Bedeutungswandel und Sprachendifferenzierung: Die Entstehung der romanischen Sprachen aus wortsemantischer Sicht [Reprint 2013 ed.] 9783110931648, 348452281x, 9783484522817

The study sets out to illustrate the broad lines of the evolution of the Romance languages as reflected at the level of

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German Pages 374 [376] Year 1997

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Table of contents :
0. Zur Einleitung: Thema, Forschungsstand, Zielsetzung
1. Allgemeines zum wortsemantischen Wandel
1.1. Zum Gegenstand der diachronen Wortsemantik
1.2. Der semantische Wandel des Einzelworts
1.3. Wortsemantische Angleichungs- und Differenzierungsprozesse
1.4. Bedeutungswandel als Veränderung von Wortfeld- und Klassenstrukturen. Zum Anspruch der diachron-strukturellen Semantik
1.5. Regelmäßigkeiten im wortsemantischen Wandel? Zur Problematik der ‹Bedeutungsgesetze›
2. Praktische Probleme der diachronen Bedeutungsforschung
2.1. Die Unzugänglichkeit der Bedeutungsebene und das distributioneile Beschreibungsverfahren
2.2. Fragen der einzelwortbezogenen Bedeutungsermittlung und -beschreibung im diachronen Zusammenhang
2.3. Feldbezogene Beschreibung: Anwendungsprobleme der diachron-strukturellen Semantik
2.4. Probleme der vergleichenden diachron-semantischen Wortforschung
3. Fragen der vergleichenden diachron-semantischen Wortforschung im romanischen Bereich
3.1. Der Ausgangspunkt: Die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Lateinischen und ihre semantische Dokumentierung
3.2. Der zeitliche Ablauf des semantischen Differenzierungsprozesses im romanischen Bereich. Praktische Konsequenzen
3.3. Soziolekte, Gruppensprachen und Dialekte in den älteren Epochen der romanischen Sprachen
3.4. Quellen zur semantischen Erforschung des romanischen Wortschatzes in älterer Zeit
3.5. Zur Auswahl und Anordnung des lexikalischen Materials 86 4. Ein Beispiel: Die Bedeutungsentwicklung des lateinischen Verbs levare und seiner romanischen Fortsetzungen
4.1. Semasiologisch-genetischer Aspekt
4.2. Paradigmatisch-genetischer Aspekt: Inhaltliche Parallelentwicklungen im Lateinischen und Romanischen
4.3. Paradigmatisch-struktureller Aspekt: Veränderung von Wortfeld- und Klassenstrukturen im Sinnbezirk ‘tragen, führen, treiben’
5. Der lateinische Wortschatz des Sinnbezirks ‘L’activité physique exercée sur des objets’ und seine Bedeutungsentwicklung im Romanischen: Einzeldarstellungen
5.1. Teilbezirk ‘Herstellung, Bewahrung, Aufgabe von physischem Kontakt’
5.2. Teilbezirk ‘Physische Einwirkung auf das Patiens mit Ortsveränderung des Patiens’
5.3. Teilbezirk ‘Physische Einwirkung auf das Patiens mit Positionsveränderung des Patiens’
5.4. Übrige Teilbezirke (semasiologische Betrachtung)
6. Der lateinische Wortschatz des Sinnbezirks ‘L’activité physique exercée sur des objets’: Tendenzen seiner Bedeutungsentwicklung im Romanischen
6.1. Bewahrung, Veränderung und Neuentstehung von Teilsignifikaten in der semantischen Entwicklung der Wörter des Sinnbezirks ‘L’activité physique exercée sur des objets’: Überblicksdarstellung
6.2. Zur geographischen Verteilung der semantischen Entwicklungen
6.3. Diachron-semantische Charakteristik der einzelnen romanischen Sprachen
6.4. Zur Ursachenfrage
7. Zusammenfassung und Ausblick
Anhang: Wortregister
Literatur
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Bedeutungswandel und Sprachendifferenzierung: Die Entstehung der romanischen Sprachen aus wortsemantischer Sicht [Reprint 2013 ed.]
 9783110931648, 348452281x, 9783484522817

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BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE

PHILOLOGIE

BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER FORTGEFÜHRT VON WALTHER VON WARTBURG UND KURT BALDINGER HERAUSGEGEBEN VON MAX PFISTER

Band 281

FRANZ-JOSEF KLEIN

Bedeutungswandel und Sprachendifferenzierung Die Entstehung der romanischen Sprachen aus wortsemantischer Sicht

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1997

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs 1 der Technischen Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Zeitschrift für romanische Philologie / Beihefte] Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie. - Tübingen : Niemeyer Früher Schriftenreihe Reihe Beihefte zu: Zeitschrift für romanische Philologie NE: HST Bd. 281. Klein, Franz-Josef: Bedeutungswandel und Sprachendifferenzierung. - 1997 Klein, Franz-Josef: Bedeutungswandel und Sprachendifferenzierung : die Entstehung der romanischen Sprachen aus wortsemantischer Sicht / Franz-Josef Klein. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie ; Bd. 281) ISBN 3-484-52281 -x ISSN 0084-5396 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Graphiken: ScreenArt, Wannweil Einband: Heinr. Koch, Tübingen

A esto añado, que como las mismas gentes fueron, las que vinieron a Italia, Francia, i España, assi casi igual introduxeron la gramatica, que tiene mui poca diferencia en todas tres provincias, de manera que no es sola i particular de España, porque generalmente hablando es vna ... Lo que mas distingue estas tres lenguas es, que de la copia, i abundancia de la Latina, vna tomo vnos vocablos, i otra otros, vnos en vna significación, i otras en otra, vnos admite por metafora, otros por translación, lo qual no siguió la otra ... Bernardo Aldrete, Del origen, y principio de la lengva castellana ò romäce que oi se usa en España, Roma 1606, 189 f.

V

Vorwort

Die vorliegende Arbeit stellt meine Habilitationsschrift dar, die im Sommersemester 1992 vom Fachbereich 1 «Kommunikations- und Geschichtswissenschaften» der Technischen Universität Berlin als schriftliche Habilitationsleistung angenommen wurde. Sie wurde, da sie in der ursprünglichen Form für die Publikation zu umfangreich war, vor der Drucklegung nochmals überarbeitet. Ich möchte hier all jenen danken, die durch Rat, Kritik und praktische Unterstützung das Zustandekommen dieser Arbeit gefördert haben. A l s erste sind hier meine akademischen Lehrer Prof. Dr. Artur Greive und Prof. Dr. Hans Dieter Bork zu nennen, die in meiner Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Universität zu Köln die vorliegende Arbeit angeregt und mit vielen nützlichen Ratschlägen begleitet haben. Nach meinem Wechsel an das Institut für Linguistik der Technischen Universität Berlin fand ich in Prof. Dr. Klaus Hunnius einen Fachkollegen, der die Entstehung meiner Habilitationsschrift mit großem Interesse verfolgte und mit zahllosen Hinweisen und Anregungen sehr förderte. Ich bin ihm und den übrigen Kollegen des Instituts für Linguistik sehr verpflichtet. Bei Prof. Dr. Max Pfister bedanke ich mich für die ehrenvolle Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die Gewährung eines Habilitandenstipendiums und für die finanzielle Unterstützung der Publikation, Frau Wiebke Feuerhake für die sorgfältige Korrekturlektüre. Vor allem aber bedanke ich mich bei meiner Frau, die jahrelang die Belastungen, welche sich für die Familie aus meiner Forschungstätigkeit ergaben, ertrug, und die mir dazu immer wieder Kraft und Mut zu geben vermochte. Köln, im Februar 1996

Franz-Josef Klein

VII

Inhalt

o.

Zur Einleitung: Thema, Forschungsstand, Zielsetzung

ι.

Allgemeines zum wortsemantischen Wandel 1.1. Zum Gegenstand der diachronen Wortsemantik 1.2. Der semantische Wandel des Einzelworts 1.3. Wortsemantische Angleichungs- und Differenzierungsprozesse 1.4. Bedeutungswandel als Veränderung von Wortfeld- und Klassenstrukturen. Zum Anspruch der diachron-strukturellen Semantik 1.5. Regelmäßigkeiten im wortsemantischen Wandel? Zur Problematik der

2.

3.

ι 7 9 16 32

40 46

Praktische Probleme der diachronen Bedeutungsforschung . . 2.1. Die Unzugänglichkeit der Bedeutungsebene und das distributioneile Beschreibungsverfahren 2.2. Fragen der einzelwortbezogenen Bedeutungsermittlung und -beschreibung im diachronen Zusammenhang . . . . 2.3. Feldbezogene Beschreibung: Anwendungsprobleme der diachron-strukturellen Semantik 2.4. Probleme der vergleichenden diachron-semantischen Wortforschung

51 52 54 58 61

Fragen der vergleichenden diachron-semantischen Wortforschung im romanischen Bereich 3.1. Der Ausgangspunkt: Die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Lateinischen und ihre semantische Dokumentierung 3.2. Der zeitliche Ablauf des semantischen Differenzierungsprozesses im romanischen Bereich. Praktische Konsequenzen 3.3. Soziolekte, Gruppensprachen und Dialekte in den älteren Epochen der romanischen Sprachen 3.4. Quellen zur semantischen Erforschung des romanischen Wortschatzes in älterer Zeit 3.5. Zur Auswahl und Anordnung des lexikalischen Materials

68

69

77 80 83 86 IX

4- Ein Beispiel: Die Bedeutungsentwicklung des lateinischen Verbs levare und seiner romanischen Fortsetzungen 4.1. Semasiologisch-genetischer Aspekt 4.2. Paradigmatisch-genetischer Aspekt: Inhaltliche Parallelentwicklungen im Lateinischen und Romanischen . . . . 4.3. Paradigmatisch-struktureller Aspekt: Veränderung von Wortfeld- und Klassenstrukturen im Sinnbezirk 'tragen, führen, treiben' 5.

6.

7.

Der lateinische Wortschatz des Sinnbezirks 'L'activité physique exercée sur des objets' und seine Bedeutungsentwicklung im Romanischen: Einzeldarstellungen 5.1. Teilbezirk 'Herstellung, Bewahrung, Aufgabe von physischem Kontakt' 5.2. Teilbezirk 'Physische Einwirkung auf das Patiens mit Ortsveränderung des Patiens' 5.3. Teilbezirk 'Physische Einwirkung auf das Patiens mit Positionsveränderung des Patiens' 5.4. Übrige Teilbezirke (semasiologische Betrachtung) . . . . Der lateinische Wortschatz des Sinnbezirks 'L'activité physique exercée sur des objets': Tendenzen seiner Bedeutungsentwicklung im Romanischen 6.1. Bewahrung, Veränderung und Neuentstehung von Teilsignifikaten in der semantischen Entwicklung der Wörter des Sinnbezirks 'L'activité physique exercée sur des objets': Überblicksdarstellung 6.2. Zur geographischen Verteilung der semantischen Entwicklungen 6.3. Diachron-semantische Charakteristik der einzelnen romanischen Sprachen 6.4. Zur Ursachenfrage Zusammenfassung und Ausblick

95 96 131

141

169 171 196 232 248

264

265 279 285 308 332

Anhang: Wortregister

337

Literatur

339

χ

Schemata (ohne Bedeutungsmatrizes)

Schema i: Schema 2: Schema 3: Schema 4·. Schema 5: Schema 6: Schema 7: Schema 8: Schema 9: Schema 10: Schema 11: Schema 12: Schema 13: Schema 14: Schema 15: Schema 16: Schema 17:

Polysemie und Polyvalenz im synchronieorientierten Zeichenmodell Teilsignifikate und Einzelbedeutungen im diachronieorientierten Zeichenmodell Genetische Struktur des Signifikats von afrz. garnir (nach K. Baldinger, vereinfacht) Prozeßbezogene Klassifikation der Bedeutungswandlungen (Einzelwörter) Prozesse lexikalisch-semantischer Angleichung und Differenzierung paradigmatisch benachbarter Wörter Gesprochene und geschriebene Sprache im Lateinischen und frühen Romanischen (nach E. Pulgram) . . Lateinisch levare, semantisches Entwicklungsdiagramm Romanische levare-Fortsetzungen, semantisches Entwicklungsdiagramm Wortfeld 'tragen, führen, treiben' (Schriftlateinisch, klassische Zeit) Wortfeld 'tragen, führen, treiben5 (Rumänisch, 16. Jahrhundert) Wortfeld 'tragen, führen, treiben' (Italienisch, Dante: Divina Commedia) Wortfeld 'tragen, führen, treiben' (Französisch, Guillaume de Lorris/Jean de Meun: Roman de la Rose) . . Wortfeld 'tragen, führen, treiben' (Spanisch, Poema de Mio Cid) Wortfeld 'nehmen' (Schriftlatein, klassische Zeit) . . . Wortfeld 'nehmen' (Rumänisch, 16. Jhd.) Wortfeld 'setzen, stellen, legen' (Schriftlatein, klassische Zeit) Wortfeld 'setzen, stellen, legen' (Spanisch, Poema de Mio Cid)

14 23 24 32 39 72 103 120 148 154 157 160 165 192 196 227 232

XI

Zeichenerklärung: Entwicklungsdiagramme (Kap. 4)

NZ

= neuerndes Zentrum (Zentralbedeutung eines Teilsignifikats);

Gen

= Bedeutungsgeneralisierung;

Spez

= Bedeutungsspezifizierung;

Ähnl

= Bedeutungswandel aufgrund von semantischer Ähnlichkeit;

Kont

= Bedeutungswandel aufgrund von semantischer Kontiguität;

-->

= Beeinflussungsbeziehung innerhalb des Teilsignifikats;

==>

= Beeinflussungsbeziehung mit Übergang in ein anderes Teilsignifikat; = aus dem Lateinischen tradierte Beziehung (Einzelbedeutungen);

==

= aus dem Lateinischen tradierte Beziehung (Teilsignifikate).

XII

Zeichenerklärung: Detaillierte Bedeutungsmatrizes (Kap. 4: REW 5000. Levare und Fortsetzungen)

+

= in dem zugrundegelegten Zeitraum belegt;

?

= Existenz in älterer Zeit fraglich;

Dat

= Datierungsprobleme (nur in späterer Zeit belegt);

Dia

= nur in den heutigen Dialekten belegt;

itr

= beim intransitiven Verbgebrauch belegt;

LB

= Lehnbedeutung;

pass

= nur beim passivischen Verbgebrauch belegt;

rf

= nur beim reflexiven Verbgebrauch belegt;

Spez

= semantische Spezifizierung;

TS

= Teilsignifikat.

XIII

Zeichenerklärung: Überblicksmatrizes (Kap. 5)

+

= Teilsignifikat liegt vor [nur beim Lateinischen verwendet];

E B = Einzelbedeutung (im Lateinischen liegt Einzelbedeutung vor, die im Romanischen zum Teilsignifikat weiterentwickelt wird ) [nur beim Lateinischen verwendet]; = Teilsignifikat liegt nicht vor (weder in Form bewahrter Einzelbedeutungen noch auf der Grundlage neu entstandener, auf die verlorengegangene Zentralbedeutung zurückgehender Einzelbedeutungen) [nur beim Romanischen verwendet]; +B = Teilsignifikat wird bewahrt (lateinische Zentralbedeutung oder mindestens zwei lat. Einzelbedeutungen); +b

= Teilsignifikat wird nur in Spuren bewahrt (nur eine lateinische Einzelbedeutung);

+N = Neuerung (neue Zentralbedeutung oder mindestens zwei neue Einzelbedeutungen); +n

= Neuerung (nur eine neue Einzelbedeutung);

?

= Aussagen wegen Datenmangels nicht möglich;

[]

= Teilsignifikat nur bei gelehrten Wörtern belegt;

( )

= Teilsignifikat nur in neuerer Zeit (evtl. nur dialektal) belegt.

XIV

o. Zur Einleitung: Thema, Forschungsstand, Zielsetzung

Seit ihren Anfängen sieht die romanische Sprachwissenschaft ihre wohl interessanteste Aufgabe darin, die Art und Weise der Entstehung unterschiedlicher Sprachen und Dialekte aus der einen (wenn auch nicht immer als in sich homogen angesehenen) Ausgangssprache Latein zu rekonstruieren 1 . Nachdem in der Gründerzeit der Disziplin die empirische Erarbeitung des Materials im Mittelpunkt der Bemühungen gestanden hatte, versuchte man in unserem Jahrhundert, zu einer Synthese zu gelangen. Hierbei wollte man nicht nur die wichtigsten Grundlinien des Prozesses der «Ausgliederung» (W. v.Wartburg) der romanischen Sprachen aus dem Lateinischen rekonstruieren, sondern nach Möglichkeit auch deren Ursachen ermitteln. Gegenstand der Ausgliederungsforschung des 20. Jahrhunderts war vor allem die Entwicklung der romanischen Sprachen und Dialekte auf phonetischer und lexikalischer Ebene 2 . Die Untersuchungen im Bereich des Wortschatzes beschränkten sich hierbei im allgemeinen auf die Beschreibung und historische Interpretation seiner onomasiologischen Zusammensetzung 3 . Gelegentlich wurde jedoch auch die Einbeziehung weiterer Kriterien angeregt, so etwa durch M. Krepinsky: Enfin, il y a une tâche nouvelle: c'est de chercher s ' i l y a, dans la morphologie, la syntaxe et la sémantique des langues de la Romania ..., des modifications de l'élément latin communes .. A 1

2

3

4

Vgl. die apodiktische, noch jede nicht-historische Betrachtungsweise ausschließende Formulierung W. Meyer-Lübkes: «Die Aufgabe der romanischen Sprachwissenschaft besteht darin, die Veränderungen des romanischen Sprachstoffes von seinen ersten Anfängen, d. h. also von der überlieferten Form des Lateinischen an bis auf die Gegenwart hinunter zu verfolgen, diese Veränderungen zu verzeichnen, sie zeitlich und räumlich abzugrenzen, ihr Wesen und die sie hervorrufenden Kräfte zu ergründen, die Ergebnisse der Veränderungen in einem bestimmten Zeitpunkte zu beschreiben» (W. Meyer-Lübke 1909, 59). Einen Überblick über die wichtigsten Theorien zur Entstehung der romanischen Sprachen gibt R. Kontzi 1978. Besonders wichtig wurden in diesem Zusammenhang die Arbeiten von M. Bartoli (Überblicksdarstellung bei N. Weinhold 1985, 23-107). M. Krepinsky 1978, 365 (Erstveröffentlichung: 1958). Krepinsky bezieht seine Forderung nur auf die Neubetrachtung der Entwicklung in der (vermeintlich geschlossenen) Westromania; er kann sich nur substratbedingte Eigenentwicklungen der einzelnen Sprachen vorstellen. I

Krepinsky wollte also die diachron-vergleichende Betrachtung des romanischen Wortschatzes unter anderem auf den Aspekt seiner semantischen Entwicklung ausgedehnt sehen; die Ausgliederungsforschung sollte seinem Vorschlag zufolge auch die Bedeutungsbewahrung oder -Veränderung lateinischer (Erb-)Wörter im Romanischen untersuchen. Vergleichbare Initiativen hatte es - allerdings mit anderer Zielsetzung - bereits im 19. Jahrhundert gegeben. Bereits im Jahre 1864 hatte H. Steinthal versucht, anhand wortsemantischer Vergleichsanalysen die Eigenständigkeit der romanischen Sprachen gegenüber dem Lateinischen nachzuweisen 5 . Teilt man die Auffassung, nach welcher das Lexikon gerade wegen seiner semantischen Komponente den «zentralen Bestandteil der Sprache» 6 darstellt, so muß der Erforschung der wortsemantischen Entwicklungen ein hoher Stellenwert innerhalb der romanischen Sprachgeschichtsschreibung zuerkannt werden. Die Anregung zur Einbeziehung der wortsemantischen Perspektive in die Ausgliederungsdiskussion stieß bei der Kritik auf grundsätzliche Zustimmung 7 . In der Praxis der Forschung lief die Bearbeitung dieses Themenbereichs jedoch nur sehr zögernd an. Dies gilt besonders für die empirische Materialarbeit. Einen vergleichsweise frühen Beitrag lieferte G. Rohlfs mit seiner 1954 erschienenen Arbeit Die lexikalische Differenzierung der romanischen Sprachen, in welcher unter anderem auch zwei Fälle divergierender Entwicklungen von Wortbedeutungen abgehandelt wurden 8 . Rohlfs legte hierbei eine sprachgeographische Perspektive zu5

Steinthals Grundannahme lautet: «Romanisch ist nicht Lateinisch, sondern ist ein neuer Bau aus lateinischem Sprachstoff nach einem neuen Princip, das freilich durch den alten Stoff mitbedingt wird» (H. Steinthal 1864, 130). Steinthals Haltung gegenüber dem Thema ist in erheblichem Maße durch nationalpsychologische Vorurteile geprägt; das Fazit seines Beitrags besteht in der Feststellung, daß «... den romanischen Wörtern die sinnliche Grundlage, die Anschaulichkeit abhanden gekommen ist; daß ihre Bedeutung, wie ihr Laut ausgehöhlt, zusammengezogen ist ...» (ebd., 141). - Aufschlußreich sind die von Steinthal angeführten Beispiele. Diese finden z.T. auch in der späteren Literatur zur semantischen Ausgliederungsproblematik Verwendung (caput, minare, pacare), ohne daß dort auf die Vorarbeit Steinthals verwiesen würde.

6

H.-M. Gauger 1969, 10. Zur Rolle der Semantik innerhalb der Sprachwissenschaft vgl. auch die klassisch gewordene Äußerung H. Schuchardts: «... es gibt nur eine Grammatik, und die heißt Bedeutungslehre oder wohl richtiger Bezeichnungslehre - die Lautlehre ist nur eine Beigabe, die sind Wegmarken, uns durch den dichten Wald zu geleiten» (H. Schuchardt 1976,

7

8

135)· Vgl. etwa die Besprechung G. Colóns zu G. Rohlfs 1954, in der die geringe Zahl der semasiologischen Karten, nicht aber die zugrundeliegende Zielsetzung bemängelt wird (G. Colón 1958, 285; mit befremdender Verwechslung der Begriffe und ). G. Rohlfs 1954, Karten 19 (salire) und 49 (femina). Kommentar 35t und 79t. Die Karte salire behandelt nur die semantischen Verhältnisse in Idiomen, die als mehr oder weniger anerkannt sind; nur bei der Behandlung von 2

gründe; die Darstellung der Verteilung der B e d e u t u n g s b e f u n d e erfolgte in kartographischer F o r m 9 . H i e r a n a n k n ü p f e n d veröffentlichte R o h l f s ' Schüler H.-W. K l e i n zwei wortgeschichtlich orientierte Aufsätze, in denen er die Bedeutungsentwicklung weiterer Wörter in den romanischen Schriftsprachen untersuchte und die Ausweitung der vergleichenden semasiologischen A n a l y s e auf einen größeren B e r e i c h des romanischen Wortschatzes anregte 1 0 . G. R o h l f s widmete dann in seiner wenige Jahre später veröffentlichten Romanischen Sprachgeographie der Thematik sogar ein eigenständiges K a p i t e l «Semantische D i f f e r e n z i e r u n g (Polysemie)», dessen Mehrertrag gegenüber dem älteren Werk allerdings gering b l i e b " . N u r u m eine kurze Sondierung handelt es sich auch bei einem u n g e f ä h r zur gleichen Z e i t veröffentlichten A u f s a t z E . v. Kraemers, in welchem die Bedeutungsgeschichte von insgesamt 18 romanischen Wörtern in sehr k n a p p e r F o r m dargestellt w i r d 1 2 . Verschiedentlich f a n d der wortsemantische A s p e k t in u m f a s s e n d e n Darstellungen zur Geschichte des lateinisch-romanischen Wortschatzes Berücksichtigung; hier sind besonders die A r b e i t e n A . Stefenellis zu n e n n e n 1 3 . Gründliche Untersuchunfemina werden vereinzelt auch Dialektdaten in die Betrachtung einbezogen. Die unterschiedliche Bedeutungsentwicklung von femina in den einzelnen romanischen Sprachen war im etymologischen Zusammenhang bereits 1943 von W. v.Wartburg behandelt worden (hier konsultiert: W. v.Wartburg 1970, Ii6f.); vgl. auch die diesbezüglichen Ausführungen im FEW (III, 450!). 9 Die Anwendung der sprachgeographischen Methode auf Phänomene der Bedeutungsebene hat in der Romanistik eine lange, wenn auch nicht kontinuierliche Tradition. Gegenstand der Untersuchung waren vor G. Rohlfs allerdings stets kleinere Sprachräume. Besonders bekannt: J. Gilliéron/J. Monginiços; Κ. Jaberg 1936, Kapitel «Aires sémantiques» (43-77). Einen systematischen Überblick über die Behandlung der semantischen Komponente in der bisherigen sprachgeographischen Forschung gibt B. Staib 1980, 40-68. Vgl. dort auch das Kapitel «Die strukturelle Sprachgeographie» (ebd., 69-144) sowie B. Staibs eigene Vergleichsuntersuchungen zu drei kleineren Wortfeldern (ebd., 1 4 9 257). Bekanntlich spielt auch in der Einteilung der FEW-Artikel der Aspekt der Bedeutungsentwicklung eine wichtige Rolle. 10 H.-W. Klein 1961, 1968. Auch H.-W. Klein greift z.T. lexikalisches Material auf, welches bereits in W. v. Wartburgs Einführung behandelt worden war: Neben dem auch von Rohlfs dargestellten femina (H.-W. Klein 1961, 145) gilt dies für das Verb mutare (H.-W. Klein 1968, 3 1 - 3 3 ; vgl. W. v.Wartburg 1970, H9f.)· " G. Rohlfs 1971, Kap. X X I ( 1 8 5 - 1 8 7 ) . Bei den ausführlicher behandelten Beispielen handelt es sich ohne Ausnahme um Übernahmen aus älteren Quellen. Das Wörter femina und salire (Karten 75 und 97) wurden bereits bei G. Rohlfs 1954 behandelt (vgl. oben). Der Werdegang von minare (Karte 95) wurde durch H.-W. Klein 1968 dargestellt, jener von captivus (Karte 96) durch Ph. Haerle 1955. Kritisch im Hinblick auf die Behandlung der Semantik in Rohlfs' Monographie auch H. D. Bork 1971, 6 1 1 . 12 Ε. v. Kraemer 1972. 13 A. Stefenelli 1981a, A. Stefenelli 1992. Der Autor behandelt die Semantik vor allem im Zusammenhang der vulgärlateinisch-urromanischen Sprachentwicklung; die Untersuchung der semantischen Differenzierung der romanischen Sprachen gehört nicht zu seinen vordringlichen Interessengebieten (vgl. die 3

g e n z u e i n z e l n e n E r b w ö r t e r n o d e r - w o r t g r u p p e n b l i e b e n a b e r bis auf d e n h e u t i g e n T a g die A u s n a h m e 1 4 . D i e B e d e u t u n g s e n t w i c k l u n g u n d - d i f f e r e n zierung des gelehrten Wortschatzes fand d e m g e g e n ü b e r stärkere B e a c h t u n g 1 5 . B e s o n d e r s e r w ä h n e n s w e r t ist in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g e i n e A r b e i t des B r a s i l i a n e r s T. E . M a u r e r , in w e l c h e r als E r g e b n i s u m f a n g r e i c h e r vergleichender

Untersuchungen

immerhin

allgemeine

Aussagen

über

Tendenzen der Bedeutungsentwicklung der Kultismen im Romanischen p r ä s e n t i e r t w e r d e n . In der A u s g l i e d e r u n g s d i s k u s s i o n k o n n t e n die E r g e b nisse a b e r nur m i t t e l b a r v e r w e r t e t w e r d e n 1 6 . A l s U r s a c h e für den M a n g e l an Untersuchungen zur Problematik der s e m a n t i s c h e n A u s g l i e d e r u n g d ü r f t e v o r a l l e m die e b e n s o b a n a l e

wie

s c h w e r w i e g e n d e T a t s a c h e z u n e n n e n sein, d a ß die B e d e u t u n g s g e s c h i c h t e der meisten romanischen Einzelsprachen -

im G r u n d e aller mit A u s -

n a h m e d e s F r a n z ö s i s c h e n - bis auf d e n h e u t i g e n T a g nicht h i n r e i c h e n d a u f g e a r b e i t e t ist. E s f e h l t e ( u n d f e h l t i m m e r n o c h ) ein F u n d u s g e s i c h e r t e r E r k e n n t n i s s e z u r inhaltlichen E n t w i c k l u n g d e s W o r t s c h a t z e s d e r E i n z e l r ä u m e , auf d e m die v e r g l e i c h e n d e g e s a m t r o m a n i s t i s c h e F o r s c h u n g aufb a u e n k ö n n t e . S o stellt H . M e i e r fest: Während wir für alle Sprachen und viele Mundarten der Romania über ein mehr oder minder vollständiges Korpus von Gesetzen des Lautwandels verfügen, fehlt ein entsprechendes Korpus für den Bedeutungswandel... es mangelt an einer systematischen Aufarbeitung des Materials' 7 .

14

15

16

17

Auflistung der angestrebten Ziele bei A . Stefenelli 1992, 8). - Die wortsemantische Differenzierung der romanischen Sprachen wird zuweilen auch in einführenden Darstellungen angesprochen, so etwa in C. Tagliavini 1973 ( 1 7 1 - 1 7 4 ) sowie B. E. Vidos 1975 (z.B. 409). Einige Beiträge zur vergleichenden Bedeutungsgeschichte romanischer Erbwörter (nur selbständige Veröffentlichungen): E. Seifert 1935 (zu tenere), J. Fahrenschon 1938 (zu firmus), P. Haerle 1955 (zu captivus). Alle hier genannten Arbeiten beziehen sich jeweils nur auf einen Teil der romanischen Sprachen; das Rumänische bleibt in allen Fällen ausgeklammert. - Auf eine gelungene Einzeluntersuchung eines sowjetischen Romanisten (W. W. Makarov; zur inhaltlichen Entwicklung der lateinisch-romanischen Wahrnehmungsverben) verweisen J. Klare/B. Wichmann 1974. Die Arbeit Makarovs selbst konnte hier nicht konsultiert werden. Zur semantischen Erforschung des gelehrten romanischen Wortschatzes vgl. den durch A . Greive 1976 gegebenen Überblick. - Im Zusammenhang mit der diachronen Semantik des gelehrten Wortschatzes sind auch die zahlreichen Untersuchungen zur Entwicklung von zu nennen, die allerdings nicht immer auf den romanischen Bereich beschränkt sind. Hier nur einige Beispiele: L. Spitzer 1948, H. Scheel 1955, Sprachwissenschaftliches Colloquium (Bonn) 1963-1967, F.-J. Meißner 1979, F.-J. Meißner 1990. T. E. Maurer 1951. In ihrer methodischen Durchführung ist die Untersuchung Maurers nicht unproblematisch; vgl. K. Baldinger 1958. Der dem Titel nach vielversprechende Aufsatz T. E. Maurers aus dem Jahre 1954 stellt nur einen Teildruck aus T. E. Maurer 1951 dar; er entspricht dem dortigen Kapitel zur Semantik. H. Meier 1986, 113t.

4

Die semantische Ausgliederungsforschung muß das einzelsprachliche Datenmaterial also weitgehend selbst erarbeiten. Sie ist dementsprechend mit hohem Aufwand verbunden; die gewünschte Zuverlässigkeit der Daten ist immer nur um den Preis einer mehr oder weniger engen quantitativen Begrenzung zu leisten. Dies gilt auch für Großprojekte wie die semantische Untersuchung des panromanischen , an welcher derzeit eine Forschergruppe der Universität Bukarest unter Leitung von M. Sala arbeitet 18 . Die vorliegende Arbeit versucht, den Erfordernissen und Möglichkeiten der derzeitigen Forschungslage in mehrfacher Hinsicht Rechnung zu tragen. Sie ist vor allem gedacht als empirischer Beitrag zur Erforschung der wortsemantischen Differenzierungsprozesse im Romanischen. Zu diesem Zweck wird eine Anzahl lateinisch-romanischer Wörter auf ihre semantische Entwicklung in den romanischen Sprachen untersucht. Hierbei werden sowohl der Aspekt der semantischen Mikrostruktur ( Betrachtungsweise) als auch jener der inhaltlichen Makrostruktur des Paradigmas ( Perspektive) berücksichtigt. Die Betrachtung konzentriert sich - von einigen, schlecht dokumentierten Idiomen abgesehen - auf die romanischen Schriftsprachen in ihren jeweils älteren Entwicklungsstufen. Ein systematischer Vergleich der Bedeutungsbilder in den heutigen romanischen Dialekten (und damit eine Ausweitung der Studie zu einer sprachgeographischen Untersuchung im Sinne von G. Rohlfs) kann hier nicht vorgenommen werden 19 . Die Menge der untersuchten Materialien ist notwendigerweise eng begrenzt (32 aus semasiologischer Perspektive analysierte Einzelwörter; drei Wortfelder). Die Einbeziehung größerer Wortmengen ist, wie oben angesprochen, im Rahmen einer Einzelstudie derzeit nicht praktikabel 20 . Bestimmte Regel-

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Kurzdarstellung bei M. Sala 1991. Das Projekt, an dem insgesamt neun Mitarbeiter beteiligt sind, beruht auf dem 1988 veröffentlichten Vocabular reprezentativ (M. Sala 1988). Insgesamt sollen ca. 400 Wörter semantisch untersucht werden. Vgl. M. Sala 1991, 55. - Das Unternehmen M. Salas zielt weniger auf die Verdeutlichung diachroner Wandlungsprozesse ab als vielmehr auf einen synchronen Vergleich der lateinischen Bedeutungsbefunde mit jenen der heutigen romanischen Sprachen. Die für die Ausgliederungsproblematik besonders wichtigen älteren Epochen der diversen Sprachgeschichten bleiben dementsprechend ausgeklammert. Weitgehend unberücksichtigt bleibt bei der Darstellung der semantischen Befunde auch der Aspekt der lexikalischen Bedeutungsvielfalt. Dies erleichtert den synchronen Vergleich, stellt für eine prozeßbezogen-diachrone Beschreibung aber eine Erschwernis dar (vgl. Punkt 1.2.2. der vorliegenden Arbeit). - Ich danke M. Sala für seine mündlichen Mitteilungen zur Arbeit seiner Projektgruppe.

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Auf den Aspekt der Bedeutungsdifferenzierung in den Dialekten wird in Punkt 3.3. eingegangen. Die gesamtromanische Fragestellung verbietet den Weg der räumlichen Beschränkung, für welchen sich z.B. C. Schmitt 1974 (vgl. i2f.) entscheidet.

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mäßigkeiten in der Entwicklung des dargestellten Materials lassen allerdings eine weiterreichende Gültigkeit der Ergebnisse vermuten. Die praktische Umsetzung der empirischen Zielsetzung macht unter anderem auch eine Diskussion der verfügbaren theoretischen und methodologischen Konzepte der diachronen Semantik erforderlich. Die methodischen Aspekte der semantischen Ausgliederungsforschung sind bisher nur unzureichend reflektiert 21 . Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geht es allerdings weniger um die Entwicklung grundlegend neuer Verfahren als vielmehr darum, die vorliegenden einzelsprachbezogenen Ansätze zu siçhten und auf ihren praktischen Ertrag für die empirische Arbeit hin zu überprüfen. Denn zumindest für die diachrone romanische Semantik gilt auch heute noch die Einschätzung S. Ullmanns: There can be no doubt about the Tightness of the contention that semantics needs reliable collections of material rather more acutely than lofty constructions with insecure foundations .. ,22.

21

22

Die mir bekannt gewordenen Arbeiten methodologischer Art (O. Duchácek/ R. Ostrá 1965, R. Ostrá 1966, J. Sabrsula 1966, R. A . Budagov 1963, S. Berejan 1971) beschränken sich auf die Diskussion der Methode und ihrer Anwendbarkeit in der vergleichenden romanischen Semantik. Die speziellen Erfordernisse, welche sich bei der diachron-vergleichenden Bedeutungsforschung des semasiologischen Wandels ergeben, werden nicht berücksichtigt. Unergiebig ist K. Bochmann 1975. S. Ullmann 1967, 200. Die Neigung der Semantiker zum «Theoretisieren» und die Vernachlässigung der empirischen Arbeit werden schon am Ende des 19. Jahrhundert von J. Stöcklein beklagt (vgl. J. Stöcklein 1897, 4t, sowie J. Stöcklein 1898, 3 f t und 29).

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ι. Allgemeines zum wortsemantischen Wandel

Wie jede Form empirischer Forschung bedarf auch die Untersuchung sprachlicher Wandlungsprozesse der Untermauerung durch ein in sich stimmiges System von Aussagen zur Eigenart des Gegenstandes und zu den Möglichkeiten und Erfordernissen seiner Beschreibung: In order to describe the way in which a language has developed over a given stretch of time we require a theoretical framework (or model), within which the facts may be stated and explained 1 .

Die Notwendigkeit eines derartigen Modells ist in der vergleichenden Forschung besonders spürbar, da die erforderliche Einheitlichkeit in Beschreibung und Erklärung andernfalls nicht gewährleistet ist. Obwohl die Veränderung der Inhalte mit einigem Recht als «Lehrstück und Prüfstein der Bedeutungstheoretiker» 2 bezeichnet werden kann, hat die Sprachwissenschaft bisher noch keine vollständige Theorie des semantischen Wandels hervorgebracht 3 . Dies gilt sowohl für die Bedeutungsforschung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts 4 als auch für die unterschiedlichen Richtungen der Disziplin. Was die neuere Zeit angeht, so stand die Semantik ebenso wie andere Teilgebiete der Sprachwissenschaft bis vor kurzem noch ganz im Zeichen der durch F. de Saussures Cours de linguistique générale initiierten «Enthistorisierung» 5 der Sprachbetrachtung. Die hiermit verbundene Verlagerung des Interesses auf den Systemaspekt der Sprache führte zwar in der Bedeutungsforschung ebenso wie anderswo zu einer beachtlichen Intensivierung der theoretischen Reflexion. Für das Verständnis des in-

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T. Bynon 1977, 15. G. Fritz 1984, 739b. A . Meillets Satz «les études sur le développement du sens des mots, malgré de nombreuses tentatives, n'ont pas encore abouti à une théorie complète» (A. Meillet 1926a, 234) hat bis auf den heutigen Tag nichts von seiner Gültigkeit verloren. Z u den möglichen Fragestellungen einer Theorie des Bedeutungswandels vgl. G. Fritz 1984, 739f. Zur Entstehung der diachronen Semantik im 19. Jahrhundert vgl. P. Schmitter 1987, besonders 107-143 (Kap. V. «Das Problem der Wortbedeutung bei Christian Karl Reisig. Notizen zu den Anfängen der Semasiologie»). D. Busse 1987, 17. Z u den entscheidenden Passagen des Cours de linguistique générale vgl. F. de Saussure 1974, 114-140, besonders 117.

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haltlichen Wandels konnte diese aber nur mittelbar ertragreich sein. Erst seit wenigen Jahren sind auch in der Semantik Ansätze zu einem erneuten Paradigmenwechsel im Sinne einer Rückbesinnung auf die Geschichtlichkeit der Sprache zu verzeichnen 6 . Grundlage der neuen Strömungen ist die (im Grunde sehr alte) Erkenntnis, daß «Sprachwandel zum Wesen von Sprechtätigkeit gehört und nicht als eine angehängte Erweiterung einer Sprachtheorie behandelt werden kann» 7 . Auf den Bereich der Bedeutungsforschung bezogen besagt dies, daß «Semantik ohne Fundierung durch historische Semantik das Phänomen der sprachlichen Bedeutung um eine entscheidende Dimension verkürzt» 8 . Die im Jahre 1979 geäußerte Ansicht, daß die diachrone Semantik «in den Philologien gegenwärtig eines der am meisten vernachlässigten Gebiete» 9 darstelle, trifft somit für die heutige Situation erfreulicherweise nicht mehr zu. Dennoch muß, insgesamt gesehen, immer noch von einem großen theoretischen Defizit gesprochen werden. Die Diskussion bestimmter theoretischer und methodischer Fragen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist also unabdingbar. Sie soll allerdings, wie bereits erwähnt, auf jene Aspekte beschränkt bleiben, welche für die Zwecke der empirischen Arbeit unmittelbar relevant sind.

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s 9

Einige neuere Publikationen zur theoretischen Problematik des Bedeutungswandels: K . Stierle 1979, G. Fritz 1984. K. J. Mattheier 1984, 724. Mattheier referiert die A u f f a s s u n g E . Coserius (vgl. E . Coseriu 1973d, 68f.). A u s neuerer Z e i t vgl. z . B . D. Busse 1987, 22: «Die Veränderlichkeit der Sprache ist genuiner Bestandteil ihres Funktionierens, und m u ß mit diesem zusammen, in einer Theorie, erklärt werden». Ä h n l i c h B. Nerlich/D. D. C l a r k e 1988, 73: «... the nature of meaning is change and . . . meaning cannot be studied by trying to conjure up a change-free zone of meaning-analysis». - H. Liidtke beschreibt den Sprachwandel als «Ereigniskomplex, der ständig stattfindet, keines besonderen, zusätzlichen Anlasses bedarf (...) und erst in der analytischen Sehweise des Linguisten als S u m m e verschiedener Veränderungsvorgänge erscheint» (H. L ü d t k e 1984, 734). - E i n e n Überblick über die unterschiedlichen (auch m o d e r n e n ) Theorien des Sprachwandels g e b e n aus romanistischer Sicht R . Windisch 1988 und A . Dauses 1991. K . Stierle 1979, 164. V g l . auch D. Busse 1987, 2 5 1 - 2 7 2 . K . Stierle 1979, 154. Eine ähnliche Einschätzung der Situation gibt ungefähr zur gleichen Z e i t H. Wellmann. E r sieht die T h e o r i e der historischen Semantik noch auf d e m Stand von S. Ullmanns erstmals 1951 erschienenen Principles of Semantics (H. Wellmann 1974, 174). - A l s charakteristisch für die Situation in der Semantik noch in den späten siebziger Jahren kann die Tatsache gelten, daß etwa J. Lyons in seinem zweibändigen Ü b e r b l i c k s w e r k Semantics das Problem des Bedeutungswandels mit keinem Wort erwähnt (J. Lyons 1977).

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i.i.

Zum Gegenstand der diachronen Wortsemantik

i . i . i . Eine Arbeitsdefinition der sprachlichen In der semiotischen und semantischen Literatur wird immer wieder auf die Komplexität des Bedeutungsbegriffs hingewiesen: «MEANING is one of the most ambiguous and most controversial terms in the theory of language» 10 . Wenn die Uneinigkeit auch teilweise aus der Vielfalt der Beschreibungsansätze herrühren mag, so ist doch nicht zu bestreiten, daß es sich bei der um ein sehr vielschichtiges und entsprechend schwierig zu handhabendes Phänomen handelt. In einer seiner weitesten Fassungen wird der Terminus angewandt auf die Gesamtheit der an den Zeichenkörper gekoppelten Inhaltsmomente. Er entspricht so dem Saussureschen Begriff des : 'Significado' es t o d o lo q u e e f e c t i v a m e n t e se c o m u n i c a , se sugiere o se e v o c a ; lo q u e el hablante quiere c o m u n i c a r y lo q u e el o y e n t e c o m p r e n d e c o m o c o m u nicado".

Der so definierte Bedeutungsbegriff umfaßt gleichermaßen denotative und konnotative Momente, zeitlich überdauernde und ephemere Erscheinungen 12 . In allen Fällen freilich gehört die so bestimmte der Seite des Zeichens an. Hierin besteht ein wesentlicher Unterschied zu der Definition S. Ulimanns, welche die Bedeutung mit der Wechselbeziehung gleichsetzt, welche zwischen den beiden Komponenten des Zeichens besteht («a reciprocal relation between name and sense, which enables them to call up one another>>'3). Auf der sprachlichen Ebene ist bei Einheiten unterschiedlicher Ordnung (vom Morphem bis hin zum Text) gegeben; der Zuständigkeitsbereich der Semantik ist dementsprechend weit bemessen. Allerdings hat sich die Semantik seit ihrer Begründung ganz überwiegend auf die Erforschung der lexikalischen Bedeutung konzentriert 14 . Wenn in 10 11

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S. U l l m a n n 1977, 54. E . C o s e r i u 1973a, 206. Z u r D e f i n i t i o n des als G e g e n s t ü c k z u m s i g n i fiant) im Cours de linguistique générale vgl. F. de Saussure 1974, 99. E i n e D e f i n i t i o n , w e l c h e d e r v o n C o s e r i u g e g e b e n e n w e i t g e h e n d entspricht, findet sich bei H . S t a m m e r j o h a n n u . a . 1975 (eigenes L e m m a ) : «Bedeutung, ..., u m f a s s e n d e B e z e i c h n u n g für die B e z i e h u n g zwischen S p r a c h l i c h e m und A u ß e r sprachlichem, für alles, w a s sprachliche A u s d r ü c k e n e b e n ihrer p h o n i s c h e n bzw. graphischen F o r m z u Z e i c h e n macht, für das, w a s durch Z e i c h e n wird». S. U l l m a n n 1957, 70. D i e durch U l l m a n n g e g e b e n e B e d e u t u n g s d e f i n i t i o n steht im W i d e r s p r u c h z u r V o r g e h e n s w e i s e , d e r e n sich d e r s e l b e A u t o r in seiner praktischen semantischen A r b e i t bedient. O. G s e l l 1979, 1 2 t , b e m e r k t z u t r e f f e n d : «in W i r k l i c h k e i t operiert . . . U l i m a n n s S e m a n t i k sehr w o h l mit A u s s a g e n ü b e r Wortinhalte». D i e G r ü n d e hierfür b r a u c h e n an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert zu w e r d e n . O f f e n s i c h t l i c h spielt bei der K o n z e n t r a t i o n d e r B e d e u t u n g s f o r s c h u n g

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der Allgemeinen Linguistik derzeit vielfach auch eine Überwindung dieser «sémantique frugale» 15 gefordert wird, so sind doch weder die Legitimität noch die bisherigen Erfolge der wortbezogenen Bedeutungsforschung zu leugnen 16 . Die theoretische Problematik des Wortbegriffs steht der empirischen Untersuchung der Wortinhalte nur bedingt entgegen; die Verwendung des Terminus als «notion ... intuitivement établie» 17 bereitet im allgemeinen nur wenige Schwierigkeiten. Was schließlich die spezielle Zielsetzung der vorliegenden Arbeit angeht, so entspricht die Entscheidung zugunsten der wortbezogenen Perspektive nicht nur der Tradition der romanistischen Ausgliederungsforschung. Sie ist geradezu eine empirische Notwendigkeit: Angesichts der Quellenlage und der Art der verfügbaren Belege, auf die hier noch einzugehen sein wird, erscheint eine andere Vorgehensweise als die lexikonbezogene kaum als realisierbar. In der Geschichte der Semantik hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Eigenart der lexikalischen Bedeutung näher zu bestimmen. Unter den Ansätzen, welche in der diachronen Wortforschung Anwendung gefunden haben, sind im wesentlichen drei Konzeptionen zu unterscheiden 18 . Die Semantik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts definiert ihren Gegenstand noch weitgehend psychologisierend als . Die Wortfeldtheorie Trier-Weisgerberscher Prägung und die Konzeption unserer Zeit sehen in der der lexikalischen Einheiten die Summe ihrer paradigmatischen Relationen auf der Inhaltsebene 19 . Die (letztendlich auf Wittgen-

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auf das Lexikon der Status des Worts als (vermeintlich) kleinste und am leichtesten zugängliche bedeutungstragende Einheit eine Rolle. Der Wortschatz war zudem beim Aufkommen der semantischen Wissenschaft durch die Lexikographie bereits seit Jahrhunderten praktisch untersucht und bot sich als vertrautes Arbeitsgebiet an. I. Tamba-Mecz 1991, 8. Z u r Legitimitätsfrage vgl. (mit Blick auf die eher satzorientierte amerikanische Semantik der 70er Jahre) H. Putnam 1990, 79. E . Coseriu 1964, 164t. D e r Begriff des selbst wurde in der Geschichte der Sprachwissenschaft häufig semantisch definiert; vgl. H. Weber 1989. In der neueren romanistischen Semantik wird der Terminus «Wort» vielfach durch den der «Lexie» ersetzt. Die wird als «unité de comportement syntaxique» definiert (nach P. Wunderli 1990, 95a; vgl. auch P. Schifko 1992, 132b). Die hier vorgenommene Unterscheidung dreier Ansätze orientiert sich an G. Fritz 1984, 7 4 0 - 7 4 7 . Die derzeit sehr aktuelle Konzeption (im romanistischen Bereich etwa vertreten durch G. Kleiber 1990) ist meines Wissens bisher noch nicht in der diachronen Arbeit erprobt worden und bleibt deshalb hier außer Betracht. Vgl. H. Geckeier 1 9 7 1 a , 79f.: «Im Hinblick darauf, daß Lexeme in Wortfeldern funktionieren, definieren wir die 'Bedeutung' (wir denken besonders an die lexikalische Bedeutung) als reine Beziehungen auf der Inhaltsebene, als Verhältnisse von 'signifiés' zueinander». Vgl. auch E. Coseriu 1970c, 107: «Die Funktion des Wortes in diesem Verhältnis ist die 'valeur'. Heute würde man dieses als 'Bedeutung, Inhalt, Sprachbedeutung' bezeichnen». 10

stein z u r ü c k g e h e n d e ) schließlich v e r s u c h t die B e d e u t u n g d e s W o r t e s als K o m p l e x v o n « R e g e l n f ü r s e i n e n k o m m u n i k a t i v adäq u a t e n G e b r a u c h in S ä t z e n bzw. Ä u ß e r u n g e n » 2 0 z u f a s s e n . In der vorlieg e n d e n U n t e r s u c h u n g w i r d die E n t s c h e i d u n g z u g u n s t e n der e i n e n o d e r a n d e r e n K o n z e p t i o n v o n v o r a l l e m in A b h ä n g i g k e i t v o n der A n w e n d b a r k e i t in d e r e m p i r i s c h e n F o r s c h u n g s a r b e i t g e t r o f f e n 2 1 .

I . I . 2 . F o r m e n d e r Β e d e u t u n g s V i e l f a l t im L e x i k o n u n d ihre D a r s t e l l u n g im Zeichenmodell D i e Einheiten des Wortschatzes weisen häufig jenes

Erscheinungsbild

auf, w e l c h e s hier mit d e m a l l g e m e i n e n T e r m i n u s 2 2 b e n a n n t w e r d e n soll. G e m e i n t ist d a m i t die a l t b e k a n n t e u n d o f t diskutierte T a t s a c h e , d a ß mit einem

( l e x i k a l i s c h e n ) L a u t k ö r p e r mehrere

In-

h a l t s g r ö ß e n v e r b u n d e n sein k ö n n e n 2 3 . D i e B e d e u t u n g s v i e l f a l t resultiert letztendlich

aus

der

quantitativen

Diskrepanz,

welche

zwischen

der

M e n g e d e r zu b e z e i c h n e n d e n a u ß e r s p r a c h l i c h e n S a c h v e r h a l t e u n d j e n e r der v e r f ü g b a r e n l e x i k a l i s c h e n E i n h e i t e n b e s t e h t ; sie erfüllt somit in gewisser W e i s e e i n e ö k o n o m i s c h e F u n k t i o n : ... les notions à exprimer étant infiniment plus nombreuses que les mots destinés à les exprimer, il est naturel qu'un seul lexème arrive à être chargé de deux, cinq, dix acceptions, le plus souvent sans que la clarté de l'expression soit diminuée .. ,24.

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24

G. Fritz 1974, 6. Vgl. hierzu Punkte 2.2. und 2.3. Der Teminus wird hier als Oberbegriff für alle Zustände verwendet, in denen einer sprachlichen Ausdrucksgröße mehrere Inhaltsgrößen (unabhängig von deren theoretischem Stellenwert) zugeordnet sind. O. Gsell verwendet zur Benennung dieses Sachverhalts den Ausdruck (vgl. O. Gsell 1979, 12). Das Phänomen der lexikalischen Bedeutungsvielfalt war bereits vor Entstehung der modernen Sprachwissenschaft Gegenstand theoretischer Erörterungen. Vgl. z.B. die 1730 erstmals erschienenen Überlegungen von C. C. D u Marsais («Des autres sens dans lesquels un même mot peut être employé dans le discours»; zitiert nach C. C. D u Marsais 1971, 194-264). - Die lexikalische Bedeutungsvielfalt stellt die semantische Theorie vor erhebliche Probleme. Vgl. die Äußerungen E. W. Schneiders zur Polysemie (E. W. Schneider 1988, 101): «Sie ist insbesondere dadurch bedeutsam und problematisch, daß durch sie die Einheit des Zeichenbegriffs im Saussure'schen Sinne, die quantitative Konsubstantialitätsrelation zwischen einem Zeichenausdruck und einem Zeicheninhalt, gesprengt zu werden droht, da ja einer Ausdrucksform mehrere ganzheitliche Inhalte, die Sememe, zugeordnet werden ...». B. Migliorini 1971, 79. Migliorini nennt die Bedeutungsvielfalt zutreffend ein «phénomène immanent du vocabulaire» (ebd.). Der zur Benennung dieses Sachverhalts gewählte Terminus «polysémie» ist allerdings zu eng, um der Gesamtheit der betroffenen Erscheinungen gerecht zu werden. II

Die lexikalische Bedeutungsvielfalt scheint ein spezifisches Charakteristikum natürlicher Sprachen darzustellen 25 . Diese Einschätzung wird durch die Tatsache gestützt, daß sie im terminologischen Lexikon eine geringere Rolle spielt als im Allgemein Wortschatz26. Zuordnungen jeweils mehrerer Inhaltsgrößen zu nur einer Ausdrucksgröße finden sich auch außerhalb des lexikalischen Bereichs; es ist aber unbestreitbar, daß sie auf dem Gebiet des Wortschatzes besonders stark ausgeprägt und auffallend sind. Zum Komplex der lexikalischen Bedeutungsvielfalt> gehören unter anderem die beiden Phänomene, welche traditionell als und bezeichnet werden 27 . Wenn mittlerweile auch eine Vielzahl divergierender Ansätze zur Unterscheidung der beiden Konzepte vorliegt 28 , so können bestimmte Abgrenzungskriterien doch als allgemein akzeptiert gelten. Dies gilt vor allem für den synchronen Maßstab des (jeweils geringeren oder größeren) semantischen Abstands der Inhaltsgrößen voneinander, welcher ζ. B. der von G. Hilty vorgeschlagenen Definition von und zugrundeliegt: Meinerseits spreche ich von Homonymie, wenn einem Significans mehrere semantische Invarianten zugeordnet werden müssen, die keine gemeinsamen Z ü g e enthalten, während ich den A u s d r u c k Polysemie verwende, um die Plurivalenz eines Z e i c h e n s zu charakterisieren, welche darin besteht, daß einem Significans wohl verschiedene Invarianten zuzuordnen sind, diese aber gemeinsame Z ü g e enthalten .. , 2y .

Polysemie und Homonymie haben miteinander gemein, daß sie zeitlich relativ überdauernde, zum sozialen Sprachbesitz zählende Gegebenheiten darstellen. Sie unterscheiden sich hierin von der , also von 25

M . Tujescu 1978, 136, bezeichnet eine Form der Bedeutungsvielfalt, die Polysemie, in A n l e h n u n g an C. Bally als «l'état naturel du langage, trait universel des langues naturelles, contre-partie mémorielle de la non-linéarité». P. Wunderli bezeichnet die Polysemie als «Normalfall des sprachlichen A l l t a g s » (P. Wunderli 1989, 131). V g l . auch G . Wotjak 1971, 269 ( A n m . 18), sowie G. Hilty 1990, 150.

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V g l . B . M ü l l e r 1975, 163: «[Fachsprachliche Wörter] . . . sind im R a h m e n der Bezeichnungssysteme, in denen sie stehen, in der R e g e l oder wenigstens in der Tendenz monoreferentiell (eineindeutig), d. h. sie beziehen sich jeweils ( . . . ) auf eine einzige G e g e b e n h e i t der außersprachlichen Wirklichkeit». V g l . auch E . Wüster 1974, 67, sowie W. v. H a h n 1980, 284f. - D i e Unterschiedlichkeit des Stellenwerts der Bedeutungsvielfalt in G e m e i n - und Fachsprache bezieht sich nur auf Polysemie und H o m o n y m i e , nicht aber auf die Polyvalenz (s. unten).

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Notwendigkeit und Legitimität der Unterscheidung von Polysemie und H o m o nymie sind durchaus nicht unbestritten. E i n e radikal monosemistische Konzeption der Wortbedeutung, welche die Unterscheidung von Polysemie und H o m o nymie unsinnig macht, vertritt etwa R. Trujillo (vgl. hierzu kritisch G. Hilty 1990, 146). Vgl. hierzu z . B . H. Schogt 1976, 5 4 - 7 8 . Detaillierte Literaturangaben bei E. W. Schneider 1988, I03f. G. Hilty 1990, 144. D i e einprägsame Definition S. Ullmanns, welche die Unterscheidung von Polysemie und H o m o n y m i e an die Z u g e h ö r i g k e i t zu einem Wort

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der semantischen Variation, welche aus der Anwendung des Wortes auf jeweils unterschiedliche reale Objekte und Sachverhalte derselben Klasse resultiert 30 . Die Polyvalenz stellt als situationeil oder kontextuell bedingte Variation, als ein reines paro/e-Phänomen dar: . . . bei der Polyvalenz in der R e d e [handelt es sich] stets um ein und dieselbe funktionelle Einheit, um eine Sprachbedeutung, zu der verschiedene Determinationen durch den Kontext und durch die Bezeichnung, d. h. durch die Kenntnis der außersprachlichen Sachverhalte, hinzukommen 3 1 .

Die semantische Polyvalenz des Wortes ist in gewisser Weise dem phonologischen Phänomen der Allophonie vergleichbar 32 . Die Polysemie hingegen findet in der Funktionsvielfalt der grammatischen Formen, die Homonymie im morphologischen Synkretismus ihre Parallele 33 . In der diachronen Semantik ist die Unterscheidung der drei Größen , und sinnvoll; denn sie erlaubt, unterschiedliche Stufen der Bedeutungsgeschichte des Wortes zu unterscheiden. Sie soll auch in der vorliegenden Arbeit beibehalten werden. In den vergangenen Jahrzehnten ist verschiedentlich versucht worden, die ΒedeutungsVielfalt in Modelldarstellungen des (lexikalischen) sprachlichen Zeichens zu integrieren 34 . Im deutschsprachigen Raum am be-

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bzw. zu mehreren W ö r t e r n koppelt (vgl. S. Ulimann 1977, 159) führt nur zu einer Verlagerung des Problems. E . Coseriu veranschaulicht dies unter anderem am Beispiel der deutschen Präposition mit. D i e s e wird in sehr unterschiedlichen Z u s a m m e n h ä n g e n gebraucht und nimmt dabei jeweils eine andere B e d e u t u n g an (mit dem Messer = 'mittels des Instrumentes Messer', mit Mehl = 'unter B e n u t z u n g des Stoffes Mehl', mit einem Freund = 'in Begleitung eines Freundes' usw.; E. Coseriu 1970a, 118). D e n n o c h ist eine einfache semantische Beschreibung der Präposition mit möglich (mit X = 'und X ist däbei'; E . Coseriu 1970a, 117). D i e semantische Variation ergibt sich aus der A n w e n d u n g des Wortes auf unterschiedliche G e g e b e n h e i t e n der außersprachlichen Sachwelt; die unterschiedlichen brauchen v o m Sprecher/Hörer nicht gesondert erlernt zu werden. Ein anderes Beispiel ist jenes der Pronomina, v o n denen ein jedes sich auf unendlich viele Personen beziehen kann, ohne daß deshalb von Polysemie gesprochen werden kann. - Z u r Polyvalenz im allgemeinen vgl. F.-J. K l e i n 1986. E . Coseriu 1970a, 105. Vgl. etwa J. K u r y i o w i c z 1963, 40. D i e semantische Polyvalenz dürfte seitens des Sprechers/Hörers weitgehend unbemerkt bleiben; es handelt sich bei ihr ebenso wie bei phonetischen und lexikalischen Variationsphänomenen um einen A s p e k t der von Martinet beschriebenen «diversité non perçue» (vgl. A . Martinet 1976, i49f.). Z u r Definition vgl. E . Coseriu 1976, 73: «Dieses formelle Z u s a m m e n f a l l e n der Funktionen einer Kategorie, die j e d o c h nirgendwo anders in derselben Sprache und bei gleichartigen Formen funktioniert, nennt man Synkretismus». A l s Beispiel nennt Coseriu die lautliche Identität der Nominativ- und A k k u s a t i v f o r men beim lateinischen Neutrum. In den älteren Z e i c h e n m o d e l l e n bleibt die Bedeutungsvielfalt weitgehend un-

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k a n n t e s t e n d ü r f t e d e r z e i t w o h l das v o n K . H e g e r e n t w i c k e l t e u n d i m m e r w i e d e r m o d i f i z i e r t e < T r a p e z m o d e l b sein 3 5 . D a s H e g e r s c h e Z e i c h e n m o d e l l läßt freilich die s e m a n t i s c h e P o l y v a l e n z u n b e a c h t e t 3 6 . D i e s ist i n s o f e r n m i ß l i c h , als die k o n t e x t - u n d s i t u a t i o n s b e d i n g t e B e d e u t u n g s v a r i a t i o n der W ö r t e r e i n e alltäglich z u b e o b a c h t e n d e E r s c h e i n u n g darstellt, die u n t e r a n d e r e m b e i m B e d e u t u n g s w a n d e l e i n e w i c h t i g e R o l l e spielt. Ich s c h l a g e als G r u n d l a g e d e r ( s y n c h r o n e n ) w o r t s e m a n t i s c h e n B e s c h r e i b u n g d e s h a l b ein e r w e i t e r t e s Z e i c h e n m o d e l l vor, w e l c h e s n e b e n d e r P o l y s e m i e a u c h die Polyvalenz berücksichtigt37. Schema

i: P o l y s e m i e u n d P o l y v a l e n z i m s y n c h r o n i e o r i e n t i e r t e n Zeichenmodell . - - Bedeutungsvariante a

/Semem 1 / /

Signifikant =

~ Bedeutungsvariante b

Signifikat , . - Bedeutungsvariante c

Semem 2

B (ii)t) oder die Veränderung von Eigenschaften von Elementen (X(A) t o —> Y ( A ) t I ) im betreffenden Zeitintervall 41 .

Verstehen wir die Einheiten des Lexikons nun als «Elemente» und die Bedeutung im oben definierten Sinne als «Eigenschaft», so ist unter wortsemantischem jede Veränderung zu verstehen, der das durch den Zeichenkörper «Mitgeteilte» 42 auf der Zeitachse unterliegt. Der Begriff umfaßt somit prinzipiell sowohl die Entstehung semantischer Varianten als auch das Aufkommen neuer und den Untergang alter Sememe. Er ist auch auf Veränderungen auf der konnotativen 38

39

40

41 42

L. Söll 1985, 188. Vgl. auch allgemein bereits A . Martinet 1976, 186: «... il existe un rapport constant et inverse entre la fréquence d'une unité et l'information qu'elle apporte, c'est-à-dire, en un certain sens, son efficacité ...». Vgl. die vorsichtige Formulierung C. Lees: «... allowing that frequently used words have had greater opportunity to be applied to novel domains, it seems reasonable to hypothesize that frequently used words will be more polysemous than words used infrequently» (C. Lee 1990, 212). A . Greive 1973, 494. In dem lexikalischen Material, welches in der vorliegenden Arbeit vergleichend untersucht wird (32 lateinisch-romanische Wörter), sind praktisch alle häufiger belegten Wörter in mehr oder weniger starkem Maße polysem. H. Lüdtke 1984, 73if. Vgl. die Definition der nach E. Coseriu; Punkt 1.1.1.

15

Ebene anwendbar. Nicht als >43). Die explizite Definition des Terminus macht zugleich deutlich, daß von irgendwelcher Art nur dann gesprochen werden kann, wenn ein invariabel bleibender Maßstab vorhanden ist44. Bei der Beschreibung des sprachlichen Wandels tritt nun die Schwierigkeit auf, daß sich im allgemeinen Ausdrucks- und Inhaltsseite der untersuchten Einheiten verändern und somit innerhalb des betrachteten Zeichens keine unverändert bleibende Bezugsgröße gegeben ist45. K. J. Mattheier schlägt deshalb vor, bei der Definition des sprachlichen Wandels das Moment der des Gegenstandes durch das der zu ersetzen. Hierbei wird nicht mehr die Vergleichbarkeit einzelner Zeichenkomponenten an Ausgangs- und Endpunkt der Gesamte-ntwicklung gefordert, sondern die der beobachteten Gegebenheiten von einem Teilsegment des beobachteten Zeitabschnittes zum jeweils nächsten46.

1.2.

Der semantische Wandel des Einzelworts

1.2.1. Zum Prozeß der Entstehung und Verbreitung semantischer Neuerungen Darstellungen zum Ablauf des wortsemantischen Wandels sind uns vor allem aus der Gründungszeit der Semantik überliefert. Als Vertreter dieser Epoche sei hier H. Paul zitiert. Dieser sieht im Bedeutungswandel grundsätzlich weder ein Ausnahme- noch ein Übergangsphänomen; sondern er beschreibt ihn in seinem klassischen Werk Prinzipien der Sprachgeschichte*1 als alltäglich sich vollziehenden Prozeß, der wie jede Form 43 44

45

46

47

Vgl. S. Ulimann 1967, 1 7 1 . Das Problem wird unter anderem erkannt von F. de Saussure: «... l'identité diachronique de deux mots ... signifie simplement que l'on a passé de l'un à l'autre à travers une série d'identités synchroniques dans la parole, sans que le lien qui les unit ait été rompu par les transformations ... successives» (F. de Saussure 1974, 250). Besonders deutlich wird dieses Problem in der Etymologie, in der sowohl die Veränderung des Wortkörpers als auch der Wandel Bedeutung einkalkuliert werden müssen. Vgl. K. J. Mattheier 1984, 721 (dort u.a.: «Kontinuität ist ... Quasi-Identität über eine bestimmte Zeitspanne hinweg»). Im folgenden zitiert nach der neunten Auflage (H. Paul l J i975). Das Buch er-

16

sprachlicher Veränderung in der Funktionsweise des Kommunikationsgeschehen begründet ist: D i e eigentliche Ursache für die V e r ä n d e r u n g des Usus ist nichts anderes als die gewöhnliche Sprechtätigkeit 4 8 .

Was den eigentlichen Ablauf des semantischen Wandels betrifft, so führt Paul die Entstehung neuer Wortinhalte auf das Wechselspiel von und Bedeutung zurück. Er definiert die beiden Größen folgendermaßen: Wir verstehen also unter usueller B e d e u t u n g den gesamten Vorstellungsinhalt, der sich für den A n g e h ö r i g e n einer Sprachgenossenschaft mit einem Worte verbindet, unter okkasioneller B e d e u t u n g denjenigen Vorstellungsinhalt, welchen der R e d e n d e , indem er das Wort ausspricht, damit verbindet .. , 49 .

Nach H. Paul wird das Wort im Redegeschehen vom Sprecher wie vom Hörer auf einmalige Gegebenheiten bezogen. Aufgrund der hierbei wirksam werdenden Determinierung durch die außersprachliche Situation (die «gemeinsame Anschauung» und die «Gemeinsamkeit ... mannigfacher Erfahrungen») sowie durch den sprachlichen Kontext (das «im Gespräch ... Vorausgegangene» und die «nähere Bestimmung» 50 ) erfährt die Bedeutung des Wortes bei jedem Sprechakt eine neue, Ausprägung. Auch Erscheinungen wie z.B. bildliche Ausdrucksweisen stellen zunächst einmal derartige Varianten dar; ihre Besonderheit besteht darin, daß es sich dabei um Verwendungen außerhalb der üblichen Gebrauchsbreite des Wortes handelt 51 . Natürlich handelt es sich bei den meisten der so entstandenen Verwendungen um kurzlebige Erscheinungen. Einzelne der individuell-situationsabhängigen Varianten aber werden von der Sprachgemeinschaft übernommen; sie entwickeln sich durch häufige Wiederholung zu neuen Inhaltsgrößen. Ein semantischer Wandlungsprozeß ist dann als

48

schien erstmals 1880. Z u r Verbindung von Sprachwandel und Sprechtätigkeit im allgemeinen vgl. Kap. χ der vorliegenden A r b e i t (10, A n m . 2). H. Paul 1975, 32. Paul mißt d e m kindlichen Spracherwerb besondere Wichtigkeit für das Z u s t a n d e k o m m e n neuer Veränderungen bei (vgl. ebd., 85f.; zum Stellenwert des Spracherwerbs vgl. auch A . Meillet 1926a, 236). G a r nicht erst in Betracht g e z o g e n wird durch H. Paul die Einschätzung des B e d e u tungswandels als eher zufälliges Resultat von im Sprachgebrauch (so später formuliert bei M. L e u m a n n 1927, 113; Kritik bei G. Fritz 1984, 750).

H. Paul 9 i 9 7 5 , 75. D i e von Paul vorgeschlagene Einteilung der semantischen G r ö ß e n ist nicht deckungsgleich mit der bekannten Unterscheidung zwischen dem b e g r i f f l i c h e n Inhalt> des Wortes einerseits, d e m und d e m andererseits (vgl. K . O. E r d m a n n 2 I9I9, 107). 5° H. Paul 9 1975, 79 und 80. 5 1 V g l . ebd., 83. Paul spricht v o m Mitverstehen von Vorstellungen, die «mit dem usuellen Bedeutungsinhalt nach allgemeiner Erfahrung räumlich oder zeitlich oder kausal verknüpft» sind.

49

17

zu betrachten, wenn die Beziehung zwischen Ausgangsund Endbedeutung nicht mehr erkennbar bzw. dem Sprechenden nicht mehr bewußt ist («wenn Anwendung und Verständnis ohne jede Beziehung auf die sonstige usuelle Bedeutung des Wortes erfolgt» 52 ). Die von Paul vertretene Auffassung des Bedeutungswandels wird von zahlreichen Autoren seiner Zeit (und späterer Jahrzehnte) geteilt und verschiedentlich weiterentwickelt. So schlägt H. Sperber im Jahre 1923 vor, die Unterscheidung / 'junge Leute'; ciuitas 'Bürgerschaft' > 'Stadt'; natura 'Geburt/Natur' > 'Geschlecht/Geschlechtsteile' schon bei Cicero) 23 . Semantische Konsequenzen ergeben sich auch aus dem Streben nach lexikalischer Expressivität, welches in der spätlateinischen Schriftsprache nachweisbar ist. Die Eigenart gesprochener Sprache im allgemeinen und die onomasiologischen Befunde der romanischen Idiome lassen vermuten, daß es auch im Bereich des wirksam war. Schließlich ist auch der semantische Lehneinfluß des Griechischen, welcher im geschriebenen Spätlatein besonders im Bereich der religiösen und der wissenschaftlichen Literatur offensichtlich ist (ζ. B. communicare '[rituell] unrein machen, beflecken' nach gr. κοινοΰν, memoria 'Gedenken' > 'Denkmal' nach gr. μνήμα 24 ), zumindest teilweise auch für die gesprochene Sprache anzunehmen. 21 22

23

24

A . Stefenelli 1981a, 49. H.-W. Klein 1961, 146. Beispielmaterial auch bei A . Stefenelli 1992, 63-67, sowie i6if. Beispiele nach A . Ernout 1954, 180. Vgl. auch E. Löfstedt 1959, 144-156. Die spätlateinische Tendenz zum Wandel vom Abstrakten zum Konkreten stellt eine Umkehrung der Entwicklung dar, welche sich bei der Ausbildung des klassischen Lateins vollzog (vgl. O. Immisch 1971, 144). In spätlateinischer Zeit ist der Wandel vom Konkreten zum Abstrakten bei der Schriftsprache ebenfalls in Einzelfällen belegt. Beispiele bei J. Herman 1975, io8f., sowie A . Stefenelli 1992, I72ff. Beispiele nach A . Debrunner 1916, 19 und 22 (memoria auch bei A . Ernout 1954, 181). Ausführliche Beschreibung des Phänomens der griechischen Beeinflussung bei H. D. Bork 1982, 1 3 1 - 1 3 4 , sowie bei J. Kramer 1979 und 1983 (jeweils mit umfangreichen Literaturangaben). Beispiele auch bei E. Coseriu 1977c. - J. Kramer zieht aus der Tatsache, daß das Lateinische in erheblichem Umfang durch das Griechische beeinflußt wurde, die Schlußfolgerung: «... le latin, à la différence du grec, ne s'opposait que faiblement aux influences

75

3-1-3· Das Diasystem der lateinischen Sprache als Ausgangspunkt der Erforschung des semantischen Ausgliederungsprozesses im Romanischen Insgesamt gesehen stellen diese Erkenntnisse jedoch nur Bruchstücke dar, die in ihrer Gesamtheit keineswegs ein vollständiges Bild der Bedeutungsverhältnisse im gesprochenen Latein ergeben. Bei der Mehrzahl der lateinischen Wörter sind wir über ihre Bedeutungsprofile in der gesprochenen Sprache überhaupt nicht informiert. Ungeklärt bleibt auch die für die Romanistik besonders interessante Frage, welches Ausmaß an regionaler Differenzierung für die Wortbedeutungen anzunehmen ist 15 . A l s Ausgangspunkt für die empirische semantische Forschungsarbeit ist das Vulgärlatein aufgrund des generellen Mangels an Belegen somit kaum geeignet. Es verhält sich ganz im Gegenteil eher so, daß die inhaltliche Beschaffenheit des vulgärlateinischen Wortschatzes zum großen Teil aus den Bedeutungsbefunden der romanischen Sprachen und Dialekte rekonstruiert werden muß 26 . Rein praktisch gesehen bleibt somit für die Erforschung der inhaltlichen Differenzierung des romanischen Wortschatzes kein anderer Weg als der, die Bedeutungsverhältnisse aller Varietäten des Lateinischen (des gesamten der lateinischen Sprache) an den Beginn der Betrachtung zu stellen. Hierdurch rückt zwangsläufig zunächst das ausgezeichnet dokumentierte Schriftlateinische (vor allem in seiner späten Epoche 2 7 ) in den Mittelpunkt der Untersuchung. Diese (im Vergleich mit anderen romanistischen Disziplinen ungewöhnliche) Vorgehensweise dient einzig und allein dem Zweck, einen Eindruck von der semantischen Beschaffenheit der lateinischen Ausgangswörter zu gewinnen, wofür die

étrangères . . . O n peut supposer que le latin . . . a subi l'influence d'autres langues que nous connaissons mal, c o m m e le celtique, le rhétique o u le germanique» (J. K r a m e r 1979, 135). E r übersieht hierbei, daß das kulturelle Gefälle, welches zwischen Griechenland und Italien bestand, die Ü b e r n a h m e sprachlicher E l e m e n t e aus d e m Griechischen begünstigte. H i n g e g e n dürfte das hohe Prestige, welches die lateinische Kultur bei den V ö l k e r n des westlichen E u r o p a genoß, einer solchen Beeinflussung des Lateinischen durch das Keltische, Rätische oder Germanische eher entgegengewirkt haben. 25

26

27

M. Krepinsky 1978 (305!, 357t.) nimmt substratbedingte diatopische Unterschiede in den B e d e u t u n g s b e f u n d e n der vulgärlateinischen W ö r t e r an. Konkrete Beispiele nennt er j e d o c h nicht. V g l . A . Stefenelli 1981a, 20. D i e Situation wird zusätzlich dadurch kompliziert, daß in der Semantik - anders als etwa auf phonetischem G e b i e t - nicht auf einen K a n o n bereits vorliegender Entwicklungsregeln zurückgegriffen werden kann (vgl. die A u s f ü h r u n g e n zu den in Punkt 1.5.). U n t e r d e m Begriff sollen hier vereinfachend alle Erscheinungsformen des Lateinischen zwischen ca. 200 bis ungefähr 600 n. Chr. verstanden werden. V g l . E . Löfstedt 1959, if. (mit Erläuterung der Problematik der zeitlichen Limitierung), und G. R e i c h e n k r o n 1965, 85.

76

Schriftsprache den einzigen brauchbaren Anhaltspunkt bietet. Es bleibt unbestritten, daß die Entwicklung vom Lateinischen zum Romanischen auch in semantischer Hinsicht beim gesprochenen Latein beginnt; zwischen den semantischen Befunden des Schriftlateinischen und jenen des Frühromanischen besteht keine unmittelbare genetische Verknüpfung. Es muß freilich auch bedacht werden, daß die Bedeutungsverhältnisse in den romanischen Sprachen bis weit in die Neuzeit hinein fast ausschließlich anhand geschriebener Dokumente nachgewiesen werden können. Diese geben, wie noch zu zeigen sein wird, in semantischer Hinsicht nicht unbedingt den Befund der gesprochenen Sprache wieder. Sie sind vielmehr in erheblichem Maß durch die lateinische Schriftsprache beeinflußt, wenn auch eher wohl durch deren mittelalterliche Ausprägung. Würde man die uns bekannten Bedeutungsbefunde der romanischen Sprachen in älterer Zeit ausschließlich denen des gegenüberstellen, so bliebe (selbst wenn wir über die Semantik des gesprochenen Lateins der Antike besser informiert wären) ein wesentlicher Aspekt des inhaltlichen Wandels im Romanischen unberücksichtigt.

3.2.

Der zeitliche Ablauf des semantischen Differenzierungsprozesses im romanischen Bereich. Praktische Konsequenzen

3.2.1. Die älteren Entwicklungsstufen der romanischen Sprachen als Gegenstand der wortsemantischen Ausgliederungsforschung Wenn auch von einer gewissen regionalen Differenziertheit des Vulgärlateinischen auszugehen ist, so liegt doch bereits der Unterscheidung von und die Annahme zugrunde, daß der eigentliche Prozeß der «Entstehung und Individualisierung der romanischen Sprachen» 28 in die nach-lateinische Zeit fällt. Als die entscheidende Epoche gilt die Zeit zwischen dem Ende der Antike und dem Auftauchen der ersten geschriebenen Texte. Die (phonetisch orientierte) romanistische Ausgliederungsforschung konzentriert sich dementsprechend traditionell auf das Lateinische einerseits, die jeweils älteren Epochen der einzelnen romanischen Sprachgeschichten andererseits29. Maßgeblich hierbei ist die praktische Überlegung, daß Prozesse 28 29

C. Tagliavini 1973, 275. Die zwischen diesen Eckdaten gelegene Zeitspanne ist gekennzeichnet durch weitgehende geographische Isolierung der Sprachräume und eine gewissen Verlust des Bewußtseins der «civilisation unique». Hiermit sind zwei Bedingungen erfüllt, welche A . Meillet als Voraussetzungen für das Zustandekommen sprachlicher Differenzierungsprozesse nennt (vgl. A . Meillet 1978, 255; vgl. auch K. Togebys allgemeinere Aussagen zum Zusammenhang von Sprachwandel und «Chaos», K . Togeby 1978, 292). Meillet nennt als Voraussetzung des

77

s p r a c h l i c h e r D i f f e r e n z i e r u n g a m k l a r s t e n d a n n z u e r k e n n e n sind, w e n n die l e t z t e S t u f e d e r ( r e l a t i v e n ) E i n h e i t u n d die erste e r k e n n b a r e P h a s e d e r e r f o l g t e n T r e n n u n g in u n t e r s c h i e d l i c h e I d i o m e im Z e n t r u m der B e t r a c h t u n g stehen 3 0 . E i n e v o l l s t ä n d i g e A n a l y s e d e s s p r a c h l i c h e n D i f f e r e n z i e r u n g s p r o z e s s e s m ü ß t e z w a r im P r i n z i p alle V e r ä n d e r u n g e n b e r ü c k s i c h tigen, die v o n d e r l a t e i n i s c h e n E p o c h e bis z u r h e u t i g e n Z e i t e r f o l g t sind; in der P r a x i s d ü r f t e e i n e d e r a r t w e i t a n g e l e g t e U n t e r s u c h u n g a b e r k a u m d u r c h f ü h r b a r sein. D i e o b e n getroffenen Aussagen zum zeitlichen A b l a u f des D i f f e r e n zierungsprozesses dürften grundsätzlich auch für den Bereich der Wortbedeutungen Gültigkeit haben31. Angesichts der e n o r m e n M e n g e des zu u n t e r s u c h e n d e n M a t e r i a l s e r s c h e i n t es sinnvoll, die E n t s c h e i d u n g phonetischen Ausgliederungsforschung

zugunsten

einer

der

Untersuchung

der ä l t e r e n P h a s e n d e r r o m a n i s c h e n S p r a c h g e s c h i c h t e n f ü r die B e h a n d lung d e r s e m a n t i s c h e n E b e n e z u ü b e r n e h m e n .

Unverständlicherweise

w u r d e n in d e n b i s h e r i g e n S t u d i e n z u r inhaltlichen A u s g l i e d e r u n g d e r R o m a n i a die P h a s e n d e r e i n z e l n e n S p r a c h g e s c h i c h t e n n u r in A u s -

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31

raschen Wandels zusätzlich die ausreichende strukturelle Geschmeidigkeit der betroffenen Sprachen. Da uns die älteren Entwicklungsstufen der romanischen Sprachen nur über geschriebene Texte zugänglich sind, muß die vergleichende Betrachtung des Materials nach anderen Kriterien erfolgen als die Untersuchung mundartlicher Daten. So ist die Anwendung sprachgeographischer Interpretationsmethoden (so der bekannten , vgl. Punkt 2.4.2.) auf das gewonnene Material von vornherein problematisch, weil die geographische Verteilung von Schriftsprachen mit denen von Dialekten nicht vergleichbar ist (Schriftsprachen stehen z.B. - anders als die Mundarten - im Raum meist ohne Übergangszonen nebeneinander). Die Entwicklung der Schriftsprachen wird zudem durch Faktoren beeinflußt, die in den Mundarten keine oder nur eine geringe Rolle spielen (z.B. durch die Entlehnung aus anderen - lebenden oder toten Schriftsprachen). Angesichts der Allgegenwärtigkeit des semantischen Wandels kann es von vornherein als wahrscheinlich gelten, daß alle romanischen Sprachen sich (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) inhaltlich vom Lateinischen haben. U m so erstaunlicher sind pauschale Urteile wie jenes A . Darmesteters, der für den Wortschatz des Neufranzösischen eine weitgehende semantische Übereinstimmung mit dem lateinischen Lexikon annimmt. Darmesteter stützt sich auf eine Liste von insgesamt 426 lateinischen Wörtern, die ihre Bedeutung im Laufe der Entwicklung vom Lateinischen zum Französischen angeblich nicht verändert haben (A. Darmesteter 1928, Appendix 1 , 1 7 9 186). Der Autor gibt hierbei nicht an, ob er die wortsemantischen Verhältnisse im klassischen Latein oder jene im Vulgärlatein zugrundelegt. Bereits eine flüchtige Durchsicht des angeführten lexikalischen Materials zeigt, daß Darmesteters Behauptung empirisch nicht haltbar ist. So entspricht schriftlat. hominem nicht frz. homme, weil im Französischen kein Äquivalent zu vir mehr besteht; frz. femme ist nicht bedeutungsgleich mit seinem Etymon feminam, usw. Vgl. hierzu auch E. Coseriu 1964, 170, A . 42.

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nahmefällen in die Betrachtung einbezogen 3 2 . Die Entscheidung für eine bevorzugte Behandlung der älteren Epochen schließt natürlich eine Ausweitung der Untersuchung auf die Sprache späterer Jahrhunderte nicht aus. Unabdingbar ist diese aber nicht; in der Praxis ist sie mit erheblichen praktischen Komplikationen verbunden 3 3 .

3.2.2. Probleme der zeitlichen Vergleichbarkeit Wie bereits mehrfach erwähnt, hängt die Entscheidung über die zu treffende zeitliche Limitierung in der Semantik mehr noch als in anderen Disziplinen von der Menge der verfügbaren Daten ab. Dies hat zur Folge, daß die semasiologische und paradigmatisch-genetische Untersuchung chronologisch so weit ausgedehnt werden muß, bis die Erstellung einzelwörtlicher Bedeutungsprofile mit einiger Sicherheit möglich ist. Im Falle des Italienischen sowie der gallo- und iberoromanischen Literatursprachen bieten im allgemeinen die Texte jener Zeit eine ausreichende Grundlage, welche im westlichen Kulturkreis das genannt wird 3 4 . D a s Rumänische hingegen ist erst seit 1 5 2 1 überhaupt dokumentiert; die semantische Untersuchung der E p o c h e ist im Falle dieser Sprache nur dann zu realisieren, wenn sie das sprachliche Material des gesamten 16. und auch des 17. Jahrhunderts berücksichtigt 35 . Ähnlich ist die Situation bei den bündnerromanischen, eingeschränkt auch bei den sardischen Mundarten 3 6 . Völlig unbefriedigend ist die Quel32

33

34 35

36

Selbst M. Sala richtet in seinen breit angelegten Forschungen (vgl. das Einleitungskapitel) den Blick ausschließlich auf das Lateinische und die heutigen romanischen Sprachzustände. Eine solche Betrachtungsweise ist zwar legitim; für die Verdeutlichung entstehungsgeschichtlicher Zusammenhänge muß sie allerdings unergiebig bleiben. Unter den Autoren, welche sich bisher mit der semantischen Differenzierung der Romania befaßt haben, bezieht nur H.-W. K lein die ältere Zeit in angemessener Weise in die Betrachtung ein (H.-W. Klein 1961, 1968). Abgesehen von der größeren Menge und Komplexität des Materials sind bei der Untersuchung der späteren Epochen der romanischen Sprachgeschichten Lehnbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Idiomen in sehr viel stärkerem Maße zu berücksichtigen als bei der Betrachtung früherer Zeitabschnitte. Vgl. C. Tagliavini 1973, 275. Eine noch weitergehende Ausdehnung des zeitlichen Rahmens wäre allerdings unnötig. Sie würde wegen des im 18. Jahrhundert einsetzenden westlichen Einflusses auch vielfache Komplikationen mit sich bringen (vgl. die Ausführungen zu den semantischen Lehnbeziehungen in Punkt 1.3.). Z u den übrigen Zweigen der Dialektgruppe liegen Texte aus der frühen Neuzeit meines Wissens nicht vor. Es ist zwar eine Anzahl mittelalterlichen Texte des Sardischen bekannt, die z.T. auch lexikographisch aufgearbeitet sind (vgl. M. T. Atzori o.J.); die verfügbaren Informationen reichen aber für eine präzise semantische Beschreibung nicht aus. Die semantische Untersuchung kann hier auf eine Einbeziehung der sprachlichen Befunde des 20. Jahrhunderts nicht verzichten.

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lensituation schließlich beim Dalmatischen, welches fast ausschließlich aus (vereinzelten) Zeugnissen des 19. Jahrhunderts bekannt ist. Die mangelnde chronologische Vergleichbarkeit der erfaßten Daten, welche aus der hiermit skizzierten Unterschiedlichkeit der Dokumentation resultiert, muß zwangsläufig in Kauf genommen und bei der Interpretation berücksichtigt werden. Auf die speziellen zeitlichen Limitierungsanforderungen, die sich bei der strukturellen Betrachtung des romanischen Wortschatzes ergeben (Notwendigkeit der Beschränkung auf eine funktionelle Sprache>, möglichst auf Werke eines Autors oder auf eine weitgehend homogene Textsammlung 37 ), braucht hier nicht nochmals eingegangen zu werden.

3.3.

Soziolekte, Gruppensprachen und Dialekte in den älteren E p o c h e n der romanischen Sprachen

3.3.1. Zur diastratisch-diaphasischen Beschaffenheit des verfügbaren Materials Die diachrone semasiologische Forschung ist, wie bereits erwähnt3®, prinzipiell an der Erfassung möglichst vieler unterschiedlicher Sprachvarietäten interessiert. In der Praxis der romanistischen Ausgliederungsforschung, welche mit zeitlich weit zurückliegenden Sprachepochen zu tun hat, ist diese Forderung allerdings nur sehr eingeschränkt zu erfüllen. Zwar besitzen die romanischen Sprachen in ihrer Frühzeit noch keine präskriptiven Normen im heutigen Sinne, die durch ihre restriktive Wirkung das semantische Gesamtbild der Wörter in den besagten Epochen beeinträchtigen könnten. Von einer Streuung des Materials über unterschiedliche Varietäten hinweg kann aber nicht die Rede sein: Die frühen Entwicklungsstufen der romanischen Sprachen sind uns ganz überwiegend aus literarischen, teilweise auch aus religiösen Texten bekannt. Nur in einigen Ausnahmefällen (etwa bei der alt- und mittelfranzösischen Urkundensprache 39 ) sind wir auch über andere Varietäten einzelner Sprachen vergleichsweise gut informiert. Für die semantische Ausgliederungsforschung ist dies jedoch wenig hilfreich, da vergleichbare Informationen

37

38 39

Vgl. Punkt 2.3.2. Auch bei der Beschränkung der strukturellen Betrachtung auf jeweils einen Text bleibt freilich das Problem, daß die zeitliche Homogenität der tradierten Texte nur eingeschränkt gegeben ist. Die Texte sind uns ja nicht immer im Original, sondern häufig nur in Abschriften aus späterer Zeit überliefert, welche mehr oder weniger weitreichende Modifikationen unterschiedlicher Kopisten erfahren haben. Vgl. Punkt 1.2.2. Die juristische Urkundensprache in Frankreich gewinnt ab dem 13. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung; vgl. C. J. Drüppel 1984.

80

zu den übrigen Sprachräumen nicht oder nicht in vergleichbarer Quantität verfügbar sind. In der kontrastiven Forschungsarbeit, die ja mit einigermaßen vergleichbaren Textkorpora operieren muß, reduziert sich die semantische Betrachtung gezwungenermaßen auf die Untersuchung der Wortverwendung in den oben genannten Texttypen 40 . Immerhin erleichtert die (relative) Homogenität der zu untersuchenden Materialien die strukturelle Betrachtung, welche ja die Zugehörigkeit der analysierten Wörter zu geschlossenen funktionellen Sprachen> voraussetzt 41 . 3.3.2. Das Problem der diatopischen Variation Nicht viel anders ist die Situation im Hinblick auf die diatopische Variation des verfügbaren Materials. Die aus den älteren Epochen tradierten Texte weisen durchaus dialektale Eigenheiten auf, die für eine différentielle Beschreibung der unterschiedlichen Idiome auf phonetischer und grammatischer Ebene genutzt werden können. Für eine vergleichende semantische Beschreibung des älteren mundartlichen Wortschatzes reichen die verfügbaren Informationen aber im allgemeinen nicht aus. A l lenfalls beim Französischen des Mittelalters sind wir hierzu in einem gewissen Grad in der Lage 42 . Auf eine différentielle semantische Darstellung der unterschiedlichen mittelalterlichen Dialekte muß deshalb verzichtet werden. Im Zusammenhang hiermit stellt sich die Frage, inwieweit es sinnvoll und praktikabel ist, die semantische Betrachtung der älteren Sprachstufen durch eine Untersuchung der Bedeutungsverhältnisse in den heutigen Mundarten zu ergänzen. In der lexikalisch-onomasiologisch orientierten Ausgliederungsforschung ist die Einbeziehung der modernen Dialektdaten üblich, wenn sie auch nicht immer mit der gebotenen Konsequenz praktiziert wird 43 . Analog hierzu werden auch in einigen der bisher vor40

41 42

43

Aus diesem Grunde kann auch eine soziologisch orientierte Wortschatzbetrachtung, wie sie für spätere Sprachepochen als die hier behandelte etwa G. Matoré und U. Ricken vorgenommen haben (G. Matoré 1951, 1988; U. Ricken 1961), in der vorliegenden Arbeit nicht durchgeführt werden. Vgl. Punkte 1.4.2., 2.3.2. Die Situation wird allerdings dadurch kompliziert, daß die Dokumentation der einzelnen französischen Dialekte je nach untersuchtem Jahrhundert uneinheitlich ist. Vgl. die (allerdings nicht nur auf die ältere Zeit bezogene) Darstellung zur Berücksichtigung der verschiedenen Dialekte (oder besser: lokalen Schreibtraditionen) im FEW bei K. Gebhardt 1974, 286 (wiedergegeben und geringfügig erweitert bei B. Müller 1975, 114). A l s Beispiel können die Arbeiten von G. Rohlfs dienen, in denen neben normsprachlichen immer wieder auch mundartliche Materialien Berücksichtigung finden, in denen aber keine systematische Untersuchung aller Dialekte vorgenommen wird (G. Rohlfs 1954, 1971)· Die Einbeziehung der Dialektdaten beruht hier auf der Annahme, daß in der beinahe unendlichen Vielfalt des mundartlichen Materials oftmals auch solche sprachlichen Befunde gewahrt bleiben, 81

liegenden Arbeiten zur semantischen Differenzierung der Romania Bedeutungsbefunde aus den heutigen Mundarten mitverwertet 44 . Gegen diese Praxis spricht allerdings, daß die romanischen Dialekte in wortsemantischer Hinsicht nur sehr unzulänglich dokumentiert sind. Detaillierte Informationen zur Bedeutung der Wörter liegen bisher nur zu den Dialekten einiger romanischer Sprachräume (besonders Frankreichs und Italiens) vor. Es ist aber wenig sinnvoll, diese in die Betrachtung einzubeziehen, solange vergleichbare Daten zu den Mundarten der anderen Sprachräume fehlen 45 . Hinzu kommt die enorme zeitliche Diskrepanz, welche zwischen den Materialien aus mittelalterlicher Zeit einerseits, den Dialektdaten aus der heutigen Zeit andererseits besteht 46 . In der vorliegenden Arbeit werden dialektale Materialien aus moderner Zeit vor allem dann einbezogen, wenn die betroffenen Idiome in älterer Zeit nicht oder nur schlecht belegt sind. Dies ist besonders beim Sardischen und beim Rätoromanischen der Fall. Bei diesen Sprachen ist, da nur wenige Texte aus älterer Zeit überliefert sind, eine hinreichend präzise wortsemantische Beschreibung ohne Untersuchung der Bedeutungsbefunde in den zeitgenössischen Mundarten nur sehr eingeschränkt möglich. Die Verwertung dialektaler Daten erlaubt hier, zwei Idiome, welche in der phonetisch und onomasiologisch ausgerichteten romanistischen Ausgliederungsforschung traditionell eine wichtige Rolle spielen, in einem gewissen Grad in die vergleichende Betrachtung der semantischen Ausgliederungsprozesse einzubeziehen. Daß die bei der Betrachtung der dialektalen Materialien gewonnenen Ergebnisse nur sehr bedingt mit den Erkenntnissen verglichen werden können, welche bei der Untersuchung der älteren Sprachstufen erzielt werden, versteht sich von selbst.

44

45

46

welche in den Norm- und Literatursprachen nicht mehr nachgewiesen werden können. Vgl. wiederum G. Rohlfs 1954 (Karten 19, 49) und G. Rohlfs 1971 (Karten 75, 95, 96, 97). Die einbezogenen Dialektdaten sind meistens solche aus dem italienischen Sprachraum; z.T. werden auch Sonderentwicklungen im Süden der Galloromania und in Nordspanien berücksichtigt. Auch bei Dialektuntersuchungen zu einzelnen Sprachräumen ist die Verwertung des semantischen Materials schwierig. Vgl. bereits K. Jaberg 1936, 57: «Les Atlas linguistiques ne donnent qu' un choix du trésor lexicologique d'une langue, ils permettent rarement de saisir l'aspect géographiques des problèmes sémantiques dans toute leur complexité». Skeptisch äußert sich auch W. ν. Wartburg: «Vor allem ist es meist unmöglich, die geographische ausbreitung verschiedener bedeutungen desselben Wortes festzustellen» (FEW I, Einleitung). Der sporadische Charakter und die Unzuverlässigkeit der Bedeutungsinformationen in den Sprachatlanten werden auch betont von B. Staib 1980, 67. Der zeitliche Abstand, welcher etwa zwischen den hier untersuchten Entwicklungsstufen der westromanischen Sprachen einerseits, des Rumänischen andererseits besteht, ist hiermit nicht vergleichbar.

82

3·4· Quellen zur semantischen Erforschung des romanischen Wortschatzes in älterer Zeit Die diachrone Bedeutungsforschung gewinnt ihre Erkenntnisse, wie bereits erläutert wurde, ganz überwiegend durch die Untersuchung von Wortverwendungen in primärsprachlichen Texten. Wenn auch die frühe Wortschatzgeschichte der romanischen Sprachen semantisch bisher erst zum kleineren Teil aufgearbeitet ist47, so liegen doch verschiedene Untersuchungen lexikographischer Art vor, die - ungeachtet ihrer meist anders ausgerichteten Zielsetzung - für die Zwecke der inhaltsbezogenen Ausgliederungsforschung genutzt werden können. 3.4.1. Verfügbare lexikographische Hilfsmittel Im allgemeinen stellen die einschlägigen Wörterbücher zu den älteren Epochen der romanischen Sprachgeschichten die erste und wichtigste Informationsquelle dar. Allerdings ist die Arbeitssituation hier sehr uneinheitlich. So sind die Bedeutungsverhältnisse im (Schrift-)Lateinischen, die den Ausgangspunkt unserer Untersuchungen bilden, in den bekannten Großwörterbüchern ( T L L , Forcellini) und verschiedenen zweisprachigen Lexika {OLD, Georges) reichhaltig dokumentiert48. Ergänzend können lexikographische Arbeiten zum Spätlatein herangezogen werden49. In bezug auf die älteren Sprachstufen des Romanischen hingegen ergibt sich ein weniger günstiges Bild. Während etwa für die galloromanischen Idiome Französisch und Okzitanisch (Provenzalisch) bereits seit längerem umfassend informierende Werke vorliegen (Godefroy, Tobler/Lommatzsch, Raynouard, Levy 50 ), fehlen vergleichbare Speziallexika für die 47

Die meisten Darstellungen wurden bisher dem Französischen gewidmet (K. Nyrop 1913, K. Jaberg 1901/1903/1905, E. Gamillscheg 1951 und andere). Zum Rumänischen liegt m.W. nur ein einziges, jedoch sehr differenziertes Handbuch vor (L. §äineanu 1887). Zum Spanischen, Portugiesischen und Italienischen sowie zu den Sprachen der Romania fehlen vergleichbare Arbeiten bisher (ich sehe hier ab von kleineren Darstellungen wie F. Restrepo 1952). Die verfügbaren Werke sind für die Zwecke der hier betriebenen Untersuchungen z.gr.T. nur bedingt geeignet, da die in ihnen untersuchten Materialien nicht den älteren Phasen der romanischen Sprachgeschichten angehören.

48

TLL = Thesaurus Linguae Latinae, Forcellini = A . Forcellini 1860-1875; OLD = Oxford Latin Dictionary, Georges = Κ. E. Georges 1983. - Das mittlerweile sehr alte Forcellini-Wörterbuch ist mit Vorbehalt zu handhaben: Es gibt die Zitattexte häufig inkorrekt wieder; die Quellenverweise sind oft fehlerhaft oder ungenau und beruhen z.T. auf überholten Textausgaben. - Zum methodischen Stellenwert der Bezugnahme auf das Schriftlateinische vgl. Punkt 3.1.3. So z.B. H. Rönsch 1887,1. Segebade/E. Lommatzsch 1898, Α . H. Salonius 1920, J. Svennung 1935, E. Löfstedt 1936, J. Blaise 1954, A . Souter 1957, Β. Fischer i977ff. F. Godefroy 1880-1902, T/L = A . Tobler/E. Lommatzsch I925ff., Raynouard = F. Raynouard 1836-1845, Levy = E. Levy 1894-1924).

49

50

83

übrigen Sprachräume, oder sie befinden sich derzeit noch in der Erstellungsphase {LEI, DEM51). Hinzu kommen verschiedene kleinere Wörterbücher zur älteren Sprache, die sich oftmals als durchaus ergiebig erweisen 52 . Zusätzliche Informationen liefern lexikographische Werke, welche auf die Darstellung des gesamten Sprachschatzes von Einzelidiomen abzielen. Sie enthalten immer auch eine Fülle von Daten aus mittelalterlicher Zeit. Dies ist etwa der Fall beim FEW für das Galloromanische (und darüber hinaus für die Gesamtheit der romanischen Sprachen), beim GDLI, ersatzweise auch beim DLI, für das Italienische sowie beim DRG für das Bündnerromanische 53 . Ebenso können das DCECH und Alonsos Edi für die iberoromanischen Sprachen herangezogen werden ( D C V B , TLC und DCELC für das Katalanische) und der DLR für das Rumänische 54 . Bei der Untersuchung der zuletzt genannten Sprache kann auch auf die Materialien der von P. Miron besorgten, mittlerweile vollständig erschienenen Neuausgabe von H. Tiktins Rumänisch-deutschem Wörterbuch55 zurückgegriffen werden. Neben den Lexika liefern auch Glossare und Konkordanzen zu einzelnen Texten oft wertvolle Hinweise. Sie sind besonders für das Rumänische von Bedeutung, zu dessen älterer Epoche keine spezialisierten Lexika vorliegen 56 . Das gleiche gilt für das lexiko5" LEI = M. Pfister 1979ft, DEM = B. Müller 1988ft Ich danke M. Pfister und B. Müller für die Bereitschaft, mir Einsicht in unveröffentlichte Materialien der besagten Wörterbuchprojekte zu gewähren. - Das groß angelegte Wörterbuchprojekt von A. Magne zum mittelalterlichen Portugiesisch (A. Magne 1950) ist leider nicht zu Ende geführt worden. 52 Dies gilt vor allem für zwei zwar relativ kleine, aber reichhaltige und zuverlässige Wörterbücher zum Altspanischen ( T D M S = R. S. Boggs/L. Kasten/H. Keniston/H. B. Richardson 1946 und DM E = M. Alonso 1986) . ss FEW =W. v.Wartburg 1928-1965, GDLI = S. Battaglia 1961ft, DLI = Ν. Tommaseo/B. Bellini 1861-1879, DRG = Società Retorumantscha 1939ft st DCECH = J. Corominas/J. A. Pascual 1980ft, Edi = M. Alonso 1958, DCVB = Α. Aleover 1980-1985, TLC = A. Griera 1937- Γ947> DECLC = J. Coromines 1980ft, DLR = A. R./A. R. S.R. 1907ft Für das ältere Portugiesische relativ unergiebig ist das GDLP (= A. de Moráis Silva 1949-1959). 55 Tiktin2 = H. Tiktin (P. Miron) 1985-1989. Ich danke P. Miron für die Bereitschaft zur Überlassung unveröffentlichter Materialien. 56 Wichtige Quellen sind z.B. F. Dimitrescu 1963, V. Pamfil 1968, A. Mare? 1969, S. Toma 1976, M. Costinescu 1981. Ein unentbehrliches Hilfsmittel bei der lexikologischen Bearbeitung alter rumänischer Texte ist F. Dimitrescu 1973. - Problematisch ist, daß die Coresi-Texte (Dimitrescu, Pamfil, Mareç, Toma)) gerade in lexikalischer Hinsicht nicht repräsentativ für die Sprache ihrer Zeit sind: «Traducätorii dispuneau de un lexic särac §i nu aveau la îndemîna termeni române§ti suficienÇi» (A. Rosetti 1978, 591). In Ermangelung anderer älterer Texte muß dieser Mangel in Kauf genommen werden. - Bei verschiedenen lexikographischen Werken, welche auf das Rumänische Bezug nehmen (D. P. Bogdan 1946, G. Mihäilai974, I. L. B. 1981) wird der Inhalt den Erwartungen, welche die Titel evozieren, nicht gerecht. Sie beruhen nicht auf der Untersuchung durchgängig rumänisch geschriebener Texte, sondern behandeln 84

graphisch allgemein nicht gut dokumentierte mittelalterliche GalicischPortugiesische und für das ältere Bündnerromanische 57 . Auch bei der Untersuchung des mittelalterlichen Italienisch ist die Einbeziehung derartiger Quellen (z.B. ED5&) oftmals unentbehrlich, da Spezialwörterbücher zur älteren Epoche weitgehend fehlen 59 . 3.4.2. Zur Zuverlässigkeit der lexikographischen Hilfsmittel Insgesamt gesehen sind die Informationen, welche durch die Auswertung der verfügbaren (hier durchaus nicht vollständig aufgelisteten) lexikographischen Quellen gewonnen werden können, je nach betroffener Sprache quantitativ und qualitativ sehr unterschiedlich. Während im Falle des Lateinischen und der bereits angesprochenen Literatursprachen Westeuropas bei den meisten Wörtern mit Hilfe der Wörterbücher differenzierte Bedeutungsprofile erstellt werden können, reichen bei den weniger gut dokumentierten Sprachen die lexikographischen Quellen in den allermeisten Fällen nur für eine grobe semantische Charakterisierung der untersuchten Wörter aus 60 . A m ungünstigsten ist die Beleglage zweifellos beim Dalmatischen. Hier liegen semantisch verwertbare lexikographische Informationen eigentlich nur zu neueren Sprachstufen vor; und auch

vereinzelte Vorkommen rumänischer Wörter im Altslawischen. Für die semantische Charakterisierung des Rumänischen in seiner Frühzeit sind sie ungeeignet. 57 Die beiden einzigen bisher gedruckt vorliegenden Wörterbücher des portugiesischen (J. de S ta Rosa de Viterbo 1962, H. Brunswick 1910) beziehen sich hauptsächlich auf die Sprache des 16. Jahrhunderts und sind in der praktischen Arbeit nur eingeschränkt brauchbar (S ta Rosa de Viterbo '1798/99!). Das moderne, breit angelegte VPM von A. G. da Cunha ist bisher erst zu kleinen Teilen veröffentlicht. Wichtige und ergiebige Glossare zum Altgalicischen und älteren Portugiesisch sind W. Mettmann 1972, R. Lorenzo 1975/1977, H. Lang 1894, C. Michaelis de Vasconcelos 1920, J. J. Nunes 1928/1929, A . Magne 1944. - Ein wichtiges Glossar zum älteren Bündnerromanisch (Bifrun) stellt H. J. Fermín 1954 dar. 58 £ f ) = istituto della Enciclopedia Italiana 1970-1978: Enciclopedia Dantesca. 59 G. Colussi 1983ft lag während der Abfassung der vorliegenden Arbeit noch nicht vollständig vor; P. Petrocchi 1912 ist nur sehr eingeschränkt brauchbar. Zahlreiche Informationen zur Sprache der älteren Zeit enthält hingegen das DELI. Die Ursache für das Fehlen von speziellen Wörterbüchern des älteren Italienisch dürfte in der Tatsache liegen, daß «hier die ältere Literatur noch Allgemeingut, der formale Unterschied [zwischen alter und neuer Sprache] nicht groß ist» (J. Fahrenschon 1938, 1). 60 Dies gilt vor allem für das Sardische. Abgesehen von M.-L. Wagners DES werden zum sardischen Wortschatz herangezogen: M. T. Atzori o. J. (als das einzige auf die ältere Zeit bezogene Werk), G. Spano o. J., V. Porru 1967 sowie verschiedene Nachträge M.-L. Wagners zur 3. Auflage des REW (M.-L. Wagner 1935, 1936, 1940).

85

diese sind so lückenhaft, daß diese Sprache im semantischen Sprachvergleich praktisch keine Berücksichtigung finden kann 6 '. Die Brauchbarkeit der lexikographischen Werke ist gerade im Hinblick auf die gegebenen Bedeutungsdefinitionen sehr unterschiedlich. So sind ζ. B. die semantischen Angaben des ansonsten in der romanistischen Wortschatzarbeit unentbehrlichen REW mit Vorsicht zu handhaben. Die Bedeutungsangaben zum Gallo- und Italoromanischen sind hier generell sehr viel differenzierter als die zu den übrigen Sprachräumen; die Polysemie wird (besonders bei den lateinischen Etyma) so gut wie überhaupt nicht berücksichtigt 62 . Im Detail sind die Bedeutungsangaben (besonders jene zum Sardischen und Rumänischen) oft nicht zutreffend 63 . Da Ähnliches für viele andere (besonders kleinere) Wörterbücher gilt, ist jede Art der Lexikonbenutzung unangebracht, «die sich allzusehr auf die Verbürgtheit der lexikalischen Bedeutung verläßt» 64 . Hieraus ergibt sich, daß die vorgefundenen Definitionen auf jeden Fall durch entsprechendes Beispielmaterial zur Verwendung der Wörter in Sätzen und Texten abgesichert werden müssen. Wenn die Wörterbücher dieses nicht mitliefern, muß versucht werden, es soweit wie möglich durch die Heranziehung von Glossaren und Konkordanzen bereitzustellen. Die Konsultation der Wörterbücher stellt somit nur den ersten Schritt der semantischen Beschreibung des lateinischen und romanischen Lexikons dar.

3.5. Zur Auswahl und Anordnung des lexikalischen Materials Bereits im Einleitungskapitel wurde darauf hingewiesen, daß die Lexikologie immer vor dem praktischen Dilemma steht, daß einerseits Erkenntnisse weiterreichender Gültigkeit nur als Resultat sehr umfangreicher 61

62

63

64

Die einzigen mir zugänglichen Quellen zum Dalmatischen waren A . Ive 1886, M. Bartoli 1906 und V. Vinja 1957/1959/1967. Bei den Arbeiten V. Vinjas handelt es sich wiederum um Nachträge zum REW. REW = W. Meyer-Lübke 1972. Das in der Einleitung (REW, IX) formulierte Darstellungsprinzip («die romanische Bedeutung wird nur dann gegeben, wenn sie von der des Stichwortes abweicht») läßt generell auf ein geringes Interesse an semantischen Fragen schließen. Es wird zudem nicht konsequent durchgehalten. - W. v. Wartburg entwickelt seine semantisch begründete Kritik an der traditionellen Etymologie am Beispiel der Angaben des REW (W. v. Wartburg 1970, 115). Vgl. auch H. Meier 1986, io6f. Eine Reihe von Ergänzungen zum REW (auch zur Semantik) behandelt A . Graur 1937. J. Stierle 1979, 188. Kritischer noch äußert sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts J. Stöcklein: «Der Bedeutungsforscher wird ... im allgemeinen nicht allzuviel von der Benutzung eines Lexikons zu erhoffen haben» (J. Stöcklein 1897, 11). Die Ablehnung seitens dieses Forschers beruht auf seiner Forderung nach Untersuchung der Wortbedeutung im Satzzusammenhang, die mit Hilfe

86

Materialuntersuchungen denkbar sind, daß andererseits aber die Materialien, welche im Rahmen von Einzelstudien analysiert werden können, mehr oder weniger eng begrenzt sind. Die Notwendigkeit der Beschränkung auf eine überschaubare Zahl von Lexikoneinheiten gilt für die Wortsemantik in besonderem Maße, erfordert doch die Ermittlung und Beschreibung von Bedeutungen einen ungleich höheren Aufwand als die Untersuchung der ihnen zugeordneten Wortkörper 65 . In der vergleichenden Semantik muß die Untersuchung sich zwangsläufig auf eine noch kleinere Zahl von Wörtern beschränken. Wird (wie in der vorliegenden Untersuchung) eine Aufdeckung allgemeiner Tendenzen der Lexikonentwicklung angestrebt, so ist die Zugrundelegung eines einigermaßen geschlossenen, nach durchgängig gültigen Kriterien definierten Materialkorpus sehr wünschenswert. Wenn die Aussagekraft der mit geringen Wortmengen erzielbaren Ergebnisse auch begrenzt bleibt, so sollte dem Zufallsfaktor doch soweit wie möglich entgegengewirkt werden 66 . Die bei der Materialeingrenzung anwendbaren Kriterien sind sehr unterschiedlich. Das Kriterium der Wortfrequenz, das sich bei einzelsprachbezogenen Untersuchungen anbietet, kann beim Sprachvergleich als Auswahlgesichtspunkt nur eingeschränkt zur Anwendung kommen6"7. In der diachronen Bedeutungsforschung ergibt sich eine Komplikation aus der Tatsache, daß bei semasiologischen und einzelwortübergreifendparadigmatischen Beschreibungen die Definition des Materials nach unterschiedlichen Kriterien erfolgen muß. Die Ursache hierfür liegt in der jeweils andersartigen Definition der historischen Kontinuität 68 . Bei der

65

66

67

68

der in den Wörterbüchern gegebenen Definitionen nicht zu leisten ist (vgl. Punkt 2.I.). In den wenigen Vorarbeiten zur vergleichenden romanischen Semantik werden, wie bereits in der Einleitung erwähnt, nur geringe lexikalische Materialmengen untersucht. Dies hindert aber etwa H.-W. Klein nicht daran, die von ihm behandelten Beispiele als «cas typiques» zu bezeichnen (H.-W. Klein 1961, 145). Ähnlich weitgehende Aussagen ohne ausreichende empirische Fundierung trifft E. v. Krasmer 1972, I2f. Die kleineren Vorarbeiten zur semantischen Differenzierung nehmen auch auf dieses Postulat keine Rücksicht; so sind etwa die von H.-W. Klein präsentierten Beispielsammlungen in semantischer und formaler Sicht völlig uneinheitlich. Die Untersuchung hochfrequenter Wortschatzelemente ist in der einzelsprachbezogenen diachronen Semantik grundsätzlich sinnvoll, da bei den «tragenden, diskursorganisierenden Wörtern ... die größte Chance der Bedeutungsveränderung besteht» (K. Stierle 1979, 175). Die Untersuchung sehr seltener Wortschatzeinheiten ist hingegen wenig ertragreich und in der Praxis auch kaum auf sinnvolle Weise durchführbar. - In der vergleichenden diachronen Forschung ist das Frequenzkriterium hingegen kaum anwendbar, da die Gebrauchshäufigkeit etymologisch verwandter Wörter in unterschiedlichen Sprachen divergieren kann. Die Berücksichtigung der Gebrauchshäufigkeit ist hier nur im Hinblick auf das Lexikon der Ursprungssprache (hier: des Lateinischen) sinnvoll. Vgl. Punkt 1.1.3.

87

semasiologischen Betrachtungsweise, welche die historische Kontinuität der Wortkörper voraussetzt, ist nur die einmalige Erstellung eines lexikalischen Ausgangskorpus (in unserem Fall einer lateinischen Wortliste) erforderlich. Die semantische Entwicklung der hiermit identifizierten Wörter wird dann ohne Rücksicht auf eventuelle Sinnbezirkswechsel durch die Jahrhunderte verfolgt. Die paradigmatisch-strukturelle Perspektive hingegen, die auf die Aufdeckung bedeutungsdefinierender Relationen abzielt, verlangt für jede zu beschreibende Synchronie die Neudefinition des lexikalischen Inventars. In der Praxis führt diese Diskrepanz dazu, daß zumindest bei größeren Untersuchungen entweder der semasiologischen oder der strukturellen Methode der Vorzug gegeben werden muß. Die Anwendung der jeweils anderen Vorgehensweise ist dann nur noch in eingeschränkter Weise möglich. 3.5.1. Die Wortart als Maßstab der Korpusdefinition Das nächstliegende methodenübergreifende Kriterium der Wortauswahl besteht in der Beschränkung der Untersuchung auf Lexeme einer einzigen Wortart. Für die feldtheoretische Betrachtung ist die Zugehörigkeit der beschriebenen Elemente zu einer einzigen Wortart unabdingbare Voraussetzung; denn sie stellt ein wesentliches Moment der paradigmatischen Austauschbarkeit dar69. Eine derartige Materialeingrenzung ist jedoch auch für die semasiologische Betrachtung sinnvoll, gewährleistet sie doch bei den erfaßten Lexemen eine gewisse Übereinstimmung in der kontextuellen Distribution und im Zusammenhang hiermit auch ein Minimum an semantischer Vergleichbarkeit 70 . Das Kriterium der Beschränkung auf eine bestimmte Wortart wird auch in der vorliegenden Untersuchung herangezogen. Die gewählte Wortart ist in beiden Fällen die der Verben. Natürlich ist die Entscheidung zugunsten dieser Wortklasse letztendlich willkürlich. Sie wird aber durch Vorteile theoretischer wie praktischer Art nahegelegt. Aufgrund seiner zentralen Stellung im Satz und seiner komplexen syntaktischen Einbindung steht das Verb in vielfacher (auch semantischer) Beziehung

6lJ

70

Vgl. H. Geckeier 1 9 7 1 a , 218. Die dem entgegengesetzte Haltung O. Ducháceks und seiner Schule (Einbeziehung sprachlicher Materialien unterschiedlicher Wortarten in die strukturelle Betrachtung; vgl. etwa O. Duchácek 1 9 7 2 ) ist in dem spezifischen Konzept des - N Z 'verringern'

'unterstützen A Kont

'aufrichten, stärken'

Ähnl 'aufrichten, errichten'/ Ähnl '(die Seele) erheben'

Ahnl '(zu einer Würde) erheben' Kont/Ähnl 'auf sich nehmen

'sich(gegen jdn) erheben Ähnl

Kontwegtragen, -führen'

103

hung neuer Inhaltsgrößen läuft vielfach nicht so ab, daß die neu aufkommenden Verwendungsweisen auf jeweils eine zugrundeliegende ältere Bedeutung zurückgeführt werden können. Die historischen Beeinflussungsbeziehungen sind oftmals sehr viel komplexer. In diastratisch-diaphasischer Hinsicht sind die diversen Bedeutungen von lat. levare nicht alle als gleichwertig einzustufen (so zeigt etwa das Christenlatein im Bedeutungsbild von levare durchaus eigenständige Merkmale) 46 . Eine klare Zuweisung einzelner Bedeutungen zu bestimmten Registern oder Gruppensprachen ist aber nicht möglich. So kommen z.B. bestimmte Bedeutungen von levare vorwiegend in christlichen Texten vor; sie sind aber keineswegs ausschließlich in diesen zu finden. Da die sprachliche Beschreibung diese Zusammenhänge nur unvollkommen wiederzugeben vermag, gebe ich zur Ergänzung eine graphische Darstellung (Schema γ) 47 . 4.1.2. Die Fortsetzungen von lat. levare in den älteren Epochen des Romanischen und ihre Bedeutungsentwicklung Fortentwicklungen von lat. levare sind, wie bereits erwähnt, in allen Sprachräumen der Romania bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben: rum. lua, vegl. levur, zentralsardisch lebare (log. leare, camp, leai, volg. liai), ital. levare, bündnerrom. (surselv./eng.) levar/alvar (alver), friaul. jevâ, frz. lever, prov. levar, kat. sp. llevar, pg. levar48). In den älteren Epochen der romanischen Sprachgeschichten, die im Mittelpunkt der hier zu gebenden Darstellung stehen sollen, weisen die Signifikanten z.T. andere Lautformen und Graphien auf 49 . 46

47 48

49

Die diamediale Dimension spielt hier eine untergeordnete Rolle, da die aufgeführten Verwendungsweisen - von wenigen Sonderfällen abgesehen - alle in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße der Schriftsprache bzw. verschriftungsfähigen Registern zugehören. Zur Zeichenerklärung vgl. xn: «Zeichenerklärung; Entwicklungsdiagramme (Kap. 4)». Sardische Formen nach DES II (REW nur log. leare); bündnerrom. Formen nach DRG I (unter alvar, im REW als alver angegeben) und HwRätorom, fri. jevâ nach G. A. Pirona e.a. 1935 (REW: leva). Übrige Formen nach REW 5000. levare. - Die durch das REW vorgegebene Reihenfolge der aufgelisteten Sprachen (beginnend mit dem Rumänischen, endend mit dem Galicisch-Portugiesischen) wird in der vorliegenden Arbeit mit gelegentlichen Modifikationen übernommen. Apriorische Aussagen zur semantischen oder der einzelnen Idiome zum Lateinischen sind hiermit nicht beabsichtigt. So ist das italienische Verb im Mittelalter auch als livare/livari belegt (vgl. CDLIVIII). In den altspanischen Texten wird das Wort meist levar geschrieben, erst ca. seit Nebrija durchgängig llevar (vgl. DCECH III, 731b; Beispielmaterial bei H. Schede 1987). Was das mittelalterliche Katalanisch angeht, so gebraucht Ramón Llull meist noch die Form levar, R. Muntaner aber schon durchgängig llevar (vgl. DCVB VI). Im älteren Bündnerromanisch (Engadinisch) sind sowohl oeng. aluer (Bifrun) als auch ueng. alluar (Chiampel) belegt. Die entsprechenden surselvischen Formen sind léua und leiwa (vgl. DRG I).

104

4-1.2.ι. Bedeutungsprofile der romanischen /evare-Fortsetzungen in älterer Zeit Die Bedeutungsentwicklung des lateinischen Wortes levare im Romanischen ist außerordentlich vielfältig. Dies gilt bereits für die älteren Epochen der einzelnen Sprachgeschichten; in späterer Zeit scheint der Grad der semantischen Differenzierung noch zuzunehmen. Dies gilt sowohl für die schriftsprachlichen als auch für die dialektalen Befunde 50 . Die im folgenden gegebene semantische Beschreibung orientiert sich, wie dies schon in Punkt 4.1.1. der Fall war, an der Teilsignifikatstruktur der betroffenen Signifikate. Teilsignifikate

'erleichtern'verringern'

Als erstes wenden wir uns den Bedeutungskomplexen 'erleichtern' und 'verringern' zu, welche im Lateinischen die beiden ältesten Teilsignifikate des Verbs levare darstellten. Der Komplex von Verwendungsweisen, welcher sich bei dem lateinischen Ursprungswort um das Zentrum 'verringern' gruppierte, scheint im Romanischen vollständig untergegangen zu sein. Was den zweiten der hier behandelten Bedeutungskomplexe angeht, so sind semantische Größen dieser Gruppe nur in wenigen romanischen Idiomen in älterer Zeit erhalten geblieben. Die zentrale Bedeutung 'erleichtern' (im konkret-gegenständlichen Sinne) scheint nur im älteren Italienisch existiert zu haben; doch liegen auch hierfür nur spärliche Hinweise vor 51 . In der übertragenen Verwendung hingegen findet sich die besagte Inhaltsgröße in älteren Dokumenten mehrerer romanischer Sprachen; bei einigen sind die entsprechenden Belege sogar recht zahlreich. Dies gilt vor allem für die Bedeutung '(jdn von etwas) befreien', die an einen bestimmten syntaktischen Umgebungstypus (Verb + Präpositionalphrase) gebunden ist und welche etwa bei Dante in der Vita Nuova vorkommt (ironisch auch in den Storie Pistoiesi; vgl. den unten angeführten Beleg). Als intransitive Weiterentwicklung dieser Verwendungsweise kann die ebenfalls im älteren Italienisch (Villani) belegte Bedeutung 'nützen, helfen' gelten. Vergleichbare Bedeutungen finden sich auch im Kata50

51

Z u den Bedeutungsbefunden der /evare-Fortsetzungen in den heutigen französischen und italienischen Dialekten vgl. etwa FEW V sowie J. Jaberg/J. Jud i960. - In der folgenden Darstellung sollen, wie in Punkt 3.3.2. dargelegt, die Bedeutungsbefunde in den heutigen romanischen Dialekten nur dann in die Betrachtung einbezogen werden, wenn keine ausreichenden Informationen zur semantischen Entwicklung in den älteren Schriftsprachen vorliegen. In den konsultierten lexikographischen Werken findet sich nur im £>£711 ein entsprechender Hinweis («'alleggerire'; tose., XII sec.»), allerdings ohne Anführung von Beispielmaterial und ohne irgendwelche Quellenverweise. In den Werken der Sprachen bilden im Unterschied zu allen übrigen eine neue Gruppe von Verwendungsweisen aus. Hierbei ist eine geographisch erkennbare Abstufung in der Intensität der Neuerung gegeben (am weitesten gehende Innovation im Galicisch-Portugiesischen). Bedeutungsmatrix j: Tenere und Fortsetzungen (Teilsignifikate) lat.

ru.

da.

'fest-, zurückhalten'

+

+B +N

'fassen'

+

'innehaben'

+

+B (+n)

Aux.-/Mod.-Funktion

-

-

5 . 1 . 1 . 7 . Laxare

-

sa.

it.

rt.

fr.

pr.

kt.

sp.

gp-

?

(+B) +B +N

?

+B +N

+B +N

+B +N

+B +N

+B +N

?

(+B) (+n)

?

-

-

-

-

-

?

(+B) +B +N

?

+B +N

+B +N

+B +N

+B +N

+B

?

(+N) (+N)

?

-

-

+N

+N

+N

-

(^£^4955)

Interromanisch (panromanisch außer Dalmatisch). Rum. läsa, sard, (log./camp.) lassare!lassai, ital. lassare/lasciare, rätoroman. (surs./engad./friaul.) schar/lascharllassa, franz. laissier/laier, prov. laissar/laisar, kat. lleixar, span, lexar/lejar/lesar, gal.-port. leixar11. Ebenfalls zu berücksichtigen sind verschiedene auf d- anlautende Formen, welche am wahrscheinlichsten auf lat. delaxare zurückgehen: sard, (log.) dassare, südital. (kalabr.) dassare, prov. daisar, kat. deixar, span. dejar, port, deixar und andere 72 . Im Sardischen und Iberoromanischen

70 71

72

Vgl. E. Seifert 1930, 243. Camp. Form nach DES III («Appendice», unter lassare). Surs, schar nach R. Vieli/A. Decurtins 1962, engad. laschar nach O. Peer 1962, friaul. lassa nach G. A . Pirona e.a. 1935. Afrz. laier (morphologisch defektive Form) nach FEW V, 225a bzw. 227a/b, prov. laissar nach Raynouard IV, kat. lleixar nach DCVB VI, asp. lejarllesar nach J. Cejador y Frauca 1929. Ansonsten nach REW 4155. laxare. - Die spärlichen Informationsquellen zum Dalmatischen verzeichnen keine direkten Belege für das Verb. Es existierte aber mit dem Substantiv laksa 'héritage, succession' eine deverbale Ableitung, welche indirekt auf lat. laxare zurückging (vgl. V. Vinja 1959). Vgl. W. Meyer-Lübke 1903, 64; DCECH II, 436a; FEWV, 226f.; DCVB IV;

185

sind diese früher belegt als die Formen, welche sich direkt von lat. laxare herleiten 73 . Lat. laxare stellt ebenso wie das hier als Musterfall besprochene levare seiner Entstehung nach eine Adjektivableitung dar (laxus 'weit, geräumig, schlaff 7 4 ). Die Bedeutungen des Wortes gruppieren sich zunächst um die Zentren 'weit machen' und 'locker machen 175 . Ausgehend von der Bedeutung 'lockern' entsteht über eine Kontiguitätsrelation zwischen den bezeichneten Vorgängen die Inhaltsgröße 'losmachen, loslassen', welche zum Mittelpunkt eines eigenen Teilsignifikats wird 76 . Bereits im Spätlateinischen wird laxare auch in der Hilfsverbfunktion verwendet 77 . Das erste der Teilsignifikate des lateinischen Verbs (mit dem Zentrum 'weit machen') hat sich in den älteren Entwicklungsstufen des Romanischen nirgends auch nur ansatzweise erhalten. Nur unwesentlich besser bewahrt wird der Komplex 'locker machen'; er ist nur noch im Italienischen in Spuren vertreten 78 . Gut erhalten bleibt im Romanischen hingegen das lateinische Teilsignifikat 'loslassen579. Hier bleiben die tradierten Verwendungsmöglichkeiten fast überall erhalten. Zudem sind zahlreiche Neuerungen zu verzeichnen. Die fast panromanische Verteilung vieler dieser Innovationen ('von jdm ablassen', 'etwas unterlassen', 'jdm etwas überlassen', 'jdn verlassen', '[etwas in einem Zustand] belassen') legt die Vermutung nahe, daß sie bereits im Vulgärlatein stattgefunden haben.

DME II. Einen Überblick über die unterschiedlichen Meinungen zur Entstehung dieser Formen gibt wiederum das DCECH II, 436a. 7 3 Vgl. M. L. Wagner im DES II (unter lassare). 74 Vgl. A . Walde/J. B. Hofmann 1954. Das FEW (V) gibt als Bedeutung von laxus nur 'schlaff an; die angeführte Definition von laxare ('locker machen, entspannen') ist ungenau. 75 Vgl. K. E. Georges 1983, II. 7 6 Zum Teilsignifikat 'loslassen' vgl. V. Väänänen 1963, 102; sowie A . Stefenelli 1992, 174. 7 7 Vgl. A . Stefenelli 1981a, 54, A . 81. Eine späte Datierung nimmt dagegen W. v.Wartburg im FEW vor («Im 7. jh. endlich findet sich laxare mit inf., also als hilfsverbum und nachfolger von sinere ...»; FEW V, 226t). 78 Vgl. GDLIVII, Bed. 5 ('allentare, mollare'). 7 9 Z u den aufgeführten Bedeutungen vgl. K. E. Georges 1983 I, a. Blaise 1954, A . Souter 1957; Tiktin 2 II, M. Costinescu 1981 (Glossar), V. Pamfil 1968 (Glossar); GDLIVIII; R. Vieli/A. Decurtins 1962, O . P e e r 1962, G. A . Pirona e.a. 1935; FEW V, T/L V; Raynouard IV, Levy IV; DCVß VI/IV (lleixar, deixar); TDME (lexar), DME II (lexar, dejar); W. Mettmann 1972 (leixar), C. Michaelis de Vasconcelos 1920 (Glossar), A . Magne 1944 {leixar), H. R. Lang 1894 (Glossar). - Für eine semantische Definition der sardischen Formen sind die verfügbaren Informationen unzureichend. Die Wörterbücher (DES, M. T. Atzori o. J.) geben die Bedeutung der sardischen Wörter lediglich mit ital. 'lasciare 1 an, ohne

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In allen Vgl. Punkt 5.2.1.1. 110 Vgl. S. Stati 1988, 86: «L'influenza francese è stata impressionante durante un periodo che va dall' V i l i al X X secolo ...». - Unter den nicht-französischen Fremdeinflüssen in früher Zeit sind - abgesehen vom gelehrten Latein - vor allem das germanische und das arabische Superstrat zu nennen; vgl. ebd. 111 T. E. Hope 1971,1, 53. Zur Praxis der wissenschaftlichen Behandlung der innerromanischen Lehnbeziehungen vgl. ebd.: «Lexicologists have in the past taken the Renaissance as their point of departure and neglected the period which preceded it». - Die französisch-italienischen Lehnbeziehungen im Mittelalter werden ausführlich bereits bei R. R. Bezzola 1925 behandelt. 112 Vgl. die Wortlisten bei T. E. Hope 1971, I («Italianisms in French during the Middle Ages», 27-53; «Gallicisms in Italian during the Middle Ages», 73-127). Wegen der Eigenart der untersuchten Texte für das hier behandelte Problem nur bedingt aussagekräftig ist G. Holtus 1975 (dort Punkte 3.1.3., 3.2.3., 3.3.3., 3.4.3., 3.10.3.). 113 Vgl. T. E. Hope 1971, I, 147. 107

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Der Lehneinfluß des Französischen ist auch semantischer Art: l i i e r e is a solidarity between Italian and French at the semantic level as well as at the formal l e v e l . . . The semantic solidarity is a process of mutual supplementation constantly renewed by one contact after another" 4 .

Mit den Ergebnissen der hier vorgenommenen empirischen Untersuchungen ist diese Aussage durchaus vereinbar. Angesichts der zahlreichen inhaltlichen Übereinstimmungen, welche zwischen dem Italienischen und dem Französischen bestehen 115 , ist ein gewisses Maß an wechselseitiger semantischer Beeinflussung wahrscheinlich. Hierbei ist in bezug auf die hier betrachtete mittelalterliche Zeit anzunehmen, daß bei der semantischen Beeinflussung dem Französischen eher die Rolle der ausstrahlenden, dem Italienischen jene der übernehmenden Sprache zukommt 1 1 6 . Konkret nachweisen lassen sich solche inhaltlichen Übernahmen allerdings kaum 1 1 7 . Es muß stets auch die Möglichkeit berücksichtigt werden, daß die inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen den beiden Sprachen außer auf direkte wechselseitige Entlehnung auch auf die übereinstimmende Beeinflussung durch eine Drittsprache zurückgehen können 118 . Französisch Das Ausmaß der Beeinflussung des älteren Französisch durch das germanische (vor allem fränkische) Superstrat ist in der Geschichte der romanischen Sprachwissenschaft immer wieder diskutiert worden 1 ' 9 . Wenn auch im phonetischen Bereich Art und Intensität des germanischen Einflusses umstritten sind, so steht doch außer Frage, daß das Französische im Hinblick auf die Zusammensetzung seines Lexikons unter den romanischen Literatursprachen eindeutig die «mit den meisten germanischen Elementen» 120 darstellt. Die Übernahmen aus dem Fränkischen, Burgundischen 114

115 116

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1,8

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T. E . H o p e 1971, II, 650. Beispiele ebd., 662-667 (leider nur unzureichend chronologisch differenziert). R. R. Bezzola 1925 unterscheidet bei der Beschreibung der Einwirkungen des Französischen auf das Italienische im Mittelalter zwischen dem «prestito integrale», dem «prestito puramente formale» und dem «prestito puramente semantico». Vgl. Punkte 6.3.4. und 6.3.6. T. E. Maurer 1954, 18, vermutet: «... o latim näo é a única fonte desta evoluçâo das línguas románicas. A unidade destas línguas se vé no fato de que muitas inovaçôes semánticas de urna lingua passam para as suas irmâs. A França é naturalmente a principal fonte ...». Vgl. R. R. Bezzola 1925, welcher die Schwierigkeit der zweifelsfreien Identifikation semantischer Beeinflussungen durch das Französische beklagt (ebd., 19). Der Autor listet aber doch verschiedene, seiner Ansicht nach eindeutige Beispielfälle auf (ebd., içf.). Die Frage der Beeinflussung des Romanischen durch das gemeinsame Kulturadstrat Latein wird in Punkt 6.4.2.2. behandelt. Ausführliche Darstellung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung z. B. bei G. Schlemmer 1983. H. Berschin/J. Felixberger/H. Goebl 1978, 174.

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und Westgotischen betreffen sehr unterschiedliche Wortschatzbereiche; außer Substantiven sind auch Adjektive und Verben vertreten 121 . E. Gamillscheg, G. Rohlfs und besonders H. Stimm haben plausibel zu machen versucht, daß in verschiedenen Einzelfällen der germanische Lehneinfluß auch auf der semantischen Ebene wirksam geworden ist 122 . So führt H. Stimm etwa die Bedeutungsvielfalt von frz. verre ('Glas als Material' und 'Glas als Gefäß 1 ), afrz. penne ('Feder' und 'Kleiderfutter') und sens ('Sinn' und 'Richtung') auf semantische Beeinflussung durch das Fränkische zurück 123 . Umgekehrt sind Stimm zufolge auch bestimmte Einschränkungen im Verwendungsbereich altfranzösischer Wörter durch die Einwirkung germanischer Vorbilder bedingt; dies ist etwa der Fall bei der Bedeutungsentwicklung von afrz. soi clamer (in Anlehnung an frk. hären oder klagön124 nur noch 'sich [gerichtlich] beklagen' statt - wie im Lateinischen und den romanischen Schwestersprachen - allgemein 'nennen, heißen'). Eine intensive semantische Einwirkung des Provenzalischen auf das Französische ist für die hier untersuchte mittelalterliche Zeit nicht anzunehmen; diese wird erst in späteren Jahrhunderten wirksam 125 .

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Vgl. etwa H.J.Wolf 1979, 44-49; H. Berschin/J. Felixberger/H. Goebl 1978, 175. Die Spezialarbeiten zum germanischen Wortschatz im Französischen sind überaus zahlreich; hier nur eine kleine Auswahl: W. v.Wartburg 1930, E. Gamillscheg 1970 O1933, vgl. hierzu auch M. Pfister 1972); P. Lévy 1950, 18-39; G. Sander 1989. E. Gamillscheg 1970, G. Rohlfs 1965, H. Stimm 1968. Alle genannten Darstellungen behandeln u. a. auch Lehnbeziehungen bei Verben. E. Gamillscheg 1970, 409, erwähnt das Beispiel compter!conter (Bedeutung 'zählen' aus dem Lateinischen ererbt; neue Bedeutung 'erzählen' nach frk. taljan). G. Rohlfs führt die Bedeutung 'ein Instrument spielen' bei frz. jouer auf germanischen Einfluß zurück; kritisch hierzu W. Ulland 1970 (Fazit: 164-170). Z u den von H. Stimm behandelten Beispielen vgl. unten. - K. Baldinger konstatiert für das Französische, daß dem ersten Eindruck nach «die germ. Wörter, die vom fr. übernommen wurden, sich in starkem Maße mit den slavischen im rum. dekken» (K. Baldinger 1958, 299, A . 1). Für die semantische Ebene kann dies aus der Sicht der hier durchgeführten empirischen Untersuchungen weder bestätigt noch widerlegt werden, da nur ein einziger (noch dazu noematisch recht «allgemeiner») Sinnbezirk untersucht werden konnte. H. Stimm 1968, 596, 597, 607. Der Beitrag H. Stimms ist nicht nur wegen der großen Zahl der untersuchten Wörter, sondern auch wegen der Differenziertheit der semantischen Beschreibungsmethode interessant. Vgl. H. Stimm 1968, 601. K. Gebhardt 1974, 123, stellt nach intensiven empirischen Untersuchungen fest: «Nahezu das gesamte innere Lehngut [im Französischen] nach okzitanischem Muster stammt aus der Zeit nach 1500. Der okzitanisch-französische Bilinguismus erreichte seinen Kulminationspunkt vom 16.-18. Jahrhundert».

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Rätoromanisch Beim Biindnerromanischen ist nach allgemeiner Überzeugung eine starke Beeinflussung durch nicht-romanische (deutsche) sowie romanische (italienische) Dialekte gegeben. O b dieser allerdings bereits in der Frühzeit der literarischen Überlieferung auf wortsemantischer Ebene wirksam war 126 , kann aufgrund der Lückenhaftigkeit des verfügbaren lexikographischen Materials nicht entschieden werden. Katalanisch, Spanisch,

Galicisch-Portugiesisch

Die wichtigste Kontaktsprache der Idiome der Pyrenäenhalbinsel stellt im Mittelalter zweifellos das Arabische dar. Das arabische Element war vor allem in den südlichen Gebieten der Halbinsel stark vertreten, die erst spät durch die christlichen Staaten zurückerobert wurden 127 . Es ist bekannt, daß diese nicht-indoeuropäische Sprache vor allem auf lexikalisch-onomasiologischer Ebene einen außerordentlich starken Einfluß auf das Iberoromanische ausgeübt hat 128 . Trotz der genetischen und typologischen Unterschiedlichkeit von Arabisch und Romanisch scheint es in einer Reihe von Fällen auch Übernahmen lexikalischer Bedeutungen aus dem Arabischen in das Iberoromanische gegeben zu haben, welche nicht von einer Entlehnung der Signifikanten begleitet wurden (span, amanecer/anochecer 'Morgen/Abend werden' und 'den Einbruch des Tages/der Nacht erleben' 129 ; poridat 'Vertrautheit' und 'Geheimnis'; casa 'Haus' und 'Stadt'; infante 'Sohn' und 'Thronfolger' u.a.m.; bei der Entstehung der jeweils zweiten Bedeutung wird arabischer Lehneinfluß angenommen 130 ).

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Auf Bedeutungsbefunde im Obwaldischen, welche durch Entlehnung aus dem Deutschen entstanden sind, verweist z.B. W. Meyer-Lübke 1909, 11. Vgl. R. Menéndez Pidal 1980, 427 (§ 89): «... las ciudades conquistadas en el siglo XIII, como Valencia, Córdoba y Sevilla, conservarían pocos mozárabes, y esos faltos de importancia social, sin obispos y sin organización civil ...». Vgl. ausführlich T. Neuvonen 1941. R. Lapesa 1981, 133, bemerkt zum Stellenwert des Arabischen in der Wortschatzgeschichte des Spanischen: «El elemento árabe fue, después del latino, el más importante del vocabulario español hasta el siglo XVI». - Im Hinblick auf die Bedeutungsseite der entlehnten Wörter konstatiert Neuvonen, daß es bei der Entlehnung arabischer Wörter ins Iberoromanische in fast allen Fällen zu einer «equivalencia semántica» kommt, d. h. daß die entlehnte Bedeutung nicht verändert wird (T. Neuvonen 1941, 305). Allerdings werden nicht alle Bedeutungen der entlehnten arabischen Wörter übernommen; auch entwickeln die romanischen Sprachen die arabischen Lehnwörter semantisch weiter (vgl. ebd., 305!). Vgl. A . L o m b a r d 1936. Kritik u.a. bei E. Coseriu 1977a, 40-58. Darstellung der Diskussionsgeschichte bei K. Baldinger 1972, 82, Anm. 65. Beispiele nach R. Lapesa 1981, 153. Lapesa konstatiert die Wirksamkeit derartiger Einflüsse ausdrücklich auch für den verbalen Teil des Wortschatzes (R. Lapesa 1981, 154). Kritisch zur Möglichkeit arabischen Einflusses in der Bedeutungsgeschichte von casa äußert sich E. Coseriu 1977a, 67-69.

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Die Mehrzahl der arabischen Elemente dürfte nicht direkt, sondern über das Mozarabische in das Katalanische, Kastilische und Galicisch-Portugiesische gelangt sein. Es kann mittlerweile als erwiesen gelten, daß auch das Mozarabische selbst auf die Dialekte des Nordens in nicht unerheblichem Maße eingewirkt hat. R. Menéndez Pidal nimmt vor allem für die ersten Jahrhunderte der Reconquista das Vorhandensein eines intensiven sprachlichen Austausche an 1 3 1 . Mozarabische Elemente wurden bisher vor allem im Bereich der phonetischen Entwicklung der Sprachen des Nordens nachgewiesen 132 . Prinzipiell sind Übernahmen aus dem Mozarabischen aber auch für die semantische Ebene denkbar. Leider sind wir über die semantischen Eigenheiten des Mozarabischen so gut wie gar nicht informiert, so daß die Frage empirisch nicht beantwortet werden kann 133 . Dies schließt aber nicht aus, daß in einzelnen der hier vorgestellten Bedeutungsgeschichten eine Beeinflussung durch das Mozarabische plausibel ist. So könnte die Tatsache, daß das Katalanische bei der semantischen Entwicklung von tener im Spätmittelalter einen zunehmend stärker Charakter entwickelt (vgl. Punkte 5.1.1.6. und 6.3.8.), auch in der wachsenden Beeinflussung durch das Mozarabische, das vor allem im Königreich Valencia eine bedeutende Rolle spielte, begründet sein. Daß die iberoromanischen Sprachen auch Beeinflussungen durch das Provenzalische und das Französische erfahren haben, ist bekannt 134 . In dem Material, welches in der vorliegenden Arbeit untersucht wurde, finden sich zahlreiche Fälle, in denen ihre Bedeutungsentwicklung in Teilaspekten mit jener der galloromanischen Sprachen übereinstimmt. Ob es sich hierbei allerdings um Entlehnungen oder um zufällige Parallelent131

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134

Vgl. R. Menéndez Pidal 1980, 480 (§ 87): «Esta época es ... la de máxima influencia de los mozárabes sobre los cristianos del Norte, colaborando activamente en la repoblación y en la cultura de los reinos reconquistadores». Besonders anschaulich hier der Werdegang der lateinischen Konsonantengruppe [-mb-] im Kastilischen: Sie entwickelt sich zuerst zu [-m-] weiter; das Kastilische stellt aber im Laufe seiner Ausdehnung nach Süden - wohl unter mozarabischem Substrateinfluß - [-mb-] wieder her. Vgl. R. Menéndez Pidal 1980, 286-290 (§ 52). Einen (semantisch wenig ergiebigen) Überblick über den mozarabischen Wortschatz gibt F. J. Simonet 1889. Vgl. hierzu etwa J. B. D e Forest 1916. De Forest behandelt zwar nicht den Aspekt der reinen Bedeutungsentlehnung; er verweist aber immerhin auf einige semantische Besonderheiten bei der lexikalischen Entlehnung, besonders auf die hierbei häufig gegebene Reduktion der Polysemie (375f.). In der vorliegenden Arbeit werden die semantischen Aspekte der lexikalischen Entlehnung aus allgemeiner Sicht in Punkt 2.4.2. behandelt. - Einen detaillierten und in semantischer Hinsicht sehr aufschlußreichen Überblick über die Gallizismen im heutigen Spanisch, der aus chronologischen Gründen allerdings nicht in die vorliegende Untersuchung einbezogen werden kann, gibt R. M. Baralt 1945.

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Wicklungen handelt, ist nach Auskunft des verfügbaren Materials nicht zu entscheiden. Die intensiven Lehnbeziehungen zwischen dem Judenspanischen und den Sprachen des östlichen Mittelmeerraums, zu denen auch aus semantischer Sicht Untersuchungen vorliegen' 35 , fallen nicht mehr in die hier untersuchte Zeitspanne. 6.4.3. Das lateinische Kulturadstrat Neben der Beeinflussung durch die Substrat-, Superstrat- und Adstratidiome spielt in der Geschichte der romanischen Sprachen auch durch der Kontakt mit den sogenannten Kulturadstraten eine wichtige Rolle' 3 6 . Hier ist vor allem das geschriebene Lateinische zu nennen, speziell das gelehrte und kirchliche Latein des Mittelalters («O latim que serviu de fonte para o enrequecimento das línguas románicas por via erudita näo foi tanto o latim clàssico como o medieval»' 37 ). In bestimmten Gebieten der Romania (Rumänien, Sardinien, Spanien) wurde dessen Funktion teilweise oder ganz durch andere Sprachen (Altkirchenslawisch, Griechisch, Arabisch) übernommen. Das gelehrte Latein nimmt unter den genannten Kulturadstraten insofern eine Sonderstellung ein, als es eine der Schriftformen gerade jener Sprache darstellt, auf deren mündliche Varietät(en) die romanischen Idiome historisch zurückgehen. Das Schriftlatein des Mittelalters (im deutschen Sprachraum wird es zumeist als bezeichnet) darf nicht einfach mit dem der klassischen Sprache der Antike gleichgesetzt werden. Es hat ... seinen Ursprung nicht im klassischen Latein, sondern im Spätlatein. Wie sehr auch die besten unter den mittellateinischen Autoren danach getrachtet haben, einen klassisch-lateinischen Stil zu verwirklichen, so ist, auf das Ganze gesehen, die Quelle für die mittelalterliche Latinität ... die Literatursprache, die sich im späten Kaiserreich herausbildete und viele verschiedene Z ü g e trug: klassische und rhetorische, biblische, dichterische, umgangssprachliche und, bis zu einem gewissen Grad, sogar vulgäre 1 3 8 . 135 136

137 138

Vgl. etwa M. L. Wagner 1954, 276t Der Terminus erscheint passender als der von C. Tagliavini verwendete Ausdruck (C.Tagliavini 1973, 2 6 1 - 2 6 8 ; ebenfalls gebraucht bei A . Stefenelli 1992, iggff.). Die in dem vorliegenden Abschnitt behandelten Sprachen erfüllen eher die Kriterien, welche etwa W. Dietrich und H. Geckeier für Adstratsprachen angeben (W. Dietrich/H. Geckeier 1990, 140; Anwendung auf das gelehrte Latein 154). Τ. E . Maurer 1 9 5 1 , 19. E . Löfstedt 1975, 2. Die Verbindungen zum Spätlatein betont besonders K. Langosch 1990a, 18: «Wenn sich auf der ersten Stufe des Mittellateins vieles findet, was dem Klassischen der Augusteerzeit widerspricht oder entartet erscheint, ... dann handelt es sich sehr oft um etwas, was bereits dem Spätlatein eigen gewesen ist». - Z u m quantitativen Aspekt vgl. die Aussage K. Langoschs, nach welcher «das aus dem Mittelalter Überlieferte mindestens um das Zehnfache stärker ist als das aus der römischen Antike» (K. Langosch 1990a, 15).

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Im Lateinischen des Mittelalters fließen also unterschiedliche antike Traditionen zusammen. Hinzu kommen zahlreiche neue Entwicklungen, welche z.T. aus der Notwendigkeit der Anpassung an die im Vergleich zur Antike gewandelten sachlichen und kulturellen Bedingungen resultieren 139 . Im Verlaufe seines Wandels übernimmt das Mittellateinische auch Elemente der europäischen Volkssprachen 140 . Dem Lateinischen kommt im Mittelalter bekanntlich vor allem die Funktion der Wissenschaftssprache zu; es war «nicht nur die Sprache der Bildung in der Westromania, sondern im ganzen alten Europa überhaupt» 141 . Daneben stellt es auch das wichtigste (zeitweilig das einzige) Idiom des rechtlichen und staatlich-offiziellen Bereichs dar. Angesichts seiner Allgegenwärtigkeit und der Selbstverständlichkeit seines Gebrauchs kann das Lateinische im Hinblick auf den gebildeten Sprachbenutzer des Mittelalters nur bedingt als Fremdsprache bezeichnet werden 142 . K. Langosch schlägt zur Benennung seines Status deshalb - in Abgrenzung zum Terminus , der auf das Mittellateinische natürlich nicht anwendbar ist - die Bezeichnung vor 143 . Der Einfluß, welchen das Lateinische des Mittelalters auf die Idiome West- und Mitteleuropas ausgeübt hat, ist beträchtlich. Die Zweisprachigkeit, welche die Voraussetzung für das Zustandekommen intensiver zwischensprachlicher Entlehnungen darstellt, ist in der betreffenden Zeit bei den literaturschaffenden Gruppen in hohem Maße gegeben 144 . Der gelehrte Einfluß des Lateinischen auf die Sprachen des Westens übertrifft an Dauer und Intensität z.B. die Einwirkung des Altkirchenslawischen auf das Rumänische bei weitem. Bei den romanischen Sprachen dürfte die historische Verwandtschaft mit dem Mittellateinischen das Zustandekommen besonders intensiver Beeinflussungen begünstigt haben. Die Formulierung T. E. Maurers, nach welcher das mittelalterliche Latein geradezu «urna segunda mäe das línguas románicas ocidentais» 145 darstellt, 139

140 141 142

143

144 145

Vgl. K. Langosch 1990a, 22: «Das mittelalterliche Weiterwachsen des Lateins ... ergab sich zwangsläufig aus der gewaltigen Aufgabe, ... den Wandlungen zum und beim geistigen Aufbau Europas zu dienen». Vgl. E. Löfstedt 1975, 11; sowie F. Blatt 1970, 2 - 1 6 . K. Baldinger 1958, 299. Zur Diglossiesituation im westeuropäischen Mittelalter vgl. H. Liidtke 1978a. Nach C. Tagliavini ist das Lateinische im Mittelalter ein «Stilvorbild jeder literarischen Gattung, ein großer Sprachvorrat, der allen Gebildeten zur Verfügung stand» (C. Tagliavini 1973, 262). «Das Mittellatein mußte zwar überall wie eine Fremdsprache gelehrt und gelernt werden, blieb jedoch keine Fremdsprache, d. h. wurde nicht als etwas Festes übernommen und unverändert gebraucht; ...; man paßte das Latein allen Bedürfnissen materieller und geistiger wie psychischer A r t an ... Dieser eigentümlichen Mischung von Fremd- und Muttersprache wird allein die Bezeichnung 'Vatersprache' gerecht» (K. Langosch 1990a, 22). Vgl. mit Bezug auf Frankreich etwa E. R. Curtius 1993, 388. T. E. Maurer (nach Κ. Baldinger 1958, 295). G. R. Solta ist sogar der Meinung,

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erscheint kaum als übertrieben, wenn sie auch differenzierender Zusatzerläuterungen bedarf. In besonders auffälliger Weise äußert sich der Einfluß des Mittellateinischen im lexikalischen Bereich. Zahllose lateinische Wörter gehen im Mittelalter in die Lexika der romanischen Volkssprachen über 146 . Den gängigen sprachgeschichtlichen Darstellungen zufolge erreicht dieser über Jahrhunderte andauernde Vorgang der des romanischen Wortschatzes seinen Höhepunkt zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert. Lexikalische Entlehnungen aus dem Lateinischen sind allerdings, obwohl in geringerem Ausmaß, auch schon in früheren Jahrhunderten nachweisbar. Dies gilt gerade für den Wortschatz der «allgemeineren Begriffsbereiche» 147 . Natürlich wurden nicht alle Lexikonbereiche in gleicher Weise erfaßt; der lateinische Einfluß machte sich zudem in erster Linie im Bereich der schriftsprachlichen Textproduktion und weniger auf sprechsprachlicher Ebene bemerkbar 148 . Im Hinblick auf die wichtigsten Zeiten der Übernahme sind chronologische Unterschiede zwischen den unterschiedlichen romanischen Sprachen festzustellen; einzelne Idiome übernehmen hierbei zeitweise offenbar eine Vorreiterrolle I49. Abgesehen von der Übernahme lateinischer Wörter kommt es in der mittelalterlichen Geschichte des romanischen Lexikons nun auch in zahl-

daß «für die Einheitlichkeit der westromanischen Sprachen der gelehrte lateinische Einfluß wichtiger ist als der gemeinsame vulgärlateinische Wurzelstock» (G. R. Solta 1980, 73). - Β. E. Vidos stellt der «lateinisch-romanischen Genealogie» ihre «lateinisch-romanische Affinität, d. h. ihre kulturelle und sprachliche Verbundenheit» gegenüber (B. E. Vidos 1968, 430). 146 A . Stefenelli schätzt unter Bezugnahme auf FEW und LEI, daß «die Zahl der lateinischen Lemmata mit gelehrten romanischen Entsprechungen mindestens ebenso hoch liegt (...) wie die der erbwörtlich fortlebenden Etyma» (A. Stefenelli 1992, 203). 147 Y g i etwa A . Stefenelli 1992, 211. Sehr anschaulich, wenn auch nur einführend, die Darstellung bei H. Lüdtke 1968, II, 101-105. - Speziell zum Französischen vgl. A . Stefenelli 1976, 876. Stefenelli betont allerdings, daß die Entlehnungen aus dem Lateinischen nicht den wesentlichen Aspekt der Umgestaltung des französischen Kernwortschatzes in mittelfranzösischer Zeit darstellen: «les transformations ... se font pour trois quarts indépendamment de l'influence extérieure et savante du latin» (ebd., 883). 148 A . Stefenelli 1976, 876, stellt fest: «... la plus grande partie des emprunts ne concerne que les domaines périphériques de la langue». - Für die hier behandelten Sprachstufen ist die Tatsache, daß der lateinische Einfluß vor allem in der Schriftsprache zur Geltung kommt, ohne praktische Relevanz. Andere als schriftsprachliche Texte sind aus der Frühzeit des Romanischen nicht verfügbar; die romanische Sprechsprache des Mittelalters entzieht sich einer direkten Erforschung. 149 Vg] ¿¡e grundsätzliche Feststellung A . Greives: «On a l'impression qu'un cultisme, une fois accepté dans un idiome, sert de modèle à d'autres langues, c'està-dire invite à l'imitation» (A. Greive 1976, 620). - A . Stefenelli 1983, 894, präzisiert, daß «die frühere Existenz und stärkere Verbreitung in der einen

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reichen Fällen zur Entlehnung von Bedeutungen aus dem Lateinischen. In der Terminologie der vorliegenden Arbeit ausgedrückt, werden also Einzelbedeutungen oder Teilsignifikate schriftlateinischer Wörter in die Signifikate volkssprachlicher Wörter übernommen, ohne daß das äußere Erscheinungsbild der romanischen Signifikanten sich ändert. Es hat den Anschein, daß vor allem Einzelbedeutungen des antiken Lateins entlehnt werden; der reiche Fundus des mittelalterlichen Lateins wird also nicht gleichmäßig ausgeschöpft. G. Gougenheim bezeichnet diesen Vorgang als die «relatinisation interne» des romanischen [Zitat: des französischen] Wortschatzes: Nous donnons ce nom au phénomène qui consiste à rendre au mot français, venu par voie héréditaire ou emprunté à date ancienne, le sens qu'avait le mot latin dont il est issu... 150 .

Die