterscheinen die Phänomenalisierung der Phänomenalität selbst ausmacht, auf der jeder Sinn vor wie in seinem intentionalen Entwurf als Weltexistenz beruht. Dieser modale Ort ist das rein phänomenologische Leben, welches ebenso absolut wie apodiktisch ist, denn wir können es in keiner Reduktion durchstreichen, da jeder Akt, der es verneinen oder einklammern würde, es in seinem Vollzug schon wieder voraussetzen würde. Aber da es vor jedem Etwas, vor jedem »Dies-da«, vor jedem hermeneutischen »Es gibt« ist, phänomenalisiert es sich notwendigerweise auch vor jedem Horizont, welcher die Bedingung für jedes vor-gestellte Etwas, Dies-da usw. ist. In diesem Sinne ist das hier weiter präzisierte Leben in Hinsicht auf einen notwendigen rein »Klinischen Blick« ahorizontal und damit akosmisch: in keiner Welt anzutreffen und daher prinzipiell unsichtbar. Leiden, lieben, handeln – dies alles vollzieht sich in der Unmittelbarkeit dieses unsichtbaren Lebens, wenn wir unsere Vorstellungen nicht mehr für die Realität selbst ausgeben. Deshalb ist die »Heil(ung)s«-Frage der Psychotherapie letztlich die Unmittelbarkeit dieses Lebens diesseits von Zeit und Welt selbst, worum der eigentliche »Klinische Blick« weiß, sofern er eben der transzendentale Blick dieses Lebens selbst ist. Aber dieser Vorgriff auf unseren Schlussgedanken in diesem Kapitel muss hier seine vertiefte Berechtigung erfahren, denn wenn wir alle Ekstasis einklammern, haben wir auch alle Theorien einschließlich Metaphysik und Geschichte außer Spiel gesetzt. Das heißt, wir können das Leben nicht mehr als ein bloß neues Paradigma nehmen, um aus dessen Allgemeinheit – mit einem weiter bestehenden naiv geglaubten Welthorizont – irgendwelche E-videnzen abzuleiten, welche vermeinten Sinn begründen sollen, und wäre es jener von Psychotherapie und Supervision als eigenständige praktische Disziplinen. Was haben wir, so paradox ist zu fragen, wenn wir »nichts« mehr haben – nichts mehr an Vorstellungen, Handlungsentwürfen, Sorgen, Beziehungen usw.? Mehr als einer, der in die Therapie kommt, steht genau an diesem Punkt, von anderen klinischen Stimmungsbildern zu schweigen, und es wäre ein phänomenologischer wie therapeutischer Kunstfehler, ihn erneut in das Labyrinth der »Sinnsuche« aufbrechen zu lassen, da der Suche die Irrnis vorprogrammiert ist – wenn mit anderen Worten die Naivität der Horizontverhaftetheit nicht einmal schlagartig durchbrochen wird. Das phänomenologische »Nichts« ist nicht nichts, auch wenn es kein Etwas mehr ist, sondern 323 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

die Weise, wie das Leben als Ursprung des Erscheinens nur in den Augen der Transzendenz erscheint, eben als perspektivisch un-sichtbar, rhetorisch un-sagbar oder welthaft un-scheinbar. Diese Unsichtbarkeit ist jedoch keine empirische oder ontische Eigenschaft, welche dem Leben neben sonstigen Attributen zukäme, sondern als die prinzipielle Unvergleichbarkeit mit allen mundan horizonthaften Kategorien meint diese Unsichtbarkeit die Realität in ihrem absoluten Selbstanfang, genauer: als Ursprung im Sinne der natura naturans oder causa sui. Denn wenn reduktiv jeder Sinnhorizont der Sichtbarkeit, das heißt der Vorstellungshaftigkeit, entfernt ist, dann lässt sich »Leben« in diesem radikal phänomenologischen Sinne eigentlich nicht mehr mit Hilfe der Kopula »ist« aussagen (was greifbar auszulegende Gegenwart suggeriert), sondern nur noch als Prozess der inneren Lebensselbstbewegtheit, die ihre eigene Offenbarungsgesetzlichkeit besitzt, wozu eben die Unsichtbarkeit als Sich-Offenbaren bzw. Sich-Sagen im Sinne intensiver Immanenz gehört. Die Ur-Affektabilität als Selbstaffektion (welche unser phänomenologisches Wesen zu jedem Augenblick bestimmt (da keiner unserer Vollzüge in sich tot ist, sondern eben stets transzendental lebendig) benennt diesen Prozess der Selbstbewegtheit daher als Immanenz von Akt und Gehalt. Was sich selbst ergreift, ist das absolut phänomenologische Leben, und dieser Gehalt ist sein Akt selbst, nämlich dieser Gehalt als die rein materiale oder intensive Weise, sich selbst zu ergreifen, und in dieser gegenseitigen Einheit von Ergreifen und Ergriffenwerden vollzieht sich das Sich-Offenbaren des ursprünglichen Lebens an sich selbst in seiner ausschließlichen Innerlichkeit. Seine Selbstbewegtheit als Prozess des Sich-Selbst-Übereignens im Sich-Selbst-Empfangen ist mithin das inner-narrative Wort des Lebens, sein Sich-offenbaren, welches wir als sein Sagen diesseits aller Dinge als unsere ständige Lebendigkeit selbst vernehmen. Dieses Sich-Offenbaren des Lebens als Selbstverlebendigung ist das Geräusch ohne Laut unserer transzendentalen Geburt im Leben, welche im Schweigen wie im Sprechen, im Handeln wie im Ruhen, in der Freude wie im Leid, das heißt in jeder subjektiven Praxis, vernommen wird. In dieser transzendentalen Lebendigkeit sind folglich alle intentionalen Akte gehalten, und wenn der existentielle Sinn zu fehlen beginnt, weil er brüchig, trügerisch oder hinfällig oder sogar »tot« geworden ist, dann spricht immer noch, und zwar ohne Unterlass, das reine Wort des Lebens in uns zu uns, macht sich jetzt vielleicht erst wirklich hörbar, weil wir es unter den Sprachweisen der Hori324 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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zonthaftigkeit sonst nicht vernehmen können – spricht als Affekt, Gefühl, Trieb, Begehren oder reine Leiblichkeit, mithin als unser lebendiges Fleisch, das nie lügt oder »verdrängt«, wie gegenüber Freud und Lacan prinzipiell festzuhalten bleibt, um eine andere Therapiesicht zu begründen. Lügen, sich verstellen, ideologisch oder idealistisch abstrahieren bzw. idealisieren, kann das Leben in seiner radikalen Immanenz deshalb nicht, weil es keine Distanz in sich kennt, in der sich ein Horizont solcher Interpretationen auftun könnte. Daher ist jedes Gefühl als reines Sich-Fühlen in seinem transzendental affektiven Fleisch als phänomenologische Ur-Materialität absolut. Es empfindet sich so, wie es sich empfindet, ohne dass dazu eine Be-deutung (Signifikant) notwendig wäre, die es verstehend umspannt. Dieses »Sich« des SichEmpfindens ist daher kein re-flexives Selbst, keine Ich-Vorstellung meiner selbst in der intentionalen Ver-äußerung oder »Spiegelung« meines Bewusstseins als Transzendenz, sondern die phänomenologische Konkretion der Selbstaffektion des Lebens in dessen absoluter Individuierung. Da das Leben niemals, wie wir schon sagten, eine allgemeine ontologische Kategorie oder ein metaphysisch wissenschaftliches Deduktionsprinzip ist, meint seine »Sichheit« (Ipseität) genau diese phänomenologische Substanz oder Materialität seiner immanenten Selbstergreifung, die sich in ihrem Wesen als Individuierung vollzieht – als dieses Gefühl hier und jetzt in seiner transzendental affektiven Gebung, unverwechselbar mit jedem anderen Gefühl in seinem einmaligen Empfinden als Sich-Empfinden. Die Individualität tritt also hier nicht wie in der klassischen Philosophie oder Psychologie als eine Besonderung an einem universalen Eidos (Wesen, Idee, Vernunft, Sprache, Gattung) auf, sondern das Individuelle – das tode ti, die haecceitas der philosophischen Tradition – ist jene Weise, wie sich transzendental die Affektivität phänomenalisiert, und zwar als individualisiertes Sich (Ipseität) in der Selbstaffektion des absoluten Lebens. Wenn demzufolge meine Selbstaffektion als originäre Lebendigkeit mit der Selbstaffektion des absolut phänomenologischen Lebens identisch ist, weil es stets nur ein Leben gibt, dann berühren wir hier die Struktur einer nie fehlenden Präsenz als Selbstgebung, die jeden Sinn trägt, ohne ihrerseits als singulärer Sinn unseres intentionalen Vermeinens und Sprechens hervortreten zu können. Das intentionale Bewusstseinsleben ist mit anderen Worten konkret von einer NichtIntentionalität in sich ermöglicht, die nicht aufhört, den Sinn jeweils 325 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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selbstaffizierend an sich selbst zu geben. Und die Abwesenheit, der Verlust bzw. die Hemmung oder Verdrängung bzw. Verwerfung von Sinn ist eine Weise, wie sich Sinn im Raum der Horizontenttäuschungen notwendigerweise gibt, ohne dass die ursprunghafte Realität der Selbstgebung des Lebens als Sich- bzw. Mich-Affektabilität davon berührt wäre. Denn im Leben als radikal phänomenologischer Realität ist alles Einzelerleben Modifikation des Erlebenkönnens als solchem, wobei das Sich-Modifizieren nichts anderes als die unendliche Selbstbewegung des sich-selbst-erfahrenden Lebens ist, welche keiner prinzipiellen Beschränkung unterliegt, weil die Abstufungen der Gefühle als Oszillationen ihrer Tonalitäten kein welthaftes Kriterium der Begegnung in einem Gegen-über kennen, sofern Leben eben transzendental Erfahren-Können überhaupt bedeutet. Hieran rührt beispielsweise die Quelle von Kunst und Kultur, in welche alle Psychotherapie insofern eingebettet ist, wie sie diese Quelle der Selbstbewegtheit wieder zugänglich machen will, um die in ihr eingeschriebene Selbststeigerung (erneut) ohne die Wiederholung von Illusionen oder Projektionen und Phantasmen zu ermöglichen. Da es aber einen Zugang zum Leben nur im Leben selbst gibt, genauer in dessen autarker Selbstumschlingung ohne Ausweg nach irgendeiner Richtung hin, kann ein solcher Zugang letztlich von keiner Methode abhängen, die sich dem Leben von außen wie einem Gegenstande näherte, um ihm zu sagen, wie es sich zu verhalten hätte, welchem Sinn oder Wert als Signifikant es zu folgen habe – da es selbst a priori der Gradmesser aller Werthaftigkeit im Sinne der inneren Lebenserprobung von Werten ist. Zugänglichkeit als Erprobung ist »Aussetzen« an das, was zu erproben ist – mit dem Unterschied zur gewöhnlichen Erprobung als Erfahrung oder Experiment, dass nicht wir das Uns-Aussetzen wählen, sondern gerade das Aussetzen unser Ausgesetztsein ins Leben ist: Pathos. Die eidetisch affektive Struktur solchen Pathos innerhalb der transzendentalen Affektivität als notwendige Bedingung für jeden Sinnentwurf im Ausgang vom Empfinden wie Fühlen bedeutet daher, dass das Sich-Empfinden als konkrete Materialität der Erscheinensphänomenalisierung eine reine Passibilität darstellt. Leben kann sich nur im Selbstempfangen als Sich-Selbst-Ertragen phänomenalisieren, das heißt, das Ertragen als transzendentale Struktur jeglichen Erleidens tritt nicht als eine bloß empirisch feststellbare Faktualität auf, die – man wüsste nicht wie – ebenfalls zum Leben gehört, sondern Leben affiziert sich seinem Wesen nach stets als Selbstpassibilität. Infolgedessen bin ich in 326 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Therapie und »Klinischer Blick«

meiner phänomenologischen Ursprünglichkeit, am modalen Ort meiner absoluten Geburt, bevor ich ein intentional vermögendes Ego bin – ein radikales Mich. Diese Deklinierung des Ich im passiven Akkusativ ist eine eidetische Notwendigkeit meiner radikal phänomenologischen Lebensabkünftigkeit; das heißt: Ich erleide letztlich nicht irgendetwas – kontingent und endlich – durch die Zeit- und Raumstruktur der Welt im Hier und Da, sondern ich erleide mich, und auf solche Weise zugleich in mir das absolute Leben als solches. Aber eben nicht als eine passion inutile, wie Sartre und Lacan meinten, sondern das Mich als Lebenspassibilität ist die uranfängliche Sammlung meiner selbst, sofern sie als Selbstaffektion Abkünftigkeit im absolut phänomenologischen Leben ist und sich daher mit allen transzendentalen Vollzugsmöglichkeiten des Lebens ausgestattet findet – eben mit dem Erfahren-Können schlechthin, welches jeder partikulären Gefühls- und Sinnerfahrung als »Selbsterfahrung« bis in das Tun hinein vorausgeht. Wenn jedoch die Passibilität die praktische Ausstattung des Mich mit allem lebendigen Können oder Vermögen ist, über die das intentionale Ich als Ego der Bewusstseinsakte zu herrschen meint, dann ist die absolute Grenze des Mich als Geburt aus dem Leben heraus ohne irgendeine je gewählte Initiative meinerseits eine unumgängliche Ohnmacht, welche paradoxerweise mit der Freiheit selbst identisch ist. Betrachtet man Freiheit nur von außen als Geschehen zwischen Motivation und Handlungsziel, dann tritt die Freiheit als eine Entscheidung zu Stellungnahme und Wahl auf, etwas zu lassen oder zu tun. Hinsichtlich meiner transzendentalen Geburt ist dies niemals möglich; ich habe meinen unhintergehbaren Anfang nicht selbst gewählt – ich bin in ihn (aus-)gesetzt, wodurch das traditionell akthafte Freiheitsverständnis ein verkürztes ist. Die Ohnmacht als Ur-Passibilität erweist sich hingegen als homogen mit dem Können möglicher Vollzüge in transzendentaler Hinsicht, so dass die Freiheit prinzipiell in diesem Können zu können ruht. Und wie die transzendentale Leiblichkeit als Intensität oder Immanenz zu verstehen gibt, steht dieses Können mir jederzeit zur Verfügung, nämlich als Wiederholbarkeit der leiblich-geistigen Vermögen, wann immer ich es will, ohne mich bei solcher Iteration erinnernd an den Anfang ihrer Ermöglichung versetzen zu müssen. Die Freiheit ist daher diese lebendig praktische Disposition, ohne Berücksichtigung bestimmter Momente oder Zeiten, mein Leben »zur Verfügung zu haben«: zu gehen, wann ich gehen will; den Blick umherschweifen zu lassen, wenn ein Geräusch in 327 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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mein Aufmerksamkeitsfeld eindringt usw. Das Leben ist mir somit in meiner Mich-Passivität stets in einem Mehr, in einem Plus gegeben, das mir als primordiales Ich-Kann immer schon im Voraus gewährt ist, wie wir schon öfters hervorhoben, bevor ich es in einem intentionalen Einzelakt vollziehe. Mit diesem transzendentalen »IchKann« eines rein phänomenologisch sich in der Passibilität absolut gegebenen Lebens hat es der »Klinische Blick« fundamental zu tun, wie wir hier aufweisen möchten. Aktivität wie Passivität sind dann nämlich zunächst vor allem Modalitäten dieser einen Passibilität, welche die absolut phänomenologische Verfleischlichung jedes Lebens als Lebendigkeit ausmacht. Ohne hier die Leibanalyse zu Beginn unseres Buches wiederholen zu wollen, schlägt jede Aktivität der Sinnlichkeit und des Handelns in eine Passivität um, wenn der organisch subjektive Leib an eine Grenze seiner inneren Kraftentfaltung stößt, welche als nicht weiteres Nachgeben die Grenze des Leiblichen als Erfahrung von Welt innerhalb dieser Modalität der Anstrengung ist, die jedes Empfinden auszeichnet, wie vor allem Maine de Biran gezeigt hat. Sich-Anstrengen als leibliche Selbstbewegtheit des Könnens wird zur Passivität dieser Selbstbewegtheit, wo dies sich am äußeren Hindernis als nicht mehr weiter vollziehbar erfährt: Ich stoße an eine Mauer, berühre ein Blatt Papier oder eine Geigensaite. Dies aber bedeutet insgesamt, dass mir die Außenheit (Differenz, Nicht-Ich) als Grenze der Anstrengung ebenfalls nur in der Passibilitätsstruktur des Lebens gegeben ist. Noch genauer in lebensphänomenologischer Hinsicht gesagt: Welt ist hier kein Korrelat der Vorstellung mehr, Panorama des Blicks, sondern elementar reines Korrelat des Ich-Kann als Kraftergreifung und -entfaltung in deren rein immanent praktischer Ausübung. In dieser radikal phänomenologischen Gegen-Reduktion wird ersichtlich, dass eine selbstaffektive Immanenz uns ursprünglicher mit der Welt (Realität) verflechtet, als es eine Intentionalstruktur überhaupt im Gegenüber vermöchte, denn jedes Gegenüber selbst (wovon der Sinn die objektiv transzendente Vermeintheit in dessen Bedeutung für mich ist) wird gehalten im Sich-Offenbaren des Lebens als lebendig fleischlicher Passibilität. Die Passibilität des Lebens in uns als Ermöglichung eines Könnens, welches uns nie fehlt, solange wir im Leben sind, ist daher eine phänomenologische Grundgegebenheit, in der die transzendentale Illusion des Ego als »Quellpunkt« aller Intentionalstruktur aufgeklärt werden kann, und zwar einschließlich des Personbegriffs, der bei328 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Therapie und »Klinischer Blick«

spielsweise bei Husserl die Habitualität dieser Aktvollzüge als Charakter bezeichnet, ohne diese prinzipielle Iteration von ihrem älteren Wiederholen-Können her in den Blick zu bekommen. Ich- oder Personsein (etwa bei Frankl in der Nachfolge Schelers, aber auch das »Subjekt« als »Selbst« bei Lacan) arbeitet mit einem Kredit des Lebens, das als dessen uneinholbares »Mehr« ohne denkbare Quantifizierung immer schon jedem Ich-Sagen voraus ist, sofern ich nur als radikal affiziertes Mich in der Lebenspassibilität geboren werde. Sich etwas zusprechen, dessen Ursprung nicht von mir stammt, weil sich das Ich als transzendentales Ego erst im Übergang zum vollzogenen Können konstituiert, ist daher eine Pseudoautonomie, wenn nicht sogar Idolatrie, die in jedem Sinnentwurf verdeckt bleibt, solange sich dieser ausschließlich als Ich-Entwurf versteht. Das Ego ist gewiss Vollzugsinstanz des Ich-Kann, das heißt, es ist immer praktisches Ego des Leistens im husserlschen Sinne. Aber da die Vermögen, mit denen es ausgestattet ist, nicht in ihrem Ursprung von ihm selbst gesetzt oder gestiftet werden, verbleibt es hinsichtlich seiner phänomenologischen Wahrheit solange in einem transzendentalen Schein verhaftet, wie es diese »Selbstkonsitution« nicht durchschaut (sei es als Zeitlichkeit oder als Eigentlichkeit bzw. Entschlossenheit zum Tod wie bei Husserl und Heidegger, um nur bei diesen genialsten Entwürfen der Gegenwart zu bleiben). Da in den Sinnenttäuschungen oder -hemmungen als Frustration und Kastration dieser Anspruch rein egologischer Sinnkonstitution meist in biographischer oder existentieller Hinsicht fraglich wird, führt mithin eine Sinnanalyse über diesen Weg konsequenterweise zur Passibilität des reinen Mich als unumgehbare Geburt oder Gebung im Leben zurück, wodurch die tiefenpsychologische Diagnostik eines unbewussten Begehrens auch eine phänomenologische Plausibilität gewinnt. 53 Eine solch radikal phänomenologische Freiheitsanalyse im RahEine solche Auseinandersetzung wäre auch mit der »personzentrierten Psychotherapie« Carl Rogers (1902–1987) zu führen, der von einer wesenhaften Natur des sich »organismisch« aktualisierenden Menschen durch Erleben, Gewahrsein, Kongruenz, Eigensteuerung und Relation ausgeht, welche einer lebenslangen Entwicklung unterlägen; vgl. G. Stumm, »Menschenbilder in der Klientenzentrierten Psychotherapie (Gesprächstherapie)«, in: H. G. Petzold (Hg.), Die Menschenbilder in der Psychotherapie (2012), 571–604, hier bes. 574 f. Über die Verbindung mit der grundsätzlich positiven Annahme des Patienten als »Person« in der Humanistischen Psychotherapie insgesamt vgl. auch R. Hutterer, Das Paradigma der Humanistischen Psychologie. Entwicklung, Ideengeschichte und Produktivität, Wien, Springer 1998.

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men der rein passiven Ich-Kann-Gegebenheit impliziert daher einen Vollzug der transzendental phänomenologischen Reduktion als Praxis in zweifacher Hinsicht. Einerseits wird in der reduktiven Einstellung auf den Sinn hin klar, dass kein Sinn oder Signifikat absolute Evidenz wie Gewissheit beanspruchen kann, weil der Horizontraum des Meinens bzw. Vorstellens und Sprechens nicht der Selbstphänomenalisierungsweise des absolut phänomenologischen Lebens entspricht. Damit ist aus lebensphänomenologischer Sicht die apodiktische Relativierung eines jeden Sinns ontologisch in die Sinnkonstitution selbst eingeschrieben. Dadurch lassen sich Perspektivenwechsel, Motivationsumstellung, Geltungsdekonstruktion, Signifikantenverlust usw. fundamentaler begründen als durch eine bloß faktuell psychologische Angeratenheit von »Realitätsanpassung«. Diese Relativierung ist jedoch kein dogmatischer Relativismus oder Nihilismus, weil andererseits die reduktive Habitualität sich auf die phänomenologisch aufgeklärte Korrelation von Mich/Ich in der Lebenspassibilität gründet. Als lebendiges Mich bin ich »absolut«, das heißt in der meta-genealogischen Wahrheit des Lebens geboren, welche zugleich »meine« Wahrheit ist – undurchstreichbar und daher für immer, solange ich als dieses selbstaffizierte Sich lebendig bin; das heißt »ewig« außerhalb jedes zeitlichen »Nun« im Sinne Meister Eckharts. Ohne ein thematisch vorgestelltes Wissen sein zu können, impliziert jedoch diese nie abwesende Lebensrealität eine Gewissheit, deren reflektives Nicht-Wissen eben reine Praxis bleibt, nämlich Vollzug der affektiven Lebensmodalisierungen, die zu keinem Augenblick fehlen und von der mich jede an die unsichtbar immemoriale Realität allen Erscheinens zurückbindet (und in diesem Sinne als religio ohne cogitatum gedacht werden kann). Gerade über die Passibilität in der Tiefe unseres Seins selbst bildet sich somit ein lebendiger Kosmos aller Dinge heraus, in welchen die Freiheit dann ihre Handlungsziele – im Bewusstsein um ein älteres Können – ergreifen kann. Dieser Blick setzt den Anderen, das alter ego, voraus, aber aus Gründen ontologischer Gleichursprünglichkeit und nicht bloß sprachlicher Differenz wie bei Lacan. Denn dort, wo ich bin, am Ort meiner transzendentalen Geburt im Leben, sind phänomenologisch prinzipiell auch alle Anderen: die je gewesenen Generationen, die kommenden sowie die in der Gegenwart mit-mir-seienden Menschen. Die Frage ist also zunächst nicht: Wie kann ich einen Anderen wahrnehmen und zu ihm sprechen, so dass er der Andere bleibt und ich dennoch einfühlend bzw. begehrend mit ihm zu kommunizieren 330 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Therapie und »Klinischer Blick«

vermag? Denn da der Wahrnehmungsstruktur konkret ermöglichend die Lebensaffektion vorausgeht, muss vielmehr die transzendentale Bedingung dieses Mitseins selbst befragt werden, das heißt das Verhältnis der Gemeinschaftlichkeit als solches, welches nicht in eine formale bzw. logische Andersheit aufgeht, die durch die Welteröffnung erstellt wird, in deren Differenz als Alterität alles untereinander sich fremd oder sogar indifferent ist. Vor jeder Welt sind wir folglich bereits in einer phänomenologischen Reziprozität reiner Lebensinnerlichkeit zusammen gegeben, welche bewirkt, dass ich den Anderen eben nicht nur als ein alter wahrnehme, sondern als ein lebendiges Ego wie mich selbst. Dieser Akkusativ des Mich ist hier nicht zufällig, denn die lebendig gemeinschaftliche Gegenseitigkeit mit dem Ich des Anderen (welches ich wahrnehmungsmäßig nur appräsentierend als »Seele« und nie originär in seinem eigenen Bewusstseinsfluss wahrnehmen kann, wie die husserlsche Problematik lautet) wurzelt genau in meiner zuvor genannten Passibilität. Insofern ich mich nämlich niemals selbst im Leben irgendwie setze oder gründe, sondern absolut ursprünglich wie individuiert in ihm geboren werde, habe ich einen solchen Zugang zum Leben allein in dessen Selbstipseisierung, welche nicht ich selbst als Zugang bin, sondern der Zugang für alle ist, die im Leben als Lebendige geboren werden. Am Ort dieser meiner radikalsten Subjektivität in der Lebensipseisierung als solcher, nämlich mich dank der transzendentalen Geburt stets als dieses Ich im Lebens-Sich als solchem zu empfinden, herrscht anders gesagt eine Pluralität, die keine Differenz welthafter Andersheit ist, sondern die Selbstgebung weiterer Iche an sich selbst in derselben absoluten Sich-Affektion des Lebens. Weil das rein phänomenologische Leben in seiner Selbstphänomenalisierung, die wir oben als Selbstbewegtheit angesprochen haben, sich selbst in seiner pathischen Identität von Akt und Gehalt zeugt, ist diese Lebensipseität als Ur-Sich der gemeinsame Ort aller, die im Leben ins Leben kommen. Ich und Gemeinschaftlichkeit sind infolgedessen phänomenologisch gleichursprünglich, was alle Versuche hinfällig macht, Individuum und Gemeinschaft bzw. Gesellschaft irgendwie auseinanderzudividieren oder die letztere bis zur Ausrottung über die einzelnen Menschen herrschen zu lassen. Diese eindeutige Absage an jede Form von Kollektivismus wie Individualismus, aber auch an ein Herr/Knecht-Verhältnis mit ideologisch doktrinärem Status birgt allerdings über die kaum bisher schon zu Ende gedachte Konsequenz für die heutige Globalisierung und Interkulturalität eine unmittel331 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

bare Relevanz gerade auch für die Begegnung in der Psychotherapie, auf die besonders Binswanger hinwies, selbst er noch einem rein welthaften »Mitsein« verhaftet bleibt. Wir haben diese notwendige Begegnung mit dem Titel »Klinischer Blick« überschrieben, weil einerseits mit jeder Form von Klinik die Heil/Heilungs-Frage im weitesten Sinne von Beginn an angesprochen war und andererseits die Klinik zu jenen institutionellen Orten gehört, in denen neben Gefängnissen, Asylen usw. alles Fremdartige ausgesondert und an den Rand gedrängt wurde, wie Foucault 54 gezeigt hat. Konstituiert sich mundan phänomenologisch im Blick als Paradigma allen intentionalen Sehens schlechthin das Gegenüber des mir Fremden oder Anderen, dann bleibt eben zu fragen, ob der therapeutische/klinische Blick nicht schon von vornherein davon infiziert ist, das Defizitäre, Pathologische, Störende, Fremde usw. wahrzunehmen, anstatt in der Affektion seiner selbst die Gemeinschaftlichkeit mit einem »anderen« Leben, welches absolut phänomenologisches Können bleibt, wie immer auch die äußeren oder psychodynamischen Einzelerscheinungen aussehen mögen. Die Konversion des Blicks ist hier deshalb nicht vorrangig als methodische, ethische oder deontologische Übung gemeint, sondern als phänomenologisch konstitutive Korrelation von Erscheinen/Erscheinung in der Heterogenität von Leben/Welt. Solange ich wahrnehmend in der Erscheinung verbleibe, verbleibe ich in der Weltekstasis und finde nicht hin zur originären Gemeinschaftlichkeit mit dem anderen Ich, das sich selbst – wie ich mir – nur im Leben gegeben sein kann. Mithin ist die Transzendentalität des »Klinischen Blicks« die Realität einer UrGemeinschaftlichkeit, die diesseits jeglichen Sinns gegeben ist, denn der Sinn als die je-meinige Synthesis kann nur isolieren, weil die Weltstruktur solche Isolation und Indifferenz füreinander notwendigerweise impliziert, auch wenn sie intentional die eine Welt aller bleibt. Sobald sich der Blick selbst umkehrt in das Lebenswissen um sein Sehen-Können, welches sich selbst nicht mehr von außen sehen kann, ist mit diesem Können auch bereits der »Andere« ausschließlich als reines Können mitgegeben. Denn ich sehe ihn dann nicht mehr mit dem Blick der Welt, sondern mit jenem Auge, mit dem das Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M., Suhrkamp 1989. Erinnern wir daran, dass der Begriff Klinik ursprünglich von griech. kliné, dem Bette, Krankenlager, kommt, und das Verb klinein bedeutet: sich hinwenden, liebevoll zuneigen, herabbeugen.

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Therapie und »Klinischer Blick«

Leben sich selbst im Sehen sieht – und an diesem Ort der impressional transzendentalen Geburt sind alle Ego als jeweiliges Mich versammelt. Dieser Blick mit den Augen des Lebens ist nun aber gerade kein monotoner Blick, der keine »Differenzen« sieht. Im Gegenteil, die Differenz, welche er vernimmt, ist die »Sprache des Lebens« als Selbstbewegtheit des Affektiven, mit dem jedes individuelle Leben absolut subjektiv in sich kommt. Die Begegnung, welche daraus erwächst als analytisch oder klinisch therapeutischer Austausch ist daher prinzipiell affektiver Austausch, wo sich ko-pathisch die Kräfte des Affektiven als Lebensaffektion in der erwähnten Ur-Gemeinschaftlichkeit berühren: die Angst als Angst, die Verdrängung als Verdrängtes, der Trieb als Begehren zur Befreiung von dieser Angst, die Anstrengung als weitere kreative Modalisierung davon usw. Ein Blick ohne wertendes Ansehen des beruflichen, gesellschaftlichen, ethischen Prestiges usw. (was nicht heißt, dass diese Bereiche als Lebensfaktoren oder »Realität« unwichtig wären) gehört zu einem Individuumverständnis, wie es durchaus etwa auch unsere Verfassungen oder die Menschenrechte implizit voraussetzen. Aber ein solch allgemeiner (politischer) Blick stiftet noch keine ursprüngliche Gemeinschaftlichkeit bei gleichzeitiger originärer Individualität, da er vom allgemeinen Prinzip der Vernunft her bestimmt ist, in der wir bewusstseinsneutral übereinstimmen sollen, ohne zu zeigen, wie überhaupt das Außen der Vernunft eine Gemeinsamkeit zeugen oder begründen kann, welche nicht eine bloß relative Sinngemeinschaft mit all ihrer ständigen Notwendigkeit zu Interpretation, Kommentar oder Deutung ist, ohne von der Verstellung und Lüge zu sprechen, die konstitutiv zur Sprache der Welt gehören – also keine ethische Misanthropie hier bedeuten. 55 So begründet auch die Passibilität im Klinischen Blick erst jene Aufmerksamkeit, die keine intentionale Spannung mehr ist, sondern das Wissen darum, dass jede Äußerung des Anderen, zumal seine emotional affektive, zu jenem modalen Ort durchstoßen will, wo er sich seit jeher unverbrüchlich gegeben ist: am Ort seiner transzendentalen Geburt, das heißt in der Bewegung seines immemorialen Vgl. R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München, Alber 2008, 438 ff., für den Zusammenhang von einer transzendental notwendigen »Aufmerksamkeit für das Leben« und dem Bereich des Politischen, was hier für die »Klinik« übertragbar ist.

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5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

Werdens, das mit dem ganzen Gewicht seines Sich-Empfindens in aller unveräußerbaren Subjektivität lastet. Die klinische Konversion von der Priorität Sinn/Leben zu Leben/Sinn hin ist daher nicht nur eine Frage theoretisch phänomenologischer Aufweisversuche, sondern die prinzipiell ontologische Frage, die wir als Lebendige sind. Sie kann von der Wissenschaft als solcher nicht geleistet werden, und zwar in alle Zukunft nicht, weil die Wissenschaft auf anderen methodologischen Prämissen seit Galilei beruht und diese in Antizipation einer endgültig rationalen Naturobjektivierung progressiv fortschreibt, um daher nur jeweils ihren eigenen Hypothesen und Ergebnissen zu gehorchen. Klinik, Medizin, Psychiatrie, (Neo-)Psychoanalyse, Psychotherapie bleiben jedoch – trotz all ihrer wissenschaftlichen Hilfsmethoden seitens der Naturwissenschaften – von einem anderen Blick noch durchzogen, nämlich hinter Röntgenbild des Tumors oder Diagnose einer »Persönlichkeitsstörung« einem transzendentalen Sich zu begegnen. 56 Das heißt, sich eingetaucht zu wissen in das selbe – und doch je meinige – Leben, in dessen Freude, Angst, Verzweiflung wie Hoffnung angesichts einer Abgründigkeit lebendigen Sich-Gegeben-Seins, welches im bescheidensten Eindruck wie im faszinierenden Tun oder Gedanken einschließlich des Imaginären immer emportaucht. Da wir in solches Emportauchen dank unserer Passibilität eingetaucht sind, ist dieses Eingetaucht-Sein ins Lebens die apodiktische Weise, etwas vom Leben und so vom Miteinander zu wissen, welches dann auch jede Praxis in ihrer Gemeinschaftlichkeit begründet. Kehrt mithin der transzendental klinische Blick die Sinnproblematik (einschließlich des Unbewussten) sowohl in fundierender wie therapeutischer Hinsicht zu einem phänomenologischen Paradigmenwechsel selbst um, so geht es allerdings nicht darum, bloß anstelle von Weltintentionalität und Existenzgestaltung als »Bewusstwerdung« die ursprünglichere Lebensrealität als phänomenologischen Grund aller Dinge zu setzen, um dann doch in einer naiven Erscheinungsbeschreibung fortzufahren – auch wenn die leitenden Begriffe Psyche, Sinn, Signifikant, Existenz, Leben ausgetauscht sein sollten. Das schwierige methodologische Unterfangen ist vielmehr, die Naivität der Beschreibung des Lebens von außen – das heißt wie einen Gegen-stand – zu durchbrechen, um der praktischen TranszendentaVgl. auch M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, 205 f. u. 350 f.

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Therapie und »Klinischer Blick«

lität dieses Lebens in seiner reinen Selbstbewegtheit von innen her zu folgen. Eine solche in der Lebensbewegung als Selbstaffektion operierende Analyse kann eben nicht mehr theoretisch im Sinne einer hypothetischen Vorgabe sein, sondern sie muss gemäß dem Apriori reiner Passibilität der Lebensübereignung selbst rein praktischer Vollzug werden. Wie aber einen philosophischen (oder psycho-analytischen) Diskurs artikulieren, der als solcher notwendigerweise an die ideelle – und damit wiederum signitive – Bedeutungsebene verwiesen bleibt? Sofern im vorliegenden Kontext dieser Diskurs über das rein phänomenologische Leben in dessen immanenter Selbstzeugung ausschließlich an die therapeutische Praxis gebunden sein soll, besitzt er als seinen ständig vorgegebenen Gegenstand Lebensäußerungen, die letztlich transzendental phänomenologisch auf ihre Unmittelbarkeit reduziert werden können. Die zuvor genannte ko-pathische Gemeinschaftlichkeit bleibt dabei zugleich Ort wie praktische Referenz dieses Diskurses, der sich von nichts anderem mehr leiten lässt als von dem je Ankünftig-Werden des Lebendig-Seins als mit-erlebter Äußerung, wobei dieses Mit-Erleben beidseitig im Mit-Leben erfolgt und allein von diesem her gelesen werden muss, nämlich aus dem originären Gemeinsamsein des Lebens und nicht aus der Wahrnehmungsdistanz als Fremdaffektion heraus. Ist die Reduktion hierbei zugleich ein Außerspielsetzen aller sonstigen transzendenten Mitmeinungen, gerade auch der theoretischen oder diskursiven Vorverständnisse und Erklärungsmodelle, dann steht ein solches Sagen der Selbstobjektivierung des Lebens seinerseits ausschließlich unter dem Gesetz des Affektiven. Mit anderen Worten weicht die übliche ontologische Ordnung des deduzierenden und analogisierenden Verstehens wie Interpretierens dem rein affektiv sich offenbarenden phänomenologisch ontologischen ordo des absolut Intensiven, welches nicht mehr um die Vermittlung von Wesen/Individualität durch allgemeine Gattung in Besonderung ansucht, sondern wo die Besonderung als Ipseität selbst das Wesen (tode ti) ist, sofern man diese aristotelischen Kategorien noch beibehalten will, die maßgeblich unsere ontologisch-objektiven Diskurse bestimmen. Da Intensität als affektives Erscheinensgesetz im Zusammenhang mit der angesprochenen Reduktion hier nicht mehr auf irgendeine empirisch faktuelle Weise vermessen werden kann, bleibt nur die Möglichkeit, die pathisch-lebensphänomenologische Korrelation von Affektabilität und Intensität als reine Selbsterprobung des Lebens zu 335 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

analysieren: Sowohl beim Anderen wie bei mir erprobt sich dieses Leben, welches wir beide unveräußerbar in unserem Gemeinsamsein selbst sind, in einer innerlich phänomenologischen Gegenseitigkeit des Empfindens, welches eben die Gemeinschaftlichkeit dieses Lebens selbst ausmacht – und damit den Ort des »Diskurses« als radikal phänomenologische Analyse, welche so die psychologisch singuläre Individualität des Empfindens noch unterfangen sieht von einer älteren Affektivität, die in ihrer Je-Selbstheit zugleich Gemeinschaftlichkeit der Lebensgeburt in dieser affektiven Ipseität selbst ist. Indem diese Analyse keinem anderen »Gegenstand« als dem mehr folgt, der gerade in seiner Intensität gelebt wird, verweist, anders gesagt, diese gegenseitige Selbsterprobung in ihrer phänomenologischen Reziprozität selbst auf jene Ur-Affektivität, in der jede impressionale Erprobung eines Jetzt wurzelt. Die angemahnte Praxisverortung des psychotherapeutischen Diskurses als »Analyse« korreliert daher mit der ahorizontalen oder immanenten Eidetik solcher Affektivität als Geburts-Grund unseres Lebens, von dem her – und worin letztlich – jede Begegnung stattfindet, wobei wir Begegnung nicht als das Ziel oder die Nachträglichkeit einer chronologisch biographischen Geschichte verstehen, sondern eben als den phänomenologisch apodiktischen Anfang selbst, das heißt als Arché und Telos zugleich. Streift infolgedessen der Diskurs in seiner notwendigen Konzeptualisierung alle mundanen Horizontreferenzen ab (was in nur immer neuen Reduktionen bzw. letztlich in einer Gegen-Reduktion als »Sprung« in das Leben selbst hinein möglich ist), dann bildet die dadurch zugängliche Eidetik des rein pathischen Lebens zugleich die historiale Praxis dessen, was im psychotherapeutischen oder sonstigen Austausch geschieht, nämlich die Selbstankünftigkeit des Lebens als momentane Impression. Da jede sonst wie erklärende (metaphysische) »Hinterwelt« ausgeklammert ist, das heißt, das jeweilige Erscheinen als Phänomenalität rein sein Erscheinenkönnen in sich allein schöpft, ist in der augenblicklichen Freude, Traurigkeit, Verzweiflung, Verdrängung, Anstrengung usw. das Leben jeweils als absolute Selbstverlebendigung des Ich gegeben, bzw. präsent in einem nicht-intentionalen Sinne. Ergreift die Analyse als Diskurs nun ausschließlich diese ununterbrochene Modalisierung des sich je-ankünftig werdenden Lebens, dann hält sich eine solche Analyse (bzw. der transzendental-klinische Blick im vorliegenden idealen Fall phänomenologischer Eidetik) rein in der Praxis der Passibilität des Lebensempfangs als Lebenswerdung im Sinne absoluter Subjektivität oder 336 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Therapie und »Klinischer Blick«

Ur-Phänomenalisierung. Da jede Illusion reduktiv gebannt ist, der Diskurs als Theorie wüsste mehr vom Leben als das Leben selbst, um diesem von außen seine Motivationen und Ziele zu sagen, identifiziert sich die Analyse daher letztlich mit der Bewegung der sichgenerierenden Selbstimpressionabilität des Affektiven »im Fluss« der reinen Lebenserprobung. Dieser Fluss ist dann kein bloß sich selbst konstituierender zeitlicher Bewusstseinsstrom mehr, worin das aspekthafte Sinn- oder Sprach-Erleben intentional geschaut wird, sondern als jeweilige Intensität bildet dieser Fluss auf seinem Grund als immanentem Pathos die Historialität des impressionalen Werdens als jeweilige innersubjektive Praxis von Passibilität/Sinnlichkeit. Mit Sinnlichkeit soll hier jener alles entscheidende Augenblick gemeint sein, wo sich aus der abgründigen Passibilität als reinem Sich-im-Leben-Gegeben-Sein die Modalisierung dieser absolut passiven Affektivität zur ersten Kraftäußerung als Anstrengung vollzieht, das heißt der begehrende energetische oder dynamisierende Weckungsübergang in eine Leibimpressionalität hinein, die als solche dann empfunden wird, obwohl die Ur-Leiblichkeit diese radikale Passibilität selbst ist, denn Leiblich-Sein bedeutet vor allem Sinn nichts anderes als sich in der Passibilität des Lebens als ein solch »passives Fleisch« gegeben zu sein, oder anders gewendet: die Ur-Passibilität des Lebens auf identische Weise leiblich zu vollziehen. Da mithin diese archaische Empfindungsversinnlichung nicht im Verleihen einer (immer erst sekundären) Bedeutung erfolgt, sondern im Sinne der zuvor genannten »Selbsterprobung« ohne signitiven Welthorizont, ergreift die Analyse mit der Artikulierung des Übergangs Passivität/Sinnlichkeit als jeweilig affektiver Intensität oder Gefühl ein Phänomenalisierungsgesetz der absoluten Individuierung rein aus der Lebensgeburt heraus sowie im Augenblick derselben. Kurz gesagt ist dieses uranfängliche Empfinden vor dem Empfundenen dann mein Fleisch als »Fleisch der Welt« (gelebter Realität), ohne hierbei die Reversibilitätsstruktur bei Merleau-Ponty zu benötigen, die eine Hypostase der Welttranszendenz darstellt. Da die Impressionalität des Flusses nicht unterbrochen werden kann, sofern wir Lebendige sind und bleiben, hat dieser Fluss auch keine andere historiale Vorzeichnung mehr als das sich selbst in seiner modalisierenden Intensität generierende Leben zu jedem Augenblick, welches somit absolut phänomenologisches Leben zu jedem Augenblick bleibt. Damit entfällt der Einwand, die Analyse müsste 337 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

5. Differenz und Immanenz in der Psychotherapie

eine Orientierung als Objektivierungs-»Leitfaden« oder »Gegenständlichkeit« (Husserl) vorweg besitzen, um wissenschaftsrelevanter Diskurs sein zu können, denn wenn die Reduktion auf die reine Lebenspraxis als das sich im jeweiligen Augenblick selbst-wissende Leben gelingt, dann ist diese Lebenspraxis das Gesetz des theoretischen Diskurses selbst, dem dieser sich zu unterwerfen hat. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass die oben angesprochene Umkehr von Sinn/Leben zugunsten von Leben/Sinn tatsächlich jedes intentionale Modell als Vorgegebenheit der Beschreibung aufgegeben hat, um sich ganz dem Leben in seiner gegenseitig affektiven Ankünftigkeit als impressionaler Erprobung in der sinnlichen Modalisierungsgesetzlichkeit zu überlassen. Ist dieses Überlassen ein Glaubensakt? Liefert man sich einer unkontrollierten Irrationalität bzw. Verwechselung von Philosophie und Tiefenpsychologie aus? Abgesehen davon, dass dieses Überlassen bereits ständig stattfindet, insofern keiner von uns sich jemals selbst im Leben setzt und dennoch »bewusst« weiterlebt, stößt hier ein solches phänomenologisch reduktives Überlassen an genau den Lebensgrund, der therapeutisch stets auf dem Spiel steht, sofern es um Prozesse der »Selbstverlebendigung« im weitesten Sinne (einschließlich von Selbst- und Sinnklärung) geht. Das Rühren an die transzendentale Wesenheit des Lebens als Umdeklinierung von Ich/Mich zu Mich/Ich ist diese Grund-Berührung, die eventuell anheben kann mit dem Brechen des »Schweigens der Organe« in der Gesundheit, welche ebenso vergesslich wie das Leben selbst in seiner selbstverständlichen Ausübung ist. Im Unterschied zum freudschen oder lacanschen Modell etwa als Beispiel meta-psychologischer oder strukturalistischer Konstruktionen handelt es sich dann aber nicht mehr um ein blindes, unbewusstes oder opakes Leben, welches sich selbst in seinem Innersten nicht kennen würde, um damit nahezu der ontologischen Nacht der Sterne oder Atome zu gleichen, die sich uns in ihrer Materialität entziehen, sondern als abgründige Ich-Affektion ist dieses impressionale Wissen in seiner Ur-Passibilität des Mich die Fundierung allen Wissens – auch des rational wissenschaftlichen bzw. des (neo-)psychoanalytischen, welches keine Wahrheit außerhalb solchen Wissens ohne Widerspruch postulieren kann. Somit käme auch der Irrationalismuseinwand dort zu spät, wo es um radikal phänomenologische Aufklärung transzendentaler Selbstbesinnung geht. Und bezüglich (meta-) psychologischer oder anderer Trieb/Geist- bzw. Begehren/SprachSzenarien bleibt zu sagen, dass weder biologische noch biographische 338 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Therapie und »Klinischer Blick«

Umstände den Trieb in seiner (Sinn-)Teleologie einschließlich Verdrängung, Verschiebung oder Sublimierung erklären, sofern der Trieb in seiner transzendental bestimmten Ermöglichung (die schon nach Kierkegaard immer an das »schwindelerregende Können« der Freiheit als des »Möglichen« im Sinne der schwierigsten aller Kategorien gebunden ist) 57 aus der Lebenspassibilität selbst heraus einsichtig werden muss. Zu dieser aber führt, wie hier diskutiert wurde, wohl nur eine strenge Analyse der Modalisierungen, die ihre Praxis keinem äußeren weltlichen, geschichtlichen oder unbewussten Geschick mehr verdanken, sondern der reinen Phänomenologisierung dieser Modalisierungen selbst. An keiner Stelle der Erlebensintensität geht es somit beim »Anderen« um etwas anderes als um sein Leben, welches sich/er selbst will, wodurch phänomenologische wie tiefenpsychologische Analyse und therapeutische Praxis – wie gefordert – zusammenfallen. Der »Klinische Blick« transformiert folglich den radikalsten phänomenologischen Selbstanspruch nach dem unmittelbar affektiven Erscheinen in eine Praxis hinein, die sich nicht mehr länger anderweitig theoretisch versichern muss, sondern die Transformation dieses radikal phänomenologischen Anspruchs im Vollzug selbst bildet. Dafür sollen im Folgenden einige psychotherapeutische Konkretionen zur Diskussion gestellt werden.

Der Begriff Angst. Vorworte (Ges. Werke 11–12), Gütersloh, Mohn 1983, 60 ff. – Auf diesem Hintergrund dürfte es problematisch sein, die geschichtlich gewordenen therapeutischen Ansätze in einer »Allgemeinen Psychotherapie« auf der so genannten »bio-psycho-öko-sozialen« Basis eines wissenschaftskontrollierten Menschenbildes zusammenzuführen, um einheitliche Standards der Bewertung und Überprüfung therapeutischen Handelns zu bewirken. Denn das Argument der Pluralität heutigen Erkennens darf nicht dazu führen, »Wissenschaft« ihrerseits phänomenologisch unbefragt zu lassen, weil dadurch zu viele zeitkonforme Setzungen in die Sicht vom Menschen – und damit der Therapie – einfließen, ohne den Lebensbezug selbst radikal aufzuklären. Vgl. zur Diskussion etwa R. F. Wagner u. P. Becker (Hg.), Allgemeine Psychotherapie. Neue Ansätze zu einer Integration psychotherapeutischer Schulen, Göttingen, Hogrefe 1999.

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6. Konkretionen therapeutischer Praxis

Bisher haben wir kaum spezifische Therapieziele festgehalten, sondern nur allgemein unterstrichen, dass »Heilung« in dem Versuch bestehen sollte, so umfassend wie es geht, alle Potenzialitäten eines subjektiven Lebens wieder zu ermöglichen, so dass sich aus dieser Fluidität der inneren affektiven Modalitäten auch wieder weitestgehend eigenständige existentielle Verwirklichungen ergeben. Mit anderen Worten bedeutet dies eine ungehinderte Reziprozität zwischen Begehren und Sinn sowie Sinn und Begehren, so dass alle gegebenen Fähigkeiten eines Individuums zu einer Realisierung hinfinden, welche sowohl dem inneren Empfinden wie den äußeren Realitätsanforderungen entspricht. Diese implizieren ein »Lieben und Arbeiten« im immanenten wie transzendenten Sinne, was nach Freud als Zeichen seelischer Gesundheit angesehen werden kann. Im Folgenden sollen zur weiteren Präzisierung solcher Therapieziele Einsichten aus der Phänomenologie wie Tiefenpsychologie in Anspruch genommen werden, um die konkreten Implikationen des Zusammenhangs von Begehren/Sinn für die therapeutische Praxis und Supervision zu verdeutlichen, wobei kontroverse Gesichtspunkte aus den hauptsächlich berücksichtigten Therapieschulen wie (Neo-)Psychoanalyse, Daseins- und Existenzanalyse nicht umgangen werden sollen. Hierbei ist zunächst vorauszuschicken, was sich von einem radikal phänomenologischen Ansatz her sehr leicht erschließt, dass Begriffe wie Störung, Dysfunktionalität oder Regression, oder auch Beeinträchtigung und Unangepasstheit, wie sie oft innerhalb einer psychopathologischen Sichtweise noch verwandt werden, insofern missverständlich sind, als sie von einem »Normalverhalten« ausgehen, das in doppelter Hinsicht problematisch erscheint. Zum einen kennt ein rein affektives oder intensives Leibverständnis als immanent subjektive Modalisierungen eigentlich keine letztlich nur statistisch basierte »Normalität« und »Abnormalität« und zum anderen konfrontiert der Versuch, Individuen bestimmte Funktionen zu340 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Einheit von Begehren und Sinn

zuschreiben, die sie aufzuweisen hätten, wieder mit genau jener Problematik, einer allgemeinen »Natur« des Menschseins entsprechen zu müssen, welche als äußere Norm gerade jene Symptome oft ausgelöst hat, von denen jene Individuen sich belastet fühlen, die eine Therapie aufsuchen. Der »Klinische Blick« hat uns hingegen zuletzt gezeigt, dass »Krankheit« die Objektivierung von Leib/Seele aus der äußeren Sicht voraussetzt, während die immanente Lebensmodalisierung, welche Nietzsche auch die »Plastizität« nannte, selbst in der scheinbaren Schwachheit und Ohnmacht des Lebenswollens als »Wille zur Macht« rein affektiv nie aufgehoben ist, wirkliche Krankheit daher nur die »Krankheit des Lebens« zu sein vermag, die vermeint, das Leben verneinen zu können.

1) Einheit von Begehren und Sinn Daraus ergibt sich nicht nur eine notwendige Unterscheidung von Sinn/Norm, sondern auch von Norm/Lebensprinzip, wie man besonders in der Psychose beobachten kann. Denn während das psychotische Wahnsystem im je einzelnen Fall eine gewisse Stabilisierung in der Welt erlaubt, ohne der allgemeinen Logik als Realitätsnorm zu entsprechen, können solche Wahnbilder als eine eigenständige »Sinngebung« verstanden werden, welche vor allem eine Antwort des Psychotikers auf sein »Existenzrecht« sowie hinsichtlich seiner »Lebensaufgabe« darstellt. Denn für die Psychotiker gibt es kein konsistentes Erklärungsprinzip für ihr Dasein, sofern sie durch die Elternteile nie erfuhren, Menschen zu sein, die das Recht auf eine eigene Existenz und einen unversehrten Leib besitzen, dessen Grenzen von den Anderen zu respektieren sind. Anstelle eines solchen fundamentalen Erklärungsprinzips ein »Projekt« zu finden, das einen Halt zuweist (sei es ein internationaler Spion oder Gottes Weib zu sein, wie in Schrebers Fallanalyse bei Freud), supplementiert mithin einen fundamentalen Mangel, damit über das entwickelte Wahnsystem ein neuer Ausgangspunkt für das eigene Leben gefunden werden kann. In der Sicht Lacans gibt es in der Psychose daher kein fundamentales Phantasma, sondern nur unmittelbare »Lust« im Sinne einer imaginär gebundenen jouissance, so dass hier gerade deutlich werden kann, dass ein Begehren ohne Sinn mehr als problematisch ist und deshalb therapeutisch jeweils darauf hinzuarbeiten bleibt, beide Gegebenheiten eines subjektiven Lebens aufzufinden und zu sta341 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

6. Konkretionen therapeutischer Praxis

bilisieren, ohne hier weiter auf die Unterschiede bzw. auch Übergänge zwischen Psychose und Neurose einzugehen. Man kann prinzipiell dementsprechend schon festhalten, dass eine individuelle »Sinnfindung« nicht von allen halluzinatorischen Besetzungen zu befreien ist, insofern das Imaginäre nicht vom Begehren abtrennbar ist, sondern um Fall der Psychose wären hauptsächlich paranoide Bedeutungen aus dem Weg zu räumen, ohne jedoch neue Normregeln einzuführen oder zu verstärken, da der Psychotiker gerade dazu neigt, sich vom »bösen Anderen« verfolgt und verschlungen zu sehen – und dies bis in seine innersten Gedanken und Leibbefindlichkeiten hinein. 1 Das methodische Element der Epoché aus der Phänomenologie ist daher für Therapie und Supervision zentral, denn es muss prinzipiell möglich sein, das eigene Referenzsystem im Sinne von Realitätserklärung, Weltanschauung oder Glaubenssystem einzuklammern, um den subjektiven Belangen einer (psychotischen) »Sinnlücke« bzw. (neurotischen) »Sinnfixierung« entgegen kommen zu können, wobei natürlich auch noch andere Fälle wie die einer »existentiellen Frustration« auftreten können, deren implizites »Sinnbedürfen« nicht unmittelbar an die Symptomanzeichen von Psychose und/oder Neurose gebunden sein muss, aber sich ebenfalls in die Grundreziprozität von Begehren/Sinn einschreibt. In dieser grundsätzlichen Hinsicht sind wir durchaus der Auffassung, dass auch die (Neo-)Psychoanalyse der Forderung einer radikal phänomenologischen Epoché unterliegt, insofern Theorieelemente wie »Verdrängung« und »Unbewusstes« noch eine doxische Realitätsreferenz beinhalten, die in Bezug auf das rein selbstaffektive Begehren des Lebens nicht in jedem Fall das letzte Wort sein kann, so wie andererseits Daseins- und Existenzanalyse sich von der phänomenologischen Absolutheit des Begehrens im Sinne einer vorgängigen unsichtbaren Affektwirklichkeit her befragen lassen müssen, welche nicht vollkommen in Sinn- oder Existenzstrukturen übersetzbar ist. Betrachtet man in einer solchen Perspektive den Begriff des fundamentalen Lebensereignisses, wie er sowohl tiefenpsychologisch wie auch als relevant für eine existentielle Biographik in Anspruch genommen wird, so lässt sich hierbei eine gewisse Hypostase beobachVgl. B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik. Eine lacanianische Annäherung für klinische Berufe, Wien/Berlin, Turia & Kant 2013, 358 ff.; zur affektiven Psychose als Melancholie/Manie auch R. Tölle, Psychiatrie, Berlin/Heidelberg/ New York, Springer 6 1982, 231–258.

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Einheit von Begehren und Sinn

ten, die wir im Sinne der eingangs offen gehaltenen Therapieziele in Frage stellen möchten, um das analytische Vorgehen wachsamer gegenüber letzten theoretischen Festschreibungen in Bezug auf eine subjektive Lebensverwirklichung zu machen. Natürlich gibt es in jedem Leben Anlässe, kritische Momente in der Vergangenheit herauszufinden, um sie entweder als Wendepunkte zu erkennen, die zu einer gegenwärtigen konfliktuellen Situation geführt haben, oder aber um auf ein bestimmtes Ereignis in der Therapie immer wieder zurückzukommen, welches eine libidinöse Bedeutung im Sinne einer hysterischen Urszene oder neurotischen Verdrängung gegenüber dem eigenen (oft sexuellen) Bedürfen spielt. Diese retroaktive Weise, ein früheres Ereignis in der Beziehung zu Mutter und/oder Vater zu bestimmen, führt in der Regel zu immer wieder neuen Lesarten dieses angenommenen Ereignisses, und jede neu erlangte Bedeutung kann ohne Zweifel einen vorübergehenden Anker im Sinne einer Substitutionsmetapher darstellen, die alle jenes Objekt umkreisen, welches ursprünglich das Begehren entfachte und daraufhin eine sich wiederholende Reihe von Objekten in der Welt initiierte, die der Patient dennoch für sein tieferes Begehren als ungenügend empfindet. In der Neurose kann es, um mit Lacan zu sprechen, nicht nur die fehlende Brust der Mutter als auslösendes Objekt des Mangels sein, sondern gerade auch die Stimme und der Blick, das heißt eine spezifische Art, angesprochen oder angesehen werden zu wollen. Dadurch werden Handlungsmöglichkeiten des Subjekts überhaupt begrenzt, denn wenn man hier im psychoanalytischen Sinne von einer Kastration sprechen will, die Begehren und Sinn so einschränkend festgelegt haben, dann handelt es sich um eine Begrenzung, welche kein entfesseltes oder unkontrolliertes Begehren zuzulassen vermag. So nachvollziehbar solche analytisch betriebenen Deutungen einer Spaltung von Bewusstem und Unbewusstem innerhalb eines neurotischen Lebensereignisses oder -verlaufs auch sind, um das fundamentale Phantasma eines Mangels zu erkennen und zu benennen (da der Neurotiker in der Tat wohl kaum jemanden finden wird, der ihn so ansehen oder ansprechen wird, wie er es selbst möchte), so ist diese Analyse dennoch hinsichtlich einer realen wie symbolischen Kastration unzureichend, da letztlich nur das Leben selbst Erfüllung sein kann. Eine Mutter- oder Vatermetapher zu substituieren, die in den ersten Lebensjahren nicht gebildet wurde, um sie jetzt – zumindest vorübergehend durch Übertragung – in der Analyse zu ersetzen, wür343 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

6. Konkretionen therapeutischer Praxis

de besagen, die Familienkonstellation zusammen mit anderen gesellschaftlichen Bezügen als eine letztverbindliche Referenz zu errichten, was im Sinne radikal phänomenologischer Epoché ebenso eine theoretische oder abstrakte Verweisung bleibt wie jede andere angeblich »objektive« Realitätsauffassung. Damit soll das entscheidende Erleben der ersten Kinderjahre keineswegs geleugnet sein, was die psychologische Reifung betrifft, aber die Verkürzung von »Lebensereignissen« auf »biographisches Leben« kann nicht deutlich machen, dass wir in letzter (reduktiver) Konsequenz nicht »Kinder« unserer Eltern oder Erzeuger sind, sondern unmittelbar »Lebendige« im Leben als solchem. Diese Entschränkung unserer Lebensabkünftigkeit ist zugleich eine Befreiung vom tiefenpsychologischen Determinismus, weil es selbst in den biographischen Verdrängungen noch eine rein phänomenologische Selbstgebung des Lebens gibt, die ebenso unmittelbar wie unverdrängbar ist. Sie ist daher in der »Verdrängung« selbst noch (wieder) aufzufinden, und damit zugleich die Freilegung eines Begehrens, welches sich seinen Sinn neu geben kann. Wenn alle Bedeutungen Leiden implizieren können, wie es in den Therapien alltägliche Praxis ist, dann können nicht irgendwelche Signifikanten ausgenommen werden, die unsere Lebenswelt und damit deren intersubjektive Beziehungen regeln, was allerdings heuristisch dazu herausfordert, alle menschlichen Bedeutungskontexte als den Raum potentieller »Illusion« wahrzunehmen. 2 Denn sie verdecken die Ursprungsfrage subjektiven Lebens im absolut phänomenologischen Sinne, um auf diese Weise Symptome der Verdrängung oder symbolischen Substitution entstehen zu lassen, die ihr eigenes Ungenügen in sich tragen, weil sie der selbstaffektiven Geburt des Begehrens aus dem Leben heraus nicht entsprechen, um sich aus diesem Grund letztlich mit keinem Objekt der Welt identifizieren zu lassen. Obwohl wir den theoretischen Anspruch Lacans in Zweifel gestellt hatten, das Subjekt sei durch die sprachliche Struktur von Aussage und Ausgesagtem originär an das Verschwinden gebunden oder sogar ein »totes Subjekt«, kann dennoch in diesem Zusammenhang von Therapiezielen danach gefragt werden, ob diese neo-analytische Reduziert man alle religiösen Konnotationen, so bietet Michel Henrys radikal phänomenologische Analyse des »Zerfalls der menschlichen Welt durch die Wirkung der Worte Christi« ein eindeutiges Beispiel für eine dergestalt notwendige Untersuchung auch für die Belange therapeutischer Realitätseinklammerung; vgl. Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg/München, Alber 2010, Kap. II (S. 28–38).

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Sichtweise nicht einen wichtigen Zugang zur praktischen therapeutischen Arbeit bietet, der über bloße Verdrängungsdeutung und Sinnmodulierung hinausgeht, indem durch eine solche Präsenz des Todes zu Beginn subjektiven Werdens eine Wahrheit ans Licht tritt, der jedes Individuum ins Auge zu schauen hat und welche auf diese Weise eine notwendige radikale Epoché vorzeichnet, die dann für den Existenzvollzug fruchtbar gemacht werden kann. Wir müssen hier nicht erneut unterstreichen, dass sich Lacan gegen jede Form eines substantiellen, mimetischen oder analogischen Ursprungs wendet, um allein eine topologische Einheit der Aufbrüche von Realem, Symbolischem und Imaginärem anzuerkennen, in denen das sich jeweils auftuende Fehlen als prinzipieller Mangel jene »Fuge« oder auch »Knoten« darstellt, welche die drei genannten Ordnungen zusammenhalten. Aus seinem Postulat sprachlicher Transzendentalität ergibt sich, dass es weder eine Präsenz außerhalb der Sprache gibt noch eine Realität, welche An- und Abwesenheit der Differenz als Signifikantenkette umspannt, insofern eben keine einfache oder in-differente Gegenwart dem sprechenden Subjekt vorausliege, was dazu führt, gerade im »Unbewussten« neo-psychoanalytischer Natur einen Ausdruck für die radikale Andersheit im Verhältnis zu jeder möglichen Gegenwart zu erblicken. 3 In dieser sprachstrukturalistischen Konzeptualisierung tritt nun genau der Tod von Beginn an auf, da das sprechende Subjekt seine eigene Anwesenheit im Laut wie in der Aussage aufspaltet, indem die Differenz zum Ausgesagten ein Nichts im Sinne von Selbstabwesenheit als Andersheit impliziert. Es gibt daher für Lacan in der Psychoanalyse eine anfängliche Nähe von Mangel (Fehlen), Differenz und Tod überhaupt, so dass die Frage aufkommt, ob es letztlich nicht der Tod wäre, welcher die Rede zur Negation mache. Wenn aber der Tod der »Herr des Sprechens« wie des Seins ist, dann erteilt er im Sprechen auch seine Lehre für uns, indem der Signifikant als Bedingung der Abwesenheit die Instanz des Todes – im Leben selbst – materialisiert. Dieser Zusammenhang ist allerdings ambivalent, insofern zwar »der Buchstabe tötet«, wie wir schon früher festhielten, gleichzeitig aber auch das Symbol (Bedeutung, Sinn), welches sich dem Tod verdankt, ein Verhältnis zum letzteren vermittelt, wobei über die Rede die inter-subjektiven Leben des einen und anderen auseinander 3 Vgl. J. Lacan, Le Séminaire VI: Le désir et son interprétation, Paris, Éditions de la Martinière 2013, 101–119, als Interpretation zum »Traum vom toten Vater«.

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gehalten werden. Diese Duplizität von Symbol/Tod, indem sie Unterwerfung unter den Tod sowie Errichtung einer Beziehung zu ihm bedeutet, ist für Lacan daher nur die einzige Freiheit des Menschen, um dem Tod einen Sinn abzugewinnen. Für unsere Befragung von Begehren/Sinn innerhalb der gegebenen Perspektive von Therapiezielen ist dies in gewisser Weise relevant, denn Lacan schreibt: »Wenn wir im Subjekt an das heranreichen wollen, was […] für die Geburt von Symbolen von größter Bedeutung ist, so finden wir es im Tod, aus dem seine Existenz allen Sinn gewinnt, den sie besitzt. […] Zu sagen, dass dieser Todessinn im Sprechen einen der Sprache äußerlichen Mittelpunkt aufdeckt, ist mehr als bloß eine Metapher, und zeigt eine Struktur.« 4

Die Struktur ist für jeden von uns daher als das Fehlen einer Präsenz zu leben, deren Differenz sich durch das Sprechen der Subjekte in Bewegung hält, so dass untereinander stets die Abwesenheit als ein Element verschoben wird, welches das Fehlen ohne Ort einer Erfüllung in der Signifikantenkette lässt. Der »Sinn«, welchen die Existenz des Subjekts aus solch sprachlichem oder differentiellen Tod gewinnt, ist der Aufschub des Todes, welcher als Differenz weder eine reine Gegenwart noch ein reines Nichtsein (oder erst im physischen Tod) aufkommen lässt. Es ist dieser Aufschub, der nach Lacan das Leben konstituiert, welches dadurch als unaufhörlich weiter geschobene Leerstelle zur Wiederholung des Verfehlens im Begehren führt. Achtet man in dieser Sichtweise mehr auf die freudschen Konnotationen als auf die heideggersche Daseinsanalyse zu Tod, Nichts und Zeitlichkeit, dann bilden Todestrieb und Wiederholung jenen Mittelpunkt, der die Sprechenden als vom Tode bewegte Einzelne am Leben hält. 5 Und hier ergibt sich die unmittelbar therapeutische Relevanz, da Lacan eben nicht so sehr das Ende des endlichen Lebens im Auge hat, welches das Leben annuliert, sondern vielmehr jene Grenze des Todes, welche jedem Augenblick innewohnt. Im Erreichten des Lebens als realer Vergangenheit bzw. als Werk des Gedächtnisses oder als historische Vergangenheit im Sinne einer vermeintlichen Garantie für die Zukunft wirkt daher nicht so sehr das, was ich war, noch das, was im »Ich bin« als Gewordenes ist, sondern eher das, was ich gewesen Écrits, Paris, Seuil 1966, 320; wir folgen hier der dt. Übers. in: Schriften I, Freiburg/ Olten, Walther 1973, 167. 5 Vgl. H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott. Ein Gespräch zwischen Psychoanalyse und Glauben – Jacques Lacan und Simone Weil, Düsseldorf, Patmos 1983, 121 f. 4

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sein werde. In diesem Sinne kann mit Lacan der Tod als je augenblickliche Grenze verstanden werden, anders gesagt als das, was jeder dabei ist zu werden, nämlich eben genau das, was er gewesen sein wird. Diese Zeitlichkeit des Subjekts als vorweg genommene Vergangenheit ist mithin eine Vergangenheit, die nie gegenwärtig war, weil sie immer noch aussteht, ohne je anzukommen. Somit lässt der Tod den Menschen nie zu sich selbst kommen, was eine Vollendung des Daseins ausschließt, um ein Gewesenseinwerden zu unterstreichen, durch welches das Dasein etwas grundsätzlich Unabschließbares bleibt, welches auch nicht erinnert zu werden vermag. Der Tod ist also hier nicht so sehr die letzte irrelative Möglichkeit des Daseins wie in Heideggers freiheitlicher »Entschlossenheit« zum Tode hin, sondern eher die immer wieder neue Aufspaltung der Existenz als Verhinderung einer in sich ruhenden Selbstverwirklichung. Als Ergebnis aus einer solch neo-psychoanalytischen Sichtweise ergibt sich dann therapeutisch, dass ein festes Selbstbewusstsein von Begehren und Sinn in der Hinsicht nicht möglich ist, dass letztere nie definitiv fixiert werden könne, was allerdings in unseren Augen nicht ausschließt, dass das Begehren selbst in radikal phänomenologischer Selbstgebung einen lebendigen Ursprung besitzt, welcher in jeder affektiv-leiblichen Modalisierung gegeben bleibt, ohne in einem intentionalen Sinn als »Vorstellungsrepräsentanz« (Freud) festgehalten werden zu können. Tritt nämlich an die Stelle der hypostasierten Signifikantendifferenz jene schon erwähnte Fluidität oder »Plastizität« (Nietzsche), wie sie den selbstaffektiven Modalisierungen des Lebens innewohnt, dann braucht man subjektiv die Brüchigkeit des sprachlichen wie biographischen Sinns nicht zu fürchten, ohne mit einer prinzipiellen Verneinung bzw. Verwerfung gegenüber dem Leben existieren zu müssen, welches nicht in der Lage wäre, eine Kontinuität der Intensität oder des Pathos zu schaffen, die aller sprachlichen Bewegtheit noch voraus liegt, um ein Begehren des Begehrens zu ermöglichen, welches sich selbst Erfüllung ist, ohne sich neurotisch an ein fixiertes Objekt als Phantasma veräußern zu müssen. In diesem Sinne ist Lacans Todeskonzeption paradoxerweise eine reduktive Hinführung zur Lebenswirklichkeit als einer Gegebenheit sui generis, das heißt als einer therapeutischen Loslösung von imaginären oder symbolischen Besetzungen, ohne in den Wiederholungszwang derselben Triebziele gelangen zu müssen, weil die Loslösung selbst das »Genießen« des Begehrens als Selbstgegenwart des subjektiven Lebens nicht ausschließt. 347 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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Worauf in diesem Zusammenhang die neo-psychoanalytische Sichtweise Lacans nämlich nicht antworten kann, ist die Unerträglichkeit des reinen Schmerzes, den viele Patienten in der Tat so erleben, dass sie weiter existieren müssen, obwohl sie den Wunsch in sich verspüren, es wäre besser gewesen, nicht geboren zu sein. Diese Verquickung von Begehren und Unerträglichkeit, welche Ödipus als ein Begehren zu leben hatte, das sich als nicht wissentliche Schuld herausstellte, wird bei Lacan zur Offenbarung der verborgensten Struktur des Begehrens selbst, welche in der »Verkettung der Existenz als Bestimmung durch die Natur des Signifikanten« besteht, das heißt einer letzten »Verdrängung« nicht entkommen zu können, die dennoch zugleich das »Heil« des Subjekts enthalten soll, insofern in Bezug auf diese notwendige Signifikantenverkettung als »Verschwinden« des Subjekts dessen äußerstes »Nichtwissen« gehoben werden kann: Dass die Verdrängung keineswegs einen vollen Inhalt zurückweist, der dann zu verstehen wäre, sondern gerade die ignorierte Übereinstimmung wie Nichtübereinstimmung zwischen der Aussage und dem Ausgesagten impliziere. Mit anderen Worten bleibt für Lacan eine letzte Täuschung im Schmerz und dessen möglicher Unerträglichkeit zu durchschauen, wozu gerade viele Todesträume Gelegenheit böten, welche nichts anderes zeigten als eben jenes Existieren als »Schatten« hinter dem »Schleier« des Signifikanten, welche ja eigentlich das Subjekt nach seiner Sichtweise annullieren oder durchstreichen. Das äußerste zu durchschauende Phantasma des Unbewussten im Schmerzerleben sei »die auf sich selbst reduzierte Existenz«, wobei die Unerträglichkeit darin bestehe, sie als Zerstörung oder Kastration des Begehrens selbst leben zu müssen. Das »letzte Geheimnis« der Unwissenheit, welches dem Subjekt unter Sinn, Bedeutung oder Signifikant als ständige Selbstprojektion im symbolischen Feld der Objekte verborgen bleibe, ist mithin eine Existenz ohne Objekt als Alibi für das Begehren, sich endlos weiterzuschreiben. Wir haben dies in theoretischer Hinsicht als die »wesenhafte Metonymie« der Wunschobjekte mittels der Signifikantenkette als imaginäre Implikation des Anderen kennen gelernt, um hier vor allem für die therapeutische Praxis zu unterstreichen, dass Lacan im Festhalten am Objekt in der Unerträglichkeit des Schmerzes nicht nur einen neurotischen Existenzvollzug erkennen will, sondern eine allgemeine Struktur überhaupt, welche letztlich die Angst vor dem Verschwinden (aphanisis) des eigenen Begehrens darstelle. Dazu ist die Aufrechterhaltung von Verboten ein weiteres Alibi, insofern sich 348 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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dieses äußerste Nichtwissen um das Subjekt weiterhin als Aggression oder Erotismus auf den Anderen projizieren kann, wie etwa in den Träumen von einem toten Vater. 6 Mithin erscheint also nicht der Tod wirklich als die letzte Herausforderung an den Menschen, da er sich noch wie ein äußeres Ereignis gibt (sei es durch das Verschwinden des Subjekts im Signifikanten, sei es als physisches Sterbenmüssen), sondern es ist jene Unerträglichkeit im Schmerz, welche nicht nur im Erleiden desselben besteht, sondern das Aufhören des Begehrenkönnens selbst darstellt. Hierdurch würde das rein phänomenologische Leben allerdings auf das verzichten müssen, was sein innerstes Wesen selbst ausmacht, nämlich sich selbst ohne Unterlass in der ihm eigenen Selbstaffektion zu begehren, was nach Lacan prinzipiell unmöglich ist, so dass die Unerträglichkeit des äußersten Pathos in unseren Augen eben nicht darin besteht, die Existenz des Subjekts als ein »Besser-nicht-Geboren-Sein« zu leben, sondern Begehren und Todeswunsch in ein und derselben Affektion leben zu müssen. Da Lacan kein Begehren im rein phänomenologischen Sinne vor der Signifikantenkette mit deren Objektbesetzungen kennt, ist das äußerste Leiden der Patienten nach ihm »bloß« die Einsicht in diesen Verlust als unausweichliche Kastration – nicht aber das gleichzeitige Weiterleben von Verlust und Begehren. Andere Therapieschulen gehen mit dieser existentiellen Situation (die sich unter anderem oft im Erleben von sexueller Impotenz darstellen kann) mit Hilfe von »Einstellungsmodulierungen« um, wie sie auch gegenüber unheilbarer Krankheit und tragischer Schuld angezeigt sein können. Aber solche Sichtweisen operieren noch mit einer »Personologie«, das heißt mit einem substantiellen Menschenbild, in dem so etwas wie der prinzipielle Verlust des Begehrens als äußerste therapeutische Praxismöglichkeit eigentlich nicht vorkommt, insofern die »noetische Person« in ihrer Freiheit an Intentionalität stets für den Sinn motiviert bleibt, auch wenn diese Fähigkeit zeitweise verdeckt sein kann. 7

Vgl. J. Lacan, Le désir et son interprétation (2013), 118 f. u. 122 ff. Vgl. A. Längle, »Die Rolle des Menschenbildes in der Psychotherapie am Beispiel der Existenzanalyse«, in: H. G. Petzold (Hg.), Die Menschenbilder in der Psychotherapie. Interdisziplinäre Perspektiven und die Modelle der Therapieschulen, Wien, Krammer 2012, 369–392, hier bes. 373 ff. in Bezug auf die dimensionale Betrachtungsweise des Menschen nach Viktor E. Frankl und den entsprechenden Wertgegebenheiten hinsichtlich Kreativität und Einstellung.

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Ohne demzufolge der neo-psychoanalytischen Sichtweise Lacans von einer absoluten Kastration des Begehrens Recht geben zu können, scheint es uns dennoch angezeigt, heuristisch mit dem Verlust des Begehrenwollens und -könnens rechnen zu müssen. Es gilt in der Tat, innerhalb der therapeutischen Praxis jenen Zusammenbruch der halluzinatorischen Antizipation zu verstehen, welche nicht nur oft auf die innere Zerrissenheit des Subjekts in seiner Begehrensdialektik hinweist, sondern auch auf die Verbindung von Narzissmus oder Erotik mit der Aggressivität in Bezug auf die intersubjektive Andersheit. Denn solange Begehren und Ich imaginär miteinander verbunden sind, bleibt dieses Ich durch sein eigenes Verkennen als Nichtwissen definiert, was in Bezug auf die Identifikationen mit Anderen zu unvermeidbarer Spannung führt, da die libidinöse Besetzung des Anderen zumeist dessen Unterordnung unter das eigene Ich anstrebt, weshalb die Begehrensstruktur durch solche verfehlende Ich-Bestätigungen nie zu einem klaren Selbstbewusstsein gelangt. Dabei ist ebenfalls die illusorische Vorstellung von einem »autonomen Ich« auszuschalten, da nach Lacan nicht nur differenter Signifikant und intersubjektive Andersheit miteinander verbunden sind, sondern auch Andersheit und Unbewusstes, welches für die Subjekte das konstitutive Ausstehen der Gegenwart oder des (einen) Ursprungs als Selbst bedeutet. Im Begehren wird dieses Fehlen originärer Einheit oder Identität daher immer wieder neu erfahren, und wenn solch struktureller Mangel durch die Objektkastration nicht tatsächlich erlebt oder anerkannt wird, zeugt sich natürlich ein illusorisches Begehren als wunschvolles Erwarten betreffs jedes Anderen fort, da er imaginär die eigene fehlende Erfüllung zu bewerkstelligen hat. Beziehungen, die von Aggressivität und Narzissmus freizuhalten wären, sind daher als eine Begehrensstruktur zu verwirklichen, in der das Gesprochene sich nicht im Habenwollen erschöpft, sondern in einer Wirklichkeit oder einem Wert, der eine Gegenseitigkeit impliziert, welche mehr auf das Sprechen selbst achtet als nur auf das ausgesprochene Wort, weil dadurch leicht eine reduzierte Beziehung entsteht. In der Therapie kann man daher auf ein solch reduziertes Sprechen achten, um gleichzeitig die Unverfügbarkeit des Anderen wie des Begehrens herauszuarbeiten, welches dann durchaus dem »Unbewussten« eine gewisse Funktion für die Aufdeckung von illusionären Autonomie- wie Beziehungsvorstellungen lässt, nämlich einer Vorstellung vom Begehren folgen zu wollen, die dessen Sinn mit dem Objektbesitz verwechselt. 350 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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Da es kein Subjekt geben kann, was jenseits des Begehrens existieren würde, muss nicht nur festgehalten werden, dass alles Erlebte vom Begehren durchwirkt ist, sondern das Subjekt »mit ihm rechnet«, das heißt an der Erfüllung des Begehrens auch zweifeln kann, was nochmals den Zusammenhang von Unbewusstem und Anderem zum Mittelpunkt einer »Urverdrängung« oder eines »fundamentalen Phantasmas« macht, nämlich indem das Subjekt gerade das vermeidet, was es am meisten begehrt. Denn das Begehren zu leben, ist in der Tat nicht nur ein bloßer Lebensinstinkt oder ein élan vital im Sinne der Inkarnation des Begehrens als Naturentwicklung im Menschen, sondern die alltägliche Biographie eines jeden von uns zeigt, dass das Subjekt die meiste Zeit jenen Gelegenheiten ausweicht, die an sich eine Befriedigung seines hauptsächlichen Begehrens böten. Die Abhängigkeit von Anderen nährt daher jenes Phantasma, welches das Subjekt am meisten fürchtet, sich nämlich von der Erfüllung seines Begehrens durch solche Abhängigkeit entfernen zu müssen, was einer »Urverdrängung« insofern gleichkommt, als der Andere mich mit dem Zeichen der Nichterfüllung des jeweilig individuellen Begehrens versieht, was bei Lacan der Vernichtung des Subjekts durch den Signifikanten gleichkommt und bei Freud dem »Unbekannten« als »Nabel des Traums« entspreche. Denn wie groß auch der persönliche Mut sein mag, das eigene Begehren gegenüber anders lautenden Normen und Verboten transgressiv zu leben (was noch auszuführen bleibt), es bleibt grundsätzlich jene meist unerkannte Grundsituation gegeben, dass das Begehren an Anderen scheitern muss, solange die Erfüllung von ihnen abhängig gemacht wird, was im Grund alle Verzweigungen unseres Begehrens kennzeichnet. Ohne den Ödipuskomplex zu einer letzten Erklärung des rein phänomenologischen Begehrens zu erheben, welches sich eben nur als seine eigene immanente Lebendigkeit begehren kann, wie wir schon öfters unterstrichen, sucht der primäre Narzissmus in der Umkehrung der Liebe zur Mutter die Liebe des Mächtigsten, aber damit wird nicht nur das Vaterbild als »Über-Ich« übernommen, sondern auch die Bedrohung der Kastration, welche nunmehr von jedem Gesetz als »Phallus« ausgeht. 8 Entkleidet man diese Grundsituation allen Begehrens in seiner tiefenpsychologischen Entwicklung von der (neo-) psychoanalytischen Mythologie im Sinne einer »Ursprungserzählung«, dann bleibt dennoch hier der nicht zu leugnende therapeuti8

Vgl. J. Lacan, Le désir et son interprétation (2013), 128 ff.

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sche Sachverhalt für die analytische Praxis bestehen, dass die auferlegten Verzweigungen des Begehrens einerseits viele (unbewusste) Umwege implizieren und andererseits auch die meisten Objektbeziehungen so ergriffen werden, dass sie in einem belastenden Dunkel für die Patienten verbleiben. Was wir zuletzt für die therapeutische Praxis und Supervision mithin herausstellen wollten, ist der enge Zusammenhang von Objektbesitz und intersubjektiver Beziehung, der insofern mit einem psychologisch Unbewussten verbunden ist, als sich zumeist die Angst vor der Erfüllung des Begehrens als der maßgebliche »Konflikt« oder als eine »Sinnkrise« erweist. Diese können nur dann gelöst werden, wenn das prinzipiell abwesende Objekt für das Begehren nicht länger durch eine Verschiebung des Sinns ersetzt wird, sondern der »Sinn« selbst nicht als Antwort auf die Grundproblematik der Verdrängung des Begehrens im Sinne des lacanschen »fundamentalen Phantasmas« hinsichtlich der Erfüllung des Begehrens durch das Objekt des Anderen verstanden wird, wobei der Andere zumeist selbst dabei zum Objekt gemacht wird, wie wir schon ausführten. Um die intentionale oder existentielle Subtilität des Sinns zu durchschauen, muss in der Tat gesehen werden, dass in jedem »Sinn« in Bezug auf eine zu erfüllende Situation oder Aufgabe ein Objekt im weitesten (noematischen) Sinne zurückbehalten wird. In diesem »Zurückbehalten« vollzieht sich eine Verschiebung des Begehrens, denn auch wenn der Sinn als »neu« auftreten sollte, um eine Erfüllung des Begehrens zu ermöglichen, so hält sich das Subjekt dennoch prinzipiell vor einem verborgenen »Objekt« des Phantasmas, welches das Begehren trägt, ohne jemals zum Gegenstand des Genießens werden zu können. Daher treffen wir hier auf eine gewisse kritische Synthese unserer therapeutischen Grundlegung hinsichtlich von Begehren/Sinn, denn was die humanistischen und existentiellen Therapieschulen als Intentionalität in Anspruch nehmen, um eine ursprüngliche Sinn- oder Daseinsfähigkeit des Menschen phänomenologisch zu begründen, ist ein transzendentales Objektverhältnis, dessen problematische Verknüpfung mit dem Begehren zumeist nicht – oder nur unzureichend – gesehen wird, solange das Begehren nur auf der Ebene der Triebdynamik oder einer affektiven Energie angesiedelt wird – die »Noetik« der Person oder die Raum-Zeit-Struktur des Daseins davon aber ontologisch unberührt bliebe:

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»Zu den Existentialien des Menschen gehört: die Geistigkeit, die Freiheit und die Verantwortlichkeit des Menschen. […] Das Geistige ist nicht etwas, das den Menschen bloß kennzeichnet, nicht anders als etwa das Leibliche und das Seelische in ihm, die ja auch dem Tier eignen; sondern das Geistige ist etwas, das den Menschen auszeichnet, das nur ihm und erst ihm zukommt.« 9 Der Affekt wie der Begehren selbst treten hier nicht als Existential auf, auch wenn sie dimensionalontologisch in eine holistische Anthropologie integriert sind, was Begehren und Geistigkeit in einer gewissen Weise dann doch »antagonistisch« sein lässt.

Die Intentionalität ist jedoch radikal phänomenologisch letztlich mit dem Begehren selbst identisch, insofern jede Ausrichtung auf ein Objekt im Sinne gegen-ständlicher Konstitution von einem Begehren durchzogen ist, welches diese intentionale Bewegung überhaupt erst ermöglicht. Damit ist aber zugleich auch gesagt, dass der Sinn das Begehren selbst ganz ist, so dass der Sinn die prinzipielle Verschiebung des Begehrens als ständige Möglichkeit mit sich führt und damit die Gefahr, den momentan erreichten Sinn mit der Erfüllung des subjektiven Begehrens gleich zu setzen. Gegen die (Neo-)Psychoanalyse bleibt andererseits festzuhalten, dass die Intentionalität älter als Verdrängung und Verschiebeng im Triebbereich ist, da sie gleichursprünglich mit dem Begehren auftritt, welches seinerseits nicht mit einem anonymen oder blinden Trieb verwechselt werden darf, sofern Begehren sich nur als Weise der radikalen Subjektivität oder leiblichen Intensität manifestiert. Demzufolge bleibt in jeder verfehlten Beziehung zum Anderen als Grundkonstellation von Phantasma und Kastration dennoch eine rein phänomenologische oder pathischintentionale Struktur gegeben, welche nicht selbst diese Illusion des Imaginären als bloße Symbol- oder Objektmetonymie birgt. Der Sinn ist daher nicht nur als freiheitliche oder geistige Stellungnahme in Bezug auf eine konkret individuelle Situation zu fassen, sondern er ist in einer Freiheit zu leben, die keine narzisstische Bindung an das Objekt des Sinns im engen Sinne beinhaltet, denn sonst erweist sich solche Bindung als ein Zurückhalten des prinzipiellen imaginären Objekts definitiver Befriedigung, deren Genießen nur neue Verschiebungen verzeichnen kann. Will man dies als »Urverdrängung« in Bezug auf Sprache, Andersheit und Sinn bezeichnen, dann soll damit ausgesagt sein, dass die existentielle Sinnfrage und ihre mögliche theV. E. Frankl, »Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie«, in: V. E. Frankl u. a. (Hg.), Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, Wien, Urban & Schwarzenberg 1959, 663–736, hier 672.

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rapeutische Beantwortung nicht der Aufgabe enthebt, das Unbewusste als jenes »Anderswo« mit zu berücksichtigen, welches auch noch jeden Sinn durchzieht, weil nicht nur Begehren/Sinn nicht ein für allemal zusammenfallen können, sondern auch Subjekt/Welt als jeweiliger Seinshorizont nicht. Der Sinn darf also mit anderen Worten kein Ort sein, in dem das Ich ein Objekt oder einen Anderen sucht, in dem die Bewegung von Begehren und Sinn zum Abschluss käme – denn eine solche Auffassung und Praxis wäre nur eine der wechselnden Kastrationen des sich verschiebenden Verfehlens oder Mangels als »Frustration«, in denen sich das Subjekt gerade nicht als sein Begehren antreffen kann, welches letztlich nur in der Erprobung des Begehrens selbst als lebendige Immanenz existiert. Auch wenn sich also in der Hysterie etwa das Begehren in der Bewegung des Sprechens selbst zu konstituieren scheint, um sich im Ausgesagten nur als ein unbefriedigtes Begehren zu behaupten, so impliziert dies als Beispiel keine Ersetzung des Cogito durch das (triebhafte) Begehren, von der Freud in seinen frühen Studien zur Hysterie parallel zu seiner Kritik an Descartes ausgegangen war, da eben die Epoché, die zum eigentlichen Cogito führt, nicht nur eine Leere in allem Gesagten als Täuschung aufdeckt, sondern in der Reduktion aller täuschenden Sicherheiten eine selbstaffektive passio aufscheint, welche das eigentliche Cogito darstellt: »Aber es scheint mir doch (videre videor), als ob ich sähe, hörte, Wärme fühlte, das kann nicht falsch sein, das eigentlich ist es, was an mir Empfinden (in me sentire) genannt wird, und dies, genau so verstanden, ist nichts anderes als Bewusstsein (cogitare).« 10 Die Aufhebung alles Gedachten ist also keineswegs frei von einem Begehren, welches die eigentliche Immanenz dieses Cogito selbst ist. Dass das Begehren immer wieder sein Ziel verfehlt, solange es sich unbefragt an immer wieder neue Objekte scheinbaren Genießens bindet, ist daher durchaus eine therapeutische Wirklichkeit in den entsprechenden Gesprächen mit Patienten, aber die scheinbar mögliche Abtrennung von einer phänomenologisch-philosophischen Aufklärung, wie sie gerade auch Lacan durch seine Kritik am verkürzten Cartesianismus nach Freud vornimmt, verspielt die Chance, ein originäres Begehren auszumachen, welches weder unendliches Verfehlen seiner Erfüllung noch notwenR. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg, Meiner 1959, Meditatio II, 9 (S. 51). Über das videre videor als Aufhebung jeglichen Sichtbarkeitsraumes von Intentionalität/Sprache (Logos) vgl. schon unser Kap. I,3.2.

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dige ursprüngliche Spaltung des Subjekts ist: »Das Subjekt ist, wenn man so sagen kann, im inneren Ausschluss seinem Objekt eingeschlossen.« 11 Diese epistemologisch hypostasierte Einschluss/Ausschluss-Dialektik ist zwar dekonstruktiv in der Therapie aufzudecken, aber sie verkennt die Gleichgegebenheit von Sinn/Begehren als ein Werden der lebendigen Subjektivität selbst, welche zu keinem Augenblick ein Entweder/Oder von Subjekt/Objekt darstellt, sondern deren Meta-Genealogie, welche als dritte Stufe (nach Aufklärung von Objekt- und Triebverschiebung) auf der Ebene des Pathos selbst in Therapie und Supervision wieder zu finden bleibt, wie wir schon ausführten (Kap. I,3.1). Das Begehren bildet daher auch mehr als nur die »Spur« des Subjekts, sofern es sein eigenes Begehren im Verfehlen des Objekts als irgendein abschließbares Genießen nicht zu einem Wissen dieses Begehrens selbst werden lassen kann, da sich das Begehren eben niemals gegen-ständlich, sondern nur pathisch gibt. In diesem Pathos als Intensität affektiven Werdens oder Modalisierungen ist das Subjekt in seiner Wahrheit, die als ein objektloses »Selbstempfinden« den Boden therapeutischer Wahrheitsfindung als reine oder immanente Praxis ausmacht, ohne immer wieder an eine »Kluft des Seins« verweisen zu müssen, insofern im Sprechen je neu das Verfehlen des Sinns als gleichzeitige »Urposition des Unbewussten« aufbrechen soll. »Reines Sein« ist keineswegs das »Nie-Bei-Sich-Ankommen«, sondern die Ankünftigkeit des Seins selbst als Leben im Pathos der absolut individuierten Subjektivität, die sich vor jedem Sprechen und dessen Hiatus oder Differenz als reines Können ergreifen kann, das heißt als Können des Empfinden-Könnens schlechthin, welches die radikalisierte Subjektivität diesseits von Sinn, Signifikant oder Projektion darstellt. Dass hierbei ein Verzicht auf Identifizierungen gegeben ist, welche Begehren/Sein oder Leben/Begehren auf ein »Dies ist« festschreiben wollen, liegt auf der Hand, aber keineswegs bildet nur die »Offenheit des Gesagten« die letzte therapeutisch zugängliche Wahrheit, um auf das Verfehlen im jeweiligen Vorgestellten aufmerksam zu werden, 12 sondern das Pathos als »Sich-Selbst-Sagen-des-Lebens« ohne Begriff und Vorstellung selbst. J. Lacan, Schriften II, Freiburg/Olten, Walther 1975, 239. Dies als kritische Relativierung entsprechender Ausführungen bei H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott (1983), 110 f. und B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik (2013, 126 ff., wo »Sinn« versus »Wirkung«

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Damit rühren wir auch kritisch an einen fundamentalen oder metaphysischen Objektivismus, der sowohl Freuds Topik von Ich, Es und Über-Ich betrifft wie die Topologie von Realem, Imaginärem und Symbolischem bei Lacan bzw. die franklsche Dimensionalontologie. Alle Schichtenmodelle enthalten die Gefahr, als ob im Dimensionalen solcher Topologien letztlich doch irgendein Ort für das Subjekt reserviert wäre, um sich dort verwurzeln oder regenerieren zu können – und sei es das »Anderswo« des Begehrens als ständig aufgeschobener Ort, der dann nur eine spezifische Form der Zeitlichkeit (und damit Welt) darstellt. Gibt es kein Objekt für das Begehren, in dem es sich definitiv erfüllen kann, dann gibt es auch keinen Ort für dasselbe, ohne in die Odyssee eines ständigen Atopos verschoben werden zu müssen, da die Geburt im Leben ein »ortloser Ort« des »Bleibens« ist, das heißt eine radikal phänomenologische Weise, stets geboren zu werden. Solche »Wiedergeburt« vermag daher alle tiefenpsychologischen und neo-psychoanalytischen Praxishinweise für die Therapie und Supervision so für sich zu integrieren, indem ein ständiges »Gezeugtwerden« im Leben nicht mehr an letzte Theorievorgaben gebunden ist, 13 wie sie die Topologien als dimensionale oder dialektische Vermessungen der »Realität« noch implizieren. In der Tat »ist« Realität niemals, da sie als Leben »wird«, und zwar in der immanenten Selbstbewegung solchen Lebens, welches zugleich die Weise des Ankünftigwerdens des »Selbst« des Subjekts als Sich (oder Mich) ist. Therapie und Supervision versuchen in radikal phänomenologischer Sicht (bei Integration der tiefenpsychologischen Einsichten) diese Bewegung für den Patienten erlebbar werden zu lassen, weshalb keine Vorstellungsvorgabe von Wirklichkeit oder deren topologische Scheinquadratur das Denken von Therapie und Supervision beherrschen darf. Jeder Leser wird spätestens an dieser Stelle fragen, wie es dann um das Symptom steht, welches sich aus dem Phantasma der Objektbindung und der Frustration als Kastration ergibt, insofern die Symptomatik nicht nur ein Erbe von Verdrängung und Verschiebung sigproblematisiert werden, um allein auf »Veränderung« als solche beim Patienten zu pochen. 13 Vgl. unser Kap. II,6 zur »Wiedergeburt« in Auseinandersetzung mit dem Buddhismus in: R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätszugang, Dresden, Text & Dialog 2013, 146–155, da gerade die Leere im Buddhismus theoretische wie praktische Parallelen zur Reduktion in Phänomenologie und Therapie aufweist.

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nalisiert, sondern in der Unerträglichkeit des Schmerzes eine Existenz als Absterben des Begehrens. Auf der Ebene des Psychosomatischen und des seelischen Verhaltens ist jedes Symptom ein empirischer Ausdruck für eine strukturelle Verbindung, die zwischen dem Imaginären und Narzissmus stattgefunden hat, das heißt eine bestimmte Auseinandersetzung des menschlichen Subjekts mit dem Eros als lebendiger Leiblichkeit oder Affektivität. Denn diese Duplizität des Symptoms verweist auf die narzisstische Besetzung eines jeden möglichen Objekts als für die Erfüllung des Begehrens ergriffenes Bild, welches als Phantasma jene Furcht und Angst des Subjekts in sich birgt, den lebendigen Affekt des Begehrens als dessen möglichen Verlust leben zu müssen. Dies führt zum Transfer des bedrohten Narzissmus auf das Objekt als imaginäre Befriedigung, ohne letztlich vor der Herrschaft des Todes einhalten zu können. Die Klinische Psychoanalyse und Psychotherapie erblickt in diesem Vorgang zumeist den Mechanismus der Identifikation, welcher sich aus dem Bezug des anfänglichen Begehrens zur Mutter ergab, so dass das Symptom eine Problematik zum Anderen schlechthin in der Folge als »Ichideal« anzeigt. Aber radikal phänomenologisch ist das Begehren ursprünglich immer auch ein Selbstbezug des Subjekts zu sich als Selbstaffektion, so dass das Symptom einen tieferen Widerspruch offenbart, nämlich nicht nur die konfliktuelle Auseinandersetzung mit einer empirischen Biographie, sondern eine Verzerrung im immanenten Lebenverhältnis als solchem. Wenn der Narzissmus von uns durchaus als in der Selbstliebe des Lebens zu sich selbst begründet wurde, so schließt dies nicht aus, dass eine solche Ursprungsgegebenheit des Eros insofern fehlgeleitet werden kann, als das Subjekt sich selbst als Ursprung jener Liebe in Bezug auf Objekte, die Anderen sowie zu sich selbst sieht, anstatt eine solche subjektive (narzisstische) Liebe in der Geburt aus dem Leben heraus ermöglicht zu sehen und entsprechend zu erfahren und zu leben. Von solcher Liebe des Lebens zu sich selbst hing auch die Liebe zur Mutter als Begehren ab, so dass letztere letztlich nicht für die Erfahrung von Liebe, Eros oder Narzissmus schlechthin determinierend sein kann, weil das Verhältnis zur Mutter selbst einer transzendentalen Bedingung unterliegt, nämlich der Möglichkeit als solcher, überhaupt lieben zu können. Insofern bezieht sich das Symptom als Frustration eines anfänglichen intersubjektiven Verhältnisses nicht nur auf eine imaginäre Verschiebung innerhalb des Begehrens, sondern auf eine Wirklichkeit, welche die des Lebens selbst ist. In der 357 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

6. Konkretionen therapeutischer Praxis

therapeutischen Praxis sind die Misserfolge bekannt, das Begehren als ein verdrängtes Verlangen mit Hilfe der Reduktion imaginärer Besetzungen von Objekten auf die wirkliche Anfrage des Patienten in seinem Wunschverhalten zurückzuführen, weil eben das Leben als kein neues oder anderes Objekt aufzutreten vermag, um das Phantasma aufzulösen. Wie wir aber zuvor schon ausführten, muss der Objektverzicht als libidinöse Besetzung oder »Sinn« schlechthin erprobt werden, was einem radikal phänomenologischen Zirkel größter Komplexität für Therapie und Supervision selbst einschließt, nämlich bereits vom Leben ergriffen sein zu müssen, um es ergreifen zu können. Solange dies nicht empfunden wird, herrscht eine neurotische, hysterische oder psychotische Angst vor, »sich selbst« zu verlieren, wenn der lebendige Transfer des Narzissmus auf die Objekte, Beziehungen und Situationen zu verändern oder sogar aufzuheben ist. Unterscheidet man mit Lacan Bedürfen, Begehren und Anfrage bzw. Bitte (demande), dann kann daraus zumindest für die Praxis ersichtlich werden, dass jeder Narzissmus die »Gabe der Liebe« von der Andersheit als Objekt oder Person dergestalt fordert, dass damit mehr verlangt wird, als was Weltsein überhaupt jemals geben kann. Das Symptom zeigt demzufolge ein Begehren an, das sich nicht in sich selbst erfüllen will, sondern eine absolute Gegenwärtigkeit einfordert, welche allerdings in keinem Weltbereich gegeben sein kann, sondern nur im absolut phänomenologischen Leben, insofern letzteres kein Objekt in sich kennt und daher auch niemals imaginär besetzt werden kann. Alle Objektbezüge können daher durchaus als Metonymie oder Metaphorik bezeichnet werden, da sie sich untereinander als Signifikant/Signifikat des begehrenden Verlangens sowie in Bezug auf die imaginierten Identifikationen ersetzen. Nur das rein immanente Leben kennt hingegen keinerlei Metaphorik, da es in jedem Augenblick die eine Wirklichkeit der Geburt des Selbst und seines Eros (Narzissmus) ohne jede Vorstellung bildet. Somit lässt sich für die therapeutische Praxis noch besser verstehen, was oftmals der Schwindel oder die Angst anlässlich der Widerstände ist, wenn der einzelne Patient mit der Unerträglichkeit der bloßen Existenz als Abgrund der nicht objekthaft möglichen Beantwortung des Begehrens konfrontiert wird. Wir betrachten daher Symptom und Widerstand hier nicht als notwendige theoretische Anknüpfung an eine am triebhaften oder sprachlichen Unbewussten orientierte (Neo-)Psychoanalyse, sondern als Kernstück einer Therapeutik, die aus phänomenologischer Sicht mit dem unsichtbaren Le358 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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ben selbst konfrontiert ist. Auch wenn wir daher die Auffassung von einem der Subjektivität vorausliegenden Code der Sprache und des Anderen nicht teilen (weil dies einem bloß objektivierenden Blick auf den Menschen letztlich entspricht, der in seiner radikalen Individuierung stets der phänomenologische Anfang allen Erscheinens selbst ist, also auch des Sprechens), so bleibt für die therapeutische Praxis und Supervision trotzdem gültig, dass im Gespräch mit den Patienten die unbewusst imaginäre Strukturierung seines Objektnarzissmus oder »Lebenssinns« durchgearbeitet werden muss, wobei Symptom/Widerstand nur Indikatoren auf dem Weg einer Veränderung sind, welche einen neuen Bezug zum Sein der jeweiligen eigenen Biographie oder Existenz einschließt und in diesem Sinne auch eine neue Sprache von sich selbst und den Dingen zeitigen wird. Die durchgestrichene Erwartung an den Anderen als Kastration ist dann keineswegs eine Aufhebung des Subjekts über die Signifikantenkette, sondern die Konfrontation mit dem verschobenen Begehren als innerste Erprobung dieses Begehrens selbst, welche dann schließlich realisieren lässt, dass »die Erfüllung des Begehrens etwas ist, das nicht im Sinne einer Anfrage (demande) verlangt werden kann«. 14 Speziell die Neurose ist von der Ordnung solcher Forderung gekennzeichnet und die Widerstände gegenüber solcher Einsicht machen das innerste Wesen der Therapie aus, ohne zu analen oder oralen »Regressionsphasen« zurückkehren zu müssen, da das »Zurückhalten« und »Einverleiben« von Objekten nicht der Grundbewegung des rein phänomenologischen Lebens entspricht, welches reines Sich-Geben ist, ohne irgendetwas für sich zurückbehalten zu müssen, da es durch keinerlei Objekt oder Differenz immanent bestimmt ist, so wie Meister Eckhart von Gott (Leben) sagte, dass »er nichts gibt oder alles«. 15 Indem wir davon ausgehen, dass gerade die höchsten Wahrheiten, die sich in der menschlichen Tradition herausgebildet haben, anzuzeigen vermögen, worum es in Therapie und Supervision als Auseinandersetzung mit dem Wesen menschlichen Existenz- und Lebensvollzugs zutiefst geht (ohne hier erneut Metaphysik und Religion einführen zu müssen), kann keine Spaltung oder Differenz am Anfang des subjektiven Lebens stehen. Verwechselt man die absolute Selbstgebung des Lebens nicht mit einer objekthaften Präsenz, sei sie J. Lacan, Le désir et son interprétation (2013), 149. Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München, Diogenes 1979, 174 (Predigt 5).

14 15

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symbolisch oder imaginär, dann kann auch die Abwesenheit von »Sinn« nicht als Verfehlen des Begehrens gedeutet werden, weil es im Grunde keinen Mangel des Begehrens gibt, solange es sich immanent selbst bejaht – und das Subjekt rein in dieser Bewegung lebt. Natürlich darf dies nicht im Sinne einer Idealisierung als Projektion, Über-Ich oder Phallus (Gesetz) verstanden werden, weil sonst in der Tat die »Herrschaft des Todes« uns aus jedem Objekt gemäß Lacan anspricht, insofern die Idealisierung des Lebens nur eine weitere Variante der Signifikantenkette wäre, um eine stimmige Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem im Denken, Sprechen wie Fühlen herbeizurufen. Die Präsenz der Selbstgebung des Lebens ist keine Gegenwart, welche dem Erscheinen von Existenz und Rede zeitlich vorausliegt, sondern dieselben jeweils als konkrete Immanenz begründet und deshalb eben in jedem Augenblick oder in jeder Manifestation ergriffen, das heißt erprobt zu werden vermag. Diese Einsicht in der Therapie (wieder) erlebbar zu machen, ohne die intentionale Exzentrizität oder Aufspaltung zwischen Ich und Anderen im empirischen Sinne leugnen zu müssen, ist ein komplexerer und heilsamerer Akt, als das Subjekt nur auf das Verstehen eines Mangels aufmerksam machen zu wollen, der von keinem menschlichen Wort jemals behoben werden kann, weil keinerlei sprachliche Struktur irgendwann das im Sein real setzen könnte, worauf es als Bedeutung verweist. Insofern bleibt auch ein rein strukturalistischer oder dekonstruktiver Ansatz der Analyse in Psychotherapie wie Supervision durch die Prämisse des Defizitären begründet, wie es für weite Teile des modernen Denkens seit Freud in diesem Bereich maßgeblich ist. Aus diesem Grunde kann eine Untersuchung möglicher Therapeutik auch nicht von der immer noch vorherrschenden Meinung isoliert werden, das Leben sei in sich unbestimmt, blind, mit anderen Worten insgesamt ein fundamentales Nichtwissen, welches sich nicht selbst explizieren könnte, weil entweder das Wissen des Subjekts um sich durch das Unbewusste verdrängt sei oder im Sprechen stets aufgeschoben werde, so dass es aus seiner prinzipiellen Entfremdung und Verwerfung nicht herausfinde. Um manches anders ist hingegen die Begegnung mit den Patienten, wenn phänomenologisch begründet vorausgesetzt werden kann, dass das subjektive Leben stets als Intensität (Selbststeigerung) um sich weiß, nämlich als affektive Modalisierung, welche als »Wort des Lebens« ohne Täuschung und Lüge in seiner inneren Narrativität bezeichnet werden kann. In dieser Hinsicht gibt es kein »fundamen360 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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tales Phantasma«, welches nur die Vorstellung von einem ersten Ursprung indiziere, der gedacht oder imaginär symbolisiert wird, weshalb hier die radikale Epoché einsetzt, jegliche Vorstellung vom Leben fernzuhalten – und damit jedes mögliche Phantasma. Zur therapeutischen Operationalisierung solcher Reduktion haben wir die Berechtigung tiefenpsychologischer Erkenntnisse betreffs Verdrängung, Verschiebung, Kastration, Widerstand, Symptom etc. anerkannt, ohne den damit verbundenen Gesamterklärungsanspruch gelten zu lassen, der gerade in der (Neo-)Psychoanalyse in Bezug auf das Verhältnis von Wirklichkeit/Subjektivität immer wieder explizit oder implizit postuliert wird – und zwar auch dann, wenn hervorgehoben wird, dass ein Ernstnehmen von Unbewusstem und Begehren gerade kein abgeschlossenes autorisiertes Wissen zulässt (dem im Übrigen die Vielstimmigkeit in der nachfreudschen Entwicklung der Psychoanalyse selbst entgegenstünde). Insofern bleibt Lacans Werk hinsichtlich des Anerkennens des Begehrens des Analytikers selbst im therapeutischen Prozess zweideutig, denn »sich selbst aufstören zu lassen«, um sich nicht an die Leiden des Patienten »zu gewöhnen, 16 heißt eben noch nicht, dass von der scheinbar unvergleichbaren »Wissenschaftlichkeit« der Psychoanalyse wirklich Abschied genommen wurde. Aber eine radikale Epoché zugunsten der je einmalig individuierten Wahrheit in einem Patienten als absolut phänomenologischer Subjektivität erfordert gerade eine solche Verabschiedung der theoretischen Selbstversicherung, um sich auf einen wirklichen Transfer oder Austausch affektiver Kräfte therapeutisch einzulassen. Nur so kann die Erwartung aufgelöst werden, dass der Andere (als Therapeut) ein absolutes Wissen besitze, um Zuspruch oder Antworten auf das zu geben, was beim Patienten Anfrage und Bitte hinsichtlich eines solchen Wissens darstellt: »Er beansprucht von mir – aus der Tatsache heraus, dass er spricht; sein Anspruch ist intransitiv, er verlangt nicht nach einem Objekt.« 17 Dass eine solche »Abstinenz« gerade auch im Bereich der existentiellen Psychotherapien gilt, versteht sich von selbst, denn eine »Sinnverschreibung« anstelle einer Wahrheit, die durch die innere Erprobung derselben hindurchzugehen hat, hört

J. Lacan, Schriften II, Freiburg/Olten, Walther 1975, 47; vgl. dazu auch Le Séminaire VII: L’éthique de la psychanalyse 1959–1960, Paris, Seuil 1986 (dt. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Quadriga 1995). 17 J. Lacan, Schriften I (1973), 268 f.; zum Folgenden auch ebd., 87, 92, 109 u. 122. 16

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nicht den wirklichen Schrei des Leidens beim Patienten, auch wenn dieser auf schnelle Lösungen drängt. Also selbst wenn der Patient alle Anstrengung in der Analyse zunächst unternimmt, nochmals seine imaginäre Entfremdung aufzubauen, um sich diese »Sicherheit« durch das scheinbare Wissen eines Anderen (wie hier des Therapeuten) entreißen oder diesen sich seinem Begehren anschließen zu lassen, so ist dennoch in solchem Sprechen, welches die therapeutische Wahrheit hinauszögert, bereits immer auch schon ein anderes Sprechen am Werk, welches das affektive »Wort des Lebens« ist. Auf diese Weise verwandelt sich ein phänomenologisch-tiefenpsychologisches Hören in ein doppeltes Hören; es nimmt Kenntnis von den imaginären Besetzungen des Begehrens, ist aber zugleich auch die Anerkennung einer objektlosen Wahrheit, die sich »hinter« all diesen Objektivierungen der Vorstellungen und Sprache – und durch sie hindurch – vollzieht. Eine solche Begegnung mit der Psychose als »Wahnsinn« hat daher ihren exemplarischen Charakter, denn sie erfordert einerseits ein Eindringen in ein System notwendiger Stabilisierung, um es nicht ganz zerbrechen zu lassen (wie es gerade die Daseinsanalyse seit Binswanger versucht), und andererseits ist ein Hören gefordert, das nicht nur Vernehmen der Sache, sondern ebenfalls Verstehen der subjektiven Einmaligkeit der Affekte ist, während in der Neurose oft das lebendige Sprechen (Empfindenkönnen) wie aus der konkreten Rede verjagt ist. Soll also die Therapie keine erneute Verfehlung der Begegnung und damit des Begehrens sein, dann ist sowohl die Leere des Sinns gemeinsam auszuhalten wie die neuerliche entfremdende Substitution zu vermeiden, die an dieser Stelle lauern, ohne ein »Verschwinden des Subjekts« als rein phänomenologische Subjektivität in diesem Prozess des Durchschreitens der Loslösung des Begehrens von seinen Fixierungen unterschreiben zu müssen. Denn das »Fort/Da«-Spiel des Kindes, welches von der (Neo-)Psychoanalyse so gern angeführt wird, um das fehlende Sein des Subjekts im Sinne von Anwesenheit/ Abwesenheit des Begehrens und seiner Objekte zu begründen, ist in Bezug auf das rein subjektive Leben kein wirkliches »Fort« und »Da«, insofern die Selbstgegebenheit des Lebens weder »hier« noch »dort« sein kann, weil seine Präsenz keine raumzeitlich oder symbolisch gedachte ist, sondern eine je affektive Gegenwart diesseits aller Weltund Biographiekoordinaten. Damit entfällt auch das Einschwören auf den Tod, welches das Herzstück der lacanschen Therapie auszumachen scheint, denn wenn 362 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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das Leben im zuvor genannten Sinne niemals abwesend ist, kann auch das Begehren weder ein bloß Unmögliches mittels Aufschieben von Bedürfen und Genießen sein noch eine Subjekttrennung als Verschwinden (aphanisis). Im »Tod« von Imaginärem, Symbolischem und Andersheit als erwarteter illusionärer Erfüllung das höchste Therapieziel zu erblicken, ist nur dann gerechtfertigt, insofern sich in solchem Tod das Leben selbst neu gibt, denn es bietet sich so der entscheidende Weg an, um sich der Suche nach täuschender Anerkennung über Begehren und Sprechen zu entziehen. Deshalb ist es wichtig, dass sich der Therapeut der Bitte des Patienten nach Nähe und seinem Hunger nach einem tröstenden Geliebtwerden entzieht, ohne allerdings die tiefste Bejahung des Patienten als lebendige Subjektivität aufzukündigen. Die gerade zuvor erwähnten Ansprüche werden in der Therapie daher gehört (was zum Teil das Übertragungsphänomen 18 selbst ausmacht), aber sie werden nicht als ein Bedürfen befriedigt, um über eine suggestive Zufriedenheit des Augenblicks der Erkenntnis jenes Punktes auszuweichen, von wo aus letztlich begehrt wird. Denn in der Therapie darf um keinen Preis eine neue Abhängigkeit von Wissen oder Suggestion des Anderen eintreten, das heißt hier in der Person des Therapeuten, wenn die Wahrheit des je individuierten Begehrens nur in der Konfrontation mit diesem rein immanenten Begehren selbst bestehen kann, um hierbei alle Ängste und Kastrationen zu durchlaufen, wenn es notwendig ist – einschließlich eines »Todestriebes«, welcher selbst den Tod objekthaft oder narzisstisch als die letzte Verlagerung innerhalb der Radikalität der Lebensbewegung nimmt. Lacan hielt die Wahl des Todes für die maßgebliche Freiheit, weil für ihn das Leben nur ein Aufschub des Todes bildet, was jene grundlegende Entfremdung beinhalte, in der weder die Freiheit noch das Leben ergriffen werden könnten. Freiheit als Tod zu wählen, enthält für ihn die einzige Bedingung, nicht nur eines von beiden wählen zu müssen, wie es bei der Wahl von Freiheit/Leben der Fall sei, um dann beides aufgrund der unaufgeklärten Differenz im fundamentalen Phantasma zu verlieren: »Wählen Sie die Freiheit, ist es die Freiheit zu sterben. […] Unter den Bedingungen, unter denen ›Freiheit oder Tod‹ gesagt wird, besteht die einzige Probe auf die Freiheit, unter gewissen Bedingungen darin, den Tod zu wählen. Nur so können Sie zeigen, dass Sie die Freiheit der Wahl haben.« 19 18 19

Vgl. dazu unser folg. Kap. II,6.3. J. Lacan, Le Séminaire XI: Les quatre concepts fondamentaux fondamentaux de la

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Selbstgebung des Lebens als Einheit von Begehren/Sinn in jeglichem Tun ist in solcher Sichtweise prinzipiell ausgeschlossen, weil einerseits die Andersheit des Todes im Leben nur »Aufschub« des letzteren bedeuten kann und andererseits die Unterwerfung unter den Tod als den »absoluten Herrn« die Anerkennung jener Spaltung beinhalte, welche die Existenz des Ich in Bezug auf jegliche Andersheit durchzieht. Durch diese »Kluft« sei der Mensch ein von Anfang an »Toter«, da er mit nichts zusammenfallen kann, weshalb eben jede scheinbare »Sinnfindung« nur ein illusionäres Weiterzeugen dieser Kluft in solcher neo-psychoanalytischen Sicht darstellt. Die Wahl des Todes kann natürlich auch Selbstmord bedeuten, aber es wäre in Lacans Augen ebenfalls noch ein Akt, die Unerträglichkeit der genannten Kluft nicht länger aushalten und anerkennen zu wollen, da zudem die Verzweiflung gegenüber der eigenen Existenz, durch das Sprechen der Anderen und ihrer Erwartung bestimmt zu sein, im Suizid verneint werden soll. Was der Analytiker hinsichtlich solcher Grundkonstellation der existentiellen Wahl des Patienten erschließen will, ist daher die Übernahme der eigenen Subjektivität ohne imaginäre Illusion im Sinne von immer verfehlten Objektbezügen für das wunschgeprägte Begehren, um in der Dimension des Symbolischen die »Wahrheit« des Fehlens von Einheit und Identität erkennen und leben zu können, das heißt den Entzug eines Unaussprechlichen zu realisieren und jedes Bedürfen als eines die Leere umkreisenden Begehrens im Sinne von Spaltung oder Tod zu verkennen. Dass hierbei der Analytiker sein eigenes Begehren annimmt und reduktiv ins Spiel bringt, impliziert nicht nur eine ständige Überprüfung dieser Leerstelle auf beiden Seiten, nämlich für Patient wie Therapeut oder Supervisor, sondern durch die Todesunterworfenheit des Analytikers darf dieser letztere auch nicht wieder durch eine geglaubte »Macht des Analytikers« selbst annullieren, um nicht mehr das vom Tod bewegte Sprechen in der therapeutischen Begegnung wirklich wahrzunehmen und immer wieder erneut als Freiheit zu erringen. Doch ob die Realität des Todes als Freiheit wirklich erreicht wurde, bleibt prinzipiell nicht nur unbewiesen, sondern man muss auch gegenüber solcher neo-psychoanalytischen Praxis fragen, woher psychanalyse (1964), Paris, Seuil 1973, 131 f. (dt. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Freiburg/Olten, Walter 1978); vgl. Schriften II (1975), 320, sowie zur Diskussion H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott (1983), 306 f. u. 342 f.

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denn letztlich jene Freiheit stammt, die sich dem Tod unterwirft. Sie muss radikal phänomenologisch gesehen ein Können darstellen, und dieses Können kann nicht aus dem Tod als solchem herrühren, soll dieser nicht nur metaphorisch verstanden sein. Mithin verweist ein solches Können als Durchschreiten des Imaginären, Narzisstischen und objekthaft begrenzten Begehrens auf ein noch älteres Können innerhalb der subjektiven Möglichkeit selbst, frei sein zu können – welche ältere Möglichkeit wir schon mit Kierkegaard das rein phänomenologische Leben als »Können zu können« im Sinne jeder konkret als Freiheit verwirklichten Potenzialität nannten. In diesem Sinne dürfen wir hier schließlich nochmals die Möglichkeit der Einheit von Begehren/Sinn als Therapieziel veranschlagen, insofern nicht nur die Bildungen des Unbewussten als imaginäre Bemächtigung der Existenz kritisch darin integriert sind, sondern auch der Todeswunsch als eine zu durchschauende Form des Narzissmus noch aufzuklären ist, da er als imaginäre Bedingung eine Anziehungskraft auf das Ich ausübt. 20 Die Freiheit des Selbst wäre also älter als das Ich, welches im Suizid zum gewalttätigen Anspruch wird, die ganze Realität sein zu sollen. Aber noch älter als solches Selbst (Sich oder Ipseität) ist das es zeugende Leben, weshalb vor jedem Ich ein Mich primordial ankünftig wird, dessen Passibilität ohne jeden Aufschub ist – mithin auch ohne Freiheit, das Imaginäre bis zur Dimension des Todes hin zu totalisieren, um letzteren für sich als letzte Verwirklichungsmöglichkeit in Anspruch zu nehmen. Therapie ermöglicht im Prinzip solche Geburt aus der zentral hervorgehobenen Passibilität als Fülle der Möglichkeiten (Sinn) heraus, wenn einmal die strukturellen Verwerfungen durch das Imaginäre und Symbolische im Welthorizont der Andersheit einschließlich des Unbewussten durchschaut werden konnten. Auch wenn dies existentiell ohne Abschluss ist, kann die Arbeit zu solcher Bewegung therapeutisch auf der unerschütterlichen Grundlage einer Selbstgebung erfolgen, welche letztlich keine Alternative von Tod/Leben oder Freiheit/Tod ist – vielmehr die stets gegebene Einheit von Begehren/Leben als deren Unmittelbarkeit ohne Differenz und Anspruch auf noch zu erwartende Erfüllung anstelle bereits immer schon gewährter und empfindbarer Präsenz. Denn der berechtigte Verweis auf den Tod ersetzt nicht die ganz einmalige Po20 Für eine vertiefte Analyse der Suizidproblematik vgl. auch J. Schlimme, Verlust des Rettenden oder letzte Rettung. Untersuchungen zur suizidalen Erfahrung, Freiburg/ München, Alber 2010.

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tenzialität des je subjektiven Lebens im Sinne einer Selbstoffenbarung des Erscheinens schlechthin.

2) Verbot und Transgression Gibt es bei Freud einen gewissen Fortschritt für das Subjekt, insofern es vom Es zum Ich unter Anerkennung der Realität voranschreiten kann, so ist der Fortschrittsgedanke sowohl bei Lacan wie in einer radikalen Phänomenologie problematisch, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Ist nämlich die Lebensselbstgebung ohne Aufschub und Entzug, dann ist sie im transzendentalen Sinne endgültig, wodurch Arché und Telos zusammenfallen, was in einer entsprechenden Therapieform mit dem Selbstempfinden als absoluter Subjektivität korrespondiert. Lacan weist seinerseits die Idee zurück, durch die analytische Technik könne das Gute oder das Heil des Menschen erreicht werden, was in diesem Kapitel dann auch eine besondere Untersuchung zu Verbot/Transgression erfordern wird. Die »Realisierung des Seins« haben wir bei Lacan als Anerkennung der »Herrschaft des Todes« kennen gelernt, anstatt einem stets verschobenen imaginären Herrn (Signifikant, Symbol, Andersheit) als Gebieter über unser Begehren zu dienen. Das Therapieziel bei Lacan ist daher weder ein Wissen noch ein Zustand, sondern ein Zugang zu jener »Realisierung des Seins« eben unter dem Primat des Todes als ein von der bisherigen Geschichte des Einzelnen geprägter Weg, indem jene Teile dieser Geschichte dem Subjekt wieder verfügbar gemacht werden sollen, die als unvereinbar mit dem Idealbild des Ich verdrängt wurden, um auf diese Weise die bisherigen rätselhaften Seiten des Begehrens zu integrieren. 21 Dieses Wissen bleibt jedoch eher ein Nichtwissen, wie wir sahen, weil ein Fehlen/Verschwinden anzuerkennen sei, welches zugleich die bleibende »Kluft« zwischen Sein/ Sinn bildet, sofern man sie als feste Identität denken sollte. Insofern ergeben sich hier wiederum Übereinstimmungen wie Unterschiede zu Daseins- und Existenzanalyse, da durch letztere kein Sinnabschluss der Existenz gesucht wird, sondern nur ein authentisches Verhalten in allen Umweltbezügen bzw. ein je neuer situativer Sinn, welcher ständiger Veränderung unterliegt. 22 21 22

Vgl. Schriften I (1973), 347 ff. Vgl. zur weiteren Diskussion P. Le Vaou, Thérapie et Logos: Lectures et question-

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Dies impliziert auch schon einen ersten Hinweis auf Normen und Gebote, denn die symbolischen Legitimierungen, die mir etwa als Therapeut oder Analytiker übertragen wurden, bleiben dem Nachweis einer seinsmäßigen Befähigung oder eines genügenden Wissens vollständig entzogen, so dass in der Tat jeder »Sinn« als Äquivalenz zu einer eingehaltenen Regel oder einer Zusprechung von Anderen obsolet wird und die Transgression angezeigt sein kann, auch wenn sie ihre eigene symbolische Dialektik birgt, wie wir noch sehen werden. Allerdings gibt es bei Lacan dennoch so etwas wie die »Macht« der Psychoanalyse, insofern in letzterer eine »grenzenlose Liebe« erreicht werden soll, die wir schon früher als »Ethik der Psychoanalyse« bei ihm kennen lernten. Denn wenn das ursprüngliche Verschwinden (Tod) des Subjekts vermittels jenes Objekts durch den Analytiker selbst wiederholt wurde, dessen Finden den ursprünglichen Verlust (jedes Phantasmas) schlechhtin bedeutet, dann ergäbe sich grenzenlose Liebe in dem Maße, wie sie »auf ihr Objekt Verzicht tut«; aber dies sei kein Fortschritt im moralischen oder sonstigen Sinne, sondern Heraustreten aus dem Ichideal als imaginärer Faszination sowie aus der imaginären Bindung an den Anderen als Objekt. Bei Alfred Adler entspräche dies dem Verzicht auf die Fiktion eines absicherbaren Persönlichkeitsbildes, bei Frankl einer sapientia cordis diesseits aller Modellvorgaben für den Existenzvollzug in jeder Situation und Beziehung. Allerdings bleibt in Bezug auf das neo-psychoanalytische Heraustreten aus den Grenzen jeglicher Selbstfaszination zu fragen, ob damit bereits schon jene Passibilität erreicht wird, die auch noch den letzten Versuch einer Selbstbestimmung über den »Verzicht« aufhebt, um ein Gegebensein des Lebens ohne weitere Bedeutungsverleihung unsererseits anzuerkennen. Lacan nähert sich dieser Wirklichkeit höchstens, indem er Freuds technischen Begriff des »Durcharbeitens« nicht nur als die Frage nach dem verbleibenden »opaken Verhältnis zum Ursprung, zum Trieb« fasst, durch den die »analytische Erfahrung hindurchgegangen ist«, sondern auch als die bleibende Frage nach »Gerechtigkeit und Mut« aufwirft, wenn alle »Wiederholungen« und »aufgeschobenen, ängstigenden Begehren« benannt und integriert wurden. Diese Frage sei vielleicht nicht zu lösen, da »der zeitgenössische Mensch […] es vorzieht, diese Suche in Begriffe des Verhaltens, der Anpassung, der Gruppenmoral oder nements philosophiques autour de la logothérapie de Viktor Frankl, Paris, L’Harmattan 2006, 353–358: »Frankl avec Lacan?«

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anderer Albernheiten aufzulösen. Daher die Schwierigkeit des Problems, das die menschliche Bildung des Analytikers stellt.« 23 Damit erweist sich die Untersuchung von Verbot/Transgression bereits als jene Frage, welche nicht nur Analytiker, Therapeut wie Supervisor aus allen scheinbaren Sicherheiten von Theorie- und Gruppennormierungen herausführt, sondern auch die Frage nach der Epoché im radikal phänomenologischen wie tiefenpsychologischen Sinne wird damit erneut virulent. Wir können im Augenblick festhalten, dass Therapie einen Grenzgang mit einem je unverwechselbaren Individuum bedeutet, und was diesseits wie jenseits einer solchen Grenze liegt, ist sicherlich die Frage der Transgression par excellence, wie sie sich nur reduktiv erschließen kann, wenn die Grenze selbst als Struktur eines Dimensionalen (Weltseins) noch aufzuheben ist, um der »Wahrheit« radikaler Subjektivität Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Denn es ist nicht zu übersehen, dass die lacansche Bestimmung des Subjekts als Verschwinden, Trennung und Entfremdung eigentlich nur eine formale Struktur beinhaltet, indem der über den Signifikanten hervorgerufene Teilsinn des Subjekts als Übernahme eines sich selbst zugefügten Verlustes als Mangel fortgesetzt wird. Aber wie wir wiederholt unterstrichen, lässt eine originäre oder transzendentale Geburt im Leben ein solches Fehlen-anSein als abstrakte Strukturbestimmung des Menschen letztlich nicht zu, insofern die affektive Leiblichkeit als pathische Intensität eine impressionale Fülle enthält, die auch in einer existentiellen Entfremdung nicht verloren gehen kann, da sich die radikal individuierte Subjektivität niemals von sich selbst in diesem ihrem rein phänomenologischen Wesen »entfremden« kann. Beruft Lacan sich auf Marx, um das »Geheimnis« des Übergangs eines Gebrauchswertes in einen (marktgebundenen) Tauschwert als Beispiel für den entfremdenden Verlust aufzugreifen, der beim Patienten erkläre, was in all unseren Austauschformen mittels Signifikanten stattfinde, so hat er damit übersehen, dass bereits in jedem Bedürfen eine Selbstaffektion 24 gegeben ist, die gerade nicht aufgehoben werden kann. »Seinsmangel« und »Seinsverfehlen« können damit im anaLe Séminaire XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse (1973), 288 u. 290. 24 Vgl. J. Lacan, Le Séminaire VI: Le désir et son interprétation (2014), 134 f.; zur Kritik an der Einseitigkeit eines solchen Entfremdungsbegriffs: R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München, Alber 2008, 280–312. 23

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Verbot und Transgression

lytisch-therapeutischen Gespräch zwar thematisiert werden (und machen zunächst einen großen Teil dieses Prozesses aus, wozu gerade existenz- wie daseinsanalytische Methoden integrativ verwandt werden können), aber das eigentliche Therapieziel dürfte über solche Dekonstruktion von belastenden imaginären Besetzungen und Selbstverboten hinaus darin bestehen, jene Fülle der je eigenen wie einmaligen Subjektwirklichkeit als ständig gegebener Quelle oder Gabe des Lebens zu erproben. Letztere ist nämlich von nichts mehr abhängig, gerade auch nicht mehr von einem durch sein Sprechen geteilten und entfremdeten Subjekt, bzw. von seinen verfehlten Beziehungen zu Anderen, da die reine Subjektivität in sich zunächst die Erfahrung imaginärer Andersheit oder Spiegelung nicht macht, sondern der Einheit und Identität mit dem rein immanenten Lebensursprung verbunden ist, welcher ebenfalls jeder normbezogenen Transgression vorausliegt. Denn der »Andere« vermag gerade in einem gleichursprünglichen Ethos derselben transzendentalen Lebendigkeit oder Intensität niemals zum Objekt meiner Handlung gemacht zu werden, wie es die unterschiedlichsten Formen der Perversion implizieren, da sie alle ein ungeklärtes Verhältnis von Macht/ Ohnmacht beinhalten, wie wir schon an Masochismus und Sadismus zeigen konnten. 25 Aber vor allem ist sich das rein phänomenologische »Subjekt« zunächst nicht selbst ein solches Objekt, zu dem die lacansche Sichtweise als Entfremdungsstruktur hin tendiert, um auf diese Weise »Gegenstand« der Psychoanalyse in einer neuen »Wissenschaftlichkeit« zu sein, was sicher über Freuds anfänglichen Determinismus im Sinne eines Biologismus von Trieb und Energieverdrängung hinausgeht, aber dennoch ebenfalls ein Determinismus bleibt, insofern das strukturalistische Element eine hypostasierte Verfehlungs- oder Entfremdungsnotwendigkeit impliziert, welche kein Außerhalb von sich als Signifikantenkette kennt, das heißt eine noch mögliche andere Bestimmung des Subjekts, ohne zur Metaphysik zurückkehren zu müssen. Ob Lacan – wie Lévi-Strauss, Foucault, Althusser etc. zur selben Zeit in Frankreich – daher eines Antihumanismus zu bezichtigen ist, soll hier nicht weiter erörtert werden, 26 da für den therapeutischen Rahmen zumindest festgehalten werden kann, dass diese Form der Neo-Psychoanalyse ein gewisses Potenzial Vgl. unser vorheriges Kap. I,3.1 zu »Trieb und Erotik«. Vgl. hierüber J.-M. Palmier, Lacan. Le Symbolique et l’Imaginaire, Paris, Delarge 5 1972, 129–143, bes. im Vergleich zu Lévi-Strauss’ »strukturaler Anthropologie«. 25 26

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der Freiheit kennt, die das Ich sowie die Beziehung zu Anderen und Tod aus einer illusionären Perspektive herauslösen kann, um den Widerstand gegenüber dem »Realen« zugunsten weniger neurotisch oder narzisstisch-hysterisch geprägten Bewegungen aufzulockern und vielleicht zu einer universalen Form der »Liebe« hinzufinden, welche dem nicht-objekthaft besetzten Eros im Begehren entspricht. Dieses sich von seinem Ich-Spiegel als Identifikationen mit Anderen lösende Selbst benötigt dann im Idealfall keinen Signifikanten als äußere Regel mehr, da Erwartung und Anfrage nicht länger als äußere Bestätigung gesucht werden, um seine Illusion einer imaginären Bedeutung aufrecht zu erhalten, die meist mit einer unerkannten »Knechtschaft« im Sinne Hegels und Lacans verbunden bliebt, nämlich sein Leben schonen zu wollen, um daraus zeitweiligen Genuss und begrenzte Befriedigung zu erzielen, anstatt dem Begehren des Lebens selbst stattzugeben, in allem sein je eigenes Begehren zu sein. Aber wenn das »Reale« das ist, was die Realität gründet, ohne in ihr anwesend zu sein, weil es in der Sprache aufgrund der Differenz stumm bleibt, dann »fehlt« es nicht nur, sondern wir wären für immer davon getrennt. Die Verwechselung des Sichtbaren mit dem Realen (Spiegelsituation) ist für Lacan das Imaginäre schlechthin, aber das Unsichtbare ist rein phänomenologisch nicht nur der Gegensatz von sichtbarer und imaginärer Realität, sondern deren prinzipielle Erscheineswirklichkeit, von der wir qua Subjektivität im Sinne des Selbsterscheinens des Lebens nicht getrennt sein können – da wir kein ontologisches Nichts im Sinne eines Nicht-Erscheinens bilden. Das »Therapieziel« kann phänomenologisch, existentiell wie tiefenpsychologisch aus diesen Gründen nicht nur darin bestehen, das ontisch oder empirisch bzw. anthropologisch Begrenzte aller Realitätserfahrung zu akzeptieren und eventuell zu variieren, sondern die fundamental notwendige Umkehrung des Ich zum Mich soweit zu treiben, dass darin die Anwesenheit als Selbstgebung der Wirklichkeit (Leben) erprobt zu werden vermag, da sie uns immer schon vorausliegt, weshalb wir uns auch nicht den Abspaltungen und Verschiebungen des Ich, der Signifikanten und Gebote letztlich anzuvertrauen haben. Indem Lacan die Differenz als Bedingung des Menschen besonders im Sinne des Verschiebens einer ständigen Leerstelle versteht, ohne jemals die Einheit des Realen zu erreichen, bleibt er in der Tat dem philosophischen Monismus der Transzendenz verhaftet, deren Stummheit oder Mangel nicht zu einer Immanenz der lebendigen Präsenz führen kann, die ihr eigenes affektiv-impres370 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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sionales inneres »Wort« kennt, ohne in dieser selbstaffektiven Sphäre die Illusionen hinsichtlich Begehren, Gesetz und Freiheit als verfehlten Objektivierungen wiederholen zu müssen, sofern durch die radikale Passibilität die Grenze jeglicher Autonomieillusion schon im Tiefsten der Subjektivität erprobt wird. Das unzugängliche »Unbewusste« als die Ursprungserfahrung der (Neo-)Psychoanalyse ist daher nicht das Letzte der dem Menschen gewährten Wirklichkeit, denn sofern es nur ein »Fehlen« nach Lacan signalisiert (Träume, Fehlleistungen etc.), gibt es ein noch älteres »Unbewusstes« des Lebens, welches weder Fehlen noch Besitz ist, sondern ständige Geburt, welche nicht erst »Selbstbewusstsein« angesichts der »tödlichen Wahrheit« in jedem »Fehlen« werden kann (zumindest dem Anspruch der Psychoanalyse nach), sondern bereits ein cogitare als Pathos ist. Dieses benötigt schon nach Descartes kein vorstelliges Bewusstsein mehr, und damit auch nicht mehr die Hoffnung oder Erwartung, über die mögliche Erfüllung einer Norm oder eines Gebotes zu dem hinzufinden, was wir noch nicht wären. Jede Verwundung des Selbstbewusstseins, dessen so genannte »Fehlleistungen« etc., müssen nämlich zunächst erprobt werden, um als solche gelebt oder erinnert werden zu können, und selbst der Tod als Sterben ist ein impressionaler Prozess, der die Frage offen lässt, wie wir ihn rein phänomenologisch überhaupt (durch-)leben können, ohne nicht die Kraft des Lebens dafür bis in unser letztes Empfinden hinein noch in Anspruch nehmen zu müssen. Und dies gilt für alle Erscheinensphänomene der Existenz und Beziehung, weshalb defizitäre oder differe(ä)ntielle Ansätze uns diesen Sachverhalt letztlich nicht beantworten können – auch nicht als bloße »Spur«, aber in Therapie und Supervision als alltägliche Frage immer wieder ansteht. Natürlich muss tiefenpsychologisch auf die Brüchigkeit von vermeintlicher Ganzheit, unberechtigt selbstverständlichen Erwartungen und tröstenden Erinnerungen hingewiesen werden, aber die unbewussten Randerfahrungen als jeweilige »Grenzerfahrung« des Menschen seit Freud, welcher die angebliche Unversehrtheit von Wollen, Denken und Fühlen in Frage stellen wollte (worin er im Übrigen der Romantik und Schopenhauer folgte), hypostasieren nur diese Grenze, anstatt ihre bereits stattgefundene »Überschreitung« (Trans-gression) mit zu sehen – das heißt eine unverbrüchliche Gebung des Lebens als dessen »Selbstgabe«. Daher hat jede Therapie, Analyse und Supervision über die als beeinträchtigt empfundenen Funktionen des Lebens hinaus (Depression, Impotenz, Misserfolg etc.) zum rein phäno371 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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menologischen Wesen dieses Lebens selbst zurückzuführen, da es sich von der kritischen bzw. dekonstruktivistischen Betrachtung solcher Funktionsgrenzen nicht beschränken lässt. Und vor allen verfehlten Beziehungen, vor denen uns die gesamte moralische, religiöse oder staatliche Gebots- und Vorschriftssymbolik an sich bewahren soll, gibt es eine viel ältere Proto-Relation, welche jede Bezüglichkeit schlechthin stiftet und von daher nicht nur der innerste Motor aller wohl verstandenen Transgression ist, nämlich Gebot und Schuld nicht als Grenze von Leben und Liebe zu sehen, sondern alle Begrenzungen auf letztere hin zu überschreiten. Es geht uns hier nicht darum, die Faszination oder Unterwerfung unter ein absolut Anderes (Gott) wieder einzuführen, da die religiöse Frage in der Therapie nur den je Einzelnen betrifft. 27 Aber es stellt sich dennoch die Frage, ob die unendliche Mühe in der (Neo-)Psychoanalyse, um die Selbstillusionen bis hin zu der zuvor genannten Grenze der Liebe und des Lebens aufzudecken, nicht etwas mehr Leichtigkeit als unmittelbare Gewissheit gewönne, falls entgegen den epistemologischen und methodischen Prämissen von Differenz und Transzendenz bzw. Signifikant und Diskurs in eine rein phänomenologische Immanenz eingestimmt werden könnte, aus der kein Lebendiger jemals herausgefallen ist – auch kein Neurotiker, Psychotiker, Hysteriker oder Perverser, um die alten psychiatrischen Klassifizierungen bei allen Fraglichkeiten und Überschneidungen weiter zu benutzen. 28 Blickt man daher über die von Lacan angestrebte Selbstbegrenzung der Psychoanalyse hinaus, so kann man sich fragen, ob seine Formulierung, »die Wahrheit spricht«, nicht doch mehr intendiert als nur das Fehlen der Einheit und Ganzheit in Form ständiger Verschiebung des Begehrens? Sollte damit die zuvor genannte Grenzerfahrung nämlich doch einen universalen Erkenntnisanspruch hinsichtlich des an sich unsichtbaren und nicht zu benennenden Realen implizieren, dann führte Lacan zumindest über das neo-psychoanalytisch selbst umgrenzte Erfahrungsfeld hinaus, um anzudeuten, dass Grenze nicht identisch mit (wissenschaftlicher oder objektiver) Gewissheit sein muss, in deren Raum sich Freud wohl nur bewegen wollte. Gibt es nämlich irgendwie eine Verbindung zwischen Realem 27 Vgl. V. E. Frankl, Der unbewusste Gott. Psychotherapie und Religion, München, DTV 8 1992. 28 Vgl. als klassisches deskriptives Werk im Sinne einer phänomenologischen Psychiatrie K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie (1913), Berlin, Springer 9 1973.

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und Wahrheit, welche sich negativ im Unbewussten oder Fehlen des Subjekts nach Lacan bekundet, dann wird angesichts einer dergestalt zumindest indirekt postulierten Universalität die Hypostasierung der Sprache tendenziell hinfällig, insofern sich eine Spannung ergibt, welche vielleicht psychoanalytisch nicht aufgehoben, aber zumindest reflektiert werden muss – und sei es nur im Interesse einer Therapie für Menschen, welche selbst in dieser Spannung stehen und darunter leiden. Mit anderen Worten erfordert dies ein Heraustreten aus dem eigenen neo-psychoanalytischen Bezugssystem, um der Anforderung ständiger Aufhebungen besetzten und aufgeschobenen Begehrens gerecht zu werden, und zwar über jene Grenze hinaus, welche nur eine Grenze transzendenten Denkens und entsprechender analytischer Praxis darstellt, nicht aber des rein phänomenologischen Lebens als solchem. Die Transgression ist daher in den therapeutischen Prozess und dessen Meta-Reflexion selbst eingeschrieben, weshalb unsere Untersuchung für eine Pluralität und Integration von Phänomenologie, Tiefenpsychologie und Existenz- bzw. Daseinsanalyse plädiert. 29 Dabei dürfen selbstverständlich die Unterschiede wie Überschneidungen nicht verwischt werden, aber der Patient ist nicht mit irgendeinem System konfrontiert, sondern mit einer je subjektiven Erfahrung seines Begehrens, welches notwendigerweise allen therapeutischen Theoretisierungen vorausliegt. Wenn der (Neo-)Analytiker daher vornehmlich in der Rede des Patienten Aufmerksamkeit für die Äußerungen des Fehlens als Infragestellung des Ich aufbringen soll, um damit das gewohnte Sprechen zu unterbrechen, welches auf Befriedigung durch den (wissenden) Anderen aus ist, 30 dann ist eine weit größere Aufmerksamkeit für das nicht verlustig gegangene rein subjektive Leben in solchem Fehlen selbst noch offen zu halten, was wir schon als das »doppelte Hören« qualifizierten. Es ist das eine, analytisch-therapeutisch ein Sprechen zu begleiten, welches auf der Ohne noch weitere Möglichkeiten hierbei auszuschließen; vgl. auch H. G. Petzold für einen sehr breiten Ansatz: »Transversale Identität und Identitätsarbeit – Die Integrative Identitätstheorie als Grundlage für eine entwicklungspsychologisch und sozialisationstheoretisch begründete Persönlichkeitstheorie und Psychotherapie – Perspektiven »klinischer Sozialpsychologie«, in: H. G. Petzold (Hg.), Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden VS Springer 2012, 407–603. 30 Vgl. J. Lacan, Schriften II (1975), 80; Écrits (1966), 359; B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik (2013), Kap. 1: »Zuhören und Hören« (S. 17–46). 29

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Suche nach einer keiner äußeren Anerkennung mehr bedürftigen eigenen Wahrheit ist (um in der wechselseitigen therapeutischen Verwiesenheit keine Lossprechung vom Fehlen des Begehrens zu intendieren, was eine neue Verfehlung wäre), und es ist das andere, dieses Begehren als in sich selbstaffektiv dennoch schon erfüllt zu sehen. Denn nur dergestalt kann letztlich die Illusion eines befriedigenden Objekts, dem der Therapeut vielleicht durch seine Fragen und Bemerkungen unabsichtlich weiterhin Nahrung verleiht, aufgehoben werden, da eine von »Haben« und »Wissen« abgetrennte immanente Gewissheit nicht »nichts« ist, sondern eben jene Wirklichkeit (das »Reale«), um die öfters schon erwähnte Reduktion und Transgression zwischen Ich/Mich überhaupt durchführen zu können. In diesem Sinne umspielt der Trieb (Eros, Narzissmus, Verschiebung und Verdrängung) nicht nur trügerisch sein nie ihm genügendes Objekt, welches als Anfrage im Unbewussten daher notwendigerweise wiederkehrt, sondern er birgt auch die Ursprünglichkeit der Kraft des Lebens, um diesen Prozess durchzustehen. Lacan scheint diese rein subjektive Kraft zu intendieren, die weder biologistisch noch vitalistisch oder genetischer »Instinkt« ist, sondern eine rein phänomenologische Gegebenheit des Lebens als dessen immanente Selbstbewegtheit, wenn er fordert, der Analytiker dürfe für sich selbst niemals die »Durcharbeitung« des Begehrens für abgeschlossen halten, worauf wir als Zirkel bereits hinwiesen – denn woher kommt das Vermögen dazu, wenn es sich selbst als solches noch nicht erkannt hat? Man kann Lacans Infragestellung des Gesprochenen auf ein auf Bedürfnisse reduziertes Sprechen sowie der Anrufung an den Analytiker als Hinweise auf ein unsichtbares und unbenennbares radikal phänomenologisches Leben verstehen, an dessen Stelle keine therapeutischen Angebote einer imaginären Substitution als fälschlich verstandener »Sinn« zu treten haben. Deshalb bleibt zu vermeiden, dass durch die zeitliche oder sonstige konstitutive Form des Settings die geglaubte Besitzergreifung irgendeiner fertigen Wahrheit stünde, um den Patienten vielmehr in das Weiterarbeiten seines Unbewussten zu entlassen, wozu »Interpunktieren« wie »Skandieren« des therapeutischen Prozesses mit variabler Zeitdauer dienen sollen. 31 Die Auflösung der Täuschungen und Illusionen bezieht sich daher sowohl 31 Vgl. nochmals B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik (2013), 63 ff. u. 79 ff.

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auf den Patienten wie den Therapeuten/Analytiker, der sich von allen Prestigebildern seines Ich und seiner Macht zu lösen hat, um auch das ihn bewegende ursprüngliche »Fehlen« und dessen »Durcharbeiten« nicht für ein inzwischen etabliertes »Wissen« seinerseits auszugeben. Um auf dem Weg der Entkleidung entsprechender Vorstellungen nun auch dem Patienten die Möglichkeit der Anerkennung des »Realen« im Fehlen des mitgeteilten Begehrens zu bieten, muss es demzufolge eine Verbindung geben, welche weder die Autorität der Theorie noch der Person sein kann, sondern nur ein schweigender Grund, der den therapeutischen Prozess als gemeinschaftliches oder proto-relationales Leben trägt. Diese »Beziehung« ist also nicht nur die Bedingung des (neo-)psychoanalytischen Zugangs zum »Realen« als offene Möglichkeit der Therapie, sondern eine solche Beziehung muss bereits immanent in einer vorgegebenen Inter-Subjektivität existieren, damit der Zugang zum Realen sich tiefer als bereits immer schon bestehender Zugang »zu leben« erweist. Damit ist eine Trans-gression prinzipieller Art angezeigt, indem sich weder die therapeutische Beziehung noch die Grenzerfahrung des »Fehlens« oder »Todes« darin als Begrenzung für dieses Leben selbst erweisen, da sonst trotz aller analytischen Technik eine imaginäre Barriere beibehalten würde, die dem Leben in seiner Selbstmitteilung nicht entspricht, weil die immanente Sphäre des Lebens kein ek-statisch Dimensionales mit irgendwelchen Horizont- oder Intentionalgrenzen bildet. Kurz gesagt kann das »Reale« als lebendige Wirklichkeit keiner infinitesimalen Annäherung unterliegen, so wie das Leben auch keinem Fortschritt oder Rückschritt unterliegt – und nur in dieser unmittelbar selbstaffektiven Gewissheit sich zu manifestieren vermag. Kommen nun Patient und Analytiker/Therapeut zum selben Ziel oder bleibt nicht eine offene Frage, wenn das Subjekt im lacanschen Sinne zur Anerkennung seines Fehlens (Todes) gelangt ist? Denn die Patienten können nicht alle selber zu Analytikern werden, um in der Anerkennung des eigenen Fehlens in ständiger »Durcharbeitung« positiv zu leben, das heißt in Freiheit jene »Gabe« zu leben, welche das Leben in einem naiven oder radikal phänomenologischen Sinne ist, ohne eine erneut restaurierte imaginäre Funktion zu übernehmen. Führt die Tiefenpsychologie von Freud bis Lacan und darüber hinaus an diese von allen Täuschungen befreite »Leere« des Lebens, so bleibt diese dann gerade als die »Fülle« des Begehrens weiterzuleben, die wir dessen reine Immanenz im Sinne pathischer Leiblichkeit oder Narrativität nannten, denn sonst verlegt die analytisch375 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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therapeutische Technik nur das aufgefundene »Fehlen« des Subjekts in eine unendliche Selbstregression weiteren »Durcharbeitens« hinein, ohne den Sprung in die aufgezeigte positive Freiheit zu tun. Das heißt, die Trans-gression schlechthin zu vollziehen, nämlich den Lebensvollzug von keiner Bedingung irgendeiner Vorstellung mehr abhängig zu machen – und sei es der (neo-)psychoanalytische Verdacht sich selbst gegenüber, die letzte Täuschung noch nicht ausgeräumt zu haben. In dieser Hinsicht können wir also schon vorwegnehmen, dass nicht nur die Transgression von Normen und Geboten eine subjektive oder »innere Notwendigkeit« darstellen kann (wie Kandinsky dies für seine abstrakte Malerei in Anspruch nahm), sondern die äußerste Transgression betrifft das Hinter-Sich-Lassen von jeglichem Bild, welches vorgibt, das Leben zu sein oder vermitteln zu können. Denn der »Tod« im Sinne Lacans 32 dürfte nicht nur eine Unterwerfung unter den »Nicht-Sinn« darstellen, sondern das Abrücken von jeder Bedeutungsverleihung, sei es Sinn oder Nicht-Sinn. Vielleicht vermag die Therapie/Analyse nur bis an diesen Punkt zu gehen, dass über die Biographie als enttäuschten »Sinnzusammenhang« keine vergangene, gegenwärtige oder kommende Wahrheit bzw. Identität für das Subjekt im zeitlichen Sinne erreichbar ist. Aber gerade ein solcher »Nicht-Sinn« würde dann noch eine weitere »Unterwerfung« als bei Lacan verlangen, nämlich zu erproben, dass prinzipiell keinerlei geartete »Unterwerfung« in der Sinndimension ansteht, weil wir bereits immer schon ohne jeden Entzug und Aufschub – ohne »Fehlen« – vom Leben selbst affiziert, das heißt »angenommen« sind, ohne eine vorstellungsmäßige Sicherheit davon zu besitzen, es sei denn in einem reinen Gefühl als Sichempfinden des rein subjektiven Lebens. Darin kann sich in der Tat das Begehren verwirklichen, das heißt ohne Signifikanten von einem Objekt als einem möglichen Guten, es sei denn dieses Begehren als Vollzug des genannten Lebens in seinem eigenen Selbstbegehren als solchem. Dann vollzieht sich ein dergestalt radikal subjektives Leben als die vorgeschlagene Transgression aller sich welthaft anbietender Finalitäten, einschließlich jener, welche Therapie/Analyse vordergründig oder mit letztem Anspruch verheißen können, sofern im weitesten Sinne eine illusionsfreie Selbstaufklärung intendiert ist, welche als die »Unmöglichkeit des Realen« Vgl. Le Séminaire XI: Les quatre concepts fondamentaux fondamentaux de la psychanalyse (1973), 263 f.

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im Rahmen des Sprechens als dem Unbewussten erkennbar sein soll. Sofern diese Einsicht an die Kategorie der Andersheit oder Differenz geknüpft bleibt, handelt es sich dabei jedoch nur um eine logische Möglichkeit, die insofern nicht hypostasiert werden darf, wie wir wiederholt unterstrichen, weil trotz dieser »Unmöglichkeit« das sich-gebende Leben sich weiter in uns fortzeugt – mithin das uns gründende Leben ist, was selbst hinsichtlich reflexiv oder analytisch diagnostizierter »Unmöglichkeit« eine ontologische Wirklichkeit darstellt, die älter als alles verfehlte »Reale« ist. Diese phänomenologisch-ontologische Notwendigkeit als »Gabe« zu sehen, dürfte der entscheidende Schritt über die (Neo-)Psychoanalyse hinaus sein, ohne die Schwierigkeiten dieses Begriffs der Gabe zu verkennen. 33 Aber es kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass in der Praxis der Therapie Patienten diesen Schritt oder Sprung am Ende für ihren eigenen Lebensvollzug in der Alltäglichkeit zu tun vermögen, aber das eigene (leere) Sprechen allein kann kaum in seine Wahrheit gelangen, denn ein solches Ankommen behält die Struktur des Aufschubs als unendlichen Horizontverweis in sich. Erfahrbar bleibt indessen, dass das Leben selbst bereits schon in uns »angekommen« ist – ebenso einmalig wie für immer als unsere unzurücknehmbare Individuierung. Es geht also schließlich auch nicht darum, einen letzten logischen oder existentiellen Widerspruch von Sinn/Nichtsinn zu ergreifen und mutig in der »Offenheit« dieses Widerspruchs zu leben, wie ein mögliches Gespräch zwischen Simone Weil und Lacan hinsichtlich der »Leere« des Begehrens zeigen kann, 34 sondern über die Unerhörbarkeit der Bitte in der begehrenden Anfrage hinaus das Leben als jenes Schweigen zu vernehmen, welches sich selbst seine eigene Fülle ist. In solchem Schweigen kommen Ohnmachtserfahrung des Sprechens und jeglichen Wissens – auch in der Beziehung zu Anderen – zusammen, ebenso jene des Seins als ein unmögliches Haben wie des reflexiven Ich als eines disseminierenden Sinnzentrums für alles Erscheinen. Die in diesem Schweigen implizierte radikale Passibilität ist dann weder ein Eines noch Eigenes im isolierten Sinne eines substanzhaften Wesens des Subjekts, sondern eben eine reine Proto-Relation im Leben ohne vorstellbare Relata, und sie ist es, welVgl. zum Beispiel J. Derrida. Falschgeld. Zeit geben I, München, Fink 1993; A. Caillé, Anthropologie der Gabe, Frankfurt/M., Campus 2008. 34 Vgl. H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott (1983), 390 ff. 33

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che der »Transgression« in Bezug auf scheinbar fest gefügte Dinge, Situationen, Beziehungen und Bedeutungen von vornherein ihre je erneuerte dynamische Relationalität verleiht, das heißt ohne Fixierung auf ein Objekt, Gesprochenes oder isoliert Begehrtes. In diesem Sinne können wir sagen, dass die eigentliche, unendliche wie konkrete Transgression immer schon stattgefunden hat, nämlich als das Ankünftigwerden des absolut phänomenologischen Lebens in seiner leiblichen Inkarnation, welche wir als Fleisch bzw. Begehren sind, so dass Fleisch/Begehren als Intensität jene Transgression bildet, welche es des Näheren noch als therapeutische Problematik in Bezug auf individuelle, gesellschaftliche wie moralische (religiöse) Normativität als Verbote und Weisungen zu verstehen gilt. Um das lacansche Verständnis in dieser Hinsicht zu verdeutlichen, ist daran zu erinnern, dass das Subjekt in seiner Bewegung auf den Genuss (jouissance) hin gespalten ist, denn im Anschluss an Hegels Rechtslehre ist solcher Genuss einer Teilung mit Anderen sowie der Vernunft unzugänglich, während das Begehren die gegenseitige Anerkennung zweier Bewusstseine oder darüber hinaus impliziere, das heißt auf eine allgemeine Gesetzgebung oder »Objektivierung« hin ausgerichtet ist. In diesem Sinne haben wir das Begehren als prinzipiellen Einschluss der Erwartung(en) des Anderen bei Lacan kennen gelernt, auch wenn diese Gegenseitigkeit eine unaufhebbare Differenz beibehält, indem mein Begehren nie mit dem Begehren des Anderen im imaginären wie symbolischen Realitätsbereich zusammenfallen kann. Hieran wird schon ersichtlich, dass das Begehren einen grundsätzlichen Bezug zum Gesetz hat, wodurch das Grenzenlose und Unvermittelte in bestimmter Hinsicht domestiziert wird, was auch der freudschen Auffassung weitgehend entspricht. Rechtlich ist es in der Tat so, dass ich nur dann etwas gänzlich für meinen Genuss in Anspruch nehmen kann, wenn ich zugleich die juristischen Bedingungen für den Besitz des entsprechenden Objekts in Händen halte, was einschließt, dass die Anderen auf ein gleiches Genussrecht in einem vertraglich festgelegten Zeitraum verzichtet haben. Damit taucht für unseren therapeutischen Zusammenhang hier nunmehr die Frage auf, wie weit überhaupt mein Genuss reicht, denn wenn der Andere unablösbar zu meinem Begehren gehört, wie wir sahen, dann enthält dies auch immer eine Begrenzung meines Genießens durch das Genießen des Anderen – und umgekehrt. Nehmen wir hinzu, dass dabei die Sprache sowohl als Unterwerfung wie Freigabe des Begehrens des Anderen auftritt, so findet zugleich Subjektivie378 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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rung wie Objektivierung meines Begehrens statt; mit anderen Worten gibt es eine Spannung zwischen dem Phantasma einer Fusion mit dem Anderen und der Beschränkung meines Begehrens, sofern es ein unendliches Genießen sein möchte. Dies macht verständlich, warum Lacan prinzipiell formuliert, dass »die Transgression notwendig ist, um zum Genießen überhaupt Zugang zu haben«, 35 und daher (wie im Traum) den »Nabel des Begehrens« darstelle, nämlich zugleich Trennung wie Verbindung in Bezug auf den Anderen zu sein. Die unmittelbaren Implikationen mit der Erotik, Ethik und Religion sind hier mehr als offensichtlich und wurden besonders vor Lacan schon von Georges Bataille (1897–1962) ausgearbeitet, 36 so wie auch Bezüge zur Lebensphänomenologie Henrys erkannt werden können. Denn wenn wir schon zuvor in diesem Kapitel die »Transgression des Lebens« als eine rein immanente Bewegung desselben ohne Entzug und Begrenzung angeführt haben, so kreist die abschließende Klärung der Transgression weiterhin um den Punkt, ob eben nicht jedes Genießen ein »Sich-Genießen« (auto-jouissance) des radikal phänomenologischen Lebens impliziert. 37 Auch therapeutisch gesehen enthielte dann das Genießenwollen keinen Exzess als Hybris wie schon bei den Griechen, noch einen totalen Verlust seiner selbst durch eine Fülle des Genießen im Sinne des »Verschwindens« des Subjekts bei Lacan, sondern eine Proto-Relationalität des einen ungeteilten Lebens in Übereinstimmung mit seiner unmittelbaren Selbstgebung in jedem Augenblick, ohne ein »Nichts« des Objekts in Bezug auf die Befriedigung des Genießens leugnen zu müssen. Insoweit sich das Begehren laut Lacan als Kette von Metonymien innerhalb von zu genießenden Objekten bewegt, behindert es das Lustprinzip nicht prinzipiell, sondern passt sich dem Gesetz im weitesten Sinne an, während das Genießen als solches eine Befreiung von dieser horizontalen Bedeutungsebene verlangen würde. Dies impliziert jedoch einen Bruch, einen Sprung ins Unmögliche, was die Transgression kennzeichnet, aber wir wissen auch, dass es zugleich eine originäre Leere für jede Befriedigung des Begehrens gibt, weil die genannte Metonymie durch den Phallus das stete Fehlen des Sub-

Le Séminaire VII: L’éthique de la psychanalyse (1986), 208. Vgl. L’érotisme, Paris, Minuit 1972 (dt. Die Erotik, München, Fink 1994). 37 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 27 f., 49 f. u. 151 f. 35 36

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jekts im wie am Sein symbolisiert, so dass hier schon die Frage auftaucht, ob eine absolute Transgression überhaupt möglich ist. Dieser Phallus ist der symbolische Verlust des verlorenen Seins des Subjekts durch die Unterwerfung unter das Gesetz (Differenz) des Signifikanten, so dass Genießen letztlich immer eine Abwesenheit bedeutet, da durch die Unterwerfung unter die Sprache sowohl Genießen wie Nicht-Befriedigung als Kastration sich ständig fortschreiben. Besonders Bataille hatte nun schon für den Zusammenhang von Genießen/ Mangel durch den Anderen als Grundtraumatisierung darauf hingewiesen, dass das Genießen daher im Grunde eher ein »Todestrieb« als ein Lustprinzip sei. Dies heißt dann in letzter Konsequenz gerade auch für die Transgression, das insbesondere sie (etwa im Inzestwunsch) den Tod oder den Verrat des Anderen in sich trägt. Denn der Sohn muss etwa die Liebe der eigenen Mutter zurückweisen oder sein eigenes Begehren abtöten, was auch für inzestuöse Beziehungen zwischen Vater/Tochter oder unter Geschwistern bzw. in strukturell neurotischen Konstellationen gilt. Auf die Erotik bezogen, wo das Verlangen nach Transgression sicher am meisten gegeben ist (sieht man von der kriminellen und kriegerischen Gewalt ab), stellt sich der Sachverhalt hier so dar, sich entweder ganz von einer Liebe einnehmen zu lassen (Transgression) oder aber einer solchen Fusion einen Widerstand entgegen zu setzen, mithin ein gewisses Nein gegenüber dem Anderen zu leben, was ein begrenztes Nein als »Verrat« dem Partner gegenüber einschließt. Diesseits der Transgression wäre damit stets nur ein »unreines Begehren« zu verwirklichen, da die Transgression des äußersten Begehrens die Auslieferung des Subjekts an ein »reines Begehren« bildete, welches durch kein endlos sich wiederholendes Phantasma bei der Objektwahl mehr begrenzt wäre, sondern sich effektiv als ein Akt verwirklichte, der über jedes Gesetz hinausginge, wie es etwa die Liebe Antigones zu ihrem getöteten Bruder bis in den eigenen Tod hinein zeigt. Aber ein Begehren, welches zu einem solchen Tod führt (wie auch im Selbstmord), ist eine Leidenschaft, der die Heterogenität in Bezug auf den Anderen fehlt und daher die grundsätzliche Frage nach der ethischen Relevanz des Begehrens gegenüber dem Anderen – oder von diesem her – stellt, wenn es in einer gegenseitigen transgressiven Bemächtigung auftritt. In diesem Sinne ist die neo-psychoanalytische Auffassung der Transgression bei Lacan 38 kein wirkliches Überschreiten des Verbotes, son38

Vgl. Le Séminaire VII: L’éthique de la psychanalyse (1986), 208; dazu auch S. Lip-

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dern der Aufweis von der Rückkehr des letzteren unter der Form einer »kurzen und erdrückten Befriedigung«, welche ohne die Differenz zum Gesetz (Phallus) nicht auskomme. Therapeutisch dürfte damit signalisiert sein, dass zwar mit den Patienten geklärt werden muss, welche Normen, Regeln und Verbote (neurotisch) ein Genießen verhindern, um Begehren und Sinn in einer subjektiven Existenz wieder zusammenfinden zu lassen. Aber zugleich sind absolute Transgressionsansprüche ein Problem, welches die grundsätzliche Traumatisierung mit einem imaginären Phantasma ganz verdecken könnte, um die primordiale Relationalität des Subjekts zu einem gewährenden Grund des Genießens als Leben zu verdunkeln, da letzteres nicht Gegenstand von Transgression zu sein vermag, sondern zunächst vor allem Empfang als Passibilität, was transgressive Gewalt gegenüber jedem anderen Lebendigen ausschließt, wie wir schon öfters unterstrichen. Licht auf diese radikal phänomenologische wie therapeutische Konstellation wirft hier ebenfalls die Frage der Perversion, denn der Perverse versucht zwischen Gesetz und Genießen eine Entsprechung herzustellen, indem sein Begehren sich nicht mehr um das Verbotene kümmert, sondern dessen Schranke aufhebt, um ein freies Genießen für sich zu ermöglichen. Aber zugleich bindet er sich an das Gesetz des Anderen schlechthin (Loi bei Lacan), indem er glaubt, sein Objekt niederträchtig reduzieren zu können (Sadismus) oder durch einen Vertrag an sich zu binden (Masochismus). Wir hatten dies in Bezug auf den meta-ethischen Zusammenhang von Sade und Kant schon diskutiert 39 und können hier auch nach perversen Elementen in der Religion fragen, indem vom Gläubigen manchmal versucht wird, »Gott« durch Gebete und Opfer zu erreichen. So wie hier der absolut (göttlich) Andere letztlich Genuss verheißt, oder zumindest an Himmel und Hölle als Genuss und Strafe glauben lässt, so plant auch der Perverse die Inszenierung von Situationen (etwa Orgien), um darin als Subjekt in der Fusion mit Anderen unterzugehen, so wie auch im religiösen Ritual gelegentlich Martern organisiert werden, um die Einheit mit dem Göttlichen zu zelebrieren. So kann ebenfalls das Fasten wie ein auferlegtes Gebot praktiziert werden, da dies zugleich ein Genießen nicht aus-

pi, Transgressions. Bataille, Lacan, Paris, Erès 2008, 17–26: »De la transgression à la trahison«. 39 Vgl. unser vorheriges Kap. I,3.1.

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schließt, denn selbst wenn der Essensentzug wie eine Bestrafung wirkt, ist der »Vater« (Gott) da und liebt den Fastenden. Natürlich ist der Perverse selbst manchmal von seinem Tun angeekelt, wie die Brüder nach der Tötung des Vaters in Freuds Werk »Totem und Tabu«. Aber in diesem Ekel drückt sich zugleich die Anerkennung einer Grenze aus, denn der Ekel ist wie ein Symbol der Kastration, indem eben das Genießen nicht absolut zu sein vermag. Insofern der (symbolische) Vater hierdurch dem Perversen zu Hilfe eilt, zeigt der Bezug zwischen Transgression/Ekel auch wieder einen implizit gegebenen Verrat am Begehren des Anderen in dieser perversen Überschreitung des Gesetzes an. Hierbei ist allerdings deutlich von der Perversion als psychischer Struktur (wie etwa in der Neurose) und in der kriminellen Perversion zu unterscheiden, da letztere die Form der Zerstörung des Anderen durch dessen Auslöschung im Tod annimmt. Exhibitionisten, Alkoholiker und Drogensüchtige zeigen hingegen zusätzlich, dass sie den Anderen brauchen, um im Blick des Anderen ebenfalls als »Ekel« noch existieren zu können, denn diese Passivität bleibt noch ein Akt, um zu zeigen, dass ein reines Objektwerden nicht möglich ist und damit auch das Genießen des Perversen unvollständig wie enttäuschend bleibt, wie es gerade auch die Romane von Bataille herausstellen. 40 Und der Schmerz wird offensichtlich in der Perversion dazu genutzt, um das Begehren genießen zu können, denn das Begehren verlässt das Subjekt meist sehr rasch nach der Befriedigung, während der Zeitzyklus des Schmerzes länger andauert. Daher versucht der Perverse, einen Mechanismus des Begehrens zu installieren, der dieses Begehren immer wieder nährt. Im Sadismus ist dies sehr eindeutig, aber jeder Andere kann in einer (tiefenpsychologisch gesehenen) perversen Struktur zum Gegenstand von gewollten Schmerzen und Aufteilungen werden, die das gegenseitige »Genießen« – eben den Schmerz – weniger schnell aufhören lassen, weshalb solche Bindungen als Ehe oder Beziehungen lange dauern können, wie die Therapie alltäglich zeigt. Beim Perversen ist das Begehren als Transgression dabei an keinen Mangel gebunden, denn das Verbot zu genießen, wie es mit dem Anderen an sich auftritt, wird verneint, um das Genießen als universal zu behaupten. Wenn es sein muss, macht sich der Perverse daher zum Instrument des Genießens durch den Anderen, um sich (imaginär) außerhalb seiner eigenen subjektiven Trennung zu versetzen, so 40

Vgl. S. Lippi, Transgressions (2008), 32 f.

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Verbot und Transgression

als wäre er dieser Andere, um nicht auf ihn (als Nicht-Kastration) verzichten zu müssen. Man kann sich fragen, ob hier Parallelen zur Mystik bestehen, denn auch der Mystiker glaubt oft, sich durch Leiden mit Gott vereinigen zu können, auch wenn seine bewussten Motive andere sind. In gewisser Weise wird hier die Trennung zu Gott aufgehoben, aber während der Perverse letztlich zu einem Objekt, zu einem Fetisch seiner eigenen Leidenschaft wird, sieht sich der Mystiker als Ich, Person oder Subjekt in Gott aufgehoben. 41 In der Perversion wird mithin die eigene Subjektivierung, welche nach Lacan an sich einer Differenz oder Teilung unterliegt, zu einem Subjekt ohne Schranke, um sein eigener Fetisch anstelle des Gesetzes (Phallus) für den Anderen zu sein. Der perverse Blick auf das Wirkliche wird das Genießen des Anderen, das heißt zum eigennützigen Vertrag, um Opfer auspeitschen zu können (Sade), was bedeutet, dass die Identifikationen mit dem Anderen hier nicht in der Leere als Nicht-Erfüllung des Begehrens zu existieren vermögen. Deshalb braucht der Perverse den Anderen im doppelten Sinne des Wortes: als »Partner« und als Unterwerfung unter den Blick und die Stimme, welche befiehlt oder manipuliert, wie etwa beim verführten oder missbrauchten Kind. Das Paradox der Perversion ist daher nur scheinbar, denn das Genießen wird (oft auf sehr gefährliche Weise) nur über den Schmerz des Anderen erreicht, mit dem der Perverse dann doch nicht im fusionnellen Sinne eins werden kann, da die Identifikation mit dem Opfer als Objekt die Begegnung mit dem Anderen als Subjekt ausschließt. Nach Freud ist die Perversion eine Fixierung auf ein primäres oder kindliches Lustempfinden, was neo-psychoanalytisch impliziert, dass die Signifikantenkette immobilisiert wurde, um über ein faszinierendes Bild jenen genannten Fetisch zu installieren, der als Erinnerung zugleich immer wieder wie ein Schirm als projektive Bildfläche dient, auf welcher die Objektivierung des Opfers stattfindet. 42 Mit Lacan kann man daher sagen, dass der Perverse sein Genießen nicht – wie sonst beim Begehren – an die prinzipiell bewegliche Form der Anfrage oder Bitte (demande) bindet, da der Perverse bereits weiß, dass er auf die Befriedigung wird verzichten müssen,

Vgl. für diese Zusammenhänge bereits das klassische Werk von P. Janet, De l’angoisse à l’exstase. Études sur les croyances et les sentiments I: Un délire religieux, Paris, Alcan 1926; für Formen der »Mystik« innerhalb von Grenzerlebnissen vgl. jetzt auch M. Hulin, La mystique sauvage, Paris, PUF 2008. 42 Vgl. J. Lacan, Écrits (1966), 518 f. 41

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aber dennoch daran glaubt – und deshalb zur Erreichung seines Zieles alles in Bewegung setzt. Aber als in seinem Begehren geteilt, das heißt als Instrument oder Gehilfe der Objektivierung des Anderen, wird der Perverse selbst zum eigenen Verfall als Opfer des Ekels, wie wir sahen. Wir haben damit bereits genug Elemente in Händen, um zu verstehen, dass jede Überschreitung einer Grenze, um ein äußerstes Genießen zu erreichen, insoweit unmöglich ist, als das Subjekt dabei auf den Verzicht durch eine unübersteigbare Grenze stößt, welche in der tiefenpsychologischen Sprechweise von der Kastration gebildet wird. Über den alltäglichen Begriff hinaus impliziert die Transgression daher eine Erfahrung menschlichen Erlebens des Unbegrenzten, welches zugleich die unübersteigbare Grenze bleibt, so dass sich eine Dialektik herausbildet, welche eine menschliche Struktur schlechthin bezeichnet, die einem Maß des Möglichen für den Menschen entspricht und gleichzeitig auf der Höhe des Unmöglichen ist, so wie Jaspers einmal formulierte: »Das Maximum ist das Minimum des Menschen.« Diese Dialektik von Grenze/Grenzenlosigkeit beinhaltet daher eine Korrelation von Kontinuität/Kontiguität der menschlichen Erfahrung als einer Linie, welche die Transgression dann weniger zu einem spektakulären Bruch mit einer Norm macht als zu einer kontinuierlichen existentiellen bzw. ekstatischen Handlung, welche sich zwischen dem Begrenzten und Unendlichen hin und her bewegt. Deshalb hatten wir auch schon den Begriff der Transgression für den ursprünglichen Zusammenhang von Subjektivität/Leben letztlich verwandt, denn die Proto-Relation zum rein phänomenologischen Leben ist für unser Empfinden zugleich äußerste Ohnmacht wie die Fülle überhaupt in der Passibilität unserer pathischen Selbstaffektion, wodurch die Transgression bzw. das ihr entsprechende Begehren in jeder Therapie/Analyse zur Sprache kommen und nach einer Antwort seitens des phänomenologisch-tiefenpsychologischen Wesens des Menschen suchen. Im Beispiel des klinischen Falls vom »kleinen Hans« bei Freud entfaltet Lacan daher den uns schon bekannten Zusammenhang von Identifikation anhand der Vatermetaphyer, um die Transgression (Verlassen des Hauses) vornehmen zu können. 43 Denn der symbolische Vater ist insofern der Angelpunkt 43 Vgl. J. Lacan, Le Séminaire IV: La relation d’objet (1956–1957), Paris, Seuil 1984, 325 f. (dt. Die Objektbeziehung, Olten/Freiburg, Walther 1982). Zu einer erneuerten tiefenpsychologischen Bestimmung des »Sohnseins« führt der Vergleich zwischen

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Verbot und Transgression

der Transgression, als das Subjekt im Übersteigen der Grenze seinen Platz einnimmt und zugleich die Gefahr reduziert, um das Mögliche des Unmöglichen der Entgrenztheit zu erkunden. Dennoch bleibt die existentielle Transgression eine Einbildung, da Grenze wie Unbegrenztes nur jeweils in einer Bewegung gegeben sind, welche beides sucht und jeweils neu verneint, um im Möglichen des Unmöglichen weiterzuschreiten. Betrachtet man diesen Elan radikal phänomenologisch und nicht nur tiefenpsychologisch als Vater/ Mutter-Metapher von Verbot (Inzest) und Gesetz (Identifikation), dann wird an dieser Stelle gut sichtbar, dass eben das rein selbstaffektive Leben die effektive Transgression bereits enthält, da es in sich innerhalb seiner Selbstbewegung keine mundane Grenze mehr kennt, sondern jede Konstellation von Möglich/Unmöglich in Bezug auf seine unendlich modalisierte Intensität erlaubt. Daher sind auch Zweifel erlaubt, ob nach Lacan in der Transgression nur ein Genießen der Grenze stattfindet, während das Begehren selbst weiterhin dem Phantasma solch beschränkten Genießens unterliegt. Denn erfährt man im Genuss des Verbotes nur seine eigene Ohnmacht, um durch deren engen Spalt die Möglichkeit der Unbegrenztheit zu erahnen, die nicht oberhalb des Lustprinzips weitergeführt werden kann – nämlich als das objektlos mögliche Begehren? Dies hieße, die Transgression noch an die paroxystische Intention des Über-Schreitens selbst zu binden, während gerade bereits in der Passibilität der Ohnmacht das reine Sich-Genießen des Lebens als absolute SelbstAffektion gegeben ist. Nur aufgrund der differe(ä)ntiellen Sichtweise des Subjekts bei Lacan lässt sich formulieren, dass »es ein nur jeweils kurzes Hervorbrechen des Genießens im Leben eines Subjekts manchmal gibt«, etwa in einem Traum, Lapsus oder in leidenschaftlicher Erotik, 44 weil die Bewegung von Möglich/Unmöglich stets unvollständig bliebe. Wenn in der Tat die Vater/Mutter-Konstellation tiefenpsychologisch die ursprünglichste sein soll, dann ist naturgemäß bereits die Selbstoffenbarung des Lebens als dessen reines »Sich-Genießen« in einem empirischen oder strukturellen Unbewussten begrenzt, und dem »verlorenen Sohn« im Neuen Testament und der absoluten Geburt als »Sohn« im radikal phänomenologischen Leben durch L. Wondracek, Psychoanalyse und Lebensphänomenologie. Ein Beitrag zur Klinischen Psychologie, Freiburg/München. Alber 2013, Kap. III,6.2.2: »Menschsein als Sohn: zwischen Ödipus und dem Ursohn« (S. 191–193). 44 S. Lippi, Transgressions (2008), 42 f.

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nie wird jene ursprüngliche Transgression des Lebens erprobt, bereits absolut phänomenologisch von seiner Ur-Mächtigkeit affiziert zu sein. Wenn der Neurotiker demzufolge sich nicht dem integralen Genießen aussetzt und nur über die Möglichkeiten des erotischen Lebens etwa träumt, dann letzthin nicht, wie wir schon sagten, weil er den Tod in der wirklichen Transgression fürchtet, sondern tiefer noch die Berührung mit einem absoluten Leben, welches die Normalität und Sicherheit des Alltags übersteigt, um eine andere Erprobung des eigenen subjektiven Lebens zuzulassen. Die Transgression muss daher in der Therapie als das konkrete Durchbrechen solcher Angst eingeübt werden, so dass Sinn/Begehren innerhalb bestimmter Fixierungen bisher nicht mehr auseinander brechen, um allein dem Phantasma des gewünschten »Unmöglichen« Platz zu lassen. Da das Ursprüngliche nur in der eigenen Existenz als Gefühl gelebt werden kann, vermag dieses Unmögliche auch nur in der Bewegung des entsprechenden subjektiven Empfindens verwirklicht zu werden. Die Transgression als »Verwindung« (torsion) von Grenze/Phantasma, um das Begehren »oberhalb der überschrittenen Grenze« erst beginnen zu lassen, reproduziert daher nur die Spannung zwischen Haben und Sein als eines Verhältnisses von Phallus/Kastration. Bildlich gesprochen wäre die Transgression damit eine bloß »spaltweit geöffnete Tür«, die nicht durchschritten wird, 45 weil die Vollendung nur im Tod liegen könne, den wir fürchteten, insoweit die Transgression das Verlassen eingefahrener Wege und »Verrat« am Anderen bedeuten kann. Sind wir wirklich im Leben, gibt es auch letztlich nicht diese Furcht, womit die Frage der Transgression bereits vom Ursprung her gänzlich beantwortet ist – keine Furcht vor irgendeinem Tod mehr haben zu müssen.

3) Verlust und Schuld Schon in der freudschen Sichtweise ist der Phallus das Symbol dessen, was der Mutter fehlt, weshalb sie das Kind begehrt, so dass das gesamte Leben desselben von diesem Verlangen bestimmt bleibe. Lacan erweiterte diesen Phallusbegriff zu dem der Signifikanten allVgl. J. Lacan, Séminaire IX: L’identification (1961–1962), Paris, Éd. Transcription 1960, 289, sowie Le Séminaire XVII: L’envers de la psychanalyse, Paris, Seuil 1991, 19. 45

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Verlust und Schuld

gemein hin, welche das Subjekt in seinem Begehren teilen und beschränken bzw. sogar durchstreichen. Dadurch wird der Phallus, wie wir wissen, zugleich zum Symbol des »Begehrens des Anderen«, was das Wesen des Begehrens als solchem ausmache, um dadurch prinzipiell durch den Verlust gekennzeichnet zu sein, welcher als Kastration die ursprüngliche Begrenzung oder Abwesenheit (fading) für jedes Individuum darstelle. Analytisch-therapeutisch gesehen wiederholt sich diese primordiale Verlusterfahrung unter vielfältigen Formen, von denen einige hier abschließend skizziert werden sollen. Die Kastration bezeichnet in der Tat die Notwendigkeit für das Kind, Junge oder Mädchen, dem Verlust des Phallus im Laufe seiner Entwicklung zuzustimmen – und damit dem prinzipiellen Unterschied zwischen Subjekt- und Objektsein. Für den Neurotiker ist es aber ebenso unnachvollziehbar, den Phallus zu haben wie nicht-zu-haben, weil sein Begehren in Bezug auf den Anderen stets woanders ist, auf der Seite des Phallus-sein, was jedoch unmöglich ist, wie viele Liebesbeziehungen zeigen, welche vom Phantasma einer phallischen Struktur geprägt bleiben, nämlich nicht das imaginäre vorausgesetzte Subjekt zu sein, welches dem Anderen in der Liebe fehlt. Daher werden Ersatzwege gesucht, um dem fehlenden Sein ein Haben (Objekt »klein a«) zu supplementieren, wodurch allerdings nicht jenes Genießen ersetzt wird, welches die Kastration im Sein ist, das heißt kein Phallus zu sein. Hieraus ergeben sich die meisten Schwierigkeiten, welche seitens vieler Patienten als Unmöglichkeit gelebt werden, sich vom Anderen emanzipieren zu können. Gelingt dies nicht, so spielt der Andere seine symbolische Rolle innerhalb der Signifikantenkette weiter, nämlich als der Andere schlechthin (»groß A« bei Lacan), so dass sich beim hier betrachteten neurotischen Subjekt besonders ein komplexes Schuldempfinden (culpablité) einstellt, aus dem allein oft kein Heraustreten möglich erscheint und eine Therapie oder Analyse angezeigt ist. Denn ist man nicht der Phallus, mit dem man sich identifiziert hat, so bleibt die zu leistende Verpflichtung als Schuld (dette) unbezahlt, weshalb die Problematik der »Allmachts«-Phantasie in der Neurose auch so definiert werden kann, nicht um die notwendige Kastration des Anderen und seiner selbst zu wissen. 46 Beim Auftreten eines Begehrens stellt sich dann jeweils dieselbe Schuldigkeit als Verdrängung ein, und das Begehren erweist sich dergestalt als ein Kampf zwischen zwei antinomischen Bewegungen, die 46

Vgl. J. Lacan, Le Séminaire VI: Le désir et son interpréation (2013), 185–193.

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sich gleichzeitig manifestieren: dem eigenen Begehren nicht nachgeben zu können und zu wollen, um sich lieber einem Nichtsein anzugleichen – und sich dennoch weiterhin schuldig hinsichtlich des Anderen zu fühlen. In der Sprache Lacans betreffs der zuvor behandelten Transgressionsproblematik ist der Wunsch, für den Anderen der Phallus zu sein, strukturell der Inzest, der als Verbot Schuld hervorruft. Man kann diese Schuld imaginär nennen, weil es sich um die Schuld gegenüber der Mutter als Kind handelt, die weiterhin als Metapher präsent ist. Die andere Schuld kann man im Sinne solcher Neo-Psychoanalyse symbolisch nennen, weil man ebenfalls den Vater als Identifikation benötigt, um sich vom mütterlich Anderen zu trennen, was dann aber jeweils zu Handlungen führt, die durch das Gesetz oder den Namen der Vatermetapher gekennzeichnet sind. Mit anderen Worten führt dies zu Verhaltensweisen wie beispielsweise Ausgeben, Verlieren oder Verschwenden, die nicht frei von einer pathologisch empfundenen Schuldigkeit sind, da sie den illusionären Versuch darstellen, Genießen und Kastration miteinander zu verbinden, das heißt dem Begehren des Anderen treu zu bleiben, um einen neurotischen Gewinn daraus zu ziehen, ohne jedoch das Schuldempfinden dadurch selbst aufheben zu können. Erscheint eine Schuld in diesem Rahmen als »unbezahlbar«, wird eine neue Schuld konstruiert, welche einen individuellen Mythos solcher Schuldbildungen in der Neurose begründet. Hinsichtlich jeder Muttermetapher wie der Gesellschaft kann man deshalb in tiefenpsychologischer Sicht allgemein beobachten, dass Strategien des Verlierens oder der Verschwendung eingesetzt werden, um sich über eine solche (verdeckte) Auflehnung vom Anderen zu befreien. Aber die Folge hiervon ist stets ein weiteres Anhäufen von Verausgabung, da die imaginäre Schuld nicht zurück erstattet zu werden vermag. Die Verschwendung im materiellen wie existentiellen Sinne nimmt dann äußerst ungünstige, weil maßlose Formen für das Subjekt an, welches dennoch nicht von seinem Empfinden befreit wird, die Anderen (Mutter, Partner etc.) betrogen oder verraten zu haben. 47 Die äußerste Folge hiervon ist dann oftmals die Selbstzerstörung, um sich für den Anderen zu vernichten, denn »nicht(s) zu sein« erscheint als eine Weise, sich im »Selbstverlust« verzweifelt dem Phallus-sein angleichen zu können. Aber auch in der Form des »Drecks« oder »Abfalls« (Alkohol, Droge) bleibt die Schuld als ein 47

Vgl. S. Lippi, Transgressions (2008), 52 ff.

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Verlust und Schuld

unmögliches Genießen bestehen, da aus der elterlichen oder gesellschaftlichen Abhängigkeit nicht herausgefunden wird. Das Triebgeschehen oszilliert hier mithin zwischen Sein und Nichts, um sich von der Liebe des Anderen frei zu machen, der diese scheinbar notwendige Sich-Verausgabung uns aufzuerlegen scheint. Denn die Liebe des Anderen ist vor allem immer dann unbequem, wenn sie auch an welthafte Objekte wie beispielsweise eine Erbschaft gebunden ist. Wie soll man in der Tat dem Verstorbenen etwas zurückgeben, wenn durch den Tod zugleich ein Verlust (Kastration) stattgefunden hat? Ein Erbe sieht sich oft nicht in der Lage, das zurückzuerstatten, was er an Liebe erhalten hat, so dass ihm seine Antwort zumeist unzureichend erscheint. Das Subjekt fühlt sich daher nicht nur außerstande, die (imaginäre) Schuld dem Anderen zurückzugeben, sondern es fühlt sich auch schuldig, die ganze Liebe des Anderen »gestohlen« zu haben, indem es ihm zu wenig oder scheinbar gar nichts zurückerstattet. Daher wird (unbewusst) geglaubt, die (imaginäre) Schuld durch ein Schuldempfinden zurückzahlen zu können, was aber eine illusionäre Weise des »Genießens« im lacanschen Sinne darstellt. Da wir hier nicht den Fall betrachten, eine Übertragung an Gütern angemessen und lange vorbereitet zu vollziehen, sondern etwa die Situation der plötzlichen Erbschaft aufgrund eines Unfalltodes, so wird für den tiefenpsychologischen Zusammenhang leicht verständlich, dass sich zwischen Schuldhaftigkeit/Genießen ein erlebter Teufelskreis von inzestuöser Liebe herausbildet. Diese ebenso belastende wie unmögliche Liebe zwischen dem Subjekt und dem Anderen kann somit über den Weg der scheinbaren Befriedigung mittels des Schuldempfindens die zwei erwähnten entgegengesetzten Wege einschlagen: alles zurückerstatten oder im Gegenteil alles verschwenden. Nach Freud entspräche die erste Haltung dem sadistisch-analen Stadium, wobei sich dann jeweils auch noch das Schuldgefühl oft hinzugesellt, nichts mit den empfangenen Gütern erfolgreich angefangen zu haben. Die zweite Lösung der Verschwendung des Erbes kann bis zur ebenfalls schon genannten Selbstzerstörung gehen, aber dieser Weg bleibt nicht nur auf unaufgeklärte Weise in der ungewissen Liebe gefangen, sondern es tritt auch hier das zusätzliche Gefühl hinzu, (alles) »verloren« zu haben. Aber in all diesen psychischen (wie sozialen) Konstellationen verbleibt das Subjekt vorzugsweise in einem »Genießen« von Schuld, ohne sich aus der endogen verzweifelnden Liebe zum Anderen herauszulösen. Die Verschwendung der Güter kann hierbei die äußerste Form der Transgres389 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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sion annehmen: Ich verliere (mich), um nicht mehr der Phallus im lacanschen Sinne zu sein, aber als Verlust, Abfall, Dreck bzw. Ausschuss bleibe ich weiterhin ein solcher Phallus, weil die (neurotische) Identifikation von Vater/Sohn nicht aufgelöst wird. Die Befriedigung über die »unproduktive Verschwendung« (Bataille) vermag hier viele Gesichter in individueller wie gesellschaftlicher Hinsicht anzunehmen, nämlich unter anderem Luxusleben, Spiele, Spektakel, ungezügelte Sexualität, Zeitverschwendung oder Vernachlässigung des eigenen Körpers bzw. allgemeine Verwahrlosung. Jedes Mal handelt es sich dabei jedoch um eine Transgression des Gesetzes des symbolischen Vaters, welche den schuldfreien Erwerb der Güter vor Augen hat, aber dennoch einem Phantasma des Ungehorsams gegenüber demselben Vater folgt, dessen symbolischer Tod letztlich gewollt wird. Aber aufgrund des bestehenden Schuldempfindens durch einen solchen »Mord« am Vater bezahlt der Sohn (Kind) mit seiner Existenz für den Namen des Vaters, den er auf diese Weise übernommen hat. Allerdings ist das teilweise Genießen in der Verschwendung nicht nur ein Selbstverlust als selbstzerstörerische Transgression, sondern es fehlt der wirkliche »Verlust« als Rückkehr zum Gesetz im Sinne einer effektiven Rückzahlung der symbolischen Schuld (Kastration). Denn die Verschwendung stellt kein wirkliches (auch ökonomisches) Teilen mit Anderen dar, sondern das Subjekt gibt die Güter im Grund nur für sich aus, ohne tatsächlichen Bezug zu Anderen, da wahllos, wodurch eine solche Verschwendung die Züge der Selbsterotik beibehält. Die schon erwähnte Toxikomanie als strukturelle Abhängigkeit (ohne Berücksichtigung individueller Symptombildung) stellt eine solche Selbstzerstörung dar, welche ohne Grenzen sein kann, da das Subjekt über den Zusammenhang von Schuldhaftigkeit/Genießen den symbolischen Vaterbezug von Transgression/Gesetz nicht sieht. Die Bulimie weicht in ihren moderateren Formen von diesem dramatischen Verlauf insofern ab, als durch Phasen des Erbrechens und Fastens dieses selbstzerstörerische Genießen zeitweise unterbrochen wird. Natürlich können in der erwähnten Abhängigkeit von Alkohol und Drogen auch psychotische Elemente eine Rolle spielen, insofern die symbolische Vaterkastration und die Übername des Vaternamens nach Lacan als Gesetz schlechthin nicht stattgefunden hat. Oder noch allgemeiner gesagt ist »das Phantasma nicht einfach der Objektbezug«, sondern »ein gewisses Verschwinden, eine gewisse Synkope an Bedeutung des Subjekts, welches sich einem Objekt gegenüber befindet«, wobei dieses Objekt 390 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Verlust und Schuld

»unter der Form einer Botschaft« den »Diskurs des Anderen« im Ich imaginär festgeschrieben hat. 48 Der Alkoholiker hat demzufolge den Prozess der Kastrationsannahme als Übergang von der Transgression zum Gesetz noch nicht abgeschlossen, so dass er vom Objekt einen Genuss erwartet, der niemals kommen wird. Daraus entsteht für Süchtige ein Leben des ziellosen Wartens, welches ein ständiges Existieren zwischen Leben und Tod beinhaltet, selbst wenn das Leben durch die Droge nicht unmittelbar in Gefahr dabei ist. Da ein solcher Mensch seiner Existenz keine Richtung gibt (oder keinen »Sinn«, wie die Existenzanalyse 49 sagen würde), geht sein Begehren auch in kein entsprechendes Handeln über, weil in solchem Warten Schuldhaftigkeit/Genießen als Zusammenhang eines Phantasmas weiter bestehen. Hierbei geht das Begehren in einem solchen und ähnlichen Fällen nicht nur auf Alkohol oder Drogen, die anderen Objekten vorgezogen würden, sondern letztere bleiben vielmehr unzugänglich, weil zuvor ein psychischer Preis gezahlt werden müsste, um zum Begehren Zugang zu erhalten. Aber die Suchtsubstanzen überdecken und ersetzen ein blockiertes Begehren durch das unaufgeklärte Schuldempfinden, so dass das Warten eine Flucht darstellt, wo auf nichts wirklich (als Kastration) verzichtet wird, aber auch nichts bezahlt und erworben wird, selbst wenn die existentiellen und körperlichen Umstände dabei immer dramatischere Formen annehmen sollten. Wenn sich klinisch der Alkoholismus im Zusammenhang mit einer großen Erbschaft etwa zeigen sollte, so könnte ein Psychoanalytiker daher geneigt sein, sich auf überhöhte Weise bezahlen zu lassen, um den symbolischen Vater zu ersetzen und das Subjekt von seinem belastenden Erbe in psychischer Hinsicht zu befreien. Aber gerade ein solches Vorgehen könnte auch den illusionären Weg zum Genießen des Anderen (Analytikers) anbahnen, was nicht nur eine Weise entwürdigender Transgression wäre, sondern auch eine indirekte Verlängerung der Selbstzerstörung, welche nicht durchbrochen wird. Das inzestuöse Verhältnis des Genießens würde sich hier in der Unterwerfung unter den Analytiker fortsetzen, der eine Position der Allmacht dann einnähme, um die Rolle der MutJ. Lacan, Le Séminaire VI: Le désir et son interpréation (2013), 208 f.; zur Bulimie vgl. auch Marcinski, Anorexie, Freiburg/München, Alber 2014, 69 ff. 49 Zur Frage des »Gewissens« nach Frankl hierbei als Unterscheidung von neurotischer und wirklicher Schuld sowie als Abgrenzung zum »Über-Ich« Freuds vgl. G. Funke u. R. Kühn, Einführung in eine phänomenologische Psychologie, Freiburg/ München, Alber 2005, Teil II: »Sinn und Wert in der Logotherapie« (S. 63–110). 48

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ter, der Frauen, des Geldes – letztlich von allem – einzunehmen. Die andere Möglichkeit, die analytische Kur an die Stelle der Droge als Objekt des Begehrens/Phantasmas zu setzen, bleibt gegeben und es würde sich dann im Übertragungsgeschehen entscheiden, ob ein solcher Weg gelingen kann. Das Warten signalisiert auf jeden Fall stets einen gewissen Zwang des Aufschiebens und aktualisiert das Herr/ Knecht-Verhältnis, nicht die eigene Entscheidung auf sich zu nehmen, um sich der Herrschaft des Genießens durch ein besetztes Objekt zu entziehen, welches den »Tod« oder die Leere des Subjekts im Sinne der Auseinandersetzung mit dem Realen und dem Anderen nicht zulässt. Nur wenn das Subjekt beim Preis, den es zahlt, zugleich empfindet, etwas wirklich Wichtiges zu verlieren (den Phallus nach Lacan), kann es über diesen Schmerz seine Schuld »zurückerstatten«. Wenn der Süchtige aber weiterhin das Nichts anstelle des Schmerzes im genannten Sinne wählt, dann gibt es zwar auch den Schmerz (in) seiner Abhängigkeit, aber er lebt im Schein, dass der Schmerz nicht wirklich gegeben sei – der Schmerz nämlich der symbolisch zurückerstatteten Schuld. Die Tränen sind therapeutisch gesehen oftmals die Anzeige eines wirklich akzeptierten Verlustes, das heißt als »Mord« am Vater und als Verzicht auf das inzestuöse Genießen der Mutter. Phänomenologisch wie tiefenpsychologisch kann daher gefolgert werden, wie dies der analytischen Beobachtung entspricht, dass das sterile Warten dann Platz geschaffen hat für ein Handeln und Realisieren, welches Ausdruck eines wirklichen Begehrens werden kann, auch wenn der Schmerz andauert. Hierbei setzt sich das Handeln stets von der Angst aus in Bewegung, denn die Gewissheit des notwendigen Tuns entwächst letztlich der pathischen oder selbst-narrativen Gewissheit, dem Leben selbst ohne bestimmtes Objekt entsprechen zu wollen – und nicht einem sterilen Warten voll Frustration und Ressentiment. Ein subjektives Leben im Sinne immanenter Modalisierung von Bedürfen, Begehren und Aktion ist ohne eine solche Modalisierung als innere Dynamik oder Teleologie nicht möglich, da das Leben selbst wesenhaft Bewegung ist, 50 die gerade auch in einer wirklichen Schuld noch lange nicht an das Ende ihrer Potenzialitäten gelangt ist. Beim Toxikomanen bleibt die zu große Angst hingegen blockiert, so dass letztere nicht zu Gewissheit, Kreativität und Handeln Vgl. M. Henry. Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/ München 1994, 173 ff. u. 365 f.

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führt, sondern mit dem (neurotischen) Schuldempfinden verschmilzt. Übernimmt man teilweise die lacansche Unterscheidung von Bedürfen/Begehren, so lässt sich auch sagen, dass Alkohol und Droge das Bedürfen im vitalen Sinne zwar beruhigen, aber das Begehren selbst unerfüllt lassen. Daher sind für den Süchtigen die organisch unangenehmen Empfindungen des Objektmangels weniger schrecklich als die vom wirklichen Begehren hervorgerufene Angst, die auch Freud stets als einen Verlust und eine Veränderung des Ich anzeigt. Man kann (neo-)psychoanalytisch auf dieser Ebene verharren und festhalten, dass der Schwindel des Subjekts vor dieser Situation darin besteht, dass sein Begehren etwas Anderes erreichen möchte und gehemmt wird, aber letztlich ist es nicht irgendein »anderes Objekt«, das gesucht wird, sondern die Übereinstimmung mit der Selbstbewegung des subjektiven Lebens, um diesem unmittelbar zu entsprechen. Denn radikal phänomenologisch kommt die Angst nie von außen, sondern stets aus dem Leben selbst heraus. Das unerfüllte Begehren lässt sich nicht wie eine Droge »konsumieren«, es muss als Weise der Selbstaffektion des pathischen Lebens selbst erprobt werden, um nicht weiter in einem sterilen Schuldempfinden nur zu warten und zu fliehen. Das Begehren entsteht also nicht bloß formal im »Intervall« von Frage und Antwort dessen, was das Subjekt sein will und realisieren kann, 51 sondern das Begehren ist eine unmittelbare Selbstoffenbarung des Lebens als solchem, um in Übereinstimmung mit seiner inneren Selbstbewegung als Selbststeigerung zu leben. Wenn die Angst daher den Verlust und damit das Handeln verhindert, um sich zu einer als unendlich empfundenen Schuld zu steigern, weil ich selbst der imaginär allmächtige Phallus sein will, dann bleibt in der Tat oft nur der Weg, über die genannte Selbstzerstörung bis in den Suizid hinein jene Allmacht (Sein, Phallus) zu erreichen, deren Verzicht nicht vollzogen wurde. Schuldempfinden, Angst, Warten als Aufschieben sind daher psychische Strukturelemente, die auf unterschiedliche Weise Sucht, Neurose und Psychose wie auch Perversion kennzeichnen, da sie alle ein gewisses Merkmal der Inhibition besitzen, welches dann in der neurotischen Obsession besonders ausgeprägt ist. Daher lässt sich hier allgemein sagen, dass das Symptom stets eine Veränderung des Begehrens ist, während die Inhibition die Möglichkeit des Handelns im strukturellen Sinne betrifft und die 51

Vgl. J. Lacan, Le Séminaire VI: Le désir et son interpréation (2013), 208.

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Verwirklichung der subjektiven Funktionen blockiert. In der Obsession wird das Subjekt von seinem Denken beherrscht, welches sich als Fixierung dem Handeln substituiert; aber Warten, Zweifeln, Kalkulieren, Grübeln etc. ist auch noch eine Weise, im Denken einen »Akt« zu realisieren – einen »provisorischen Akt«, wie Lacan sagt, wo das Begehren als Symptom eine Unentschlossenheit aufzeigt und sich deshalb verändern und verschieben kann: denn ändert sich das Denken, so ändert sich auch das Symptom. 52 In einem Akt nur als Denken verwirklicht sich das Begehren in Bezug auf ein leeres Begehren, welches ohne entsprechendes Tun ebenfalls an Schuld und Angst gebunden bleibt. Wie die therapeutischen Erfahrungen solcher »Hyperreflexion« (Frankl) in allgemeiner Hinsicht zeigen, bleiben hierbei Unerfülltheit, Sinnverlust und unendliches Begehren gegeben und können lange aufrecht erhalten werden, weil der »Akt« des Denkens dennoch stets auch Unbekanntes und Überraschendes herbeiführt, während in der Sucht-Inhibition eine Immobilität eintritt, das heißt die Verneinung des Begehrens als Handeln. Denn in gewisser Weise ist jeder wirkliche Akt immer auch ein Bruch, eine Transgression, ein Jenseits des Gesetzes im engeren Sinne, weil sich letztlich darin das Subjekt als absolut phänomenologische Subjektivität ohne Referenz zu einem letztgültigen Modell als affektive Intensität investiert, 53 um sich zu erproben. Unendliches Warten und Aufschieben, welche schmerzhaft aus einem nicht aufgehobenen Schuldempfinden erwachsen und die Angst fortschreiben, bleiben dennoch in die prinzipielle Dialektik des Begehrens eingefügt, denn phänomenologisch wie tiefenpsychologisch betrachtet ist die Angst als Grundaffekt stets ein Zeichen dafür, dass das Subjekt in den schwierigen Bezug von Anfrage/Befriedigung eingetreten ist. Somit äußert jedes Individuum in der Angst etwas Unbedingtes, die absolute Ankünftigkeit des subjektiven Lebens, welche unsere transzendentale Geburt als die nicht zurückweisbare Investitur »zu leben« kennzeichnet. Auch dies muss im Suchtverhalten noch gesehen werden, um die (neurotische) Schuldhaftigkeit gegenüber dem Anderen nicht nur zu einer tödlichen Verdammung werden zu lassen, nämlich als selbstzerstörerischen Verschleiß des eigenen Lebens bis in den physischen Tod hinein – sondern als Anruf des Lebens, auch wenn ein Preis des Verzichts 52 53

Vgl. S. Lippi, Transgressions (2008), 59 f. Vgl. dazu schon unser Kap. I,1 über »Radikale Leiblichkeit«.

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Verlust und Schuld

und Handelns dafür zu zahlen ist. Aber im Unterschied zur stets zu zahlenden Schuld gegenüber dem Anderen (Kastration) haben wir gegenüber dem Leben keine Schuld zu begleichen, da es keine Rückerstattung von uns fordert, sondern sich stets als jenes »Mehr« gibt, welches all unseren Leistungen schon immer voraus liegt, das heißt ebenfalls jeder möglichen Schuldabtragung. Mit Nietzsche gesehen sind Ressentiment und Gewissensbisse gegenüber dem absolut phänomenologischen Leben nicht angebracht, da dieses keine Vergangenheit und Zukunft kennt, in denen ein »Zu spät!« den prinzipiellen – und damit je erneuerbaren – Zugang zum Leben versperren könnte. 54 Wir müssen hier nicht weiter die bekannten Studien von Marcel Mauss (1872–1950) und Georges Bataille zur Gabe als Verschwendung (potlatsch) aufgreifen, 55 um zu verstehen, dass weder im lebensphänomenologischen wie neo-psychoanalytischen Sinne ein absoluter Verlust wirklich möglich ist. In Bezug auf das absolut subjektive Leben als Intensität kann aufgewiesen werden, dass wir dem Leben nichts an Leistung, Schuld, Opfer etc. zurückzuerstatten haben, da es als transzendentale Geburt (Passibilität) niemals von uns substituiert zu werden vermag – wir »freie Kinder« des Lebens sind, bevor wir »Söhne« und »Töchter« von Eltern oder Erzeugern darstellen, welche tiefenpsychologisch (empirisch) die Verstrickung von Geben/Zurückgeben hervorrufen können. Wie also in dieser Hinsicht aus der »unendlichen Schuld« gegenüber den Anderen heraustreten, die oft auch als Schuld empfunden wird, überhaupt zu existieren oder geboren zu sein, wie wir schon in Bezug auf Ödipus sahen, da das »Nein« gegenüber dem Begehren des Anderen nicht möglich war? Zunächst prinzipiell anerkennen, dass der absolute Verlust oder Verzicht als »Rückerstattung« an den Anderen nicht möglich ist, da dieser dann selbst als Andersheit schlechthin verschwinden müsste. Insofern sind Treue wie Verrat in Bezug auf die Verpflichtungen im intersubjektiven Verhältnis immer neu gegeben, aber es bleibt therapeutisch wie existentiell das Paradox auf der tiefenpsychologischen 54 Vgl. R. Kühn, Lebensreligion (2013), Kap. III,7 zu Nietzsches Affekt- und Lebensbegriff im Sinne eines solchen »Mehr« oder »Willens zur Macht« (S. 157–176). 55 Vgl. M. Mauss, »Die Gabe« (franz. Orig. Essai sur le don, 1925), in: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, Frankfurt/M., Suhrkamp 1899, 11–148; G. Bataille, La part maudite précédée par la notion de dépense, Paris, Minuit 1967 (dt. »Der verfemte Teil«, in: Die Aufhebung der Ökonomie, München, Fischer 1985, 7–31), dazu auch J. Derrida, Falschgeld (1993), 54 ff.

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Ebene, dass der vollkommene Verlust ebenso unmöglich wie unausweichbar ist. Willentlich lässt sich in der Tat nicht so viel »zahlen« oder verausgaben, dass man den Anderen »loswird«. Die Lacanschule verlegt daher die Bewegung, den Anderen ertragen zu müssen, gemäß ihrer differentiellen Voraussetzungen der Signifikantenkette in die Bewegung auf den Tod hin, weil dieses Ertragen jedes Mal eine »Passivität« impliziere. 56 Wo daher die Lebensphänomenologie eine unsichtbare oder vor-intentionale Gemeinschaftlichkeit als affektiven Mit-Pathos aufweisen kann, welches unsere Bezüge zueinander nicht als Leben/Tod-Dialektik miteinander zu verrechnen hat, sondern als eine gemeinsame Lebenssteigerung im Sinne der Gegenseitigkeit von »Potenzialitäten« (was Verzicht durchaus einschließen kann), sieht die (Neo-)Psychoanalyse eher einen »Todestrieb« am Werk. In solcher Perspektive wird der Trieb nämlich nie befriedigt, so dass das Ergebnis hier letztlich immer durch Frustration und Misserfolg gekennzeichnet bleibt, welche den Trieb zur Wiederholung antreiben, wie wir bei Lacan schon sahen. In diesem Sinne »befriedigt sich« der Trieb, der den Verlust als Todestrieb mit sich führt, aber dies gerade mit der Unmöglichkeit des Verlustes selbst. Auch nach Freud dauert der Trieb an und zerstört sich nicht (auch wenn seine Intensität variieren kann), während das Begehren (Lust) hingegen unsicher in seiner Erfüllung bleibt. Die »Historisierung« des Triebes über die Erinnerung schließt nach Lacan für die Wiederholung daher nicht nur das Gedächtnis ein, welches die Dialektik Objekt/Ding als Befriedigung und Unerfülltheit umkreist (da »das Ding« ein X ist), sondern fundamental eben auch die Sprache. Diese versucht das Genießen stets aufzulösen oder zu durchbrechen, was möglich ist, da der Diskurs als Schranke gerade keine andere Primordialität als sich selbst kennt, so dass der Trieb zur Transgression wird und das Genießen auf das Verbot stößt – das heißt auf die zuvor dargestellte strukturelle Schuldproblematik, ohne über Verlust und Selbstzerstörung eine wirkliche Lösung herbeiführen zu können. Somit ist die Wiederholung zuzulassen, mit anderen Worten als pathisch-leibliche Selbsterprobung zu leben, ohne sie zur Fixierung des jeweilig selben Objekts (Begehrens) machen zu müssen, denn wenn der Todestrieb im lacanschen Sinne alles Existierende (alle Objekte) in Frage stellt, so ist er damit zugleich auch ein »schöpferischer Trieb«, nämlich Erneuerung oder Wiederbeginn von 56

Vgl. S. Lippi, Transgressions (2008), 65 f.

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Verlust und Schuld

»nichts« aus. 57 Hier ist also der Verlust zugleich auch Expansion des Gefühls im Sinne einer subjektiven Mächtigkeit – und in solchem Bereich ist durchaus ein Genießen möglich, das allerdings insofern »unrein« bleibt, als es noch nicht durch den absoluten Selbstverlust hindurch gegangen ist, das heißt, die primordiale Schuld des prinzipiellen (Sich-)Verfehlens in Bezug auf das Sein/Reale oder auch den »Sinn« noch nicht wirklich eingestanden wurde. Wurde sie realisiert, bleibt der Todestrieb bestehen, aber das (unmögliche) absolute Genießen gibt den Platz frei für ein (mögliches) Genießen mit einem Verlust oder »Rest«: nämlich als jenes Objekt (»klein a«), welches Beweggrund des Begehrens wie der notwendige Rest für das Genießen des Anderen ist. Es wird hier nicht mehr der symbolisch Andere (Vater) mit seiner allmächtigen Struktur »des Dings« (Phallus) gesucht, sondern es etabliert sich über Objekt (»klein a«) eine Vermittlung, welche die Kastration zu integrieren vermag, obwohl sie als Prinzip des Subjekts im Sinne seines »Fehlens-an-Sein« nicht aufgehoben ist, aber auch das »Reale« im Sinne einer im Voraus existierenden »Vertiefung« (bzw. »Loch« oder »Kluft«) nicht mehr imaginär verfehlt. Wir haben solches Verhältnis der Intersubjektivität ohne Last der Schuldneurotik bereits in früheren Zusammenhängen als den fundamentalen Unterschied von Aussage/Ausgesagtem mit Blick auf die »Offenheit für den Anderen« dargestellt, um hier zum Schluss festzuhalten, dass sich gesellschaftlich gesehen verschiedene Diskurse um diese Schuldproblematik artikulieren, die nach Lacan der Diskurs des Herrn, der HysterikerInnen, der universitäre und der analytische Diskurs sind. 58 Jedes Mal ist dabei das »geteilte« Subjekt in seinem Verlust (Schuld) anders betroffen, wo die »Mehrlust« (parallel zum »Mehrwert« nach Marx) als Verlust des Genießens im Kapitalismus einer Kritik zugeführt werden kann. 59 Denn der Mehrwert, der zum Genießen (Lohn) notwendig ist, bedeutet zugleich Entfremdung (Arbeit als Ware), welche als Schmerz gleichzeitig Symptom eines unendlichen »Profits« ist, der seine Schuld nicht eingestehen will und deshalb neo-liberal wie als Globalisierung Wiederholung bleibt – mit der zerstörerischen Gefahr, als Markt alles für sich zu sein und besitzen zu wollen. Auch wenn dies hier nur kurz Vgl. J. Lacan, Le Séminaire VII: L’éthique de la psychanalyse (1986), 251 f. Vgl. S. Lippi, Transgressions (2008), 67 f. 59 Vgl. auch N. Braunstein, La jouissance. Un concept lacanien, Paris, Point hors ligne 1992. 57 58

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6. Konkretionen therapeutischer Praxis

angedeutet werden kann, wird zumindest greifbar, dass die neurotischen Strukturen individuell wie gesellschaftlich sich untereinander verstärken können, so dass eine »Ethik« nicht nur eine Frage in Bezug auf die analytische Schuldproblematik ist, sondern ein allgemein kulturelles Anliegen darstellen dürfte, aber die grundsätzliche Frage aufwirft, wie sie angemessen tiefenpsychologisch sowie transzendental phänomenologisch in den öffentlichen Diskurs eingeführt werden könnte, der weitgehend vom Herr/Knecht-Verhältnis bestimmt bleibt. Für den therapeutischen Rahmen, der hier im engeren Sinne der unsrige ist, soll daher im Folgenden die Untersuchung von Übertragung/Gegenübertragung nicht nur als ein zentrales methodisches Problem von Analyse/Therapie dargestellt werden, sondern ebenfalls als ein möglicher Hinweis auf ein erweitertes Ethikverständnis, so wie wir dies auch schon programmatisch in unserem Kapitel zum »Klinischen Blick« hervorgehoben hatten.

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Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

1. Übertragung und Gegenübertragung Da die Lacanschule die Originarität der Subjektivierung des Selbst nicht zuallererst den Gefühlen zuschreibt, sondern der Signifikantenkette, ist nach dieser Auffassung auch die Übertragung nicht in einer Modalisierung von Gefühlen seitens des Patienten verankert. Vielmehr ist die Übertragung nach solcher Voraussetzung eine Art der in der Analyse/Therapie auftretenden Reproduktion oder Wiederholung, welche allerdings weitgehend vom Subjekt nicht bemerkt werde, weshalb auch Kritik an der Inflation des Begriffs der Übertragung innerhalb der zeitgenössischen Psychoanalyse angebracht sei, weil er fast alles bezeichne, was sich in der analytisch-therapeutischen Praxis ereigne. Freud hatte den Übertragungsbegriff nämlich zunächst 1905 in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« eingeführt, um damit auf »Neuauflagen und Nachbildungen von den Regungen und Phantasien« hinzuweisen, die während der Analyse entstehen, wobei eine frühere Person durch die Person des Arztes oder Analytikers ersetzt werde. Dadurch werden einstige psychische Erlebnisse nicht als vergangen erlebt, sondern als aktuelle Beziehung zum Analytiker/Therapeuten, und auf der perzeptiven Ebene kann es sich hierbei um visuelle, auditive, olfaktorische, taktile Wahrnehmungen handeln, die den Analysanden/Patienten an manche Merkmale beim früheren Elternteil oder auch an andere wichtige Personen aus der Vergangenheit erinnern. Dabei muss es kein reales Merkmal des Therapeuten sein, welches etwa an den Vater oder die Mutter erinnert, sondern es reicht etwa, überhaupt eine Nase oder ein Auge zu haben, die vielleicht im Tageslicht so oder so erscheinen, um vom entsprechend erinnerten Elternteil her reproduktiv projiziert zu werden, weil der Patient vielleicht gerade mit einem inneren Eindruck affektiv wie bedeutungsmäßig stark zu kämpfen hat, der mit dem aktuell gesehenen Gesichts399 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

merkmal imaginär in Verbindung steht. Es können jedoch auch äußere Merkmale wie Alter, Kleidung, Accessoires etc. sein, bzw. ebenfalls das verwandte Vokabular und die Art zu sprechen oder die Lage und Einrichtung der Praxis, welche besondere sozio-ökonomische, (sub-) kulturelle oder semiotische Kontexte aus der Vergangenheit oder Gegenwart für den Patienten evozieren. Dies kann im Letzten dem Therapeuten nicht alles bewusst sein, aber der Analysand oder Patient hat natürlich die »Freiheit«, all diese für ihn mit Wertehinweisen versehenen Zeichensysteme für sich gemäß seiner Apperzeption zu lesen sowie entsprechend zu interpretieren und affiziert zu sein. Auch können selbstverständlich körperliche oder emotionale Erscheinungsweisen des Therapeuten ähnlich wahrgenommen werden, also zum Beispiel unruhige Hände und Blicke, Muskelanspannungen oder Befürchtungen bis in die Stimme hinein, die den Patienten dann an die schon erwähnten Personen seiner eigenen Vergangenheit erinnern, und solche »affektiven Effekte«, wie Bruce Fink 1 sie nennt, sind dann nicht so sehr mit Bildern und Zeichen als vielmehr mit den libidinösen Besetzungen verbunden. Prinzipiell muss und kann der Therapeut gar nicht alles fühlen, was der Analysand empfindet, sondern in vielen Fällen finden emotionale Projektionen auf ihn statt, welche auf frühere und aktuelle Irritationen verweisen und gerade in der Therapie wieder hervorbrechen. Freud mag nicht all diese perzeptiven, semiotischen wie affektiven Implikationen als Nährboden für den hier untersuchten Übertragungsprozess im Auge gehabt haben, aber sicherlich hat er nicht all diese Möglichkeiten in ein einseitiges Schema von der Abfolge »positiver und negativer Gefühle« gepresst, wie ein heute weit verbreitetes Verständnis von Übertragung lautet und für fast jedes Gefühl verwandt wird, welches der Patient gegenüber seinem Therapeuten empfinden kann. Wir möchten daher die Komplexität des Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehens näher beleuchten, weil wir es auf der einen Seite für zentral für die therapeutische Praxis überhaupt halten und andererseits dem »affektiven Austausch« als »Mit-Pathos« eine fundamentale Rolle hierbei zuschreiben können. Denn das »Gefühl« impliziert eine radikal phänomenologische Grundbeziehung, die kaum von der alleinigen Signifikanten- und Zeichenanalyse beantwortet werden dürfte, welche weitgehend dem »Spiegelstadium« als Grundkonzeptualisierung 1 Vgl. Grundlagen der psychoanalytischen Technik. Eine lacanianische Annäherung für klinische Berufe, Wien/Berlin, Turia & Kant 2013, 187 f.

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Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

verhaftet bleibt, insoweit das »vergangene X der Strebungen, Triebe und Begehren« seit der Kindheit unbekannt ist. 2 Damit ist die Übertragung nach Freud und Lacan Wiederholung der vergessenen Vergangenheit innerer Tendenzen und bezieht sich in ihrer möglichen empirischen Totalität von der Wahrnehmungsebene bis zur Semiotik auf die verschiedenen Register des Symbolischen, Imaginären und Realen im therapeutischen Prozess gleichzeitig. Auch wenn der Analysand/Patient hierbei seine Gefühle kaum offen kundtun sollte und sich trotz allem kooperativ verhält, kann seine innere Haltung dennoch durch heimlichen Protest oder auch Misstrauen gekennzeichnet bleiben, wie sie gegenüber Vater und Mutter empfunden wurden. Ebenfalls kann der sehr häufige Fall eintreten, dass das Verhältnis zu dem einen oder anderen Elternteil in der Vergangenheit als sehr gut bezeichnet wird, aber das Leben des Patienten verlief dennoch mit sehr viel Unterlassungen in Bezug auf Beruf und Beziehungen, was auf unbewusste Verdrängungen hinweisen und in der Therapie zu oppositionellen Verhaltensweisen führen kann, etwa Verspätungen, Schweigen etc., wenn etwas am Therapeuten den Patienten an die Vergangenheit erinnern sollte. Er kann sogar möglicherweise gute Gründe für sein Verhalten anführen, aber ein »unbewusster Groll« gegenüber dem früheren Vater ist noch nicht wirklich zum Gefühl geworden, denn ein Gefühl muss auch rein phänomenologisch gesehen effektiv gefühlt werden, um als solches aktualisiert zu werden. Die Übertragung offenbart sich also schon hier als sehr komplex, denn es spielen Symptome, Affekte und Vorstellungen dabei ineinander, die eine komplizierte Familienstruktur von einst oder sonstige extreme Lebenssituationen widerspiegeln, so wenn etwa in der aktuellen Therapiesitzung eine Patientin sehr viel schweigt, weil sie früher einmal von einem Arzt vergewaltigt wurde – und sich dabei still verhielt, während ihre Mutter im Warteraum saß und nichts vernehmen sollte. Trotzdem hielt das Schweigen auch nach dieser Offenlegung hartnäckig an, bis sich über Träume herausstellte, dass dieselbe Patientin in der Kindheit ebenfalls von ihrem Vater missbraucht worden war. Das Schweigen hatte daher zugleich die Funktion, den Vater nicht zu verraten, und damit auch nicht die durchlebte Komplizenschaft gegenüber der Mutter. Hieraus wird bereits sichtbar, dass die Übertragung nicht bei der einfachen FeststelJ. Lacan, Le Séminaire VI: Le désir et son interprétation, Paris, Éditions de la Martinière 2013, 261 f.

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Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

lung eines vorhandenen oder noch nicht gegebenen Gefühls Halt machen kann, sondern Haltungen, Phantasien, Triebe, Abwehrmechanismen zu integrieren sind, die vielleicht nicht mehr gegenwärtig direkt zur Patientin selbst gehören, aber sich doch auf frühere Personen bezogen, um jetzt wieder aktuell zu werden. Daher kann man mit Lacan 3 sagen, dass Übertragung dann vorliege, wenn das vom Subjekt geforderte Bild »sich mit der Realität, in der es angesiedelt ist, vermischt«. Die Therapie besteht also nicht darin, ununterbrochen den Patienten zu fragen, wenn er etwas von sich berichtet hat: »Und wie haben Sie sich dabei (oder daraufhin) gefühlt?« Denn oft fällt es ihm schwer, etwas zu artikulieren, was zuvor noch nie bei ihm in die Sprache gefunden hat, und nicht jedes Schweigen bedeutet daher einen Widerstand oder eine negative Übertragung auf den Therapeuten. Entscheidender ist es dann vielmehr herauszufinden, welche frühere Situation der Analysand gerade möglicherweise wiedererlebt, denn es ist prinzipiell nicht auszuschließen, dass Widerstände ebenfalls seitens des Therapeuten entstanden sind, weil er vor gewissen Schwierigkeiten (die ihn vielleicht an seine eigene Lage erinnern) den Kopf in den Sand steckt, um solche Schwierigkeiten nicht sehen zu müssen, auch wenn etwas den Verlauf der Therapie im Augenblick offensichtlich stört. Ob es sich nun um das Aufsuchen einer Verdrängung handelt (Psychoanalyse) oder um die Intuition einer neuen individuellen Sinnmotivation (Existenz- und Daseinsanalyse), der Affekt kann indessen in allen Fällen helfen, Material für das Verständnis des Begehrens und der Vorstellungen bzw. Gedanken herbeizuführen, die dann genauer als »psychischer Komplex« voneinander zu trennen sind. Denn der Patient vermag sich beispielsweise lebhaft an vergangene Ereignisse, etwa aus der Kindheit, erinnern, nicht aber an die damaligen Gefühle, obwohl der gegenwärtige Konflikt ebenfalls eine starke Verdrängung anzeigt, insofern sein Begehren und ein möglicher Sinn stark mit Angst dabei verknüpft sind. Diese Angst wäre dann der Weg zunächst, um eine verdrängte Vorstellung und den damit früher und jetzt verbundenen Affekt wieder zu finden, denn nach Freud ist gerade die Angst »die allgemein gangbare Münze, gegen welche Affektregungen eingetauscht werden, wenn der dazugehörige Vorstellungsinhalt der Verdrängung unterlegen ist«. 4 3 4

Das Seminar I: Freuds technische Schriften, Berlin, Quadriga 1990, 302. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916–17), GW 11, Frankfurt/

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Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

Die Angst als Lebensäußerung der reinen Subjektivität par excellence, der immer nachzugehen und von Furcht und Phobien zu unterscheiden ist, sagt uns jedoch nicht ohne weiteres, wo das ursprünglich verdrängte Begehren zu suchen bleibt, ebenso wenig eine augenblickliche Trauer, so dass sich der Patient manchmal damit auch zufrieden geben kann, überhaupt eine emotionale Stimmung in sich zu erleben, ohne weiterfragen zu wollen. Angst und Trauer als Beispiele hier sind daher ebenfalls nicht nur als Übertragungsanzeichen für die Beziehung zwischen Patient/Therapeut anzusehen, sondern außer der tiefenpsychologischen Möglichkeit einer frühen Verdrängung ist ebenfalls lebensphänomenologisch auf den Zusammenhang von Angst und Trauer mit dem imaginären Bild vom »Selbst« einzugehen, insofern das intentionale Ich sich langsam einer radikalen Passibilität nähert, die nicht mehr willentlich zu beherrschen oder zu kontrollieren ist. Reduktiv betrachtet sind daher alle dogmatischen Theoretisierungen einer einseitigen Technik in der Therapie beiseite zu lassen, um die schmerzhaften wie erfreulichen Affektäußerungen (bzw. das Schweigen und die Widerstände) nicht auf der Ebene jener Anlässe zu belassen, welche gerade in der häufigen neurotischen Übertragung fast immer wieder als Wiederholung neu belebt werden, um das eigene psychische Sicherheitssystem (Ich- oder Persönlichkeitsideal) nicht brüchig werden zu lassen. Somit ist zwar die Übertragung ein zentrales Phänomen der Therapie überhaupt, aber wenn man zusätzlich hier das Beispiel des aufkommenden »Verliebtseins« während einer therapeutischen Beziehung nimmt, dann zeigt dies ergänzend, wie alltägliche Übertragungen auch im sonstigen Leben stets stattfinden. Gerade beim ersten Kennenlernen kann mir jemand unmittelbar sympathisch sein und es entwickelt sich dann ein nicht weiter begründetes Vertrauen vielleicht, weil der eine oder der andere sich dabei an früher von ihm geliebte Personen erinnert fühlt, die gleichfalls als sympathisch empfunden wurden. Solche Merkmalsübertragungen als »Verliebtsein« (oder ihr Gegenteil wie Aggression, Scham und Abneigung) können auch in der Therapie häufig stattfinden, wobei eine Steigerung von heftigen Projektionen begehrenswerter Eigenschaften auf den Anderen nicht ausgeschlos-

M., Fischer 1940, 318. Über die Angst als radikal phänomenologischen Grundaffekt vgl. ebenfalls mit Bezug auf Freud die Analyse von M. Henry, Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, hier bes. 371 ff.

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Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

sen ist – etwa zu einem homosexuellen Partner werden zu wollen, selbst wenn der Therapeut heterosexuell ist und dies bei der notwendigen Gelegenheit auch klar äußerst, ohne den Affekt in solcher Projektion selbst zu verdammen. Das heißt, solche Gegenübertragungen sollten prinzipiell aufgegriffen und gemeinsam untersucht werden, um außer nach den Projektionsmechanismen auch nach den Idealisierungstendenzen zu fragen, deren Objekt der Therapeut ist, um auf diesem Wege frühere Identifikationen besser mitempfinden und verstehen zu können. In einer Therapie erscheint daher vieles zunächst als »inkohärent«, tritt oft nur flüchtig auf, aber gerade in diesen scheinbar widersprüchlichen und unbedeutenden Augenblicken ergeben sich oft die Chancen für die »Wende« in einer Ek-sistenz, mit anderen Worten als ein Heraustreten aus zutiefst eingeübten Wiederholungen, und dies dank eines plötzlich ganz neu auftretenden Gefühls, einer zugestandenen oder erkannten Übertragung bzw. einer vollzogenen Zusammenführung von eigener subjektiver Wahrheit und Realität. In all diesen Hinsichten bedeutet die Gegenübertragung mehr als einen vom Therapeuten gewollten und unterstützten inter-subjektiven Bezug, nämlich eine Intervention, die sich nicht nur damit zufrieden gibt, dass der Patient während der ganzen Sitzung hat sprechen und der Therapeut sich dazu hat seine Gedanken machen können, welche die nächste Sitzung möglicherweise vorbereiten. Die Gegenübertragung unterbricht vielmehr auch die Gefahr, dass der Patient über sein Sprechen in einem gewissen »Genießen« verharrt, um eine bestimmte Sitzungsdauer nur als ein Spiel zu füllen, was dann besser zu unterbrechen wäre, um die wenigen kostbaren Momente darin fruchtbar zu machen, die sich über Schweigen, Unterbrechen oder Versprechen flüchtig ankündigten – mithin im Sinne einer intervenierenden oder punktierenden Gegenübertragung, welche im Sinne der Lacanschule auch die Skandierung der Sitzung sein kann. Der Wechsel zwischen den verschiedenen Interventionsebenen, als die man das Existentielle, Projektiv-Imaginäre, Sprachlich-Symbolische und Affektiv-Begehrende (einschließlich des jeweils Verdrängten) bezeichnen kann, muss daher nicht nur – wie beim Verliebtsein oder Enttäuschtwerden – durch bestimmte persönliche Merkmale des Therapeuten bestimmt sein. Geht man nämlich davon aus, dass der Analysand/Patient zumeist unter Leidensdruck eine Therapie beginnt, so bringt er außerdem (bei allen aufkommenden Zweifeln unter Umständen) eine gewisse Hoffnung mit, weil er davon ausgeht, dass der Therapeut über 404 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

ein größeres oder besseres Wissen verfüge, um Antworten auf die tatsächlichen oder imaginären Schwierigkeiten zu finden. Es hilft wenig, wenn der Therapeut dann öfters festhält, ein solches Wissen nicht zu besitzen, sondern selbst nur ein bestimmtes Begehren (Eros) mitzubringen, das er als Subjekt nicht aufheben kann. Er muss dann dieses (Nicht)-Wissen als sein Begehren wirklich investieren, um über solche Reduktion den Patienten zu dessen eigenem Ort des (Nicht-)Wissens oder der Passibilität zu leiten, wo eine subjektiv erprobte Begegnung mit dem nicht länger imaginär besetzten Ich als »Mich« stattfinden kann, was bei neurotischen Patienten manchmal viel Zeit braucht, weil diese gerade von ihrem Glauben an das Wissen des Therapeuten als Motiv für die Weiterführung der Kur zehren. Wenn also nicht alles in der Therapie Übertragung sein muss, sondern eine Komplexität von Ordnungen bzw. Registern, und der Blick für sich flüchtig offenbarende Momente der tieferen »Wahrheit« des Patienten im Vordergrund steht, so sollte des Weiteren bedacht werden, dass der Therapeut für den Patienten zunächst weniger bekannt ist als die meisten anderen Menschen seines Alltagslebens. Mit diesen wird er einerseits kooperativ und andererseits rivalisierend oder unterwürfig umgehen; aber anzunehmen, dass der Patient mit allen Menschen so umgeht, wie er es durch Projektionen und Übertragungen mit dem Therapeuten fast zwangsweise tut, um eine Beziehung mit ihm aufzubauen oder aufrecht zu erhalten, die eine gewisse Dauer ermöglicht, ist kaum plausibel. Insofern ist nochmals zu unterstreichen, dass der Analysand nicht immer darauf aus ist, Gefühle der Erniedrigung oder Wertlosigkeit zu vermitteln bzw. Bestätigung zu erhalten, sondern es kann sehr wohl sein, dass gerade die unbewusste oder mitgeteilte Gegenübertragung des Therapeuten durchaus für Verärgerung, Schweigen und Scham seitens des Patienten verantwortlich sei. Es besteht also eine Gefahr darin, prinzipiell in allem von einem »Minderwertigkeitskomplex« oder der »projektiven Identifikation« beim Patienten auszugehen, bzw. von einem Interagieren, welches den charakteristischen Funktionsweisen mit Anderen beim Patienten entspräche. Hier dürfte eher eine einseitige Theoretisierung am Werk sein als die geduldige phänomenologische Aufmerksamkeit für sehr nuancenreiche Modalisierungen im immanent selbstaffektiven Leben eines jeden Patienten, die zum Auslöser von weiterführenden Beobachtungen und Fragen werden können. Mit anderen Worten bedeutet dies, nicht ängstlich oder abwehrend auf mögliche Gegenübertragungen fixiert zu sein (und eher 405 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

Humor 5 walten zu lassen), sondern einen lebendigen Austausch zu fördern, der alle Dimensionen des Existierens anerkennt und zum Ausdruck kommen lässt, anstatt sich nur auf das »Unbewusste« zu kaprizieren, was einer gewissen Hypostase des Menschen und Wirklichen als »Leben« schlechthin gleichkäme. Austausch will nicht besagen, dass der Therapeut vor dem Patienten bei der einen oder anderen auftauchenden Schwierigkeit »sein Herz ausschüttet«, wie etwa bei Verspätungen und Schweigen. Da es wohl kaum möglich sein dürfte, »subjektive Gegenübertragung« von »objektiver Gegenübertragung« streng zu unterscheiden, wie Winnicott 6 es vorschlug, scheint es ratsamer zu sein, die eigenen Gegenübertragungen für sich jeweils »durchzuarbeiten«. Denn nicht nur bleibt der Patient in gewisser Weise der »radikal Andere«, das heißt die Aufhellung des Unbewussten (immanentes Begehrens) immer unvollendet, sondern auch aufseiten des Therapeuten bleibt die Summe aller Vorurteile, Leidenschaften, Schwierigkeiten und Informationslücken gegeben, 7 welche die Problematik der Gegenübertragung daher zusätzlich zu einer ständigen Frage notwendiger Supervision machen. In diesem Zusammenhang ist ähnlich wie bei einer zu einseitigen Theoretisierung der therapeutischen Technik auch daran zu erinnern, dass bestimmte Begrifflichkeiten ebenfalls dogmatische Vorentscheidungen und Scheuklappen transportieren können, was im schlimmsten Fall dazu führen kann, nur jeweils eine psychotherapeutische oder analytische Referenz gelten zu lassen und im gegenteiligen Fall nach jeder Sitzung eine neue Konzeptualisierung aufzusuchen. In diesem Sinne ist ein pauschalierender Satz wie: »Die Geschichte des Subjekts ist nichts anderes als eine Geschichte sukzessiver Trauerarbeit«, 8 ebenso einseitig wie der Versuch, das Leben nur auf eine selbsterotische oder narzisstische Suche des Glücks oder der Lust verkürzen zu wollen, da Trauer wie Freude aus ein und demselben Leben herrühren und von daher in ihrer Einheit zu verstehen bleiben – und dies in

Vgl. M. Titze u. R. Kühn, Lachen zwischen Freude und Scham. Eine psychologischphänomenologische Analyse der Gelotophobie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2010, 148–154, über »therapeutischen Humor« und seine Methoden. 6 Vgl. Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Aus den »Collected Papers«, Frankfurt/M., Fischer 1997, 78 f. 7 Vgl. J. Lacan, Das Seminar V: die Bildungen des Unbewussten, Wien, Turia & Kant 2006, 237 f. 8 Vgl. S. Lippi, Transgressions. Bataille, Lacan, Paris, Érès 2008, 147. 5

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Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

einem gemeinsamen phänomenologischen wie tiefenpsychologischen Bemühen als therapeutischem Gesamtrahmen. Trotz aller »Verliebtheit« in den Therapeuten, was wir auch so ausdrücken können, dass der Patient ihn als eine hilfreiche und kompetente Person erlebt, kann es sein, dass der Patient selber diese »Übertragung« in seinen Gefühlen und Erinnerungen an frühere Personen gar nicht als eine solche Übertragung erlebt. Sein Hingezogensein auf den Therapeuten ist sozusagen im Augenblick gefangen, ohne irgendeine Art Abstand zu diesen Gefühlen zu kennen. Deshalb hat Freud sagen können, dass man sich nicht als Analytiker um jede Übertragung zu bekümmern habe, »solange sie zugunsten der gemeinsam betriebenen Analyse wirkt«. 9 Anstatt also dahinter letztlich stets den Widerwillen einer negativen Übertragung zu vermuten (wie nach Ferenczi oder Reich), sollte diese libidinöse Energie nicht neutralisiert oder aufgelöst werden, solange der Patient dabei fortfährt, sich im therapeutischen Prozess wirklich zu verändern und sein Leben anders zu orientieren, ohne Beschwerliches auf diesem Weg zurückzuweisen. Sicher darf man in solchem Zusammenhang darauf hinweisen, dass einst die Psychoanalyse mit der talking cure zwischen Anna O. (Bertha Pappenheim) und dem jungen Arzt Joseph Breuer begonnen hat, der ihr zu allen Stunden Hausbesuche abstattete und dann länger mit ihr sprach. 10 Unabhängig von stärker oder schwächer ausgeprägten erotischen Aspekten hierbei kann man davon ausgehen, dass Anna O., die sonst kaum mit Anderen sprach, intuitiv einer für sie positiven Spur folgte, nämlich dass ein angesehener Arzt sich um sie kümmerte. Der Glaube der Patienten, dass ihnen geholfen werden kann, ist also weniger zu untergraben, als diesen Glauben, der auch eine Hoffnung ist, als Therapeut positiv zu nutzen, ohne dass der Therapeut allerdings sein Wissen im Sinne eines Phantasmas der Allmächtigkeit dabei lebt, was dem Wesen der Autonomie und Selbstfindung im therapeutischen Prozess zutiefst widerspräche. Der Versuch, lästige Aspekte der Übertragung abzuschwächen, wenn man als Therapeut selbst davon betroffen ist, und zwar durch Kommentare oder Deutungen innerhalb der Übertragung selbst, bleibt also problematisch. Nach Freud stand eine Deutung der Übertragung als »heikelste aller Prozeduren« dann an, wenn eine bislang 9 10

Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1940), 81. Vgl. S. Freud u. J. Breuer, Studien über Hysterie (1893–94), Wien, Outlook 2013.

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Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

nicht weiter störende Übertragung zum Widerstand geworden war. 11 Eine Deutung der Übertragung allerdings, die vom Therapeuten auf den Patienten ausging, bietet daher keinen Weg aus der Übertragung, sondern reproduziert dieselbe bloß. Denn nach Lacan kann man keine »Metaposition« in der Übertragung annehmen, da auch eine Deutung so gehört wird, wie der Patient sie zu hören gewohnt ist: kritisch, wenn er den Therapeuten mit einem kritischen Elternteil assoziiert, verführend, wenn ihn die Identifikation mit seiner wohlwollenden Mutter leitet. Vermag es mithin keine »Übertragung der Übertragung« zu geben, dann besteht auch keine Möglichkeit, vollständig aus der Übertragung herauszutreten, um darüber etwa im Sinne einer »Metakommunikation« sprechen zu wollen. 12 So wenig eine Unterscheidung für den Therapeuten im Sinne einer »objektiven« und »subjektiven Übertragung« auf den Patienten letztlich möglich ist, so wenig dürfte daher auch eine strenge Unterscheidung vom »erlebenden« und »beobachtenden Ich« hinsichtlich des Patienten möglich sein, um ihm auf einer postulierten »rein vernünftigen« Ebene begegnen zu können. Gibt es insgesamt gesehen daher kein Heraustreten aus Übertragungsbeziehungen in der Therapie, dann muss jede Form von »Rationalität« in solchem Rahmen als sehr problematisch angesehen werden, da der Gegensatz zur »Irrationalität« ein wiederum rationales Vorurteil voraussetzt, nämlich die Beweisbarkeit oder Verifikation von allem, während Tiefenpsychologie und Lebensphänomenologie gerade aufweisen können, dass Vorstellung und Trieb bzw. Affekt prinzipiell unterschiedlichen Erscheinensweisen gehorchen. Der Entweder/Oder-Logik eines Neurotikers sowie der Sowohl/Als auchLogik eines Perversen bzw. der Weder/Noch-Logik in der Psychose mit einer als »allgemein« rational angenommenen Logik antworten zu wollen, widerspräche diesen unterschiedlichen phänomenologischen Erlebnis- und Erscheinensweisen, weshalb in der Therapie insgesamt – und speziell für die Übertragungsphänomene hier – von anderen Begrifflichkeiten wie »vernünftigem, rationalem« oder auch »gesundem Teil« im Patienten ausgegangen werden sollte (was deren Existenz in anderen Bereichen der Person nicht negiert). Denn es liegt Vgl. Zur Einleitung der Behandlung (1913), GW 8, Frankfurt/M., Fischer 1943, 454–478, hier 472. 12 Vgl. J. Lacan, Schriften I, Freiburg/Olten, Walther 1973, 179; Das Seminar V: Die Bildungen des Unbewussten (2006), 505. 11

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die Vermutung nahe, dass solche Begriffe nur auf eine Übereinstimmung mit dem Therapeuten abzielen, um den als »hinderlich« erlebten Aspekten bei der Übertragung aus dem Wege zu gehen. Außerdem implizieren therapeutische Annahmen von Rationalität, objektiver Beobachtung etc. eine Sichtweise vom »gesunden« Verhalten des Patienten, vor allem ein zusätzliches »objektives« Wissen von sich selber als Patient zu erwarten. Aber die tiefenpsychologische Erfahrung lehrt, dass ein Wissen um seelische Bedingungen und Verhältnisse noch keine wirkliche Veränderung beinhaltet, die über eine innere affektive Erprobung als subjektiv wahr und angemessen erlebt werden muss, was auch für jeden neuen oder situativen »Existenzsinn« gilt. Einen rationalen oder gesunden Teil eines Individuums im Realen anzusetzen, um gemeinsam dann in der Therapie »vernünftig« zu beurteilen, was in der Übertragung vor sich gehe, ist kaum förderlich, denn der »gesunde Teil« ist möglicherweise gerade das, was sich dem therapeutischen Zugriff (unbewusst) verbirgt, um ein tieferes Begehren erscheinen zu lassen, welches der subjektiven Lebenswahrheit des Patienten mehr entspricht. Übertragungen zu deuten, ist demzufolge nicht prinzipiell als eine Möglichkeit auszuschließen, aber die Deutung kann Interaktionsmuster, die sich herausgebildet haben, auch nur bestätigen, anstatt sie aufzulösen oder mit Blick auf die weitere Therapie zu verändern. So kann eine Deutung auf homosexuelle Tendenzen bei einem Analysanden, der entsprechende Annäherungen seitens des Therapeuten schon länger für sich vermutete, als Bestätigung für seine (wenn auch ungerechtfertigte) Vermutung aufgefasst werden. Oder falls eine Rivalität empfunden wird, kann jede Deutung als Aufforderung zu einem weiteren (eventuell theoretischen) Wettstreit verstanden werden, bei dem es um Sieg oder Niederlage zwischen Patient und Therapeuten geht. Ähnlich können Deutungen auch als Überheblichkeit und Besserwisserei aufseiten des Therapeuten empfunden werden, was mit dem Gefühl verständlicher Herabsetzung und Beschämung einhergehen dürfte. Mit anderen Worten befindet sich der Therapeut niemals in einer neutralen Außenposition, sondern was er sagt (oder auch nicht sagt), erscheint für den Patienten in jener Perspektive, in der er den Therapeuten sieht und erlebt. Therapeutisch/psychoanalytisch muss also durchaus ein Bewusstsein dafür vorhanden sein, dass Deutungen die Übertragung nicht immer beseitigen und aufheben, sondern durchaus noch heftiger werden lassen können, so dass die »Übertragungsneurose« immer schwieriger 409 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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zu handhaben ist und die letztlich entscheidende »dritte Genealogie« der radikalen Verschränkung von Affekt/Schmerz als »ursprüngliches Trauma« nicht mehr berührt zu werden vermag. In der alltäglichen Vorgehensweise therapeutischer Praxis kann man vielleicht nie aus diesen Schwierigkeiten gänzlich heraustreten, aber es scheint dennoch angezeigt, im Allgemeinen nur sehr kurze Deutungen zu geben, wenn es sein muss, und diese ausgehend von den eigenen Worten des Patienten her zu formulieren. Wird zusätzlich das einleitende »Ich denke« oder ähnliche Formulierungen für eine deutende Aussage fortgelassen, dann ist der Urheber der Deutung nicht mehr so einfach gegeben, und es dürfte dann dem Patienten auch nicht mehr so leicht fallen, sie als Übertragung seitens des Therapeuten zu empfinden und entsprechend zurückzuweisen. 13 Außerdem empfiehlt die Lacanschule in der Verlängerung der Hinweise von Freud, vor allem auf Fehlleistungen, Wortverwechselungen, unvollendete Sätze und Besonderheiten im Sprachgebrauch der Patienten zu achten, um aus solchem empirisch-linguistischen Material indirekte Hinweise auf Übertragungen zu gewinnen, welche der Gefahr entgehen, die Übertragung zum letzten Strohhalm einer Sitzung zu machen. Letzteres mag auch vermehrt durch die Tendenz zu Kurzzeittherapien induziert sein, insofern hierbei aus Zeitgründen nicht so ausführlich auf die Vergangenheit des Patienten eingegangen werden kann. Auch das Fragen nach (Tag-)Träumen und Phantasien kann die Fixierung auf die ausschließliche Übertragung lockern, aber wenn es bei einer Übertragungsliebe oder einem Übertragungswiderstand länger bleibt, dann stellt sich die notwendige Frage, warum sie sich gerade zu diesem bestimmten Zeitpunkt der Analyse manifestieren? Vielleicht konnte der Patient eine traumatische Erfahrung vorher nicht gleich in Worte fassen oder es hat ihn frustriert, über etwas Bestimmtes zu sprechen, so dass seine Aufmerksamkeit von seiner Problematik auf den Therapeuten als Person abschweifte. In diesem Fall hat der Widerstand gegenüber der Arbeit zur Versprachlichung (Symbolisierung) erst zur Übertragung geführt, um sich von einem Problem abzuwenden, mit dem sich der Patient trotz allem innerlich herumschlägt. Mit anderen Worten wirkt die Übertragung hier als Hindernis für das Erinnern als solches, um das Zusammentreffen mit einem Unbewussten zu ermöglichen, wie es an sich wünschenswert wäre. Hier sollte der Therapeut erkennen, dass die Übertragung 13

Vgl. B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik (2013), 208 ff.

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als Ablenkung vom »pathogenen Komplex« (Freud) fungiert, was eine therapeutische Feinarbeit erfordert, da es in solchen Situationen immer wieder neu zu Übertragungen kommt, nämlich als ein Zögern des Patienten, gewisse Dinge vor dem Therapeuten auszusprechen, weil er Angst, Herabsetzung oder Kritik seitens desselben befürchtet. Hier wäre dann die Übertragung ein Produkt des Widerstandes und nicht der Widerstand als solcher innerhalb einer Übertragung, da vor allem die Aufmerksamkeit von der Sache auf die Person des Therapeuten verlagert wurde. Je besser es dem Therapeuten gelingt, seine eigenen Gegenübertragungen auf ein Minimum zu reduzieren, um dadurch den gemeinsamen therapeutischen Prozess in den Mittelpunkt treten zu lassen, desto mehr wird sich der Patient wohl auch nur hierauf beziehen können – und weniger auf die Person des Therapeuten. Denn die Therapie ist immer ein intersubjektives Geschehen, aber von einer besonderen Art, insofern sich hier nicht zwei unterschiedliche Subjekte mit all ihren Projekten und Anliegen begegnen, sondern eine solche Begegnung sollte auf ein subjektives Leben fokussiert sein, welches nicht ausschließlich in interpersonale oder dialogische Verbindungen aufgeht. 14 Vielmehr betrifft das therapeutische Ereignis ein rein immanentes oder pathisches Leben als Subjektivität, welche die eigentliche Wirklichkeit im Sinne von allem Erscheinen betrifft, was mehr darstellt als nur die sichtbare biographische Geschichte. In gewisser Weise tritt dadurch der bloß empirische Teil des jeweiligen Individuums zurück, und damit schließlich auch die existentiellen und unbewussten Verzweigungen von Sinn/Begehren, um diesseits von machtfreier Subjekt-Subjekt-Perspektive die transzendentale Geburt der immanenten Subjektivität zur intensiven Erprobung werden zu lassen, die keinem Objekt als Wertreferenz für diese Selbstbestimmung mehr unterliegt – und damit eben auch keinen rein psychischen Übertragungsgesetzen mehr. Man könnte folglich sagen, dass die eigentliche »Übertragung« das Sich-Übertragen des Lebens auf die in ihr radikal geborene Subjektivität bildet, wodurch diese »Übertragung« des Lebens als dessen unzurückweisbares Ankünftigwerden zu einer stets lebendigen Reziprozität wird, welche das Wesen der therapeutischen (wie auch alltäglichen) Übertragung/Gegenübertragung als Vollzug ursprünglicher Gemeinschaftlichkeit sein dürfte. Vgl. auch J.-A. Miller, »Contre-transfert et intersubjectivité«, in: La cause freudienne 53 (2003) 7–39.

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Die empirisch psychischen wie intersubjektiven Gesetzmäßigkeiten als Triebschicksal, Verdrängung, Symbolisierung etc. sind dabei nicht aufgehoben, aber was als phänomenologische Ermöglichung all dessen zählt, ist die selbstaffektive Präsenz des Lebens mit seinen ununterbrochenen Modalisierungen. Das heißt, in der je spezifischen Modalisierung vermag das absolut phänomenologische Leben unmittelbar ergriffen zu werden, und wird dies prinzipiell im therapeutischen Prozess erprobt, dann erprobt eine Subjektivität ihre Identität mit diesem Leben selbst und kann aus den Konflikten der Fixierung von bestimmten Vorstellungen und Existenzentwürfen heraustreten. In dieser Hinsicht sollte die Übertragungsproblematik ebenso wenig als das maßgebliche Hindernis für eine Veränderung des Patienten gesehen werden, so wie auch der scheinbar notwendige Verlauf einer Therapie nach theoretischen Konzeptualisierungen zu relativieren ist. Denn all dem liegt eine radikale Ermöglichung durch das absolut phänomenologische Leben als Ur-Konkretisierung voraus, welche die Wirklichkeit jeder Subjektivität bildet, so dass meta-psychologische Topologie oder strukturell sprachliche Andersheit (Differenz) wie in der Neo-Psychoanalyse Lacans in ihrer relativen Effektivität aus der genannten innersten Selbstbewegung jeweils schöpfen, sofern sie Teilaspekte der immanenten Lebensteleologie als Gesetzmäßigkeiten davon treffen, was aber von anderen Therapierichtungen wie der Existenz- oder Daseinsanalyse ebenfalls gilt. Denn man muss sich wirklich fragen, ob die Triade wie »Ich des Patienten«, »das Andere« und »Ich des Therapeuten« wirklich als entscheidende Epistemologie für den therapeutischen Prozess aufrecht zu erhalten ist, insofern diese »unbewusste Andersheit« dann eine Selbständigkeit besäße, welche an sich nur einem in sich autonomen oder autarken Leben zukommen kann. Der »andere Schauplatz«, von dem auch schon Freud hinsichtlich des Unbewussten sprach, ist nur dem ekstatischen Blick entzogen, aber dies besagt keineswegs, wie wir wiederholt unterstrichen, dass es ein absolut Anderes ist. Ebenso wenig impliziert die Relativierung dieser Triade keine fusionelle Dyade, wo Patient und Therapeut nur noch die Ebene des Imaginären als Begegnungsfeld besäßen, 15 da die affektiven wie sprachlichen Modalisierungen des Patienten stets eine Ipseität offenbaren, welche niemals 15 Vgl. J. Lacan, Le désir et son interpréation (2013), 39 f., 226 f., für diese Kritik, auch dualer »Spiegelbezug« genannt; sowie 244 f. zum Vergleich zwischen dem Schachspiel und der (Gegen-)Übertragung.

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mit der des Therapeuten zusammenfallen kann. Ob sich also Scham, Angst oder Schweigen in einer Therapiesitzung manifestiert, so setzt deren »Verstehen« stets voraus, dass der Therapeut selbstaffektiv durch seine eigene transzendentale Lebensgeburt unmittelbar weiß, was diese Gefühle sind, auch wenn er nicht dieselben biographischen Erfahrungen gemacht haben muss, in denen der Patient diese Gefühle als bedrängend erlebt hat (oder auch als beglückend). Hier zeigt sich die Kurzsichtigkeit, Subjektivität auf empirische Erfahrung oder strukturelle Andersheit begrenzen zu wollen, denn das »analytische Dritte« bezieht sich auf (theorieabhängige) Deutungskonstruktionen, sei es das »ödipale Dreieck« oder die symbolische Dimension (Phallus) im Sinne der Lacanschule, welche zur dyadischen Beziehung zwischen Mutter und Kind bzw. Therapeut und Patient hinzutritt. Dagegen hatten wir schon radikal phänomenologisch darauf hingewiesen, dass es eine viel ältere, ursprünglichere Proto-Relation gibt, die weder Trias noch Dyade ist, sondern Einheit in jeder Differenz, so dass weder das »Andere« oder das »Dritte« noch eine imaginäre Fusion hypostasiert werden muss. So lässt sich grundsätzlich verstehen, dass die Problematik von Übertragung/Gegenübertragung ein »Drittes« nicht auszuklammern hat, um irrtümlicherweise in einen Austausch von scheinbar synchronen Subjektivitäten zu verfallen, sondern das »Dritte« ist das gemeinsame phänomenologische Leben der intensiven oder pathischen Subjektivität, welche in ihrer jeweiligen Andersheit als »affektive Differenz« gerade das selbe Leben ist. Insofern macht es in solcher Perspektive keine Schwierigkeit, den Patienten zu ermutigen, über Dinge zu sprechen, die ihm als sehr belastend erscheinen, auch wenn er dabei diese Belastung als Angst oder Scham auf den Therapeuten in Verbindung mit früheren Personen überträgt. Wenn aus dem immanenten Leben keine »menschliche« Modalisierung im guten wie schlechten Sinne jemals herausfallen kann oder diesem Leben niemals aufgrund innerer Selbstaffektion fremd ist, dann dürfte eigentlich der Therapie ebenfalls keine subjektive Problematik fremd sein, und jegliche Form von (tiefen-)psychologischer oder technischmethodischer Interventionstheoretisierung allgemein kann bezüglich auf diese Abyssalität des »menschlichen« Pathos stets nur den Status einer Annäherung für sich beanspruchen. Die Übertragungsproblematik ist dann jener Bereich, wo alle Äußerungen – kritisch oder zustimmend in Bezug auf den Therapeuten – von dieser Tiefe her gehört werden sollten, wobei der Therapeut seine eigenste tiefste 413 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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Lebenserprobung nicht dem Patienten aufoktroyiert, sondern als Raum der Resonanz zur Verfügung stellt, weil von all dem, was er hört, ihm prinzipiell als Affektabilität nichts unbekannt ist – weder Verdrängung noch Begehren oder Genießen und deren (teilweise »unbewusste«) Dialektik. Säuberlich zwischen »imaginärer« und »symbolischer Übertragung« trennen zu wollen, scheint daher etwas schwieriger zu sein, als es der konzeptuelle Schematismus von Real, Imaginär und Symbolisch nach Lacan vorgibt, denn in jeder Projektion steckt nicht nur eine zu klärende Vergangenheit. Vielmehr offenbart sich darin vor allem auch eine Aktualität unmittelbarer Selbstaffektion im Sinne leiblich-pathischer Intensität, und wenn diese imaginär sein sollte, so erlaubt sie nicht weniger Zugang zur unmittelbaren Subjektivität als die symbolische Problematisierung über das Sprechen. Denn wenn Affekte sich nur »positionell« zur Welt als deren Erschließung oder Verschließung verhalten sollten, bzw. Gefühle zueinander nur reziprok sein sollten wie in der Übertragung, 16 dann ist damit noch nicht jenes Potenzial wirklich ausgelotet, welches den Zusammenhang von Affektivität/Leben grundsätzlich bestimmt, nämlich als intensive Immanenz, die in keinem Bild (Wort) ihre wirkliche Identität findet, und sei es das Bild des Todes oder des Nichts. Erst von diesem radikalen Punkt her scheint uns die Übertragung als »Wiederholung« aufgebrochen werden zu können, weil dann kein Anlass mehr besteht, Wiederholung von Projektionen auf Andere zu unternehmen, um von diesen eine Antwort auf Sinn/Begehren des eigenen Lebens zu erlangen. Daher dürfen wir folgern, dass die Gefühle im Verhältnis von Übertragung/Gegenübertragung in der Tat nicht als bloße Effekte von empirischen Individuen zu sehen sind, sondern es mit einer transzendentalen Subjektivität zu tun haben, welche nach Nietzsche von der unbedingten Grundrealisierung von Freude/Schmerz im Sinne ständiger Geburt der absoluten Subjektivität als Kern eines jeden sichtbaren Individuums als »Wille zur Macht« geprägt wäre, nämlich dergestalt, wie der Held am Ende eines griechischen Dramas dem dionysischen Abgrund anheim gegeben wird, um dort von aller sichtbaren Individualität entkleidet zu sein. Oder mit anderen Worten aus »Jenseits von Gut und Böse«:

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Vgl. J. Lacan, Le désir et son interprétation (2013), 171 f.

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»Nicht an einer Person hängen bleiben: sei sie die geliebteste, – jede Person ist ein Gefängnis, auch ein Winkel. Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben […]. Nicht an einer Wissenschaft […]. Nicht an seiner eigenen Loslösung […]. Nicht an unsern eigenen Tugenden hängen bleiben und als Ganzes das Opfer irgendeiner Einzelheit an uns werden […]. Man muss wissen, sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit.« 17

Auf dieser Ebene kann man dann letztlich auch nicht mehr nur von einer »symbolischen Ordnung« sprechen, denn die Oszillation von Freude/Schmerz ist stets ein konkretes und wirkliches Geschehen, welches als Immanenz nicht sprachlich werden muss, um zu »sein«. Angst und Scham, Liebe und Hass, aber auch das Schweigen gerade innerhalb der Therapien sind als mögliche Gefühle und Äußerungen innerhalb des Übertragungsgeschehens in diesem Sinne »wirklich«, und die Verbindung mit bestimmten Personen (einschließlich des Therapeuten) sekundär. Dies heißt nicht, dass diese Personen »nebensächlich« wären, sondern es will nur besagen, dass die jeweilig effektiven Gefühle die Möglichkeit enthalten, dass der Patient durch diese Affekte unmittelbar zu seiner einmaligen Lebensaffektion vorzustoßen vermag, wenn er die Vorstellungsprojektionen als »Vorstellungsrepräsentanz« (Freud) hinter sich lässt. In einer Wiederholung von Gefühlsprojektionen eine Verdrängung zu erkennen, ist ein Sachverhalt, der seinen entsprechenden therapeutischen Stellenwert besitzt, aber in der Übertragungsproblematik nur diesen Aspekt zu erfassen, um beispielsweise Hass auf Vater und Mutter bzw. Angst vor der Sexualität aufgrund früherer »Doktorspiele« mit der Schwester und ihrer Vagina zu eruieren, heißt noch nicht, bis zu jenem Begehren vorgedrungen zu sein, welches die »Wiederholungen des Lebens« als solche in Gang setzt, nämlich jene »Selbstwiederholung« des Lebens, die nicht anders kann, als durch das Gewicht ihrer eigenen Passibilität die Bewegung der Selbsterfüllung dieses Lebens selbst zu sein. Folglich hat auch eine Diskussion der Übertragung sich ihrer anthropologischen, philosophischen wie epistemologischen Voraussetzungen zu versichern, das heißt jene Wirklichkeit zu befragen, welche als begründend oder anfänglich jeweils angenommen wird (Unbewusstes, Differenz, Reales, Begehren etc.). Dass die Therapie als besonderer Zugang zur »Wahrheit« der Subjektivität keinem objektivierenden Wissen im Sinne eines galileischen Methodenideals entspricht, dürfte daher einen gewissen Kon17

Kritische Studienausgabe, Band 5, Berlin, De Gruyter 2005, 59.

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sens innerhalb der meisten Therapieschulen darstellen. 18 Damit ist aber noch nicht geklärt, wie der Zusammenhang von Wissen/Wahrheit als dieser spezifische Zugang zu verstehen bleibt, denn wenn letztlich die Bildlosigkeit für ein Unaussagbares steht, welches nur der Einzelne als sein Pathos erproben kann, dann bleibt auch der Bezug zwischen Realem/Symbolischem problematisch. Dies ist daran zu erkennen, dass Lacan mit Recht ein »absolutes Wissen« im Sinne Hegels ablehnt, weil die Negation ein gedachtes Wissen als »Bewusstsein« immer nur als vorläufig erweist, ohne jedoch das »Begehren zu wissen« aufheben zu können. Die Aufhebung der Objekte oder Vorstellungen setzt dieses Begehren unentwegt neu vor ein Nichts des Erfüllens (Genießens), so dass eben ein »absolutes Wissen« als definitiver Genuss prinzipiell obsolet sein muss, solange man sich ihn als objektives Wissen vorstellt (und sei es in der Form des philosophischen Sich-Selbst-Wissens der durchlaufenen geschichtlichen Wissensformen). Im therapeutischen Bereich spricht unter anderem gegen ein solch abschließbares Wissen das Symptom als zu entzifferndes wie zu befreiendes Begehren, dessen »Wahrheit« jene Bewegung veranlasst, welche die (Neo-)Psychoanalyse sowohl als notwendig wie kontingent verstehen möchte. Die Notwendigkeit beruht hierbei im traumatisch Realen, welches nur als Mangel oder Fehlen auftritt, während sich zugleich dieses Notwendige als kontingent in der Wiederholung reproduziert. Das Unbewusste ist daher ein Wissen, welches sich ignoriere. Aber während Lacan diesen »Sprung« als eine transgressive Bewegung in die »Wahrheit« des Subjekts versteht, kann dies für das (psychoanalytische) Übertragungsgeschehen allein bedeuten, dass sich Wort und Begehren als »Sprechen« nur jeweils als eine Wahrheit durchdringen, die sich niemals gänzlich sagen wird, sondern sich als »gesagt« immer nur auf halbem Wege zwischen dem Wissen des Wortes (Signifikanten) und dem unbewussten Nicht-Wissen/Begehren des Unbewussten situiert. So spreche zwar in der Therapie/Analyse die Wahrheit, aber das Subjekt nähere sich letztlich nur dem originär Traumatischen oder fundamentalen Phantasma, indem die »Urverdrängung«

Eine Ausnahme bilden sicher unter anderem die Arbeiten von K. Grawe; vgl. Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession, Göttingen, Hogrefe 1994; Neuorpsychotherapie, Göttingen/Bern/Toronto, Hogrefe 2004, wobei mit letzterem Werk überhaupt eine neuere Entwicklung sowohl für Psychotherapie wie Tiefenpsychologie angezeigt ist.

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es auch wieder davon entferne, indem die Effekte ein unaufhebbares Verschwinden oder Ausweichen vor dieser äußersten Wahrheit darstellen. Wir hatten schon gesehen, dass Lacan dafür auch die »Freiheit des Todes« setzt, um in solcher Differenz oder Exzentrizität zu existieren. 19 Als Anfrage bleibt hier aber nochmals zu wiederholen, gerade weil die Übertragungsproblematik genau an diesen Punkt führt, dass das Nichts der Bildlosigkeit radikalisiert werden muss, damit das Schweigen innerhalb dieses (neo-)psychoanalytischen Sprechens als Verweis auf ein unaufhebbares Fehlen zum Hinweis auf das Schweigen des Lebens in seiner Fülle selbst wird. In dieser Hinsicht gibt es in der Therapie in der Tat kein Wissen (keinen endgültigen »Sinn«), sondern nur eine Wahrheit, die sich selbst begehrt, um in diesem Begehren die namenlose Erprobung der absoluten Subjektivität auszumachen. Wenn mithin beim Patienten eine ganz besondere »Wahrheit« am Werk ist, nämlich ein sich ständig modalisierendes unmittelbares »Lebenswissen« seiner Affektabilität, dann kann auch das Ausagieren während der Therapiesitzung oder außerhalb davon nicht nur als negativ gesehen werden, selbst wenn es heute zumeist im psychologischen Bereich allgemein mit »unangemessenem Verhalten« gleichgesetzt wird. Freud 20 sah das »Agieren« dann auftreten, wenn die Übertragung »feindselig« oder »überstark« und damit »verdrängungsbedürftig« wurde, was darauf hinweist, dass der Patient etwas nicht zum Ausdruck bringen konnte, weil er vom Vergessenen und Verdrängten nichts erinnern konnte. Das Agieren ist dann ein Reproduzieren durch das Tun, so wenn etwa mehrere Sitzungen versäumt werden, wozu auch lange Schweigepausen gezählt werden können, da der Patient eine affektive Kälte zu erfahren scheint, die ihm früher seine Familie entgegenbrachte. Manchmal können auch Dinge zerVgl. S. Lippi, Transgressions (2008), 213–224: »Savoir ›scientifique‹ et vérité ›transgressive‹«. 20 Vgl. »Wiederholen, Erinnern und Durcharbeiten« (1914), GW 10, Frankfurt/M. Fischer 1946, 126–136, hier 129 f. – In der Daseinsanalyse wird das »Agieren« nicht allein als ein Phänomen des Widerstandes gesehen, sondern auch als eine »Verhaltensmöglichkeit«, die bisher unerlaubt war und nicht zum Austragen gelangte; vgl. J. Jenewein, »Das Menschenbild der Daseinsanalyse«, in: H. G. Petzold (Hg.), Die Menschenbilder in der Psychotherapie. Interdisziplinäre Perspektiven und die Modelle der Therapieschulen, Wien, Krammer 2012, 549–570, hier 563 f. Auf ein noch weiteres Verständnis des »Agierens« als kreative wie soziometrische »Rolle« im Psychodrama können wir hier nur verweisen; vgl. Ch. Hutter, »Das Menschenbild des Psychodramas bei J. L. Moreno«, ebd., 517–548. 19

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schlagen werden, so dass die Aufforderung, einen Ärger lautstark auszusprechen, durchaus sinnvoll ist, um durch ein solches Agieren den therapeutischen Prozess weiter zu motivieren. Es kann aber außerhalb desselben auch zu autodestruktiven Handlungen kommen, wenn der Patient das Gefühl hat, dass der Therapeut nicht zuhört oder etwas für ihn Wichtiges nicht wirklich ernst nehme. Es lassen sich daher solche Hinweise (ebenso wie Körpersprache, Bewegungen etc.) ebenfalls für das Übertragungsgeschehen fruchtbar machen, denn wenn jede Äußerung radikal phänomenologisch gesehen eine selbstaffektive Modalisierung voraussetzt, dann kann auch alles ergriffen werden, um es im Hinblick auf eine tiefere Lebenserprobung anzusprechen, deren Aktualisierung als die ursprüngliche subjektive Wahrheit in der Therapie insgesamt ansteht. Gerade dieses Agieren kann folglich zusammen mit den übrigen therapeutischen Elementen erkennen lassen, dass nicht ein objektivierbares Wissen über das »Selbst« oder das »Ich« der eigentliche Erkenntnisgewinn in einer Therapie ist, sondern das empfundene Zusammenfallen mit der eigenen Selbstaffektion als Gewissheit des einmalig subjektiven Lebens. Was bleibt nun therapeutisch zu tun, wenn der Widerstand so stark andauert, dass sich nichts mehr zu verändern scheint? Abgesehen von Supervisionen für den Analytiker/Therapeuten gerade in dieser besonderen Situation kann eine Neuorientierung der Therapie angebracht sein, wenn der Patient vielleicht doch nicht neurotisch ist, sondern etwa psychotisch, denn gerade eine Verwechselung in dieser Hinsicht kann zu starken negativen Übertragungen führen. 21 Interpunktieren, Deutungen oder auch Verfassen von Notizen während der Sitzung können nämlich von Psychotikern als Verfolgung empfunden werden, wobei dann solche Paranoia selbst zum Abbruch der Therapie insgesamt zu führen vermag. War die Übertragung zunächst leicht positiv zu Beginn und ist dann ins Negative umgeschlagen, dann liegt der Schluss nahe, dass der Patient einen starken heimlichen Groll gegen frühere Personen hegt und dies so stark auf den Therapeuten oder die Therapeutin überträgt, dass gerade auch die Gleich- oder Andersgeschlechtlichkeit das Motiv dieses Widerstandes darstellt, weshalb der Verweis auf andere KollegInnen notwendig erscheint. 22 Sackgassen in der Übertragungsproblematik sind also nicht Zur manchmal schwierigen Diagnose von Neurose/Psychose und ihre Übergänge vgl. R. Tölle, Psychiatrie. Berlin/Heidelberg/New York, Springer 1982, 53 ff. u. 199 ff. 22 Vgl. auch J.-A. Miller, Le transfert négatif, Paris, Navatin 2005. 21

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ausgeschlossen, denn abgesehen vom gerade zuvor Ausgeführten lässt sich wohl allgemein sagen, dass negative Übertragung (zeitweise) immer dann sich einstellt, wenn die Verdrängung aufgehoben wird, aber der Patient nichts darüber wissen möchte, was verdrängt wurde. Dies ist dann der Fall, wenn die Deutung zur Aufhebung einer Verdrängung führt, aber etwa ein Zwangsneurotiker daraufhin das Empfinden hat, man habe ihm damit nur beweisen wollen, diese nicht selbst aufheben zu können – und dies dann als Niederlage auf den Therapeuten durch seinen Widerstand überträgt. Auf der imaginären Ebene sind folglich die Effekte einer reinen »Ich-zu-Ich«-Beziehung als mögliche Sackgasse zu sehen, und wenn das Patienten/Therapeuten-Verhältnis neu geklärt wurde, dann wird sicher auch wieder ein genaueres Hinhören auf das eintreten, was der Patient im Einzelnen (auch auf der »Mikroebene«) äußert, um symbolische Verbindungen zwischen Personen aus der Vergangenheit und der Gegenwart auszumachen, bzw. zu Träumen, die in derselben Sitzung oder anderen berichtet wurden. Von einer rigiden Spaltung in Selbstbeobachtung und frei flottierende Aufmerksamkeit ist daher eher abzuraten (so als könnte man die Stimme des Supervisors in sich vernehmen), da es wie bei der künstlichen Trennung von »beobachtendem« und »erlebendem Ich« seitens des Patienten dann eher zu einer kaum wünschenswerten Spaltung zwischen dem Erleben und Denken des Therapeuten käme. Auch eine mentale »versuchsweise Identifikation« mit dem Patienten, um etwa zu antizipieren, wie er auf Deutungen von seinem Empfinden her reagieren könnte, dürfte etwas Künstliches haben, da sie sich imaginär an Effekte der Intervention wie »banal«, »formelhaft« etc. bindet, und außerdem sollte für eine noch so große Empathie die breite und tiefe Unterschiedlichkeit möglicher Gefühlslagen bei jedem Menschen prinzipiell vorausgesetzt werden. Dies schließt eine »doppelte Aufmerksamkeit« nicht aus, wie wir sagten, nämlich einerseits auf das Sprechen und die Geschichte des Patienten zu hören und andererseits auf jene immanenten Modalisierungen zu achten, die sich über die Leiblichkeit des Anderen einschließlich des Affektiven in der Stimme mitteilen, um die symbolische Ebene mit der Unmittelbarkeit des intensiven oder pathischen Lebensgefühls zu verbinden. Im Idealfall ist es möglich, die Andersheit des Patienten angemessen wahrzunehmen und gleichzeitig für seine Worte offen zu bleiben, um auf jeden Fall die existentielle Einmaligkeit von Begehren/Sinn darin zu erkennen, obwohl der

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Therapeut vielleicht einen fundamental anderen Zugang zur existentiellen Wirklichkeit seinerseits pflegt. Fassen wir für den Fokus der Aufmerksamkeit hinsichtlich des therapeutischen Prozesses einige wichtige angesprochene Punkte hier als Zwischenergebnis zusammen, so wäre Folgendes jeweils je nach Sachlage mehr oder weniger stark zu beachten: 1) die Einheit oder Zerstückelung der Geschichte des Patienten von der frühen Kindheit bis zu seinem aktuellen Leben 2) das gegenwärtig geschilderte Problem und seine Veränderung eventuell durch die Analyse 3) Verbindungen zu früheren Personen und aktuellen Übertragungen 4) vorübergehende und ständige Symptome sowie ihre Bedeutung für unbewusstes Material und Widerstände 5) Phantasien jeder Art mit Bezug zu einem fundamentalen Phantasma, welches die Erwartungshaltungen gegenüber »dem Anderen« kennzeichnet 6) Verifikation der Diagnose und mögliche Revision zusammen mit den Schwierigkeiten, welche in der Therapie bislang auftraten; bzw. Punkte, die bewusst oder unbewusst ausgelassen wurden: scheinbar »nebensächlich«, »unangenehm«, »vergessen«, »fremdartig« (zum Beispiel bestimmte religiöse oder sexuelle Praktiken) etc. Aus der Wissenschaftsgeschichte wie aus den Psychosen wissen wir, dass Theorien und Wahnsysteme selbstbestätigend sind, 23 weshalb es angezeigt bleibt, die eigenen Apperzeptionsmuster stets neu zu überprüfen, um dem je einmaligen Ereignis eines Patienten gegenüber aufmerksamer und damit gerechter zu sein – denn es gibt keine »allgemeine Wahrheit«, unter der es subsumiert werden könnte. Hierbei sollte man sich auch nicht scheuen, die Voraussetzungen der eigenen therapeutischen Schulrichtung ständig auf den Prüfstand zu stellen, um eine Konformität zu vermeiden, die im therapeutischen Prozess nicht mehr produktiv und kreativ als »Einfall« sowohl von Seiten des Patienten wie des Therapeuten auftritt. Es geht des Weiteren hierbei nicht nur darum, eine triviale Erkenntnis zu unterstreichen, dass jede Wissenschaft und Institution von der Kritik und vom Wandel lebt, um sich notwendigerweise weiVgl. T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M., Suhrkamp 2001.

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terzuentwickeln, weil keine Theorie oder Praxis jemals den Anspruch auf ihre endgültige Vollendung erheben kann. Insofern war die begrifflich durchgehaltene Parallelität von Psychotherapie/Psychoanalyse durch unsere gesamte Untersuchung hindurch nicht das Verkennen ihrer programmatischen und institutionellen Unterschiede, sondern der Versuch, eine Gemeinschaftlichkeit bei allen methodischen wie inhaltlichen Vergleichen und Debatten nicht aus dem Blick zu verlieren. Diese Übereinstimmung vermag keine andere zu sein als das jeweilige Individuum im Sinne des »Patienten«, dem der »Therapeut« wie »Analytiker« seinerseits in seiner Individualität begegnet, die selbst bei äußerster Abstinenz und Reduktion im therapeutischen Vorgehen nicht abgestreift werden kann. Nun ist nichts unsicherer im gegenwärtigen philosophischen, politischen und gesellschaftlichen Diskurs in allen Bereichen (Gesundheitswesen, Erziehung, Ökonomie, Ethik, Menschenrechte etc.) wie der Status des »Subjekts«, da die es begründende Subjektivität in phänomenologischer Hinsicht als lebendige Ipseität von so genannten »De-Subjektivierungen« abhängig gemacht werden soll, die gerade in der jüngeren französischen Diskussion von Bataille bis Nancy über Foucault und Lacan die Dezentrierung oder Grunderfahrung der Grenze (Tod) zur Voraussetzung einer effektiven »Selbstverwirklichung« bzw. »Selbstsorge« machen. 24 Soweit die (Neo-)Psychoanalyse seit Freud nicht überhaupt von einer Unterbestimmung phänomenologischer Subjektivität durch ein bloß energetisches oder topologisches Denken als »Psychodynamik« abhängig ist, führt diese Betrachtungsweise dazu, das »Subjekt« von einem System bzw. einer Struktur oder Logik abhängig zu machen, in denen es sich als »Unbewusstes« oder »Selbst« (Reales) nicht wiedererkennt, da die traditionelle Dichotomie von Allgemein/Partikulär überholt werden soll, was hinsichtlich eines be-

24 Vgl. etwa M. Foucault, Dits et écrits, t. IV, Paris, Gallimard 1994, 43, über solche De-Subjektiverung als das Herausreißen des Subjekts aus sich selbst, um nur noch seine »Vernichtung« oder »Auflösung« zu sein, das heißt ein subversiver Akt im Sinne einer »aktiven Passivität«, die sich nicht selbst aufgibt, aber ihre fundamentale Einheit leugnet. Dieselbe Grundüberzeugung trägt im Übrigen das gesamte Werk von Lacan; vgl. Le désir et son interprétation (2013), 262 f.: »Das menschliche Wesen hat keinerlei Möglichkeit, eine Erfahrung der Totalität zu erreichen; es ist geteilt, zerrissen, und keine Analyse wird ihm die Totalität zurückgeben.« – »Das menschliche Wesen: ein Wesen (Sein), in dem etwas fehlt, sei es männlich oder weiblich; es ist ein kastriertes Wesen.«

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stimmten Metaphysikbegriffs ontologischer Prinzipiendeduktion einen gewissen Sinn macht. Wenn allerdings als Folge hiervon die absolut phänomenologische Subjektivität nicht als jeder Theoretisierung grundsätzlich vorgängig anerkannt wird, kann auch nicht genau diese (transzendentale) Gemeinsamkeit aller Psychotherapie- und Analyserichtungen anerkannt werden, da jeder dann ein anderes (epistemologisches) Objekt als »Patient« bearbeitet. Natürlich bleiben dann maßgebliche Unterschiede in empirischer, hermeneutischer und interventionstechnischer Hinsicht gegeben, aber ihnen allen ist gemeinsam, dass diese diversen Methoden und Praxisleistungen innerhalb des therapeutischen Geschehens aus der gemeinsamen Wurzel einer transzendental konkreten Subjektivität herrühren, die nicht das »leistende Ego« im husserlschen Sinne von teleologischer Weltkonstitution ist, sondern das abyssale »Mich« der Lebenspassibilität, welche nicht nur eine energetische Vitalität bedeuten kann, sondern eine ebenso unaufhebbare wie unhintergehbare Ipseisierung darstellt. In seinem immanenten Geboren-Werden ohne substanzhafte Verdichtung bleibt dieses Mich für immer – und damit ständig – unsichtbar und unsagbar, ohne jedoch anonym oder fraktal bzw. differe(ä)ntiell gespalten zu sein, um dergestalt nie sich selbst zu kennen. 25 Solange dieser immanente Einheitspunkt in der Klärung der Übertragungsproblematik nicht erkannt wird, bleibt es bei einem Beschreibungs- und Interventionsversuch hinsichtlich der Vorstellungen von solcher Übertragungsrealität. Letztere stellt das innere Austauschgesetz der Subjektivität unter ihrem Aspekt originärer Affektabilität als Gemeinschaftlichkeit oder Mit-Pathos im Sinne einer »dritten Genealogie« nach apperzeptiver Dekonstruktion und verdrängtem Unbewussten sowohl in neurotischer wie psychotischer Hinsicht dar – nämlich die Ohnmacht einer unaufhebbar anfänglichen »Traumatisierung«, ohne egohaftes (imaginär-ichliches) Supplement im und aus dem selbstaffektiven Leben geboren zu sein. Präzisieren wir die Übertragungswirklichkeit des therapeutischen Prozesses von diesem äußersten Punkt oder »Ort« aus, der

Für den notwendigen Rekurs jeder Wissenschaft auf das transzendental gesehene subjektive Empfinden vgl. E. Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft (1929), Tübingen, Niemeyer 2 1981, 140 ff. u. 179 ff.; M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/ München, Alber 1994, 190 ff.

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nicht geleugnet werden kann (es sei denn, man verbliebe in einer ekstatischen oder transzendenten Sichtweise auf das Leben wie Unbewusste), dann ergeben sich noch folgende Schlussbemerkungen. Da sich die Übertragung nicht verhindern lässt, ist sie ein phänomenologischer Hinweis darauf, dass sie jeweils vom Affekt herrührt, der mit der Wahrnehmung und der Einbildung als Bereiche realer und imaginärer Urteile verbunden ist. Die Therapie räumt diesen Manifestationen einen bevorzugten Platz ein, weil sich dadurch die Autonomie wie die Gebundenheit einer Person, ihr augenblicklicher »Sinn« offenbart, wobei nur ein »Narzissmus zu Zweit« als folie à deux zu vermeiden ist, 26 damit das Begehren mit seinen Ängsten und Projektionen auch wirklich gehört werden kann. Wenn der Patient in seinem Leben bisher nicht die Antwort auf seine eigene Geschichte gefunden hat, weil sie zu konfliktuell oder traumatisch verlief, dann erwartet er eine solche Antwort notwendigerweise vom »Wissen« des Therapeuten, der sich aber nicht in den subtilen Mechanismen einer Übertragung durch eine Gegenübertragung zu verfangen hat, da sonst nur Erlebnisse und Überzeugungen vom Patienten verfestigt werden, von denen dieser sich an sich zu befreien versucht. Das Nicht-Handeln des Analytikers in seiner Abstinenz (auch wenn mittlerweile Rückmeldungen für sinnvoll erachtet werden) ist ein Hinweis auf den reduktiv phänomenologischen Verlauf dieses Geschehens, denn eingeklammert werden sollen alle Vorstellungen, welche den Affekt daran hindern, sich selbst in seinem inneren Begehren als Selbstaffektion zu erfassen. Erfolgen dabei »Regressionen« in die Kindheit, so sind diese zunächst vom Therapeuten mitzugehen, um den Ursprung und die Stärke eines Affekts nachzuempfinden, der in der Folgezeit zu leidvollen Erfahrungen geführt hat, wie etwa die Erfahrung von Verlassenheit oder Misshandlungen jeder Art. Dieses Mitgehen als »Empathie« oder sogar »Intro-Pathie«, das heißt als bewusst signalisierte Allianz mit dem Patienten kann daher niemals ein negatives oder abschätziges Urteil implizieren, welches etwa den Patienten vermuten ließe, ich hielte ihn für ein Selbst ohne eigene Möglichkeiten. Vielmehr sollte sich der Patient durch das Geschehen von Übertragung/Gegenübertragung hindurch als eine eigenständige subjektive Kraft erfahren, weshalb die phänomenologische Reduktion hierbei impliziert, den Affekt nicht durch äußerliche Über die Möglichkeit eines induzierten Wahns, der am Wahnerleben des Kranken partizipieren lässt, vgl. R. Tölle, Psychiatrie (1982), 178 f.

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Deutungen zu verfälschen, sondern seine Stärke von innen her erfahren zu lassen, denn am Ende der Therapie sollte ein Individuum mit der Gewissheit des Empfindens stehen, sich selbst in seiner Existenz weiterhelfen zu können. Dazu dient in der (Neo-)Psychoanalyse das Geschehenlassen der »Wiederholung« von Groll, Angst etc. mittels der Übertragung, um über die erkannte Verdrängung zu einer Übertragung zu gelangen, welche im besten Fall die Wiederholung nicht mehr notwendig macht, da der Patient sich seiner eigenen Affekte bewusst geworden ist, die neben den verdrängten ein Eigensein als Subjektivität empfinden lassen, um dadurch auch Abhängigkeitsverhältnisse von Minderwertigkeit oder Unterwürfigkeit bzw. von neurotischen, manischen und hysterischen Allmachtsvorstellungen zu überwinden. Gleiches kann aber auch durch Konfrontation mit Situationen geschehen, in denen der Patient existentiell gezeigt hat, dass er auch »anders« handeln kann, denn dadurch hebt sich die Hypostasierung einer bestimmten Affekterfahrung auf, indem zusätzlich andere erprobt werden, deren Gegebensein bzw. Wichtigkeit noch nicht in das Wahrnehmungsspektrum von Sinn und Werten als »Person« integriert wurde. Um auf diesem Wege das je subjektive Begehren neu zu entdecken und zu festigen, sollte eine Gegenübertragung niemals direktiv in dem Sinne sein, dass etwas vorgeschlagen wird, das der Patient nicht selbst als konkrete Möglichkeit in sich verspürt. Dies hat oft zur Voraussetzung, dass ein tiefes Leiden durchschritten werden muss, wo die Erfahrungen von Einsamkeit und Verstörung so stark sein können, dass der Patient doch wieder nach einem »Helfer« ruft. In diesem Kontext können dann auch religiöse, spirituelle oder philosophische (weltanschauliche) Fragen aufbrechen, denen der Therapeut sich kundig zu stellen hat, ohne der Versuchung zu erliegen, eine neue Vorstellung anstelle alter Illusionen zu setzen, die ein Leben bisher normiert hatten. 27 Die Libido ist bei diesem Vorgehen keineswegs zu negieren, sexuelle und erotische Probleme im Zusammenhang von Beziehungen oder in Hinsicht auf die eigene Leiblichkeit äußerst ernst zu nehmen, aber jede Libido (Trieb) ist immer auch schon Ausrichtung auf etwas hin, mit anderen Worten der Vorentwurf eines »Sinns«, der dergestalt inchoativ zu ergreifen ist und sich durch die weitere AffektaVgl. V. E. Frankl, Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, München, DTV 2007, sowie auch Th. Fuchs u. a. (Hg.), Das leidende Subjekt. Phänomenologie als Wissenschaft der Psyche, Freiburg/München, Alber 2014.

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bilität als »Intuition« (Gewissen diesseits des »Über-Ichs«) genauer präzisiert. All diese Prozesse vollziehen sich dank der Übertragung/ Gegenübertrag, die damit eine reziproke Verifikation bildet, dass die Affekte erkannt, vertieft und prospektiv orientiert werden können, wobei die Gegenseitigkeit von Patient/Therapeut hierbei die jeweilige Selbständigkeit nicht aufhebt. Analytisch kann man bei solcher »Katharsis« stehen bleiben, denn die neuen Intentionalitäten, welche sich existentiell herausbilden, wenn die Gewissheit der eigenen Subjektivität stark genug geworden ist, werden sich im Vollzug eines neuen Existierens und Handelns herausbilden. Da allerdings eine radikal phänomenologische Ipseität grundsätzlich als Einheit von Begehren/ Sinn gesehen werden sollte, sind auch die beiden Wirklichkeiten von Begehren und Sinn stets korrelativ zueinander durchzuarbeiten und zu verwirklichen, um zu tatsächlichen Veränderungen des Patienten hinzufinden. Diese Katharsis ist in gewisser Weise der Abstieg in ein Nichts der Vorstellungen und deren Tod, aber nicht, um das Subjekt nun von diesen Prämissen her nihilistisch leben zu lassen, sondern aus einer Geburt der »dritten Genealogie« heraus – mithin in der Einheit von Affekt und Vorstellung, da die ständige Revision der Projektionen mit ihren imaginären Folgen nicht mehr gefürchtet werden muss, wie es zu Zeiten der Abhängigkeit von einem normativen Sicherungssystem der Fall war. In diesem Sinne kann auch der Neurotiker, der »Objekt« seines Symptoms ist, indem er es erleidet und von ihm geleitet wird, eine mögliche Umkehr entdecken, dass in der Tat sein Begehren in seinem Symptom selbst impliziert ist und letzteres daher nicht völlig nur zu erleiden ist. Wenn also das Symptom der Existenz einen gewissen »Sinn« verleiht, weshalb es nicht so leicht ist, es von diesem symptomalen »Sinn« zu lösen, so bleibt doch immer auch die Transgression des Lebens gegeben, die immer schon in einem »Mehr« stattgefunden hat, welches das Symptom seinerseits nicht völlig verdunkeln und vereinnahmen kann. Ob man dies dann »Freiheit« oder »Autonomie« nennt, ist eine Frage des Vokabulars, dem man semantisch und epistemologisch den Vorzug geben will – entscheidend bleibt, dass eine Befreiung oder Transgression prinzipiell vom Leben her möglich wird. Deshalb sind Begriffe wie Wette, Spiel, Zufall oder auch Rätsel/Geheimnis (wie sie unter anderem seit Pascal in die metaphysische Anthropologie eingebracht wurden und sich bis Nietzsche und Bataille durchziehen) eine Täuschung hinsichtlich der Entscheidung, die immer schon gefallen ist: nämlich dieses Individuum zu sein, welches sich am Anfang nicht selbst gewählt hat, 425 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

und Spiel und Zufall etc. lassen glauben, dass die Entscheidung von außen kommen kann, indem irgendwelche Würfel das Los werfen. Der Übertragungsaugenblick besitzt daher bei aller Offenheit der Deutung und Weiterentwicklung eine prinzipielle Positivität, dass sich das rein subjektive Leben in diesem Augenblick als eine phänomenologische Bestimmung konkretisiert, als ein Dieses, welches als das Nichts (Tod) aller Vorstellungen erlebt werden kann. Es ist jener Punkt, den Freud wohl als »Nabel des Traums« und Bion als »Null« nahe der Mystik im Auge hatten, weil er nicht mehr expliziert werden kann und eine unmittelbare Konfrontation mit dem Affekt als Leben impliziert. Hier wäre eine »inzestuöse« Gegenproblematik in der Tat für den Patienten sehr gefährlich, wenn er nämlich in eine affektive Beziehung mit dem Therapeuten hineingenommen wäre, die nicht seinen eigenen schweigenden Affekt berührt. Die inneren wie äußeren Bedingungen des therapeutischen Prozesses müssen es also erlauben, diesen Abstieg, sein Durchschreiten und dann seine Hinüberführung in Existenz und Welt zu gewähren, und zwar nunmehr ohne Rückversicherung durch Andere, sei es das »Wissen« des Therapeuten oder eine andere Hypostase (Phallus). In diesem Durchschreiten gewinnen Bedürfen, Begehren und Handeln eine neue Koloratur, denn Verzweiflung, Angst, Hoffnung und Freude sind nicht mehr dasselbe wie vorher, da das Begehren über das isolierte oder fixierte »Genießen« (Lacan) hinaus ist, ohne es zu verneinen und das Phantasma vielleicht ganz besiegt zu haben. Übertragung und Wiederholung sind aneinander gebunden, weil einerseits die selbstaffektive oder immanente Modalisierung die Affekte auseinander hervor- und ineinander übergehen lässt (mithin ständig umkehrt), so wie andererseits die unendlichen Welthorizonte einer Wiederholung unserer Möglichkeiten im Sinne einer vertieften und erweiterten Exploration unterliegen. Die Übertragung übt mit anderen Worten eine »neue Gewohnheit« oder »Fluidität« ein, die abhängig ist von der Tiefe des Affekts, mit der das eigene subjektive Leben berührt wurde. Insofern kann die Therapie/Analyse weder etwas Empirisches oder Hermeneutisches letztlich sein, sondern eben eine intensive subjektive Praxis, in welche die Übertragungsbeziehung einübt. Die therapeutische Geduld erfordert es dabei nicht, einen Patienten gewalttätig in diese »Tiefe« hineinzuwerfen, wenn er noch nicht dazu bereits ist; aber der Therapeut darf aus eigener Angst auch diese Möglichkeit nicht verpassen. Die Übertragung gibt zu verstehen, dass der Patient das Maß und die eigentümliche Zeitlichkeit 426 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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seines Weges im Sinne einer inneren Historialität vorgibt, die keinen äußeren Kategorien von vermessbarer Objektivität unterliegt. Radikal phänomenologisch besagt der Zusammenhang von Wiederholung/Übertragung nicht die zweimal gegebene Vorstellung von etwas Vorgestelltem, sondern die Gegenwärtigkeit einer Präsenz, welche gar nicht anders kann, als stets gegenwärtig zu sein – also nie »unbewusst« ist, sondern »unmittelbar« oder »nackt« gegeben. Wenn dazu in der Gegenübertragung das Sprechen mit seinen symbolischen Referenzen eingesetzt wird, so kann dies entgegen Lacan allerdings bedeuten, dass das »Unbewusste, das nie unbewusst ist« – nämlich der Affekt (Freud) – letztlich nicht dort aufgesucht werden muss, wo eine solche Direktheit möglich ist. Wenn der Affekt eine primordiale Kraft ist (Energie, Libido, Begehren), dann kann er dies nur aus sich selbst sein, das heißt im Leben, das keinerlei Differenz oder Abstand in sich kennt. Auf diese Unbezweifelbarkeit der Affektabilität als subjektives Selbstsein im Sinne von Gewissheit einer Kraft zielt daher die Gegenübertragung diesseits aller Deutung und Interpretation von Lebensschicksal. Mit anderen Worten handelt es sich um die einzige Phänomenalität, welche nie durchgestrichen werden kann, wobei festzuhalten bleibt, dass es im radikalen Sinne nicht um einen besonderen, singulären Affekt geht, der noch als ein »Etwas« empfunden werden könnte, sondern um die Selbstimpressionabilität der Subjektivität als solcher – was nichts anderes als das ist, was wir unsere ganze Untersuchung hindurch als das rein phänomenologische oder selbst-narrative Leben gegenüber allen analytischen oder sonstigen psychotherapeutischen Verkürzungen deutlich machen wollten. Denn wenn es kein einzelner oder besonderer Affekt ist, um den es sich in der Wiederholung/Gegenübertragung handelt, dann ist es auch nicht möglich, sich ihm zu entziehen, weil es sich um das Selbst-Erleiden des Lebens handelt, so wie Freud 28 sagt, dass »das Ich gegen Triebreize wehrlos ist«. Dieses Selbst-Erleiden des Lebens in seiner dichtesten subjektiven Bestimmtheit geschieht mithin als Affektabilität des Affekts noch diesseits jeder Assoziation und Deutung sowie auch Erinnerung und Durcharbeitung – als sprachloses, traumatisches Ausgesetztsein; als Ursprungsort des Begehrens, woTriebe und Triebschicksale (1915), GW 12, Frankfurt/M., Fischer 210–232, hier 226; vgl. dazu auch M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beitrage zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 155 f.

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hin das Übertragungsgeschehen als konkrete Möglichkeit aller existentiellen Potenzialitäten zurückführen will, die dann der Patient als seine Existenz (wieder) ergreifen kann. Abzugrenzen bleibt die bisherige Frage unseres Ausblicks noch von der projektiven Identifikation, 29 welcher in vielen Therapieschulen heute auch die »negative Gegenübertragung« zugerechnet wird, worin der Therapeut erlebe, was der Patient eigentlich nicht erleben möchte, da es sich bei ihm um ein »abgespaltenes Gefühl« handle. Damit wird allerdings implizit vorausgesetzt, es gäbe etwas »Objektives« beim Patienten, wodurch die Gegenübertragung zu einem Teil von dessen Persönlichkeit werde. Damit beruhte die Gegenübertragung des Therapeuten/Analytikers nahezu auf einer »Vorleistung« des Patienten, anstatt zu sehen, dass es sich vielleicht um etwas handeln könnte, das der Therapeut sieht, was der Patient noch nicht bei sich bemerkt hat. Vom therapeutischen Prozess her betrachtet würde es sich so bei der »projektiven Identifikation« um eine fast schematische oder dialektische Situation handeln, die den Therapeuten in gewisser Weise aus der Verantwortung entließe, da etwa sein Ärger in ein ahnungsvolles Mitempfinden verwandelt würde. Auf diese Weise bekäme der Patient die Beweislast aufgebürdet, indem sich die Gegenübertragung des Therapeuten in eine Übertragung verwandelt, anstatt möglicherweise einen Widerstand von Seiten des Therapeuten/Analytikers anzuerkennen. Beachtet man, dass die Begriffsgeschichte der »projektiven Identifikation« (wie Melanie Klein 30 letztere einführte) sehr komplex ist, so gilt es vor allem festzuhalten, dass sie anfänglich mit einer psychotischen Erkrankung des Kindes verknüpft war. Hierbei wird ein Teil des kindlichen Selbst gehasst und als Wunsch der Verletzung auf die Mutter projiziert, die damit zur Verfolgerin wird und entsprechend affektiv »kontrolliert« werden kann. Auch Freud sah schon den Mechanismus der Symptombildung bei der Paranoia darin, dass eine innere Wahrnehmung durch eine äußere ersetzt wird, denn wenn der Andere mich hasst (verfolgt), darf ich ihn auch hassen, wodurch die eigene innere Empfindung zur Projektion einer (scheinbaren) Reali-

Vgl. bereits unser Kap. I,3.3; zum Weiteren auch B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik (2013), 239 ff. 30 Vgl. Das Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psychoanalyse, Stuttgart, Klett-Cotta 1962, 109 f.; dazu auchßblockakß.ßblockakß J. Lacan, Le désir et son interprétation (2013), 510 ff. 29

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tät wurde. Setzten wir also einen solchen Begriff von ProjektionIdentifikation voraus, der gewisse Phantasien einschließt, dann würde sich der Therapeut folglich mit einer Projektion des Patienten identifizieren, anstatt sich mit dem Patienten als solchem innerhalb der therapeutischen Arbeit zu identifizieren, das heißt als »Verstehen« seiner Affekte auf allen Ebenen des Psychischen und Existentiellen (Unbewusstes, Ich, Über-Ich, Lebenspassibilität als Selbstaffektion). Werden diese Ebenen nicht gleichzeitig vom Therapeuten berücksichtigt, um sein Verständnis für den Vollzug der Analyse offen zu halten, so können in der Tat imaginäre Teilidentifikationen statthaben, zum Beispiel mit einer drängenden Vaterfigur als Über-Ich beim Patienten. Dann findet eine phantasierte Identifikation mit einem inneren Objekt des Patienten statt, so dass der Abwehrmechanismus des letzteren sein Ziel erreichen kann, nämlich Gefühle der Schuldigkeit oder Deprimierung beim Therapeuten hervorzurufen. Dennoch wird es wohl eher von den subjektiven und reduktiven Vermögen wie Komponenten des Therapeuten abhängen, ob er sich mit dem Patienten als solchem identifiziert (»empathische Identifikation« als Intropathie im immanent phänomenologischen Sinne) oder mit dem, was er auf ihn projiziert (»projektive Identifikation«). Dadurch wird deutlich, dass es sich nicht um einen zwangsläufigen »objektiven« Prozess handelt, wie besonders die Ansichten W. R. Bions 31 vom Therapeuten/Analytiker als Container nahe zu legen scheinen. Hierdurch wird der Therapeut zu einer Art »Objekt«, insofern er bei dieser »Container«-Funktion die Projektionen (Phantasien) des Patienten weder akzeptiert noch zurückweist. Dieser Versuch der Rekonzeptualisierung der »projektiven Identifikation« im Sinne des Therapeuten als eines »Auffangbehälters« würde aber einerseits bedeuten, dass der Therapeut für sein Fühlen letztlich nicht verantwortlich wäre und andererseits dann auch die Gegenübertragung etwas Unvermitteltes wäre, welche sich automatisch aus der Übertragung ergäbe. Ist der Ausdruck von Empfindungen und Gefühlen jedoch zumeist stets fließend, wie auch die selbstaffektive Oszillation von Freude/Schmerz unterstreicht, bzw. der Wechsel von Lust/Unlust und Liebe/Hass (was im therapeutischen Prozess ständig zusammenVgl. Learning from experience, New York, Basic 1962; dazu auch T. H. Odgen, Projective Identification and psychotherapeutic technique, Northvale NJ, Aronson 1982.

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spielt), dann dürfte eine endgültige Festschreibung von projektiven und introjektiven Gefühlen problematisch sein. Bestimmte Emotionen und Affekte je nach Kontext oder Lebensgeschichte des Patienten zu erfassen, um ihren Ausdruckswert für das subjektive Begehren (Sinn) erproben zu lassen, sollte daher das Hauptziel von Übertragung/Gegenübertragung und damit der Therapie/Analyse insgesamt bleiben. Für einen reduktiv phänomenologischen Gesichtspunkt wie für den tiefenpsychologischen ebenfalls bleibt es selbstverständlich, dass für alles Erscheinen des Patienten als Begehren in Körpersprache, Handlungen, Lebensbericht, Träumen etc. stets die Subjektivität oder Singularität des Wahrnehmenden impliziert ist. Eine Transparenz im Sinne von gegenständlicher »Objektivierung« ist daher niemals möglich, und eine »projektive Identifikation« als direkter transparenter Kontakt würde im Übrigen auch den Patienten mit Recht beunruhigen. Denn als radikale Subjektivität besitzt er das Recht, nicht alles mitteilen zu müssen, was nicht nur als Widerstand ausgelegt werden kann, sondern auch als die besondere Zeitlichkeit affektiver Historialität, welche sich im gemeinsamen Vertrauen als Mitpathos etabliert und als solches vom Patienten auch immer wieder auf seine wirkliche Gegebenheit hin »getestet« werden darf. Man muss es gelten lassen, wenn aufgrund starker Traumatisierung und/ oder Psychose jemand Angst hat, der Therapeut könne überhaupt etwas für ihn fühlen, weil »Nähe« für einen solchen Patienten eine Grundschwierigkeit darstellt, da er eventuell wieder »verlassen« oder »missbraucht« werden könnte. Dies wäre keine Projektion, sondern eine Art permanenter affektiver Betäubung, die tiefes und langes Schweigen etwa verständlich machte. In einem solchem Falle (wie wohl in den meisten anderen) ist daher auf die spezifische Weise zu achten, wie jemand inter-subjektive Beziehungen aufbaut, um nicht als Therapeut in die Gefühlslage zu kommen, der Patient projiziere ständig. In dieser Hinsicht ist es ebenfalls gut, sich in Erinnerung zu rufen, dass nach Freud, »die Übertragung […] selbst nur ein Stück Wiederholung und die Wiederholung […] die Übertragung der vergessenen Vergangenheit [ist]«, 32 wodurch ein Traumatisierter eben nicht nur passiver Empfänger früherer Erfahrungen bleibt, sondern immer auch ein Agens zur eigenen Bewältigung, so gering letztere erscheinen mag. Selbst wenn also der Patient versuchen sollte, sich durch »pro32

»Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« (1946), 130.

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jektive Identifikation« von gewissen Gefühlen zu befreien, ist der Therapeut nicht verpflichtet, die Gefühle des Patienten zu fühlen, sofern man darunter verstehen sollte: es gar nicht vermeiden zu können, so zu fühlen wie der Patient. Bei Trauer, Lachen etc. sind wir normalerweise bereit, mit Anderen zu fühlen, aber der Kontext muss diese Bereitschaft auch wirklich zulassen, und nicht alle Gefühle sind gleich »ansteckend«, so dass hier eine gewisse Freiheit gegeben bleibt, welche Vorstellung ich von meiner Rolle als Therapeut/Analytiker besitze. Auch von daher, das heißt im Sinne einer eigenen Subjektivität, ist es angezeigt, dass ich die Gefühle, die ich habe, zunächst vor allem mir selbst zuschreibe, weshalb der Zugriff auf den Patienten innerhalb einer so genannten »projektiven Identifikation«, Gefühle zu fühlen, die er selbst nicht fühlen kann (frühere Verlassenheit als Kind etc.), eingeschränkt werden sollte. Dies schließt keineswegs die ständige Bereitschaft aus, auf seine wirklichen affektiven Modalisierungen und deren Äußerungen einzugehen. In mehr phänomenologischer Hinsicht bliebe bei all diesen Fragen von Spaltung, Projizieren und Introjizieren die empirische (objektivistische) Aufteilung in ein Innen/Außen überhaupt anzufragen, so als ob die Gefühle wie in einem gemeinsamen Raum sich befänden, den sich »Ich« und »anderes Ich« aufteilten. Aber solche »Spaltung« außerhalb der Psyche oder des Leibes gibt es als einen seelischen Mechanismus wohl kaum, da über die originäre Gemeinschaftlichkeit der Affekte als immanente Modalisierungen stets bereits ein intersubjektiver oder intropathischer Bezug besteht, dessen Reziprozität das Empfinden dessen erlaubt, was grundsätzlich als Gefühle gegeben ist. Insofern bleibt Vorsicht geboten, etwas als »projektive Identifikation« fühlen zu wollen, was der Andere – im Augenblick – nicht fühle. Hinter dieser Debatte von »projektiver Identifikation« lässt sich auch noch ein »normativer« Aspekt im Sinne von »durchschnittlichem« Verhalten vermuten, welches der Patient an sich fühlen sollte, wenn er etwas Bestimmtes sagt oder länger schweigt. Das heißt, wäre der Patient nicht so »abnormal«, würde er fühlen, was der Therapeut (an seiner Stelle) fühlt. Welches aber ist jener Affekt, der für alle Menschen in einer bestimmten Situation angemessen wäre? In einem Land beispielsweise, wo die Kindersterblichkeit sehr hoch ist, wird wahrscheinlich auch die Trauer über ein verstorbenes Kind anders sein als bei uns, weshalb auch in unserer Kultur prinzipiell Reaktionen auf einen solchen Verlust anders sein können, als wir es gewöhnlich in unseren Vorstellungen voraussetzen. Ob dann der 431 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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Schmerz über einen solchen Verlust (etwa durch medizinisch nicht aufgeklärte »gynäkologische Schmerzen«) in einem anderen Teil des Körpers neurotisch oder hysterisch verarbeitet wird, verlangte dann gerade die eigentliche Erhellung in einer entsprechenden Therapie. Auch wenn also die »projektive Identifikation« inzwischen konzeptuelle Varianten erfahren hat, wie etwa die »projektive Transidentifikation« oder die »projektive Gegenidentifikation«, so bleibt die grundsätzliche Frage, ob Gedanken, Gefühle und »Teile« des Selbst wie Objekte behandelt werden können, weil dies eher an das »konkretistische Denken« in der Psychose erinnert und darauf als Problem der Therapie/Analyse beschränkt werden sollte. 33 Entsteht bei einem Therapeuten der Eindruck, er werde durch das Gefühl des Patienten »unter Druck« gesetzt, um zu fühlen, was dieser noch nicht fühlt (oder bereits fühlt), dann müsste man sich fragen, ob dies nicht ein zwangsneurotisches Verständnis von Therapie und der ihr entsprechenden Theorie wie hier der »projektiven Identifikation« impliziert, da Übertragung/Gegenübertragung und das Deuten eher einen breiteren Zugang zu Begehren/Sinn erschließen sollten, um all den affektiven Modalisierungen näher zu kommen, die in den Äußerungen wie Nicht-Äußerungen eines Patienten jeweils mitspielen. Übertragung/Gegenübertragung als fundamental praktisches Geschehen in der Therapie kann folglich durch eine Theorie der Therapie/Analyse leicht rationalisiert werden, um den Therapeuten aus seiner eigentlichen Verantwortung zu entlassen, welche gerade sein eigenes Leiden/Begehren nicht aufhebt, so dass die therapeutische Beziehung als »Zweierbeziehung« kaum zum eigentlichen »Dritten« hinfände, welches für die beiden sich begegnenden Personen das Selbe ist – nämlich das ab-gründige selbst-affektive Leben, aber in der je eigenen affektiven Differenz der Ipseität erprobt werden muss. Insofern ist Lacan Recht zu geben, dass eine »dyadische« oder auch »gespiegelte« Beziehung leicht vom Imaginären bedroht bleibt, das heißt durch Gefühle der Verlassenheit, Angst, Langeweile, aber auch durch Müdigkeit und Einlassung auf die Projektionen des Patienten. Allerdings zu meinen, die Gegenübertragung ereigne sich vor allem bei dem Scheitern, sich am Platz des »symbolisch Anderen« zu situieren, verkennt wie die »projektive Identifikation«, dass es keine affektfreie Symbolik gibt. Die Gegenübertragung ist weder nur »Königsweg« noch »imaginärer Köder« oder reine »Erfindung« durch einen Teil 33

Vgl. B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik (2013), 264 f.

432 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

der intersubjektiv gebundenen Persönlichkeiten innerhalb der Therapie oder Analyse, 34 sondern phänomenologische Selbstgegebenheit des Affektaustausches als originäre Gemeinschaftlichkeit im Sinne eines unaufhebbaren Mit-Pathos. Daher vermag kein Therapeut – in sich wie beim Patienten – rein subjektive Reaktionen von so genannten »subjektiven Anteilen« zu trennen, denn eine umfassende Zugänglichkeit des Unbewussten im tiefenpsychologischen Sinne ist ebenso unvorstellbar wie ein ekstatisch umfassender Blick auf die jeweilige Ipseität als transzendentale Lebensgeburt. Dies geht weit über die empirische Realität von Persönlichkeitsaspekten hinaus, die zwar durch weitere (Selbst-)Analyse des Therapeuten verändert, aber keineswegs als radikale Subjektivität aufgehoben werden können. Denn wie auch Jacob Rogozinski zeigt, ist es weder möglich, sich wirklich tot zu sehen, noch den imaginären Blick allein durch den radikalisierten Anderen bestimmt sein zu lassen, da jedem Sehen stets eine leibliche Einheitserfahrung der Bewegung vorausliegt. 35 Das gemeinsame radikal phänomenologische Hervorbringungsprinzip vom Imaginären wie Symbolischen bleibt daher die selbstaffektive, pathische oder intensive Lebensmodalisierung, von der aus jede Äußerung beim Patienten – wie Therapeuten – ergriffen werden kann, so dass das »Imaginäre« nicht identisch mit fixierter Betroffenheit allein sein muss, welche das therapeutische Geschehen auch »im Sein« des Therapeuten auslöst. 36 Es gibt kein Wissen des Lebens jemals von außen, sei es theoretisch oder therapeutisch, sondern stets nur das immanent praktische Lebenswissen selbst, welchem auch die Therapie/Analyse in all ihren konzeptuellen wie methodisch technischen Herangehensweisen unterliegt – und von daher sich immer wieder hinterfragen lassen muss, ob nicht an die Stelle des unhintergehbaren Ausgesetztseins unseres subjektiven Lebens als »transzendentale Geburt« in ihm – zum Teil oder ausschließlich – ein Konstrukt der Vorstellung gesetzt wurde. Von hier aus gesehen können weder Signifikant, Symbol, Sinn, Anderer, Phallus, Kastration oder Verdrängung das Letzte sein, welches die Unmittelbarkeit oder Ursprünglichkeit als »Veränderung« zur neu erprobten Lebendigkeit hervorbringt. Denn niemand weiß im Voraus, wie sie in der unaufSo J.-A. Miller, »Contre-transfert et intersubjectivité« (2003), 35 f. Vgl. Le moi et la chair. Introduction à l’ego-analyse, Paris, Cerf 2006, 66 ff. 36 Vgl. J. Lacan, Schriften I (1973), 175 f.; Le désir et son interpréation (2013), 7–39, hier 226 f. 34 35

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hebbaren Unsichtbarkeit des Lebens und dessen »leerer Fülle« geschieht, sondern sie gibt oder ereignet sich plötzlich ohne weitere Rechtfertigung – vielleicht nach einem langen therapeutischen Weg. Weil solches Lebenswissen in jedem Augenblick ge-geben ist, kann es auch in jedem Augenblick verpasst werden – Heil und Verlust wohnen nahe beisammen.

2) Supervision als »Kartographie« des Begehrens Fügen wir noch ein Wort besonders zur Supervision hier am Schluss an, so gilt nicht nur von derselben, was für die Psychotherapie/Analyse ausgeführt wurde, sondern es impliziert eine gewisse Kritik dieses üblicherweise im Sinne einer »Über-Schau« oder »Revision« gebrauchten Begriffs. 37 Wenn das Leben aber nicht sichtbar ist, darf auch die Notwendigkeit der Supervision für die Therapeuten/Analytiker nicht dazu verleiten, eine (problematische) Vorstellung durch eine (bessere konzeptuelle) Interpretation allein zu ersetzen, sondern die »Supervision« ist selber in ihrem Wesen stets eine Erprobung – und zwar eine äußerste. Wenn nämlich schon die Therapie jeweils mit Grenzerfahrungen des menschlichen Lebens konfrontiert, dann hat Supervision die Ab-gründe dieser radikalen Subjektivität als so genannten »Fall« auszuloten und dies zu vermitteln, soweit es durch Wiedergabe, Selbsterfahrung und theoretische Konzepte möglich ist, die sich stets gegenseitig im Sinne einer radikalen Phänomenologie (zusammen mit dem entsprechenden therapeutischen Fachwissen) verifizieren müssen. Der angedeutete äußerste Punkt wäre lebensphänomenologisch betrachtet die »Selbstnegation« des Lebens, das heißt all jene Weisen, wie ein Patient nur noch Verzweiflung, Starre und Todeswünsche erlebt. Diese Selbstnegation jedoch nicht nur erkennen und aushalten zu können, sondern darin noch die einzige Weise des Lebens selbst zu erblicken, sich momentan nur als solches »bejahen« zu können, 38 setzt die zuvor genannte Einheit von theoretischem und praktischem Wissen in der Therapie voraus. Es wird Vgl. zum Beispiel F. Buer, »Supervision als Ort moral-philosophischer Besinnung. Oder: Was auch in der Arbeitswelt entscheidend ist«, in: Supervision 4 (2000) 4–20; K. Gröning, Supervision. Traditionslinien und Praxis einer reflexiven Institution, Berlin, Psychosozial-Verlag 2013. 38 Vgl. S. Brookmann, »Leben im Trauma. Zur Bewegung der Lebensselbststeigerung bei Traumatisierung«, in: G. Funke u. a. (Hg.), Existenzanalyse und Lebensphänome37

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hier zu einem Ethos als »Aufenthalt« gemäß Heideggers Übersetzung, nämlich jegliche Form von menschlicher Wirklichkeit noch als »lebbar« zu verstehen – und dafür ein Wie aufzuzeigen, ohne sich der Entscheidung des Patienten zu substituieren. Also weder Ausflucht in eine Technik noch Ausflucht in eine Ideologie von Schulmeinungen, sondern reine Entsprechung mit der Wirklichkeit des immanenten Lebens, welches ohne letzte Vorstellbarkeit ist – und dies von uns fordert, um als solches gelebt werden zu können. Mit anderen Worten das Begehren zu ertragen bis an die Grenze des Unerträglichen, mithin ohne neurotische Verdrängung, aber auch ohne manische oder sonstige imaginäre Vertröstung in einem ungeklärten Bild von sich selbst und den Anderen, bzw. den Tod dabei zur letzten Figur des Lebens machen zu müssen. Vielmehr bleibt der »transzendentalen Geburt« im Leben ein alltäglich intensiver »Sinn« zu verleihen, welcher allein das Selbstbegehren in sich selbst zu sein vermag. Deshalb nicht »Supervision« als Distanz zum Leben, sondern als Eingetauchtsein in dieses Leben selbst, um von seiner Proto-Relation oder UrSituativität her alle (inter-)subjektiven Situationen im existentiellen Sinne zu verstehen und zu erneuern, soweit dies gelingen kann. In solcher Perspektive ist der Versuch einer Grundbestimmung der Wunsch an den Leser, sich selbst in seinen »Grund« zu begeben, wozu wir abschließend einige Elemente an die Hand geben wollen, die in unseren Augen ausgehend von den Disziplinen wie Phänomenologie, Tiefenpsychologie und Existenz/Daseins-Analyse im umfassenden Sinne als unverzichtbar erscheinen. Wenn wir diese Bilanz – neben Freud – vor allem auch mit Lacan durchführen, dann deshalb, weil dieser das »Geheimnis der Psychoanalyse« darin erblickte, dass es über das Andere hinaus kein Anderes mehr gebe, was heißt, das Leben als »lebendiger Drang« (poussée vitale) würde geopfert, ohne dass es »dem Subjekt zurückgegeben wird«. Diese Wahrheit soll für ihn kein Pessimismus sein, der nur verberge, worum es geht, sondern eine »Wahrheit ohne Hoffnung«, das heißt »ohne Erlösung«, da kein Signifikant im System des Anderen mir zu sagen vermag, »was ich bin«. Dies ist nach Lacan auch die »radikale Offenbarung« in Shakespeares »Hamlet«, welche aber nur übersetze, was das Leben als Unbewusstes sei, nämlich eine ständige metaphorische Verschiebung als »Opferung« dessen, was wir unsere nologie: Berichte aus der Praxis, Freiburg/München, Alber 2005, 68–98, hier bes. 79 ff.

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Subjektivität nennen. 39 An diesen Punkt gelangt die Supervision, wenn sie ohne falsche Vertröstungen durchgeführt wird, weshalb die Auseinandersetzung mit dieser Form der Neo-Psychoanalyse die Ernsthaftigkeit des Weges garantiert, um nicht den allzu leichten Verlockungen von Begehren und Leben als »Genießen« im alltäglichen Sinne zu unterliegen oder sie in einen »Sinn« des Opfers der Subjektivität umzudeuten. Geht man allerdings mit Lacan bis an diesen Punkt, dann stellt sich auch die Frage, ob die Tiefenpsychologie allgemein hier nur ihren klarsten Ausdruck findet – nämlich den eines von vornherein »unglücklichen Lebens«, oder ob damit jene Vorentscheidungen gefallen sind, die für eine radikalere Supervision und Therapie noch zu überprüfen bleiben. Jeder Schritt ist dabei zugleich ein praktischer, den der Leser mitgehen sollte, um zu erfassen, was dabei geopfert oder gewonnen wird – und auf welche Art und Weise. Zuspitzen lässt sich diese Frage in der Problematik des Verhältnisses des »Objekts« zur Libido, welches in gewisser Hinsicht auf den Trieb zu antworten scheint, was Lacan letztlich verneint, um diese Situation durch das Verschwinden oder Verlöschen (fading) des Subjekts zu kennzeichnen. Daher ist es auch möglich, den Weg der Supervision als die Frage nach dem »Objekt« schlechthin zu bestimmen, das heißt nach dem Begehren, dem kein Objekt entspricht, so wie auch das Leben in sich kein Ob-jekt kennt, was aber nicht heißt, dass es selber deshalb unglücklich oder geopfert wäre. Diese Spannung zwischen Objekt und Nicht-Objekt des Begehrens auszutragen, wäre dann die konkrete, erprobte Bewegung in jeder Supervision, denn das Verhältnis des Begehrens zu seinem (therapeutischen) Objekt entspricht nicht einem ganz allgemein gedachten (wissenschaftlichen oder philosophischen) Bezug des Subjekts zur Welt, sondern enthält die Illusion von imaginären Objekten wie Phantasma und Fetisch. Sie in jedem »Fall« von Patientenanalysen zu unterscheiden, ohne das Subjekt opfern zu müssen, gehört dann zu den dringlichsten Aufgaben einer Supervision, für die das Sein nicht nur »Köder« anstelle der möglichen Echtheit von Existenz und Leben sein kann. Aber dies zu erkennen, setzt eine »Trauerarbeit« an den Objekten des Begehrens voraus, wodurch gerade deutlich wird, dass der äußerste Verlust darin besteht, keine Antwort mehr vom »Anderen« empfangen zu können, sondern »mit dem eigenen Fleisch und Blut

39

Vgl. J. Lacan, Le désir et son interpréation (2013), 293, 354 f. u. 363 ff.

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zahlen zu müssen«, wie Lacan 40 festhält, da mit der Abwesenheit des Anderen auch die Botschaft der Signifikanten in diesem Fall ein Ende nimmt. Bleibt dann vielleicht ein Empfinden der Schuldigkeit, sich selbst und den Anderen nicht geantwortet zu haben, wie es an sich notwendig gewesen wäre, dann gibt es auch nicht mehr die Zeit, diese richtige Antwort nachzuholen. Im neo-analytischen Sinne Lacans wäre dies die äußerste Kastration, welche verstehen lässt, dass jeder Gesetzesfrage (Norm) eine primordiale Schuld vorausliegt wie bei Ödipus und Hamlet als Figuren des Menschseins schlechthin. Die Existenzanalyse Frankls würde hier antworten, 41 dass auch in der Trias von Schuld, Leid und Tod jeweils noch eine letzte freiheitliche »Stellungnahme« als personale oder noetische Haltung möglich ist, während lebensphänomenologisch in der Schuld selber weiterhin die Unmittelbarkeit des Lebens gefunden werden kann, da es sich nicht zurückzieht in der Bejahung der pathischen Subjektivität. 42 Diese Fragen müssen für den Supervisor geklärt sein, denn er begibt sich in einen Bereich, in dem ebenfalls nie gewusst werden kann, ob die mit dem Patienten gefundene Antwort ausreicht, da jeder »Fall« eine radikale Andersheit der individuellen Subjektivität impliziert, für die es trotz besten Wissens keine endgültige Antwort geben kann. Und dennoch sind die Worte, die ausgetauscht werden, immer entscheidend, wie die Frage von Übertragung/Gegenübertragung uns zeigte, insofern hierdurch der Patient in sich selbst auf seine eigene Antwort stößt, welche aber durchaus ein tiefes Schweigen sein kann. Hier dann eine weitere Äußerung oder Bedeutung erzwingen zu wollen, wäre nicht nur ein methodischer Fehler, sondern ein Missverständnis dessen, was sich im therapeutischen Prozess letztlich ereignet, nämlich eine affektive oder immanente Veränderung, die sich jedem objektiven Wissen von außen entzieht. Auch hier kommt mithin die Supervision in die letzte Dimension ihres eigenen therapeutischen Begehrens, welches in der Lage sein sollte, den Patienten selbst als »Objekt« des eigenen Begehrens im Sinne von gewünschter »Heilung« zu verabschieden – kein Wissen um den tiefsten Wandel bei ihm als Therapeut/Analytiker viel-

Vgl. ebd., 397 f. Vgl. Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Bern, Huber 1984, 202 ff. 42 Vgl. R. Kühn, Macht der Gefühle, Freiburg/München, Alber 2008, 91–97: »Verzweiflung und Schuld«. 40 41

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leicht mitnehmen zu können. Wir hoffen damit hinreichend angedeutet zu haben, dass gerade die Supervision sich nicht mehr auf leichtfertige Sicherheiten stützen kann, sondern zu einer (Selbst-)Reduktion jeweils in den Fallbesprechungen und Ausbildungen bereit ist, die einerseits alles Menschenmögliche an Phänomenen zulässt und andererseits auf den letzten Zugriff hinsichtlich des »Erfolgs« verzichtet. Aus diesem Grund war unser erstes Kapitel einer »Erneuerung der Metaphysik« auf der Grundlage radikaler Leiblichkeit gewidmet, um das Verständnis einer solchen Reduktion in allen Situationen und Veränderungen des subjektiven Lebens als Intensität und Pathos zu gewinnen. Der notwendige Verzicht auf rationale, logische oder ontische Deduktionen und analogische Erklärungen unter Bezug auf scheinbar letzte transzendente Prinzipien jeder Natur scheint uns daher zum innersten Verlauf von Therapie und Supervision grundsätzlich zu gehören, um zu ermessen, was an Einmaligkeit von »Existenz« oder »Leben« für jeden Patienten im Mittelpunkt dieses Geschehens im Sinne von Begegnung und Narrativität steht. Denn es ist im Vorhinein weder die Tragweite und Grenze dessen angebbar, bis wohin die Trauerarbeit an Verlust von Objekten des Begehrens reichen kann, noch gibt es irgendeine Schau oder Erkenntnis, die es uns erlauben würde, im »Realen« den Ort dieses Verlustes auszumachen – es sei denn eben unser je eigenes Imaginäre, welches sich eben mit dem gedachten Wirklichen als nicht übereinstimmend erweist und mithin alles berühren kann, was wir als »Wirkliches« wahrzunehmen vermeinen. In äußerster Konsequenz müsste man dann sagen, dass erst der Verzicht auf alle narzisstischen Anbindungen geleistet worden sein muss, um zu jener Handlung hinzufinden, die als »rein phänomenologisches Leben« auf uns wartet. Eine Klarsicht hierüber scheint uns die Grundlage selbst der Supervision zu sein, wobei nicht verkannt werden sollte, dass auch im »Narzissmus« die noch tiefere Selbstliebe des Lebens zu sich selbst nicht zerstört oder aufgehoben ist. Mit anderen Worten heißt dies aber nichts anderes, als dass gerade die therapeutische/analytische Supervision sich auf den Spuren eines Begehrens bewegt, welches weder mit der Reifung des Instinktes in eins fällt, um in einem entsprechenden Objektivierungsprozess die Realität zu erreichen, noch von dem klassischen erkenntnistheoretischen oder positivistischen Verhältnis zwischen Subjekt/Objekt her verstanden zu werden vermag, wie wir schon sagten. Sprach die frühere metaphysische und religiöse Tradition von einer cupido 438 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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sciendi, so hat die psychoanalytische Tradition durch die Herausstellung von einer anfänglichen oral-analen Phase des Triebes nach Freud dieser Sichtweise nur hinzugefügt, dass das »Objekt des Begehrens« einem ständigen inneren (unbewussten) Gleiten unterliegt, welches durch keine »Einverleiblichung« (Mutterbrust etc.) eine wirkliche Stillung erreicht, so dass stets »etwas« aus dem Begehren ausgeschlossen bleibt und als »Opfer« bezeichnet werden kann. Es gibt aus diesen nochmals kurz angeführten Gründen keine »Erfahrung der Wirklichkeit«, die unabhängig vom Begehren wäre – und selbst die wissenschaftliche Erkenntnis, die »objektive Realität« an sich erreichen zu wollen, ist nur dann vollziehbar, wenn das Begehren nach solchem Wissen zugleich einen gewissen »Ausschluss« des Erkennenden im Sinne einer pathisch empfindenden Subjektivität impliziert. Supervision auf und in den Spuren solchen Begehrens muss daher nicht nur um diese dialektische Epistemologie von Begehren/ Realität wissen, sondern vor allem rein phänomenologisch verstehen, dass das Begehren des Patienten (sowie unser eigenes) nicht einem bloßen Hedonismus gehorcht, der die scheinbare Korrespondenz von Lust und Objekt lange Zeit für die Ideengeschichte diktierte, und zwar bis hin zum Höchsten Gut. Vielmehr gibt es eine prinzipielle Diachronie des Begehrens, welche wir lebensphänomenologisch als dauernde Oszillation von Freude/Schmerz bezeichneten, woraus dann die so schwer zu beantwortende Frage entsteht, wie sich eben das Begehren in die Synchronie von Zeit, Existenz und Sprache einschreibt. Genau diese Einschreibung im Detail beim Patienten als Verhältnis von Begehren/Sinn zu verfolgen, ohne von einem realistischen oder abstrakt formalen Objektbegriff auszugehen, bleibt auch die eigentliche Aufgabe der Supervision. Und wenn Lacan 43 bezüglich solcher Problematik die Perversion als Beispiel anführt, dann deshalb, weil die perverse Beziehung zur Realität gerade nicht von einer KoNaturalität zwischen Trieb und Wirklichem her verstanden werden kann, sondern von den »Zerissenheiten« im Gewebe des Wirklichen selbst her, dessen kontinuierliche Existenz für den Perversen abgesichert werden muss. Es ist hier nicht mehr der Platz, um genauer zu untersuchen, ob die »perverse Funktion« nicht allgegenwärtig wie auch in den psychoVgl. Le désir et son interprétation (2013), 427 ff.; zum weiteren Verständnis der Perversion in dieser Sicht auch S. Lippi, Transgressions (2008), 26–37: »La foi du pervers«.

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tischen und neurotischen Verhaltensweisen ist, da grundsätzlich festgehalten werden kann, dass für einen Patienten »Sinnverlust« stets einem auch affektiv »durchlöcherten« oder »beschädigten« Weltbild entspricht und alle verzweifelten Kräfte aufgewandt werden, um das Gefühl des totalen Verlustes an Welt- und Lebenseinheit zu vermeiden. Hieran wird ersichtlich, dass genau für die Supervision die Korrelation Begehren/Welt bzw. Begehren/Sinn als Verhältnis des Patienten zu all seinen realen und imaginären Objekten eine zentrale Bedeutung besitzt, um seinen Bemühungen, Konflikten und Kämpfen hinsichtlich einer als Verlust (Frustration) empfundenen Existenz genau folgen zu können. Dies ist dann allerdings nur möglich, wenn der Supervisor diese Begehrensproblematik so weit wie möglich für sich geklärt hat, das heißt einerseits unter dem Blickwinkel eines fragwürdigen (objektiven) Realismus und andererseits in Bezug auf ein sich selbst gründendes radikal phänomenologisches Leben, welches im eigentlichen Sinne nur »Wirklichkeit« genannt werden kann, da aus ihm als Begehren (Selbstaffektion) alle welthaften und existentiellen Realitäten tatsächlich und potentiell ermöglicht sind. In der Supervision kann so deutlich werden, dass jede Anfrage an den Anderen (mithin gerade auch an den Therapeuten) über das jeweilige Bedürfen des Patienten hinaus etwas impliziert, das keiner letztlich geben kann, nämlich eine Wahrheit oder Liebe ohne Kastration, das heißt ohne »Opfer« im existentiellen Sinne. Wenn alle Objekte hiervon gekennzeichnet bleiben, dann offenbart gerade das Begehren durch alle biographischen Einzelerfahrungen hindurch, dass das Leben als solches nicht in eine Schatztruhe eingeschlossen werden kann, um es auf irgendeine Art sichern zu wollen wie im »Geizhals« von Molière. »Bewahren« kann sich das Leben nur aus seinem eigenen phänomenologischen Wesen selbst heraus, so dass die Begegnung von Subjekt zu Subjekt in der Therapie, wie die Supervision deutlich zu machen hat, das einzige mögliche Tun bleibt, wenn jene Phantasmen durchschaut sind, die uns gerade daran hindern zu erkennen, dass das Begehren jener »Rest« ist, mit dem wir ständig unser Leben »bezahlen«, ohne es mit Objekten retten zu können, die schon immer den Verlust in sich tragen – und genau darin gleichzeitig die »Selbststeigerung« des Begehrens selber zu erproben. 44 Die Weite und Konkret44 Zum Begriff der Selbststeigerung vgl. M. Henry, Die Barbarei (1994), 82 ff., 281 ff. u. ö.

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heit der Supervision entspricht folglich einer Grenzabschreitung, die für die Existenz des Patienten vor keinem Anderen und vor keinem Objekt als imaginärer Bindung Halt machen kann, um nämlich nicht nur die fixierten Identifikationen aufzubrechen, sondern die Möglichkeit der Identifizierung als solcher, die ausgeht von der Frage: »Wem kann ich glauben?« »Auf wen kann ich zählen?« Wenn die Wissenschaften selber heute immer weniger die Aufklärungs-Hoffnung erfüllen können, uns über die Erkenntnis von Objekten das Wissen über uns selbst zu garantieren, dann kann die phänomenologisch wie tiefenpsychologisch hier skizzierte Supervision für die individuelle therapeutische Praxis deutlich machen, dass unsere »Selbsterkenntnis« nicht in den Objekten sich wiederfindet, sondern in einer Verschachtelung imaginärer Symbolik, die es als immanente »Sprache des Lebens« zu entziffern gilt – was aber nur möglich ist, wenn wir das Leben (Unbewusstes) selbst schließlich nicht mehr als ein »Objekt« nehmen. Der »Rest« des Begehrens, der bleibt, wenn die entsprechenden Reduktionen stattgefunden haben, ist das reine Ausgesetztsein ins Leben. Dieser Einübung gilt die Supervision, denn sie hat sich nicht nur von der Frage zu lösen, ob der je Andere mir »die Wahrheit sagen« kann, die trägt, sondern ob jeder sich von der neurotischen Frage distanziert hat, »wer er sei«. Denn ob wir den ursprünglichsten Bezug des Subjekts zu sich selbst Anstrengung, Intentionalität oder Narzissmus nennen, 45 so impliziert er die radikal phänomenologische Unmöglichkeit, sich im Akt solcher Erfahrung als »Selbsterprobung« für das Bewusstsein ohne Trennung erleben zu können. Die neurotische Frage nach dem »Selbstsein« als »Wer bin ich?« impliziert daher eine ständige Ermüdung, die mit keiner muskulären Müdigkeit vergleichbar ist, da die Anstrengung, eine objektivierbare Antwort auf diese Frage zu finden, an kein Ende der Bedeutungen kommt, die so ständig wieder neu aufbrechen in dem Versuch, diese Frage zu beruhigen. Zusammen mit nicht ausgeschlossenen psychotischen und perversen Elementen bei dieser Problematik können wir ermessen, wie die Supervision von »Fällen« oft vor einer langen Aufgabe steht, um diese Verzweigungen eines vergeblichen Fragens in dieser Hinsicht durchsichtig zu machen. Denn wenn sich Phantasma und Interesse eines Subjekts als »Patient« unendlich miteinander verweben, dann gibt es nicht nur die Lacan verweist hier ebenfalls auf den Begriff der Anstrengung (effort) bei Pierre Maine de Biran (1766–1824); vgl. Le désir et son interprétation (2013), 457 f.

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Schwierigkeit zu erkennen, welche Faszination für »etwas« wirklich am Werk ist, sondern worauf die wahren Anforderungen eines Individuums abzielen, da sie sich nicht mit einer »Realität« verwechseln lassen, die heute allein durch Wissenschaftlichkeit und Objektivität bestimmt ist. Das Maß der Supervision kann daher nicht ein »Aktuelles« sein, von dem wir gewöhnlich annehmen, es entspreche dem, was uns die öffentlichen Diskurse vorgeben, denn das Phantasma ist über das Begehren und Imaginäre an eine Dimension des Seins dergestalt zurückgebunden, dass es sich nicht einfach aufheben lässt, um seine Funktion zu verlieren. Sein, Begehren, Wirkliches und Selbst sind nicht bloße Zufälligkeiten, die uns »stören«, sondern implizieren eine Erfahrung, die für das Subjekt durchaus etwas implizieren kann, das sich nicht auf die Alltagswelt reduzieren lässt. Nennt man es ein »Geschick«, was auch mehr ist als bloßes »Triebschicksal« in einem deterministischen Sinne, dann ist es zugleich eine Aufgabe, eine Handlung, die nicht aufgeschoben werden kann, insofern sie sich durch das Begehren nicht aufschieben lässt, ohne von äußeren Zielen abhängig zu sein. Die Supervision hat mithin die Aufgabe, die Fäden solch je einmaligen Tuns eines Patienten als »Sinn« wie »Begehren« aufzufinden, ohne diese beiden Begriffe von einem ideologischen Vorverständnis abhängig zu machen. Ihre existentielle Relevanz ist mit dem Patienten selbst aufzufinden und zu bestimmen, was nochmals unterstreicht, zu welchen Reduktionen am eigenen Sinn- und Begehrenserleben Therapeut und Supervisor bereit sein müssen, um das Begehren sich selbst als Begehren finden zu lassen. Die Unzugänglichkeit zu einer Struktur des Begehrens, die alles Sprechen und Imaginäre eines Subjekts durchziehen kann, ist daher kein Zufall und hinterschreitet Bewusstes und Unbewusstes im gewöhnlichen Sinne noch, insofern das Subjekt in seinen Wiederholungen ein Stigma mit sich trägt, welches nicht nur masochistische Tendenz, Neigung zum Misserfolg hin oder Wiederkehr des Verdrängten bedeutet. Vielmehr ist dieses Stigma die prinzipielle Abwesenheit einer diskursiven Wahrheit über alle Diskurse hinaus, so dass nur der »gute Glaube« an den Anderen bleibt, er sage die Wahrheit und liebe mich. Weil dies aber ein durch nichts garantierter Glaube ist, schreibt sich das Phantasma als imaginärer Träger aller Hoffnungen genau an dieser Stelle ein und funktioniert affektiv noch weiter, selbst wenn alles therapeutisch durchleuchtet zu sein scheint. Denn die Worte können sich so weit ausdehnen, wie überhaupt nur menschliche Diskurse zu reichen vermögen, aber wenn sie sich nicht mit der 442 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

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Wirklichkeit decken, die von keinem in letzter Instanz bezeugt werden kann, dann muss das einzelne Subjekt an dieser Stelle der Trennung von Wirklichkeit/Anderem in eine fundamentale »Trennung« eintreten, welche durch nichts mehr symbolisiert ist – weshalb wir davon sprachen, jedes Begehren sei »Opfer« und benötige den Einsatz des eigenen »Fleisches«, das heißt des rein subjektiven Lebens ohne Bild, Wort oder Bedeutung. Es gibt mithin ein »reines Sein« des Subjekts, welches der bisherige Humanismus »Tiefe« oder »Transzendenz« des Menschen genannt hat, um damit auszudrücken, dass sein »Sein« mit keiner der Rollen, die der Mensch sich gibt, identifiziert werden kann, was aber gerade über fixierte Wiederholung als »Todestrieb« versucht wird, nämlich ein Objekt zu finden, welches scheinbar nicht der Kastration unterläge. Wenn Freud in gewisser Weise angedeutet hat, dass Todestrieb und Seinsbegehren durchaus konvergieren können, falls die Objektidentifikation mehr der Wirklichkeit als dem Imaginären (Phantasma) diene, dann lässt sich hier auch festhalten, dass Vertreter der humanistischen (anthropologischen) Psychotherapie wie Binswanger und Frankl (und in gewisser Weise auch Jung 46 ) genau diesen Weg weitergegangen sind, um Freiheit oder Dasein diesseits eines morbiden Schuldempfindens für einen »Sinn« offen zu halten, der die Lasten der existentiellen Bedingungen nicht verkennt, aber auch nicht als Determinismen fortschreibt. Insofern gehören Existenz- und Daseinsanalyse, wie wir öfters in unserer Untersuchung hervorhoben, mit zu einer methodisch integrativen Supervision, die allerdings an den phänomenologischen Relevanzen des Begehrens ausgerichtet bleibt, da diese die Spur zum Sinn hin finden lassen. So wie die Kunst nicht einfach Mimesis ist, so bildet in der Tat auch der Zusammenhang von Subjekt/Wirklichkeit in seiner letzten welthaften (objektiven) Unzugänglichkeit das Ereignis der Dimension von Sein/Subjekt, wo dann der Bezug des Subjekts zu seiner Trennung von allen Rollen und Bildern der Transversalität des Begehrens entspricht – mit anderen Worten jedes Individuum sich in dieses Begehren hineinzuversetzen hat, so wie es immer schon von diesem ergriffen ist. In der Supervision geht es darum, diese Transversalität wie Unzugänglichkeit nicht als einen Widerspruch anzusehen, sonVgl. zum Beispiel P. Hultberg, »Zentrum und Umkreis – Die Rolle von Jungs Selbstbegriff in der Gegenwart«, in: Analytische Psychologie. Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse 40/2 (2009) 204–226.

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dern vielmehr als die lebendige Weise der Selbstoffenbarung des Begehrens, und sei es durch Imaginäres und Phantasma hindurch. »Getäuscht worden zu sein« – vom Anderen, von mir selbst –, ist sicher ein Gift, das alle Handlung für kurze oder lange Zeit zu lähmen vermag, aber dies hindert nicht die Schwankungen wie Resonanzen des Begehrens in allen subjektiven Bezügen aufzuspüren, um die innere »Kartographie« dieses Stigmas in einer Therapie zu erstellen, welche dann die Supervision aufgreifen kann, um eine neue Reiseroute zu ermöglichen, um im Bild des Transversalen des Begehrens zu bleiben. Das »Sein« bricht im Leben hervor, das heißt in einer Erfahrung, wo noch kein Signifikant für das Wirkliche gegeben ist, was Lacan 47 die »Trennung« nennt, die sich dann in der Symbolik vergegenwärtigt. Wenn diese Trennung daher zugleich identisch mit dem »Intervall« ist, in dem das existentielle Subjekt zum Sein als »Selbst« kommt, dann ist dieser unzeitliche Augenblick identisch mit der Selbstaffektion durch das rein subjektive Leben, welches keinen Signifikanten – und kein Objekt – für seine Erfüllung kennt, da es bereits stets das »Ganze« oder »Eine« ist. Auch wenn diese beiden letzteren Begriffe eine komplexe Wirkungsgeschichte im Abendland hinterlassen haben, so lässt sich hier jedoch in Kürze sagen, dass das Begehren, welches im Intervall des Seins als Subjekt geboren wird, genau das ist, was für das Individuum zählt. Die zuvor erwähnte transversale Kartographie, welche die therapeutische Supervision erstellen möchte, ist daher nichts anderes, als was die Patienten sagen – dass sie sich nämlich im Begehren als jene erfahren, »die zählen«, da dieser Augenblick der Selbstkonstitution im existentiellen Intervall zugleich alle Transaktionen und Auflösungen mit sich bringt, welche bewirken, dass das Subjekt zumeist nicht mit seinen Objekten »zufrieden« ist, sondern »sich damit zufrieden geben« muss. Dies ist nicht nur ein Wortspiel, sondern genau jene Kartographie des Begehrens, welche man auch die Ordnung der Hingabe nennen könnte, wenn wir daran denken, wie in der erotischen Liebe der Andere ein Objekt der Zärtlichkeit ist und sie uns gewähren soll. 48 Es dürfte deutlich genug geworden sein, dass der Supervisor – auch wenn er in gewisser Weise ein Kartograph ist – auf

Vgl. Le désir et son interprétation (2013), 482 ff. Erinnern wir daran, dass auch E. Levinas jede Wahrnehmung eine »Liebkosung« (caresse) nennt, um den affektiv-leiblichen Bezug unserer Weltbezüglichkeit zu unterstreichen; vgl. Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, Alber 3 1992, 279 ff.

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keinen Fall dazu bestimmt ist, das Begehren des Patienten zu bestimmen, was aber zugleich einschließt, um es nochmals zu unterstreichen, dass er selber Klarheit darüber gewonnen hat, was es heißt, sein Begehren zu verwirklichen. Im Intervall, wo das Begehren ohne Benennung auftritt, spielt sich das Entscheidende für das Subjekt ab, da hier das Begehren oft erscheint, ohne erwartet worden zu sein und sich angekündigt zu haben. Die Affekte wie Scham und Abscheu, die sich danach einstellen können, aber auch Freude, Faszination und Bewegung, sind Zeichen davon, dass das Begehren in seiner inneren Gestalt nicht greifbar ist, weshalb es – wie in der Komödie – manchmal demaskiert, aber nie geleugnet werden kann. Hinsichtlich des Unbewussten weiß das Subjekt in diesem Augenblick nicht, wie es um sein Geschick bestellt ist, und hinsichtlich des Sinns, den es erwartet, ist es zunächst ohne Gewissheit. Deshalb ist es gerade die Aufgabe der Supervision, den Anteil des Phantasmas in beide Richtungen genauer zu erkennen, um dabei auch zu unterstreichen, dass eine gewisse Stabilisierung des Patienten hinsichtlich der Realität eine Regression in der Therapie/ Analyse nicht ausschließt. Deshalb bleiben in Bezug auf die Frustration, die Winnicott mit einem »vorübergehenden Objekt« verband, die möglichen neurotischen wie perversen Elemente in der Begehrenserfüllung stets zu überprüfen, sofern das Subjekt im Übergang des »Intervalls« eines vor allem fürchtet: das Verschwinden des Begehrens als Kastration. Diese Angst kann allerdings nur auftreten, weil das Begehren sich selbst begehrt, und daraus wird für den Neurotiker die innere Spannung: »Ich begehre mich als begehrend«, woraus sich zusätzlich ergibt: »Ich begehre mich als Begehrter begehrend«. Der Perverse hingegen begehrt das Begehren des Anderen, indem dieses sein eigenes Begehren reproduzieren soll, um so die Zerrissenheit seines Welt- und Existenzerlebens aufzufangen, wobei sein fundamentales Phantasma darin besteht zu glauben, im Begehren des Anderen ein Objekt wahrnehmen zu können. Ist mithin das »Intervall« vor der Benennung des Begehrens jener Augenblick, wo rein subjektives Leben und Imaginäres als mögliches Phantasma zusammentreffen können und eventuell durch eine Wiederholung im Sinne einer Gewohnheit (Todestrieb) verstärkt werden, dann ist es die Kunst der Supervision, so nahe wie möglich an diese Nahtstelle zu gelangen, um auch zu verhindern, dass der neue situative Sinn sich wiederum nach alten Tendenzen fixiert. Das Begehren mit seinem Phantasma kann dementsprechend als 445 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

ziemlich vollständige Struktur hinsichtlich der Aufgaben der Supervision aufgezeigt werden, denn die nosologischen Gegebenheiten sind hier in eins mit der Erfahrung des Subjekts in seinem Verhältnis zum Begehren zu erfassen, wie es gerade die neurotische Position im Zusammenhang mit der perversen, obsessionellen und hysterischen Position erlaubt, um deren schon zuvor genannten Elemente zusammenzuführen. Insofern sind die folgenden Hinweise hierauf in einem rein deskriptiven und keineswegs wertenden Sinne zu verstehen, um daran das Verhältnis von Begehren, Selbst und Welt im Sinne von Wirklichkeit und Sein noch plastischer illustrieren zu können. Denn als grundlegendes Ergebnis können wir hier festhalten, dass das Phantasma ein Hinweis auf den Zusammenhang von Begehren in seiner Abhängigkeit vom Anderen ist, wo zumeist eine traumatische Früherfahrung vorausliegt, insofern das Begehren als Offenheit für ein anderes Begehren als das eigene derart erschüttert wurde, dass er wie ein Rätsel zurückbleibt, was als generativ für den Kern der Neurose bezeichnet werden kann. Ein solches Subjekt vermag sich an der Spitze seines Begehrens nicht als »Ich« wirklich zu artikulieren, weil die Trennung des Intervalls, von der wir sprachen, zu einer offenen Wunde geworden ist, die zugleich ebenso verwundert wie sprachlos macht, weil sie als Phantasma undurchsichtig bleibt – oder wie Freud vom Traum sagte, es ein prinzipiell »Unerkanntes« gibt, insofern diese Wunde jedes Begehren unendlich an ein anderes Begehren weiterverweist. Im Text von 1917 über »Das Unbewusste« nennt Freud dies auch eine fundamentale Hilflosigkeit, die vielleicht noch schwerwiegender als die Angst ist, insoweit sie eine Erwartung hervorruft, von der nicht gewusst wird, was sie erwartet. Sie kann begründet sein in einer ursprünglichen Phobie, die aber auf eine ursprüngliche absolute Abhängigkeit zurückverweist, so dass die Furcht in solcher Phobie das Subjekt vor dem Hereinbrechen seines reinen Begehrens schützen soll, insofern diese Phobie als Bedeutung für jeden Zweck herbeigerufen werden kann. Im Fall des »kleinen Hans« 49 war es die absolute Abhängigkeit von der Mutter, welche diese mehrwertige Funktion der Phobie als Schutz vor einer bodenlosen Angst, selbst nicht zu sein, hervorgerufen hatte, was bedeutet, dass die neurotische Symptomatik an der Position des eigenen Subjektseins »interessiert« ist, 49 Lacan hat die Hälfte seines Seminars IV diesem Fall gewidmet; vgl. Le Séminaire IV: La relation d’objet (1956–1957), Paris, Seuil 1984 (dt. Die Objektbeziehung, Olten/Freiburg, Walther 1982).

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Supervision als »Kartographie« des Begehrens

welches am Abgrund des eigenen Verlustes steht. Tiefenpsychologisch spricht man allgemein in solcher Situation von einem »verdrängten Trieb«, aber es darf nicht übersehen werden, dass die gesamte neurotische Welt in ihrer spezifischen Wirklichkeit von diesem Phantasma durchzogen ist, auch wenn der Neurotiker gelegentlich im erwählten Augenblick die Erfüllung seines Begehrens berühren kann. Nun zeigt die Position des Obsessionellen und Hysterikers andererseits, dass angesichts des problematischen Objekts des neurotischen Phantasmas, nämlich sich auf keinen Fall dem Begehren des Anderen zu nähern, zwei weitere grundsätzliche Lösungen möglich sind, um sich das Genießen zu untersagen, weil es vor dem Subjekt den Abgrund des Begehrens öffnet – nämlich entweder wird das Begehren als unerfüllbar bzw. als unmöglich erlebt. In der Hysterie nimmt das Subjekt selber die Rolle des Dritten zwischen Subjekt und Objekt ein, welches oben das phobische Objekt genannt wurde. Dadurch verbietet sich die hysterische Position das Genießen selbst, indem sich der Hysteriker selbst zum Hindernis macht. Aber das Begehren verhindern heißt nichts anderes hier, als dass das Subjekt innerhalb dieser Verhinderung selbst weiterhin die entscheidende Rolle spielt. Unter der Form eines Schattens, den für eine hysterische Frau eine andere Frau einnehmen kann, aber nur ihre Doppelgängerin ist, kann das Begehren dennoch auf verborgene Weise eingeführt werden, ohne als das eigene Begehren gesehen werden zu müssen. In der Obsession hingegen ist das entsprechende Subjekt selbst nie wirklich anwesend, wenn sich ein Objekt präsentiert, welches sein Begehren wecken könnte. Auf diese Weise kann das eigene Verschwinden als die Verteidigung benutzt werden, um sich vor dem eigenen Begehren zu verbergen. Mit anderen Worten heißt dies, dass die Verzeitlichung eines solchen obsessionellen Verhältnisses nichts anderes als die Vertagung auf später für die Verwirklichung des Begehrens impliziert. Was in der Hysterie mithin augenblicklich ist, wird in der Obsession verschoben, was nicht ohne Verdienste nach außen im zweiten Fall erscheint, denn man kann damit die Begehren des Anderen honorieren. All diese Verhaltensweisen, welche in der Supervision strukturell wie im Detail aufzuschlüsseln sind, zeigen für die intersubjektiven Formen der genannten neurotischen Positionen allgemein, dass angesichts einer primordialen »Hilflosigkeit« vom Subjekt der Beistand der Anderen herbeigerufen werden soll, um sein eigenes Begehren aufrecht zu erhalten – anders gesagt sich selbst als 447 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

begehrend mit Blick auf das Begehren des Anderen zu konstituieren und zu positionieren. Hier liegt auch die Gefahr für den Neurotiker, welche er nicht durchschaut, denn sein Begehren, soweit es sich auf die beschriebenen Weisen aufschiebt, ist der Schutz selbst vor diesem seinem Begehren. Vor den Objekten des Begehrens muss er also eine Situation schaffen, in der er sich wieder erkennen und als Subjekt eine Befriedigung findet. Sobald in der Therapie ein gewisser Einblick in die Paradoxie eines solchen »Arrangements« von Situationen erzielt wird, wie Alfred Adler 50 sagte, wird auch das Verzerrende der Symptome als abänderbarer »Lebensstil« einsichtiger. Insofern das Begehren grundsätzlich an Gesetz wie Transgression gebunden ist, wie wir sahen, 51 ist es naturgemäß an alle kulturellen Instanzen um uns herum gebunden, welche auf gesetzlichen Regelungen errichtet wurden, was zugleich bedeutet, dass die Bedürfnisse und Wünsche dabei dem Erhalt der menschlichen Gattung und der Individuen dienen. In Verbindung damit ist nicht nur die Sexualität als grundlegende Verbindung zwischen den Menschen ein wichtiger Faktor, sondern für die intersubjektive Psychologie überhaupt, insofern die Sexualität über die Fruchtbarkeit und Zeugung Verwandtschaften und Beziehungen ermöglicht und festigt, in denen sich die Dialektik des Begehrens weiterschreiben kann. Wenn Lacan diesen übergreifenden normativen Zusammenhang mit dem Begriff Phallus bezeichnet, so ist für unsere Darstellung der Funktion der Supervision hierbei nur wichtig, dass letztere diese gesamte kulturelle und gesellschaftliche Symbolik als »Gesetz« nicht aus den Augen verlieren darf, weil sich das Subjekt in dieser allgemeinen Struktur gerade auch immer als bedroht vorfinden kann, insoweit es jeweils mit einem Verlust seiner selbst konfrontiert wird, gerade weil Bedürfen, Verlangen und Begehren keine Erfüllung zu finden vermögen oder gewalttätig von außen verneint werden. Das heißt, die neurotische Position berührt nicht nur eine individuelle Symptomatik, sondern eine transversale Dimension des subjektiven Seins als solchem, welches prinzipiell im Kontext des Gesetzes (Phallus) mit einer möglichen Trennung konfrontiert ist. Deshalb sollte gerade die Supervision darauf achten, dass die jeweilige Einzeltherapie nicht nur bei 50 Zum Arrangement als »Fiktion« und »Lebensstil« in der Neurose vgl. etwa Praxis und Theorie der Individualpsychologie: Vorträge zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte und Pädagogen, Frankfurt/M., Fischer 1974, 99, 162 u. 278. 51 Vgl. unser vorheriges Kap. II,6.2.

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Supervision als »Kartographie« des Begehrens

der individuellen Dialektik des neurotischen Verhaltens beim Patienten stehen bleibt, sondern die Grundsituation des Menschen schlechthin berührt wird, nämlich es innerhalb dieser kulturellen Gesamtproblematik mit der Frage einer äußersten Unmöglichkeit zu tun zu haben, die darin besteht, sich nicht selbst im Leben gründen zu können. Daher führt der Bezug von Angst/Begehren notwendigerweise in allen Bereichen auf die originäre Lebensselbstgegebenheit zurück, welche beinhaltet, ein rein passibles Mich vor irgendeinem intentional oder psychologisch konzipierten Ich zu sein. Bezeichnet man dies auch als die innere oder »metaphysische Wahrheit« der Neurose, dann lassen die restlichen Bemerkungen hierzu verstehen, dass es in allen Detailfragen stets um ein gesamtmenschliches Anliegen geht, in einem bestimmten Umfeld seine »Wirklichkeit« nicht zu verfehlen. In tiefenpsychologischer Sicht wird das Verhältnis des Subjekts zu seinem eigenen Bild und zum Privileg durch die Anerkennung des Anderen vom Narzissmus bestimmt, was nichts anderes bedeutet, als dass das Ich in allem als interessiert auftritt, wodurch therapeutisch gesehen eine Zersplitterung der Situationen sowie auch die Blockaden im Verhalten entstehen. Ohne hier weiter die Genesen zu berücksichtigen, wie sie seit Freud, Abraham, Ferenczi 52 oder Melanie Klein nachgezeichnet wurden, um psychoanalytisch die neurotische Konstruktion der Welt von einem solchen Ich her zu verstehen, so können wir hier doch sagen, dass es stets um die Frage geht, welchen Platz das Subjekt im Begehren einnimmt, um als Begehren zu existieren und vor dem Begehren des Anderen geschützt zu sein. Zwischen diesen beiden Begehren gibt es eine ursprüngliche Distanz, und Phobien, Hysterie und Obsession sind Formen dieses ursprünglichen Alibi, um der Stärke wie Schwachheit des Ich in seinem Narzissmus zugleich gerecht werden zu können. Übertragung/Gegenübertragung haben uns gezeigt, dass das Subjekt durch diese frühen genetischen Momente später wieder hindurchgeht, sei es die Rivalität, die Schuld und Bestrafung wie auch die Metaphorik des Begehrens, welche wiederholt, was das fundamentale Phantasma dieses Begehrens ist, um sein eigenes Sein als solches zu bestätigen – und sei es im Leiden und als Opfer wie im Masochismus beispielsweise. Was wir hier neuerlich nur herausheben können, ist die Tatsache, dass das Subjekt in all diesen Weisen Vgl. etwa S. Ferenczi, Introjektion und Übertragung, Leipzig/Wien, Deuticke 1910.

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Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

darauf ausgerichtet ist, sein Begehren als solches aufrecht zu erhalten, und zwar gerade auch durch die Schwächen des Ich als »Hilflosigkeit« hindurch. Die neurotischen Symptome dienen genau hierzu, nämlich eine ganze Bilderwelt von Befriedigungen zu erreichen, die an sich keine sind und dennoch die besondere Weise des »Genießens« in der Neurose darstellen – nämlich als ein reines Wesen zu erscheinen, um ein Wesen für das Wirkliche zu sein. Nietzsche sprach schon davon, dass hierbei mehr Schein als Sein im Spiel ist, aber es gilt gerade diese Logik zu verstehen, dass das gewollte Sein für ein um zu sein impliziert, 53 mithin die Kernfrage eines jeden Subjekts. Beide Dimensionen ineinander zu verfolgen, ist die eigentliche Leitlinie einer Supervision, um zu verstehen, worin sich Therapeut und Patient als jeweiliger Verlust und Gewinn eines solchen Seins bewegen, denn es kann nicht nur die Erotisierung des Verhältnisses des Subjekts zu sich als Ich sowie zu den Objekten und Anderen als neurotischer Narzissmus verstellt sein, sondern die Dimension des Begehrens überhaupt, welche sich – sowohl im wie wegen des Phantasmas – oberhalb jedes benennbaren Begehrens bewegt. Diese Erotisierung ist als Parallelisierung von Libido- und Ego-Entwicklung konzipiert worden, wie wir kurz zuvor schon andeuteten, um damit den neurotischen, perversen, obsessionellen und auch psychotischen Zugang zur Welt allgemein zu verstehen. Aber oft kranken diese Beschreibungen daran, dass Subjekt und Objekt durch eine mythologische Harmonie im Voraus wie einander zugeordnet wären, so als brächte die normale Instinkt- oder Triebentwicklung auch am Ende eine zufriedenstellende Objekterfüllung mit sich. Wenn allerdings das Begehren im rein subjektiven Leben des Mich als Passibilität unmittelbar gegeben ist, so tritt es in der Existenz nur als Distanz oder Trennung zum Ich auf, wodurch auch das Objekt des Begehrens nur ein »Rest« sein kann, insofern es vom Geschick des Begehrens durchzogen ist, welches Freud »Triebschicksal« nannte. Wie möchten hierzu nur an die Sucht von Drogen und Alkohol zurückerinnern, wo der ursprüngliche Vorgang von Projektion/Introjektion paranoid wie depressiv, das heißt von Angst um Verlust besetzt ist. Dies mag einige Aspekte der Annäherung an die Wirklichkeit durch das frühe Subjekt als Kind erklären, um auch Perversion und Psychose als Erfahrung eines »Loches« im Realen verstehen zu können, wogegen sich das Bei Lacan findet sich hierzu das Wortspiel être pur/ être pour; vgl. Le désir et son interprétation (2013), 514 f.

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Subjekt schützen will. 54 Aber man kann bei diesen Erklärungen nicht davon absehen, dass alle Genetik von Instinkt/Objekt eine fundamentale Frage nicht beantwortet, nämlich nach dem Status des Selbst im Augenblick der Trennung von »guten und bösen Objekten« und damit von »Innen und Außen« im Sinne Melanie Kleins. 55 Es muss in diesem Augenblick schon eine gewisse Bemächtigung durch das Ich geben, um überhaupt Objekte narzisstisch annehmen oder abweisen zu können, wohinter sich dann die Frage nach dem Begehren schlechthin erhebt: Wie etwas begehren, das man nicht erfragen kann? Mit anderen Worten gibt es eine Korrelation zwischen der ursprünglichen Trennung des Subjekts von allen Objekten auf der Ebene des Verlangens (Anfrage, Bitte) und dem Bereich des Nicht-Benennbaren des lebendigen Begehrens als solchem. Was hier vielleicht rein theoretisch klingt, berührt dennoch das konkreteste Geschehen in der Therapie selbst, wofür die Supervision deshalb eine große Sensibilität eröffnen sollte: Warum kommen Leute in die Therapie? Zumeist um Wohlempfinden und Erfüllung zu finden, und so wird ein Diskurs organisiert, um auf eine solche Nachfrage hinsichtlich Befriedigung zu antworten, was aber genau hieße, das Begehren auf ein Bedürfen im Sinne bestimmter Objekte zu reduzieren. Wenn wir bisher genug das Anliegen der Supervision herausgestellt haben, dann dürfte an solcher Fragestellung schließlich deutlich geworden sein, dass das Problem nicht irgendwelche gesuchten Objekte sind, sondern die Tatsache, dass der Patient als Subjekt sich weder in einem radikal phänomenologischen, tiefenpsychologischen noch existentiellen Sinne wirklich sein eigenes Begehren zutraut. Erfüllung, Sublimierung, Sinn etc. können als angebotene Antworten in eine Falle geraten, wenn nicht zur Sprache kommt (und dies sicher erst nach einiger Zeit), dass es ein Begehren gibt, welches nicht Gegenstand einer Nachfrage ist. Kommen wir hier auf die Neurose als Grundposition in den Therapien zurück, so wird jetzt noch greifbarer, dass der Neurotiker, um zu sein, ein Substitut sucht, weil Vgl. R. Lefort, Naissance de l’Autre. Deux psychanalyses: Nadia (12 mois) et Marie Françoise (30 mois), Paris, Seuil 1980, 401 ff. Allerdings darf ein solcher Versuch, »die Mutation des Realen der Leiber in den Signifikanten« zu erklären, welcher in der Psychose gerade scheitere, nicht mit einer umfassenden phänomenologischen Leibanalyse verwechselt werden. Zu deren größeren Dimensionen auch H. Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld/Locarno, Edition Sirius 2007. 55 Vgl. auch E. Brenman, Vom Wiederfinden des guten Objekts, Bad Cannstatt, Frommann-Holzbogg 2014. 54

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Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

er glaubt, dass ein Anderer dieses Sein habe. Und das Leidvolle für ihn hieran ist, dass er letztlich immer nur Substitute erfragen kann, weil die Dialektik seines Begehrens einem Bild folgt, sein Begehren für sich von Anderen erfragen zu müssen, weil er glaubt, dass dies sein Begehren wäre. Das imaginäre Ich ist hier vom Selbst getrennt, weil die Trennung vom Objekt zur Frage an den Anderen wurde, und zwar in dieser paradoxen Form, die aber eine Sicherung gegen das eigene Begehren darstellt, nämlich die Befriedigung des Anderen zu erfragen. Der »Altruismus« des Neurotikers ist mit anderen Worten der ständige Misserfolg seines eigenen Begehrens, um auf diese Weise zugleich zu glauben, dem Gesetz Genüge zu tun, das heißt, es zu besitzen, um es zu sein. Über Jahrhunderte hat sich die moralische bzw. religiöse Tradition und die philosophische Weisheitslehre nach der Entsprechung von Begehren und Objekt gefragt, und wir müssen von Freuds Trieblehre her gesehen ohne große Schwierigkeit zugestehen, dass Objekte wie Triebe stets nur als fragmentarisch und vertauschbar im Sinne von »Partialtrieben« auftreten, wozu auch die große gesellschaftliche Aufteilung in Mann und Frau gehört, um an die Bedeutung der Erotik für das Begehren und die Therapie zu erinnern. 56 Oberhalb von Objekten und Diskursen ist mithin das Begehren angesiedelt, und deshalb identifiziert sich das Subjekt in seiner Symbolisierung lange Zeit mit solchen »Verwerfungen« im wahrsten Sinne des Wortes, um existentiell zu verstehen, dass es ohne »Trennung« kein Selbst gibt, um sich als lebendiges Individuum wieder zu finden, welches seinem einmaligen Begehren stattgibt. In der Neurose klammert sich das Subjekt an eine Fiktion des absolut Anderen als Garantie, um nicht im ständigen Schwindel zu leben, und deshalb suchen viele Individuen in der Epoche wie der unsrigen, wo im Sinne Nietzsches »Gott gestorben ist«, nach einer menschlichen Form, die durch etwas Höchstes gehalten ist, um daran das Begehren heften zu können. Deshalb ist das neurotische Begehren stets wie am Horizont seiner selbst, man könnte auch sagen in ständiger Gewissensprüfung, 57 um eine Reise vorzubereiten, die jedoch nie unternommen wird. In diesem Sinne ist die Trennung, welche das Subjekt in dieser VerhalVgl. unser vorheriges Kap. I,3.1. Vgl. V. E. Frankl, »Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie«, in: V. E. Frankl u. a. (Hg.), Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, Wien, Urban & Schwarzenberg 1959, 663–736, hier 674 ff.

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tensweise kennzeichnet, wie ein Abgrund, an dem der Neurotiker entlang geht, um einen Halt zu finden, welcher aber nur dann gefunden wird, wenn dieser Halt zu einem Grund wird, der kein besonderes Objekt mehr impliziert – auch kein höchstes, wie es das rein subjektive Leben als unsichtbares Leben ermöglicht. Was in der Neurose also ständig bewiesen werden muss, ist das Weiterbestehen des Begehrens selbst, während der Perverse direkt daraus sein Fundament macht, da er Sein und Haben als für sich gegeben – oder Anderen gegenüber intendiert – zusammenführt. Daher könnte man sagen, dass bei Perversen die Trennung des Subjekts in eine Art Simulierung verfällt, denn was es nicht hat, besitzt es im Objekt, und was das Subjekt nicht ist, ist sein idealisiertes Objekt im Begehren. Das Begehren wird also auf der existentiellen Ebene stets symbolisiert, um das Begehren als Begehren – besonders in der Neurose – aufrecht erhalten zu können, wobei der Bezug zum Anderen, von dem die Antwort auf das Begehren erwartet wird, durch das Ich eine imaginäre Funktion erhält. Das unendliche Spiel der Substitute, welches sich hierbei einstellt, sollte demzufolge den eigentlichen Rahmen der Supervision bilden, da sich solche Substitutionen mit Bezug auf eine primäre Identifikation herausbilden, die vom Narzissmus aus zu verstehen bleibt und am Horizont aller Anfragen beim Neurotiker wiederzuerkennen ist. Beim Perversen hingegen ist das Begehren im Schoß seiner Anfragen, insofern er den Anderen in den Glauben an die Logik des eigenen Begehrens hineinvergarnen will – und dies zumeist mit subtilen Strategien, die seine Absicht nicht sofort erkennen lassen, aber stets mit einem Machtanspruch konfrontieren. Man kann es auch so ausdrücken, dass jenes von ihm mit Ausdauer verfolgte Objekt ein Objekt in der Mitte des Anderen ist, 58 um es ihm für sich zu entreißen, wobei der Andere leicht zum Opfer wird. Außer diesen kurzen Hinweisen zur Perversion muss natürlich auch noch ergänzt werden, dass heute mehr von »neurotischen Charakteren« gesprochen wird als von »Neurose« im klassischen Sinn wie zu Freuds Zeiten, da sich nicht zuletzt aufgrund von kulturellen Bedingungen die neurotischen Erscheinensweisen verändert haben. 59 Und dies führt uns auf einen zentralen Punkt von Therapie und Supervision überhaupt zurück, den wir schon bei der ÜbertragungsproVgl. J. Lacan, Le désir et son interprétation (2013), 550 f. Vgl. schon H. Müller-Suur, Das psychisch Abnorme. Untersuchungen zur allgemeinen Psychiatrie, Berlin/Göttingen/Heidelberg, Springer 1950. 58 59

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Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

blematik angesprochen hatten, nämlich auf den Zusammenhang zwischen Fragen der Objektbeziehung im Begehren und einer gewissen moralisierenden Normierung des Verhältnisses des Subjekts zu seinen Objekten. Von dieser Klarstellung sind alle Therapierichtungen betroffen, und für die Supervision erlaubt uns dies eine letzte Stellungnahme zur Sicht des Patienten überhaupt, den wir durchgehend in seiner einmaligen Lebendigkeit oder Subjektivität haben verstehen wollen. Wenn im therapeutischen Prozess die Besonderheiten und eventuell »Degradierungen« des Subjekts zum Umfeld seiner Objekte zur Sprache kommen, dann schleicht sich hier sehr leicht die Perspektive eines vorgegebenen »normalen« Verhältnisses zu denselben ein, was zu Folge hat, dass der Patient so betrachtet wird, als sei er aus seiner freien Autonomie momentan herausgefallen, und es gehe darum, dieselbe wieder herzustellen, da sie bloß verkannt oder vergessen wäre. Was sich hierbei als Gefahr für den Therapeuten ergibt, ist die Voraussetzung seiner eigenen Werte als Referenzsystem, so wenn beispielsweise die affektiven »Ungenügsamkeiten« des Patienten analysiert werden. Das heißt, es wird manchmal sehr rasch dann ein unterster Grad der Identifikation festgeschrieben, um die guten und bösen Objekte zu benennen, die introjiziert und projiziert wurden. In diesem Sinne werden Neurose und Perversion als subjektives Drama einer Entwicklung zu Fixierungen von frühen (ödipalen) Instinktreferenzen, wobei die Natur der »Subjektivität« selbst äußerst zweideutig bleibt. Bedeutet sie das »Selbstsein« des Patienten, dann wird in solcher Perspektive die Therapie zu einer (problematischen) Neuausrichtung solcher Identifikation, damit das jeweilige Individuum durch die therapeutische Erfahrung eine neue Referenz zur »Wirklichkeit« gewinne. Und dies ist genau die Ebene, wo die Normierung in einem moralisierenden Sinne sich leicht Einzug verschaffen kann, denn wenn auch der Therapeut/Analytiker weitgehend von seinen eigenen Werten zu reduzieren vermag, so ist es wissenschaftsgeschichtlich wie epistemologisch doch der Normalfall, dass die eigene Wissenschaftlichkeit (hier der Therapierichtung oder Psychoanalyse) als unhinterfragter Maßstab für den wiederzufindenen Bezug mit der »Wirklichkeit« fungiert. Aber dies würde nichts anderes bedeuten, als genau das zu wiederholen, was bei den neurotischen und perversen Objektbeziehungen beispielsweise in Frage gestellt wurde, nämlich generell eine Identifizierung, anstatt zu sehen, dass die Subjektivität letztlich allein in einem Bezug zu ihrem Begehren steht. Seit die Menschen ethisch 454 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Supervision als »Kartographie« des Begehrens

denken, haben sie eine Moral des Begehrens entworfen und dabei berücksichtigen müssen, dass das Begehren in seiner Subjektivität aber auch oft als Paradox erlebt wird. Dennoch schreiben Denker wie Platon, Spinoza und Simone Weil, 60 dass das Wesen des Menschen das Begehren (eros) sei, womit allerdings noch nicht unmittelbar auf die Frage geantwortet ist, was das Begehrenswerte als Inhalt oder Ziel dieses Begehrens wäre. In der Therapie/Analyse tritt hinzu, dass das Begehren nicht einfach nur mit unserem Handeln in Verbindung steht, sondern der Beweggrund von allem bildet, von allem Tun wie Verhalten, so dass von diesem zentralen Punkt aus eben auch in der Supervision das Begehren als Weg wie der Schlüssel zum »Sinn« der je individuellen Existenz hin zu verstehen bleibt. Und obwohl das Begehren im rein phänomenologischen Leben als solchem gründet, mit dessen Selbstaffektion sogar identifiziert werden kann, zeigt uns unsere existentielle Erfahrung, dass das Begehren nicht mit Harmonie gleichzusetzen ist, denn es kann auf dieser Ebene problematisch, vielgestaltig und sogar widersprüchlich sein. Aus diesem Grund ist genau die (Gegen-)Übertragung der Ort und die Weise, wo die therapeutische Erfahrung den Wegen des Begehrens zu seinen Objekten hin folgen kann und dann ebenfalls zeigt, dass die Fixierung auf eine primäre Regression und Frustration nicht nur in sich schon negativ ist, sondern vor allem durch den Zusammenhang von Frustration/ Bedürfen eine Festlegung des Begehrens auf eine bloße Anfrage vornimmt. Hier schleicht sich dann nicht nur leicht die schon zuvor genannte moralisierende Normierung ein, sondern das Begehren als solches bleibt dann ohne Antwort, weil die Gefahr besteht, sich therapeutisch allein auf die Regulierung des Abstandes des Begehrens zu seinem Objekt zu konzentrieren. Dann verstrickt man sich nur zu leicht in die Widersprüche des Narzissmus und die imaginären Verzerrungen des Ich, um auf diese Weise das alte Gefälle von Arzt und Patient wiederzubeleben, obwohl im Zentrum jeder Psychotherapie/Analyse die Subjektivität nicht der Allmacht des Therapeuten ausgeliefert sein soll, um die angebliche Distanz zu den Objekten zu verringern. Und auch bei Psychose und

60 Diese Autoren werden als maßgeblich von Lacan zitiert; vgl. Le désir et son interprétation (2013), 16 f., 155, 558, 577, 609 u. 361, 370, 442. Für S. Weil auch R. Kühn, Leere und Aufmerksamkeit. Studien zum Offenbarungsdenken Simone Weils, Dresden, Text & Dialog 2014, 53 ff.

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Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

Wahn bleibt für die Erfahrung der (Gegen-)Übertragung zu beherzigen, dass der Patient uns gleich ist, weshalb wir – um erstaunliche Worte bei Lacan 61 zu gebrauchen – »mit ihm durch Bande der Nächstenliebe, der Achtung nach unserem eigenen Bild verbunden sind«. Der Patient ist also kein bloß passives Selbst, sondern er ergreift im therapeutischen Prozess das Wort, und dadurch bewegt sich das Begehren nicht allein auf der Ebene eines instinktiven Strebens letztlich, sondern in einer Zeitlichkeit und Bedeutung über alle empirischen Anzeichen hinaus. Daher ist das Begehren weder die bloße Folge eines élan vital noch des begrenzt Ausgesagten, welches sich als »Sinn« zu artikulieren versucht; das Begehren ist in seinem Wesen über beides hinaus und zugleich deren Wurzel. Und weil er als Erwartung an das Begehren des Anderen gebunden ist, sind in ihm auch parallel oder sogar zugleich die grundlegenden Gefühle vernehmbar, nämlich Liebe und Hass: »Er/sie soll sterben!« Und ebenso: »Wie schön ist er/sie. Ich liebe ihn/sie!« Zwischen diesen beiden Grundtonalitäten, die stets auch Freude und Leid bedeuten, bewegt sich mit seinen Oszillationen das Begehren, in denen es als »Intervall« des Subjekts sich immer wie neu konfiguriert, um selbstverständlich auch imaginäre Formen des Phantasmas zu transportieren. Aber die grundlegende Problematik, auf welche die Supervision vor allem achten sollte, besteht eben nicht darin, ob ein Objekt eine Instinkt- oder Triebbefriedigung darstellt, sondern der eigentliche Inhalt des Begehrens ist das Begehren des Begehrens, um das herum alle Objekte kreisen. Als Objekt des unbewussten Begehrens tritt es auf als Wunsch nach Anerkennung, und dabei kann natürlich ein Fetisch diese Rolle übernehmen, so wie wir wissen, dass ein Fetisch sowohl im gesellschaftlichen (Marx) wie psychischen Sinne seine imaginäre Anerkennung zu fordern vermag, und zwar mit den Folgen eines trügerischen Tausches, der sich auf der Ebene des Begehrens zu vollziehen scheint, aber im Grunde nur eine Bedeutung des »Begehrens des Begehrens« übernimmt und es damit verschiebt. Wenn indes die existentielle Trennung das Subjekt an sein Sein verweist und kein Objekt diese Position jemals wirklich einnehmen kann, so signalisiert jedes begehrte Objekt im Grund eben einen Rest, der sich nicht nur einfach auf die normierte Wirklichkeit bezieht, sondern auf das Reale, das nie fehlt – auf das rein phänomenologische

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Supervision als »Kartographie« des Begehrens

Leben, wie wir durchgehend ausführten. Die Wirklichkeit enthält alle kulturellen Symbole des Begehrens, aber das der Subjektivität in ihrer immanenten Erprobung eigentliche Begehren ist ein »Objekt«, welches sich dieser Erfahrung in einem gegenständlichen Sinne gerade entzieht. Für die Supervision von Therapie und Ausbildung bedeutet dies, dass sich eine solche Erfahrung – bei aller biographischen Erinnerung und Antizipation von »Sinn« – im Augenblick entscheidet, denn das wirklich Neue ist nur in dem Moment, der noch nicht in den Koordinaten des Vergangenen auftrat und auch noch nicht als das Zukünftige in der Erwartung tendenziell mitkalkuliert ist. Das Neue als Reales ist das Sich-Aussetzen ans Unausweichliche, welches der bloßen Anfrage/Bitte entgeht und daher das eigentliche Objekt des Begehrens bildet, denn was in der Existenz Öffnung und Trennung ist, das ist als reine Subjektivität die Einheit von Leben/Begehren ohne Objekt – und von solcher Natur ist die reine Aussetzung, welche man dann auch Freiheit (in) der Subjektivität nennen kann. Damit vermag das Subjekt auch auf die Erwartung des Anderen in dessen Begehren zuzugehen, um in Affekt und Wort diese gegenseitige Erwartung im Augenblick für eine Übertragung freizuhalten, die nicht rivalisierend oder ängstlich insistiert, um etwa eine Objektbeziehung in Frage zu stellen, was dann Scham und Panik auslöst, sondern die Aussagen ohne jede Depersonalisierung und Neubildung des Symptoms offen entgegennimmt – eben als das Neue des Augenblicks. Sagt ein Patient: »Ich habe geträumt, dass ich mit dem Therapeuten/der Therapeutin in heftigster Umschlingung in der Nacht geschlafen habe«, dann ist hier nicht zunächst eine ödipale Regression festzuhalten, sondern die Stimme eines Begehrens, welchem kein Objekt entspricht und das sich in seiner Subjektivität sucht. All diese Beschreibungen der Supervision bewegen sich daher nicht in einem luftleeren Raum, denn wir wissen, dass jeder intersubjektive Austausch ebenfalls bestimmt bleibt von den Spuren, welche die Kultur in unseren Gesellschaften hinterlegt hat, um so die Anfragen des Begehrens zu kanalisieren. Dies bedeutet aber, dass sich die Perversion hier strukturell wiederfindet, denn die Identifikationen, die dem Subjekt zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Norm abverlangt werden, sind ebenso inkonsequent, konfus, verschroben und sogar wahnhaft wie die familiär praktizierten Identifikationen, so dass der Konformismus oft die logische Konsequenz solcher Anpassung ist. Wenn es in der Therapie tatsächlich um das Begehren des Subjekts als Bezug zu seinem Selbst als Sein oder Existenz geht, dann muss die 457 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

Supervision von Therapie wie Ausbildung solchen »Zeitgeist« 62 stets mit erkennen und soweit es geht überwinden. Die von Freud genannte Sublimierung ist hierbei ein möglicher Weg, denn ihr engerer Sinn als Orientierung einer sexuell orientierten Energie auf andere Ziele hin lässt sich dann nämlich fassen als die Bewegung des Begehrens auf einen Wert oder Sinn hin, der nicht unmittelbar gesellschaftliche Geltung erheischt, sondern eine »Entleerung« für das Leben im wohlverstandenen Sinne bedeutet, nämlich als eine schöpferische Leistung, die nicht ohne eine bestimmte Wahrheit ist, die dann den Konformismus umbilden und vielleicht sogar aufbrechen kann. Kommen wir hier zu einer Schlussbemerkung hinsichtlich der Supervision, so wäre zu sagen, dass in deren Rahmen das Begehren eines Subjekts auf das Begehren des Therapeuten trifft – und dies auf dem genannten kulturellen wie gesellschaftlichen Hintergrund. Wir haben klar gestellt, dass die Supervision darüber wachen sollte, dass der Patient nicht nur seine Vergangenheit zu rekonstituieren hat, auch nicht an vorgegebenen Normen gemessen werden soll, sondern sich in seiner Erzählung als der »Ort« des Lebens selbst erfährt. Sehr gut spüren die Patienten, dass sie in den Fragen des Therapeuten mit dem konfrontiert werden, was dessen Begehren ist, so dass stets deutlich werden sollte, dass nicht unser Begehren die Linie für das Begehren des Patienten vorgibt, sondern es sich eben auf ihn als den Anderen richtet – auf seine Freiheit und Verantwortung in einer anderen Sprache. Die Supervision soll daher gewährleisten, dass in der Therapie das Begehren für einen Anderen als den Therapeuten heranreifen kann. Diese Situation ist und bleibt paradoxal, da sie eine gewisse Regel auferlegt, die nicht nur der Psychoanalyse eigen ist. Denn da der Patient all seine Anfragen und Bitten dem Therapeuten/Analytiker als Träger derselben überantwortet, antwortet dieser notwendigerweise auf keine, aber dies ist keine absolute Nicht-Antwort, sondern in jeder Sitzung ergibt sich momentan eine Leere, die auch am Ende jeder Sitzung wiederkehrt, nämlich eine Trennung, damit die genannte Leere die Möglichkeit für die Situierung eines Begehrens des Patienten wird, bzw. dieses genauer in sich zu hören. Die Präsenz als eine in der Nicht-Antwort ermöglichte Antwort des Patienten an sich selbst ist wie ein Einfall, ein Stück Phantasie – kein Archetyp, kein fertiger Sinn als vorausgesetztes Wissen, sondern eher die ÖffVgl. V. E. Frankl, Der leidende Mensch (2008), 163 ff. u. 219 ff. zur »Kritik des Nihilismus« und zur »Krise des Humanismus«.

62

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Zum Verhältnis von Religion und Therapie heute

nung auf das Wirkliche des »Ganzen« hin in einer plötzlichen und abgründigen Öffnung, die das Subjekt selbst ist.

3) Zum Verhältnis von Religion und Therapie heute Dieser Augenblick einer Öffnung, welche die Patienten oft selbst als ein »Absolutes« für sich erleben, kann der Frage nicht ausweichen, ob damit indirekt eine religiöse Dimension in der Therapie angesprochen ist. Dass es historisch gesehen Zeiten gegeben hat, wo es heißen konnte: »Die Psychoanalyse gegen die Religion« und »Die Religion gegen die Psychoanalyse«, steht außer Zweifel, aber heute ist nicht mehr so sehr von einer Wiederkehr der Religion oder der Religionen die Rede als vielmehr von einer neuen »Erfahrung des Religiösen« überhaupt. Das heißt, das gegenwärtige individuelle Empfinden befreit sich von den institutionellen Aspekten der bisher etablierten Religionen (wenn wir vom Fundamentalismus absehen), denn was als »religiös« empfunden wird, ist weitgehend eine emotionale Erfahrung, die mit einem gewissen Sinn der Transzendenz einhergehen kann, aber vor allem eine gelebte subjektive Erfahrung bedeutet. Wollte Freud mit der Religion im Namen von aufgeklärter Wissenschaftlichkeit an ein Ende kommen, so ist es heute genau dieses »Gefühl des Religiösen«, welches alle offiziellen Diskurse in Frage stellt, da sie auf das nicht antworten, was die Individuen in ihrem Inneren betrifft. So gibt es eine künstlerische Erfahrung wie eine therapeutische Erfahrung, und eben auch vermehrt eine »religiöse Erfahrung«, die sich in das besondere demokratische Empfinden der Individuen als »Freiheit« einschreibt, um jene Situation hinter sich zu lassen, die Freud gerade kritisiert hatte, nämlich nicht so sehr die subjektive Seite als vielmehr die kollektiven Aspekte der Religion im Sinne von Ritus und Gesetz, da sie mit seiner Analyse der Zwangsneurose als einem Unterworfensein unter kleinmütige Regeln, Praktiken und Einengungen übereinstimmten. Mit anderen Worten ging es um die »Zeremonien« einer privaten Religion, die als Neurose tragisch-komische Züge hatte und daher der Aufklärung durch die Psychoanalyse als »Wissenschaft« zu harren schien. Dennoch kann man Freud nicht ganz absprechen, dass er 1907 in dem entsprechenden Text über Triebhandlungen und religiöse Praktiken durchaus eine »Psychoanalyse der Religion« im Sinn hatte, insofern letztere in ihrem Zentrum einen Verzicht durch Verbot auf Triebbefriedigung einschlösse. Dies 459 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

spiegelt heute nicht ohne Weiteres mehr das allgemeine Empfinden wider, da sich das Bewusstsein von Schuld und Angst gegenüber »göttlichen Strafen« eher zugunsten der Anerkennung eines berechtigten »Genießens« (Lust) verändert hat. Blicken wir deshalb kurz auf einen anderen Text von Freud aus dem Jahre 1928 mit dem Titel »Ein religiöses Erlebnis«, so wird hier zumindest sichtbar (auch wenn Freud darin jeden Gedanken an die Unsterblichkeit zurückweist), dass er gleichfalls die subjektive Seite der religiösen Erfahrung neben der kollektiv-neurotischen festgehalten hat. 63 Dies hat allerdings nicht verhindert, in der Religion aufgrund seiner Lehre vom Ödipuskomplex eine wesentliche Illusion zu diagnostizieren, 64 mit anderen Worten der Meinung zu sein, dass die Psychoanalyse in der Lage wäre, das aufzudecken, was der Religion selbst verborgen bliebe. Lacan greift all diese kritischen Fäden durchaus wieder auf, aber er sieht in der Religion eben prinzipiell eine subjektive Erfahrung, anstatt hauptsächlich nur den neurotischen oder illusionären Aspekt festzuhalten, Deshalb wendet er sich explizit auch dem Zusammenhang von Mystik und Subjektivität zu, das heißt einem »Wissen« des Subjekts, welches – wie die Psychoanalyse – niemals in das Feld der Wissenschaft eintrete. 65 Damit bewegt sich Lacan außerhalb der sterilen Alternative, die Religion als Illusion abzutun oder als konfessionelle Wahrheit zu validieren, denn er ist der Auffassung, dass weder die Psychoanalyse noch die Wissenschaft mit der Religion an ein Ende kommen können, was mit dem Wahrheitsbegriff selbst zusammenhängt. Hatte in der Tat das Judentum vor allem den Aspekt von Gesetz und Gehorsam in den Vordergrund gestellt, so sei das Christentum hingegen eine Religion der Wahrheit, was heißt, dass sie die Wirklichkeit des Wahren über ein bloß objektiv erreichbares Wissen stellt, was auch Lacan für seine Neo-Psychoanalyse gerade in Anspruch nahm. In den 1970er Jahren sah Lacan bereits einen gewissen Sieg der Religion voraus, da sie eben in der Lage sei, die Folgen der Wissenschaft abzufedern und all den Erschütterungen durch dieselbe einen Sinn zu geben. 66 Dieser »Sinn« besteht für Lacan gemäß seinem Denken in der Fähigkeit der Religion, das »ReaVgl. auch die Korrespondenz mit dem Theologen Oskar Pfister: Briefe 1909–1939, Briefwechsel zwischen Freud und Pfister, Frankfurt/M., Fischer 1963. 64 Vgl. Die Zukunft einer Illusion (1927), GW XIX, Frankfurt/M., Fischer 1967. 65 Vgl. Le désir et son interprétation (2013), 485 f. 66 Für die weitere Zeitdiagnose der folgenden Jahrzehnten vgl. etwa W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin, Acta Humaniora 7 2008. 63

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Zum Verhältnis von Religion und Therapie heute

le« zu berücksichtigen, was für ihn nicht ausschließt, dass es auch eine Menge »falscher Religionen« gebe. Deshalb erscheint die »Wiederkehr des Religiösen« in dieser Perspektive als eine epochale Notwendigkeit, nämlich dem entgegenzuwirken, was bisher eine Dysfunktion des Sinns als kulturelle Krise hervorgerufen hat. Aber so wie Freud sich kritisch mit den Monotheismen beschäftigt hat (wobei der Islam ausgeklammert blieb), so hinterfragt auch Lacan einen Religionsbegriff, der nur »Triebverzicht« verlange, da es auch eine »Weisheit« gebe, welche die Lust (jouissance) in eine gewisse Ordnung lenke könne, wodurch sie therapeutische Funktionen zu gewinnen scheint. Lacan denkt hierbei allerdings nicht an eine unmittelbare »Gesundheit« durch die Religion, so wie Statistiken angeblich belegen können, dass Sinngläubigkeit um 29 % die Lebenserwartung bei religiös und spirituell eingestellten Individuen verlängerte, sondern er erblickt im neo-psychoanalytischen Sinne die mögliche Bedeutsamkeit der Religion eben in der »Erfahrung der Wahrheit«, woraus sich dann als nicht direkt anvisierter Effekt Heilungsaspekte einstellen könnten. Wenn also Therapie/Analyse wie die Religion außerhalb des wissenschaftlichen Feldes im üblichen Sinne fallen, dann ergibt sich hier somit eine gewisse Homogenität zwischen Religion und Therapie, da es sich um den wesentlichen Unterschied für das Subjekt von Wissen und Glauben handelt. Die Religion hat einen anderen Status als alle objektiven Bereiche, die auf dem Beweisbaren beruhen, wie auch Kant diesen Unterschied für Vernunft und Glaube in theoretischer und praktischer Hinsicht in Anspruch genommen hatte. Es geht hier nicht um den logischen Status des Glaubens, denn es ist durchaus möglich, dass implizit dabei für den Einzelnen immer noch eine Funktion des »Wissens« subjektiv mitgegeben bleibt, welches die Rolle einer Hoffnung innerhalb des Glaubens stützt. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass die »religiöse Erfahrung« heute dort strukturell einspringt, wo das aufgeklärte Wissen sich als obsolet erwiesen hat. Jedoch geht es nicht darum, die Mängel der Wissenschaftlichkeit aufzuweisen, um dann in diese Leerräume das Religiöse als neue Sicherheit einzuschreiben, da dies nichts anderes als den Willen offenbaren würde, die »Religion« wieder triumphieren zu sehen. Es geht vielmehr darum, grundsätzlich zu erkennen, dass das wissenschaftliche Wissen nichts »Anderes« über sich hinaus erblickt, was ihm als Fundament dienen könnte, weshalb jede Wissenschaft hinsichtlich unseres Handelns willkürliche Maximen aufstellt, wel461 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

che sie prinzipiell nicht einlösen kann, da es ein vorhergehendes »Lebenswissen« gibt, wie Michel Henry 67 es nennt, welches uns transzendental affiziert und als immanent praktische Gewissheit leitet. Daher konnte die Religion ihre ablehnende Haltung gegenüber der Wissenschaft in den letzten Jahrhunderten nach und nach aufgeben, um sich nunmehr als »Erfahrung des Religiösen« genau in diese Lücke der Handlungsmotivation als »Lebensführung« (Rendtorff) einzuschreiben. Hierbei handelt es sich um keine »Gottesbeweise« mehr, sondern um eine unbenennbare Anwesenheit Gottes im Sprechen als solchem, welches nach Lacan eine unbewusste Verbindung zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat herstellt, was eben bereits ein »Wissen« vor dem Subjekt voraussetze. In dieser neo-psychoanalytischen Sichtweise wäre daher der »Glaube« jenes Vertrauen, welches wir der Sprache entgegenbringen, dass »sie spricht« – und in diesem Sinne ist »Gott« für Lacan das Sprechen der Wahrheit in mir. Wenn nun die Therapie/Analyse wesentlich Gespräch ist, dann wäre aus solcher Sicht das Religiöse nicht nur generell darin anwesend, sondern in einem engeren Sinne auch Gott als jener »Andere«, der als »Ort« des Wortes in Anspruch genommen wird. Und wenn es keine abschließbare Symmetrie zwischen dem Symbolischen (Bedeutungen) und dem Imaginären (Phantasma) gibt, dann gibt es nach Lacan dennoch eine Instanz über das singulär Eine und Andere hinaus. Ob es sich hierbei um eine Laizisierung oder Logifizierung Gottes handelt, wie Lacan 68 es selbst diskutiert, sei dahingestellt, denn es geht hier nur um die Frage, ob es prinzipiell eine Verbindung zwischen Religion/Therapie zu geben vermag, während Freud den Gott der Bibel als eine bloße »Verdichtung« aufgefasst – und damit geteilt hatte. 69 Wenn Lacan nun ein gewisses Genießen durch das Begehren zulässt, auch wenn es letztlich in keinem bestimmten Objekt festgeschrieben werden kann, dann hebt er hierdurch wohl diese freud67 Vgl. F. Charoy, »Lebensführung und Lebensethos – zur Frage ethischer Vermittlung bei Trutz Rendtorff und Michel Henry«, in: M. Enders (Hg.), Immanenz und Einheit, Leiden/Boston, Brill 2015, 127–149. 68 Vgl. Séminaire XX: Encore, Paris, Seuil 1975. sowie auch schon unsere Anm. 17 im Kap. I,3. 69 Vgl. S. Freud, Der Mann Mose und die monotheistische Religion (1939), GW XV, Frankfurt/M., Fischer 1987; dazu ebenfalls K. Wondracek, Psychoanalyse und Lebensphänomenologie. Ein Beitrag zur Klinischen Psychologie, Freiburg/München. Alber 2013, Kap. 4.3.1: »Freud, Moses Erbe« (S. 129–134).

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Zum Verhältnis von Religion und Therapie heute

sche Aufteilung Gottes wieder auf, denn es gibt in lacanscher Sicht sowohl einen sprachlich-wissenschaftlichen Gott (Grund der Signifikanz) wie einen im Begehren verborgenen Gott (Genießen), so dass hier die Verdichtung von beidem Aspekten die therapeutische Funktion von »Gott« enthalten könnte. Wenn Freud nämlich in der Religion nur den Triebverzicht problematisierte und den religiösen oder theologischen Charakter der Sprache in der Therapie verkannte, dann hat er selber damit nur ein Verbot eingeführt, welches eigentlich nicht das Genießen als solches betrifft, sondern nur das sexuelle Verhältnis. Mit anderen Worten ist dadurch eine ursprüngliche Gegebenheit wie das Begehren rationalisiert oder verneint, welches aber gar nicht als solches verneint werden kann, weshalb für Lacan Gott kein Name für das Verbot darstellt, sondern gerade aus der nicht-sexuellen Beziehung hervorbricht, wie sie auch im therapeutischen Gespräch maßgeblich ist, ohne das Begehren beim Patienten/Therapeuten zu verleugnen. Lacan bleibt mithin der Linie Freuds insofern treu, als er »Gott« in die Genealogie des Begehrens (Triebs) einschreibt, aber er situiert sich nicht aufseiten des Verbotes eines solchen »Genießens«, sondern in der Möglichkeit eines Übermaßes des Begehrens selbst, welches auf diese Weise ein »Unendliches« einführt. Das Verbot in der Sicht Freuds, welches in den weiteren Konzeptualisierungen vom »Über-Ich« und »psychischen Apparat« wiederkehrt, ist daher eine Hinzufügung zu einem ursprünglicheren Verhältnis – und als solche unnötig. Natürlich war das diagnostizierte »Triebverbot« ein zeitgenössisches Echo auf damalige christliche und bürgerliche Verhaltensweise gerade auch in der Sexualmoral, aber was es mit Lacan zu verstehen gilt, besteht darin, dass das Verbot oder der Verzicht in Bezug auf das Begehren gar nichts an der Struktur des Genießens als solchem ändert. Dies gilt auch für die heutige Zeit, wo die Tabus in Bezug auf »Lust« weitgehend aufgehoben erscheinen, denn es bleibt trotz allem ein Abgrund im Begehren, sofern es stets als Übermaß seiner selbst auch radikal phänomenologisch auftritt, und insofern kann man sagen, dass Freud nur einen kulturellen Schein hinsichtlich dieses Abgrundes offen gelegt hat – nämlich den Schein einer Lösung durch Verbot oder Verzicht. Wenn heute die beiden letzteren durch Stimulierungen und Anreize jeder Art aufgehoben oder zumindest relativiert zu sein scheinen, dann hat sich am Grundproblem jedoch gar nichts geändert, denn das Begehren gehorcht keiner Objektivität, weshalb auch die Frage neu aufbricht, ob »Gott« nicht ausgehend vom »Genießen« prinzipiell erlebt werden kann, welches ohne Zwei463 https://doi.org/10.5771/9783495807842 .

Ausblick: Übertragung und »projektive Identifikation«

fel im Sprechen und Erleben von »religiöser Erfahrung« heute mitgegeben ist. Wenn es mithin ein solches Gleiten gegenwärtig zu einer größeren Akzeptanz religiöser Erfahrung hin gibt, vor der sich auch die Therapie/Tiefenpsychologie nicht versperren kann, dann auch deshalb, weil Verbote schlechthin heute einem Verdacht unterliegen, denn das »Wie es Dir gefällt!« scheint immer stärker einen allgemeinen Konsens in unserem gesellschaftlichen Leben zu gewinnen. Das heißt, die allgemeinen Normen haben sich jetzt eher zu rechtfertigen als die Transgressionen im Verhalten, sofern sie nicht gewalttätig sind, 70 was dem Status des Imaginären einen neuen Stellenwert verleiht, und zwar dergestalt, dass die liberalen Gesellschaften zwar kodifiziert kein Absolutes mehr kennen oder gelten lassen, aber als Zivilgesellschaft dem Einzelnen in seiner jeweiligen Gläubigkeit tolerant begegnen. Staat, Kirche, Universitäten und andere öffentliche Institutionen haben nicht mehr den Kredit, um ein zweifelfreies oder sogar absolutes Wissen zu besitzen und durchzusetzen, was dann aber insbesondere in unserem Zusammenhang zur Folge hat, dass auch die Psychotherapie/Psychoanalyse für ihre Praxis einen neuen Hintergrund gewinnt, nämlich in ihrem Tun ein subjektives Wahrheitsgeschehen zu durchlaufen, welches nicht mehr unbedingt unter den methodischen Vorbehalt von Atheismus und Laizismus zu subsumieren wäre wie zur Zeit Freuds und in den Jahrzehnten darauf. Vielmehr wäre ein zusätzliches Register für die Therapie aufgeschlagen, ohne zwischen Wissenschaftlichkeit und Religion wählen zu müssen, weil es sachhaltig für das subjektive Selbst des Patienten um Veränderungen geht, die jenseits einer solchen Dichotomie liegen – ihn aber dennoch in seiner Gesamtexistenz als Begehren/Sinn betreffen, wie es auch im »religiösen Erleben« heute in Anspruch genommen wird. Wie wir zuvor schon sagten und in unserer gesamten Untersuchung unterstrichen, ist mit der Frage des Verbotes und dessen Aufhebung die Virulenz des Begehrens keineswegs beantwortet, und wenn das äußerste Begehren stets ein Begehren dessen ist, was dem Gesetz unterliegt, dann ist es trotzdem eine Illusion anzunehmen, das Gesetz richte sich gegen das Begehren. Vielmehr wäre die grundsätzliche Konstellation, die heute neu zu bedenken bleibt, jene primordiale Ge-

Vgl. Jahrbuch der Psychoanalyse 70 (2015): »Gewalt – Zerstörung – Transformation«.

70

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Zum Verhältnis von Religion und Therapie heute

gebenheit, dass das Begehren das Herz des Gesetzes selbst ausmacht – und nicht umgekehrt. 71 Dass es speziell in der Psychoanalyse eine bestimmte Nostalgie hinsichtlich der Bedeutung des Gesetzes gibt, versteht sich aus ihrer Geschichte heraus, um dessen Bedeutung auch stärker für die Gesellschaft heute noch einzufordern. Aber wenn gegenwärtig eine Mutation in Bezug auf das Verbot und den Verzicht stattfindet, dann wäre eine solche Position für die Psychotherapie heute allgemein problematisch, die sich einem neuen Empfinden öffnen muss, welches Gott und Eros im Sinne eines Begehrens ohne Objekt (Illusion, Imaginäres, Phantasma) neu zu bewerten hat, indem die Patienten mit gewandelten Einstellungen kommen. Diese mögen weiterhin neurotisch sein, aber in Bezug auf Gläubigkeit und Religion bzw. Spiritualität wären diese dann nicht mehr so einfach mit dem Verdacht eines bloßen »Infantilismus« zu belegen, sondern ebenfalls als Ausdruck eines neuen »Unbewussten« einschließlich »Gott« aufzugreifen und durchzuarbeiten. 72 Denn das Begehren folgt einer eigenen Ordnung, die nicht zu vergleichen ist mit dem bloß Nützlichen, und wenn das Religiöse auch weiterhin das Gefühl der Schuldigkeit unter seine Obhut nimmt, so doch eher im Sinne eines Wertes oder einer Stellungnahme, die aus der Existenz nicht wegzudenken ist. Demzufolge ist der Brand der Verbote vielleicht erloschen, aber damit ist noch nicht das Feuer des Absoluten selbst verloschen, welches der Mensch im Begehren mit sich trägt.

Vgl. zu dieser Diskussion J. Lacan, Le Séminaire VII: L’éthique de la psychanalyse 1959–1960, Paris, Seuil 1986 (dt. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Quadriga 1995). 72 Dies war schon die Position V. E. Frankls in den 1940er Jahren; vgl. Der unbewusste Gott. Psychotherapie und Religion (1948), München, Kösel 1994. 71

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