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German Pages 309 [324] Year 2007
Thomas Schumacher Soziale Arbeit als ethische Wissenschaft
Dimensionen Sozialer Arbeit und der Pflege Band 11 Herausgegeben von der Katholischen Stiftungsfachhochschule München Abteilungen Benediktbeuern und München
Soziale Arbeit als ethische Wissenschaft
Topologie einer Profession
Von Thomas Schumacher
Lucius und Lucius • Stuttgart
Anschrift des Autors: Prof. Dr. Thomas Schumacher Katholische Stiftungsfachhochschule München Preysingstr.83 81667 München E-mail: [email protected]
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ISBN 978-3-8282-0421-8 © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2007 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com
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Umschlaggestaltung: I. Devaux, Stuttgart Druck und Einband: Rosch-Buch, Scheßlitz Printed in Germany
„Wenn man wissenschaftliche Theorien miteinander vergleichen will, ist das nur möglich, wenn sie sich auf denselben Gegenstand beziehen; sonst vergleicht man Gräser und Bäume miteinander." Ernst Engelke
Vorwort Wer das Geschäft des Sozialarbeitsberufes kennt, weiß um die Nöte der Beteiligten: um den komplexen, zum Teil drängenden, zum Teil auch latenten Hilfebedarf von Menschen, die in individualisierten Lebenssituationen um Orientierung ringen; um die Konfliktlage der gesellschaftlichen Entscheidungsträger, die über begrenzte Haushaltstitel ein Maximum an gesellschaftlicher Solidarität realisieren sollen; und vor allem um die Irritationen derer, die zur Hilfeleistung antreten und sich oft genug Erwartungen gegenüber sehen, die nicht zu erfüllen sind, und zugleich ein klares Berufsbild entbehren, über das sie sich dazu leicht positionieren könnten. Niemand wird bestreiten, dass die Soziale Arbeit den Umgang mit menschlichen Nöten übt und beherrscht — allein, das Berufsbild bietet ihr dazu den entscheidenden Ansatzpunkt. Wer meint, es sei klar, was den Beruf Soziale Arbeit ausmacht, muss nur berufliche Akteure aus unterschiedlichen Generationen, in unterschiedlichen Arbeitsfeldern, in der Stadt und auf dem Land befragen, um zu sehen, wie sehr die Bilder differieren. Die engagierte Theoriediskussion, die seit Jahrzehnten stattfindet, hat Linien gezogen, die dem Sozialarbeitsverständnis nützen, hat aber auch, nicht zuletzt wegen mancher Kontroverse, die auszutragen war und ist, Praktikerinnen und Praktiker verunsichert — manchen vielleicht auch gar nicht erreicht. Wichtige Themen sind vorangekommen: Der wissenschaftliche Charakter des Sozialarbeitsberufes hat inzwischen breite Anerkennung gefunden, und in Fachkreisen erscheint ein gesellschaftliches Wirken Sozialer Arbeit als Profession plausibel. Bei genauem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass die Auffassungen zu Sozialer Arbeit als Wissenschaft und als Profession auseinander gehen. Das kann nicht zufriedenstellen, denn für das Berufsbild sind diese Auffassungen wichtig. In der hier vorgelegten Betrachtung soll der Versuch unternommen werden, über eine Skizze der Diskussionspunkte und eine Besinnung auf die Mitte sozialarbeitlichen Handelns Klarheit über die Gestalt Sozialer Arbeit als Wissenschaft und Profession zu gewinnen. Zum Schlüsselargument wird die Bedeutung einer ethischen Linienführung in Theorie und Praxis des Berufes, die normative Ansprüche produziert, solche aber ebenso auch angetragen bekommt und umzusetzen hat. Über Wissenschaft und Ethik kann auf diese Weise ein Bild Sozialer Arbeit gezeichnet werden, das Problembewusstsein und Handlungskompetenz organisch verbindet. In Schritten, über feste Standplätze (Topoi), soll so der Beruf schließlich als Profession hervortreten, als einzig denkbare Konsequenz im Umgang mit der allseitigen Vielfalt.
München, im Oktober 2007
Thomas Schumacher
Inhaltsverzeichnis Vorwort
VII
Einleitung: Die Diskussion um die Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession ERSTERTEIL: SOZIALE ARBEIT ALS WISSENSCHAFT
1. Kapitel: Das wissenschaftliche Wesen der Sozialen Arbeit 1 Soziale Arbeit und ihr Bezug zum Wissen 2 Wissensbildung in der Sozialen Arbeit 3 Die Bedeutung von Evaluation 4 Die Ausrichtung im Erkenntni^anliegen 5 Bezugspunkt für die Wahrheit in der Sozialen Arbeit 6 Zusammenfassung 2. Kapitel: Kriterien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft 1 Zum Stand der Theorieüberlegungen 2 Die Gegenstandsdiskussion 3 Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit 4 Soziale Arbeit als Begriff 5 Folgen für die Theoriediskussion 6 Zusammenfassung
1 7
9 9 10 13 15 17 19 21 21 24 27 31 34 37
3. Kapitel: Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit 39 1 Wissengestütztes Handeln 39 2 Theoriegestütztes Handeln 41 3 Wissenschaftgestütztes Handeln 45 47 4 Vermittelnde Erkenntnisweisen 5 Zusammenfassung 50 4. Kapitel: Zum Verständnis Sozialer Arbeit als Praxis 1 Zum Charakter Sozialer Arbeit als Hilfe 2 Die Aufgabenstellung in der Sozialen Arbeit 3 Methodisches Handeln 4 Praxis und Sittlichkeit 5 Zusammenfassung
51 51 54 57 60 65
5. Kapitel: Die Funktion Sozialer Arbeit in der Gesellschaft 1 Das gesellschaftliche Mandat 2 Solidarität und Subsidiarität 3 Die Aufgabe der sozialen Problemlösung 4 Gesellschaft denken 5 Zusammenfassung
67 67 70 72 74 79
ZWEITER TEIL: ETHIK ALS ZENTRALES KENNZEICHEN SOZIALER ARBEIT
81
6. Kapitel: Das vernachlässigte Ethikprofil 1 Reden über Selbstverständliches 2 Soziale Arbeit als Verwaltungshandeln 3 Soziale Arbeit als helfender Beruf 4 Die Lebensweltorientierung 5 Der systemische Ansatz 6 Zusammenfassung
83 83 87 89 93 96 99
7. Kapitel: Die zwei Dimensionen sozialarbeiterischer Ethik 1 Der Handlungsrahmen Sozialer Arbeit 2 Ethik als Handlungsverantwortung 3 Ethik als Führungsverantwortung 4 Personalität und Entscheidung 5 Zusammenfassung
101 101 105 109 111 113
8. Kapitel: Bezugspunkte und Quellen der Ethik in der Sozialen Arbeit 1 Das Auftreten Sozialer Arbeit als Ethik 2 Begriffliche Ansatzpunkte für eine Ethik der Sozialen Arbeit . . . . 3 Die Orientierung an ethischen Qualitäten und Konzepten 4 Der besondere Stellenwert theologischer Ethik 5 Der Umgang mit der Vielfalt 6 Zusammenfassung
115 115 117 120 123 129 132
9. Kapitel: Ethik als Merkmal der Praxiswissenschaft Soziale Arbeit . . 1 Soziale Arbeit als Praxiswissenschaft 2 Ethik und Praxis 3 Ethik und Wissenschaft 4 Kultur als Horizont in der Ethik Sozialer Arbeit 5 Zusammenfassung
135 135 138 141 144 148
10. Kapitel: Die Notwendigkeit einer ethischen Bestimmtheit Sozialer Arbeit 1 Von der Gefahr ethischer Beliebigkeit 2 Wegmarken einer ethischen Orientierung 3 Soziale Arbeit als Tugend 4 Soziale Arbeit als Pflicht 5 Ethische Hierarchien 6 Zusammenfassung
151 151 155 160 164 166 171
DRITTERTEIL: SOZIALE ARBEIT ALS ETHISCHE WISSENSCHAFT
173
11. Kapitel: Ethik als Theorieanliegen in der Sozialen Arbeit 1 Das wissenschaftliche Interesse Sozialer Arbeit an ihrer Ethik . . . 2 Das wissenschaftliche Potential ethischer Überlegungen 3 Der Ort der Ethik in der Theorie Sozialer Arbeit 4 Zur Grundlegung einer ethischen Theorie 5 Zusammenfassung
175 175 180 184 187 190
12. Kapitel: Die Synthese von Ethik und Wissenschaft 1 Von Gegensätzen und Widersprüchen in der Sozialen Arbeit . . . . 2 Die Synthese als Arbeitsansatz 3 Die ethische Dimension des Widerspruchs 4 Wissenschaft und Ethik in systematischer Verknüpfung 5 Kultur als Wahrheitsraum 6 Zusammenfassung
193 193 196 199 202 206 210
13. Kapitel: Das ethische Selbstverständnis Sozialer Arbeit 1 Der Mensch als vernunftbegabtes, soziales Wesen 2 Demokratie als Lebensform 3 Grundlagen der Einmischung 4 Ausrichtung am Menschenrechtsthema 5 Exkurs zur Diskussion um die Sterbehilfe 6 Zusammenfassung
213 213 218 222 226 230 235
14. Kapitel: Ethische Handlungsprofile 1 Der Gedanke der Ökonomie in der Sozialen Arbeit 2 Das politische Handlungsverständnis 3 Die Strukturprinzipien Führung und Mitgefühl 4 Integrative Kulturarbeit 5 Berufsethik 6 Zusammenfassung
237 237 242 247 251 254 257
15. Kapitel: Soziale Arbeit als Profession 1 Die Professionsmerkmale des Sozialarbeitsberufes 2 Das Dienstleistungsverständnis 3 Das politische Mandat 4 Das Berufsmerkmal der funktionalen Autonomie 5 Zusammenfassung
259 259 265 268 272 275
Schlussbetrachtung: Soziale Arbeit in der modernen Gesellschaft . . . . 277 Anhang: Grundlegende Merkmale einer sozialarbeiterischen Berufsethik
279
Literaturverzeichnis
285
Sachregister
299
Personenregister
305
Kapitelübersicht
309
Einleitung Die Diskussion um die Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession Ansatzpunkte gegenwärtiger Diskussion Die vergangenen zehn, fünfzehn Jahre haben in die Soziale Arbeit viel Bewegung gebracht. Veränderungen in der Gesellschaft fordern zum Teil ein neues Rollenoder Funktionsverständnis ein; eigene Entwicklungsprozesse kommen hinzu, durch die deutlich wird, dass nicht nur die Anpassungs-, sondern zugleich auch die Gestaltungsfahigkeit Sozialer Arbeit gefragt ist. Der Beruf selbst ist damit in Bewegung geraten, und auch wenn er weiter durch vertraute Aufgabenstellungen geprägt erscheint, ist er doch Gegenstand einer weitreichenden Diskussion, die Fachvertreter aus Wissenschaft und Praxis nun schon seit geraumer Zeit führen. In dieser Diskussion geht es durchaus nicht um eine klar umrissene Thematik; vielmehr werden Sorgen und Nöte, aber auch Perspektiven und Visionen des Berufes in ganz unterschiedlichen Bezugsrahmen betrachtet. Vielschichtigkeit und Breite der Diskussion erschweren den Überblick. Die Auseinandersetzung hat längst Diskurscharakter angenommen. Es geht um alle möglichen Fragen, die berufliches Handeln in der Sozialen Arbeit sowie deren Selbstbild berühren. Als thematische Bezüge werden insbesondere deutlich: • die Dynamik einer sich wandelnden Gesellschaft, der sich Soziale Arbeit nicht entziehen kann und will; • die Auswirkungen sozialpolitischer Entscheidungen, von denen berufliches Handeln unmittelbar betroffen ist; • fachliche Anliegen des Berufs, die sich im Zuge des Bemühens um weiter verbessertes Qualitätsmanagement ergeben; • eine gesamteuropäische resp. globale Perspektive Sozialer Arbeit in Fragen von gesellschaftlicher Integration und sozialer Gerechtigkeit. Hinzu kommen Themen mit besonderer Aktualität bzw. weitere Gesichtspunkte, die auf die Qualität Sozialer Arbeit maßgeblichen Einfluss haben: • Veränderungen, die neue Studienabschlüsse — Bachelor und Master — mit sich bringen; • der Spardruck der Öffentlichen Hand, der überproportional die Ausgaben im sozialen Bereich betrifft; • das Ansehen des Berufs in der Öffentlichkeit, durch deren Wertschätzung berufliche Handlungsräume letztlich bedingt sind. Wenn man die Auseinandersetzung auf den verschiedenen Ebenen verfolgt, könnte man den Eindruck gewinnen, ein überkommenes Sozialarbeitsverständnis stehe zur
2 • Die Diskussion um die Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession
Disposition. Der Veränderungsdruck ist spürbar — aber worauf richtet er sich? Ein Perspektivenwechsel zeichnet sich ab — aber wovon wird er getragen? Die verschiedenen wissenschaftlichen Bemühungen, Anstöße und Verläufe von Veränderung zu begleiten, machen deutlich, dass die Orientierungssuche nicht als bloße akademische Übung zu verstehen ist. Betroffen von Veränderung, aber auch von Gestaltungsdefizit und Orientierungsnot, ist Soziale Arbeit als Beruf. Damit aber wird deutlich, worauf bei aller Diskussion um die Soziale Arbeit unbedingt zu achten ist: Sie ist unter den entscheidenden berufspraktischen Gesichtspunkten, mit dem Beruf Soziale Arbeit nicht als Gegenstand, sondern als Subjekt zu führen. Andernfalls liefe die wissenschaftlichen Betrachtung Gefahr, dass ihr der Grund abhanden kommt, auf dem sie steht. Denn eines sollte jede Sozialarbeitskritik im Sinn haben: Soziale Arbeit als Aufgabe von und in Gesellschaft zu beschreiben und zu bewerten, kann Betroffenheit und Potential immer er nur zu einem Teil erfassen. Sie dagegen als Beruf zu sehen, in dem ein entsprechender gesellschaftlicher Wille auf den Anspruch trifft, diesen mit eigener Fachlichkeit zu lenken, erlaubt ein Selbstverständnis und damit überhaupt erst eine ausgewogene Betrachtung. Den Beruf im Vordergrund zu wissen und dabei zu sehen, wie er der Dynamik gesellschaftlicher Prozesse ausgesetzt ist, stellt deshalb zunächst einmal die verwirrende, aber aufzugreifende Ausgangssituation dar. Von dieser her geht es also um Analyse, um Klärung, um Neubewertung.
Soziale Arbeit als Beruf Ein Verständnis Sozialer Arbeit als Beruf beschränkt sich keineswegs auf die Belange des beruflichen Alltags. Vielmehr münden auch Theorieanliegen ein, und zu ihm ist auch jene Perspektive zu verorten, die Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession sieht. Pragmatik und faktische Bezüge hier — Anspruch und Idealismus dort: nicht selten wird so eine Diskussion geführt, in der die Realität Sozialer Arbeit als Beruf hier und wissenschaftliche resp. berufsständische Ambitionen dort als Gegensatz aufgenommen werden. Die Frage ist aber nicht, ob Soziale Arbeit Wissenschaft oder Profession ist, sondern ob und inwieweit eine solche Auslegung dem beruflichen Selbstverständnis entspricht. Anspruch und Wirklichkeit sind daher wichtige Urteilskriterien im Blick des Berufes auf sich selbst. Der Beruf Soziale Arbeit — davon ist zunächst einmal auszugehen - steht für die überkommenen Anliegen von Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Dass es sich dabei überhaupt um einen Beruf handelt, sollte außer Frage stehen; aber sogar diese Diskussion (vgl. Herwig-Lempp, 1997) scheint noch nicht gänzlich erledigt, angestoßen immer wieder auch durch den sozialpolitischen, öffentlichen Diskurs, der den Eindruck erweckt, als würde über die Bedeutung der beruflichen Inhalte politisch und nicht fachlich entschieden.
Soziale Arbeit als Beruf • 3
Soziale Arbeit als Beruf kann als Erfolgsgeschichte verstanden werden; sie erscheint in einer modernen Gesellschaft unverzichtbar. 1 Das gilt für die Soziale Arbeit in Deutschland schon seit der Zeit, in der sich die eigentliche Berufwerdung vollzog — als Folge der rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, die, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, Industrialisierung und später, nach dem Ersten Weltkrieg, Demokratisierung mit sich brachten. Auch die Soziale Arbeit, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik Deutschland geleistet wird, konnte und kann nicht hinter die beruflichen Standards zurück, die erreicht waren, bevor sie in der nationalsozialistischen Verirrung dieses Landes vorübergehend zu Bruch gingen. Diese Erfahrung zeigt auch, wie sehr ein berufliches Selbstverständnis mit der Bewertung der Bedeutung zusammenhängt, die für das entsprechende berufliche Handeln gesehen wird. Was Soziale Arbeit als Beruf ist, hängt davon ab, wie sie in den Augen der Beteiligten - Akteure, Adressaten, Kritiker - gesehen und interpretiert wird. Eines der zentralen Anliegen des Berufes muss daher sein, richtungsweisend darzulegen, wie er selbst verstanden werden will. Dazu gibt es nun eine Reihe von Ansatzpunkten, die zunächst zwar auch nichts anderes als ein Spektrum an Zugängen eröffnen, innerhalb derer aber im Großen und Ganzen drei Positionen herausgeschält werden können: 1) Soziale Arbeit sei als Beruf ein Kind der Moderne und habe sich in der Postmoderne ausgeformt. Weil selbst davon betroffen, sei sie so in der Lage ist, pragmatisch mit den Ambivalenzen umzugehen, die eine durch Globalisierung bewegte und dabei Individualisierungsprozessen ausgesetzte Gesellschaft aufwerfe. Eine solche Sichtweise setzt voraus, dass „Postmoderne" als umfassendes, programmatisches Etikett gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse wahrgenommen wird. 2) Soziale Arbeit trage die sozialen Anliegen eines Menschenbilds in die Gesellschaft, die selbst, über ihr kulturelles Erbe, ganz wesentlich von diesem Menschenbild geprägt sei. Griechisch-antike Wurzeln in Form von philosophischer Wertorientierung verbänden sich dabei mit spezifisch christlichen Akzenten und nicht zuletzt den Prinzipien der Aufklärung zu einer humanistischen (philanthropen) Grundhaltung, die immer schon Soziale Arbeit produziert habe und die genau das auch in den modernen Gesellschaften, hier nun mit zeitgemäßen Formen der Entlohnung, bewirke. Der Anhaltspunkt für diese Sichtweise ist ein entsprechendes Kulturverständnis. 3) Soziale Arbeit verstehe sich vor allem als ein Spezialistentum, das sich vielfältigen Aufgaben zu stellen habe, Aufgaben, deren Gepräge in und durch Gesellschaft, aber ebenso in globalen Vollzügen zustandekomme. Im Vordergrund stünden Fragen der Praxis und damit methodische — und nicht zuletzt ethische — Aspekte. Es gehe um möglichst effizientes und nachhaltiges berufliches Handeln, das den Preis, den es habe, auch wert sei. Hier wird
1
Kleve (2005, S. 34 f.) weist auf diese Merkmale der Rolle Sozialer Arbeit in der Gesellschaft hin.
4 • Die Diskussion um die Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession
Soziale Arbeit als Praxis in den Blick genommen, deren Theoriebestreben auf Verstehen, aber nicht auf Wertung aus ist. Soziologische, kulturanthropologische oder berufspraktische Gesichtspunkte prägen das berufliche Selbstverständnis immer noch unterschiedlich aus. Doch wie man unschwer sieht, steht keine der drei genannten Positionen zu einer anderen in einem direkten Gegensatz. Alle drei ließen sich mutmaßlich an ein zentrales Grundverständnis heranführen, aber sie sind bislang nicht vermittelt. Wäre so etwas, unterstellt, dass es Sinn machte, zu leisten? Zwei Hürden scheinen dem bislang entgegenzustehen: Da ist einerseits der häufig programmatische Charakter der Einzelzugänge, der eine Kompromissfindung erschwert. Andererseits werden in den verschiedenen Zugängen unterschiedliche Erkenntnishaltungen deutlich, was auf grundsätzliche Differenz hinweist. Der erste Punkt nun braucht nicht zu irritieren, ließe sich doch in dem angesprochenen verbindenden Grundverständnis nicht nur programmatischer Streit auflösen, sondern jede einzelne Programmatik zugleich stärken. An den unterschiedlichen Erkenntnishaltungen aber ist anzusetzen. Die oben genannten drei Positionen zeigen im ersten Fall eine konstruktivistische, im zweiten eine hermeneutische und im dritten eine phänomenologische Herangehensweise. Das bedeutet, dass auch in der Sozialen Arbeit, zumal in ihrem beruflichen Handeln, die Wahrheitsfrage aufgeworfen wird. Auf diese Weise wird der Beruf Soziale Arbeit zu einer Angelegenheit auch von Wissenschaftstheorie. Wenn Soziale Arbeit als Beruf nicht weiter konturlos vor sich hin wirken will, müssten vorhandene deskriptive und interpretative Elemente sinnvoll verbunden und empirische und systematische Schwerpunktsetzungen zu einer Gesamtsicht verknüpft werden. Es kann nicht befriedigen, wenn hier der Hinweis auf die vielen Handlungsfelder kommt und darauf, dass eindeutige Konturen in der methodischoperationalen und auch konzeptionellen Diversität, die sich aus der Vielfalt der Aufgabenstellungen ergibt, nicht zu gewinnen sind: Die Fragen nach dem eigentlichen, den Beruf prägenden Profil, nach dem „Markenzeichen" Sozialer Arbeit bleiben. 2 Wenn ein entsprechendes Profil erreicht werden soll, sind die den Beruf prägenden Gesichtspunkte, aber auch die unterschiedlichen Interpretationsansätze zusammenzuführen und zu systematisieren.
2
Auch der Ansatz, bei aller Diversität das Hilfeanliegen als Klammer und somit als das Konturelement Sozialer Arbeit zu sehen, ist nicht mehr als der hilflose Versuch, einen kleinsten gemeinsamen Nenner für das diversifizierte Ganze zu nehmen - abgesehen davon, dass dieser kleinste Nenner in einigen Handlungsfeldern, wie in der Erwachsenenbildung oder der Jugend sozialarbeit, allenfalls mittelbar aufscheint; und abgesehen davon, dass ein Hilfeanliegen in der Sozialen Arbeit selber wieder durch das Motiv der Hilfe zur Selbsthilfe beschränkt und von der Zielstellung her gesehen zu einem Nichthelfen wird (Kleve, 2005, S. 37).
Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession • 5
Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession Die verschiedenen Diskussionsansätze in der Sozialen Arbeit zielen also auf den Beruf, streben für diesen aber nach wissenschaftlicher Durchdringung. Es muss daher nicht verwundern, dass, auch seit Jahren schon, um die Soziale Arbeit als Wissenschaft gerungen wird. Und wenn ein wissenschaftliches Verständnis sich als prägend erweisen sollte, so hätte das wiederum Folgen für das berufliche Selbstverständnis, soll heißen: wäre über Soziale Arbeit als Profession nachzudenken. Das ist der zunächst schlüssige Zusammenhang. Getragen wird er von einem Professionsverständnis, in dem das gesellschaftliche Mandat in einer durch spezifische Wissenschaftlichkeit legitimierten beruflichen Autonomie wahrgenommen wird. Die Diskussion um Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession zeigt allerdings auch verwirrende Aspekte. Dreierlei ist dabei kritisch festzustellen: 1) Zum Professionsverständnis gibt es Streit, im Zuge dessen verschiedene Zugangsweisen geprüft werden. Das ist ein heikler Punkt, weil er das berufliche Selbstbild unmittelbar betrifft. Es zeigt sich aber, dass die solcherart stattfindende Professionalisierungsdiskussion von der Frage nach der Wissenschaftlichkeit Sozialer Arbeit weitgehend abgekoppelt ist und allenfalls über punktuelle Reflexe darauf Bezug nimmt. 2) Die Ambitionen sind nicht immer klar. Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Wunsch nach einem Professionsstatus in der Sozialen Arbeit die Diskussion um deren Wissenschaftlichkeit regiert. 3) Die Begriffe Wissenschaft und Profession kommen selbst kaum analytisch, dafür weit mehr programmatisch zum Einsatz. Sie laufen dabei Gefahr, als Träger eines Gegenentwurfs zum überkommenen Berufsbild wahrgenommen zu werden. Besonders bei Praktikern löst das Widerspruch aus. Eine Folge ist, dass ein Verständnis Sozialer Arbeit als Wissenschaft und Profession über die Adjektive „wissenschaftlich" und „professionell" an den beruflichen Alltag anzubinden gesucht wird. Die Diskussionslage, an die hier auch angeknüpft wird, kann im Großen und Ganzen wie folgt zusammengefasst werden: Die Ausgangs Situation: Das Nachdenken über Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession ist begründet und plausibel. Es geschieht vor dem Hintergrund Sozialer Arbeit als Beruf und zielt auf eine Deutung, die dem Beruf auch das Gewicht verleiht, das ihm von seiner gesellschaftlichen Aufgabenstellung und seinem Rollenverständnis her ganz offensichtlich zukommt. Die Schwierigkeit: Die Diskussion um Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession findet weitgehend unsystematisch statt und ist von Wunschdenken und Interessen überlagert. Zusätzlich ist die Lage durch konkurrierende Erkenntniszugänge uneindeutig.
6 • Die Diskussion um die Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession
Die Aufgabe: Da es bei allem aber um die Wahrheit in der Sozialen Arbeit geht, muss der Diskurs weiter vorangetrieben werden. Ein erster Schritt dazu ist der einer begrifflichen Unterscheidung, die es erlaubt, einen wissenschaftlichen Anspruch und professionelles Handeln im Beruf realisiert zu sehen und zugleich eine konstruktive Diskussion um Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession weiter am Laufen zu halten. Wert und Ansehen des Berufs Soziale Arbeit sind damit Ausgangspunkt und Ziel aller Überlegungen. Wie weit wissenschaftliche Fähigkeiten reichen und inwieweit der Beruf als Profession begreifbar ist, muss eine ergebnisoffene Analyse zeigen. Dass hier Soziale Arbeit dennoch zu einem Wandel ihres Selbstverständnisses, wie schon Vorjahren angezeigt (vgl. Wendt, 1995a), gelangen kann, ist kein Widerspruch, denn in einem solchen Wandel läge nichts anderes als eine Vertiefung dessen, was der Beruf dem Wesen nach immer schon zu leisten in der Lage war.
Erster Teil Soziale Arbeit als Wissenschaft
1. Kapitel Das wissenschaftliche Wesen der Sozialen Arbeit 1 Soziale Arbeit und ihr Bezug zum Wissen Wir sind gewohnt, Soziale Arbeit zunächst einmal als die Summe dessen zu betrachten, was in den verschiedenen Handlungsfeldern geschieht. Zum Beruf verbunden fügen sich dabei eine ganze Reihe von mehr oder weniger ähnlichen Aufgabenstellungen aneinander, deren Gemeinsamkeit vor allem darin besteht, dass sie sich auf Menschen richten, deren Lebenssituation in der Gemeinschaft eine Unterstützung braucht. Es geht dabei in aller Regel um das Handhaben von Lebensumständen, die aus dem Gleichgewicht geraten sind und Hilflosigkeit erzeugen. Im entsprechenden Unterstützungshandeln drückt sich eine Verantwortung der Gemeinschaft für den Einzelnen aus. Es geht nicht um Schuldzuweisung. Menschen geraten aus ganz verschiedenen Gründen in Not. Nicht selten tragen sie selbst entscheidend mit dazu bei. Aber wir wissen, wie sehr ungute Entwicklungsverläufe und strukturelle Benachteiligung Menschen in die Enge treiben und zu zweifelhaften oder falschen Entscheidungen verleiten können. Folgen aus solchen Fehlentscheidungen belasten Umstände und Lebensführung weiter. Häufig sind es dann handfeste persönliche Probleme, die an der Oberfläche des gesellschaftlichen Alltags aufscheinen und soziale Spannungen hervorrufen. Eine elterliche Erziehung, die diesen Namen verdient; eine schulische Förderung, die individuelles Leistungsvermögen unterstützt; eine offene Gesellschaft, die Integration ermöglicht und Entfaltungsräume schafft: Die soziale Wirklichkeit lässt so manchen Ansatzpunkt erkennen, über den ein Korrekturbedarf und auch eine Korrekturfahigkeit üblicher Umgangsweisen und Lebensbedingungen deutlich werden. Anderes gehört unauflöslich zur gesellschaftlichen Realität und erfordert einen angemessenen Umgang. Dabei zeigt sich immer wieder der Mensch selbst, in seiner Individualität und exemplarischen Verschiedenheit, als Grenze und Herausforderung für die sozialen Kräfte einer Gesellschaft. Der allgemeine Zusammenhang zeigt Gräben, die nicht ohne weiteres zu schließen sind: Es gibt die Schwächeren, die ein durchschnittliches Leistungsniveau überfordert — wir reden an dieser Stelle auch von Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung; und es gibt die Stärkeren, die Leistungsgefälle und Freiräume in der Gesellschaft dazu einladen, Egoismen zu realisieren. Dies alles macht nun aber auch deutlich, dass eine Soziale Arbeit, die in ihren einschlägigen Handlungsfeldern wirkt, auf zusätzliche Aufgabenbereiche stößt. Auch dann, wenn man Soziale Arbeit gemeinhin als Unterstützungshandeln versteht, stellen sich im beruflichen Alltag perspektivisch Fragen nach strukturellen Aspekten, von denen Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Hilfe abhängen. Die
10 • Das wissenschaftliche Wesen der Sozialen Arbeit
Dimension solchen Fragens ist weit gesteckt. Sie umfasst analytische Interessen ebenso wie die Kritik von Wertezusammenhängen und reicht bis zur Frage nach der Gerechtigkeit von Strukturen, mit denen Menschen generell konfrontiert sind und die Klienten der Sozialen Arbeit insbesondere belasten. Beim bloßen Fragen bleibt es nicht. Wenn Menschen Ziel und Inhalt von sozialarbeitlichem Unterstützungshandeln werden, erstreckt sich solches Handeln auch auf das Gefüge der Gesellschaft. Damit erweitert und schärft sich ein Verständnis dessen, was Soziale Arbeit ausmacht. Die viel beschworene Praxis, als Basis jeden Zugangs, wird von einem wissenschaftlichen Interesse begleitet, das sich substantiell in die Aufgabenstellung des Unterstützungshandelns einfügt. Deutlicher noch gesprochen: Die Vielfalt der Handlungsfelder der Sozialen Arbeit erzeugt einen Theoriebedarf, der wissenschaftliches Vorgehen erfordert und eine spezifische Form von Grundlagenforschung umfasst. Hier erst wird, zur Summe ihrer Teile, das Ganze Sozialer Arbeit sichtbar: als ein Handlungsrahmen, in dem sich jedes Hilfeanliegen mit dem Interesse verbindet, dessen Legitimität zu kennen, und der Gesellschaft als Bezugspunkt hat, um Lebenswelt (und Lebenswelten) mit adäquater Einschätzung zu begegnen. Menschen in unterschiedlichen Lebensaltern; mit verschiedenen kulturellen Hintergründen; verschiedenen Bildungsgraden; mit unterschiedlichen Vorstellungen von persönlichem Erfolg; Menschen aber auch in Bedrängnis: mit Suchterkrankung, in sozialer Ausgrenzung, mit den Erwartungen anderer überfordert; Menschen schließlich in belasteten emotionalen Situationen: traumatisiert, verzweifelt, aggressions- und gewaltdisponiert; und immer wieder auch Selbstüberschätzung und Lebenslüge — all dies gehört zum Alltag Sozialer Arbeit und prägt in ihr unterschiedliche Handlungsprofile aus. Und doch ist davon auszugehen, dass ein Gemeinsames alle Handlungsweisen begründet, dass berufliche Identität aus einem Spezifikum erwächst, in dem alles Handlungsvermögen zusammenfließt. Das Spezifikum Sozialer Arbeit aber ist ihr Wissen.
2 Wissensbildung in der Sozialen Arbeit Soziale Arbeit bestimmt sich von ihrem Wissen her. Hier entsteht kein Widerspruch zu der Feststellung andererseits, dass anhand ihrer Praxis deutlich wird, woher sie kommt und was an Anspruch sie einzulösen vermag. Soziale Arbeit steht von Anfang an im Dienst der Praxis — und bildet dabei Wissen aus. Soziale Arbeit als lehrbares berufliches Handeln: daran hat sich in den 100 Jahren seit Alice Salomons Gründung der Sozialen Frauenschule nichts geändert. 1 Das Praxisverständnis, das sich darin andeutet, entspricht einer Einschätzung Kants, der in einer 1793 erschienenen Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichtfür die Praxis notiert:
1
Die Soziale Frauenschule eröffnete 1908 in Berlin. Zu den Anfängen der beruflich geleisteten Sozialen Arbeit vgl. Hering/Münchmeier, 2005.
Wissensbildung in der Sozialen Arbeit • 11
„Umgekehrt heißt nicht jede Hantirung, sondern nur diejenige Bewirkung eines Zwecks P r a x i s , welche als Befolgung gewisser im Allgemeinen vorgestellten Principien des Verfahrens gedacht wird."2 Es leuchtet ein, Praxis in beruflichen Handlungsvollzügen als eine Beachtung von Regeln zu verstehen, die letztlich sicherstellen, dass das Handeln begründet und nachvollziehbar ist. Nicht jede „Hantierung" soll schon Soziale Arbeit sein, sondern immer erst die, die sich über Ziele im Klaren ist und die über ihre zu erwartende Wirksamkeit Auskunft zu geben vermag. Praxis ist darin mehr Denken als gedankenloses Tun.3 Handeln und Wissen gehören in der Sozialen Arbeit zusammen und prägen Praxis aus. Damit bleibt die Praxis — das berufliche Handeln — das Herzstück, und es wäre keineswegs vermessen zu formulieren: Das Wesen der Sozialen Arbeit ist die Praxis — um im selben Atemzug aber nachzuschieben: Praxis ist Wissen. Wissen als Bestimmungsgrund für das Wesen Sozialer Arbeit - das ist möglicherweise eine ungewohnte Sichtweise, aber als solche durchaus geeignet, die Praxis als das Eigentliche im Blick zu behalten und zugleich der Qualität und der Reichweite des sozialarbeiterischen Wissens weiter nachzuspüren. Und mehr noch: Über das Wissen wird es möglich, die Eigentlichkeit der Praxis ihrerseits zu bestimmen. Der innere Zusammenhang — Praxis als Indiz für Konzept und Planung — könnte als Reminiszenz zu einem Bibelwort gesehen werden, das besagt: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen."4 Das berufliche Handeln als Frucht eines Geistes, der Soziale Arbeit trägt und diese zu einer eigenständigen Handlungsweise formt — das wäre eine Perspektive, mit der das Proprium Sozialer Arbeit zu gewinnen wäre, eben jene Bestimmung des Eigentlichen, in der Wissen als Stärke aufscheint. Vor einigen Jahren hat Wolf Rainer Wendt für das Verständnis Sozialer Arbeit als eigenständige berufliche Praxis eine ebenso plausible wie wichtige Klarstellung vorgenommen. Wendt sieht in Sozialer Arbeit mehr als den „Betrieb"; er sieht sie als einen Prozess, an dem in der Gesellschaft verschiedene Kräfte und Zirkel beteiligt sind (Wendt, 1995c, S. 136 f.).5 Zuletzt zählt dazu auch das, „was Bürgerinnen in eigener Regie untereinander und füreinander tun" (ebd., S. 157). Eine aufgabenorientierte, institutionalisierte Soziale Arbeit ist damit zunächst lediglich ein Teilaspekt zu einem „Potential dessen, was im Gemeinwesen unter Bürgern mög-
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4 5
Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht fir die Praxis-, s. Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. 8, Berlin 1968, S. 275. Auch ein offener Praxisbegriff wie der von Merten, der aufgrund der „Pluralität und Heterogenität der Arbeitsfelder" für die „Erarbeitung eines differenzierten Praxisverständnisses" plädiert (2002, S. 73), bestimmt im Rückgriff auf Kant als maßgebliche Seite „professioneller Handlungspraxis ... die Theorie als ihre notwendige Voraussetzung' (ebd.). Mt 7, 16. Über B. Müller (1992, S. 103), den Wendt zitiert, wird eine Sicht deutlich, nach der alle sozialen Institute einer Gesellschaft, vom Gesundheits- über das Erziehungs- und Rechtswesen bis hin zu bestimmtem Verwaltungshandeln, an Sozialer Arbeit mitwirken.
1 2 • Das wissenschaftliche Wesen der Sozialen Arbeit lieh ist" (ebd., S. 156 f.); doch „professionell wird in der täglichen Arbeit unternommen, jenes Potential zu realisieren" (ebd., S. 157). Auf diese Weise weitet sich der Rahmen zu einem Verständnis, das allgemeine, vitale Anliegen des Gemeinwesens mit konkreten, einschlägigen Aufgabenstellungen perspektivisch verknüpft. Die Soziale Arbeit weitet sich darin vom Beruf zur Profession. Ihre Praxis wird zum Schlüssel für die Umsetzung aller sozialen Belange der Gesellschaft, auch wenn diese dazu verschiedene Institutionalisierungen bereithält. Wissensbildung in der Sozialen Arbeit geschieht entsprechend nun auf einer inhaltlichen und auf einer begrifflichen Ebene. Für die inhaltliche Ebene steht die Fachlichkeit, für die begriffliche, wie sich zeigen wird, die Wissenschaftlichkeit Sozialer Arbeit. Alles Wissen aber setzt dort an, wo sich Soziale Arbeit im Wortsinn als notwendig erweist: bei und in der Unterstützung derer, die, wie oben beschrieben, aus dem Gleichgewicht geratene Lebensumstände nicht zu handhaben wissen. Für die betroffenen Adressaten wie auch für die beruflichen Akteure gilt gleichermaßen der Grundsatz: Handeln braucht Wissen, wenn es erfolgreich sein will. Fachlichkeit nun setzt beim Problemverständnis an. Hier liegt ein wichtiges Scharnier, denn ein falsch verstandenes Problem wird kaum einen richtigen Lösungsweg weisen. Wissen, was los ist — so könnte man den Einstieg ins berufliche Sozialarbeitshandeln charakterisieren. Aber es gibt weitere Wissenbereiche von Bedeutung: Einer betrifft die Formulierung von Handlungszielen, ein anderer den geeigneten Weg zur Zielerreichung. Besagter Lösungsweg entsteht dabei zwar in enger Anbindung an eine passende Problemsicht; aber es werden unterschiedliche Wissensquellen deutlich, die es rechtfertigen, Wissensbildung in der Sozialen Arbeit zu systematisieren. Das hat Silvia Staub-Bernasconi mit entsprechender Überzeugungskraft bereits Vorjahren unternommen (Staub-Bernasconi, 1986). Dabei zeigt sich, dass ein Problemverständnis seinerseits deskriptive und interpretative Wissenelemente zu verbinden hat, wodurch ein „Beschreibungswissen" neben ein „Erklärungswissen" tritt. Zielformulierung wiederum gelingt maßgeblich durch eine Werte- und Urteilskompetenz („Wertwissen"); und das Wissen zur Zielerreichung umfasst vor allem Kenntnisse im methodischen Bereich („Verfahrenswissen"). Staub-Bernasconis Systematik freilich ist programmatisch an eine Fokussierung Sozialer Arbeit auf das soziale Problem gebunden. 6 Über die wird später noch zu reden sein.7 Hier genügt es einstweilen zu sehen, dass ein Zuschnitt Sozialer Arbeit auf die soziale Problemlösung von der Praxis her nicht unbegründet ist und auch auf das oben als Aufgabe genannte Unterstützungshandeln passt. Ganz gleich, ob im Blick auf soziale Probleme der Dreh- und Angelpunkt für ein Sozialarbeitsverständnis gesehen wird oder nicht: Beschreibung, Bewertung, Zielformulierung und Methodenauswahl sind die entscheidenden Gliederungsmerkmale für die Wissensbildung in der Sozialen Arbeit. Staub-Bernasconi nennt sie in ihrer Liste deshalb allesamt „Scharniere" (Staub-Bernasconi, 1998, S. 72).
6
Dazu siehe auch die Feststellung bei Staub-Bernasconi (1995b, S. 105): „Gegenstand oder besser: der von der Sozialen Arbeit zu betrachtende Wirklichkeitsausschnitt sind soziale Probleme."
7
Vgl. dazu weiter unten Kap. 2, Abschn. 2.
D i e Bedeutung von Evaluation • 13
Eine systematisierende Gliederung der HandlungsVollzüge nach Wissensbereichen — Beschreibungswissen, Erklärungswissen, Wertwissen, Verfahrenswissen — hebt die allgemeine Bedeutung des Wissens in der Sozialen Arbeit weiter heraus. Staub-Bernasconi spricht diesbezüglich auch von einem „Wissensmandat" (StaubBernasconi, 1994, S. 96). Ein solcher Begriff unterstreicht vor allem, dass es darum geht, für effizientes und nachhaltiges, kurz: für erfolgreiches Handeln das vorausgehende Bemühen um Rahmen gebendes Wissen einzufordern. Als „Mandant" kommt nur der Handlungszusammenhang Sozialer Arbeit selbst in Frage. Die dargelegte Kategorisierung der Erkenntnisse birgt weitere Bestimmungsmöglichkeit: Informationen lassen sich systematisch erheben. Drei Bereiche zeichnen sich als Quellen dabei ab: 1) die jeweilige Lebenssituation von Klienten, gemeinhin als Fallsituation aufgefasst; 2) die institutionalisierten beruflichen Handlungsroutinen; 3) wissenschaftliche Erkenntnisse aus anderen Zusammenhängen, gemeinhin als Be^ugsmssenschaften verstanden. Hier wird eine umfassende Einbindung von Wissen in den Handlungskontext deutlich, durch die auch bezugswissenschaftliche Anleihen fachlich begründet erscheinen — ein wichtiges Indiz für den wissenschaftlichen Charakter Sozialer Arbeit. Und schließlich erlaubt die Kategorisierung auch Antwort auf die beiden entscheidenden Fragen, nämlich wie Soziale Arbeit zu ihrem Wissen kommt, und wie es ihr gelingt, Wissen als Handeln auszuformen. Daraus bestimmt sich berufliche Praxis weiter als ein spezifisches Zusammenwirken von Theorie und Praxis, für das Wissen wiederum die tragende Rolle spielt.
3 Die Bedeutung von Evaluation Beschreibungswissen, Erklärungswissen, Wertwissen, Verfahrenswissen — ein fünfter Bereich komplettiert diese Liste, der im beruflichen Handeln für die Fähigkeit steht, neben Beschreibung, Bewertung, Zielformulierung und Methodenauswahl das daraus resultierende Handeln insgesamt einer kritischen Reflexion zu öffnen. Bei dieser geht es sowohl um eine Einschätzung von Erreichtem als auch um Anstöße für einen das Handeln begleitenden Lernprozess, der wiederum Einfluss auf die Ausgestaltung neuer Handlungs Situationen hat. Evaluationswissen fügt sich entsprechend in den Handlungsrahmen ein und prägt sozialarbeiterische Praxis mit aus (vgl. Miller, 2001, S. 219). Fünf Wissensbereiche treten demnach als „Konstruktionselemente" zur Gestaltung von Praxis zusammen. Die Reflexion des Handelns ist Teil dieser Praxis. Ein wissenschaftliches Wesen Sozialer Arbeit deutet sich damit weiter an, denn eine kritisch-reflexive Vorgehensweise spiegelt zugleich ein Forschungsinteresse. So weist Evaluation über den bloßen Handlungsrahmen hinaus: Als Verfahrensweise zur Bewertung von Geschehen bietet sie auch Potential, dem Eigentlichen Sozialer Arbeit auf die Spur zu kommen. Aus ihrem Evaluationsbemühen kommt eine
14 • Das wissenschaftliche Wesen der Sozialen Arbeit
Kraft, mit der Soziale Arbeit auch sich selber kritisch betrachtet und um all jene Bestimmungen ringt, die ihr vielfältig angetragen werden. Evaluation wird so zu einem Strukturprinzip für die Soziale Arbeit. Das ist, so weit zu sehen ist, ein vertrauter und zugleich ein neuer Gedanke. Evaluation erweist sich als ein weiteres Scharnier für die Transformation von Wissen in Praxis. Und weil sie Teil dieser Praxis ist, stärkt und fördert sie auch die Eigenständigkeit des Berufes. Soziale Arbeit ist auf Evaluation hin angelegt. Ein reflexives Vermögen zu generieren, erscheint für sie zwingend, ausdrücklich nicht nur zur Erfolgskontrolle, sondern auch zur kritischen Prüfung aller Wissensinhalte. Der von Evaluation gespannte Bogen reicht so von reflexiver Gestaltungskraft bis hin zu wissenschaftlicher Kompetenz, die zu einer eigener Maßgabe folgenden Analyse sozialarbeiterischen Wissens befähigt. Warum aber sollte gerade Soziale Arbeit darin Wissenschaftlichkeit erreichen und warum gilt das nicht für einen Bäcker, der an der Verbesserung der Qualität seiner Produkte interessiert ist? Oder für jeden beliebigen Handwerks- oder Dienstleistungsberuf, der über Produktqualität zurecht Wettbewerbsvorteile erwartet? Der Unterschied ist, dass alles, was Soziale Arbeit produziert, am Menschen selbst ausgerichtet und mithin auch zu messen ist.8 Dienstleistung im herkömmlichen Sinn trifft als Attribut im Grunde nicht zu, weil die Gemeinschaft insgesamt als Auftraggeberin fungiert und in dieser Eigenschaft zugleich Leistungsempfangerin ist. Hier gibt es keinen anderen Wettbewerb, als den gegenüber dem eigenen Qualitätsanspruch. Der aber richtet sich zuletzt am Menschen aus, formal und inhaltlich, sodass der Mensch zum ausschließlichen Bezugspunkt für die Evaluation wird. Wissen reflexiv auf den Menschen zu beziehen aber ist ein klares, wissenschaftliches Motiv. Etwas anderes wird noch deutlich: Evaluation in der Sozialen Arbeit eröffnet in ihrem anthropologischen Bezug einen ethischen Deutungsrahmen und gibt damit einen wichtigen Hinweis, wie ein Zusammenhang von Ethik und Wissenschaftlichkeit in der Praxis Ausdruck findet. Denn soweit Evaluation von der Ausrichtung Sozialer Arbeit am Menschen getragen ist, praktiziert sie auch einen Wertedialog. Was immer an Ethikdiskussion in der Sozialen Arbeit stattfindet, fließt in das Evaluationswissen mit ein. Die fachliche Bewertung beruflichen Geschehens dient also nicht nur einem Handlungspragmatismus, sondern prüft Praxis auch immer auf ihre ethische Legitimation hin. So demonstriert Evaluation, wenn sie schließlich als Strukturmerkmal Sozialer Arbeit gesehen wird, deren besonderen und ausgesprochenen Ethikbezug. Als Wissensbereich wiederum betrachtet, verbürgt sie die Qualität des Berufswissens insgesamt. Damit könnte man das oben angesprochene Wissensmandat, ohne es zu
8
Vgl. die Zusammenfassung zu Gegenständen und Zielen Sozialer Arbeit bei Erler, 2004, S. 33. Vgl. auch die Befragungsergebnisse zum „Verständnis von Sozialpädagogik" bei Schilling, 2005a, S. 13. Die Ausrichtung Sozialer Arbeit am Menschen ist eine Besonderheit und keine Trivialität. So ist auch die Forderung bei Bock (1995, S. 51) zu verstehen, Soziale Arbeit müsse sich „an den Auseinandersetzungen über gesellschaftliche Bedingungen und deren Folgen für die Menschen beteiligen".
Die Ausrichtung im Erkenntnisanliegen • 15
schmälern, auch rein auf Evaluation beziehen und weniger als Aufforderung zu diffuser Wissensbildung verstehen als zu handfester Praxisreflexion. Daran wird deutlich, dass Evaluation als eigenständige Aufgabe neben das Unterstützungshandeln tritt und für die Soziale Arbeit auch eine Engstellung des Fokus auf soziale Probleme relativiert.
4 Die Ausrichtung im Erkenntnisanliegen Ein wissenschaftliches Wesen der Sozialen Arbeit zeigt sich im Rahmen ihrer Praxis. Die Art und Weise der Wissensbildung, aber auch von Wissensverwaltung und -kritik erzeugen eine Theorieperspektive, die einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erkennen lässt. Dieser erschöpft sich nicht in der Verbindung von Fallmerkmalen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern drängt dazu, Begründungszusammenhänge zu suchen, die den Standpunkt einer fachlichen Sicht ermöglichen. Das verleiht dem Sozialarbeitswissen Struktur und schafft Grundlagen für ein Interpretationsvermögen. Genau genommen geschieht bereits die Auswahl von Daten und wissenschaftlichen Erkenntnissen interpretativ und weist auf ein wissenschaftliches Vermögen hin. Tilly Miller nennt das „Schnittstellenkompetenz" (Miller, 2001, S. 19). Der fachlich ausgerichtete Wertebezug einerseits und die Anleihen bei verschiedenen Bezugswissenschaften andererseits werfen allerdings die Frage nach der Erkenntnissituation der Sozialen Arbeit selbst auf. Die Wahrheitsfrage als Thema der Sozialen Arbeit wurde oben bereits angesprochen (vgl. Einleitung), und es ist für die wissenschaftlichen Ambitionen Sozialer Arbeit wichtig, die Methode der Wissensgewinnung abzuklären. Keineswegs ist die Haltung der Wissenschaft in der Wahrheitsfrage eindeutig. Der Wissenschaftsbetrieb offenbart vielmehr eine ganze Reihe wahrheitskritischer Positionen, vom Falsifikationsgedanken Karl Poppers bis hin zur zugespitzten Skepsis einer postmodernen Sicht, die verlangt, „immer dann zu zweifeln, wenn etwas als eindeutig, einheitlich oder widerspruchslos beschrieben wird" (Kleve, 1999b, S. 371). Die Lösung bislang ist ein modus vivendi, indem verschiedene Wissenschaften nebeneinander unterschiedliche Modelle der Wahrheitsfindung praktizieren. Das ist ein Hintergrund, der es Sozialer Arbeit immerhin möglich macht, auf ihrer Wahrheit zu bestehen; aber wenn sie ihren wissenschaftlichen Anspruch aufrechterhalten will, muss sie ihre Position in der Wahrheits frage darlegen. Die Erkenntnissituation von Wissenschaft, auf die sie sich dabei beziehen müsste, kann im Großen und Ganzen etwa wie folgt skizziert werden: Es gibt die unterschiedlichen Erkenntnismodelle, aber es ist auch erkennbar, dass diese auf einschlägige Kritik an einem einheitlichen Modell zurückzuführen sind, das schließlich aufgegeben wurde, aber bis heute nachwirkt. Es handelt sich dabei um ein Wissenschaftsverständnis, wie es von Aristoteles (384-322 v. Chr.) begründet und über Jahrhunderte tradiert wurde. Von diesem Verständnis ist auch die Theologie des Mittelalters nicht abgerückt. Dann aber drängten Zweifel zu einer Neube-
16 • Das wissenschaftliche W e s e n d e r Sozialen A r b e i t
wertung von Erkenntnis. Die frühe Neuzeit fand Anlass zu Beschränkungen; es wurden ergänzende und dann auch neue Modelle ausgearbeitet, die heute zum Teil nebeneinander bestehen. Für die Erkenntnissituation Sozialer Arbeit ist es wichtig, die jeweilige Bedeutung zu erfassen. Das aristotelische Modell, wenn man es heute so nennen möchte, sieht ein Verständnis von Wissenschaft vor, das sich aus einer Stufung des Wissens ergibt. Im ersten Buch seiner Metaphysik legt Aristoteles dar: Wissen entsteht auf drei Ebenen. Ausgangspunkt für jegliches Wissen ist die sinnliche Wahrnehmung (aisthesis). Die erste der Ebenen kommt durch ein Vergleichen von Sinneswahrnehmungen zustande, und zwar als Erfahrung (empeiria). Erfahrungen wiederum zu miteinander zu vergleichen, bringt Einsicht in kausale Zusammenhänge und erwirkt so, als zweite Ebene, Fertigkeit (techne). Ein reflexives Durchdringen schließlich der Ursachen auf Kausalstrukturen hin erzeugt im eigentlichen Sinn Wissenschaft (episteme).9 Zu wissen, wie etwas ist; einzusehen, warum etwas so ist; und schließlich zu begreifen, warum etwas notwendig so ist — das entspricht der Beschreibung des Weges, den menschliche Wissenschaft nach Dafürhalten von Aristoteles geht.10 Ein methodisches Moment kommt hinzu: Aristoteles benennt auch das Kriterium, das Menschen in der Wissensbildung die entscheidende Orientierung gibt und letztlich zur Wahrheit trägt. Es ist, seiner Einschätzung nach, „das sicherste unter allen Prinzipien" und in der Lage, Täuschung und Irrtum zu vermeiden: einzusehen nämlich, dass es unmöglich ist, ein und derselben Sache gleichzeitig einander widersprechende Prädikate zuzuordnen.11 Der Widerspruch als Ausschlusskriterium — das ist es, was die aristotelische Logik trägt und bis in unsere Tage wirksam sein lässt.12 Wenn der umfassende Wahrheitsanspruch einer so verstandenen Wissenschaft längst bestritten wird, kontrastiert das die Dominanz des Prinzips der Widerspruchsfreiheit, das Wahrheit menschlichem Denken ohne Einschränkung verfügbar zeigte. Wir kennen heute vielfach Einschränkungen, etwa in Hinblick auf Interessen, von denen sich eine vermeintliche Wahrheitssuche kaum frei machen kann. Damit aber ist die wissenschaftliche Relevanz jenes Prinzips insgesamt in Frage gestellt. Auf der anderen Seite ist zu sehen, dass das Widerspruchsprinzip weiter unseren Alltag, bis hinein in rechtliche Entscheidungen, bestimmt und auch wissenschaftliches Argumentieren Mühe hätte, wollte es ganz darauf verzichten.
9
Vgl. für den Zusammenhang Aristoteles, Metaphysik, 1. Buch, 980 a - 981 a.
10
Aristoteles, ebd., 981 a 28 f.
11
Aristoteles, Metaphysik, 4. Buch, 1005 b 19-23. In diesen Kontext gehört auch der sprichwörtlich gewordene Unsinn vom „hölzernen Eisen"; vgl. den Ausdruck bei Hegel, Wissenschaft der Logk II; s. G. W. F. Hegel. Werke, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1986, S. 291.
12
Die Wirkungsgeschichte des aristotelischen sichersten Wissens ist enorm. Seine Vorgeschichte findet es in der platonischen Dialektik, namentlich in deren Widerspruchskunst (ävTiAoyvKf| te^vti), wie sie im fünften Buch der Politeia (454 a) aufscheint; eine Vorformulierung zeigt sich in Piatons Dialog Sophistes (230 b 4 f.). Es kann als das Ergebnis der Erkenntnisbemühungen in der Antike gesehen werden. Zugleich wird es zur Grundlage der Stärke des Wissens, das nun via Erkenntnisurteil über Sein und Nichtsein befinden kann.
Bezugspunkt für die Wahrheit in der Sozialen Arbeit • 17
Dazu kommt, dass auch das moderne Verständnis von Erfahrung, Technik und letztlich Wissenschaft sich noch gut mit der aristotelischen Vorstellung deckt. Umso spannender — auch für das Erkenntnisanliegen Sozialer Arbeit — ist deshalb die Frage, was die Wahrheitskrise letztlich ausgelöst hat und wie die Kritik vorgetragen wird.
5 Bezugspunkt für die Wahrheit in der Sozialen Arbeit Die Irritation, die zu Zweifeln an der Wahrheitsfähigkeit des menschlichen Geistes geführt hat, ist über die Jahrhunderte, seit dem Mittelalter, gewachsen. Sie hat aber einen einzigen Auslöser. Der wiederum kann am besten verdeutlicht werden, wenn man auf eine Erkenntnishaltung blickt, die wie ein Endpunkt dazu wirkt, und zwar auf den im 20. Jahrhundert entstandenen Konstruktivismus. In einer radikalisierten Form der Wahrheitskritik verwirft der Konstruktivismus allen Anspruch auf objektive Wahrheit und lässt als wahr ausschließlich dasjenige gelten, was Menschen für wahr halten.13 Ein solcher Ansatz, auch wenn er auf den ersten Blick widersinnig erscheint, mindestens aber vom aristotelischen Grundmuster maximal abweicht, wird uns hier noch beschäftigen, weil ihn auch Soziale Arbeit rezipiert (vgl. z. B. Stickelmann, 2000; Kleve, 2003). In seiner Radikalität macht er vor allem deutlich, dass menschliche Erkenntnis vom Subjekt ausgeht. Dieses Subjekt, vor allem dann, wenn man es in systemischen Denkformen gespiegelt sieht, verarbeite, so die Diktion, autark Information und produziere perspektivisch Erkenntnis. Denken außerhalb oder zwischen diesen Perspektivwelten lasse sich nicht darstellen: Menschen konstruierten — legitim und unvermeidlich — ihre je eigene Wirklichkeit. Der besagte Auslöser für die Wahrheitskritik der Moderne insgesamt ist aber genau diese Vorstellung vom Menschen als Erkenntnissubjekt. Sie stellt eine Weg weisende, wissenschaftliche Errungenschaft der Neuzeit dar und ist als solche die Folge der Rückbindung des gesamten menschlichen Daseinsvollzugs an die Funktionsweise als res cogitans, als „denkende Sache", die 1641 von René Descartes (1596-1650) vorgetragen wurde. 14 Im cogito ergo sum, Descartes' berühmtem Diktum, 15 liegt der Schlüssel dafür, dass Wissenschaftler an der Objektivität von
13
Erkenntnis, auch vermeintlich „objektive", wird entsprechend über den „Aufbau der Erlebenswelt" gesucht; vgl. dazu bei von Glasersfeld, 2005, S. 32.
14
Vgl. Descartes, Meditationes de prima philosophia, II, 8: „Was aber bin ich demnach? Ein denkendes Ding!" — „Sed quid igitur sum? res cogitans ..."; vgl. für den lateinischen Text bei René Descartes. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, hg. v. L. Gäbe, Hamburg 1959, S. 50. Während Gäbe das lateinische „res" allerdings mit „Wesen" übersetzt, gibt es A. Buchenau in seiner ersten deutschen Gesamtausgabe der Meditationes (1915) genauer mit „Ding" wieder.
15
Die Formulierung als „cogito ergo sum" stammt aus Descartes' 1644 erschienener Schrift Prinäpia philosophiae, I, 7. In den vorher veröffentlichten Meditationes, II, 6, heißt es: „Das Denken ist's, es allein kann von mir nicht getrennt werden. Ich bin, ich existiere, das ist gewiss. Wie lange aber? Nun, solange ich denke." (Ubersetzung nach der Ausgabe von L. Gäbe, S. 47.)
18 • Das wissenschaftliche Wesen der Sozialen Arbeit
Erkenntnis zu zweifeln begannen. Empirismus (im 17. und 18. Jahrhundert) 16 und Positivismus (im 19. Jahrhundert) 17 sind als Reaktionen auf eine veränderte WahrheitsSituation in der Wissenschaft zu begreifen. Als Maßgabe galt und gilt bis heute - auch in einer neopositivistischen Sicht —, dass wahrheitsfähige Erkenntnis nur durch geeignete Messverfahren zu erlangen ist. Konnte die Naturwissenschaft mit solchen Vorgaben relativ gut leben und in vermeintlicher Unbestechlichkeit ihr Ansehen letztlich steigern, wurde für den übrigen Wissenschaftsbetrieb nach alternativen Lösungen gesucht. Zwei davon sind hier noch herauszugreifen, weil auch sie für die Soziale Arbeit Bedeutung haben. Da ist zum einen die Erkenntnismethode der Phänomenologie, ausgearbeitet zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die über beschreibendes Verstehen zu wahren Aussagen über einen Sachverhalt zu gelangen hofft. 18 In einer strikten Trennung von Deskription und Interpretation werden Deutungsmöglichkeiten gesucht, für die bestimmte Deutungsmuster, aber auch Kriterien einer passenden Auswahl der betrachteten Phänomene zum Einsatz kommen. Auch diese Methode gibt einen allgemeinen Wahrheitsanspruch nicht auf, weiß aber um die Täuschungs- und Irrtumsanfalligkeit des stets beteiligten subjektiven Denkvermögens. Zum andern ist die Hermeneutik zu nennen. Auch im 20. Jahrhundert ausgeformt, betont sie die Sprachlichkeit von Erkenntnis. 19 Wissen entsteht demnach durch Deutung im Rahmen begrifflicher Benennungen. Das heißt auch, dass die Fähigkeit zum sprachlichen Ausdruck mit dem Erkenntnisvermögen eines Menschen korrespondiert. Hermeneutik zielt nicht auf objekthafte Wahrheit, 20 sondern auf die geistigen Merkmale, die das menschliche Dasein bestimmen. Freiheit und Autonomie gehören ebenso dazu wie Gemeinschaft und Personalität. Angesichts dieser Fülle an Erkenntniszugängen, die zur Auswahl stehen, ist Soziale Arbeit heute am Scheideweg angelangt. Die Lage stellt sich zurückblickend anders dar als in einer nach vorne orientierten Perspektive, in der sich Soziale Arbeit als Wissenschaft zeigt. Solange sie ihre eigene Wissenschaftlichkeit nicht reklamierte, musste die Sozialarbeit auch nicht Auskunft über Charakter und den Wert der in ihr verarbeiteten Informationen geben. Sie konnte sich darauf verlassen, von den unterschiedlichen Erkenntnismodellen, auf die sie sich bezog, jeweils legitimiert zu sein. Zwei irritierende Konsequenzen dieser vorwissenschaftlichen Haltung werden deutlich: Zum einen konnten unterschiedliche Sichtweisen zuein-
16
17
Vgl. vor allem die Tradition des Empirismus in England, vertreten durch Thomas Hobbes (15881679), John Locke (1632-1701) und David Hume (1711-1776). Vgl. als Begründer dazu Auguste Comte (1798-1857), mit Wirkung etwa auf den wiederum in der empiristischen Tradition stehenden John Stuart Mill (1806-1873).
18
Edmund Husserl (1859-1938) knüpft dazu an die Beobachtung an, dass Sachverhalte im Denken begegnen (vgl. griech. phainomai — „sich zeigen"), das Denken mithin in der Lage erscheint, aus sich heraus zu Aussagen zu gelangen.
19
Vgl. dazu maßgeblich Hans-Georg Gadamer (1900-2002) in seinem 1960 erschienenen Werk Wahrheit und Methode. Das zeigt sich auch im sogenannten hermeneutischen Zirkel.\ der besagt, dass der Verstehende immer schon ein Vorverständnis von dem haben muss, was Gegenstand des Verstehens ist.
20
Zusammenfassung • 19
ander in Streit geraten. Das betraf den beruflichen Alltag, etwa in der Teamarbeit; aber es erreichte auch die Theorieüberlegungen, in denen sich Kontroversen über begriffliche Bestimmungen abzeichneten, etwa zum Verhältnis von Spezialistentum und Generalistentum, zur Grundhaltung (Altruismusdebatte), zu Fragen des Loyalitätsverständnisses (Stichwort Anwaltschaftlichkeit) und manches mehr. Zum andern war in den zurückliegenden Jahrzehnten zu beobachten, wie Soziale Arbeit zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Erkenntniskonzepten jeweils insgesamt erfasst wurde. So gab es, wie man es auslegen kann, eine hermeneutisch, eine positivistisch, eine phänomenologisch und auch eine konstruktivistisch geprägte Phase.21 Die Wirkungen daraus halten, auch in Form einer Diskussion über die adäquateste, zielführendste und zukunftsträchtigste Erkenntnis aus rieh tung, an. Was aber — eben rückblickend — deutlich wird, ist ein Umgang Sozialer Arbeit mit Erkenntnistheorien nach dem Bauchladenprinzip. In Hinblick auf einen wissenschaftlichen Anspruch, wie er sich inzwischen abzeichnet, ist das problematisch. Soziale Arbeit wird mit einem solchen Anspruch von einer Profiteurin selbst zu einer Akteurin im Wissenschaftsbetrieb. Das begründet eine Verantwortung für die eigene Erkenntnisposition. Die Zeit der Experimente ist vorbei. Es ist legitim, von Sozialer Arbeit Auskunft über ihr methodisches Konzept zu verlangen, von dem her sie ihre Wissenschaftlichkeit getragen sieht. Auch wenn sich in diese Richtung manches schon herauskristallisiert hat — etwa die Unverzichtbarkeit konstruktivistischer und systemischer Zugangsweisen; ebenso auch die Plausibilität eines phänomenologisch ausgerichteten Lebensweltbezugs —, steht eine systematische Einbindung in einen spezifischen wissenschaftlichen Erkenntnisrahmen noch aus. Der aber sollte denselben Bezugspunkt haben wie jede andere Erkenntniskritik auch, nämlich die Vorstellung vom Menschen als Erkenntnissubjekt.
6
Zusammenfassung
Die Versuchung, in der Sozialen Arbeit Erkenntnisambitionen von einem Handlungspragmatismus leiten zu lassen, ist groß. Dazu verleiten könnte ein Verständnis von Praxis, das sich vom Hilfemotiv irritieren lässt: Wenn der Hilfeerfolg zum Ziel erkoren wird, könnte es, auch wenn das Hilfemotiv ethischen Regelungsbedarf erkennen lässt,22 jedenfalls belanglos sein, auf welchem Erkenntnisweg dorthin gelangt wird. „Hauptsache geholfen" — wer würde da im Nachhinein noch analysieren wollen, mit welchem Wissen das erreicht wurde? Doch wenn das Wissen als Mittel zum Zweck egal wäre, worin bestünde dann noch der Charakter einer be-
21
Die Merkmale verkürzen die historische Betrachtung. Sie eignen sich allerdings gut, wie weiter unten noch zu sehen sein wird (Kap. 2, Abschn. 1), Motivation und Dimension der Theoriediskussion zu erfassen.
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Ein solcher könnte sich, folgt man den anthropologischen Leitfragen bei Baum (2000, S. 32), allerdings aufdrängen.
20 • Das wissenschaftliche Wesen der Sozialen Arbeit
ruflich geleisteten Sozialen Arbeit? Deren Markenzeichen ist es vielmehr, planbar und wiederholbar handeln zu können. Die Qualität auch und gerade von Hilfe hängt eminent von einer zielgenauen, überschauenden, planenden und letztlich an Erfahrung ausgerichteten Erkenntnishaltung ab. Ein reflektiertes Praxisverständnis weiß das und kümmert sich um die Regeln für die Informationsverarbeitung. Das ist der Einstieg in eine wissenschaftliche Orientierung. Wissen in der Sozialen Arbeit speist sich aus fallbezogenen Daten, aber auch aus konzeptionellen und methodischen Überlegungen. Je reflektierter und kritischer das geschieht, umso geringer wird die Fehlerwahrscheinlichkeit. Weil der Bezugspunkt aber der Mensch ist, als in Gemeinschaft unter Umständen gefährdetes und auf Unterstützung angewiesenes Wesen, geht es um Aussagen und Festlegungen, die in anthropologische Verbindlichkeit führen und daher wissenschaftliche Präzision erfordern. Das reflexive Vermögen, das Sozialer Arbeit dazu zur Verfügung steht und das zu gebrauchen ihr wesenhaft erscheint, begründet schließlich einen wissenschaftlichen Anspruch. Zunächst richtet sich der auf die Sicherung geeigneter Methoden der Wissensgewinnung. In einem zweiten Schritt geht es dann um die Inhalte einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Dabei bleibt festzuhalten: Soziale Arbeit demonstriert ihr wissenschaftliches Wesen von Anfang an. Es resultiert aus ihrem besonderen Verständnis von Praxis, in der berufliches Handeln, aber auch Menschenkenntnis und Forschungsinteresse eingebunden sind.
2. Kapitel Kriterien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft 1 Zum Stand der Theorieüberlegungen Wer die Vielfalt der Theorieüberlegungen in der So2ialen Arbeit sieht, kann leicht den Eindruck gewinnen, dass da etwas Unüberschaubares herangewachsen ist. Und es ist dabei nicht allein die aktuelle Theoriediskussion, die mit vielen unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Zugangsweisen für Verwirrung sorgt, nicht zuletzt, weil darin Theorie und Praxis, Beruf und Profession, Vision und Pragmatik als Bezugs- und Angriffspunkte immer wieder in Spannung zueinander geraten. Auch der Blick auf den Verlauf der Theoriebildung über die vergangenen Jahrzehnte hinweg gibt für Irritation hinreichend Anlass. Denn es sind mit den Jahren zahlreiche unterschiedliche Konzepte entstanden und wieder verschwunden, die zu einem großen Teil auch dem Zeitgeist geschuldet waren.1 Dessen Strömungsverlauf trug mit dazu bei, dass sich Soziale Arbeit, statt hin zu eigenständigem Profil, in Richtung Abbild der Dynamik des modernen Wissenschaftsbetriebs bewegt hat und dieser dann auch ein Stück weit ausgeliefert war. Solange ihre Wissenschaftlichkeit rein über bezugswissenschaftliche Anleihen definiert wurde, war es nur konsequent, dass andere Wissenschaften bei den Theorieanstrengungen Sozialer Arbeit den Ton angaben. Auch wenn heute der Trend zur Sozialarbeitswissenschaft geht, scheint es jedenfalls im Verlauf der Selbstfindung Sozialer Arbeit als Beruf unvermeidlich gewesen zu sein, das eigene Theorieprofil aus Elementen unterschiedlicher Humanwissenschaften zu gewinnen. Besondere Erwartungen richten sich — nach wie vor — an therapeutische Handlungsansätze auf der einen und sozialwissenschaftliche Deutungsarbeit auf der anderen Seite, die in einem diffusen Berufsbild komplexen Unterstützungshandelns2 aufeinander treffen und Sozialer Arbeit manches von jener Ambivalenz verschaffen, die ihr einige als handfestes Wesens-
1
Engelke (2002) gelingt mit seiner typisierenden Darstellung auch diese Wahrnehmung, einerseits, weil er zeigt, wie sogar rassistische Gesellschaftstheorien in ein Sozialarbeitsverständnis Eingang fanden (ebd., S. 238 ff.), andererseits, weil er in der über die Jahre gewachsenen Konzeptarbeit jeweils die programmatischen Positionen der Autoren herausstellt.
2
Dies wiederum mit der Einschätzung Engelkes (2002, S. 9) gesehen, nach der Soziale Arbeit „ein über 100 Jahre alter Klammerbegriff für die Vorgänge .aktivieren', .anleiten', .ausgrenzen', .ausmerzen', .ausschalten', .austauschen', .befrieden', .belehren', .beraten', .bevormunden', .binden', .deuten', .disziplinieren', .emanzipieren', .entwickeln', .ermutigen', .erziehen', .fördern', .fürsprechen', .helfen', .kontrollieren', ,leiten', ,lehren', .lieben', .normalisieren', .pflegen', .rekonstruieren', Rehabilitieren', Resozialisieren', .selektieren', .sozialisieren', ,unterstützen', ,versichern', .versorgen', ,verstehen', ,verwahren', .züchten' u. ä." sei.
22 • Kriterien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft
merkmal zuschreiben (Kleve, 2005). Wirklich aufgearbeitet und für ein Verständnis eingeordnet ist das alles bislang nicht. Folgt man nun gar denen, die Theorieentwicklung in der Sozialen Arbeit über Jahrhunderte gewachsen sehen (Zeller, 1995; Engelke, 2002; Erler, 2004; Schilling, 2005a), trübt sich das Bild weiter, weil andere, für uns heute nicht mehr unmittelbar zugängliche geistesgeschichtliche Zusammenhänge in den Blick treten. Das gilt für die Geschichte der Bewertung der Armut vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit (skizziert bei Schilling, 2005a, S. 19) ebenso, wie für antike philosophische Einlassungen, wenn eine wissenschaftliche Tradition Sozialer Arbeit darauf zurückgeführt wird (vgl. Zeller, 1995, S. 299). Hier kann es, angesichts der kaum mehr als 100 Jahre alten Geschichte der beruflichen Sozialarbeit, nicht um historische Einordnung gehen; vielmehr wird eine „Ideengeschichte" für die Soziale Arbeit 3 an ein noch zu gewinnendes eindeutiges berufliches Selbstverständnis anzubinden sein, von dem her historische Bezugnahmen sachlich begründet sind und eine Wirkungsgeschichte eröffnen. Fällt eine Ordnung der verschiedenen Theorieaspekte in Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit — vertikal wie horizontal, wenn man so will — also schon schwer genug, muss besonders irritieren, dass nicht einmal der Name Anhalt bieten kann. Soziale Arbeit — als Klammerbegriff, Verschränkung oder was auch immer verstanden — löst sich in Theoriebeiträgen häufig wieder auf, zunächst ins alte Doppelschema Sozialarbeit/Sozialpädagogik („SA/SP"), dann aber weiter in jene zwei historischen Wirkungslinien der „Erwachsenenfürsorge" und der „Jugendfürsorge" (vgl. bei Schilling, 2005a), nach denen von je her das Arbeitsfeld bemessen wurde. Die in den 1980er Jahren gewachsene Bereitschaft, Sozialarbeit und Sozialpädagogik „geschwisterhaft" unter ein gemeinsames Dach zusammenzuführen und die verstärkte Suche nach den Verbindungslinien und Gemeinsamkeiten in den 1990er Jahren haben nicht verhindert, dass es heute in Deutschland weiterhin ein Doppelverständnis Sozialer Arbeit mit Sozialarbeit hier und Sozialpädagogik dort gibt (dazu vgl. Merten, 1998). Auch Hansjosef Buchkremers Einsicht seinerzeit (1995, S. 74), dass die „beiden Geschwister" als „symbiotische Zwillinge" zu verstehen sind, hat die Symbiose nicht wirklich voranbringen können. Ein Teil des Problems ist, dass es in Deutschland unterschiedliche Ausbildungsstrukturen gibt, die ihrerseits der Unterscheidung in Sozialarbeit und Sozialpädagogik weiter Rechnung tragen; und auch dort, wo Vereinheitlichung angestrebt wird, kaschiert die allgemeine Berufsbezeichnung der Diplomso^alpädagogin zuletzt doch nur die besagte Differenzierung.4 Dass sich an dieser Situation im Zuge der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge etwas Wesentliches ändert, ist nicht unbedingt zu erwarten. Denn die Schwierigkeit liegt im System. Gerade die Neufassung der Studiengänge scheint eine Dynamik zu verstärken, die, über eine
3
Dergleichen hat bislang vor allem die Sozialpädagogik (vgl. Reyer 2002) vorgelegt.
4
Zur weiter bestehenden Trennung nach Sozialarbeit und Sozialpädagogik in den Ausbildungsgängen an den Fachhochschulen sowie zu zusätzlichen Studiengängen für die Soziale Arbeit vgl. Berger, 2001, S. 19 f.
Zum Stand der Theorieüberlegungen • 23
neue Konkurrenzsituation in der Hochschullandschaft, die universitär etablierte Sozialpädagogik zu eigenständigen Profilierungsüberlegungen drängt (vgl. Schweppe/Sting, 2006). Veränderte Praxisanforderungen im Beruf und Verschiebungen im sozialstaatlichen Gefüge tragen das Ihre dazu bei, dass um neue Orientierung mehr und mehr gerungen wird, nicht ohne die Gefahr, dass sich Soziale Arbeit letztlich rückwärts bewegt und wieder in ihre historischen Linien zerfällt. Die bekannte Forderung, Soziale Arbeit „als staatlich anerkannten grundständigen Studiengang an Universitäten einzuführen" (vgl. Elhardt u. a., 1998, S. 231) hat den Blick immer schon auf die universitäre Sozialpädagogik gelenkt, die dadurch in die schwierige Rolle der Vorreiterin gerät und ihr Denken auf Bereiche ausweiten muss, die nicht unbedingt zu ihrem Selbstverständnis gehören. Soziale Arbeit rutscht auf diese Weise mit ihrem eigenen, beruflichen Integrationsanliegen in den unbestimmten Raum ^wischen Sozialarbeit und Sozialpädagogik und verliert in nicht weiter geklärter Zuständigkeit von Universitäts- und Fachhochschulstrukturen weiter an Profil. Wie gesagt: Etwas schwer Überschaubares ist da herangewachsen. Von unterschiedlicher Warte aus werden gesellschaftliche Veränderungen wahrgenommen und bewertet, Konzepte und Perspektiven entwickelt und Diskussionen geführt, die vielleicht wissenschaftliche Vielfalt, nicht aber den Willen zum integrativen Begriff demonstrieren. Einen Stand der Theorieüberlegungen zu erheben, ist also nicht einfach. Die bestehende Vielfalt ist ein Stück weit auch der Komplexität der Handlungsfeldes geschuldet. Fürsorgendes und pädagogisches Handeln setzen unterschiedliche Akzente. Die Sozialarbeit muss dabei fürchten, dass ihr die pädagogischen Aufgabenstellungen im Jugendbereich nicht übertragen werden. Die Sozialpädagogik wiederum darf sich weiter als Namensgeberin für den gesamten Berufsstand wahrnehmen, weiß aber um die Grenze des eigenen, an Erziehung orientierten Ausgangspunkts. Soziale Arbeit schließlich alias Sozialarbeit alias Sozialpädagogik müht sich um Theorieansätze, die aufs Gan^e gehen, soll heißen: Es gibt ihn, den alles umfassenden Blick, der Theorie auf die gesamte berufliche Praxis bezieht und von dieser her versteht — und es gibt ihn von Anfang an. Ganz gleich nun, ob stärker sozialarbeiterisch oder sozialpädagogisch akzentuiert wird: Soziale Arbeit setzt einen Rahmen, der fürsorgendes Handeln mit erzieherischen Anliegen verbindet. Insoweit ist sie zu Sozialarbeit und Sozialpädagogik nichts Drittes, auch nichts Zweites, sondern der Begriff, der beides umfaßt und vereint.5 Ihre besondere Integrationskraft bezieht sie aus ihrer Arbeit am Begriff, wenn als Soziale Arbeit ein Instrument gesehen und weiter geformt wird, über das menschliche Teilhabe in der Gesellschaft gewährleistet wird. In eine solche Richtung argumentiert beispielsweise Wolf Rainer Wendt (1995c), aber auch andere beziehen Soziale Arbeit allgemein auf fürsorgerische, erzieherische und gleichwohl auch integrative Belange von Gesellschaft und sehen darin Menschen jeden Le-
5
Vgl. dazu auch Hiltrud von Spiegel (2006, S. 34) mit der Einschätzung: „Die Soziale Arbeit in ihrer heutigen Ausprägung vereinigt die beiden historisch gewachsenen Entwicklungsstränge der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik."
24 • Kriterien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft
bensaltes berührt (Böhnisch, 2005a).6 Das reicht als Perspektive auch noch über nationale Grenzen hinaus und begründet einen Umgang mit Sozialer Arbeit, bei dem sie als ein soziales menschliches Leben in all seine Facetten umfassender Handlungsansatz verstanden wird (Staub-Bernasconi, 1995b). Die entsprechenden Theorieüberlegungen sind daher weiter, als es manchmal den Anschein hat. Sie berühren zentrale Fragen menschlichen Zusammenlebens und legen das Augenmerk zielsicher auch auf Fragen der Methodik, deren besondere Bedeutung in der Verknüpfung mit dem Theorieanliegen gesehen wird.7 Entwürfe, die Soziale Arbeit im Rahmen aktueller sozialpolitischer Themen beleuchten, und auch solche, die strittige Aspekte im Berufsverständnis aufgreifen; ebenso die Konzeptarbeit weiter zurückliegender Jahre; und auch das fortgesetzte Ringen um die sozialarbeiterische und sozialpädagogische Profilgebung — all das bringt die Theorieentwicklung voran. Der Stand der Theorieüberlegungen ermisst sich daher weniger über das komplexe und zum Teil kontroverse Themenspektrum, als über das Muster der Fragestellungen, die darin zum Tragen kommen. Es sind, wie gesagt, Fragen der allgemeinen Moral, des besonderen Wertebezugs, der gesellschaftlichen Entwicklung, der eigenen Methodenkompetenz und nicht zuletzt des beruflichen Profils, das Sozialer Arbeit ihre Gestalt verleiht. Diese Fragen aufzugreifen und einzuordnen, muss Anliegen und Gegenstand der weiteren Betrachtung sein. Es wird sich zeigen, dass Soziale Arbeit im Ethikthema einen Fokus hat, der ihr für die Einordnung eine systematische Vorgehensweise erlaubt.
2 Die Gegenstandsdiskussion Ein wichtiger systematischer Gesichtspunkt in der Sozialen Arbeit ist die Bestimmung ihres Gegenstandes. Einerseits würde der zu einer Umgrenzung des Handlungsfelds führen, und das allein schon wäre ein entscheidender Motivationsfaktor für klärende Überlegungen. Hiltrud von Spiegel (2006, S. 19) listet fünf interessante Leitfragen auf, die eine Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Sozialer Arbeit zum einen anregen, zum anderen aber auf ein grundsätzliches Verständnis hin zuspitzen: • • • •
Wie kann man genauer fassen, was diesen Beruf ausmacht? Worauf richtet sich das berufliche Bemühen? Was soll bewirkt werden? Was steht im Zentrum der beruflichen Arbeit?
6
Zu den integrativen Belangen von Gesellschaft ist auch das Bildungsthema zu rechnen, das neuerdings in der Öffentlichkeit - als Anliegen ganz unterschiedlicher Politikfelder (Bildung, Soziales, Ausländer, Familie) — stärker fokussiert wird. Die Entwicklung neuer Studiengänge zu Erziehung und Bildung im Kindesalter (vgl. Schweppe/Sting, S.124 f.) stärkt zwar zunächst einmal die sozialpädagogische Seite, weist aber deutlich, über den gedachten politischen und gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang, auf den Gesamthandlungsrahmen Sozialer Arbeit hin.
7
In den Worten Hiltrud von Spiegels (2006, S. 19) sind es die „Strukturelemente des Handlungsfeldes der Sozialen Arbeit", die als „Kontext für das methodische Handeln" aufzunehmen sind.
Die Gegenstandsdiskussion • 25
• Welches Selbstverständnis können Fachkräfte der Sozialen Arbeit aus diesem Wissen gewinnen? Die Fragen machen deutlich, dass „Funktion und Gegenstand der Sozialen Arbeit" (ebd.) bereits im Ansatz eines Praxiszugangs zu klären sind. Wie auch immer man Soziale Arbeit verstehen möchte: Was sie will und was sie kann, muss klar sein, wenn sie sich präsentiert. Die Fragen zeigen aber auch, dass eine Systematik des Gegenstands Sozialer Arbeit weiter greift: ein „Selbstverständnis" sei zu gewinnen über eine Bestimmung dessen, was in der Sozialen Arbeit „im Zentrum" steht. Der Name ist hier Programm, denn über ein Selbstverständnis schärft sich — das nun andererseits— auch die Bedeutung des Berufes in der Öffentlichkeit. Nicht nur zur Sicherstellung beruflichen Handelns, sondern auch zu dessen Legitimation dient Sozialer Arbeit die Bestimmung ihres Gegenstandes. Dass in ihr auch der Funktionsaspekt verwahrt ist, bedarf nicht vieler Erklärung, steht dieser doch für die formale Seite einer begrifflichen Bestimmung dessen, worauf sich Soziale Arbeit richtet. Funktion und Gegenstand Sozialer Arbeit aber ergeben sich nicht aus komplexen Aufgabenstellungen und nicht über einen Katalog der unterschiedlichen Zugangs- und Handlungsweisen, sondern nur durch Abstraktion. Die Suche nach der Gegenstandsbestimmung ist so als eine Angelegenheit der Theoriebildung auszuweisen; entsprechend zeigt sie sich auch „in größere Theoriezusammenhänge eingebettet" (von Spiegel, 2006, S. 35). Die genannten Gründe mögen bereits genügen, sich der Gegenstands frage weiter zu widmen. Sie betreffen Soziale Arbeit als Beruf, und sie demonstrieren, dass der Beruf im Theoriekonzept Notwendigkeit und Sinn erhält. In der schon angesprochenen Vielfalt solcher Konzepte scheint allerdings ein „Wirrwarr" (Schilling, 2005a, S. 164) kaum vermeidbar, und das hat unmittelbar auch Folgen für die Gegenstandsbestimmung: Statt eines eindeutigen Identifikationsmerkmals werden Zugänge gesucht, in denen der jeweilige Theorieausschnitt (um nichts anderes handelt es sich de facto) Charakteristika Sozialer Arbeit vertritt. Zwar liegt es in der Natur der Sache, dass solche unterschiedlichen Charakterisierungen der Eigenart sozialarbeiterischen Denkens und Handelns einander wesensähnlich sind; aber man scheint mit Divergenzen leben zu müssen, und es muss auch nicht verwundern, dass die Gegenstandsfrage durchaus nicht überall gestellt wird. Wenn Hiltrud von Spiegel recht hat mit der Einschätzung, dass es, wegen der „umfänglichen Materie", keine „allumfassende Theorie der Sozialen Arbeit" geben kann — und auch nicht geben sollte (von Spiegel, 2006, S. 35 f.), bleibt die Arbeit am Gegenstand auf immer im Ungefähren. Das würde auf ein Sozialarbeitsverständnis passen, das man wie folgt skizzieren könnte: • Die Komplexität der Aufgaben und der Handlungsfelder erschwert resp. verhindert dauerhaft eine eindeutige Bestimmung jener Tätigkeit, die sich diesen Aufgaben widmet. • Theoriearbeit — eigentlich das Glanzstück dieser Tätigkeit — wird es nicht nur nicht schaffen, zusammenzubinden, was nicht zusammenzubinden ist, son-
26 • Kriterien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft
dern weiß sich dadurch legitimiert, ohne weitere Abstimmung ausschnitthafte Zugangsweisen zu entwerfen. • Weil damit unterschiedliche und wiederum nicht aufeinander abgestimmte Auffassungen zum Wesen besagter Tätigkeit einhergehen, entsteht notwendig ein Nebeneinander unterschiedlicher So^ialarbeiten (und wenn man so will: So^ialpädagogiken), und es wäre reiner Zufall, wenn sich deren Merkmale deckten. Vielleicht entspricht das ja dem Alltag Sozialer Arbeit, in der Praxis und in den Köpfen ihrer Akteure. Allein, befriedigen kann es nicht.8 Vielmehr ist etwas derartiges Quelle für Missverständnisse und produziert letztlich ein ambivalentes Erscheinungsbild Sozialer Arbeit in der Öffentlichkeit. Die Wahrnehmung, dass da manches noch im Argen liegt, gibt es nach wie vor (vgl. dazu Schilling, 2005a, S. 267), ebenso aber auch das Unbehagen darüber und die Forderung, das „Image der Sozialpädagogik" zu verbessern (ebd., S. 268). Ich möchte die obige Skizze daher eher als ein Schreckensszenario für eine Soziale Arbeit nehmen, die sich wacker müht, ihre Aufgaben zu bewältigen und dabei eine gute Figur zu machen, die aber keinen Anhalt findet, sich selbst zu verstehen, geschweige denn, ein solches Verständnis nach außen zu transportieren. Das Gegenteil wäre anzustreben. Eindeutigkeit hin, umfassender Entwurf her — auf ihrem induktiven Weg von der Praxis zur Theorie braucht Soziale Arbeit Verständigung — „Austausch und Kommunikation", wie Schilling fordert (2005a, S. 167) — und das meint eigentlich: Abstimmung. Jede einzelne Bemühung darum ist ein Beitrag für ein auch in der Vielfalt kommunikables, Richtung weisendes Sozialarbeitsverständnis. Insofern ist auch die Arbeit an der Gegenstandsbestimmung wichtig und als Indikator dafür anzusehen, die berufliche Praxis stärken und zum Identifikationsmerkmal ausgestalten zu wollen. 9 Über den Gegenstand Sozialer Arbeit nachzudenken, ist also eine lohnende Aufgabe. Es geschieht auch vielfach, zum Teil durchaus so, dass Einigkeit herrscht. Eine akzeptierte Schnittstelle der Gegenstandsbestimmung ist sicherlich die Bezugnahme auf „das Lösen sozialer Probleme"; Soziale Arbeit wird dann am Begriff
8
Dazu vgl. Erler (2004), der statt einem Gegenstand vielmehr „Gegenstände" (S. 23) ausmacht, die zu einer verwirrenden Praxisvielfalt fuhren (S. 33): „Die Soziale Arbeit berät und hilft Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen. Im Sozialwesen Tätige arbeiten mit Familien, Obdachlosen, Sozialhilfeempfängern. Sie arbeiten auch mit psychisch und körperlich behinderten Menschen. Diese Arbeit wird auf Amtern, in Schulen, in Verbänden, in Betrieben, in Heimen und in Strafvollzugsanstalten oder anderen Institutionen geleistet. Die sozialen Probleme, wie Arbeitslosigkeit, Armut, Formen des Zusammenlebens von Familien, die hinter dieser Arbeit stehen, wachsen und verändern sich ständig."
9
Dabei zu beachten (und weiter zu klären) sind auch die uneinheitlichen, geschichtlichen Entwicklungslinien, die Sozialer Arbeit ihre „Probleme beim Auffinden ihres Gegenstandes" offensichtlich mit bereiten (vgl. Konrad/Sollfrank, 2000, S. 96).
Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit • 27
des „sozialen Problems" ausgerichtet.10 Aber es gibt auch andere Diktionen, etwa ein Verständnis Sozialer Arbeit als „Hilfe zur Lebensbewältigung" (Böhnisch, 2003, S. 151), oder, stärker am gesellschaftlichen Mandat orientiert, die Überzeugung, dass der Gegenstand „über das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Gesellschaft" zu gewinnen ist (Göppner/Hämäläinen, 2003, S. 41). Was davon im einzelnen schlüssig und in der Gegenstandsdiskussion hilfreich ist, soll weiter unten noch erwogen werden (vgl. unten Abschn. 5 sowie Kap. 5, Abschn. 1). Eines aber wird unmittelbar deutlich: Eine Gegenstandsbestimmung Sozialer Arbeit ist ein Desiderat bei der Suche nach beruflicher Identität; unerlässlich ist sie aber dort, wo Soziale Arbeit als Wissenschaft ausgewiesen werden soll: Denn eine Wissenschaß der Sozialen Arbeit setzt ein klares Verständnis dessen voraus, was Soziale Arbeit ist. 3 Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit Vom wissenschaftlichen Wesen der Sozialen Arbeit war oben schon die Rede (Kap. 1). Dabei hat sich gezeigt, dass sich Soziale Arbeit von ihrem Wissen her bestimmt. Über die Jahrzehnte ihres Bestehens hat sie wissenschaftliche Bezüge vielfach gefanden und gefestigt. Ihr Wissen hat sich auf diese Weise wissenschaftlich qualifiziert. Es produziert Theorie und steckt sich seinen Gesamtrahmen ab. Es nimmt Anleihen — vielfach — bei ausgewiesenen Wissenschaften, ordnet sie auf die eigenen Anliegen hin und entwickelt Wissensbestände entsprechend weiter. Das reflexive Vermögen, das sich für die Soziale Arbeit bereits als konstitutiv erwiesen hat, trägt nicht nur diese eigene Wissensproduktion, sondern demonstriert darüber hinaus spezifische Kreativität. Weil Soziale Arbeit wissenschaftliches Wissen verarbeitet, besonders aber, weil sie wissenschaftliches Wissen selbst zu erzeugen vermag, reklamiert sie eigene Wissenschaftlichkeit für sich. Das ist, knapp gefasst, die Argumentationslinie, aus der ein wissenschaftlicher Anspruch begründet hervorgeht. Er ist vorläufig noch unbestimmt und weiter darauf angewiesen, dass die entscheidenden Merkmale des beruflichen Handelns einerseits und des wissenschaftlichen Betriebes andererseits herausgestellt und aufeinander bezogen werden. Eine besondere Funktion kommt der Gegenstandsbestimmung zu. Man kann das im vorigen Abschnitt Gesagte auf die folgende Formel bringen: • Soziale Arbeit sollte ihren Gegenstand bestimmt haben, wenn sie beruflich handeln will. • Soziale Arbeit muss ihren Gegenstand bestimmt haben, wenn sie Wissenschaft sein will. Die Bestimmung des Gegenstandes ist selbst bereits eine wissenschaftliche Tätigkeit. Der erste Schritt dazu ist zu klären, was mit „Gegenstand" eigentlich gemeint 10
Dafür beispielhaft: Schilling, 2005a, S. 2 1 4 ff.; siehe aber Lüssi, 2001, S. 79; Staub-Bernasconi, 1995b, S. 105 (mit ihr von Spiegel, 2006, S. 26). Vgl. auch Engelkes Einschätzung (2004, S. 64), das „Bewältigen sozialer Probleme" sei „traditionell und international der Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit".
28 • Kriterien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft
ist. Ist es das, was Sozialarbeiterinnen tun? Ist es das, was solches Tun notwendig macht? Oder ist es das, was als Zielidee das Tun bestimmt? Häufig wird, wo es um den Gegenstand geht, auch von den Aufgaben oder der Funktion Sozialer Arbeit gesprochen bzw. letztere problematisiert (vgl. Göppner/Hämäläinen, 2004, S. 97). Man möchte meinen, es sei damit alles, wie gewohnt: unbestimmt und offen. Dennoch ist die Gegenstandsdiskussion auf dem richtigen Weg. Kurz gesagt: Im Gegenstand muss dies alles zusammen gehen. Es ist ganz gleich, ob ich die Aufgabe Sozialer Arbeit benennen will; oder deren Funktion-, oder ob ich bestimmen will, was in der Sozialen Arbeit geschieht, oder warum dies geschieht: Es geht jedesmal um dasselbe Verständnis dessen, was Soziale Arbeit ist. Aristoteles — oben war von seinem Wissenschaftsmodell schon die Rede — kann diesen Zusammenhang erhellen: Er weist darauf hin, dass Erkenntnis, vor allem solche, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll, Ursachenforschung betreiben muss. Die Kenntnis der Ursache fördert die Erkenntnis der Sache, um die es geht.11 Von der Ursache aber spricht Aristoteles in vierfacher Hinsicht: in materialer, in formaler, in wirk- und in zweckorientierter.12 Was das bedeutet, kann am Beispiel der Schaffung einer Bronzestatue demonstriert werden: Ursache dafür ist (1) das Erz, ohne das die Figur nicht entstehen kann (causa materialis); (2) die Form als die dazu ebenso notwendige künstlerische Idee (causa formaüs); (3) der schaffende Künstler selbst, dessen Hände die Statue hervorbringen (causa efficiens); und schließlich (4) der Zweck, für den die Statue geschaffen wird (causa finalis).13 Analog hat nicht nur alles eine — seine — Ursache (im Sinne einer alles beherrschenden Kausalität),14 sondern der Tatbestand der Verursachung kann nach dieser vierfachen Hinsicht selbst jeweils genauer analysiert werden.13 So und nicht anders ist über den Gegenstand Sozialer Arbeit zu reden: als das, was Akteure im beruflichen Handeln tun (Wirkursache); als das, was dieses Handeln auf den Plan bringt (Verschränkung von materialer und formaler Ursache); und als das, was dieses Handeln erreichen soll (Zielursache). Aufgabe und Funktion des Sozialarbeitshandelns sind in einen solchen Bestimmungsrahmen mit einbezogen. So eng aber, wie hier Gegenstand und Handeln der Sozialen Arbeit verschränkt sind, ist, aus wissenschaftlicher Sicht, nur eine einzige Schlussfolgerung möglich: Der Gegenstand begründet die Soziale Arbeit.
11
Hier ist nochmals an das aristotelische Wissenschaftsverständnis und die Bedeutung der Ursachenforschung bei der Qualifizierung von Wissen zu erinnern (vgl. oben 1. Kap., Abschn. 4).
12
Dazu vgl. im 5. Buch der aristotelischen Metaphysik, 1013 a 23 ff.
13
Vgl. für das Beispiel ebd., 1013 b 6 f. und 1014 a 10 f. Die üblicherweise verwendeten Bezeichnungen für die vier Ursachen kommen aus der im Mittelalter lateinisch überlieferten aristotelischen Logik.
14
Aristoteles spricht in solchem Zusammenhang auch von der Suche nach dem Prinzip (arche) als dem, woran „eine Sache zuerst erkennbar ist". Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1013 a 14.
15
Dazu Aristoteles, Metaphysik, 1013 b 4 f.: „Es folgt aber daraus, da die Ursachen in mehreren Bedeutungen ausgesagt werden, dass es von ein und demselben Ding mehrere Ursachen gibt." (Übersetzung nach Aristoteles. Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie, übers, u. hg. v. F. F. Schwarz, Stuttgart 1970, S. 113.)
Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit • 29
Der Begriindungszusammenhang ist seinerseits ein wichtiger Ansatzpunkt, wenn Soziale Arbeit selbst als Wissenschaft gezeigt werden soll. Der Gegenstand verweist zunächst auf Bestimmungsmerkmale; aus den Merkmalen aber, die Soziale Arbeit bestimmen, kann eine Definition gewonnen werden, die dann über Gegenstand und Wesen Auskunft zu geben vermag. Die Suche nach der wissenschaftlichen Definition sollte daher durchaus ernsthaft betrieben werden. Der Eindruck ist aber, dass sie, sofern sie überhaupt als solche begriffen wurde, bisher einigermaßen fruchtlos verlaufen ist. Die „neue Definition", die der Berufsverband DBSH auf seiner Intemetseite notiert, liest sich, wohlwollend gesehen, wie eine summierende Aufgabenbeschreibung; eigentlich trägt sie aber nur das Pathos der Gutmenschen nach außen, ohne dafür zwingende Gründe zu nennen. Es heißt dort: „Soziale Arbeit als Beruf fördert den sozialen Wandel und die Lösung von Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen, und sie befähigt die Menschen, in freier Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten. Gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse über menschliches Verhalten und soziale Systeme greift Soziale Arbeit dort ein, wo Menschen mit ihrer Umwelt in Interaktion treten. Grundlagen der Sozialen Arbeit sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit."16 Man muss den genannten Merkmalen nicht widersprechen, um dennoch deutlich zu machen, dass sie als Definition nicht taugen, dass dazu für sie vielmehr die Begründung anzugeben ist. Als Schritt in die richtige Richtung erweist sich eher noch die Arbeit an der Gegenstandsbestimmung; aber solange sie unsystematisch geschieht, können unterschiedliche Gegenstandsbestimmungen, auch bei noch so großem Schnittbereich, das Wesen Sozialer Arbeit nicht offenlegen. Ihr Geltungsbereich erstreckt sich bestenfalls auf ausschnitthaftes Sozialarbeitsverständnis, das sie jeweils legitimieren sollen. Aber ein Großteil der Gegenstandsarbeit vollzieht sich auch implizit, als Positionsbestimmung zwischen den Zeilen, und wäre dringend freizulegen, um die strategische Anstrengung auf eine Gesamtperspektive Sozialer Arbeit hin auszurichten. Eine Schwierigkeit ist dabei freilich zu überwinden, und die betrifft die Klärung des Erkenntnisweges, auf dem Soziale Arbeit ihre wissenschaftliche Arbeit verrichten kann. Gerade dann, wenn, wie gesehen, Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit herausragende Bestimmungsmerkmale sind und wenn alle Praxis, alle Methodik, alle Theorie davon beherrscht und durchdrungen wird, braucht Soziale Arbeit Klarheit über ihre wissenschaftliche Zugangsweise. Das gilt für sie wie für jede Wissenschaft, aber solange Wissenschaftlichkeit in der Sozialen Arbeit nur auf die Verarbeitung bezugswissenschaftlicher Beiträge bezogen wird, entsteht Verwirrung über das eigene erkenntnismethodische Vorgehen. Eine als Wissenschaft verstandene Soziale Arbeit hat dagegen auch ihre eigene wissenschaftliche Erkenntnisposition. Bestehende Unterschiede, vor allem aber Brüche und Widersprüche,
16
Vgl. http://www.dbsh.de/html/wasistsozialarbeit.html.
30 • Kriterien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft
mit der „Eigenart der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion" erklären zu wollen (von Spiegel, 2006, S. 35), greift daher zu kurz. Auch der Hinweis auf unausweichliche Ambivalenzen, denen Soziale Arbeit ausgesetzt ist (Kleve, 2005), entbindet nicht von der Suche nach profilierter und damit glaubwürdiger Erkenntnisorientierung. Insofern fordert eine unterstellte Postmodernität Sozialer Arbeit geradezu dazu auf, alles zu tun, um explizit gegen Ambivalenz zu agieren. Zwei Bezüge aber stehen im wissenschaftlichen Diskurs zur Sozialen Arbeit weiterhin unvermittelt nebeneinander. Das eine ist ein systemischer Bezug (von Spiegel, 2006, S. 26), der, in Reinform gedacht, Menschen nicht individuell, sondern über ihre Einbindung in die Funktionalität von Systemen (z. B. Familie, Schule, Arbeitsplatz, Freizeit, Gesellschaft, aber auch Werte) betrachtet. Der systemische Ansatz hat durchaus Konjunktur, erweist er sich doch, durch seine Kompetenz in der Erfassung einer Wechselwirkungsdynamik und sein Gespür für die Bedeutung struktureller Fragen, immer wieder als brauchbar, die Situation Einzelner adäquat zu erfassen (vgl. exemplarisch Miller, 2001). Das andere ist ein lebensweltlicher Bezug (von Spiegel, 2006, S. 29), bei dem, in grundsätzlich anderer Perspektive, individuelle Merkmale einer Lebens Situation betrachtet werden. Auch wenn die daraus resultierende „Lebensweltorientierung" (vgl. Thiersch, 2005) als ein umgrenzter Erkenntnisrahmen zur Erfassung „subjektiver Verständnis- und Bewältigungsmuster" (ebd., S. 47) aufzunehmen ist, können doch verschiedene methodische Ansätze damit in Verbindung gesehen werden, die sich ebenfalls am individuellen Bezugsrahmen orientieren. Man könnte es so verstehen: Soziale Arbeit hat zwei Pole der Orientierung, den Einzelnen und die Gesellschaft, und das spiegelt sich auch in ihrer Erkenntnishaltung wider. Die Lebensweltorientierung, mit dem Fokus des „gelingenderen Alltags" (Thiersch) oder auch der „Hilfe zur Lebensbewältigung" (Böhnisch), sucht den Einzelnen in seiner Alltags er fahrung auf. Das Motiv einer „Hilfe zur Selbsthilfe" wird zum Leitmotiv, in das nicht zuletzt auch an der individuellen Lebenssituation ansetzende Empowermentprozesse mit einbezogen werden können. 17 Mit dem „systemtheoretischen Paradigma" (Miller, 2001, S. 26) andererseits wird es möglich, gesellschaftliche Mechanismen, vor allem solche der Inklusion und der Exklusion, zu betrachten und entsprechende Unterstützungsarbeit zu konzipieren (ebd., S. 101). Gemeinwesenarbeit kommt hierbei ebenso zum Tragen wie engere, individuelle Zuschnitte, wenn der Systemrahmen entsprechend begrenzt wird. Über den Subsidiaritätsgedanken 18 bleibt das Motiv der Hilfe zur Selbsthilfe wirksam.
17
Durch Empowerment angeleitete Soziale Arbeit greift, diesseits einer ausgesprochenen Lebensweltorientierung, psychosoziale Konfliktlagen auf und strebt über eine „Stärkung von Eigenmacht" Selbsthilfefahigkeit an (Herriger, 2006, S. 20). Zur Wahrnehmung der Empowermentarbeit als Hilfe zur Selbsthilfe s. a. Grunwald/Thiersch, 2004, S. 34.
18
Der Subsidiaritätsgedanke als Sozialprinzip bedarf hier im Grunde nicht der Erläuterung. Es soll weiter unten aber noch deutlich werden, inwieweit er als ein Bestimmungsmerkmal Sozialer Arbeit anzusehen ist (vgl. Kap. 5, Abschn. 2).
Soziale Arbeit als Begriff • 31
Nicht einfach nun, weil die beiden Pole der sozialarbeiterischen Aufmerksamkeit in Erkenntnishaltungen vertreten sind, sondern speziell, weil sie sich in diesen ansatzweise verschränken, lässt sich sagen, dass die bisherige Theoriearbeit ein wichtiges Etappenziel erreicht hat. Wesentliche Erkenntniszugänge sind benannt und reflektiert; die Basis für weiter gehende Konstruktionen ist gefunden. So demonstrieren systemische Herangehensweisen in der Sozialen Arbeit sozialarbeitstypische Handlungsprofile, die sich der Besonderheit einer Lebensituation nicht verschließen.19 Und umgekehrt integriert lebensweltbezogenes Vorgehen auch Erkenntniskategorien, die sich auf strukturelle Zusammenhänge und deren Wirkung beziehen.20 Das ändert vorläufig nichts daran, dass beide Zugänge nicht vermittelt sind; aber es zeigt, in welche Richtung weiter zu gehen ist.
4 Soziale Arbeit als Begriff
Es könnte ein Ziel sein, darüber nachzudenken, ob nicht in einer Verschränkung von systemischer Denkweise und Lebensweltansatz der Erkenntniszugang für die Soziale Arbeit zu gewinnen ist. Das würde bedeuten, über Gemeinsamkeiten ein Grundanliegen herauszuarbeiten und das Erkenntnisinteresse Sozialer Arbeit von daher bestimmt zu sehen; das würde aber auch bedeuten, beide Ansätze in ihrer exkludierenden Form aufzugeben, sodass es weder den einen noch den anderen gäbe. Der jeweils paradigmatische Bezug zur Systemtheorie und zum Lebensweltgedanken ginge erst einmal verloren. Ein anderer Ansatz wäre, ein Kriterium zu schaffen, mit dessen Hilfe überprüft werden könnte, was an systemischer und was an personbezogener Denkweise für das oder die Anliegen der Sozialen Arbeit hilfreich ist; und mehr noch: ob die beiden genannten Verständniszugänge überhaupt die einzigen sind, die in Frage kommen. Dazu soll nun eine Überlegung dienen, die Soziale Arbeit nach den systematischen Gesichtspunkten des wissenschaftlichen Begriffs aufnimmt. Ein solcher Begriff wäre mehr als nur eine Annäherung; mit ihm könnten Aspekte und Merkmale Sozialer Arbeit, die ansonsten allenfalls dem Dafürhalten nach zu Bedeutung gelangen, in einem logisch plausiblen Zusammenhang geordnet und gewichtet werden. Darüber hinaus demonstriert der Begriff Soziale Arbeit als einen Sachverhalt, der nicht in der Erfahrung, sondern im Denken seine Gestalt erlangt. Der begriffliche Ordnungsansatz ist im Grunde schlüssig: Es geht darum, für den betrachteten Sachverhalt Form und Inhalt zu unterschieden und, drittens, das Merkmal zu benennen, das Form und Inhalt verbindet. Wollte man beispielsweise
19
Das trifft in herausragender Weise auf denpro^essual-systemischen Ansat^yon Silvia Staub-Bernasconi zu. Als Beispiel kann das methodische Element der „Problemkarte" dienen (Staub-Bernasconi, 1998, S. 73), über das jener Einblick in individuelle Erfordernisse erlaubt.
20
Das zeigt sich auch im methodischen Vorgehen des Empowerment, wo „ziviles Engagement" zu einer Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen fuhren soll; vgl. dazu bei Herriger, 2006, S. 150 ff.
32 • Kriterien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft
einen bestimmten Kuchen, etwa einen Gugelhupf, als so einen Sachverhalt betrachten, so zeigen sich Backform, Kuchenteig und schließlich das Backen im Ofen als die begrifflichen Bestimmungsmerkmale. Auf ein abstrakteres, aber nicht weniger evidentes Beispiel bezogen, zeigt sich nichts anderes: So liegt etwa bei der Freundschaft die Form in der Beziehung (zwischen zwei Menschen), der Inhalt in deren Qualität (für die Vertrauen prägendes Kennzeichen ist) und die Verbindung von Form und Inhalt — das, was die Freundschaft letztlich ausmacht - in den gemeinsam gemachten Erfahrungen der beteiligten Personen. Man könnte den B e g r i f f , besonders bei weniger evidenten Sachverhalten, auch als Vehikel für die wissenschaftliche Orientierung ansehen, der vor allem eines signalisiert werden soll: Mehr braucht es nicht, um wirklich zu verstehen, worum es geht. Ein solches Denken in Begriffen geht der Sache nach ebenfalls auf Aristoteles zurück. Aber es hat im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neue Aus formung gefunden und ist als Haltung auch in das Alltagswissen eingedrungen. „Kinder brauchen Grenzen!"— „Ja, aber die müssen durch eigenes Vorbild vermittelt werden!"— So oder ähnlich laufen Gespräche derer, die sich um plausibles Erziehungsverhalten bemühen. Erziehungswissenschaft vertieft die Ansatzpunkte und kommt über genau dieselbe Differenzierung nach Form und Inhalt zu ihren Aussagen. 21 Man könnte, in einer Diktion, die G. W. Leibniz (1646-1716) geprägt hat, von der notwendigen Bedingung für die Form und der hinreichenden Bedingung für den Inhalt sprechen. In moderner logischer Diktion stehen dafür Wörter wie Strukturprinzip (Form) und Identifikationsmerkmal (Inhalt). Das bedeutet: Notwendige Bedingung und Strukturprinzip bezeichnen den Aspekt eines Sachverhalts, ohne den von ihm mutmaßlich gar nicht zu reden ist (etwa so: „ Wer Kindern keine Grenzen set^t, praktiziert keine Erziehung!"); hinreichende Bedingung und Identifikationsmerkmal zielen dagegen auf die Sinndimension eines Sachverhalts, von der her weitere Festlegungen zur formalen Bestimmung begründet sind (hierzu das Argument: „Ohne authentisches Vorbildverhalten werden Gren^set%ungen unglaubwürdig"). In Anlehnung an die Hegeische Logik ist darüber hinaus davon auszugehen, dass im Begriff Leben und Wahrheit der gesuchten Sache erfasst werden (vgl. Schumacher, 2003, S. 6). Für eine Betrachtung Sozialer Arbeit als Begriff genügt hier eine Skizze.22 Darin unterscheide ich Soziale Arbeit gemäß ihrem Sein, ihrem Wesen und ihrem Tun. Das sind genau die genannten drei Merkmale, die zum Begriff zusammengehen: (1) jenes, mit dem von Sozialer Arbeit notwendig zu reden ist (und ohne das etwas wie Soziale Arbeit überflüssig wäre); (2) jenes, das Sozialer Arbeit Sinn verleiht (und
21
Zugleich kann man sehen, warum ein ErziehungsVerständnis letztlich so mehrdeutig ist: Einerseits hängt viel schon an der formalen Bestimmung: Statt „Kinder brauchen Grenzen" könnte es ebenso heißen: „Kinder setzen sich ihre Grenzen selbst" oder auch: „Kinder brauchen Unterstützung, um Entwicklungsaufgaben zu bewältigen"; andererseits ist für den Begriff die Verbindung von Form und Inhalt entscheidend, d. h. die Art und Weise der Umsetzung, zu der nicht zuletzt die konkrete Bezugnahme auf die Persönlichkeit eines Kindes gehört.
22
Meine Argumente habe ich an anderer Stelle (vgl. Schumacher, 2003) ausführlicher dargelegt.
Soziale Arbeit als Begriff • 33
ohne das sich Soziale Arbeit in die Beliebigkeit verlöre); und schließlich (3) jenes, das Notwendigkeit und Sinn Sozialer Arbeit in deren Praxis verbunden zeigt. Die Merkmale beziehen sich auf ein Vorverständnis, das — wie übrigens bei jedem Begriff — Bezugspunkt der wissenschaftlichen Annäherung ist. Im Falle der Sozialen Arbeit ist dies die Fesüegung, dass sie ein gesellschaftliches Instrument ist. Das Sein Sozialer Arbeit Notwendig zu reden ist von Sozialer Arbeit dann, wenn klar ist, dass eine Gesellschaft auf sie als Instrument nicht verzichten kann. Hier geht es um das Theorieverständnis, das Soziale Arbeit befähigt, gesellschaftliche Lebenspraxis zu begreifen und zu gestalten. Wenn die Gesellschaft von Sozialer Arbeit nicht nur profitiert, sondern zugleich durch diese und in dieser lebendig wird — zu denken ist an ein Sozialarbeitsverständnis im Sinne Wolf Rainer Wendts, der diese Aufgabe von allen möglichen gesellschaftlichen Gruppen wahrgenommen sieht und der beruflichen Sozialen Arbeit die Aufgabe der „Wahrung des Sozialen in Zeiten seines Verschwindens" zuspricht (Wendt, 1995c, S. 160) — dann wird Soziale Arbeit notwendig, dann erhält sie ihr Sein. Das Wesen Sozialer Arbeit Ihr Wesen erhält Soziale Arbeit durch die sie prägenden Anliegen. Hier ist es richtig, darauf zu achten, dass Soziale Arbeit wesentlich das Lösen sozialer Probleme im Blick hat; doch begegnet darin nur die Außenseite ihres Wesens: dessen Innenseite zeigt sich über ein Selbstverständnis, das als die Grundlage für das problemlösende Handeln anzusehen ist und diesem den Sinn verleiht, nämlich das Bestreben, Benachteiligung zu beseitigen, mit einer Orientierung am Ziel der sozialen Gerechtigkeit (dazu vgl. auch Berger, 2001, S. 68). Zum Wesen Sozialer Arbeit gehören ihre ethischen Prinzipien. Das Eintreten für die Menschenwürde, gegen Diskriminierung, die Unterstützung Schwacher, Ausgegrenzter, deren Schutz und Vertretung — diese und weitere ethische Anliegen zeigen schließlich das Wesen des gesellschaftlichen Instruments Soziale Arbeit in deren Hinwendung zum Menschen. Das Tun Sozialer Arbeit Soziale Arbeit wird als Teil der Infrastruktur der Gesellschaft (und eigentlich jeder Gesellschaft) erkennbar. Sie bewirkt durch ihr Denken und Handeln einerseits eine Spiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse, andererseits ein Verstehen menschlicher Lebenswirklichkeit; vor allem aber — hier liegt das besondere Vermittlungsgeschehen — bewirkt sie, soweit ihre Kompetenzen reichen, gesellschaftliche Integration. Dieser Handlungsrahmen prägt das Tun Sozialer Arbeit. Ihn zu erfassen und sinnvoll auszuweiten, ist Aufgabe und Bestimmungsgrund von Wissenschaft in der Sozialen Arbeit. Deren Tun, in seiner Bedeutung erkannt, wird so optimiert und handlungsleitend auch für die Weiterentwicklung des Berufsstandes. An ihrer Fähigkeit zum Integrationshandeln wird damit auch die Professionalität Sozialer Arbeit gemessen und ihre gesellschaftliche Wertschätzung grundgelegt.
34 • Kriterien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft
Im gezeigten Begriff sind im wesentlichen die Gesichtspunkte eingeordnet, die auch ansonsten zu den herausragenden Kennzeichen Sozialer Arbeit gerechnet werden. Das sind hier: • die Doppelbindung an Individuum und Gemeinschaft • die gesellschaftliche Funktion • das Merkmal problemlösenden Handelns • die Verpflichtung auf eine Ethik Zusammen mit der Bezogenheit sozialarbeiterischer Theorie, Methode und Praxis auf wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnis gehört der Begriff damit zu den Kriterien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft. Ein deskriptives, phänomenologisches Vorgehen findet, wenn man so will, in ihm seinen verstehenden Zielpunkt. Zugleich formt der Begriff Soziale Arbeit zur wissenschaftlichen Disziplin, da er die Leitlinien des Denkens vorgibt, denen im Rahmen logikgebundener Systematik zu folgen ist.
5 Folgen für die Theoriediskussion Das gezeigte begriffliche Verständnis Sozialer Arbeit hat Folgen für die Theoriediskussion, in die es ordnend eingreift. Für drei Bereiche ergeben sich unmittelbar konstruktive Impulse. Das gilt zum ersten für die Frage nach der paradigmatischen Ausrichtung. Lebensweltbezug wie auch Systemtheorie haben Denken und Handeln in der Sozialen Arbeit vorangebracht; jedoch werfen sie gemeinsam eine Schwierigkeit auf: Menschen hier als Subjekte ihrer eigenen Lebensituation, dort als Rollenträger unter dem Einfluss systemischer Dynamik zu sehen, geht nicht reibungslos zusammen. Die schon angesprochene und angedeutete Verschränkung der beiden Ansätze unterstreicht die Notwendigkeit, zu einem einheitlichen Deutungsmuster zu gelangen, das Sozialarbeitshandeln identifizierbar macht. Es ist das Bild vom Menschen, über das zu reden ist: vom Menschen als Individuum und vom Menschen als Mitglied von Gemeinschaft. Es gibt keinen Anlass, daraus mehrere gültige Denkweisen abzuleiten; vielmehr ist auf den einen Träger dieser beiden Bestimmungen zu achten, die auf diese Weise in der Sozialen Arbeit dazu auffordern, sich um ein integratives Theoriekonzept zu bemühen. Als integrative Soziale Arbeit könnte ein solcher Ansatz Akzente setzen und ein Erkenntnissystem zum Tragen bringen, das personale, funktionale und kollektive Deutungszugänge zugleich eröffnet. 23
23
In einer Verschränkung systemischer und lebensweltlicher Momente in einer integrativen Theorie Sozialer Arbeit wären auch die beiden „Fallen" umgehen, die Miller (2001, S. 236) für das „systemische Paradigma" sieht: zum einen, Menschen nur noch als Opfer von Systemen wahrzunehmen („Entpersonifizierungsfalle"), zum andern, gültige Lebenswirklichkeiten in konstruktivistischer Relativität zu verlieren („Egalisierungsfalle"). Vgl. weitere Überlegungen dazu unten in Kap. 14, Abschn. 4.
Folgen für die Theoriediskussion • 35
Eine Überarbeitung und Harmonisierung der paradigmatischen Vielfalt bestehender Theorieansätze (dazu Erler, 2004, S. 118 ff.) ist darüber hinaus auch deswegen angezeigt, weil der dargelegte Begriff Sozialer Arbeit deren ethische Fundierung anmahnt. Konstruktive Beiträge in diese Richtung gibt es, aber sie kommen unbestimmt und wenig nachhaltig. Lebensweltlich gedacht, geht der ethische Blick vor allem auf „widersprüchliches, unübersichtliches Gelände" (Thiersch, 1995, S. 221). Ethik verliert sich, wenn man so will, im Einzelfall. Hans Thiersch etwa plädiert für eine „moralisch inspirierte Kasuistik"; aber mehr, als dass es dabei um „Entscheidungen zwischen gut und böse" und letztlich um einen „aspektreichen Prozeß" geht, wird nicht deutlich.24 Noch weniger an ethischer Orientierung ist von der Systemtheorie zu erwarten. Systeme haben Sinn und Funktion, aber sie haben keine Moral. Moral ist vielmehr selbst ein System, das Sinn und Funktion hat. Normative Wertsetzungen — freilich gibt es sie — bleiben unverbindlich und mit der Funktionalität des Systems, auf das sie sich beziehen, veränderbar. Eine Soziale Arbeit, die hier lebensweltlich, dort systemisch denkt, findet weder in der Vereinzelung menschlicher Lebenssituationen, noch in der Dynamik des gesellschaftlichen Ganzen einen tragfahigen ethischen Haltepunkt. Entsprechend wenig Raum nimmt das Ethikthema in den betreffenden Theorieüberlegungen dann auch ein. Systematisierende Beiträge kommen eher aus sozialphilosophischen oder theologischen Kontexten, mithin aus anderen wissenschaftlichen Bezügen, die es allerdings jeweils erlauben, über ethische Verbindlichkeiten zu reflektieren. In den Sozialarbeitskontext sind sie damit freilich noch lange nicht eingeordnet. Das gilt für Konzeptentwürfe von Wolfgang Schlüter (1995) bis zu Christa Schnabl (2005). Hier wäre also eine Brücke zu bauen und paradigmatische Klärung über ein Theoriekonzept, das den Lebensweltgedanken und eine systemische Betrachtungsweise integriert und zugleich den Wertebezug Sozialer Arbeit wissenschaftlich zu rechtfertigen vermag, herbeizuführen. Der zweite der angesprochenen Impulse betrifft die Erkenntnisgewinnung. Verschiedene wissenschaftliche Erkenntniswege sind oben deutlich geworden (Kap. 1, Abschn. 5); für die Soziale Arbeit stellt sich die Wahrheitsfrage. Im Grunde ist die Lage verzwickt. Traditionell wird von realen Handlungssituationen ausgegangen. Die Existenz von Menschen, von sozialen Bezügen, von sozialen Problemen und von zugehörigen Umweltbedingungen wird vorausgesetzt. Daran knüpfen normative Überlegungen an, die sich auf „Erfahrungswerte" stützen. Der Einsatz wissenschaftlicher Erkenntnismethoden suggeriert, in wiederum traditionellem Wissenschaftsverständnis, dass Realitäten, die ja da sind, mit einem entsprechenden 24
Vgl. zum Gedanken einer „moralisch inspirierten Kasuistik" bei Thiersch, 1995, S. 23. Die Darlegung in seinen Beiträgen %ur moralischen Orientierung Sosgaler Arbeit hat vor allem ein Thema: seine Vergesellschaftung zieht den Menschen in Individualisierungsprozesse, die zur „Erosion" von tradierten Wertebezügen führen (ebd., S. 227); entsprechend gilt es, die Bedeutung von Gerechtigkeits- und Sinnaspekten in einer derart widersprüchlichen gesellschaftlichen Realität bewusst zu halten. Eine Umsetzung - das eben bringt die Lebensweltorientierung mit sich - gelingt freilich immer nur in Anbetracht des Einzelfalls.
36 • Kriterien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft
Aufwand auch erkannt werden können. Das ist ohne Frage dem Wahrheitsbedarf Sozialer Arbeit geschuldet, der entsteht, wenn möglichst treffsicher und möglichst zuverlässig und nachhaltig gehandelt werden soll. Der oben dargestellte Begriff zur Sozialen Arbeit unterstreicht in seinen bestimmenden Merkmalen ein solches Verständnis. Aber es gibt Anlass zur Vorsicht, weil die moderne Erkenntniskritik, wenn überhaupt, Wahrheit mehrdeutig nur für greifbar hält und weil dabei eine fundamentale Skepsis ernst zu nehmend jeden Wahrheitsanspruch relativiert. Im Spektrum der wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten muss die Soziale Arbeit ihre Position beziehen. Erste Ansätze gibt es auch hier, aber auch wenn, in konsequenter Auslegung menschlicher Subjektivität, vornehmlich die konstruktivistische Variante in Betracht gezogen wird, im Lebensweltbezug (vgl. Stickelmann, 2000) ebenso wie im systemtheoretischen Ansatz (dazu Miller, 2001, S. 65), zeigt sich doch, dass für das Wissen dennoch belastbare Daten gesucht werden. Das bedeutet wiederum, dass gerade nicht nach konstruierter, sondern nach „echter" Wirklichkeit gefragt wird. Etwas anderes wäre einer Rechenschaft erwartenden Öffentlichkeit auch nicht zu vermitteln. So ist ebenso in Hinblick auf die Erkenntnissituation der ordnende Weg weiter zu gehen. Auch hier sind unterschiedliche Denkansätze zu überbrücken und gemeinsam für das Sozialarbeitsanliegen nutzbar zu machen. Paradigmatische Eckpunkte, wenn sie, wie oben beschrieben, gewonnen werden können, werden dabei hilfreich sein. Der dritte Impuls schließlich gilt der Suche nach Gegenstand und Definition. Mit dem Begriff ist ein wichtiger Schritt getan; Gegenstand und Definition Sozialer Arbeit scheinen auf. Es hat sich aber auch gezeigt, dass unterschiedliche Näherungsweisen an den Gegenstand möglich sind. Diese sind zu beachten und in einer systematischen Vorgehensweise zu einer Gegenstandsbestimmung zu fügen, die alle Anliegen, alle Aufgaben, alle Möglichkeiten und alle Visionen Sozialer Arbeit trägt. Auf der anderen Seite ist auch die Definition noch offen: Sie wird Begriff und Gegenstand umfassen müssen, und sie wird Soziale Arbeit als Subjekt und als Objekt von Wissenschaft demonstrabel zu machen haben. Die drei beschriebenen Impulse wirken auf die Theoriearbeit. Vor allem die angezeigten Überlegungen zu einer integrativen Sozialen Arbeit sollten im Sinne eines erhellenden Sozialarbeitsverständnisses weiter fortgeführt werden. Das freilich muss, in Nutzung der hier vorgestellten Ansatzpunkte und ihrem Fokus Ethik und Wissenschaftlichkeit, als ein eigenes Projekt verstanden werden. Die angeregten paradigmatischen Überlegungen sind im Blick zu behalten, wo es um die Wissenschaftsfähigkeit Sozialer Arbeit geht, richten sich aber auch auf Theorieansätze, die an Erkenntnisargumente gebunden werden. Die entsprechende Diskussion wird hier gleich aufzugreifen sein. Gegenstand und Definition schließlich sind die Bestimmungsund Deutungskategorien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft. Entsprechend begleiten sie auch hier die weitere Betrachtung.
Zusammenfassung • 37
6 Zusammenfassung Soziale Arbeit lässt ihre wissenschaftliche Kompetenz über ihre Theoriearbeit und nicht zuletzt in ihrem Bemühen um eine Gegenstandsbestimmung erkennen. Allerdings tritt sie dabei auch auf der Stelle. Der über Jahrzehnte vorangetriebene Klärungsprozess birgt weiterhin Polarisierungspotential. Vollkommen geklärt ist, so möchte man meinen, in der Sozialen Arbeit bislang nichts. Unterschiedliche Zugangsweisen favorisieren hier eine am Individuum orientierte Kausalität, mit der Person als Maßstab, dort ein systemisches Denkschema, das um die Bedeutung von Individualität weiß, aber Mechanismen anders sieht und wertet. Personorientierung und ein systemisches Verständnis der sozialen Zusammenhänge existieren nebeneinander und zeigen die eine oder andere Verschränkung. Aber sie wirken weiter als Konkurrenzmodelle, betonen die alten „Bruchlinien" zwischen sozialarbeitlichem und sozialpädagogischem Verständnis (vgl. Konrad/Sollfrank, 2000, S. 99) und stützen letztlich jenen allgemeinen Skeptizismus, der Sozialer Arbeit, und zwar im Kontrast zu formulierten Ansprüchen, immer weniger zutraut. Eine Besinnung auf die wissenschaftliche Qualität, die in den Theorieanstrengungen und besonders auch im selbstkritischen Diskurs zum Ausdruck kommt, kann Abhilfe schaffen: Ansprüche, begründet formuliert, sind legitim; pauschale Zweifel zeugen allenfalls von geringer Reflexionsbereitschaft. Und weiter: Sozialarbeitliches und sozialpädagogisches Verständnis fließen zusammen; Zweigleisigkeit verzögert den Klärungsprozess. Und schließlich: Die Konkurrenz der Erkenntnismodelle trägt Soziale Arbeit weiter in ihrem Bestreben, zu einer eigenen wissenschaftlichen Erkenntnishaltung zu gelangen, die Grundanliegen und Gegenstand zum Vorschein bringt. Vielfalt ist hierbei kein Hindernis. Es gibt sie in der Wissenschaft seit jeher. Wichtig ist allerdings der zentrale Bezugsrahmen — Aristoteles würde sagen: das Prinzip —, von dem entscheidend die Gestaltungskraft ausgeht. Über die ordnende Funktionsweise des Begriffs ist die Soziale Arbeit als ein notwendiges, sinnorientiertes Handeln zu erhellen, dessen Dienste im Gesellschaftsverständnis strukturell verankert sind. Akzente, die der Begriff setzt, gehören zu den Kriterien einer Sozialen Arbeit als Wissenschaft. Namentlich die Einbindung ethischer Bezugspunkte prägt solche Wissenschaftlichkeit und stützt sie, wenn sie ihre Kraft im Zusammenspiel von Theorie und Praxis entfaltet.
3. Kapitel Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit 1 Wissengestütztes Handeln Eine Soziale Arbeit, die sich der Bedeutung des Wissens als Instrument ihres Handelns bewusst ist, beginnt ein Verständnis von Theorie und Praxis zu entwickeln. Dieses Verständnis überwindet bereits den landläufigen Antagonismus, nach dem Theorie und Praxis gerne als gegeneinander abgegrenzte Bereiche gesehen werden. Vielmehr wird deutlich, dass Praxis nicht beliebig für jede Verrichtung steht, sondern als Begriff bereits einen geordneten Wissensbezug umfasst. Eine Einlassung Kants dazu hat weiter oben (Kap. 1, Abschn. 2) diesen Zusammenhang erhellt und entsprechend nahegelegt, dass Handeln und Wissen in der Sozialen Arbeit zusammengehören und gemeinsam Praxis ausprägen. Man könnte es auch so formulieren: Praxis ist wissengestütztes Handeln. Die Wissensbildung in der Sozialen Arbeit geschieht — auch das ist deutlich geworden — stringent und steht ganz im Dienst des Handlungsanliegens. Eine tragende Rolle übernimmt dabei nicht nur bezugswissenschaftliches Wissen, sondern auch die handlungsbezogene Reflexion, mit deren Hilfe es überhaupt erst möglich wird, Sozialer Arbeit Handlungsinhalte und -ziele spezifisch zuzuweisen. Das Bemühen um Wissen als Kennzeichen von Praxis: damit legitimiert sich Soziale Arbeit elementar als berufliches Handeln, denn sobald verbindliche Handlungsziele benannt werden können, geht es um die Qualität des dorthin führenden Weges; und die ist durch einen konstitutiven Wissensbestand verbürgt. Manche öffentliche Wahrnehmung sozialarbeiterischen Tuns mag Zweifel wecken und den Eindruck „laienhafter" Handlungsweisen bestärken (vgl. B. Müller, 2000a); genaueres Hinsehen zeigt den Wert, den Selbstkritik und Evaluationsprozesse für die Verbesserung sozialarbeiterischer Praxis haben. Und es ist genau diese Fähigkeit, das eigene Handeln zu generieren und schließlich auch zu verantworten, das Sozialarbeitsschaffen professionalisiert und als Beruf ausweist. Die Systematisierung des beruflich relevanten Wissens ist ein weiteres Kennzeichen der Praxis Sozialer Arbeit. Beides, Wissensbildung und -systematisierung, bereiten den Weg in die Theorie. Aber wenn es auch den Anschein hat, dass Soziale Arbeit als Praxis einen Theoriebedarf erzeugt, ist damit ein Verhältnis von Theorie und Praxis noch in keiner Weise grundgelegt. Hier gilt folgende Einschätzung: Einem Handeln, das Anspruch auf Gelingen anmeldet, Aufmerksamkeit und Denken anzuempfehlen, ist eine wenig spektakuläre, fast triviale Angelegenheit. Zwar macht es einen Unterschied, ob das Selbstverständliche einfach geschieht, oder ob es transparent und bewusst gehalten wird — in der aristotelischen Diktion
40 • Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit
war genau das der Übergang vom Wissen aus Erfahrung zu begründetem Können1 —; aber auch wenn das einen immanenten Theoriebezug von Praxis und vielleicht auch eine allgemein gegebene Praxisrelevanz von Theorie indiziert: wissensgebundene Praxis produziert nicht automatisch Theorie, sondern ist dazu auf besondere Erkenntnisprozesse angewiesen. Hier liegt die eigentliche Schwierigkeit bei der Begegnung von Theorie und Praxis: Während Praxis durch Theorie immer nur zu profitieren und einen Theoriebezug gleichsam wesenhaft in sich zu tragen scheint — das war der Ausgangsgedanke Kants —, sperrt sich Theorie gegen die Umkehrung dieser Aussage. Es gibt so etwas wie reine, sich selbst genügende Theorie, die auf Praxis nicht angewiesen scheint. Es handelt sich dabei um eine Eigenart des reflexiven Denkens, um Denken, das, mit Aristoteles zu sprechen, sich selber denkt? Diese Option des menschlichen Intellekts ermöglicht Wissenschaft. Eine generelle, fest gefügte TheoriePraxis-Verbindung gerät dadurch allerdings in Zweifel. Der Befund hat Menschen zu allen Zeiten irritiert. Von den sophistischen Einwänden, denen sich Sokrates ausgesetzt sah, bis hin zur metaphysikkritischen Haltung Nietzsches und noch darüber hinaus reicht die Sorge, dass Theorie am Leben vorbeizielt. Es gibt die einschlägigen Gegenargumente,3 doch eben auch die mannigfache Erfahrung, dass Theorie auch funktioniert, wenn sie die Praxis unbeachtet lässt. Das führt geradewegs in die Diskussion um die Verantwortung von Wissenschaft für die Nutzung ihrer Erkenntnisse, zugespitzt auch zur Frage nach der Freiheit von Wissenschaft.4 Aber das Misstrauen gegenüber Theorie, die nur sich selber braucht, nährt auch Zweifel, ob sie zu konstruktiven Beiträge für die Praxis überhaupt in der Lage ist. Praxis braucht Theorie, das steht außer Frage; aber kann diese auch leisten, was man sich in der Praxis von ihr erhofft? Auch in der Sozialen Arbeit ist das Verhältnis von Theorie und Praxis von entsprechender Ambivalenz.5 Der Schritt von der Praxis zur Ausbildung eines einschlägigen Berufswissens, inklusive dessen wissenschaftlicher Vertiefung, wird zwar allgemein vollzogen. Aber ob und inwieweit Soziale Arbeit daraus (oder 1 2
Vgl. oben, Kap. 1, Abschn. 4, zum aristotelischen Wissensmodell. Aristoteles markiert hier die Spitze seiner Metaphysik, indem als „Denken des Denkens" (voiioecog vör)Oii;) die reine, geistige Tätigkeit Gottes offenlegt und zugleich deutlich macht, dass dergleichen punktuell auch dem Menschen gelingen kann. Vgl. im 12. Buch der Metaphysik, 1074 b 33 f. und 1075 a 7 ff.
3
Die älteste bekannte Problematisierung mit Gegenargumentation zeigt sich im Rahmen der überlieferten Berichte über Thaies von Milet (um 600 v. Chr.), den durch Aristoteles bezeugten „Urheber" von Philosophie. Da gibt es die bekannte Geschichte, dass Thaies mit Blick auf „die Dinge im Himmel" in eine Mistgrube gefallen ist, die direkt vor ihm lag - zur Erheiterung des Dienstpersonals (vgl. Fr. A 9 DK); aber es wird auch die Episode berichtet, bei der Thaies, weil er durch seine astronomischen Beobachtungen eine überdurchschnittliche Olivenernte erwartete, alle Ölpressen in Milet mietete, ohne dass andere daran sonderliches Interesse zeigten, und, als seine Erwartung zutraf, „viel Geld" verdiente (vgl. Fr. A 10 DK).
4
Vgl. diese Fragestellung bei Jonas, Hans: Wissenschaft und Forschungsfreiheit. Ist erlaubt, was machbar ist?, in: Wissenschaft und Ethik, hg. v. H. Lenk, Stuttgart 1991, S. 193-214. Siehe die gängigen Aspekte auch bei Mühlum, 2004a, S. 127.
5
Theoriegestütztes Handeln • 41
woraus auch immer) zu einer eigenen Theorie gelangen kann, ist bei den Akteuren umstritten. Vor allem seitens der Praktiker gibt es Skepsis in gewohnter Art: konkretes Wissen, das Handeln ermöglicht: ja\ abstrahierende Theorie, die, so die Befürchtung, zum Abheben neigt: nein.6 Theoretiker wiederum kennen die Bedenken und mühen sich, wenn, dann Praxis zu denken. Das führt, in einer einseitigen Theorie-Praxis-Bestimmung, zumeist zu einem Theorieverständnis mit ausgesprochenem Praxiszuschnitt, das vermehrt auf methodische und weniger auf reflexive oder gar spekulative Elemente setzt. Im Grunde ist damit auch gar kein weiterer Schritt in die Theoriearbeit hinein vollzogen, sondern lediglich die Auffassung gespiegelt, dass Soziale Arbeit als Beruf Praxis ist, die durch Wissen gestützt, durch Theorie aber irritiert wird.
2 Theoriegestütztes Handeln Die Sozialarbeitspraxis nähert sich mit ihrem Wissensbedarf an das Theoriethema an. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es einen geraden Weg vom Wissen in die Theorie gibt. Der aber ist nun genauer zu betrachten, um nachvollziehen zu können, welchen Raum sich Theorie, bei aller Skepsis, zu erschließen vermag und wie ihr besonderer Beitrag für das berufliche Handeln zu verstehen ist. Der wissenschaftlich disziplinierte Blick darauf erscheint geboten, wenn ein tragfahiges Theorieverständnis gefunden werden soll, das Ansatzpunkte bündelt, statt zerstreut. Bislang ist das nicht gelungen, und darin liegt mit ein Grund auch für die Zurückhaltung seitens der Praxis, Handeln durch Theorie bestimmen zu lassen. Die Diskussion um Für und Wider und um Inhalte sozialarbeiterischer Theorie mag für einen oberflächlichen Beobachter das Bild redlichen wissenschaftlichen Diskurses abgeben. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber ein Manko, das einen solchen Anspruch in Frage stellt: Was Theorie in der Sozialen Arbeit heißen soll, wird nicht analysiert. Dagegen wird, in einem ahnungsvoll der Rolle des Wissens verpflichteten diffusen Theorie-Praxis-Befund, irgendein Verständnis gesetzt, um der Gefahr aus dem Weg zu gehen, in einem Bekenntnis zur Theorie am Ende die Praxis und damit die eigentliche Bestimmung Sozialer Arbeit zu verlieren.7 Die Gefahr besteht, aber eben nur solange, wie ein wissenschaftliches Theorieverständnis nicht zu einem schlüssigen Theorie-Praxis-Verhältnis weiterentwickelt wird. Statt von Theorie ist aber zumeist von Theorien die Rede, die in ihrem Nachund Nebeneinander es offenbar rechtfertigen, völlig unterschiedliche Zuschnitte als
6
Vgl. kritisch dazu Engelke (2004, S. 449), dem Theoretiker und Praktiker hier anmuten wie „ein Schachspieler und ein Damespieler", die „gegeneinander an einem Brett nach ihren eigenen Regeln" spielen.
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Vgl. zum „Theorie-Praxis-Problem" und seinen „schädlichen Folgen" bei Pfaffenberger, 2001, S. 15.
42 • Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit
Panoptikum für ein Sozialarbeitsverständnis hinzunehmen. 8 Wohin das führen kann, zeigt sich bei Ernst Engelke, der in deskriptiver Absicht auch sozialdarwinistische Denkweisen im nationalsozialistischen Deutschland in den Theoriekontext mit einreiht (2002, S. 238 ff.) und Adolf Hitlers Mein Kampfins wissenschaftliche Literaturverzeichnis aufnimmt (ebd., S. 387).9 Dergleichen mag für ein historisierendes und kann aber schon kaum mehr für ein historisches, geschweige denn für ein systematisches Interesse an der Aufdeckung des Theorie-Praxis-Bezugs in der Sozialen Arbeit stehen. Der Plural unterstellt einen Singular, über den merkwürdigerweise nicht nachgedacht wird, obwohl er diametral verschiedene Ausformungen hervorzubringen scheint. Engelkes Versuch, auch die Zeit zwischen 1933 und 1945 mit einzubeziehen, ist verständlich; aber auch wenn man diese Zeit ausklammert, zeigen die diversen Theorievergleiche eben vor allem eines: Unterschiedlichkeit. Wenn in solchem Kontext Theorie für sich bedacht wird, geht es dementsprechend in aller Regel um Denkfiguren, Erklärungsansätze, Konzepte. Und wenn dabei schließlich konkurrierende Modelle in Erscheinung treten, ist die Notwendigkeit eines Klärungsprozesses offensichtlich, der allein es Sozialer Arbeit erlauben würde, ihre Theorie zu reklamieren. Auf eine zweite Unschärfe im gängigen Theorieverständnis ist hinzuweisen: Allzu schnell wird Theorie mit Wissenschaft gleichgesetzt, aus ähnlicher Verlegenheit heraus, wie oben angezeigt, doch mit der Konsequenz, dass Theorie vollends in die Selbstbestimmtheit entschwindet und als praxisfähiges Instrument nicht mehr wahrgenommen wird. Eine Feststellung von Bernd Dewe und Koautoren (2001) ist dafür symptomatisch, die lautet: „Sozialwissenschaftliche Kompetenz besteht primär in der Fähigkeit, zu ,theoretisieren' .. ."10 So ist am Ende auch nicht wirklich klar, ob Soziale Arbeit durch Wissenschaftsambitionen zur Theoriearbeit gedrängt wird, die dann quasi als Nachweis für entsprechende Kompetenz verstanden wird, oder ob der Weg von der Praxis in die Theorie führt, von wo aus er möglicherweise weiter bis zur Wissenschaftlichkeit reicht. Was also kann sinnvoll damit gemeint sein, wenn von Theorie in der Sozialen Arbeit die Rede ist? Welche Bedeutungen sind zu beachten, welche nicht? Wie können sie systematisiert werden?11
8
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In dieser Weise ist die Betrachtung von Engelke, 2002, angelegt. Die historisch-erklärende Absicht zeigt sich u. a. auch in den systematisierenden Ansätzen bei Buchkremer (1995, S. 38 ff.), bei Schilling (2005a, S. 163 ff.) und wiederum bei Erath (2006, S. 77 ff.).
Hier ist auch die von Engelke (2002, S. 21) bekundete Distanzierungsabsicht nicht schlüssig, die Adolf Hider zwar als Theoretiker ausschließt, als Autor aber offenbar ernst nimmt. 10 Vgl. diese Aussage bei Dewe u. a., 2001, S. 83. Erath (2006, S. 59), bezieht sich darauf. 11 Plausibel im Ansatz, doch wenig hilfreich im Ergebnis ist Eraths „dreifache Unterscheidung des Theoriebegriffs", die er „im Rahmen einer modernen Sozialwissenschaft" für „erforderlich" hält (2006, S. 17): Die Unterscheidung (ebd.) von drei Ebenen — einer „Ebene ,metatheoretischer' Überlegungen", einer „Ebene reflexionstheoretischer ,Selbstbeschreibungen'" und einer „Ebene ,handlungstheoretischer' Entwürfe" - erklärt nicht den Begriff, sondern setzt ihn unspezifisch voraus. Wenn nicht geklärt wird, wie die drei Ebenen über den Theoriebegriff zusammenhängen, ist
Theoriegestütztes Handeln • 43
Zur Klarstellung erscheint es zunächst wichtig, die Theoriearbeit — die es im übrigen in der Sozialen Arbeit von Anfang an gibt — vom Wissenschaftlichkeitsmotiv zu lösen: Nicht dadurch, dass sie Theorie betreibt, zeigt sich Soziale Arbeit als Wissenschaft; sondern Theoriefähigkeit ist eine conditio sine qua non für Wissenschaft, mehr aber erst einmal nicht. Sodann ist aufzugreifen, was oben deutlich wurde: Das Theoriethema scheint Sozialer Arbeit zuzufallen, weil sie ihre Praxis über die Ausbildung eines Wissensbestandes erschließt. Dieser Übergang, vom Wissen zur Theorie, wäre zu erhellen, um Theorie in der Sozialen Arbeit als Quelle und Motor für die Praxis zu begreifen.12 Hier hilft die Wortbedeutung weiter: Theorie heißt Betrachtung. Im Griechischen ergibt sich ein Zusammenhang mit der Beobachtung eines Spektakels. Auch an die Musterung im militärischen Sinn ist zu denken. Theorie (öecjpia) meint also eine Form des Hinschauens; auf Wissensinhalte bezogen meint sie einen wägenden Umgang. Wissen erzeugt Theorie, weil im Umgang mit Wissen eine Fähigkeit aktiviert wird, weiter zu abstrahieren und sozusagen ein Wissen über das Wissen zu erzeugen. Die Fähigkeit wird von der Wissenschaftsoption im menschlichen Denken getragen;13 Theorie als ihr Produkt aber gibt einen Rahmen für das Wissen ab, auf das sie sich konkret bezieht. Auf diese Weise bleibt Theorie an ihren Entstehungszusammenhang gebunden und erweist ihre Praxisfähigkeit über das in ihr betrachtete, d. h. verarbeitete Wissen. Somit erzeugt Soziale Arbeit durch ihre Praxis Theorie im oben beschriebenen Sinn. Es genügt nicht, dass sie sich im Handeln und zum Handeln auf Wissensinhalte stützt; sie muss ihre Urteilsfähigkeit — das ist allen Skeptikern zu sagen — auch dazu nutzen, diese Inhalte zu sichten und zu strukturieren. Zwei Stufen sind dabei zu unterscheiden: Im gewissermaßen ersten Arbeitsgang zeigt sich Theorie in der Ordnung der Wissensinhalte, der sie ihre Aufmerksamkeit widmet. Theorien können hier entstehen und als Denkfiguren, Erklärungsansätze und Konzepte Gestalt annehmen. Vermittelt werden sie allesamt vom jeweiligen Praxisanliegen, für das sie entwickelt wurden. Dieses Anliegen stützen sie, und für dieses Anliegen sind sie auch, nicht zuletzt als Analyseplattform für Evaluationsprozesse, unverzichtbar. Auf einer zweiten Stufe wird dann relevant, dass Theorieinhalte zu wissenschaftlicher Prüfung drängen. Theorie wird, wenn man so will, als wissenschaftliches Instrument virulent, mit dem ein Zusammenhang im Ganzen betrachtet werden kann. In dieser Hinsicht zeigen Denkfiguren, Erklärungsansätze und Konzepte häufig Lücken, die dann das Theorieverständnis — und damit auch die darauf bezogene Praxis — irritieren. Man könnte sagen, dass sich die gegenwärtige Theoriediskussion ganz im Spannungsfeld dieser beiden Stufen abspielt: Dem
am Ende dann doch wieder alles der Theoriearbeit zugeordnet, was zwischen Wissenschaft und Praxis irgendwie begegnet. 12
Vgl. hier schon Winkler (1995, S. 117) in seinem Plädoyer für den „Luxus" des Denkens in der Sozialen Arbeit, dem sich nur die verweigerten, die in einer mythologisch anmutenden Weise „dem Glauben an die Macht der Alltäglichkeit verfallen" seien.
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Hier dürfte das oben dargelegte aristotelisches Wissensmodell schlüssig sein (Kap. 1, Abschn. 4).
44 • Das Verhältnis v o n Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit
Bedürfnis nach dem tragfahigen, umfassenden Denkansatz stehen konkurrierende Zugangsweisen gegenüber, die sich einmal mehr, einmal weniger in eine progressive Theoriearbeit einbinden lassen. Lob und Tadel, Zustimmung und Kritik agieren zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit tragfahiger Handlungskonzepte hier und der Skepsis gegenüber Entwürfen, die dazu neigen, offensichtliche Divergenzen und Brüche in den Handlungsfeldern zu ignorieren, dort. Als eine Art Zauberformel wirkt bislang die Konstruktion einer Handlungstheorie, mit der das sozialarbeiterische Theorieanliegen umfassend zu befriedigen gesucht wird.14 Der Begriff suggeriert eine Potenz, die Grundpositionen zu vereinen, indem er eine wohin auch immer abzuheben drohende Theoriedynamik an die allgegenwärtige Praxisaufgabe gebunden hält. Das sieht ganz nach einem überzeugenden pragmatischen Zugang aus: Theoriekompetenz (inklusive Wissenschaftstendenz) werden berufsspezifisch auf den Praxisbezug begrenzt. Im Grunde agiert eine solche Vorgehensweise aber einigermaßen hilflos, denn auch eine Handlungstheorie müsste sich erst einmal der Auslotung des wissenschaftlichen Theoriepotentials stellen. Wenn das aber geschieht, wäre es irreführend, mit dem Etikett Handlungstheorie zu operieren, sei es auch nur zu dem Zweck, die Praxisaufgabe erinnerlich zu halten. An diesen kritischen Befund schließt sich zweiter an, der die Bedenken weiter verstärkt: Denn die Suche nach einer Handlungstheorie in der Sozialen Arbeit demonstriert bislang vor allem eine besondere Wirksamkeit des systemtheoretischen Ansatzes. Von der „Universalität der Systemtheorie" spricht Johannes Schilling (2005a, S. 206) und bemüht sich, Theorievielfalt in deren „einheitliches Sprachsystem" einzuordnen (ebd., S. 208). Auch Tilly Miller (2001) formt ihren „Entwurf einer Handlungstheorie" ganz aus der systemtheoretischen Perspektive. Für sich genommen ist das kein Problem, vielmehr sogar schlüssig, denn als Handlungstheorie ist ein Gesamtrahmen gesucht, ein weit reichend tragfähiger Denkansatz, der Theorie- und Praxisdiskussionen aufzugreifen und zu bedienen vermag. Wenn ein solcher Ansatz nicht aus Sozialer Arbeit selbst heraus erzeugt werden kann, bietet sich an, einen von außen heranzutragen und anzupassen. Und etwas anderes als die in der Soziologie so erfolgreiche Systemtheorie ist dabei nicht in Sicht. Aber damit unterwirft sich die Theorie in der Sozialen Arbeit einer Denkweise, die Widerspruch erweckt, weil sie in Opposition zu einem lebensweltlichen Bezug tritt, die Skepsis nährt, weil sie als Handlungstheorie zwar das Theoriebedürfnis Sozialer Arbeit zu befriedigen vorgibt, dazu jedoch auf Denkfiguren zurückgreift, die der Praxis übergestülpt erscheinen (vgl. dazu Bock, 1995, S. 46), und die schließlich zur Sorge Anlass gibt, weil sie als Grundlage für eine wie auch immer zu sehende Handlungstheorie elementare Kriterien eines begrifflichen Sozialarbeitsverständnisses, namentlich den Ethikcharakter, nicht integriert.
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Callo (2005, S. 132) beispielsweise reagiert auf die Konkurrenz von Zugangsweisen mit der Forderung, „unterschiedliche Erklärungsansätze ... zumindest in groben Umrissen" zu kennen, um „zu einer eigenen Entscheidungsform zu finden".
Wissenschaftgestütztes Handeln • 45
Systemischer Ansatz hin — Handlungstheorie her: theoriegestützes Handeln hat sich für die Soziale Arbeit als unverzichtbares Instrument erwiesen, wenn es darum geht, die vielfältig gestellte Praxisaufgabe adäquat, effizient und nachhaltig zu bewältigen. Vordergründig geht es dabei um eine Gestaltung von Theorie und Praxis als Wirkeinheit. 15 Aber es geht auch um die Zumutung, sich auf die Dynamik des Theoriemotivs einzulassen und Praxis von einer wissenschaftlichen Warte aus zu denken.
3 Wissenschaftgestütztes Handeln Wissenschaft wirkt vielfaltig auf das Handeln in der Sozialen Arbeit ein. Im Rahmen wissengestützten Handelns verbürgt sie die Qualität des herangezogenen Bezugswissens, liefert aber auch methodische Anhaltspunkte für die Erhebung speziellen, fallbezogenen Wissens. Insofern also Praxis Wissen schafft, kann sie sich dabei vielfach und auch fruchtbar an Wissenschaft orientieren. 16 Genau betrachtet freilich geschieht diese Orientierung indirekt, indem ein von der Praxis angeregter Wissensbedarf einen seriösen und belastbaren Umgang mit Wissen anmahnt. Wissenschaft wirkt mit, wenn es darum geht, Daten und Fakten sowie Perspektiven für das Sozialarbeitshandeln aufzustellen. Theoriegestützes Handeln zeigt einen wissenschaftlichen Einfluss direkter, denn es ist ein ausgesprochenes Merkmal von Wissenschaft, Theorie zu treiben. Für die Soziale Arbeit wird deutlich, dass ein Theorieanliegen aus der Praxis erwächst, allerdings einen wissenschaftlichen Betrachtungsrahmen eröffnet. Indem Wissenschaft also Wissen schafft und indem sie Denkweisen absichert, kann in der Sozialen Arbeit ein entsprechend klarer Beitrag von ihr wahrgenommen werden. Das wird heute von kaum jemandem mehr bestritten. Es ist zugleich aber auch für viele Akteure die Grenze wissenschaftlicher Ambitioniertheit, diesseits sozusagen der Diskussion um eine eigenständige Sozialarbeitswissenschaft, wodurch freilich auch einer abgehobenen Theoriereflexion eine, wie man meint, sinnvolle und notwendige Grenze gesetzt wird (vgl. C. W. Müller, 1995b). Für manche liegt wiederum genau darin der Bestimmungsrahmen Sozialer Arbeit als Wissenschaft, die es gibt, weil der Beruf Beiträge anderer Wissenschaften verarbeitet und Denkfiguren hervorbringt (vgl. Vahsen, 1996). Ein eigenständiger Wirkungsbereich von Wissenschaft in der Sozialen Arbeit tritt aber auch in den Blick. Das beginnt damit, den Rahmen weiter zu stecken und im besonderen Aufgabenprofil Sozialer Arbeit eine „neue Sozialwissenschaft"
15
Vgl. dazu auch den Hinweis bei Bock (1995, S. 46), in einer Theorie „ohne Rückbezug zu den Arbeitsfeldern, ihren Strukturen und Prozessen" nur „tönendes Erz und klingende Schelle" zu besitzen.
16
Das nette Wortspiel von „Wissen schaffen" und „Wissenschaft" greift Feinbier (1992) auf.
46 • Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit
gründen zu sehen;17 und es reicht über die Gegenstandsdiskussion weiter bis zur Niederlegung einer „Metatheorie der Sozialarbeitswissenschaft" (Erath, 2006, S. 23), die es Sozialer Arbeit erlaubt, „das zu benennen, was sie ausmacht" (ebd., S. 25).18 Der oben aufgezeigte begriffliche Zugang (vgl. Kap. 2, Abschn. 4) zielte in dieselbe Richtung. Das eröffnet Sozialer Arbeit nun tatsächlich eine Betrachtungsund Denkdimension, in der sie eigenes wissenschaftliches Profil zu erwerben vermag. Schritte in diese Richtung sind auch getan und geschehen fortlaufend, aber wiederum ist auf bestehende Skepsis zu achten. Denn eine wie auch immer zur Wissenschaft geläuterte Theorie demonstriert keine Praxisbindung mehr, jedenfalls die nicht mehr, die aus Sicht beruflichen Sozialarbeitshandelns vorauszusetzen ist. Der oben zitierte Begriff der Metatheorie kann bereits als ein Reflex auf diese Sorge gesehen werden, suggeriert er doch, dass daneben noch ein „gewöhnliches" Theorieverständnis möglich bleibt, das Theorie auf Praxis bezogen hält.19 Andere Zugangsweisen wenden das Wissenschaftsverständnis für die Soziale Arbeit insgesamt auf Praxis hin und kommen über Begriffe wie Handlungsmssenschaft (Obrecht, 1996) oder Praxiswissenschaft (Merten, 2001) zu Voreinstellungen, die, ganz analog zur Handlungstheorieperspektive, die eigentliche Dynamik und Reichweite der wissenschaftlichen Arbeitsweise ausblenden. Das „Beruhigungspotential" solcher Begrifflichkeit ist unbestreitbar; zugleich ist die Betrachtungsweise wissenschaftlich seriös und erprobt. Seit jeher wird zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften unterschieden, wobei der Hinweis, dass sich Wissenschaft mit der Praxis der Menschen zu befassen hat, wiederum schon von Aristoteles kam.20 Das aber ändert nichts daran, dass auch eine Wissenschaft der Praxis Wissenschaft ist und dass es, mit einer weiteren Überlegung bei Aristoteles zu sehen, immer auch eine Praxisrelevanz reiner Theorie gibt.21 Wissenschaftgestütztes Handeln findet statt, indem ein Weg von der Praxis über die Theorie in die Wissenschaft führt. Soziale Arbeit bleibt dabei dem Praxisbezug verbunden. Aber es gibt auch den deduktiven Weg, auf dem das Erkenntnispotential von Wissenschaft auf Praxisangelegenheiten wirkt und maßgeblich dazu beiträgt,
17
18
Vgl. dazu Feth, 2003. Siehe auch bei Mühlum (2004b, S. 11) den Hinweis auf „fachliche und wissenschaftssystematische Gründe, den Sozialarbeitsfokus zu betonen". Vgl. ebd. auch Eraths Forderung, sozialarbeitswissenschaftliches Denken als Denken zu definieren, „das sich an einer neu geschaffenen, noch von keiner anderen Disziplin besetzten Perspektive orientiert".
19
Ein solches sachbezogenes Theorieverständnis wird dann auch bei Erath (2006, S. 36 f.) deutlich.
20
Vgl. bei Aristoteles die Unterscheidung zwischen den drei theoretischen Wissenschaften alias Philosophien Physik, Mathematik und „Erste Philosophie" (siehe dazu im 6. Buch der Metaphysik, 1026 a 18 f.) und den drei praktischen Wissenschaften Ethik, Ökonomie und Politik (dazu siehe im 6. Buch der Nikomachische Ethik, 1141 b 23 ff.). Vgl. auch die Einschätzung von Uhde, 1976, S. 81: „Die erste Wissenschaft der Praxis ist die Politik; an ihr kann die Tätigkeit einer praktischen Wissenschaft gesehen werden."
21
Das geht aus einem Zusammenhang hervor, im Rahmen dessen Aristoteles die große Nützlichkeit der Philosophie herausstellt, da sie Handeln entweder selbst anleitet oder es fördert; vgl. dazu Aristoteles, Protreptikos, B 38-57.
Vermittelnde Erkenntnisweisen • 47
dass eine geordnete Vorstellung von Praxis, die ansonsten in „Wechselbäder" (Miller, 2001, S. 1) schickt, überhaupt erst entsteht. Die Kurt Lewin zugeschriebene und für den Zusammenhang gerne zitierte Phrase, nichts sei praktischer als eine gute Theorie, kann ganz in diese Richtung gedeutet werden. So wirkt sich Wissenschaft dreifach für das Handeln in der Sozialen Arbeit aus: • über Beiträge verschiedener Bezugswissenschaften • durch Absicherung praxisbezogener konzeptioneller Denkansätze • in Form einer Grund legenden Sozialarbeitswissenschaft Das zeigt: Auch eine abstrakt konzipierte Soziale Arbeit kann den Bedenken entgegentreten, sie verliere ohne den permanenten Praxisbezug ihr Eigentliches aus dem Blick. Über die Rolle, die das Wissen in ihr spielt, lassen sich berufliche Erfahrung, methodisches Können und wissenschaftliche Analytik, gemäß der aristotelischen Reihe empeiria — techne - episteme, verbinden. Es ist umgekehrt eher als problematisch anzusehen, wenn sich Soziale Arbeit in ihrer Praxisbindung auf ein kasuistisches Vorgehen beschränkt, das zwar den Einzelfall vor Augen stellt, kaum aber einen Reflex auf gültige Bewertungszusammenhänge zulässt.22 Freilich wird dazu gerne eine konstruktivistische Sichtweise ins Feld geführt. Aber auch die ist in einen schlüssigen Theorie-Praxis-Zusammenhang erst einmal einzubinden.
4 Vermittelnde Erkenntnisweisen Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit wird durch deren Erkenntnishaltung vermittelt. Die wiederum kann kaum als gesichert angesehen werden. Vielmehr geben sowohl eine im menschlichen Alltag stehende Praxis als auch die um eine wissenschaftlicher Erkenntnishaltung bemühte Theorie zur Vorsicht Anlass. Die Vorsicht bezieht sich jeweils auf das vorschnelle Urteil. Dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen; dass eine voreingestellte Erwartungshaltung den Blick trüben kann; dass Aussagen über die Dinge Wahrheit wiederum in Sprachlichkeit einzukleiden haben; dass schließlich dort, wo Menschen Meinungen ausbilden, kaum Übereinstimmung herrscht: all dies ist landläufig bekannt und wirkt sich auch in der Sozialen Arbeit aus, und zwar in Theorie und Praxis. An zwei charakteristische situative Bezüge ist dabei zu denken, zum einen daran, dass Akteure der Sozialen Arbeit, in beliebigen Handlungsfeldern, immer wieder auf Klienten treffen, die für sich eine vollkommen andere oder gar keine Problemeinschätzung zeigen (z. B. Jugendliche, die ihren eigenen Drogenkonsum absolut bejahen), zum andern, dass für die Einschätzung einer Problemsituation die Aufmerksamkeitsrichtung mit ausschlaggebend ist (z. B. bei einer Hilfeplanvereinbarung, die unterschiedliche Zielvorstellungen von Einrichtung und Jugendamt aufzeigt).
22
Dazu vgl. oben in Kap. 2, Abschn. 5 die entsprechenden Überlegungen zur Sozialarbeitsethik bei Thiersch, 1995.
48 • Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit
So2iale Arbeit geht also sowohl in ihrem beruflichen Alltag wie auch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit einer mehrdeutigen Wirklichkeit um. Sie ist gut beraten, wenn sie dies berücksichtigt und behutsam ihre Daten erhebt sowie selbstkritisch ihre Wissensbestände aktiviert. Weil sie es aber mit Menschen zu tun hat, deren jeweils subjektive Lebensdeutung in die fachlich um Objektivität ringende Erkenntnishaltung einzubeziehen ist, bietet sich erkenntnistechnisch eine Erleichterung an: der Rückgriff auf den Konstruktivismus. Dieser Rückgriff ist verbreitet; er findet sich im Lebensweltbezug wie auch im systemischen Denkansatz. Beidemale nimmt er eine Schlüsselstellung ein: dort, weil eine „Eigensinnigkeit von Lebenswelt" zu konstatieren und zu respektieren ist und damit letztlich „Grenzen einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit" gezogen werden (Thiersch, 2000a, S. 15 f.); hier, weil im systemtheoretischen Kontext objektive Beobachterrollen nicht vorgesehen, berufliche Handlungsweisen mithin auf einen „Akt gegenseitiger Verständigung" im Sinne eines „kommunikativen Austausches von Konstruktionen" (Miller, 2001, S. 67) angewiesen sind.23 Auf eine Grenze des Konstruktivismus ist allerdings hinzuweisen: Er generiert kein eigenes Erkenntnis system, sondern wirkt lediglich als Erkenntniskritik. Als Subjektivismus verstanden, kann er helfen, Besonderheiten zu erkennen und Aussagen zu relativieren. Er bietet darüber hinaus Handhabe, erkenntnisorientierte Vorgehensweisen zu strukturieren. Das reicht so weit, Sozialer Arbeit die gewissenhaft interpretierende „Re-Konstruktion" von Problemsituationen als Aufgabenstellung anzutragen (Stickelmann, 2000, S. 175). Aber der Konstruktivismus versagt dort, wo in der Sozialen Arbeit Handlungsnotwendigkeiten entstehen, z. B. dann, wenn bei Missbrauchsverdacht ein Kind gegen den Willen seiner Eltern aus der Familie genommen wird, wobei das Vorgehen den Eigensinn ebenso missachtet, wie es die gegenseitige Verständigung verfehlt. Der Konstruktivismus erhält zwar in der Folge solchen Einschreitens seine erkenntniskritische Funktion weiter aufrecht (vielleicht war ja der Verdacht unbegründet; vielleicht war die Maßnahme übertrieben), aber er bot keine Handhabe für die Entscheidung, und er bietet sie generell nicht, wenn es darum geht, nicht verhandelbare ethische Bezugspunkte handlungsleitend mit heranzuziehen. 24 Auf diese Weise eröffnen sich im Konstruktivismus interessante Gedankenspiele, und jede an einer kritischen Erkenntnishaltung interessierte Praxis sollte sich damit auseinander setzen; aber je stärker Soziale Arbeit ihre Praxis ethisch ver-
23
Erkenntnistheoretisch relevant ist dabei besonders die Spielart des Radikalen Konstruktivismus, der als Erkenntnishaltung auf die Annahme baut, „daß alles Wissen, wie immer man es auch definieren mag, nur in den Köpfen von Menschen existiert und daß das denkende Subjekt sein Wissen nur auf der Grundlage eigener Erfahrung konstruieren kann" (vgl. diese Aussage bei von Glasersfeld, 1997, S. 22). Als Konstruktivismus soll hier vor allem die Tenden^ zu einer solchen Erkenntnishaltung in der Sozialen Arbeit aufgenommen werden. Das schließt auch die analog verwendete Bezeichnung „Konstruktionismus" (vgl. Gergen, 2002) mit ein.
24
Inwiefern es dennoch wichtig bleibt, die angesprochenen Bezugspunkte ihrerseits für die Kritik offenzuhalten, wird weiter unten noch betrachtet (vgl. Kap. 8, Abschn. 5; vgl. auch die Auswahl der Bezugspunkte ethischer Handlungsprofile in Kap. 14).
Vermittelnde Erkenntnisweisen • 49
mittelt sieht, desto schwerer muss es fallen, den Standpunkt hochbewerteter Subjektivität durchzuhalten. Ein Dilemma deutet sich zwar an; aber es ist als Hinweis darauf zu nehmen, dass die Ausgangslage für das Handeln in der Sozialen Arbeit auch durch die Interessen der Gemeinschaft geprägt ist. Zuletzt markiert auch das Professionsmotiv der Definitionsmacht für die Soziale Arbeit Grenzen einer konstruktivistischen Denkweise. 25 Theorie und Praxis werden also anders vermittelt. Beide Bereiche sind zwar von subjektiven Akzenten durchdrungen; aber beide begegnen auch mit Merkmalen nichtkonstruierter Wirklichkeit, die es zu erfassen und zu bewerten gilt. Hierin gründet letztlich der Rückgriff auf ein Wissenschaftsverständnis, das sich am aristotelischen Modell orientiert. Nichts anderes demonstriert Bernd Stickelmann in seinem oben angesprochenen Beitrag (2000, S. 185), wenn er durch die Mahnung zu vorsichtiger, rekonstruierender Interpretation im Sinn hat, in die „Schmuddeligkeit" des sozialpädagogischen Alltags systematisches Wissen als „diskursive Polizei" einzuführen. Auch andere Autoren zeigen dieses grundlegende Wissenschaftsverständnis. Im Grunde trägt jede argumentierende und strukturierende Darlegungsweise die Annahme mit, dass menschliche Lebenswirklichkeit von objektivierbaren Faktoren bestimmt wird. Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit favorisieren also Erkenntniswege, die Wirklichkeit unterstellen, kritisch sichten, ordnen und deuten. Damit prägen vor allem positivistische, phänomenologische und hermeneutdsche Merkmale sozialarbeiterische Erkenntnis. Konstruktivistische Erkenntniskritik unterstützt den Prozess der Wissensbildung, nicht mehr und nicht weniger. Auf diese Weise treten in Theorie und Praxis sowohl subjektive als auch objektive Konturen menschlichen Lebens und Zusammenlebens hervor. Soziale Arbeit in die Enge solipsistischer Willkür — dem eigentlichen Keim postmodernen Lebensgefühls — zu drängen, macht keinen Sinn. Die Achtung vor dem Wert menschlicher Gemeinschaft steht auf dem Spiel.26 Es bleiben objektive Bezugspunkte, Fakten, Ideale, die in der Sozialen Arbeit Praxis von subjektiver Ziellosigkeit abheben, die soziale Bindungen konstituieren und die über wissenschaftliche Register als Theorie zur Geltung gelangen. Es sind, auch hier, maßgeblich ethische Kategorien, in denen sich das Theorie-Praxis-Verhältnis ausformt, und auch wenn diese Kategorien ebenso auf den erkenntniskritischen Prüfstand gehören, macht es einen Unter-
25
Als Motiv und weniger als Merkmal für eine Profession ist es anzusehen, dass sie ihre Handlungstatbestände selbst definiert. Wie Soziale Arbeit ein solches Motiv fasst und ausbildet, werden die weiteren Ausführungen zeigen. Vgl. dazu abschließend Kap. 15, Abschn. 1.
26
Den Sozialarbeitsberuf als Indikator für ein postmodernes Gesellschaftsverständnis zu nehmen (vgl. Kleve, 1999b, S. 370), ist plausibel, aber es greift zu kurz. Postmodernität, aufgenommen als Misstrauen gegenüber allem, das nach Geradlinigkeit aussieht (vgl. ebd., S. 371), mag Ausdruck eines selbstkritischen Lebensgefühls sein; mit der Funktion von Gemeinschaft für das menschliche Zusammenleben hat sie nichts zu tun.
50 • Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit
schied, ob Sozialarbeitswissen um eine entsprechende Orientierung ringt oder nicht.27
5 Zusammenfassung Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit bilden eine Einheit, deren Bestimmungsgrund in der Funktion des Wissens liegt. So bedeutsam dieses für die Theorie erscheint und so sehr sich vor allem Wissenschaft um Wissen kümmert. Wissen steht der Praxis nahe und geht mit ihr zu einer Wirkeinheit zusammen. Handeln in der Sozialen Arbeit braucht Wissen, durch das es geformt wird, und es zeigt sich dabei gebunden an die Arbeit auch der Theorie, die zunächst einmal als Potential zu fassen ist, Handlungswissen zu ordnen und zu gewichten. Damit stützt Theorie das Sozialarbeitshandeln auf der ganzen Linie. Ihr eigenes Profil — die Fähigkeit zur eigenständigen Reflexion - vermag sie so an die Soziale Arbeit weiterzugeben. Darin kommt wiederum die Zugkraft von Wissenschaft zum Tragen, die den Theorieansatz bestärkt und so auch das dadurch orientierte Handeln erreicht. Unspezifisch gesprochen, stützt Wissenschaft sozialarbeiterische Praxis, weil sie deren Wissensbestand absichert und erweitert. Das gilt für die Soziale Arbeit nicht anders als für viele andere Berufe, die sich über ein Berufswissen definieren. Spezifisch aber wirkt Wissenschaft auf diese Praxis hin, weil Soziale Arbeit selbst Wissenschaft ist. Diese Besonderheit ist festzuhalten, auch wenn Konturen noch zu schärfen sind. Das Wesentliche hat sich schon gezeigt: Als Wissenschaft gründet sich Soziale Arbeit auf den Ausweis eines Gegenstandes, der die Praxis ebenso leitet wie die Konzeptarbeit in der Theorie. Als Markenzeichen dabei tritt ein ethisches Interesse leitend hervor, das einen objektiven Gehalt des beruflich wirksamen Wissens absichert. Für dieses Wissen ist Geschehen so wichtig, wie seine Wahrnehmung; sind seelische Verletzungen so bedeutsam wie das Sicherheitsbedürfnis der Öffentlichkeit; wiegt Gerechtigkeit so schwer wie Achtung und Respekt. Zugleich stellen Raum und Zeit, materielle Dinge, Kausalitäten 'Rahmenfaktoren. Soziale Arbeit spannt in ihrer Theorie-Praxis-Verschränkung damit einen Bogen von der Relevanz trivialer Alltagsmodalität hin zu selbstbestimmter Reflexion und zurück.
27
Hieran ist letztlich auch Lutz Rössners Versuch einer Theorie der Sotgalarbeit (vgl. Rössner, 1975) gescheitert, denn bei aller analytischen Präzision nutzt er in keiner Weise Soziale Arbeit als normative Kraft. Ein Ethikreflex zeigt sich lediglich im Rückbezug auf eine „ethische Basis der Wissenschaft", die zu Genauigkeit und Sorgfalt anhalte (ebd., S. 21). Kein Wort über den Werterahmen Sozialer Arbeit.
4. Kapitel Zum Verständnis Sozialer Arbeit als Praxis 1 Zum Charakter Sozialer Arbeit als Hilfe Uber die Bedeutung der Praxis in der Sozialen Arbeit ist schon einiges gesagt worden. Der Ansatzpunkt dabei war, Praxis als Basis jeden Zugangs aufzunehmen (vgl. Kap. 1, Abschn. 1). Von einem solchen Verständnis her war sie als Herzstück Sozialer Arbeit zu sehen, zugleich aber auch als Ausgangspunkt für diverse Wissensanstrengungen. Praxis zeigte sich als konzeptorientiertes Tun und eröffnete über das handlungsbezogene Wissen einen Weg hinein in Theorie und Wissenschaft. Ein Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit war als innige Verschränkung aufzufassen, zugleich polar geprägt von den Möglichkeiten reflexiver Selbstbestimmung hier und der Unmittelbarkeit zupackender Handlungsweisen dort. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass das berufliche Handeln, vielfältig, wie es ist, nicht gegen, sondern mit Theorie menschliche Lebenssituationen berührt und verändert. Es ist daher richtig, in der Sozialen Arbeit Praxis nicht ohne Theorie zu denken und Praxis selbst als ein gewisses Konzept aufzufassen, mit dem Handeln im beruflichen Zusammenhang zu vollziehen ist. Die Praxis Sozialer Arbeit rekrutiert sich daher nicht aus der Summe aller Handlungsweisen, ist kein Abbild jeglichen Geschehens, sondern sie prägt dieses Geschehen und jene Handlungsweisen und steht als Begriff für deren Zusammenhalt. Ein Verständnis Sozialer Arbeit als Praxis setzt dort an, wo sich Strukturmerkmale zeigen, die das zugrunde liegende Handeln als Sozialarbeitshandeln qualifizieren. Damit steht Praxis als Basis auch für die Möglichkeit, inkompatible Handlungsbezüge zu disqualifizieren und auszuschließen. Hier ist ein wichtiger Ansatzpunkt zu sehen, auch ethische Kompetenz als Basiskompetenz zu demonstrieren. So geht es bei der Frage nach der Praxis Sozialer Arbeit vornehmlich um ein typisierendes Kriterium, das diese Praxis prägt, bzw. um die Umgrenzung des Bereichs, in dem sich Sozialarbeitshandeln als berufliche Praxis zeigt. Gemeinhin wird hier das Hilfemotiv genannt. Es ist inzwischen so weit reichend in Stellung gebracht, dass es in historischen, systematischen und nicht zuletzt ethischen Verständniszugängen vielfältig als Ordnungsmerkmal aufscheint. Um einige Beispiele zu nennen: C. Wolfgang Müller (2006) versteht Soziale Arbeit grundsätzlich als Indiz dafür, dass Helfen Beruf wurde, und notiert als Ausgangspunkt (ebd., S. 11) die in den „meisten Gesellschaften unserer Vorzeit" bekannte „Forderung nach Barmherzigkeit, Mildtätigkeit und Wohltätigkeit mit den Kranken, den Alten und den Armen". Auch Ernst Engelke (2004, S. 37 ff.) sieht Soziale Arbeit über das allgemeine Hilfemotiv als „Teil der Kulturen", eine Feststellung, aus der er für die
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„moderne Gesellschaft" die Dynamik ableitet, „Sozial- und Bildungssysteme" zu organisieren, „die sich aufs Helfen und Erziehen spezialisieren" (S. 74). Und schließlich ist auf Hermann Baum (2000) zu verweisen, der in den verschiedenen Aspekten und Bezügen helfenden Handelns „die phänomenologische Grundstruktur Sozialer Arbeit" gegeben sieht (ebd., S. 28). Diese Einschätzungen spiegeln sich vielfach auch bei anderen Autorinnen und Autoren, vorzüglich dort, wo Handlungstheorie organisiert wird. „Hilfsbedürftige Menschen" sind die „Handlungsempfanger" bei Christian Callo (2005, S. 74 f.); am Motiv einer „Hilfe für Arme in Not" richtet Tilly Miller (2001, S. 151) systemisch relevantes „Wertewissen" aus. Dass Soziale Arbeit Hilfe leistet, ist sicherlich nicht zu bezweifeln. Dies findet, wohl in den meisten Fällen, Niederschlag auch in den persönlichen Zugangsweisen der Akteure, die sich dabei nicht selten in einer altruistischen Motivationslage befinden dürften, ganz so, wie Hans Scherpner (1962, S. 133) einst den „Typus des Fürsorgers oder Helfers", dem „keine menschliche Not und keine persönliche Bedürftigkeit Ruhe" lasse, gesehen hat. Aber wie steht es, nachdem wir gerade an diesem Punkt heute zu mehr Nüchternheit und Pragmatik neigen, andererseits jedoch das Pathos der Hilfe unübersehbar Handeln in der Sozialen Arbeit überschwemmt, nun wirklich um diesen Ansatz, die Praxis Sozialer Arbeit darin zu sehen, anderen helfen wollen? Dass Soziale Arbeit hilft (und helfen will), ist ein Faktum; dass Hilfebedürftigkeit1 vorausgeht, ist anzunehmen. Dass es aber sinnvoll erscheint, Hilfe funktional und nicht emotional zu deuten, erscheint ebenso schlüssig. Das bedeutet, das Hilfethema, so groß und bestimmend es in und für Soziale Arbeit ist, entfernt sich auch wieder, weil es selbst nicht als Erfüllung, sondern vielmehr als Symbol zu verstehen ist. Soziale Arbeit ist nicht Hilfe, sondern praktiziert sie. Der Standpunkt ist damit von vorne herein einer der Distanz, und es muss nicht verwundern, wenn Michael Erler (2004, S. 35) aus einem Dienstleistungsverständnis heraus und gleichsam der Uberdeutlichkeit des Hilfemotivs zum Trotz die Frage stellt: „Was hat Soziale Arbeit mit Helfen zu tun?" Hilfe und Helfen sind charakteristische Merkmale im Sozialarbeitshandeln, aber es dreht sich um ein Helfen mit einer besonderen Haltung. Es geht nicht um einen Freundschaftsdienst, nicht um private Unterstützung, bei der Sympathieaspekte
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An dieser Stelle sei die Bemerkung erlaubt, dass der Begriff der Hilfebedürftigkeit dem der Hilfsbedürftigkeit vorzuziehen ist. Schon im Text von Scherpners Theorie der Fürsorge (1962, S. 22)) findet sich diesbezüglich eine Notiz der Herausgeberin Hanna Scherpner zur Terminologie ihres Mannes als der Hinweis, für den Menschen, der der Fürsorge bedarf, werde „die Bezeichnung hilfebedürftiger' verwandt, im Unterschied zum engeren Begriff .Hilfsbedürftiger', der ... auf fürsorgerechtliche Fälle beschränkt bleibt". Die Differenzierung ist schlüssig, auch wenn sie, wie es scheint, weitgehend unbeachtet bleibt und häufig, wie oben bei Callo, „hilfsbedürftige Menschen" in den Blick genommen werden. Auch Dewe u. a. (1986, S. 239) setzen Soziale Arbeit an der „Bedarfslage sozialer Hilfsbedürftigkeit" an. Dagegen wird in der Begrifflichkeit Scherpners sichtbar, wie eine Situation („der Hilfe bedürftig"), und nicht ein Zustand („hilflos") dem Sozialarbeitshandeln zugrunde gelegt wird. Und das heißt für ein professionelles Verständnis, es geht Sozialer Arbeit um punktuelle Unterstützung und nicht um erbarmende Zuwendung.
Zum Charakter Sozialer Arbeit als Hilfe • 53
eine Rolle spielen: sondern es geht um berufliches Helfen, für das persönliche Eignung und Motivation zwar nicht unerheblich, aber Regeln unterzuordnen sind. Diese Regeln zeigen Hilfe als Akt der Anspruchserfüllung. Das heißt, es geht nicht um Almosen und es geht nicht um Großmut, wenn Klienten der Sozialen Arbeit Unterstützung erfahren. Der Begriff der Wohltat macht dennoch Sinn, weil er die Wirkung der Hilfe im Blick hat. Das gilt entsprechend für den Begriff der Wohltätigkeit, unter den Soziale Arbeit eingeordnet wird (C. W. Müller, 2006, S. 11); und es gilt nicht zuletzt für den Begriff der Wohlfahrt. Der Charakter Sozialer Arbeit als Hilfe zeichnet sie hier deutlich ab. Aber es ergeben sich weitere Fragen. Wie steht es um das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Hilfe? Rechnen alle Berufe, die helfendes Handeln praktizieren, zur Sozialen Arbeit? Und weiter: Wie steht es um den Charakter der Hilfe selbst? Gibt es überhaupt einen spezifischen Hilfecharakter, der exklusiv die Praxis Sozialer Arbeit repräsentiert? Das Motiv der Hilfe %ur Selbsthilfe, an das man vielleicht direkt denken möchte und an das Sozialarbeitshandeln gebunden scheint, könnte auch andere, namentlich therapeutische Berufe beschäftigen; und das Anliegen der so^alen Problemlösung, hier als Gegenstandsbestimmung für die Soziale Arbeit schon gesichtet, bindet nebenher auch andere gesellschaftliche Kräfte (vgl. Engelke, 2004, S. 64). So bedeutsam diese Perspektiven für die Orientierung der Hilfe in der Praxis auch sind, so zeigen sie doch vor allem eines: Hilfe ist kein Spezifikum Sozialer Arbeit, sondern bei aller Zuspitzung bleibt das Motiv der Hilfe anthropologischen Bestimmungen so nah, dass es nicht einseitig von einem Beruf vereinnahmt werden kann. Ein Ansatzpunkt könnte sein, das Hilfemotiv allgemein als Kennzeichen sozialer Berufe zu verstehen und Soziale Arbeit unter diesen Sammelbegriff einzuordnen. Dann freilich ist der Weg nicht weit, Soziale Arbeit selbst als diesen Sammelbegriff zu sehen — ein unspezifischer Summenbegriffscheint sie allzumal zu sein (Callo, 2005, S. 4) — und soziale Hilfe so als Merkmal herauszustellen, dass vor allem für den historischen Blick die Grenzen zum eigentlichen Beruf verschwimmen. Dann wäre Soziale Arbeit, als soziale Hilfe gedacht, eine Aufgabenstellung überall dort, wo Menschen ihr Zusammenleben organisieren, und würde als solche in moderner Gesellschaft eben über ein spezielles berufliches Gepräge wahrgenommen. Doch nicht nur der Begriff Soziale Arbeit ginge dann für den Beruf verloren, sondern auch die Praxis, in der Handlungsansätze Hilfeprofile zeigten, aber außer einer generaüstischen Orientierung nichts erkennen ließen. Das besondere berufliche Handeln wäre dann nur über die Kategorien Profession und Institution zu erfassen, die als Bezugspunkte für die Akteure im Beruf in den Vordergrund drängten.2 2
Hinzuweisen ist hier auf einen Beitrag von Dieter Roh (2006), der sich die Frage stellt: „In wessen Auftrag arbeiten wir?", und der in seiner Antwort den Ausgangspunkt Doppelmandat um zwei weitere Mandate erweitert, indem er Soziale Arbeit zusätzlich der Profession und ihren Organisationen und Institutionen verpflichtet sieht (ebd., S. 446 f.). Der Gedanke und die Klärungsabsicht sind nicht abwegig, aber paradoxerweise verwässern sie in der vorgestellten Form, vor allem weil die Verschränkung von Klienten- und Gesellschaftsbezug zur Aufgabenbestimmung disqualifiziert wird, das Sozialarbeitsverständnis.
54 • Z u m Verständnis Sozialer Arbeit als Praxis
Wenn man aber zusätzlich beachtet, dass soziale Hilfe kein ausschließliches Merkmal sozialer Berufe ist, sondern in vielen privaten und öffentlichen Bezügen geleistet wird, kann es eigentlich nur einen Standpunkt geben: „Soziale Arbeit" erstreckt sich nicht unspezifisch auf ein Spektrum von Hilfeprozessen in Gesellschaften, sondern bündelt solche in dem Beruf, der längst unter diesem Namen firmiert, und der bisweilen — in Deutschland — auch Sozialarbeit oder Sozialpädagogik heißt. So wird Hilfe für die Soziale Arbeit zwar zu einem Ordnungsrahmen, aber nicht zum Markenzeichen. Hilfe zu leisten, so kann man es auch verstehen, ist für die Praxis der Sozialen Arbeit notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Die Ausprägungen der Hilfe %ur Selbsthilfe und der sozialen Problembewältigung führen schließlich weg vom reinen Hilfeanliegen und zeigen Soziale Arbeit in ihrer Praxis an den strategischen Fragen ausgerichtet, die auch die Theorieüberlegungen leiten und die eine Umgrenzung des Handlungsfelds bezwecken.
2 Die Aufgabenstellung in der Sozialen Arbeit Die Praxis Sozialer Arbeit, so muss man es sehen, ist nicht die Hilfe, auch wenn Hilfe eine ihrer vornehmsten Wirkungen ist. Das heißt mit anderen Worten: Soziale Arbeit hat nicht die Aufgabe zu helfen, jedenfalls nicht mehr als andere Berufe, die Verantwortung für Menschen in schwierigen Lebenssituationen übernehmen. Ein nahe liegendes Beispiel: Auch die Feuerwehr hilft, doch ihre zentrale Aufgabe ist die Brandbekämpfung. Hilfe ist ein wünschenswerter Nebeneffekt, auch einer, der durch die Aufgabenstellung kaum zu vermeiden ist; aber sie bleibt Uffekt. Aufgabenstellung und Hilfeanliegen stehen in einem Verhältnis und sind darin auch strukturell verbunden, aber sie sind nicht identisch. Das ist auch gut so, denn es hat sich bereits angedeutet, dass ein paradigmatischer Hilfebezug Sozialer Arbeit kein Profil verleiht. Hilfe erscheint an der Oberfläche des Sozialarbeitshandelns, aber nicht zwingend und nicht immer. Heiko Kleve (2005, S. 37) verweist auf die „Ambivalenz von Hilfe und Nicht-Hilfe" und hat damit strukturelle Grenzen der Hilfe im Blick, die an den Rand des Selbstwiderspruchs führen. Das ist provokant und legt Soziale Arbeit wiederum auf ein Hilfemotiv fest. Zuletzt zeigt es sie selbst hilflos. Die Aufgabenstellung für die Soziale Arbeit braucht daher einen anderen Fokus, einen, der Helfen und Nichthelfen konstruktiv verbindet und beider Zwiespältigkeit zu einem Gestaltungsfaktor werden lässt. Das lenkt den Blick auf die Ambivalent von Hilfe und Kontrolle. Was also zeigt sich, aus Sicht der Praxis, aber auch für die Praxis, als die Aufgabe Sozialer Arbeit? Von Ausgangspunkt des Tätigwerdens her gesehen, der Entscheidung zur Hinwendung zu Menschen in mutmaßlich schwierigen Lebenssituationen, geschieht, gefragt oder ungefragt, Einmischung - Intervention. Ein Eingreifen in Lebenssituationen erscheint in der Regel nötig, wenn destabilisierende Dynamiken erkannt sind und zugleich klar wird, dass darin involvierte Personen nicht ausreichende Gegenkraft aufbringen. In den meisten Fällen ist davon auszugehen, dass die betreffenden Personen solches Eingreifen befürworten und als
Die Aufgabenstellung in der Sozialen Arbeit • 55
Unterstützung erleben; aber nicht zu übersehen sind auch viele Situationen, in denen die Einmischung offensichtlich unerwünscht ist. Beides zusammen prägt den Begriff der sozialarbeiterischen Intervention. Wenn man so will, ist jede soziale Problemlösung resp. -bewältigung das Ergebnis einer Intervention. Der Begriff eignet sich zur Aufgabenbeschreibung. Er umfasst die Erkenntniskompetenz, die nötig ist, um den Handlungsbedarf zu erheben, und er demonstriert die Handlungsweise der Praxis. Er rückt Fragen der Methodik in den Vordergrund, zeigt schließlich auch den erwünschten Hilfeeffekt, bindet diesen aber stets an den Hintergrund einer immanenten Kontrollfunktion: Intervention, die Hilfe bringt, gibt die Kontrolle an die involvierten Personen zurück; Intervention, die unerwünscht — in der Regel in Interessenskonflikte hinein — kommt, behält ihre Kontrollaufgabe zuletzt auch zum Wohl der Betroffenen.3 Diese kurze Skizze sozialarbeiterischen Interventionshandelns zeigt Intervention als Aufgabe der Sozialen Arbeit. Sieht man Praxis als Arbeit mit Menschen, so ist diese als Aufgabe, sich einzumischen, wo Menschen im sozialen Gefüge zu zerbrechen drohen, umfassend beschrieben. Ein ethischer Gedanke schließt sich unmittelbar an: Denn Einmischung kann und darf nicht ohne Rücksicht auf jene Grenzen geschehen, die durch ein verpflichtendes Menschenbild gesetzt sind. Wolfgang Schlüter (1995, S. 167 ff.) führt entsprechende Merkmale in einer umfassenden Ethik der Intervention zusammen. Damit unterstreicht er wiederum Intervention als Oberbegriff für unterschiedliche Handlungsarten, für die wiederum Peter Lüssi (2001) einen Katalog auflistet, der von der Beratung über die Vertretung bis zur Betreuung reicht.4 Dieser Praxis stehen alle möglichen institutionellen und personbezogenen Mittel zur Verfügung;5 und auch ein Spektrum methodischer Ansatzpunkte ist einzubinden.6 So wie Intervention, als Aufgabe verstanden, deutlich macht, dass die Praxis Sozialer Arbeit nicht immer helfendes, sondern — in Erweiterung dessen, was Lüssi notiert — oft auch einfach korrigierendes Handeln beinhaltet, zeigt sich über einen ^weiten Aufgabenbereich die Tendenz weg von einem bloßen Hilfeverständnis fortgesetzt. Praxis, befasst mit Problemlösungsanliegen, ethischen Vorgaben und Hilfemotiven, erschöpft sich nicht in der Einmischung in menschliche Lebens-
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Situationen der unerwünschten Einmischung Sozialer Arbeit können nach drei Kategorien differenziert werden: (1) die Einmischung, die geschieht, wenn die Interessen Schutzbefohlener zu wahren sind, z. B. die Interessen vernachlässigter oder misshandelter Kinder gegenüber den Egoismen ihrer Eltern; (2) die Einmischung, nach der öffentliches Interesse verlangt, z. B. im Rahmen einer Führungsaufsicht durch die Bewährungshilfe; und (3) die Einmischung, die allein im Interesse der Betroffenen sinnvoll und nötig erscheint, z. B. vor dem Hintergrund drohender Selbstgefährdung. Peter Lüssi listet „sechs Handlungsarten der Sozialarbeit" auf und rechnet Intervention dazu (2001, S. 392 ff.); sein Interventionsverständnis ist dabei gegenüber jenem, das den Begriff „allgemein für jegliches helfende Handeln des Sozialarbeiters verwendet", ausdrücklich „viel enger" (S. 415). Vgl. dazu wiederum Lüssi, 2001, S. 142 ff. Hier sind die „methodischen Prinzipien der Sozialarbeit" bei Lüssi (2001, S. 213 ff.) zu beachten, die dieser dem Aufgabenzuschnitt der sozialen Problemlösung (S. 79) zuordnet. Intervention als Aufgabe verstanden, entspricht durchaus diesem Zuschnitt.
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Situationen; sie hat auch ein begründetes Interesse daran, Einmischung überflüssig zu machen. Nicht dass sie sich ihrer eigenen Handlungsgrundlage berauben wollte; sondern es gehört zum Charakter der Einmischung, sie nur dort zu praktizieren, wo sie nötig ist — und folglich auch alles zu tun, damit sie nicht nötig ist. Das bedeutet zum einen, Intervention so anzulegen, dass sie ihr Ziel nachhaltig erreicht; zum andern, flankierend Handlungsweisen zu entwickeln, die Einmischungstatbestände gar nicht entstehen lassen. Prävention leitet sich als Aufgabe für die Praxis Sozialer Arbeit daraus umfassend ab. Es macht Sinn, im präventiven Handeln nicht einfach nur besondere Problemlösungsstrategien zu sehen, die gewissenmaßen nur bei Bedarf aktiviert werden, sondern Prävention davon getrennt als eigenen Handlungsbereich, mit eigener „Funktionsbestimmung" (Böllert, 1992), zu verstehen. Die Prävention folgt einer anderen Logik als die Intervention, gewissermaßen gegenläufig in der Voraussetzung, aber beide agieren im selben Erkenntnis- und Wertungsrahmen. Auf diese Weise ergänzen sie sich zu einem Praxisverständnis, das seine Aufgabe darin sieht, Stabilisierungspotential für wünschenswerte und Veränderungspotential für unerträgliche soziale Situationen bereitzustellen. Auch wenn der Präventionsgedanke in der Theoriedebatte der Sozialen Arbeit derzeit keine große Rolle spielt und mehr über real existierende Probleme nachgedacht wird, ist er doch plausibel. Die drei Handlungsebenen, die er über eine Differenzierung nach primärer, sekundärer und tertiärer Prävention eröffnet, erschließen ein Reservoir der Problemverhinderung, das von allgemeinen, gesellschaftlichen Zusammenhängen bis hin zu konkreten Fallbezügen reicht. Ein „Vorbeugen ist besser als Heilen"-Argument (vgl. Schilling, 2005a, S. 85) drängt in den Vordergrund auch und gerade einer Sozialen Arbeit, die auf Heilen hin angelegt ist. Es zu ignorieren oder nur als Randnotiz begreifen zu wollen, hieße, nicht nur Handlungspotential zu verschenken, sondern letztlich die Aufgabenstellung in der Sozialen Arbeit nicht verstanden zu haben. Zu dieser Aufgabenstellung ist, in der gezeigten Konsequenz, schließlich auch jener Bereich zu rechnen, der das berufliche Handeln kritisch unter die Lupe nimmt. Alle Reflexionsarbeit, zumal die, die sich auf Fallsituationen bezieht, trägt zu der indirekten Orientierung am Hilfeeffekt bei, wie sie für die Intervention und weiter für die Prävention deutlich geworden ist. Soziale Hilfe, die deswegen misslingt, weil ihre Bedingungen nicht ausreichend analysiert worden sind, oder die versagt, weil sie immer wieder dieselben Fehler macht, verfehlt nicht nur ihr Ziel, sondern demonstriert ein Scheitern Sozialer Arbeit insgesamt. Wer unterstützend eingreifen will und seine Aufgabe darin sieht, Belastungen, die Menschen im Zusammenleben mit anderen entstehen, zu mindern, kann nicht umhin, auch Evaluation als Teil dieser Aufgabenstellung zu begreifen. Die Bedeutung von Evaluation, wie sie weiter oben bereits herausgestellt wurde (vgl. Kap. 1, Abschn. 3), spiegelt sich hier. Als Instrument der Praxis wie als Anliegen der Theorie ist Evaluation in der Sozialen Arbeit, neben der Einmischung und der Vorbeugung, die dritte Aufgabe. Als Bewertung bildet sie auch die Grundlage, überhaupt entscheiden zu können, wo Handeln erforderlich ist, und zu ermessen,
Methodisches Handeln • 57
inwieweit Soziale Arbeit überhaupt Mittel hat, angemessen vorzugehen. Bedarfe zu sehen und zu erheben, aber auch in Relation zu setzen zum sozialen Anliegen der Gesellschaft insgesamt, umreißt diesen Aufgabenzuschnitt.7 Dass es sich nicht bloß um einen Randaspekt in der beruflichen Ausrichtung handelt, liegt auf der Hand.8 Ein Hilfeanliegen gerät nicht aus dem Blick; so klar sozialarbeiterische Praxis aber Hilfe und Unterstützung bringt, so deutlich wird auch, in welche Distanz diese Praxis zu einem indifferenten und unspezifischen Hilfemotiv rückt: Sie wird nicht von der Aufgabe zu helfen, sondern von den drei Säulen Intervention, Prävention und Evaluation getragen. Darin entsteht Hilfe; darin kann Hilfe aber auch sinnvoll begrenzt werden.
3 Methodisches Handeln In derselben Weise, wie die Aufgabenstellung von Intervention, Prävention und Evaluation Praxis prägt, ordnet sie Theorie. Was auch immer in der Sozialen Arbeit gedacht wird — es realisiert Anliegen der Einmischung, der Vorbeugung und der Bewertung. Diese Anliegen werden so auch zur Bezugsebene bei der Verknüpfung und Verschränkung von Theorie und Praxis. Praxis wiederum weiß sich in der Wahrnehmung ihrer Aufgabe von Theorie angeleitet und gelenkt. Vor dem Hintergrund einer Begrenzung des Hilfepathos bedeutet das: Nicht das zupackende, sondern ein behutsames, kritisches und doch entschlossenes Vorgehen ist gefragt. Das sollte Einfluss auf die Handlungsweisen haben, die zum Einsatz kommen. Einem strukturellen Verständnis nach sind das die Methoden, nach denen Soziale Arbeit verfahrt, die Wege, anders gesagt, auf denen Aufgaben zu erfüllen und Ziele zu erreichen gesucht werden.9 Soziale Arbeit als Praxis braucht diese Wege, um dem Handlungsprofil gerecht zu werden, das ihr zugeordnet wird, d. h. sie braucht mehr oder weniger verbindliche, in jedem Fall aber zuverlässige und nicht zuletzt lehrbare Wege, auf denen ihre Akteure im Rahmen beruflichen Verstehens begründet handeln. Methodisches Handeln wird damit zu einem wichtigen Bezugspunkt; und Methoden selber werden zu Scharnieren, die Tun mit Denken verbinden und nach dessen Maßgabe beweglich halten. Eine Handlungslehre der Sozialen Arbeit hätte damit alle Hände voll zu tun, Wege aufzuzeigen, das Allgemeine an das Besondere heran-, fachliche und lebensweltliche Perspektiven zusammen- und konkrete Lösungen herbeizuführen. Aber ihr Bemühen muss sich zugleich auch auf eine Ordnung dieser
7
Die Redeweise vom „Wissensmandat", auf die schon hingewiesen wurde, kann hier korrigiert bzw. präzisiert werden. Denn so plausibel sie oben erscheinen konnte (vgl. Kap. 1, Abschn. 2), so irritierend bleibt sie, weil sich die Frage stellt, wer dieses Mandat erteilen soll. Wissen dagegen als Aufgabe statt als Auftrag zu verstehen, löst diese Irritation.
8
Winkler (2006, S. 55) sieht in diesem im Kern professionell-selbstkritisch angelegten Fragen „den guten Sinn der Forderung nach Evaluation".
' Vgl. griech. methodos in der Bedeutung als „Weg, etwas zu erreichen".
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Wege richten, die in Anbetracht der Besonderheiten der beteiligten Personen zur Vereinzelung tendieren. Um zu vermeiden, dass sich Methodik in Kasuistik verliert, d. h. um sicherzustellen, dass solche Kasuistik methodenorientiert bleibt, vermitteln Methoden nicht den Einzelfall, sondern allgemeine Merkmale, durch die Fallsituationen vergleichbar werden.10 Dies wiederum ist theorievermittelt, d. h. Methode als Weg beruht auf einer Deutung der Handlungssituation in geeigneten Theoriebezügen.11 Die Wege, auf denen Soziale Arbeit ihre Ziele erreicht, bleiben vielfaltig. Da sie von Verständnisweisen ausgehen, ist sogar damit zu rechnen, dass dieselbe Handlungssituation mehrere denkbare Wege umfasst. Fachlichkeit wird darin nicht gefährdet, sondern angeregt. So bleibt Praxis als methodisches Handeln von einer Vielzahl, um nicht zu sagen Fülle von Möglichkeiten geprägt, die zur Umsetzung vielfaltiger, eng oder weit gefasster sowie lebensweltlich orientierter Vorgaben in Betracht kommen. So zahlreich die Bezugspunkte der Sozialarbeitspraxis sind, so different sind die methodischen Ansatzpunkte; methodisches Handeln mutet einmal mehr wie ein Bauchladen an, in dem sich ein Reservoir an Nützlichem befindet, das je nach Bedarfslage zum Einsatz kommen kann. Eine Waffenkammer assoziiert der Begriff „Methodenarsenal" (Galuske, 2007, S. 110). Wie aber ist, wenn hier vordergründig eher Handlungspotenz als Handlungskompetenz aufscheint, methodisches Handeln dann als Ordnungszusammenhang für sozialarbeiterische Praxis zu verstehen? Der Blick geht auf die Methodendiskussion. Was in der Sozialen Arbeit als Methode gesehen und auch, was von einer Methode generell erwartet wird, steht nach wie vor zur Disposition. Zwar gibt es die einschlägigen Handlungsweisen und viel praktische Erfahrung mit Methoden in der Sozialen Arbeit; aber eben auch Beliebigkeit und Unverbindlichkeit. Sichtweisen bringen es mit sich, dass in der Wahl einer Methode eher ein Bekenntnis, als eine zwingend vom Handlungskontext diktierte Vorgehensweise aufscheint. Die Diskussion um die Methoden ist schon von daher schwierig. Zwei weitere Aspekte kommen hinzu, die kaum einen anderen Schluss zulassen, als den, dass es um die Methodendiskussion in der Sozialen Arbeit „nicht zum Besten" steht (Galuske, 2007, S. 20). Das eine ist ein Methodenverständnis, das auf ein „Rezeptwissen" abstellt, d. h. von Methoden Regeln erwartet, „die man im konkreten Fall nur benutzen muss, um das jeweilige Problem zu lösen" (vgl. Galuske, 2007, S. 15). Das andere sind Versuche, in der Sozialen Arbeit das Problem der beruflichen Identität „über die Methodenfrage zu
10
Die angezeigte Grenzziehung zur Kasuistik unterstreicht Callo (2005, S. 82), indem er Methoden als „geschlossene Handlungsvorgaben" versteht, die wiederum über eine Methodik in „logische Ordnung" gebracht sind.
11
Nach wie vor wird der „klassische" bzw. „traditionelle" Methodenbegriff (Einzelfallhilfe, soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit) angesprochen, zugleich aber aufgelöst, weil er sich als „zunehmend unzureichend" erwiesen habe (Erler, 2004, S. 92). In ein Methodenverständnis, das Methode als Weg, der mit einer Deutung beginnt, aufnimmt, kann er allerdings systematisch weiterhin gut eingebunden werden.
Methodisches Handeln • 59
lösen" (Galuske, ebd.), d. h. in mutmaßlich charakteristischen Handlungsweisen einen Identifikationsrahmen für den Beruf zu sehen. Weder die eine, noch die andere Erwartung kann eine Methode oder können Methoden erfüllen. Im ersten Fall scheitert sie nicht allein an der Komplexität des Anspruchs; sie ignoriert vor allem den Deutungscharakter sozialpädagogischer Handlungssituationen, zu dem feste Regeln nicht kompatibel wären. Im zweiten Fall steht die Erwartung in völligem Kontrast zur Funktionsweise einer Methode, denn Identität und Selbstverständnis Sozialer Arbeit bilden sich nicht unterwegs, sondern vorgängig dort, wo Aufgaben gesehen, bedacht und systematisiert werden. Dagegen ist nun zu sehen, dass Methoden — als Handlungswege — schematisch anzulegen sind. Ihre Konkretion im Fallbezug und ihre Abstraktion in einem spezifischen sozialarbeitlichen Verständnis sind Perspektiven, aber nicht Funktionen. Das andere: Die vorgefundene Vielfalt und Variabilität methodischer Orientierung steht dazu in enger Beziehung — zum einen spiegelt sie Anliegen und Bedarfe aus konkreten Handlungssituationen wider und fördert über Alternativen für die Vorgehensweise lebensweltliche Passung; zum anderen fordert sie auf, zu ordnen und zu systematisieren, damit Methoden in ihrer Bedeutung und Wirksamkeit im sozialarbeiterischen Handlungskontext sichtbar werden. Methoden werden damit als Strukturmerkmale von Praxis erkennbar, die eben nicht beliebig, sondern theoriebezogen Handlungsformen ausprägen. Vor diesem Hintergrund bedeutet methodisches Handeln vor allem Struktur. Es reicht über eine Systematik von Methoden hinaus und begründet deren Einsatz. Die Scharnierfunktion zeigt sich nochmals deutlich in einer Wegweisung, die Methodenauswahl und Methodeneinsatz vorstrukturiert. Karlheinz A. Geißler und Marianne Hege nutzen dafür den Begriff „Konzept", den sie im Sinne eines „Handlungsmodells" verstehen und über den sie die Anwendung von „Methoden und Verfahrensweisen" geregelt sehen (vgl. Geißler/Hege, 2001, S. 23). Methodisches Handeln als Konzepthandeln unterstreicht die einerseits systematisierende und andererseits integrierende Funktion von Praxis. Über den Konzeptbegriff sind Theorieüberlegungen ganz nach Bedarf einzubinden. Geißler/Hege machen darüber hinaus deutlich, dass sie Methoden als „Plan der Vorgehensweise" (ebd., S. 24) und Verfahren schließlich als die „Techniken" (S. 29) ansehen, mit denen Konzepte in Praxis umgesetzt werden. Wenn über ein Konzept Begreifen anklingt, so unterstreicht das ein Praxisverständnis, das berufliches Handeln wesentlich an der Aufgabenstellung ausrichtet, hinter der Soziale Arbeit übergreifend steht. Der Konzeptbegriff steht dabei für zwei Blickrichtungen: die eine geht hin zur Praxis und führt in konkrete Handlungszusammenhänge, d. h. zur Anwendung von Methoden und Verfahrensweisen; die andere lenkt zur Theorie, d. h. zur Betrachtung der Strukturen, auf die sich Handlungsmodelle überzeugend stützen können. So ist von einem Handlungsmodellverständnis auszugehen, das einen engeren und einen weiteren Sinn bereithält. Ein Handlungsmodell im engeren Sinn steht der methodischen Umsetzung nahe und orientiert sich klient- und sachbezogen (vgl. Geißler/Hege, ebd., S. 28). Ein Handlungsmodell im weiteren Sinn reicht an rahmengebende theoretische, um nicht zu sagen: wissenschaftliche Begründungs-
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muster heran und umfasst weitgehend jenen Kontext, in den hinein üblicherweise die Bezeichnung Handlungstheorie zielt. Vor dem Hintergrund der Bedenken, die oben bereits geäußert wurden und die Handlungstheorie auch als Verlegenheitsbegriff erkannten (vgl. Kap. 3, Abschn. 2), böte sich hier nun eine Möglichkeit, diesen Begriff aufzulösen. Praxis Sozialer Arbeit, die sich zu ihrem beruflichen Ethos streckt, und Theorie, die Praxis sucht, finden im Handlungsmodell zusammen. Dessen weiterer und engerer Sinn demonstriert beide Male die gleiche Qualität: ein Bewusstsein nämlich, was Soziale Arbeit ist, was sie will und was sie kann.12 Methodisches Handeln steht für dieses Bewusstsein, in erster Linie also für Struktur und Perspektive. Es ist mehr als ein Bauchladen, bietet auch mehr als ein „Werkzeugkasten" (vgl. von Spiegel, 2005, S. 149) und ist zugleich weniger bedrohlich als ein Waffenlager. Im methodischen Handeln kommen spezifische Instrumente zum Einsatz, die einer Praxis Sozialer Arbeit einschlägiges Profil verleihen, die damit auch Handlungskompetenz bei den Akteuren begründen und die alle Absicht darauf richten, sozialen und individuellen Belangen gerecht zu werden. Methodisches Handeln richtet sich aber vor allem an der Aufgabenstellung in der Sozialen Arbeit aus, d. h. es strebt nach Interventions-, Präventions- und Evaluationskonzepten und sucht Wege der Einmischung, Wege der Vorbeugung und Wege der Bewertung in passenden Verfahrensweisen zu realisieren.
4 Praxis und Sittlichkeit „Methoden sollten immer ethischen Normen verpflichtet sein", fordert Christian Callo (2005, S. 82) und weist damit für die Praxis Sozialer Arbeit auf eine Tür zur Sittlichkeit hin, die sich mehr aufdrängt, als man meinen möchte. Die Einschätzung freilich, dass hier der „humane Umgang mit Menschen" voran steht (Callo, ebd.), erklärt nichts und am wenigstens sich selbst. Menschen als Menschen zu nehmen, ist eine schöne Forderung, die nicht nur Sozialer Arbeit gut zu Gesicht steht; doch im Alltag wirken Beschränkungen, teils sachlicher, teils fachlicher, teils emotionaler Natur. Wenn Menschen, wie im Sozialarbeitshandeln, zu Objekten werden, ist es nicht selbstverständlich, sie im Sinne Kants immer auch zugleich selbst als Handlungszweck zu sehen. Diese Vorgabe des kategorischen Imperativs13 hat Callo dennoch im Blick, wenn er (ebd.) erklärt: „Ziele allein heiligen nämlich nicht die Mittel."
12
Solches Bewusstsein kommt beispielsweise in den „Arbeitsprinzipien methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit" zu Ausdruck, die Heiner (1998, S. 167) formuliert. Sie zeigen sich über pauschale Vorgaben (z. B. „Situationsdeutungen bis zum Eintreffen weiterer Informationen offenhalten") konzept- und zugleich situarionsorientiert.
13
Vgl. dazu bei Kant in der Grundlegung gabe, Bd. 4, Berlin 1968, S. 429.
%ur Metaphysik
der Sitten-, s. Kants Werke. Akademie Textaus-
Praxis und Sittlichkeit • 61
Interessant sind dennoch die angesprochenen Beschränkungen, die auch ein zur Menschlichkeit entschlossenes soziales Handeln erfassen und vor große Herausforderungen stellen. Zu ihnen gehören all die Kontingenten, die den sozialen Alltag prägen: Unwägbarkeiten des Schicksals, menschliches Fehlverhalten, eigene Irrtümer und, was häufig besondere Dramatik heraufbeschwört, der Verlust von Kontrolle über die Dynamik von Emotionen und Beziehungen. Menschlichkeit bleibt darin vorerst ein Ideal, das in der Wirklichkeit des Alltags regelmäßig verfehlt wird. Das wäre nun freilich kein Grund, sich von dem Ideal zu verabschieden; allein, es zeigt, wie hoch gesteckt und wie schwer zu erfüllen der in ihm liegende Anspruch ist. Einfacher wird die Sache nun nicht gerade, wenn man auf der anderen Seite zur Kenntnis nimmt, dass auch aus der Gesellschaft widersprüchliche Signale kommen, was die Relation von Mittel und Zweck anbetrifft. Gerade Klienten der Sozialen Arbeit erfahren immer wieder die Geringschätzung einer Öffentlichkeit, die Wert am Erfolg bemisst und in der Eigennutz durchaus hoch im Kurs steht. Eigennutz wiederum ist das genaue Gegenteil des oben angedeuteten Sinns von Menschlichkeit, weil er andere nur als Mittel für den eigenen Zweck „benutzt"; und Erfolg als Maßstab diskriminiert all die, die notwendigerweise zu denen gehören, auf deren Kosten andere zu einem Erfolg gelangen, der nicht möglich wäre, wenn er allen zuteil werden sollte. Darüber hinaus mobilisiert dieses Kriterium, weil Misserfolg wie ein Fehlverhalten anmutet, die Schuldfrage. Besonders sensibilisiert erscheint die Öffentlichkeit, wenn wiederum Erfolg durch soziale Leistungen, ganz gleich, ob rechtmäßig oder unrechtmäßig erlangt, ermöglicht wird, und neue Schieflagen im vermeintlichen Gerechtigkeitsgefüge entstehen. Solche Erfahrungen, die Menschen machen, berühren auch Soziale Arbeit, die in die Lebenswirklichkeit von Menschen eintritt. Bemühungen, hier Menschlichkeit, was immer das auch ist, zu praktizieren, könnten schnell wirkungslos werden, wenn ihnen die soziale Kälte entgegentritt, die in der Gesellschaft ebenso wie in privaten Lebensvollzügen ihr Unwesen treibt. Eine gewisse Legitimation geht nun freilich von der ethischen Unentschiedenheit aus, die das Leben des modernen, aufgeklärten Menschen trifft: jener hohen Bedeutung menschlicher Autonomie, die, in soziale Bezüge eingebunden, diese beherrscht und - mit einem Begriff wie Individualismus nur leidlich kaschiert — sozialschädlichen Egoismen zur Blüte verhilft. Andererseits duldet eine wirtschaftlich ausgerichtete globalisierte Welt offensichtlich keine Sozialromantik, sondern drängt zu Pragmatismus und stetigem Fortschritt. Eine Bewertung dieser Situation - der Lage des modernen Menschen — ist äußerst schwierig. Was bleibt einer Sozialen Arbeit, die sich mit der Gesellschaft verändern und entwickeln soll,14 hier zu denken und zu tun? Nochmals: Menschlichkeit ist ein plausibler Ansatz. Aber er erscheint vor dem Hintergrund all der brüchigen und verqueren Verhaltensweisen, die Menschen zeigen, entweder vermessen oder trivial.
14
Vgl. Engelke (2004, S. 300), mit Bezug auf die „Definition" Sozialer Arbeit und deren Kommentierung durch die InternationalFederation of Social Workers (IFSW), der auch der DBSH angehört.
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Um den Blick zu klären, ist hier nun tatsächlich ein ethischer Standpunkt aufzusuchen, durch den Soziale Arbeit handlungsfähig und ihre Praxis gestaltbar wird. Menschlichkeit an die Achtung der Menschenwürde zu binden und das Sozialarbeitshandeln davon leiten zu lassen, läge als Bezug auf der Hand, weil, über die Bestimmung des Art. 1 des Grundgesetzes, auch gesellschaftliche Handlungsvollzüge daran gebunden sind.15 Doch auch hier treten Idealität und Realität auseinander: zum einen über Interessenskonflikte, deren Wirkung im Zusammenleben von Menschen individuelle und auch strukturelle Diskriminierung heraufführt; zum andern über aktuelle Grundsatzdiskussionen, die das Menschwürdeargument zumindest hypothetisch zur Disposition stellen. Zu denken ist dabei an die Diskurse über Embryonenforschung und Sterbehilfe, die Menschenwürde zum Thema der Kontroverse erhoben haben. Zusätzlich sind nationale Grenzen längst überstiegen und Wege der Entscheidungsfindung ungeklärt. Das Eintreten für die Menschenwürde ist hier längst zu einem politischen Motiv geworden, und es wäre für die Soziale Arbeit, wenn sie ihr Handeln unpolitisch darauf verpflichten will, wichtig, nicht nur juristisch, sondern auch sachbezogen zu argumentieren. Sie kann sich dabei nicht auf die öffentliche Ethikdebatte verlassen - wenn es eine solche überhaupt gibt. Zweifellos gibt es einen weit reichenden Streit um Werte, und zwar im nationalen wie im internationalen Raum; Das Schlagwort vom „Kampf der Kulturen" (Huntington) mag auch hier genügen, um deutlich zu machen, wie different Wertebezüge weltweit sind, wie weit sie auch im gesellschaftlichen Kontext auseinander gehen können und wie essenziell Einzelne und Gruppen davon berührt werden. Dem Clash of Civilisations tritt ein wissenschaftlich geführter Ethikdiskurs an die Seite, der, auf unterschiedlichen Ebenen, konkret wie abstrakt Möglichkeiten ethischer Verbindlichkeit auslotet. Regelmäßig enden diese dort, wo Sollen und Wollen nicht zusammenfinden. Der einzig tragfahige Ansatzpunkt ist daher die Soziale Arbeit selbst, die ihr Sollen immer nur in Kongruenz zu ihrem Wollen verstehen und kommunizieren kann. Erkenntnisse, die sie gewinnt, Werthaltungen, zu denen sie tendiert, müssen im Licht sozialarbeiterischer Fachlichkeit betrachtet werden. Die Tür zur Sittlichkeit öffnet Soziale Arbeit für sich selbst, mit Argumenten, die ein Menschenbild vertreten, das der Beruf nahelegt und das in den gesellschaftlichen Wirkungsrahmen eingebracht wird. Das Menschenbild ist zunächst offen und über anthropologische und kulturelle Anhaltspunkte auszuformen. Ordnungsprinzip im Spektrum der Sichtweisen ist das sozialarbeiterische Anliegen, im Handeln am und mit dem Menschen ein tragfähiges soziales Gefüge mit auszugestalten. Es ist daher die Praxis, die Soziale Arbeit zu einer sittlichen Haltung motiviert. Aber es ist genau zu unterscheiden zwischen einem im Grundsatz philanthropen Habitus, der „Wohltätigkeit als moralische Forderung und alltägliche Praxis" ansieht und Soziale Arbeit dieser Praxis zuordnet (vgl. C. W. Müller, 2006, S. 11); und dem Vermögen einer kritischen Menschensicht, die grundsätzlich hinter solche Forderung und Praxis schaut. Ganz abgesehen von dem Dafürhalten hier, dass 15
Vgl. diesen Bezugspunkt bei Callo, 2005, S. 82.
Praxis und Sittlichkeit • 63
Wohltätigkeit Aspekt, aber nicht Grund Sozialer Arbeit ist, erscheint gerade die kritische Sicht einem beruflichen Handeln angemessen, das mit Menschen zu tun hat, die in ihrem Verhalten von den breiten Pfaden abweichen. Um Soziale Arbeit sittlich zu orientieren, reicht es nicht, ein helfendes, soziales Handeln als kulturelle Konstante zu setzen, sondern es ist genau auf die Motive und Zwecke solchen Handelns zu achten. Statt unkritisch Handlungsformen zu generalisieren, sollte danach gefragt werden, was menschliches Handeln überhaupt ausmacht. Dort und nirgendwo sonst ist die Basis für Sittlichkeit und auch die Basis für jedes helfende, soziale Handeln zu finden. Freilich liegt viel Verunsicherung über solchem Fragen. Der Anspruch, allgemein zu wissen, was menschliches Handeln ist, führt global gesehen in kulturelle Besonderheiten, im Detail betrachtet in wissenschaftliche Spitzfindigkeiten und nicht zuletzt in die neurobiologische Gehirnforschung, kurz gesagt: in den Wald. Universal gültige und akzeptierte Aussagen sind kaum zu erwarten. Allerdings führt dies weniger in die Ratlosigkeit als in eine Konkurrenzsituation, die jedenfalls dazu auffordert, die jeweils eigenen Argumente — hier die der europäisch-abendländischen, wissenschaftlichen Tradition — vorzutragen und zur Diskussion zu stellen. In dieser Tradition wiederum hat die philosophische Herangehensweise besonderes Renommee, war sie es doch gewesen, die für den Weg des Menschen in die moderne Gesellschaft hinein die entscheidenden Weichen gestellt hat. Die philosophische Betrachtung gründet — durch die Jahrhunderte immer wieder bestätigt — auf der Annahme, dass die Vernunftbegabung wesentlich den Menschen ausmacht. Besitz und Gebrauch der Ratio zum Unterscheidungskriterium zwischen Mensch und Tier zu stilisieren, liefert bis heute die Verhaltensgrundlage des Menschen gegenüber Tieren jeder Art, die er jagt, einsperrt, tötet und verzehrt. Maßgeblich wirkt hier wiederum Aristoteles, der, in Auslotung der Optionen menschlichen Zusammenlebens, feststellt: „Die andern Lebenwesen leben zur Hauptsache von der Naturanlage, einige auch teilweise durch Gewohnheit, der Mensch aber auch mit der Vernunft. Nur er besitzt Vernunft."16 Nicht alle Implikationen einer solchen Einschätzung müssen interessieren, wenn Handeln und Praxis auf ihre Grundlagen hin betrachtet werden. Entscheidend ist, dass an der Vernunft „vorbei zu denken" schwer vorstellbar ist; oder anders gesagt: dass Bestimmungsmerkmale eines auf Logik und Denken bezogenen Daseins nicht nur als Chance und Perspektive, sondern auch als Schicksal zu begreifen sind. Menschen können sich unvernünftig verhalten; häufig tun sie es auch: aber wir sind gewohnt, ihr Verhalten im Licht der Vernunft kritisch zu betrachten, auch wenn nicht immer alle unter Vernunft dasselbe verstehen. Eine Grundlage bleibt: Menschen werden, ob sie wollen oder nicht, bei dem, was sie tun, d. h. immer dann, wenn sie sich für andere vernehmlich äußern, von diesen anderen einem mehr oder weniger diffusen, individuell bis kollektiv ausgeprägten Maßstab unterworfen, der
16
Vgl. Aristoteles, Politik, 1332 b 4 f.
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eine Konstante erkennen lässt, und das ist ein formaler Wertebezug. Ganz gleich, wie dieser sich konkretisiert, zeigt sich ein verbindendes Merkmal: Menschen kommen in ihrem Handeln nicht umhin — und zwar, so wie wir es verstehen, anders als Tiere —, ihre Worte und Taten verantworten zu müssen. Von dieser Forderung abzurücken, käme dem Ende der menschlichen Zivilisation gleich, und sie ist ja auch über alle Maßen plausibel, weil Verantwortung aus der Fähigkeit entsteht, Handeln reflektieren zu können.17 Dieses Merkmal selbst bildet noch keinen Wertezusammenhang aus, aber es drängt Menschen, einen solchen zu erarbeiten. Einmal mehr hat die abendländische Philosophie ihren Beitrag dazu geleistet und Zugangsweisen benannt und abgewogen. Ein Spektrum wird erkennbar, in dem Schlüsselbegriffe wie Autonomie, Wille, Glückseligkeit, aber auch Gut und Böse, Gewissen, Schuld und Endlichkeit und noch einige mehr die Standpunkte verbinden und die Auseinandersetzung strukturieren. Vor solchem Hintergrund bilden sich, nicht weniger legitim, auch private Standpunkte mit individuell ausgeprägten Wertebezügen. Soziale Arbeit wird ihren Standpunkt finden und darlegen müssen. Was immer sie dazu aber aufgreift und wie kontrovers sie auch debattiert: Ihre Praxis führt sie unweigerlich in die Sittlichkeit und konfrontiert sie mit Wertebezügen, die sie abzugleichen und in die sie selbst gestaltend einzugreifen hat.18 Hier braucht es kein Gutmenschentum, das Hilfe generös und in immer bester Absicht zuteil werden lässt, das umständlich, aber großzügig Schuldaspekte ausklammert (vgl. Scherpner, 1962, S. 138), das sich zur Weltverbesserung berufen fühlt.19 Hier wäre es sogar möglich, offen und selbstkritisch die Frage zu stellen, warum sich der Beruf das antut: Menschen, die ihrer Verantwortlichkeit nicht nachgekommen und in Not geraten sind; Menschen, die Schuld gegenüber andern auf sich geladen haben; Menschen, die Zuwendung nicht verdient haben; Menschen, für die Perspektiven nicht entstehen, weil sie zu störrisch, zu krank oder zu alt sind; warum Soziale Arbeit all diesen Menschen dennoch zur Seite tritt und nach Lösungswegen oder nach Entlastung sucht. Zyniker im Beruf (vgl. bei Erler, 2004, S. 126) finden in der Arbeit mit Drogenabhängigen, mit Asylbewerbern, mit Ob-
17
Im Strafrecht zeigt sich dieser Zusammenhang besonders deutlich, wenn verminderte Schuldfahigkeit in dem Maß zugebilligt wird, wie einer zu solcher Reflexion seines Handelns nicht fähig war oder ist. Damit sind auch Begriffe wie Strafmündigkeit und Deliktfähigkeit begründet.
18
Dieses Handlungsverständnis spiegelt nicht zuletzt den hegelschen Gedanken, dass in der Sittlichkeit die „Idee der Freiheit" Ausdruck findet; vgl. Hegel, Grundlinien derPhilosophie des Rechts, § 142; s. G. W. F. Hegel. Werke, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1986, S. 292. Keine gesellschaftliche Praxis, die einem modernen Menschenverständnis folgt, kann sich in hegelscher Diktion einem sittlichen Zusammenhang entziehen. Dieser ist für die sozialen Belange der Menschen konstitutiv, denn „der Mensch hat durch das Sittliche insofern Rechte, als er Pflichten, und Pflichten, insofern er Rechte hat" (ebd., § 155; s. Werke, Bd. 7, S. 304).
19
Vgl. den Weltverbesserungsgedanken in einer Passage der berufsethischen Prinzipien des DBSH, in denen es unter Punkt 2.2 heißt: „Die Mitglieder des D B S H ermöglichen, fördern und unterstützen durch ihr professionelles Handeln in solidarischer Weise ... bei den beteiligten Menschen Einstellungen und Fähigkeiten, mit denen sie zur Verbesserung der Welt beitragen können." Vgl. http:// www.dbsh.de/Berufsethische_Prinzipien_DBSH.doc.
Zusammenfassung • 65
dachlosen, mit Strafentlassenen, aber auch mit Familien, mit Jugendlichen, mit alten Menschen: mit all denen, deren Schicksal eigentlich niemand teilen wollte, genügend Anlass, sich dieser Frage schließlich persönlich („Warum tue ich mir das an?") auszusetzen. Aber auch wer Sinn und Zweck Sozialer Arbeit so in Frage stellt, kommt dennoch an dieser unmissverständlichen Einsicht nicht vorbei, dass die Praxis Sozialer Arbeit zur Sittlichkeit auffordert. Und zwar zu einer Sittlichkeit, die nicht irgendwelchen beliebigen Wertezuschnitten folgt, sondern als beruflicher Handlungszusammenhang gesellschaftliche und wissenschaftliche Vorgaben einbezieht und reflektiert. In diesem reflexiven Kontext allein reift eine Basis, der sich auch Gutmenschentum verpflichten lässt und die zuletzt auch den Weltverbesserungsgedanken strukturell zu integrieren vermag (vgl. Schumacher, 2003, S. 14).
5 Zusammenfassung Soziale Arbeit steht im Dienst der Praxis, und Soziale Arbeit ist Praxis. Sie tritt ein in die Handlungsvollzüge von Menschen und begreift deren Bedeutung als ihre Praxis. Vordergründig begegnet ihr eine Hilfeerwartung, die sie zwar zu erfüllen ansetzt, von der sie aber weiß, dass sie im Praxisrahmen ein Akzent, aber nicht das Kennzeichen ist. Soziale Arbeit im Dienst der Praxis nimmt eine dreifache Aufgabenstellung wahr, mit der sie diese Praxis erreicht, die aber zugleich auch theoriebildend nach innen wirkt. Zur Aufgabenstellung gehören Intervention, Prävention und Evaluation. Dieser dreifache Aufgabenzuschnitt verwahrt das Hilfepotential, erlaubt aber auch, eine Kontrollfunktion auszuüben. Theoriearbeit, die er anregt, tritt ihrerseits wieder in den Dienst der Praxis. Diese Praxis steht der Lebenswirklichkeit der Menschen nahe, ist aber nicht mit dieser identisch. Vielmehr bildet sie theoriegestützt Modelle aus, die solche Lebenswirklichkeit punktuell und auch generell zu erfassen suchen. Soziale Arbeit ist selbst Praxis in ihrem methodischen Vorgehen. Dieses bezieht die verschiedenen Modelle handlungsleitend mit ein und bedient sich geeigneter Methoden und Verfahrensweisen, um konkret so handeln zu können, dass das Profil Sozialer Arbeit sichtbar wird. Methodisches Handeln zeigt sich als ein Zusammenhang, der in der Mitte zwischen Theorie und Praxis Handlungsmodelle entwirft und nach passenden Instrumenten der Umsetzung sucht. Methoden entsprechen Strategien für die Umsetzung; Verfahren kommen als Techniken auf der operationalen Ebene zum Einsatz. Praxis umfasst dementsprechend ein Spektrum vom operationalen Handeln über strategisches Vorgehen bis hin zum Handlungsmodell (Konzept) und reicht darin an die abstrakte Betrachtung (Theorie) heran, die nicht nur die Planung, sondern auch die Auswertung lenkt. Ein Verständnis Sozialer Arbeit als Praxis kehrt aber auch den sittlichen Charakter des Sozialarbeitshandelns hervor. Der ist allerdings nicht am Hilfeanliegen festzumachen, sondern am Menschen, dem durch sein Handeln Verantwortung erwächst. Die Praxis Sozialer Arbeit führt unausweichlich in die Sittlichkeit, weil Wertaspekte aufscheinen. Diese näher zu bestimmen, ist eine Aufgabe weiterer
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ethischer Überlegungen. Alles deutet darauf hin, dass Vernunft und Vernünftigkeit Motive sind, die im Rahmen solcher Überlegungen eine tragende Rolle übernehmen können. Mittler hin zu einem wissenschaftlichen Verständnis sind sie allemal.
5. Kapitel Die Funktion Sozialer Arbeit in der Gesellschaft 1 Das gesellschaftliche Mandat Dass Soziale Arbeit für die Gesellschaft handelt, kann kaum bezweifelt werden. Das ergibt sich schon der Sache nach, weil die sozialen Belange von Menschen immer auch solche der Gemeinschaft sind, in der sie leben. Das zeigt sich zweitens unmissverständlich daran, dass die beruflich geleistete Arbeit in der Regel von öffentlichen Stellen, d. h. durch Steuergelder finanziert wird. Und das entspricht nicht zuletzt auch den historischen Wurzeln der beruflichen Sozialarbeit in Deutschland (C. W. Müller, 2006, S. 52). In vielen Fachbeiträgen wird diese einschlägige Verbindung von Sozialer Arbeit und Gesellschaft herausgestellt. Vom „Sozialarbeiterischen Sachverhalt" als „Teilmenge der sozialen Probleme einer Gesellschaft" ist die Rede (Schmitt, 1998, S. 19); von Sozialer Arbeit als „gesellschaftlich institutionalisierte Reaktion auf typische psychosoziale Bewältigungsprobleme in der Folge gesellschaftlich bedingter Desintegration" (Böhnisch, 1999, S. 262); davon, dass eine Gegenstandsdiskussion „im Zusammenhang mit der über das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Gesellschaft geführt werden" muss (Göppner/Hämäläinen, 2003, S. 41); dass Soziale Arbeit für die Gesellschaft schlichtweg „notwendig" ist (Kleve, 2005, S. 35); dass „Legitimation und Akzeptanz" durch „Einbindung der Sozialen Arbeit in eine gesellschaftlich und historisch entstandene wohlfahrtsstaatliche Formation" entstehen (Schweppe/Sting, 2006, S. 8). Das sind nur einige Beispiele für ein Verständnis, das Soziale Arbeit letztlich im Auftrag der Gesellschaft handeln sieht. Dabei zugleich von einem Mandat zu sprechen, scheint erlaubt, weil die Wortbedeutung dieselbe ist. Allerdings gibt es von Sprachgebrauch her zwischen Auftrag und Mandat einen wichtigen Unterschied: Während der Auftrag in aller Regel eine Aufgabenstellung impliziert, die klar umrissen ist und exakt umgesetzt werden soll, damit der Auftrag erfüllt werden kann, meint das Mandat, mit seiner Anbindung an juristische Verfahrensweisen, zumeist ein anwaltschaftliches Handeln, das auf der Übertragung von Vollmachten beruht und darin zu einer gewissen Eigenständigkeit findet. Demgegenüber hat der Auftrag wesentlich stärker Befehlscharakter, ohne viel Auslegungsspielraum. Das mag nun eine Neigung in der Sozialen Arbeit begründen, sich selbst in einem gesellschaftlichen Mandat zu sehen, wobei es keinen Widerspruch darstellt, im Mandat eine klare Auftragslage zu erkennen. Aber einen Auftrag als Mandat wahrzunehmen, entspricht dem Selbstverständnis des Berufes, der sich über seine Theoriearbeit weitgehend in der Lage sieht, die allgemein ange-
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legte Auftragssituation auszulegen und in konkretes Handeln zu übertragen. 1 Eine besondere Bedeutung kommt dabei den Institutionen der Sozialen Arbeit zu, die in Eigenverantwortung des Berufes entstehen, vielfach abgesichert und gestützt durch fachliche Perspektiven, und die in ihrer Fachlichkeit jenes Maß an Handlungsautonomie demonstrieren, das über den Auftrag hinaus von einem Mandat zu reden rechtfertigt (dazu vgl. auch Röh, 2006, S. 444). Wie weit reicht aber und was bedeutet der Mandatsbegriff für die Soziale Arbeit? Es ist keine Frage, dass sich berufsständisches Denken ermuntert fühlen könnte, Vorstöße in Professionskategorien darauf zu gründen. Allerdings würde dann auch die Gesellschaft als Mandantin der Sozialen Arbeit zu betrachten sein, gewissermaßen wie eine juristische Person, die zu einer Streitfrage ihre Interessen kompetent wahrnehmen lässt. Das Bild passt nicht. Die Gesellschaft insgesamt kann sich nicht wie eine solche Person verhalten, weil sie den Rahmen für jegliches soziale Geschehen selbst vorgibt. Das heißt, sie kann sich nicht sich selber gegenüber vertreten lassen. Die Mandatslogik der Sozialen Arbeit ist eine andere. Sie beruht auf einer Vertretung der Interessen von einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft dieser als Ganzer gegenüber und zugleich auf der Interessenwahrung des Ganzen gegenüber diesen Mitgliedern. Das ist, anders als es manche sehen, durchaus ein „eindeutiges gesellschaftliches Mandat", allerdings so gestrickt, wie die Gesellschaft insgesamt ein Mandat überhaupt nur erteilen kann. 2 Das präzisiert nun weiter auch das Verständnis des Auftrags, der Sozialer Arbeit seitens der Gesellschaft erteilt wird. Er ist durchaus nicht eindeutig. Auch wenn er, wie weiter unter noch zu sehen sein wird (vgl. Abschn. 3), über das Motiv der sozialen Problemlösung wesentliche Kontur erhält, bleibt eine Polarität, in der das Kleinste dem Größten, das Individuum der Gemeinschaft, der Einzelne der Gesellschaft gegenübersteht. Die Pole prägen Praxis aus, zeigen Ambivalenzen auf, denen ein Schlagwort wie das der sozialen Problemlösung nicht entspricht. Vielmehr braucht es innerhalb des Instruments Soziale Arbeit eine Kraft, die Interessenvielfalt zu erfassen und festzustellen, und darin das gesellschaftliche Interesse in seiner häufig kontrapunktischen Ausrichtung zu legitimieren. Es geht um Deutung in der Polarität, bei der eine Verbindung von Einzel- und Gesellschaftsinteresse als Gesamttatbestand überhaupt erst entsteht. Die viel zitierte Rede von Sozialer Arbeit als dem sozialen Gewissen der Gesellschaft macht Sinn, und zwar als ein Verständnis Sozialer Arbeit, in dem sich diese als gesellschaftliche Funktion präsentiert und sich eines Auftrags annimmt, den die Gesellschaft selbst, ohne die eigenständige Denk- und Handlungsperspektive des Berufes, nicht erfüllen, ja nicht
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Mit Röh (2006, S. 442 f.) ist zu verstehen, dass im Mandat „der Auftrag auch als Aufgabe gesehen wird". Das wiederum macht es möglich, die oben betrachtete Aufgabenstellung (Kap. 4, Abschn. 2) Sozialer Arbeit (Intervention, Prävention und Evaluation) entsprechend zu instrumentalisieren. Damit ist nicht nur der Auffassung Kleves (1999b, S. 372) zu widersprechen, dass Soziale Arbeit in ihrer „Doppelorientierung" zur Hilfe und zur Kontrolle hin nicht „über ein eindeutiges gesellschaftliches Mandat verfüge", sondern auch angezeigt, wie Gesellschaft als Mandantin Sozialer Arbeit in Erscheinung zu treten vermag: als Sachwalterin der vitalen sozialen Interessen ihrer Mitglieder.
Das gesellschaftliche Mandat • 69
einmal formulieren könnte. Gesellschaft braucht nach solchem Verständnis durchaus Vertretung, aber eben so, dass sie durch ein ihr angegliedertes berufliches Handeln den Schnittpunkt von Gemeinschafts- und Individualinteressen beleuchten und einbinden lässt.3 Das Mandat, das sich daraus ergibt, zeigt die Gesellschaft insgesamt aktiv und Soziale Arbeit in ihr als ein Instrument mit relativer Autonomie, das nicht einfach Aufträge erledigt, sondern das diese Aufträge selbst mit formuliert. Entsprechend erstreckt sich das berufliche Handeln auch in die gesellschaftliche Exekutive hinein, wo öffentliche Trägerschaft Soziale Arbeit und deren fachliche Kompetenz amtlich vereinnahmt. Zugleich gehört zu diesem Mandat aber auch der lebensweltliche Bezug, im Rahmen dessen Soziale Arbeit Handlungsbedarfe und -merkmale in exklusiver Zuständigkeit und Deutungskompetenz festlegt und in den sozialen Blick- und Handlungsrahmen der Gesellschaft einbringt. In solcher Praxis mag eine Autonomie Sozialer Arbeit klarer noch aufscheinen, doch bleibt sie auch hier gebunden an Gesellschaft, der diese Autonomie nützt, und die daher — gesellschaftslogisch gesprochen - deren Bestand durch den Einsatz öffentlicher Mittel abzusichern hat. Das ist nun die Struktur, die so häufig zu dem Missverständnis führt, Soziale Arbeit stehe — nach dem Motto „wer zahlt, schafft an" — ganz in der Abhängigkeit sozialpolitischer Vorgaben, so als wären Zuwendung und Unterstützung gegenüber Bedürftigen nicht sozialstaatliche Pflicht, sondern Großzügigkeit (vgl. Bock, 1995, S. 50). Die Argumente, der Sozialstaat sei ja schön und gut, aber er müsse eben auch finanzierbar sein, sind hinlänglich bekannt.4 Sie werden, wie Christoph Butterwegge (2005, S. 247) hervorhebt, auch wissenschaftlich kolportiert. Man muss es aber umgekehrt sehen: Eine staatliche Gemeinschaft, die nicht die Mittel dafür aufbringt, dass ein Mindestmaß an sozialem Interessenausgleich realisiert werden kann, verfehlt nicht nur eines ihrer wichtigsten Ziele — sie verdient es nicht, Gemeinschaft genannt zu werden.5 Dagegen bringt das Anliegen, diesen Anspruch zu erfüllen, eine Soziale Arbeit hervor, die zwar am öffentlichen Geldhahn hängt — wie übrigens das Gesundheitssystem und das Rechtswesen auch —, die aber selbstbewusst auftreten kann, weil die Gesellschaft auf sie nicht verzichten darf.6 Das bedeutet ein gesellschaftliches Mandat für die Soziale Arbeit, in dem sich Auftrag
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Dies ganz im Sinne Wendts, der zur beruflichen Identität Sozialer Arbeit auch die politische Perspektive rechnet und fordert (1995b, S. 28): „Was sozial vertretbar scheint, muß auch politisch vertreten werden."
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Der Gedanke findet seine zynische Zuspitzung in einer Aussage des ehemaligen BDI-Präsidenten und Buchautors Hans-Olaf Henkel, der in einem Interview im Jahr 2005 konstatierte: „Zu sozial ist unsozial." Für die Sozialarbeitsperspektive tritt Wahnschaffe (2007, S. 1 1 0 ff.) solcher Meinung überzeugend entgegen.
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Heribert Prantl spricht in einem Kommentar in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG (14./15.10.2006) in solchem Zusammenhang von der „Verwahrlosung öffentlicher Verantwortung".
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Vgl. auch Butterwegges deutliche Worte, die ganz im Sinne sozialarbeitlichen Handelns ausgelegt werden können (2005, S. 255): „In einer wohlfahrtstaatlichen Demokratie ist Freiheit immer die Möglichkeit der Schwächsten, über ihr Leben selbst zu bestimmen ..."
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und Aufgabe verbinden, in dem besonders das reflexive und wissenschaftliche Potential des Berufes zum Tragen kommt und in dem so durchaus Züge einer Profession erkennbar werden, die eigenständig zu einem strukturellen Beitrag zur Absicherung menschlicher Lebensqualität in der Lage ist. Dieses gesellschaftliche Mandat nimmt die Soziale Arbeit wahr.
2 Solidarität und Subsidiarität Die Frage nach der Funktion Sozialer Arbeit in der Gesellschaft lenkt den Blick auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Hier wird aber vor allem eines deutlich: Es gibt sie nicht, die Gesellschaft. Dagegen füllen den Begriff regionale und historische Besonderheiten, die vor allem dann, wenn nationale Grenzen überschritten werden, allgemeine Merkmale in den Hintergrund drängen. Politische, geschichtliche, strukturelle und nicht zuletzt mentale Unterschiede real existierender Gesellschaften sind gemeinhin so groß, dass es vermessen wäre, eine dieser Ausformungen idealtypisch herauszuheben. Soziale Arbeit, die, wie hier bislang betrachtet, ihre Praxis an Merkmalen deutscher Gesellschaftswirklichkeit ausrichtet, demonstriert damit zwar einen Bezugspunkt, doch sie findet darin durchaus nicht ihren allgemeinen Ausgangspunkt. So handelt es sich beim Blick auf die Einbindung Sozialer Arbeit in moderne Gesellschaft vornehmlich um ein Gedankenexperiment. Es geht darum, sich vorzustellen, welche Implikationen ein an beruflichem Handeln ausgerichtetes, aber doch gedachtes Sozialarbeitsverständnis für ein Verständnis von Gesellschaft hat, wobei es wiederum zunächst nicht relevant ist, ob das so konturierte gesellschaftliche Gebilde real ist. Es mag sein, dass im Gedankenabgleich mit der Wirklichkeit der bundesdeutschen Gesellschaft — einerseits bezogen auf sozialarbeiterische Handlungsfelder, andererseits in Hinblick auf Organisationsformen Sozialer Arbeit — Gedachtes vielfach passt. Das spricht nicht gegen den experimentellen Ansatz; es spricht vielmehr für diese Gesellschaft — und lässt sich mutatis mutandis auf andere Gesellschaften übertragen. Die Funktion Sozialer Arbeit in der Gesellschaft, auch wenn sie in einem Mandat ausgewiesen ist, bestimmt sich vom Gesellschaftsverständnis her. Das bedeutet zum einen, dass sich Soziale Arbeit in eine Theorie der Gesellschaft einfügt, einem Ideal, wenn man so will, das sie als formal notwendig zeigt; zum andern, dass eine Funktionalität auch von der gesellschaftlichen Realität her bestimmt ist, die spezifische Bedarfe ausprägt sowie Möglichkeiten und Grenzen sozialarbeiterischer Einflussnahme regelt. Über die Legitimation, die Soziale Arbeit durch die ideale Betrachtung erfährt, darf sie sich zugleich aufgefordert wähnen, auch die realen Verhältnisse mit auszugestalten. Wolf Rainer Wendt zeigt, was es bedeutet, wenn „sich Bürgerinnen und Bürger ermächtigen, in der näheren und weiteren Sphäre ihres Lebens soziale Interessen zu verfolgen": dann nämlich „interagiert Sozialarbeit mit Sozialpolitik" (vgl. Wendt, 1995b, S. 28). Zivilgesellschaft und Staat treten hier in eine Kooperation, die nochmals den Inhalt des beschriebenen Man-
Solidarität und Subsidiarität • 71
dats verdeutlich: Soziale Arbeit, die in aufeinander bezogenen Verantwortungsbereichen private und öffentliche Trägerschaft aktiviert und verknüpft, ohne sich von einer Seite vereinnahmen resp.funktionalisieren zu lassen. Unter den Aspekten bürgerschaftlichen Engagements, d. h. gesellschaftlich gesehen horizontal, und sozialstaatlicher Verantwortung, also im gesellschaftlichen Gefüge vertikal.\ kommen, idealtypisch betrachtet, zwei soziale Prinzipen zum Tragen, deren Bedeutung für die Realität einer Gesellschaft kaum überzubewerten ist: Solidarität und Subsidiarität. In diesen beiden Begriffen kulminiert ein soziales Verständnis, das menschliches Zusammenleben nur dann als Gemeinschaft ansieht, wenn Stärkere für Schwächere einstehen und wenn dies ohne Bevormundung, nach Maßgabe individueller Autonomie, geschieht. Es handelt sich um formale Bestimmungen, die sicherstellen, dass Gemeinschaft als das Ganze mehr zu sein vermag als die Summe ihrer Teile, die zugleich aber für jeden dieser Teile Wertschätzung verspricht.7 Von den Bestimmungen abzurücken, hieße, die Konstruktion der Zusammengehörigkeit zu zerbrechen und Gemeinschaftsverständnis und Gemeinschaftssinn aufzulösen. Auch wenn Gesellschaft aufgrund ihrer Komplexität nicht Gemeinschaft sein kann und sein will, sorgen doch dieselben Prinzipien für den sozialen Zusammenhalt.8 Und auch wenn dort leichter scheint, Defizite über Machtstrukturen aufzufangen, leidet auch in gesellschaftlichen Organisationsformen das Zusammengehörigkeitsgefühl bzw. die Motivation der einzelnen Mitglieder, wenn Solidarität und Subsidiarität nicht ihre Kraft entfalten können. Wenn sich aber die Mitglieder von den gemeinsamen Zielen innerlich zu verabschieden beginnen, verliert Gesellschaft an Dynamik und erstarrt. In den horizontalen und vertikalen Linien der Gesellschaft kommt schon dem begrifflichen Verständnis nach ein Verlangen zum Ausdruck, das in jedem menschlichen Zusammenleben Individualität und Sozialität zusammenführt: das Bedürfnis nach Gerechtigkeit. In jedem sozialen Lebenszusammenhang geht es um eine Ausgewogenheit von Interessen und Chancen und um Aushandlungsprozesse, in die alle möglichen Facetten individueller Bedürfnisse und sozialer Dynamiken eingebracht werden können. Gerechtigkeit lässt sich so als gesellschaftliches Thema „im Sinne eines politischen Leitbegriffs" verstehen (Eisenmann, 2006, S. 232). Die Organisa7
Ein Meinungsbeitrag von Claus Hulverscheidt (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 3./4.2.2007) spitzt genau dieses formale Verständnis von Beitragspflicht und gleichzeitiger Wertschätzung Einzelner in der Gesellschaft für die öffentliche Wahrnehmung zu, wenn es dort zum Thema Erbschaftssteuer heißt: „Wer ... eine 500-Quadratmeter-Villa, zehn Mietshäuser und zwei Ferraris oder eine dicke Beteiligung an einem Großkonzern erbt, der kann davon ruhig einen größeren Teil als bisher an die Allgemeinheit abtreten. Es reichen auch acht Mietshäuser und ein Ferrari. Das ist kein Neid, sondern Solidarität."
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Der klassischen soziologischen Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft legt Max Weber „die Einstellung des sozialen Handelns" zugrunde, die im ersten Fall als Gefühl, im zweiten als Rationalismus ausgeprägt ist (vgl. Weber, 1976, S. 21). Diese Bestimmung ist, in Hinblick auf die Entwicklung im 20. Jahrhundert, zu erweitern, denn auch wenn „wert- und zweckrational" angestrebter „Interessenausgleich" (vgl. ebd. Webers Verständnis von Vergesellschaftung eine „gefühlte Zusammengehörigkeit" (in Webers Sinn Merkmal von Vergemeinschaftung nicht erzeugen muss, wird diese Kategorie über die Unmittelbarkeit der modernen Kommunikations formen doch erreicht.
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tion von Unterstützungsformen für Schwächere (Solidarität) und die Beachtung individuellen Leistungsvermögens (Subsidiarität) werden damit zum Dreh- und Angelpunkt in den Bestrebungen einer Gesellschaft, in ihrem Handeln die Idee von sozialer Gerechtigkeit zu realisieren. Die Funktion Sozialer Arbeit dabei liegt auf der Hand: Über das Mandat sichert sie beide Prinzipien mit ab. Es macht Sinn, Soziale Arbeit „als institutionalisierte Form gesellschaftlicher Solidarität" zu verstehen (Gruber, 2005, S. 7), wenn man sie in der Wahrnehmung ihrer Aufgabenstellung das Eintreten der Stärkeren für die Schwächeren organisieren sieht. Subsidiarität wiederum zeigt sich über das Motiv der Hilfe zur Selbsthilfe nicht nur als strategische Orientierung (vgl. oben, Kap. 4, Abschn. 1), sondern auch als fachlicher Ansatz in das Handlungsverständnis systematisch eingebunden (Gruber, 2005, S. 66).9 In der Perspektive ihrer Ethik befestigt Soziale Arbeit so nicht zuletzt ihre gesellschaftliche Funktion; über ihr Mandat, aber vor allem über ihr spezifisches Wirken am Schnittpunkt von Zivilgesellschaft und Staat wird sie zu einem unverzichtbaren Instrument im gesellschaftlichen und politischen Ringen um soziale Gerechtigkeit.10
3 Die Aufgabe der sozialen Problemlösung Das vornehmliche Interesse der Gesellschaft an Sozialer Arbeit ist die Lösung sozialer Probleme. Daran kann es keinen Zweifel geben; kaum ein anderes Anliegen erscheint in Hinblick auf ein gelingendes menschliches Zusammenlebens dringlicher. Das soziale Problem ist ein Topos, der mit gesellschaftlicher Wirklichkeit untrennbar verknüpft ist, weil darin soziale Beziehungen und Strukturen wirken und zugleich Veränderungsprozessen unterworfen sind — natürlichen wie künstlichen —, die Spannungen erzeugen. Das geschieht im kleinen wie im großen Rahmen; aber jede soziale Problemstellung, und sei sie noch so begrenzt, hat Wirkung und Bedeutung für das Ganze der Gesellschaft.11 Ein soziales Problem erzeugt nicht immer Handlungsbedarf; manches löst sich von selbst, anderes kann gar nicht gelöst werden. Und nicht immer geht es bei der sozialen Problemlösung um Soziale
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Mit einem „Plädoyer für ein Subsidiaritätsprinzip" siehe schon Dewe u. a., 1986, S. 251 f.
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Bemerkenswert ist, dass auch ein Autor wie Eisenmann, der, aus einer pragmatischen Sicht heraus, einen Beitrag Sozialer Arbeit zur sozialen Gerechtigkeit über die Erfüllung sozialrechtlicher Vorgaben hinaus in Frage stellt (2006, S. 238), seinerseits diese instrumenteile Funktion bestätigt, wenn er schreibt (S. 237): „Soziale Arbeit geht von der Lebenswelt ihrer Klienten aus und lenkt (gerade die politische) Aufmerksamkeit auf diese und bemüht sich darum, ihnen die Teilhabe an der Gesellschaft und ihrer Gütern zu ermöglichen."
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Hier ist Schillings Unterscheidung von öffentlichem und privatem Problem (2005a, S. 221) kritisch zu sehen, wenn sie bedeutet, „dass ein privates Problem erst dann zu einem sozialen Problem wird, wenn es von einer öffentlichen Institution als solches formuliert wird". Vielmehr zeigt sich das soziale Problem immer dann, wenn über die persönliche Lebensführung hinaus menschliche Beziehungen betroffen sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Öffentlichkeit dazu Stellung nimmt oder nicht.
Die Aufgabe der sozialen Problemlösung • 73
Arbeit. Verschiedene Berufsgruppen und eigentlich alle Personen in der Gesellschaft sind zur Problemlösung aufgefordert. Von ihren Beiträgen hängt das Funktionieren von Gesellschaft ab.12 Aber die Lösung sozialer Probleme hat vor allem damit zu tun, wie genau sie erkannt werden. Soziale Arbeit fällt nun auf der einen Seite ein bestimmter Problemzuschnitt zu und darüber ein gesellschaftlicher Handlungsbereich, der von dem anderer Berufsgruppen weitgehend abgegrenzt ist. Hier gilt es, mit hoher Sensibilität soziale Problemstellungen aufzuspüren und zu quantifizieren. In vorbildlicher Weise eignet sich dazu die oben (Kap. 2, Abschn. 3) schon angesprochene Problemkarte, mit der Silvia Staub-Bernasconi (1998, S. 73) „Individuen als Mitglieder sozialer Systeme" betrachtet und Problemstellungen über eine Matrix erfasst, die über „allgemeintheoretische Dimensionen" und „Problemdimensionen" individuell-situative Merkmale zuordnet. Es mag andere Wege der Problemerfassung geben; aber es bleibt deutlich, dass die Genauigkeit der Erfassung mit der Wirksamkeit möglicher Lösungsansätze korrespondiert. Unabhängig von ihrem ausgewiesenen Handlungsbereich aber weiß sich Soziale Arbeit auf der anderen Seite für soziale Probleme generell sensibilisiert und in gewissem Sinn zur Bewertung jeder sozialen Problematik in der Lage, auch wenn Lösungen in andere Handlungsbereiche gehören. Es ist genau diese Kompetenz, die dem Beruf jene Eigenständigkeit verleiht, die für die Wahrnehmung des angesprochenen Mandats wichtig ist. Die allgemeine Sensibilisierung für soziale Probleme hilft, die Aufgaben in der Praxis angemessen zu bewältigen; und sie ist ein wichtiger Bezugspunkt für die Theorie, die darin einen Wesenszug Sozialer Arbeit erblickt (vgl. Kap. 2, Abschn. 4). So treffen sich das gesellschaftliche Interesse und das Wesen Sozialer Arbeit in deren Potential zur sozialen Problemlösung. Es ist schlüssig, daraus eine Aufgabenstellung zu formulieren, aber es wäre falsch, mit dieser Aufgabe Sozialer Arbeit zugleich ihren Gegenstand zuzuweisen. Manche tun es; manche bezweifeln aber auch, dass ein Gegenstand überhaupt benannt werden kann. Die Verständnisweisen sind uneinheitlich und unscharf. Für die soziale Problemlösung aber lässt sich keine exklusive Zuständigkeit Sozialer Arbeit erkennen. Ein Gegenstand, der berufliche Identität verbürgt, wird nicht generiert, wohl aber ein Objekt, dem sich das berufliche Denken und Handeln zuwendet. In diesem Objekt erkennt es die Schnittstelle zur gesellschaftlichen Bedarfslage, zu der die eigene Handlungsorientierung kompatibel ist. Anders gesagt: In der sozialen Problemlösung finden Auftrag und Aufgabe als Merkmale sozialarbeiterischer Praxis zusammen. Eine Funktion Sozialer Arbeit in der Gesellschaft läuft also über das Objekt soziale Problemlösung. Das bedeutet die Vereinnahmung des Berufes für diese Aufgabenstellung; aber es bedeutet auch, dass dem gesellschaftlichen Anliegen der
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Deutlich wird dies, exemplarisch für Deutschland gesehen, bei Bäcker u. a. (2000, Bd. 2, S. 332), wenn „Soziale Probleme und aus ihnen resultierende Anforderungen an die Sozialpolitik" betrachtet und, in Hinblick auf die „Vielzahl von sozialen Bedarfs- und Notlagen", die Bedeutung nicht-professioneller Unterstützungsleistungen ebenso wie die von professionellen Hilfen herausgestellt werden.
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sozialen Problemlösung mit und in Sozialer Arbeit ein berufliches Handeln begegnet, das von seinem Leistungsvermögen her zu einem größeren Dienst in der Lage ist. Während soziale Probleme in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen auftreten und unterschiedliche Berufe und Funktionsweisen auf den Plan rufen, findet Soziale Arbeit, über die Beschäftigung mit der Frage, was als sozial und was als soziales Problem zu gelten hat (vgl. Schilling, 2005a, S. 214 ff.), zu einer reflexiven Durchdringung des Tatbestandes als solchem und — das hat sich ja bereits angedeutet — zu einer Wissenschaftlichkeit, die in weit größerem Rahmen als nur im beruflich-institutionellen Setting genutzt werden könnte — und sollte. Das Motiv und Anliegen der sozialen Gerechtigkeit ist schon angesprochen worden. Die sozialen Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität deuten weiter auf ein Menschenbild hin, das über die Soziale Arbeit auch für die Gesellschaft zu aktivieren wäre. Antonin Wagner schlägt sogar vor, die Wissenschaft der Sozialen Arbeit formal am homo disoeconomicus auszurichten, um eigenen Klärungsbedarf dafür anzumelden, wie es in der zweckrationalisierten Gesellschaft überhaupt zu sozialen Verwerfungen kommen kann. Denn auch diese Wahrnehmung scheint Sozialer Arbeit nahe zu stehen: dass der Mensch im „Mißbrauch" der Möglichkeiten, die ihm durch soziale Einbindung erwachsen (Wagner, 1995, S. 294), sich selbst „als ein seine Menschlichkeit verfehlendes, als ein immer auch im Scheitern stehendes Wesen" (ebd., S. 295) kennzeichnet. So aktiviert das gesellschaftliche Anliegen der sozialen Problemlösung Potentiale zur eigenständigen Analyse menschlicher Qualitäten. Allerdings ist, nach dem hier Gesagten, davon auszugehen, dass es im Wesen und im Interesse Sozialer Arbeit liegt, weniger auf den Missbrauch selbst, als auf Möglichkeiten zu achten, ihn zu beseitigen oder zu verhindern. Und eines ist im Kontext einer gesellschaftlichen Funktion Sozialer Arbeit zu beachten: Der Nutzen für die Gesellschaft besteht in der Problemlösung. Reflexive Kapazität dafür einzusetzen, „ein allgemein anthropologisches Phänomen" (Wagner, 1995, S. 295) zu analysieren, führt in eine rein akademische Betrachtung, zeigt Soziale Arbeit punktuell als Wissenschaft, aber ignoriert das berufliche Handeln. Anthropologische Kompetenz dagegen zu nutzen, gegenständlich vitale gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen, legitimiert und demonstriert Soziale Arbeit als Profession.
4 Gesellschaft denken Der Nutzen und die Funktion Sozialer Arbeit für die Gesellschaft kann enger und weiter gefasst werden. Minimal steht der Beruf für einen einschlägigen Beitrag zur sozialen Problemlösung. Das ist als exquisites Markenzeichen anzusehen, als Ausweis gesellschaftlicher Unentbehrlichkeit, als Argument für einen Status gesellschaftlicher Wertschätzung. Maximal steht die Profession für eine Reihe von gesellschaftsrelevanten Perspektiven, die in eigener Kompetenz erzeugt und in den gesellschaftlichen Wirkzusammenhang eingebracht werden. Wissenschaftliche Ausrichtung und ein diskurstauglicher Wertebezug sind hier die Markenzeichen; zum Leistungskatalog gehört, über die Lösung sozialer Probleme hinaus, der Blick
Gesellschaft d e n k e n • 75
auf die Gesellschaft selbst. Beides ist gesellschaftlich erwünscht und im Mandat begründet. So kann es nicht schwer fallen, Soziale Arbeit als Beruf und Profession zu sehen, beides in gesellschaftlicher Funktionalität, und in der sozialarbeiterischen Problemlösungskompetenz immer auch den Ansatz zu analytischer Tiefenschärfe wahrzunehmen, der eigene Beiträge zum Gesellschaftsverständnis erwarten lässt. Gesellschaft erfährt im Wirken Sozialer Arbeit Vertretung ihrer Interessen, und zwar in einer Weise, die ihr Aufschluss nicht zuletzt auch über ihr eigenes Wesen gibt.13 Damit entsteht eine Funktionalität im Sinne einer gesellschaftlichen Revisionsstelle, die, mit einem Status relativer Autonomie versehen, aufgefordert ist, Idealität und Realität von Gesellschaft zu denken. Soziale Arbeit erscheint für diese Aufgabe prädestiniert: Ihre Praxis führt sie an die Nahtstellen im sozialen Gefüge, an die sensiblen Punkte, wo es hakt, wo sich Strukturen negativ auswirken, ohne dass solche Wirkung planerisch absehbar gewesen wäre, und wo auch menschliche Eigenart aufscheint, die mit keinem allgemeinen anthropologischen Instrument erfasst werden kann. Ihre Theorie umschließt und integriert die gesellschaftliche Sicht und ist darauf angelegt, die berufliche Praxis zu systematisieren und in einen Analysezusammenhang der Wirkungen und Wechselwirkungen des gesellschaftlichen Alltags einzubringen. Sowohl die lebensweltliche als auch die systemische Betrachtungsweise, beide allemal fähig, Praxis anzuleiten, regen ein Nachdenken über Gesellschaft an. Dabei geht es darum, Gesellschaft in die Krise zu führen. Das ist als konstruktiver Akt zu verstehen, denn erfahrene Wirklichkeit wird auf Ideen und Ideale bezogen. Soziale Arbeit weiß diese Krise deutlicher als andere Wissenschaften heraufzuführen, denn sie hat es in ihrer Praxis mit den Abweichungen („Verfehlungen"), den Unwägbarkeiten („Schicksalen") und den Irrtümern („Lebenslügen") zu tun. Sie kennt die gesellschaftliche Wirklichkeit, sie weiß um die Vorstellungen und Ansprüche der Menschen in der Gesellschaft, und sie versteht die Dynamik, der soziale Prozesse im Kleinen wie im Großen unterliegen. Darüber hinaus vermag sie normativ zu agieren, gestützt auf ihr Werteverständnis, und sie ist in der Lage, in dem diffusen Feld der sozialen Probleme Brennpunkte der Aufmerksamkeit zu benennen und wissenschaftlich zu erforschen. Gesellschaft denken — das ist Ausdruck des Mandats an die Soziale Arbeit und ein Geschäft, mit dem, so weit ich sehe, selbst die Soziologie überfordert wäre. Deren deskriptiver Ansatz ist hilfreich; aber um lebendige gesellschaftliche Wirklichkeit erfassen und orienüeren zu können, braucht es die berufliche Problemlösepraxis, die über Handlungskonzepte daran ausgerichtete Theorie und nicht zuletzt die normativ wirksamen Denkzusammenhänge der Sozialen Arbeit. Darin tritt 13
Ein solcher Beitrag Sozialer Arbeit kann wiederum in das Verständnis Hegels eingebunden werden, der Armut und „Not aller Art" im gesellschaftlichen Rahmen durch ein Hilfegebot zu begegnen sucht und dabei feststellt: „Weil aber diese Hilfe für sich und in ihren Wirkungen von der Zufälligkeit abhängt, so geht das Streben der Gesellschaft dahin, in der Notdurft und ihrer Abhilfe das Allgemeine herauszufinden und zu veranstalten und jede Hilfe entbehrlicher zu machen." Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 242; s. G. W. F. Hegel. Werke, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1986, S. 388.
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Gesellschaft auch nicht einfach als ein Phänomen hervor, über dessen Grund und Wurzel nicht zu spekulieren ist, weil es als Daseinsfaktor für den Menschen gesehen werden muss; sondern es ist die Achtung vor dem Wert menschlicher Gemeinschaft, für Soziale Arbeit oben bereits angemahnt (Kap. 3, Abschn. 4), die als Bezugspunkt menschliches Handeln beliebiger Verfügbarkeit entzieht und begründeten Zusammenhängen zuführt. Soziale Arbeit weiß dies über ihre Ethik zu vollbringen. Sowohl der lebensweltliche wie auch der systemische Bezug liefern wichtige Anknüpfungspunkte, soziales Leben zu verstehen und zu gestalten. Worum es dabei geht, zeigt der Vergleich zweier klassischer Perspektiven: der soziologischen von Max Weber und der fürsorgerischen von Hans Scherpner. Während Weber die Situation des Menschen in der Gesellschaft auch unter dem Aspekt des Kampfes sieht, nicht generell, aber punktuell und in jedem Fall vom „Interessengegensatz" getragen (Weber, 1976, S. 22), weist Scherpner für die Soziale Arbeit deren Handlungsansatz über das Hilfeanliegen als Gegenkategorie zum Kampf aus (Scherpner, 1962, S. 124).14 Der sicherlich nicht wertfreie Blick Webers sucht die Deskription; Scherpners Ansatz aber geht in die Deutung. Gesellschaft denken hieße nun, mit wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit darzulegen, auf welcher Wertebasis Gesellschaft beruht bzw. welche Wertebasis Gesellschaft braucht (und sich verschaffen sollte), um nicht nur ihre Strukturaufgaben bewältigen zu können, sondern auch sicherzustellen, dass die Interessen ihrer Mitglieder — aller Mitglieder — gewahrt bleiben. Wie das aussehen kann, zeigt Silvia Staub-Bemasconi, wenn sie sich der Machtthematik zuwendet und nach Begrenzungsmacht und Behinderungsmacht wertsetzend unterscheidet (vgl. Staub-Bernasconi, 1998, S. 24 ff.).15 Der (soziologisch zu konstatierende) Interessengegensatz resp. -streit ist nicht aufzulösen; aber es gilt, dafür Sorge zu tragen, dass er über — legitime - „Begrenzungsregeln" (ebd., S. 29) und nicht über - illegitime - „Behinderungsregeln" (S. 32) zum Austrag kommt.16 Das ist nur ein Ansatzpunkt, der beispielhaft illustriert, dass Soziale Arbeit über ihre Praxis eine Schlüsselfunktion für die Umsetzung der sozialen Belange der
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Auch Max Weber weist in seinem 1921 publizierten Werk Wirtschaft und Gesellschaft das Motiv des Kampfes für menschliches Zusammenleben zurück, aber nur dort, wo es um „Vergemeinschaftung" geht, die „normalerweise der radikalste Gegensatz gegen ,Kampf" sei (vgl. Weber, 1976, S. 22). Die Tendenz zur Vergesellschaftung bringt dagegen Konkurrenz- und Kampfmerkmale ins Spiel. Scherpner kennt diese Terminologie und bleibt für die Soziale Arbeit und deren gesellschaftliches Wirken ausdrücklich beim Hilfemotiv.
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Vgl. dazu auch Staub-Bernasconis ausdrückliche Bezugnahme auf Max Weber, an dessen Machtbegriff sie sich anlehnt (1998, S. 24). Vgl. weiterhin für das sozialarbeiterische Verständnis auch den Hinweis auf Jane Addams' Unterscheidung von positiver und negativer Macht (ebd., S. 26 f.).
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Staub-Bernasconis normativem Sozialarbeitsblick auf das Machtthema können in soziologischer Perspektive die „Theorien sozialer Ungleichheit" gegenübergestellt werden (vgl. Barlösius, 2004, S. 11), die sich vor allem der Frage nach den Macht^»e//f» bzw. entsprechenden „Zugangsbeschränkungen" widmen (s. ebd., S. 12). Für die Einbindung einer solchen soziologischen Sicht vgl. wiederum Staub-Bernasconi, 1998, S. 76 f.
Gesellschaft denken • 77
Gesellschaft innehat. 17 Diese Funktion aber übt sie durch ihre Theorie aus. Sie zeigt sich daher, nachdem klar geworden ist, dass sie Gesellschaft als Beruf und als Profession bereits konstruktiv zur Seite steht, auch als Wissenschaft für gesellschaftliche Belange unverzichtbar. Ohne den Beitrag der sozialen Problemlösung, ohne die Wahrnehmung des Mandats und ohne die ethische Kompetenz Sozialer Arbeit wäre Gesellschaft in modernen und postmodernen Zeiten im Wortsinn selbst hilflos. Sie hat sich, im ausgehenden 19. Jahrhundert, dieses Instrument geschaffen, hat es sich entwickeln und reifen lassen, und sie könnte, wenn dieser Prozess ans Ziel gelangt ist, über mehr als nur über ein Werkzeug verfügen: über ein Kriterium nämlich, das sie mit konstruktiven Argumenten in schwierigen Entscheidungssituationen unterstützt. Der Anspruch freilich ist schön formuliert; allein, er trifft faktisch auf eine Dynamik, in der Gesellschaft selber Zwängen ausgesetzt ist. Um nur zwei wesentliche zu nennen: Zum einen rücken Menschen in der Gesellschaft durch allerorts zunehmende und maßgeblich den modernen Kommunikationsmöglichkeiten geschuldete Transparenz immer enger zusammen (man kann, aber muss es nicht als weiter voranschreitenden Individualisierungsprovgss deuten): Die sozialen Kontrollmöglichkeiten wachsen massiv und orientieren sich an — in der Regel über Massenmedien vermittelten — Meinungsmustern und Verhaltensstandards, die individuelle Entfaltungsräume einschränken (ein Paradox im vermeintlichen Individualisierungsgeschehen) und eine Tendenz der kollektiven Vereinsamung erzeugen, in der das Zusammengehörigkeitsgefühl — Fußballweltmeisterschaft hin oder her — ausdünnt. Mit den sozialen Problemen, die daraus erwachsen, umzugehen, gelingt Sozialer Arbeit sicherlich; aber welcher Einfluss bleibt auf die Entwicklung der Gesellschaft, wenn der Gemeinsinn darin schwindet? Zum andern kann sich keine Gesellschaft mehr der Dynamik entziehen, die weltweit angelegte politische und wirtschaftliche Prozesse mit sich bringen. Zunehmend wirkt das Weltgeschehen, diffus und unkontrolliert, auch auf gesellschaftliche Prozesse ein, schafft dort freilich eigene soziale Probleme, mit denen Soziale Arbeit wiederum umzugehen vermag; aber der sozialarbeitliche Einfluss auf die Gesellschaft schwindet eben auch, wenn gesellschaftliche Eigenständigkeit verloren geht und Sozialnormen nur noch begrenzt und immer weniger Wirkung entfalten. Der Globalisierungsrahmen, der Volkswirtschaften wie Kulturzusammenhänge einengt (ein weiteres Paradox), schmälert auch soziale Gestaltungsräume. Was bleibt über die soziale Problemlösung hinaus in einer Gesellschaft zu tun, die im Begriff ist, im globalen Spiel der Interessen und Weltanschauungen die eigene Integrität zu verlieren? Beide Tendenzen entsprechen der Beobachtung von Heinz Sünker, dass „die Vereinzelung des Individuums und zugleich seine Vergesellschaftung in der bürgerlichen Gesellschaft immer stärker vorangetrieben" wird (1995, S. 86). Soziale Arbeit
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Dass darin alle sozialen Belange in den Blick treten, also auch jene, die in die Zuständigkeit anderer Berufe fallen, hat weiter oben eine Überlegung zum Professionsverständnis schon erhellt (vgl. Kap. 1, Abschn. 2).
78 • Die Funktion Sozialer Arbeit in der Gesellschaft
muss daher sehr genau darauf achten, wie sie auf den gesellschaftlichen Wandel, von dem allenthalben die Rede ist, reagiert. Dabei geht es nicht nur um die sozialpolitischen Akzente, die den Wandel begleiten und vorantreiben, sondern auch um die lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen in der Gesellschaft, die Veränderungen unterliegen und neuer Verunsicherung ausgesetzt sind. Manches deutet auf eine Qualität in diesem Wandlungsprozess, die vor allem eine Krise der Werte impliziert. Dazu kann eine ganze Reihe von Irritationen benannt werden, die durch neue gesellschaftliche Entwicklungen hervorgerufen werden. Das beginnt mit dem Auftreten bislang nicht gekannter Gewaltphänomene im Jugendbereich — der Grad an offensichtlicher Gewaltbereitschaft und -intensität, gemessen an Schulen, sichtbar aber auch in anderen Bereichen, verstört die Generationen, die ihren Weg ins Erwachsenenalter anders beschritten haben. 18 Es reicht weiter über die Tendenzen staatlicher Abschottung, die einer Internationalisierung des öffentlichen Lebens gegenläufig sind — hier werden Flüchtlingsströme, denen erschütternde menschliche Einzelschicksale zugrunde liegen, als Indiz sich verändernder Balancen und als Bedrohung für die Stabilität des eigenen gesellschaftlichen Gefüges erlebt. Und es führt ganz allgemein zu der Art und Weise, wie über Fragen der Integration, über Prinzipien der Humanität und neuerdings vermehrt auch über globale Bedrohungsszenarien (Islamismus; Klimakatastrophe; Großmachtpolitik) in der Gesellschaft im Großen wie im Kleinen debattiert wird. Es wird entscheidend sein, wie und in welchem Maß es Sozialer Arbeit gelingt, in den verschiedenen Facetten sich verändernder Lebenswelten und gesellschaftlicher Verschiebungen den „neuen sozialen B e d a r f zu erkennen (vgl. Schönig, 2004, S. 10). Diese berufliche Qualität gilt es aufzustellen, um den neuen Zwängen, wenn man es so nennen will, entgegenzuwirken und berufliche Eigenständigkeit zu wahren. Ein viel beachtetes Motiv, nicht zuletzt, weil es nationalstaatliche Zwänge unterläuft, ist das Verständnis Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession, mit dem Silvia Staub-Bernasconi (1995a) „Wege aus der Bescheidenheit" weist. Doch auch wenn man dieses weiter zur „sozialprofessionellen Grundhaltung" stilisiert (vgl. Lob-Hüdepohl, 2003), geht der Ansatz doch am Ziel der beruflichen Identitätswahrung vorbei, denn das Menschenrechtsmotiv verkennt, gerade weil es den nationalstaatlichen Zwängen ausweicht, die Nöte der Praxis.19 In der aber fordern
18
Die Nachrichten über Gewaltexzesse bei und unter Jugendlichen reißen nicht ab. Häufig zeigen sich Zusammenhänge direkt zum Konsum Gewalt verherrlichender Medieninhalte (Stichwort „Killerspiele"). Uber die schädlichen Wirkungen solchen Konsumverhaltens, zu denen auch das Herstellen eigener Gewaltvideos auf dem Schulhof gehört, kann es keinen Zweifel geben. Doch das Phänomen der Jugendgewalt ist damit nicht erklärt, allenfalls exemplifiziert. Vor allem wird es noch nicht als ein gesellschaftliches Phänomen erfasst. Aufschlussreich hier: Heitmeyer, Wilhelm / u. a.: Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen sosjalen Milieus, Weinheim 3 1998.
19
Die Ausrufung Sozialer Arbeit zur Menschenrechtsprofession ist zusammen mit ihrer Internationalisierungstendenz (vgl. Staub-Bernasconi, 1995b, S. 413 ff.) als Flucht nach vorn zu deuten, die vielleicht ein „Ende der Bescheidenheit" verkündet (Staub-Bernasconi, 1995b), nicht aber den realen beruflichen Handlungssituationen gerecht wird. Ein besonderer Gewinn für die Ethik scheint dennoch zu verbuchen (vgl. Zeller, 2000), doch ist es dazu nicht unbedingt erforderlich, Soziale Arbeit von einem Beruf, dessen Interesse den Menschenrechten gelten muss, zur Menschenrechts-
Zusammenfassung • 79
Individualisierungs- und Globalisierungsphänomene und ebenso der damit in Verbindung zu sehende Umbau des Sozialstaats die ganze analytische Kraft. Gesellschaft denken — das ist ein Motiv, das nicht nur die grundsätzlichen Merkmale im Blick hat, den Selbstreflexionsbedarf der Gesellschaft und die lebensweltlichen Bezugspunkte; sondern das auch Prozesse kritisch zu sichten und zu werten vermag, die Gesellschaft erfassen und vereinnahmen. Es sind zum einen die daraus erwachsenden Gefährdungen des Sozialen, um die es geht. Eine Gesellschaft, die im Wandel begriffen ist, braucht die Soziale Arbeit auch hier in der Funktion der Wächterin. Zum andern sind Konzepte und Perspektiven, Visionen, wenn man will, gefragt, die den gesellschaftlichen Wandel selbst, mit seiner äußeren und inneren Dynamik, zu umfassen, zu begleiten und — warum nicht? — zu lenken vermögen. Soziale Arbeit, die mit lebensweltlicher Kompetenz und wissenschaftlichem Können Gesellschaft denkt, erfüllt so ganz gezielt eine Funktion, die in jeder Gesellschaft, ganz gleich in welchem Kulturzusammenhang, menschlichem Zusammenleben zugute käme. Und in dem Maß, wie Soziale Arbeit als Wissenschaft in der Lage ist, ein Muster von Gesellschaft zu begründen und zu vertreten, wächst ihre funktionale Bedeutung auch über nationale Grenzen hinaus.20 5 Zusammenfassung Die Funktion Sozialer Arbeit in der Gesellschaft besteht einerseits in der Wahrnehmung eines Mandats; andererseits in der Mobilisierung sozialer Prinzipien. Das Mandat ergibt sich als eine Art anwaltschaftliche Vertretung der Gesellschaft sich selber gegenüber; die aufgezeigten Prinzipien wiederum — Solidarität und Subsidiarität — sind ebenso als gesellschaftliche Merkmale bzw. Anliegen zu verstehen, wobei Soziale Arbeit zu ihnen allerdings ein hohes Maß an Kompatibilität aufweist. Vordergründig scheint die Gesellschaft Soziale Arbeit ganz in die soziale Problemlösung einzubinden, der im Gelingen des gesellschaftlichen Alltags eine Schlüsselrolle zukommt. Diese Funktion mit auszuüben, entspricht ganz dem sozialarbeiterischen Handlungsansatz; aber auch wenn der Gesellschaft durch die soziale Problemlösung in vitaler Weise gedient ist, findet das erteilte Mandat darin lediglich eine Ausformulierung. Es reicht entscheidend weiter und zielt auf das Schicksal von Gesellschaft, die ihren Weg in die Zukunft von konstruktiven Kräften begleitet wissen möchte. Die Lebenswelt- und Analysekompetenz Sozialer Arbeit erscheint prädestiniert, einer Gesellschaft auch diesen Dienst zu erweisen, indem sie den
profession aufzublähen. Inwieweit es dennoch Sinn macht, die Menschenrechtsthematik zentral in den Blickpunkt der Profession zu stellen, wird weiter unten (Kap. 13, Abschn. 4) betrachtet. 20
Angesichts solchen Entwicklungspotentials ist es auch als Fehler anzusehen, wenn Soziale Arbeit lediglich aufnimmt, was ihr soziologisch-politologische Publizistik an pauschaler Gesellschaftsbewertung darbietet. Vgl. B. Müller (2000b, S. 325) mit entsprechend ironischem Reflex auf die unterschiedlichen Gesellschaftsverständnisse, denen Soziale Arbeit in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten mehr oder weniger kritiklos nachgeeifert hat.
80 • Die Funktion Sozialer Arbeit in der Gesellschaft
Beruf zu einem grundlegenden Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Lage zeigt. Sie kennzeichnet diesen damit als Profession, die mit eigenem Wissensbestand und in eigenständiger Forschung für die Lebensinteressen von Menschen in der Gesellschaft sowie für den gesellschaftlichen Rahmen selbst Verantwortung übernimmt. Es bleibt aber wichtig, für Soziale Arbeit als Beruf, als Profession und als Wissenschaft, einer gesellschaftlichen Vereinnahmung und Instrumentalisierung entgegenzuwirken. Eine solche liegt durchaus nahe, wenn man sieht, dass Soziale Arbeit über das Motiv der sozialen Problemlösung nach außen ihre Kontur erhält und auf ein entsprechendes gesellschaftliches Bedürfnis trifft, das sie befriedigen kann. Instrumentalisierungstendenzen werden noch dadurch verstärkt, dass sozialpolitische Entscheidungen häufig mehr auf Kostendämpfung als auf Gestaltung der Lebensverhältnisse in der Gesellschaft aus sind. Mit einem reinen Reparaturbetrieb aber wäre keine gesellschaftliche Selbstkontrolle zu halten, deren Notwendigkeit besonders dort deutlich wird, wo Wandlungsprozesse in Gang kommen. Soziale Arbeit dagegen, die als „gesellschaftsumfassende soziale Tätigkeit" (Eisenmann, 2006, S. 11) in Erscheinung tritt, und die sich, in relativer Autonomie, vom Tagesgeschäft auch distanzieren kann, würde Gesellschaft auf ihren Kontrollreflex hin zu bewegen wissen und sich zu einer Garantin der Funktionstüchtigkeit eines gesellschaftlichen Gewissens aufschwingen, dem Gesellschaft nicht als Selbstzweck, sondern in der Bedeutung für die Menschen, die in ihr leben, am Herzen liegt.
Zweiter Teil Ethik als zentrales Kennzeichen Sozialer Arbeit
6. Kapitel Das vernachlässigte Ethikprofil 1 Reden über Selbstverständliches Im Grunde kann man zufrieden sein: Soziale Arbeit hat die Ethik als ihr Thema entdeckt. Das ist erfreulich angesichts des erheblichen Potentials zur Fremdbestimmung, das der Beruf zu entfalten vermag. „Ethische Vorgaben umreißen die Grenzen des Handelns", bemerkt Christian Callo (2005, S. 132) lapidar. Über den ethischen Rahmen sozialarbeiterischen Handelns nachzudenken, erscheint überaus plausibel, ja fast schon trivial.1 Hinzu kommt, dass die Geschichte der Sozialen Arbeit in Deutschland durch die Herrschaft der Nationalsozialisten eine Zäsur erfahren hat, die sich ganz besonders auf ihr Ethikbewusstsein auswirkt. So hat die nationalsozialistische Vereinnahmung des Berufes als „Volkspflege" in den Jahren von 1933 bis 1945 (vgl. Zeller, 1989, S. 339) die Akteure mit einem rassistischen Menschenverständnis überzogen, das zwar dem Zeitgeist nicht fremd war, das aber in letztlich menschenverachtender Tendenz Sozialarbeitshandeln nach heutigem wie nach damaligem Verständnis pervertierte. Volkspflege, als „Erbpflege" verstanden (Baron, 1986, S. 399), zog das Handlungspotential Sozialer Arbeit von den Menschen ab und stellte es ganz in den Dienst der Ideologie einer abstrakten „Rassehygiene", im Rahmen derer „die eigentliche ,fürsorgerische Idee'" nicht mehr zur Geltung kam (Zeller, 1989, S. 343). Sicherlich wäre es ein interessanter Gesichtspunkt zu erforschen, nach welchen ethischen Prinzipien Soziale Arbeit im „Dritten Reich" ihren Dienst tat. Nicht alle „Volkspflegerinnen" agierten gleichgeschaltet; viele nutzten Spielräume zu fürsorgerischem Handeln. Allein, die beklemmende Erfahrung, dafür nicht selten und zwar für Handlungsweisen, die bis zur NS-Diktatur noch zum regulären Repertoire der Sozialarbeitspraxis gehörten — das eigene Leben zu riskieren, verstört und sperrt sich gegen einen neutralen Blick. Man wird weitgehend zu dem Schluss gelangen dürfen, dass Soziale Arbeit im Nationalsozialismus aufgehört hat zu existieren und dass die rassenideologisch angelegte Volkspflege Mitarbeiterinnen in einer Weise der repressiven staatlichen Gewalt unterwarf, die sie ohne Möglichkeit ließ, irgendein eigenständiges Handeln zu entfalten. Damit erübrigt sich auch die Suche nach einer speziellen Ethik, und es wird deutlich, dass vor allem die Zeit
1
Diesen Eindruck kann man etwa aus der Selbstverständlichkeit gewinnen, mit der Stimmer (2006, S. 35) ethische Bezugspunkte für das Sozialarbeitshandeln setzt: „Für die Ethik und die daraus abgeleitete Moral methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit gelten natürlich die allgemein verbindlichen Werte und Regelungen, die eine Kultur oder noch umfassender die Menschheit kennzeichnen ..."
84 • Das vernachlässigte Ethikprofil
nach 1945, auch in Kontrast zu Erlebtem, für eine berufliche Ethikausrichtung zu betrachten ist. Bei Hans Scherpner, der seine Theorie der Fürsorge noch in großer zeitlicher Nähe zu den NS-Erfahrungen verfasst und der die 12 schwierigen Jahre als akademischer Vertreter im Beruf miterlebt hat, ist die Vorsicht bemerkenswert, mit der er sich distanziert. Zwar betont er, dass „nach 1945 ... wieder an die Situation vor 1933" anzuknüpfen war (Scherpner, 1962, S. 183); doch er legt seine Ausführungen nicht als Abrechnung an, sondern ist bemüht, in behutsamer Korrektur und Bezugnahme auf vormals Erreichtes, dem „Zwischenspiel" (S. 182) einer Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt die Brisanz zu nehmen. Scherpner konstatiert „Grenzüberschreitungen" und „extreme Entwicklungen" (ebd., S. 132); aber er sucht Kontinuität und prangert vor allem die „politische Propaganda" an, die das Anliegen der Fürsorge ignorierte, die als Merkmal aber auch „in der Form des demokratischen politischen Handelns" (ebd.) aufscheine. Scherpners Vorsicht ist verständlich. Fürsorge, alias Soziale Arbeit, hatte in den Jahren vor 1933 selbstbewusst gewirkt und sich auch so etwas wie eine wissenschaftliche Basis verschafft. 2 Nun galt es, das Pflänzchen wieder zum Vorschein und zum Wachsen zu bringen. Spätere Autoren tun sich mit einer retrospektiven Bewertung der NS-Zeit leichter. C. Wolfgang Müller beispielsweise, der seine Methodengeschichte der Sozialen Arbeit Ende der 1980er Jahre verfasst hat, spricht, bezogen auf das „Dritte Reich", unmissverständlich vom „Rückfall in die Barbarei" (2006, S. 100) und blickt dabei auch auf die NS-staatlich organisierten Aktionen zur „Vernichtung unwerten Lebens" (S. 115). Diesen Zusammenhang und Hintergrund zu sehen, ist wichtig, um zu verstehen, welchen Weg die Ethikdiskussion in der Sozialen Arbeit genommen hat. Auf der einen Seite war und ist klar, dass die Ethikdimension berührt ist, wenn Menschen sich in das Leben anderer einmischen, und mehr noch, wenn sie das beruflich tun; auf der anderen Seite war die Abkehr vom nationalsozialistischen Unrechtsregime so radikal,3 dass das Alte und das Neue jeweils die Extreme in einem Gegensatz markierten, d. h. keine große Notwendigkeit bestand, ein kontrastierendes Bild vom Menschen eigens zu rechtfertigen. Die Verfehlungen des „Dritten Reichs" gegenüber dem Menschen waren nach dem verlorenen Krieg so überdeutlich zutage getreten, dass eine glatte Negation der vormaligen „Prinzipien" als die richtige Verhaltensweise erscheinen musste. 4 Das soll heißen: Die „richtige" ethische Haltung musste nicht erörtert werden; sie ergab sich evident aus der Geschichte. Der neue Staat —
2
Hier ist an den 1920 an der Universität Frankfurt a. M. eingerichteten Lehrstuhl für Fürsorgewesen und Sozialpädagogik zu denken. Scherpner war Schüler und Nachfolger des ersten Ordinarius Christian Jasper Klumker gewesen. Auf Klumker bezieht er sich auch immer wieder, wenn er auf Errungenschaften hinweist (vgl. Scherpner, 1962, S. 140).
3
Vgl. den Begriff der „Entnazifizierung" als Schlagwort für die „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus"; dazu s. Art. 139 G G .
4
Dies ist der Hintergrund, der auch Beobachtungen wie die von Butterwegge (2005, S. 65) erklärt, der mit Blick auf die Anfangs jähre nach 1945 etwas salopp feststellt: „Solidarität und Sozialstaatlichkeit waren seinerzeit ,in'. Sie entsprachen dem Zeitgeist ..."
Reden über Selbstverständliches • 85
das galt für die Bundesrepublik ebenso wie für die DDR — sorgte für Regeln, die keinen Zweifel mehr aufkommen ließen. Aus Sicht der Sozialen Arbeit konnte das nur bedeuten, dass eine Einmischung in das Leben anderer dann als gerechtfertigt erscheinen musste, wenn es auf der Basis des neuen Rechtverständnisses geschah, d. h. vor allem dann, wenn Sozialarbeitshandeln selber als in die neuen Verhältnisse eingebundenes, staatliches Handeln in Erscheinung trat. An diesem Punkt ist es als Verdienst Scherpners anzusehen, das Hilfemotiv in der Sozialen Arbeit wissenschaftlich neu befestigt zu haben. Scherpner sieht Soziale Arbeit als gesellschaftliches Handeln, das dem Helfer „Autorität" verleiht und ihm „die Möglichkeit eines Zwanges" an die Hand gibt (Scherpner, 1962, S. 193); zugleich weiß er aber, dass jener „nicht als Kontrolleur, sondern ... als Freund und Berater" wirken muss, um die Ziele der Fürsorge zu erreichen (S. 191). Die beiden Gesichtspunkte, unter denen Soziale Arbeit bis heute betrachtet wird: Kontrolle und Hilfe, sind damit angesprochen; sie bilden weiterhin klare Bezugspunkte, die zwar eine ethische Haltung transportieren, doch dazu auch den allgemeinen Zuspruch finden, der eine Darstellung und Diskussion überflüssig erscheinen lässt. Die ethische Situation der wiedererstandenen Sozialen Arbeit könnte man — mit Blick auf Grundzüge in der Weimarer Zeit — auf zwei Aussagen verkürzen, die Hans Falladas 1934 erschienener Roman Wer einmal aus dem Blechnapf frisst dem Herbergsvater im „Friedensheim" in den Mund legt: „Pflicht ist es, dass auch manchmal die Stimme des Mitleids schweige ..." Und: „Streng muß man sein mit den Verlorenen, streng und mild."5 Ethik ist als Thema damit auf den Weg gebracht; aber es zeigt sich über Jahrzehnte hinweg als nicht besonders virulent. Belebung erfahrt der Diskurs in den 1990er Jahren und zwar nicht zufallig in Verbindung mit der damals in Bewegung gekommenen Diskussion über den Status Sozialer Arbeit als Profession. Seither gibt es diverse Überlegungen zur Sozialarbeitsethik und vor allem ein Ergebnis: Ethik ist zu den Themen der Sozialen Arbeit zu rechnen. Das ist nicht besonders spektakulär, entspricht aber wiederum dem Schnittpunkt der verschiedenen Blickrichtungen, die in der Ethikdebatte aufscheinen. Die reichen von Zweifeln über den Sinn eines Redens über Ethik6 bis hin zu regelrechten Ethikentwürfen, die auf der einen Seite Sozialer Arbeit von außen — als „Ethik sozialer Berufe" bzw. als „sozialprofessionelle Grundhaltung" — angetragen werden (Baum, 1996; Lob-Hüdepohl, 2003; vgl. auch Schlüter, 1995), auf der anderen Seite — in der Form einer „Berufsethik" - sich fachlich motiviert zeigen (Zink, 1994; Martin, 2001). Dass ein Diskussionsziel auch darin liegt, „Professionalisierung und Ethik" zu verbinden (vgl. Schneider, 2003), versteht sich von selbst.
5
6
Vgl. dieses Erscheinungsbild der Fürsorge in Falladas Roman im drittel Kapitel den zweiten Abschnitt. Diese Zweifel sind in der Regel konstruktiv angelegt. So bei Lesch (2003, S. 415), der vor der „Verbissenheit einer Fixierung auf Ethik, bei der völlig aus dem Blick gerät, was Menschen letztlich zum Handeln oder zur Verweigerung von Handlungen bewegt" warnt. Ahnlich konstruktiv auch Rogner, 2003.
86 • Das vernachlässigte Ethikprofil
Es begegnet so manche Selbstverständlichkeit, wenn man betrachtet, was in den Statements zur Ethik in der Sozialen Arbeit vorgetragen wird. Verwundern muss deren Bestimmtheit dennoch, wenn man die allgemeine Lage der Ethik im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs in Rechnung stellt. Von Selbstverständlichem kann da nirgends die Rede sein; vielmehr bestimmen kontroverse Haltungen ein unüberschaubares Feld von Standpunkten und Konzepten,7 in dem individuelle Präferenzen ebenso eine Rolle spielen wie Argumente der Erfahrung und der Vernunft. Nicht dass über Ethik nicht zu reden wäre — sie vermag nur keine Verbindlichkeit herzustellen, weil ihr menschliche Autonomie als Prinzip vorgesetzt erscheint. Ein Beispiel dafür kann aus der aktuellen, national und international geführten, Diskussion über die Sterbehilfe genommen werden: So wird etwa die in der Schweiz gesetzlich geregelte Praxis der „assistierten Selbsttötung" als Modell beworben und auch in Deutschland politisch diskutiert. Hier, wo es im Wortsinn um Leben und Tod geht, stützen sich die Befürworter auf das Autonomieargument, aus dem sie ein Selbstbestimmungs- und Verfügungsrecht über das eigene Leben ableiten.8 Gegner, etwa die Kirchen, aber auch der politische Mainstream, betonen, wenn sie nicht gerade zur Polemik neigen, die Widersprüchlichkeit einer offiziell erlaubten Selbsttötung und verweisen auch auf Folgeprobleme für die Gesellschaft. Dennoch: Es geht um Grundsatzfragen, und Ethik als solche bietet wenig Handhabe für die Entscheidung.9 Soziale Arbeit sucht für ihre Ethik Gemeinplätze auf, verordnet sich „Werte und Normen" (Eisenmann, 2006), aber weiß sich dennoch „in einer unübersichtlichen Landschaft" (Lesch, 2003), die nicht nur vom Ethikangebot her diffus erscheint, sondern auch von der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit bestimmt wird, über die alles Mögliche an Ethikbe^ügen herandrängt. Das zeigt: Der Umgang mit dem Ethikthema ist höchst anspruchsvoll. Es fordert zum einen das wissenschaftliche Urteil, zum andern genau jedes ordnende Vermögen, das eine Soziale Arbeit, die, wie oben gesehen, ihre Funktion in der Gesellschaft ausübt, zu entfalten in der Lage sein sollte (vgl. Kap. 5, Abschn. 4). Aber auch wenn Soziale Arbeit als Wissenschaft und Profession die Anforderung nicht zu fürchten hätte: Sie hätte Mühe, ihren Anspruch in Bezug auf ein eigenes Ethikprofil zu erfüllen, wenn weder ethische Wissenschaft noch Gesellschaft in eine solche Richtung weisen. So bleibt ein Reden über Ethik, das vor allem den beruflichen Merkmalen folgt. Zu diesen gehören, allem voran, jene beiden Bezugpunkte, auf die, wie gesehen, Scherpner hinweist und die den Handlungsrahmen Sozialer Arbeit bis heute prägen: Soziale Arbeit als Instrument der sozialen Kontrolle und Soziale Arbeit als Instrument der sozialen Hilfe. Hinzu kommen, mit Blick auf die jüngere Entwicklung, jene beiden Handlungsansätze, die in der Theoriediskussion vorherrschen: Lebens-
7
Vgl. dazu näher in Kap. 8.
8
Vgl. diese Argumentation etwa bei Hoerster, Norbert: Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt a. M. 1998. Zur Diskussion um die Sterbehilfe und einen Standpunkt Sozialer Arbeit dazu vgl. auch den Exkurs unten in Kap. 13, Abschn. 5.
Soziale Arbeit als Verwaltungshandeln • 87
weltansatz und Systemtheorie. Die Praxis der Sozialen Arbeit wird vielfach in den Koordinaten dieser insgesamt vier Bezugspunkte verortet. 10 Hier soll nun betrachtet werden, inwieweit sich ethische Bedeutung daraus ergibt.
2 Soziale Arbeit als Verwaltungshandeln Nichts weist das Potential Sozialer Arbeit zur Fremdbestimmung deutlicher aus als ein Handeln von Amts wegen. Doppelmandat hin, Ambivalenz von Hilfe und Kontrolle her — Soziale Arbeit wirkt nicht nur in freier Trägerschaft häufig nach behördlichen Vorgaben; der Staat ist selbst, als öffentlicher Träger, direkt sozialarbeiterisch aktiv. Ein wichtiger Aspekt ist, dass, wie mit Scherpner schon zu sehen war, Soziale Arbeit, wenn sie als gesellschaftliches Handeln in Erscheinung tritt, den Akteuren „Autorität" verleiht und sie auch in die Lage versetzt, von der „Möglichkeit eines Zwanges" Gebrauch zu machen (Scherpner, 1962, S. 193). Diese Möglichkeit ist doppelt gegeben: zum einen als Tatbestand der Einmischung, die in extremen Fällen, etwa wenn das Kindeswohl gefährdet erscheint, auch ganz gegen den Willen von Betroffenen verfügt sein kann; zum anderen in der Funktion der Kontrolle, wenn die Leistungsgewährung beispielsweise an Wohlverhalten bzw. Mitarbeit von Klienten geknüpft ist. Für die Soziale Arbeit gibt es gute Gründe, beide Handlungsweisen der Fremdbestimmung auf ihre Legitimation hin zu überprüfen. Dazu drängt vor allem das Professionsverständnis, aber auch aus handlungspraktischer Sicht gilt es, Kriterien der Angemessenheit und der Verhältnismäßigkeit zu setzen und einzuhalten. In Situationen jedoch, in denen Soziale Arbeit administrative Funktionen übernimmt und in Anspruchssituationen Einzelner dem Staat gegenüber eintritt bzw. dessen Ansprüche gegenüber Einzelnen vollzieht, werden Fragen der Legitimität vom Prinzip der Legalität beherrscht, das jene Situationen prägt. Das Handeln im Rahmen bestehender Gesetze ist durchaus ein ethisch bestimmtes Handeln. Aber es lässt sich nur dann angemessen durchführen, wenn Reflexion und Kritik zurückstehen. Soziale Arbeit ist ein Instrument der Exekutiven im Staat. Ihr erwachsen daraus Aufgaben und Handlungsweisen, die sich in ihrem Profil zu einem nicht geringen Teil niederschlagen. Anlass, auf ein besonderes Ethikprofil hinzuwirken, gibt das keinen. Insofern Soziale Arbeit auch zum Verwaltungsapparat der Gesellschaft gehört, gliedert sie sich in dessen bürokratische Struktur mit ein. Das reduziert ihre Eigendynamik nicht selten auf die „administrative Bearbeitung eines Anspruchs", mit der Folge, wie Gerhard Bäcker und Koautoren betonen, „dass im Falle sehr komplexer Bedarfslagen die Dienste nur auf die Problemdimensionen reagieren, die
10
In den vier Bezugspunkten kommt, wenn man sie systematisch sehen will, die zweifache Doppelbindung Sozialer Arbeit — hier an die Aufgabe von Kontrolle und Hilfe, dort an den Bezugsrahmen von Individuum und Gemeinschaft - zum Ausdruck.
88 • Das vernachlässigte Ethikprofil
gesetzlich normiert sind".11 Derart nüchterne Charakterzüge, auch wenn sie das professionsorientierte Selbstbild Sozialer Arbeit kontrastieren, gehören mit zum Erscheinungsbild und sollten ernst genommen werden. Soziale Arbeit, die Verwaltungsvorschriften ausführt, entspricht der Mandatssituation, auch wenn diese im Grunde weit darüber hinausgreift. Das aber bedeutet, dass bestehende Gesetze und Verordnungen das Sozialarbeitshandeln binden, und es wäre eher vermessen anzunehmen, dass sich Soziale Arbeit, aus einem Professionsverständnis heraus, dazu kritisch verhalten könnte. Dennoch sind keine Spannungen zu erwarten. Der angesprochene Legitimitätsaspekt, als professionelles Anliegen verstanden, kann dadurch erfüllt werden, dass die Soziale Arbeit gesetzliche Handlungsspielräume gezielt nach ihren Vorstellungen nutzt. Wenn sie am Rande zusätzlich Anstrengungen unternimmt, die Wertediskussion in der Gesellschaft zu verfolgen und deren Normierungen von ihrem beruflichen Standpunkt aus zu betrachten, sollten professionelle Impulse auch im Verwaltungshandeln hinreichend zur Geltung kommen. Das ethische Verhalten Sozialer Arbeit ist in einem solchen Verständnis von Pragmatik geprägt. Das Verständnis ist nicht falsch, auch wenn es unter sozialarbeitstheoretischen Gesichtspunkten zu relativieren wäre. Dennoch wird die Praxis Sozialer Arbeit davon weitgehend bestimmt, und zwar im Erleben von Klienten, die über das Jugendamt, über das Gericht, über diverse kommunale Dienste jeweils „in den Genuss" sozialarbeiterischer Zuwendung gelangen, und genauso über organisatorische Merkmale, über die ein bürokratisches Ansinnen vielfältig auf institutionelle Handlungsvollzüge einwirkt, zu sehen nicht zuletzt an den Folgen von Sparbeschlüssen der Öffentlichen Hand. Über die Jahrzehnte hinweg wurde Soziale Arbeit so mit geformt, und sie war und ist — darüber sollte man sich nicht täuschen — zur Hilfe oft gerade deswegen in der Lage, weil ihr entsprechende Vollmacht seitens der staatlichen Bürokratie zugebilligt wird. Soziale Arbeit aber, die sich über die Legalität auch legitimiert, sucht nicht nach einem eigenständigen Ethikprofil. Was Recht ist, kann ihr billig sein, zumal dann, wenn sie weiß, dass dieses Recht auch im Spannungsfeld von Gemeinwohl und Eigenwohl agiert, zur sozialen Problemlösung mithin mehr Hilfe als Hindernis ist.12 Im Streitfall ginge es vordergründig auch immer um eine Rechtsposition, die zwar ethischen Argumenten zugänglich ist, die aber formal stimmig vertreten sein will. So etwas wie ziviler Ungehorsam steht Sozialer Arbeit als öffentlichem Handeln nicht zu — auch dann nicht, wenn sie, aus ihrer Sicht, legalisiertes Unrecht zu verwalten hätte. Streitpunkte gibt es. Vor allem die Soziale Arbeit, die mit Flüchtlingen oder mit Menschen ohne Aufenthaltsberechtigung (nach hiesigem Sprachgebrauch „Illegale") zu tun hat, kritisiert die Zumutungen in den ausländerrecht-
" Vgl. bei Bäcker u. a., 2000, Bd. 2, S. 383. 12
Zur Orientierung im Spannungsfeld von Gemeinwohl und Eigenwohl vgl. die Überlegungen bei Gruber, 2005, S. 199 ff.: Wenn dort, unabhängig von einer gesetzlichen Normierung, die menschliche Person zum Handlungsprin2ip erhoben wird, ist doch klar, dass „die Rechte, die sich ... für die Gemeinschaft herleiten ... eben auch das Wohl des Einzelnen" (S. 200 f.) bewirken.
Soziale Arbeit als helfender Beruf • 89
liehen Bestimmungen.13 Wenn ihr aber zur sozialen Problemlösung andere Wege einfallen als die Abschiebung, steht es ihr auch zu, diese aufzuzeigen und einzufordern. Sie handelt dann nicht ungehorsam, sondern nach einem Prinzip, auf das nicht zuletzt auch die Erfüllung des Rechts angewiesen ist: Zivilcourage.
3 Soziale Arbeit als helfender Beruf Über den helfenden Charakter Sozialer Arbeit kann es keinen Zweifel geben. Der Zusammenhang konnte weiter oben schon dargestellt werden (vgl. Kap. 4, Abschn. 1). Zu Beginn nun dieses Kapitels hat sich gezeigt, wie sich Soziale Arbeit das Hilfemotiv nach der nationalsozialistischen Katastrophe wieder angeeignet hat. Bis heute hält sie daran fest, auch wenn, wie bereits ausgeführt wurde, das helfende Handeln im Praxisrahmen ein Akzent, aber nicht das entscheidende Kennzeichen ist. Soziale Arbeit ist ein helfender Beruf unter anderen, und sie gewinnt ihr Profil nicht über die Hilfe, sondern über die Art, wie sie hilft. Dass ihr Helfen auch Kontrolle und Zwang einschließt, ist gleichfalls schon angesprochen worden. Aber es sind gerade diese unterschiedlichen Schattierungen des Hilfehandelns, die Helfen als eines der vornehmsten Sozialarbeitsmerkmale in den Blick rücken. So wird es möglich, den Beruf über seinen vielfältigen Hilfecharakter zu erleben, aber eben auch zu organisieren, ganz analog, wie es oben möglich war, ihn als Verwaltungshandeln aufzunehmen. Ein Unterschied ist allerdings zu bemerken: Während aus der Perspektive derer, die Soziale Arbeit administrativ tätig und sie darin ihr Mandat wahrnehmen sehen, das Merkmal Hilfe keinen Widerspruch darstellt, vielmehr als Zielpunkt auch des gesellschaftlichen Interesses verstanden werden kann, gehen die anderen, die ganz von diesem Zielpunkt her denken, rasch auf Konfrontationskurs zu den bürokratischen Zwängen. So kann im ersten Fall von einem Miteinander von Kontrolle und Hilfe gesprochen werden, verstanden als Bewegung von der Kontrolle hin zur Hilfe; im zweiten Fall dagegen sieht es eher nach einem Nebeneinander von Hilfe und Kontrolle aus, bei der Hilfeleistung trotz Kontrollauftrag angestrebt wird. Hier hat die Redeweise vom doppelten Mandat ihre eigentliche Wurzel, und es ist durchaus zu fragen, ob die damit stets in Verbindung gebrachte Polarisierung Sozialer Arbeit (vgl. mit entsprechenden Einschätzungen Lowy, 1983, S. 33; Dewe u. a., 1986, S. 242; Gildemeister, 1992, S. 128; Wendt, 1995c, S. 142; Thiersch, 2000a, S. 23; Erler, 2004, S. 126; Kleve, 2005, S. 37) nicht geradezu danach verlangt, beide Handlungsweisen in einem Mandat verankert zu sehen. Wie dem auch sei, es wäre
13
Vgl. dazu Ausführungen bei Schumacher, Thomas: Abschiebungshaft als Thema der Ethik und der Sozialen Arbeit, in: Dokumentation %um Studientag %ur Abschiebungshaft an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München (18. Mai 2006), hg. v. Bayerischen Aktionsbündnis gegen Abschiebungshaft, München 2006, S. 12-19. Vgl. weiterhin Anderson, Philip: „Dass Sie uns nicht vergessen ... "Menschen in der Illegalität in München. Eine empirische Studie im Auftrag der Landeshauptstadt München, München 2003.
90 • Das vernachlässigte Ethikprofil
jedenfalls nicht die Sichtweise derer, die in der Sozialen Arbeit vor allem einen helfenden Beruf sehen wollen. Die „Bewältigung sozialer Probleme" und die „Hilfe zur Selbsthilfe" sind jene zentralen Phänomene im Sozialarbeitshandeln, auf die ein Hilfecharakter des Berufes bezogen wird. Daraus werden allerdings ganz unterschiedliche Schlüsse gezogen. Die einen heben die Funktionsweise heraus und interessieren sich dafür, was wie wirkt; hier geht es dann um methodische bzw. um technische Fragen, neuerdings auch wieder um den „Sozialtechniker" (vgl. kritisch dazu Meerkamp, 2007). Andere denken von der Qualität des Effekts her und sehen Sozialarbeitshandeln weitgehend als Hilfe — verstanden als „Wohltätigkeit" — angelegt; Hilfe wird hier zum moralischen Etikett für den gesamten Beruf (vgl. C. W. Müller, 2006). Und dann gibt es noch jene, die in ihrem Urteil kritisch bleiben, auf den besonderen, wenn nicht gar eigenartigen Charakter der Hilfeausrichtung verweisen und sich weniger für das Helfen selbst, als für dessen problematische Seite interessieren; die kritischen Hinweise gelten hier der „Ambivalenz von Hilfe und NichtHilfe" (Kleve, 2005, S. 37); der generellen Gefahrdungssituation, der sich berufliche Helfer aussetzten (Stichwort „Helfersyndrom"; dazu vgl. Erler, 2004, S. 36); oder der Klientenseite, wo Hilfegewährung „Abhängigkeit beschert und damit die Unmündigkeit fördert" (so schon Klüsche, 1994, S. 210). In jeder dieser Blickrichtungen begegnen ethische Fragestellungen. Thematisch gruppieren sich diese um das Hilfethema herum, betrachten kritisch hier Kriterien, dort Grenzen des Hilfehandelns und kümmern sich auch um die Bewertung der Unterstützungsmechanismen. So wird die Hilfe, ob man sie nun als Markenzeichen sehen mag oder nicht, Bezugspunkt jedenfalls für eine Ethik in der Sozialen Arbeit, bei der es darum geht, aus den verschiedenen Facetten des Hilfehandelns Orientierungspunkte für die Praxis zu gewinnen. In diesem Bereich nun stellt sich, über den Rahmen der „Rechtswirklichkeit" (Engelke, 2004, S. 328) noch hinaus, die Frage der Legitimität der sozialarbeiterischen Einmischung. Es geht um Rechtfertigung ebenso wie um Mäßigung, um Selbstbewusstsein ebenso wie um Selbstkritik, und es geht vor allem um die Aneignung einer Handlungskompetenz, die Soziale Arbeit insgesamt auszuzeichnen vermag. Ein großer Teil der aktuellen Ethikdiskussion ist diesem Betrachtungsfeld zuzurechnen. Es gibt kontroverse Standpunkte, auch den, dass Helfen weniger eine formale als eine persönliche Angelegenheit ist;14 doch ein Ethikrahmen gewinnt insgesamt Gestalt, der — getragen allein vom Hilfeanliegen — Ausgangspunkte, Haltung, Ziele, Handlungsweisen sowie Gefahren und Grenzen deutlich werden lässt und dabei auch ein Evaluationspotential strategisch mit einbezieht. Die so ansetzenden Ethiküberlegungen sind konstruktiv. Sie dienen dem Professionsverständnis ebenso wie dem konkreten Fallverstehen und zuletzt auch der
14
Vgl. dazu den „ethischen Imperativ", den sich Kersting (1994, S. 172) „ins Stammbuch" schreibt: „In all meinem sozialarbeiterischen Handeln, in all meinem wissenschaftlichen Arbeiten und Reden, will ich Verantwortung dafür tragen, daß ich stets die Anzahl der Möglichkeiten für mich und andere vermehre."
Soziale Arbeit als helfender Beruf • 91
Handlungsentscheidung, die Akteure der Sozialen Arbeit verantwortlich zu treffen haben. Die angesprochenen Kontroversen sind zu beachten; doch sie legen mehr die gesellschaftliche Wirklichkeit und deren Widersprüche und Bruchlinien offen, als eine Uneinigkeit in der beruflichen Sache. Für die ist es möglich, die Rahmenbedingungen zu benennen, die eine Ethikperspektive eröffnen, auch wenn über einzelne Fragen noch gestritten wird. Man kann dieser Perspektive, nach allem, was zu sehen ist, die folgenden zehn Ansatzpunkte und Überzeugungen zugrunde legen: 1) Soziale Arbeit orientiert sich an einer demokratisch verfassten und demokratisch ausgerichteten gesellschaftlichen Grundordnung. Darin weiß sie sich getragen von demokratischen Prinzipien, allem voran Partnerschaftlichkeit, Wertschätzung, Teilhabeorientierung, Aushandlungsgebot und Gewaltfreiheit. 2) Sie versteht ihr Wirken als einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit. 3) Sie sieht Gesellschaft in der Pflicht zur Solidarität; dabei wird Subsidiarität zu einem zentralen Gestaltungsprinzip. 4) Soziale Arbeit geht vom Menschenbild der Aufklärung aus, das den Menschen als vernunftorientiertes, nach Autonomie strebendes, soziales Wesen zeigt. 5) Sie erkennt darin nicht zuletzt auch die christlichen Wurzeln von Menschenwürde und sozialem Handeln. 6) Soziale Arbeit sieht sich zur sozialen Problemlösung aufgefordert; sie weiß, dass ihr Handeln keine Abhängigkeiten produzieren darf. 7) Soziale Arbeit sieht sich in einer gesellschaftlichen Verantwortung, aber zugleich von den Bedürfnissen ihrer Klienten getragen. 8) Sie weiß sich in der Lage, den gesellschaftlichen und den individuellen Handlungsbedarf selbst zu erheben. 9) Sie kennt das Wirtschaftlichkeitsgebot und ist bemüht, ihm zu entsprechen. 10) Sie sieht sich aufgerufen, jegliche Anstrengung zur sozialen Problemlösung — national wie international — zu begleiten; sie will damit auch zu einer Verbesserung der globalen Lebensbedingungen für Menschen beitragen. Hier zeichnet sich so etwas wie der Grundbestand einer Ethik für die Soziale Arbeit ab. Zwar wurden nicht alle Aspekte benannt — und es sind gerade die Detailfragen, über die sich wichtige Diskurse ergeben15 —; aber auch wenn die Liste offen gehalten wird, lässt sich den zehn Punkten doch bereits eine Systematik abgewinnen, die den ethischen Anspruch umfassend skizziert, indem sie nämlich • beim Solidarcharakter menschlichen Zusammenlebens ansetzt (vgl. die Punkte 1-3);
15
Zwei besonders interessante Diskurse sind hier schon angeklungen: der eine zur Frage, in welcher Ausprägung das Machtmotiv - im Problemfeld zwischen „Zwang" (Scherpner, 1962, S. 193) und „Entmündigung" (Marzahn, 1992, S. 28) - den Hilfeprozess bestimmen darf; der andere zur Frage nach der Verantwortung, die als „ethischer Schlüsselbegriff" (Gruber, 2005, S. 60) auch die Sozialarbeitsethik - als „Ethik der Verantwortung" (Kleve, 2003, S. 82) - erfasst.
92 • Das vernachlässigte Ethikprofil
• den Menschen — und nur ihn — zum Handlungsziel erklärt (vgl. die Punkte 46);
• für den Beruf den Handlungsrahmen absteckt, so wie er sich nach Maßgabe analytischer Selbstsicht ergibt (vgl. die Punkte 7-10). Der sozialarbeiterische Ethikdiskurs erfährt hier über das Verständnis des Berufes als helfendes Handeln eine wichtige und unverzichtbare Ausrichtung. Er hat verhalten begonnen, hat, immer wieder, auf Selbstverständliches rekuriert, hat sich um Einzelfragen gekümmert, ohne sie musterhaft einer Sozialarbeitsethik zuzuordnen; doch inzwischen ist er in Fahrt gekommen und zeigt eine Eigendynamik, die dem Anliegen überaus gut tut: Denn — so viel ist klar — in dem Maß, wie Soziale Arbeit sich ethisch nicht nur zu orientieren, sondern auch zu legitimieren weiß, erwirbt sie Glaubwürdigkeit, bis hin zu der Option, selbst zum Kriterium eines gelingenden menschlichen Zusammenlebens in der Gesellschaft erhoben zu werden. Das ist eine schöne und Sozialer Arbeit als Profession gut zu Gesicht stehende Perspektive. Aber vor einem Pferdefuß ist zu warnen: Die Ethik, die sich auf der Grundlage helfenden Handelns ergibt, ist nicht die Ethik der Sozialen Arbeit. Sie ist die Ethik helfender Berufe. Und dieser Plural wiederum zeigt, dass es um eine Ethik von nichts Bestimmtem geht, allenfalls um die Ethik eines Tätigkeitsmerkmals, das unspezifisch quer zu den Handlungsweisen verschiedener Berufe liegt.16 Damit geht es aber nicht wirklich um eine Ethik, sondern um ethische Gesichtspunkte, die das Tätigkeitsmerkmal impliziert. Das heißt, die Ethik im Hintergrund helfenden beruflichen Handelns trägt Züge einer allgemeinen Anthropologie, für deren ethisches Gewicht wiederum die philosophische Ethikdiskussion zuständig ist. Dort aber, wo allgemein über Ethik befunden wird, ist auch das Konstrukt einer Ethik des Helfens dem kontroversen Diskurs ausgesetzt. Im Spannungsfeld eines „Alles-ist-möglich-und-nichts-zählt-wirklich" verliert auch Helfen seine rationale Grundlage. Was bleibt, ist das Selbstverständliche als Postulat.17 Eine Ethik, die den Hilfecharakter Sozialer Arbeit zur Basis hat, stützt sich auf „Wohltätigkeit als moralische Forderung und alltägliche Praxis" (C. W. Müller, 2006, S. 11). Daraus lassen sich freilich Werterahmen und Handlungsmerkmale gewinnen. Aber ein Ethikprofil für den Beruf entsteht nicht. Dagegen praktiziert eine Sozialarbeitsethik, die vom Hilfeanliegen her denkt, eine gefährliche Gratwanderung, bei der sie der Gefahr, über mögliche Zweifel an ihren anthropologischen Postulaten Verbindlichkeit zu verlieren, durch eine normative Ausrichtung zu
16
Das ist beispielsweise bei Marzahn zu sehen, der wichtige Ethiküberlegungen für die Soziale Arbeit - so die im Doppelmandat aufscheinende „dialogische Verantwortlichkeit" - allgemein „den helfenden Professionen" zurechnet (1992, S. 29).
17
Wer die Zehn-Punkte-Liste oben mit den schon angesprochenen berufsethischen Prinzipien des DBSH vergleicht, wird manche Übereinstimmung feststellen. Das ist keine Überraschung, da auch das berufsethische Anliegen, sofern es überhaupt vorgetragen wird, von einem Verständnis Sozialer Arbeit als helfendes Handeln getragen ist (vgl. auch Martin, 2001, S. 17). Zu einer „Minimalbegründung der Sozialarbeit" in der „Sorge um das Wohl des Menschen" sowie im „Mitleid als Grunderweis des Humanen" siehe bei Klug, 2000, S. 193 f. Zur Berufsethik vgl. weiter unten Kap. 14, Abschn. 5.
Die Lebensweltorientierung • 93
begegnen sucht. Heiko Kleve sieht sie, an eine Beobachtung von Zygmunt Baumann angelehnt, als Balanceakt auf der „sehr dünnen Linie zwischen Unterstützung und Unterdrückung" (Kleve, 1999a, S. 260). Da ihr normativer Charakter Sozialer Arbeit vielfach auch zum Vorwurf gemacht wird, nicht zuletzt aus den eigenen Reihen, 18 bleibt Sozialarbeitsethik ein sensibler Bereich, solange sie, mit dem Argument einer Hilfeverpflichtung des Menschen, Helfen als allgemeine menschliche Qualität unterstellt. Hier sind Hinweise ernst zu nehmen, dass nicht die Hilfe selbst, sondern ihr jeweiliger Anlass das Interesse Sozialer Arbeit erwecken sollte (vgl. C. W. Müller, 1995a, S. 35 f.). Und wenn — wie es in der Sozialen Arbeit regelmäßig geschieht — dieser Anlass betrachtet wird, steht nicht ein Ethikinteresse im Vordergrund, sondern die Einschätzung von Handlungsbedarfen und Handlungszusammenhängen. Dann rückt der Beruf, mit seinen Professions- und Wissenschaftsbezügen, wieder profilierter in den Blick, ohne dass die Ethik als zentraler Bezugspunkt aufscheint. Nicht dass sie dann als Thema verschwindet: Sie wirkt, über das fachliche Urteil und dort über ein Wert- und Kriterienwissen immanent (vgl. Klug, 2000, S. 203) und besitzt, weil Wertaspekte auch über das Gesellschaftsverständnis virulent bleiben, sogar eine gewisse Strahlkraft; doch das Interesse gilt den Fakten und nicht der Spekulation. Es muss daher nicht verwundern, dass in vielen Theorieüberlegungen Ethik nur als Rand- oder Nebenthema sichtbar wird. Auch eine Klärung der Wert- und Normvorstellungen (Eisenmann, 2006) löst den Postulatcharakter berufsethischer Festie gungen (ebd., S. 245) nicht auf und fügt sich so in ein Gesamtbild, nach dem Soziale Arbeit als Wissenschaft Eindruck macht, mit ihren ethischen Ambitionen aber eher auf die Praxis verwiesen scheint.
4 Die Lebensweltorientierung Über Positionen der Hilfekritik lässt sich ein Sozialarbeitsverständnis gewinnen, das bürokratische wie pathetische Gesichtpunkte gleichermaßen reduziert und nach Pragmatik strebt. „Eine im gesellschaftlichen Auftrag durchgeführte Hilfeleistung kann nicht mit Nächstenliebe gleichgesetzt werden", merkt Wilhelm Klüsche (1994, S. 188) an, und er eröffnet damit einen Blick auf das Merkmal der Selbstverantwortung, zu der Menschen für sich und in Gemeinschaft angehalten sind. Das Anliegen ist plausibel, untergräbt die Solidarpflicht nicht, sondern formt sie, wenn man so will, zum Autonomieinstrument. Es entspricht einer modernen Sicht Sozialer Arbeit, sie weder paternalistisch anzulegen, noch zu einem „Austausch
18
Geradezu dialektisch mutet Staub-Bemasconis Kritik am Empowerment-Konzept Herrigers an, die sie als eine „fast nur normativ begründete Handlungstheorie" wahrnimmt, aus der sich entsprechend „Probleme ... ergeben" (2007, S. 246), nachdem sie allerdings zuvor festgehalten hat, dass Soziale Arbeit über eine „Allgemeine normative Handlungstheorie" denkt und plant (vgl. ebd., S. 204). Vgl. zur Diskussion um eine „Legitimitätskrise des normativen Hilfeverständnisses der Sozialpädagogik" auchB. Müller, 1991, S. 101.
94 • Das vernachlässigte Ethikprofil
individueller Liebesakte" (Klüsche, 1994, S. 189) verkommen zu lassen. Für eine Hilfe ^ur Selbsthilfe sind technokratisch inszenierte Handlungsweisen so unnütz wie emotional motivierte; im Blick steht vielmehr der Mensch als Adressat einer Hilfeleistung, die er sich nicht verdienen muss und die er auch ablehnen kann. Eine Pflicht, sich helfen zu lassen, begründet sich zwar aus der sozialen Situation heraus; ihr steht aber das individuelle Recht gegenüber, eigene und unkonventionelle Wege zu gehen. Soziale Arbeit, die das berücksichtigt, sucht die Begegnung mit dem Menschen als Person (vgl. Volz, 2000, S. 216). Sie setzt auf Mündigkeit und übersetzt Bürokratie in Funktionalität, Menschenliebe in Empathie. In diesem Rahmen zu agieren, heißt, die fürsorgerischen Wurzeln der Sozialen Arbeit aufzunehmen und mit einem pädagogischen Interesse zu verbinden. Dieses Interesse ist wichtig, weil es für das Menschenverständnis die entscheidenden Akzente setzt. Kontroll- und Hilfeanliegen verschränken sich mit einem pädagogisch orientierten, positiven Menschenbild, das individuelle wie auch soziale Rahmenmerkmale vorgibt und in das berufliche Handeln eingliedert. Es kommt genau hier zur Fusion von Sozialarbeit und Sozialpädagogik und zur Geburt der Sozialen Arbeit. Die Wirklichkeit dieser in einem integrativen Sinn verstandenen „Sozial-Pädagogik" ist der Lebensweltgedanke. Kein anderer Deutungsansatz kommt der Verschränkung des fürsorgerischen mit dem pädagogischen Anliegen so nahe. Über ihre Lebensweltorientierung vermag die Soziale Arbeit damit ihre innersten Überzeugungen zu vertreten — und entsprechend auch ihre ethische Position. Man möchte meinen, dass dieser Denk- und Handlungsansatz auch geeignet wäre, ein Ethikprofil zu zeichnen, doch genau das geschieht nicht. Die Lebensweltorientierung nimmt sich des Ethikthemas an, aber sie stößt auf eine hausgemachte Schwierigkeit: Ihr Interesse an der Besonderheit des Einzelfalls drängt sie in die Kasuistik, auch wenn sie Handhabe sucht, der Vereinzelung im Urteil zu entgehen. Thiersch empfiehlt, das „Arbeitsverhältnis" gegenüber Adressaten „Vertragsförmig" zu regeln und dadurch Distanz zu halten; und er rät zu methodischer Strukturierung, über die ein „schematisierend ordnendes Element" zu gewinnen sei (Thiersch, 2000a, S. 24). Aber auf der anderen Seite verlangt er auch, sich auf den lebensweltlichen Alltag einzulassen und diesen „als Raum, in dem Leben pragmatisch bewältigt werden muß" zu sehen (Thiersch, 2005, S. 52). Dieser Alltag birgt normative Kraft, formt „Leben in seinem Eigensinn" aus; ihm gilt es in einer „moralisch inspirierten Kasuistik" Rechnung zu tragen (ebd., S. 53). So reduziert sich Ethik auf eine Moral des Einzelfalls, auf einen Anflug von „Inspiration", die Vertrags förmig geregeltem und methodisch umgrenztem Handeln zur Seite tritt. Die Lebensweltorientierung vertraut dabei auf eine „Pragmatik des Überschaubaren und Selbstverständlichen" (Thiersch, 2005, S. 45), und folgt damit ganz der eingangs aufgezeigten Linie, nach der über Ethik in der Sozialen Arbeit, so unbestritten deren Bedeutung ist, nicht weiter reflektiert wird, weil die maßgeblichen moralischen Bezugspunkte, zumal in der Abkehr von den Irrtümern des „Dritten Reichs", evident sind.
Die Lebensweltorientierung • 95
Es entspricht ganz der lebensweltlichen Dialektik, dass ein ethischer Eigensinn Sozialer Arbeit hinter dem Eigensinn im Leben von Adressaten zurücksteht. Erst wenn dieser „ernstgenommen und respektiert wird" (Thiersch, 2005, S. 52), können Handlungsansätze gelingen, die der Besonderheit gerecht werden. Apropos gerecht: Der Lebensweltansatz denkt in seiner moralischen Ausrichtung nicht konzeptionell, sondern er denkt exemplarisch. 19 Wie eine moralisch inspirierte Kasuistik ihre Entscheidungen „zwischen gut und böse" verortet, ist oben schon zu sehen gewesen (vgl. Kap. 2, Abschn. 5). Zu diesem Ethikgesichtspunkt gesellt sich ein zweiter, über den deutlich wird, dass auch soziale Prinzipien lebensweltlich gedacht werden. Der Grundsatz ist, dass über das Wirken in concreto, im Handeln am Menschen, überhaupt nur angemessen zu realisieren ist, was ein Einzelner an sozialer Zuwendung im gesellschaftlichen Kontext erwarten darf. Namentlich soziale Gerechtigkeit zielt so auf die „Lebensverhältnisse", und es entspricht wiederum lebensweltlicher Logik, dass nur eine Soziale Arbeit, die sich mit der realen Lebenssituation von Menschen befasst und pragmatisch versucht zu erreichen, was sinnvoll und möglich ist, in der Lage ist, soziale Gerechtigkeit wenigstens ansatzweise zu bewerkstelligen, wohingegen pauschale, politische Lösungen am Menschen nur Ungerechtigkeiten produzieren. So stellt Thiersch (2000b, S. 533) fest: „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit konkretisiert ihre Aufgabe, soziale Gerechtigkeit in Lebensverhältnissen zu ermöglichen, in Bezug auf die Brüche, Krisen und Belastungen heutiger lebensweltlicher Erfahrungen." Dem Gedanken, dass Soziale Arbeit auch sozialethische Anliegen über die Vertretung der Interessen ihre Adressaten erfüllt, steht ein Ethikansatz nahe, der sie anwaltschaftlich agieren sieht. Der Sache nach kann einem Handeln, das „auf der Seite der Klienten" steht, eine Verbindung zum Lebensweltgedanken unterstellt werden, da Parteilichkeit zum Prinzip erhoben wird (vgl. Rogner, 2003, S. 439). Allerdings gründet das daraus gewonnene Konzept einer advokatorischen Ethik in einer paternalistischen Haltung, die so nicht zur Lebensweltorientierung passt. Micha Brumlik (1987, S. 61) markiert diese Haltung, wenn er ausführt: „Eine advokatorische Ethik ist ein System von Behauptungen und Aufforderungen in bezug auf die Interessen von Menschen, die nicht dazu in der Lage sind, diesen selbst nachzugehen, sowie jenen Handlungen, zu denen uns diese Unfähigkeit anderer verpflichtet." 20 Wer nicht nur am Lebensweltgedanken vorbei, sondern auch in einem einseitigen und mutmaßlich falschen Mandats Verständnis Anwaltschaftlichkeit zu einem „Herzstück Sozialer Arbeit" erklärt (vgl. Rieger, 2003), erweist deren Ethikprofil keinen Dienst, weil er in der propagierten Parteilichkeit das gesellschaftliche
19
Vgl. auch den Hinweis bei Thiersch (2000a, S. 22), ein lebensweltbestimmtes, sozialpädagogisches Handeln wirke im Grundmuster „wie ein moralisierender Tugendkatalog".
20
Für die „jeder advokatorischen Ethik zugrunde liegende paternalistische Einstellung" vgl. auch Brumlik, 2000, S. 282.
96 • Das vernachlässigte Ethikprofil
Anliegen ignoriert.21 Punktuell individuelle Interessen zu vertreten, gehört zwar auch zum Geschäft, aber das Herz Sozialer Arbeit schlägt dort, wo das menschliche Zusammenleben organisiert wird. So bleibt festzuhalten, dass die an Pragmatik orientierte, lebensweltbezogene Soziale Arbeit — das anwaltschaftliche Wirken schließe ich als Sonderfall mit ein — eigene, ja beinahe eigenwillige Wege der ethischen Legitimation geht. Die Ansatzpunkte, die deutlich werden, sind hilfreich, aber weder geeignet noch gedacht, Ethik zum Thema zu erheben. Vielmehr reduziert sich die Ethikperspektive auf institutionelle und methodische Handlungsvollzüge bzw. auf den Anspruch, Menschen, die im Getriebe gesellschaftlicher Handlungsvollzüge marginalisiert erscheinen, Gehör zu verschaffen.
5 Der systemische Ansatz So wie der Lebensweltgedanke oben die Pragmatik einer Sozialen Arbeit repräsentierte, die das Kontroll- und Hilfeanliegen mit einem wertschätzenden Menschenverständnis verband, stehen systemisch orientierte Theorieansätze für ein — daran anknüpfendes — systematisches Interesse. Insofern eignen sich die beiden Theoriekomplexe, um gleichsam exemplarisch, zugleich aber strukturlogisch das Feld von Verständnisweisen zur Sozialen Arbeit abzustecken.22 Eine an der Systemtheorie ausgerichtete Soziale Arbeit interessiert sich vor allem für die Wirkzusammenhänge, die das Leben von Menschen in der Gesellschaft und auch in kleineren sozialen Verbänden bestimmen. Ihr Schlüsselmerkmal mag sein, den Menschen nicht in seiner Individualität, sondern gemäß der „Rolle" zu betrachten, die er in einem solchen — „System" genannten — Wirkzusammenhang als „Systemangehöriger" spielt (Lüssi, 2001, S. 66). Doch auch wenn sich daraus andere Handlungsperspektiven ergeben als in einem lebensweltlichen Kontext, begründet das keinen Gegensatz. Vielmehr beleuchten ein lebensweltlich orientiertes induktives und ein systemtheoretisch ausgerichtetes deduktives Denken in ihrem Aufeinandertreffen gemeinsam das Handlungsspektrum, über das die Sozialarbeitspraxis verfügt.23
21
Dass Anwaltschaftlichkeit als Argument aus dem Mandatbegriff gewonnen werden soll, liegt auf der Hand. Wenn das Mandat aber, wie oben in Kap. 5, Abschn. 1 ausgeführt, von der Gesellschaft her zu denken ist, bleibt für reine Parteilichkeit kein Raum. Und auch im Doppelmandat findet sie keine Begründung, da dieses, wie Marzahn dargelegt hat (1992, S. 29), unauflöslich ein Doppelmandat bleibt. Soziale Arbeit schließlich nur einem „lebensweltlich-ganzheitlichen Mandat" verpflichtet zu sehen, birgt, wie Thiersch (2000a, S. 17) warnt, die Gefahr, in den „Anspruch eines allgemeinen politischen Mandats" zu pervertieren.
22
Als nur bedingt geeignet erscheint mir Engelkes „orientierende Übersicht" zu Theorien und Modellen der Sozialen Arbeit (2004, S. 362 ff.), auch wenn sie für ,„gute' und .schlechte' Theorien" (S. 387) ein Raster entwickelt (S. 388).
23
Vgl. dazu einen Beitrag von Keck (2007) mit der Replik dazu von Kleve (2007), woraus Beschränkung wie Geltungsanspruch eines systemtheoretischen Ansatzes gleichermaßen deutlich werden.
Der systemische Ansatz • 97
Genau besehen ist der systemische Ansatz in der Sozialen Arbeit längst, im guten wie im schlechten Sinn, zu einem Klischee geworden. Viele seiner spezifischen systemtheoretischen Begrifflichkeiten wirken weit- oder zumindest praxisfremd; 24 andere wieder, wie die Erkenntnis, dass kleinere unmittelbare, größere mittelbare und große Gesamtkontexte Menschen in Wirkzusammenhänge einbinden, sind längst Gemeingut geworden. Richtig freilich ist, dass ein wissenschaftlicher Anspruch Sozialer Arbeit diese in der Lage zeigen muss, Denk- und Deutungsrahmen, die für die Anliegen von Beruf und Profession geeignet erscheinen, seriös zu verstehen und auszulegen. Tilly Millers Ansatz ist hier aufschlussreich, weil er die zum Teil sperrigen Begrifflichkeiten aufnimmt und in eine Praxis hinein zu vermitteln sucht, in der Selbstreferentialität und Autopoiesis Begriffe bleiben, mit denen keine Brücken zu bauen sind. Miller (2001, S. 19) macht deutlich, dass eine Relevanz systemtheoretischer Aussagen vom Handlungsanliegen Sozialer Arbeit her zu denken ist. Sie unterscheidet dabei auch zwischen einer Theorie- und einer Praxisrelevanz und tnarkiert den Unterschied über die Begriffe systemtheoretisch und systemisch (ebd., S. 20), mit der Konsequenz, am Ende so etwas wie das „systemische/systemtheoretische Denken in der Sozialen Arbeit" in Position bringen zu können (S. 33). Damit wird vor allem eines deutlich: Der „systemische/systemtheoretische" Ansatz in der Sozialen Arbeit ist bestrebt, alle Anliegen der Praxis — und das schließt deren Weg in die Theorie mit ein — zu erfassen, und er ist dazu in der Lage, weil er sich instrumentalisieren und nach Bedarf einschränken und ausformen lässt. Ernst Engelke (2004, S. 399) konstatiert mindestens drei verschiedene „Wege des Umgangs mit Systemtheorien", was unterstreicht, dass auch ein Klischee durchaus effizient zu wirken vermag. Engelkes Wege- und Autorenliste könnte noch durch den Weg des Life Model ergänzt werden, das, wie Louis Lowy (1983, S. 100) hervorhebt, „in weiterer Verfolgung der Systemtheorie entwickelt" wurde. 25 Der Ansatzpunkt des Life Model erlaubt eine „Akteurorientierung" (Miller, 2001, S. 34) und erweitert den Systemgedanken in Richtung Lebenswelt. Heiko Kleve (2007, S. 27) kann vor diesem Hintergrund völlig zu Recht behaupten, es lasse „sich durchaus alles mit dem und im System(ischen) vollziehen, was Soziale Arbeit als Theorie und Praxis ausmacht".
24
Obrecht (2004) reklamiert den „Systemismus" als „Metatheorie", auf die für eine „Theorie sozialer Probleme" (S. 271) zurückgegriffen werden muss, da „die Soziale Arbeit keine Basis- sondern eine Handlungswissenschaft ist" (S. 271). Diese Pointierung freilich impliziert, dass an die Praxis Sozialer Arbeit Theoriekonzepte — in diesem Fall Systemtheorie — herandrängen, die mit deren Anliegen erst einmal nichts im Sinn haben.
25
Vgl. Germain, Carel B. / Gitterman, Alex: The Life Model ofSoäal Work Practice, New York 1980 (deutsch: Praktische Sotgalarbeit. Das „Life-Model" der Soralen Arbeit, Stuttgart 1983). Lowy (1983, S. 86) sieht in dem auf die „Transaktionen zwischen Menschen und ihrer Umwelt" gerichteten Fokus und der zentralen Forderung an Soziale Arbeit, „Menschen bei der Bewältigung von Aufgaben und Problemen" zu unterstützen, sie sich aus diesen Transaktionen ergeben, das Formalobjekt Sozialer Arbeit als Wissenschaft (vgl. ebd., S. 85) aufscheinen.
98 • Das vernachlässigte Ethikprofil
Das schließt nun ausdrücklich die Ethik mit ein. Kleve selbst bezeichnet Soziale Arbeit als Gerechtigkeitsarbeit, „weil sie die gesellschaftlich nicht beachteten und missachteten Menschen zu achten versucht" (1999c, S. 72). Ob der systemische Zugang dabei nun rollen- oder akteurorientiert angelegt ist - es zeigen sich nicht nur Möglichkeiten, das Ethikinteresse Sozialer Arbeit mitzudenken, es ergeben sich auch dieselben Verständnisweisen, angefangen vom Menschenbild — mit einem Bezug auf die „Würde der Person" (Miller, 2001, S. 155) - bis hin zu den normativen gesellschaftlichen Bestimmungen: Solidarität, Subsidiarität und Gerechtigkeit (vgl. Miller, 2001, S. 165 ff.), wie sie oben als Grundbestand einer Ethik für die Soziale Arbeit aufgezeigt wurden. Dass sich Soziale Arbeit zur sozialen Problemlösung aufgefordert sieht; dass sie weiß, dass ihr Handeln keine Abhängigkeiten produzieren darf: das hat Silvia Staub-Bernasconi, wie ebenfalls schon zu sehen war, als Perspektive für eine systemisch orientierte Soziale Arbeit dargelegt. 26 Im Grunde gibt diese Entschlossenheit, zentrale ethische Fragen zu thematisieren, wiederum Anlass zur Freude, weil das kritische Potential der beruflich geleisteten Sozialarbeit abgerufen wird. Die Dimension des ethischen Interesses ist beachtlich, findet Soziale Arbeit doch über ihren systemischen Ansatz zu ihrem selbstbewussten Auftreten als Menschenrechtsprofession (Staub-Bernasconi, 1995a). Zugleich finden über dieses Thema lebensweltliche und systemische Perspektiven zueinander, denn es geht auch um Bereiche, „die einen sehr direkten Bezug zu den Menschenrechten haben" (Hug, 2007, S. 12). Das „Recht auf soziale Sicherheit", wie es der Artikel 22 der UN-Menschenrechtserklärung notiert, könnte gar zum Legitimationssymbol für die Soziale Arbeit erhoben werden. Es fordert nationale und internationale Anstrengungen und setzt zugleich Würde und Persönlichkeit als Wertebezug und spiegelt so das Mandatsverständnis der Sozialen Arbeit.27 Doch der schon angesprochene Pferdefuß zeigt sich auch hier. Die Menschenrechtsthematik ist ein Bezugspunkt, aber sie bildet nicht den Handlungsrahmen für die Soziale Arbeit. Vielmehr impliziert sie eine Fülle an weltanschaulichen und politischen Bezügen, denen das Sozialarbeitshandeln fern steht. So profiliert streitbar Soziale Arbeit in der Menschenrechtsfrage auch sein mag: sie bewegt sich damit in diese hinein und nicht umgekehrt. Neben ihr sind alle möglichen Wissenschaften, Initiativen und Organisationen involviert, und Soziale Arbeit müsste da schon eher Sorge dafür tragen, nicht selbst an Profil 3u verlieren. Das Thema Menschenrechte gehört, ohne Frage, zu ihrem Kerngeschäft, aber es ist nicht ihr Kernge-
26
Hier sei vor allem nochmals auf die Sensibilisierung für die Problemdimension Macht hingewiesen (Staub-Bernasconi, 1998, S. 24 ff.; vgl. oben, Kap. 5, Abschn. 4), über die Soziale Arbeit in einer Schlüsselfunktion für die Umsetzung der sozialen Belange der Gesellschaft zu sehen war.
27
Vgl. den Wordaut des 22. Artikels der UN-Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuß der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind." Vgl. http://www.unhchr.ch/udhr/lang/ger.htm. Dazu siehe auch bei Kühnhardt, 1991, S. 312.
Zusammenfassung • 99
schäft. Ähnlich verhält es sich mit den anderen ethischen Bezugspunkten: Systemisches Denken eignet sich, wenn es auf Soziale Arbeit bezogen wird, Brennpunkte der Aufmerksamkeit an, die zu definieren es selbst nicht in der Lage wäre. Systeme zeigen Moral selbst nur als System, das einem Betrachter keinen übergeordneten ethischen Haltepunkt ermöglicht. Ethik, die einen solchen dennoch vorgibt, ist in einem systemischen Verständnisrahmen nicht begründet, sondern in andere Argumentationslinien eingebunden. Damit diese „systemisch/systemtheoretisch" kompatibel bleiben, treten sie wiederum eher wie eine Selbstverständlichkeit in Erscheinung und begründen — Menschenrechtsprofession hin oder her — letztlich kein sozialarbeiterisches Ethikprofil.
6
Zusammenfassung
Die Redeweise vom vernachlässigten Ethikprofil ist provokant. Doch sie ist deskriptiv, nicht wertend gemeint. Zu sehen war vor allem, dass gängige Sichtweisen Sozialer Arbeit jeweils wenig Mühe haben, sich ethische Themen anzueignen, aber eben auch wenig Mühe darauf verwenden, mit kritischen Fragen die jeweiligen Argumentationslinien nachzuvollziehen. Dafür gibt es Gründe. Zum einen drängen sich besagte Themen — Menschenbild, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Verantwortung — postulativ auf; sie zu ignorieren stünde nicht nur einem diensdeistenden Beruf schlecht zu Gesicht, sondern widerspräche auch Grundannahmen im beruflichen Selbstverständnis Sozialer Arbeit. Zum andern liefert die Ethikdebatte in Wissenschaft und Politik selbst wenig Anhaltspunkte für eine zielführende Reflexion. Vielmehr ist Ethik, wie sehr sie sich auch müht, zuletzt immer auf das Spielfeld privater und öffentlicher Interessen geworfen und so nur Spielball in einer Gesellschaft, die einen Begriff wie Verbindlichkeit allenfalls in der Pluralform kennt. Sozialer Arbeit bleibt als tragfähiger Bezugsrahmen nur das eigene, sozialarbeiterische Anliegen und dessen praktische Umsetzung. Was immer daher Wissenschaft selbst an Ethikperspektiven liefert, und was immer Gesellschaft an konkreten Bezügen bereitstellt: Die ethische Betrachtung in der Sozialen Arbeit hat die eigene Praxis im Visier. Darin treffen sich das Postulat und der eigene Anspruch. Ethisches Denken und Handeln scheinen auf (vgl. Gruber, 2005), aber sie finden keinen Eingang in die Systematik Sozialer Arbeit als Profession und Wissenschaft. Vordergründig gibt es dazu auch keinen Anlass. Im Konsens mit den Grundwerten der aufgeklärten, (post)modernen Gesellschaft lässt sich leicht ethisch argumentieren. Und genau besehen funktioniert Soziale Arbeit, in solchen gesellschaftlichen Kontexten, auch ohne Ethikreflexion, wie über die vergangenen Jahrzehnte hinweg deutlich geworden ist. Allein der wachsende öffentliche Legitimationsdruck provoziert einen Ethikfokus, über den Soziale Arbeit dann auch versucht, den eigenen Professionsanspruch zu bedienen. Sie bleibt dabei, auch berufsethisch gesehen, beim Selbstverständlichen, und sieht sich nicht aufgefordert, Zusammenhänge in Frage zu stellen, von denen sie sich bisher offenbar stets hat
100 • Das vernachlässigte Ethikprofil
tragen lassen. Hier greift das Zauberwort einer „impliziten Ethik", das Heinz J. Kersting (1994, S. 165) von Heinz von Foerster aufnimmt und das als ein Grundmotiv für Ethikpositionen in der Sozialen Arbeit bis heute zu beobachten ist (Schlittmaier, 2006b, S. 34).
7. Kapitel Die zwei Dimensionen sozialarbeiterischer Ethik 1 Der Handlungsrahmen Sozialer Arbeit Der Handlungsrahmen Sozialer Arbeit ist das Mandat. Das setzt allerdings voraus, dass ein gesellschaftlicher Auftrag mit der entsprechenden Handlungskompetenz zusammengeht. Im Mandat treffen sich das Problem- und Handlungsverständnis Sozialer Arbeit und der gesellschaftliche Bedarf, der allein dadurch entsteht, dass Menschen soziale Zusammenhänge ausprägen, die politisch gesteuert und verwaltet werden. Im Mandat mobilisiert die gesellschaftliche Exekutive ein berufliches Handlungspotential, das ihr nützt, soziale Zusammenhänge zu gestalten, das der Gesellschaft aber auch zu einem Selbstverständnis verhilft. Soziale Arbeit ist dazu in der Lage, weil sie ihre Praxis an der gesellschaftlichen Peripherie leistet und dadurch weiß, was Politik und andere gesellschaftliche Kräfte an Lebenswirklichkeit und nicht zuletzt an Inkonsistenz produzieren. Durch wissenschaftliche Ausrichtung wägt sie zudem weitere Faktoren, die auf Gesellschaft einwirken, sowie andere, die von innen kommen und soziales Leben mit beeinflussen. Und sie formt Ideale mit aus, an denen Wirklichkeit zu messen ist. Alles in allem entspricht es ganz diesem Mandat, dass Soziale Arbeit einen eigenständigen Wertediskurs unternimmt. Nur diese Eigenständigkeit garantiert letztlich die Qualität eines unabhängigen Urteils, und nur sie konstituiert das konstruktive Leistungsprofil, auf das eine moderne Gesellschaft angewiesen ist. Zum Mandat nun gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Es lohnt sich, diese einmal nebeneinander zu betrachten, weil sich der Handlungsrahmen für die Soziale Arbeit darin präzisiert. Ich spreche dabei zunächst von Varianten, die ich später allerdings systematisieren werde. Die erste Variante ist die, Soziale Arbeit in einem Mandat der Gesellschaft zu sehen. Darauf habe ich mich eben bezogen, und das wurde oben auch schon weiter ausgeführt (vgl. Kap. 5, Abschn. 1). Dieses Mandat erklärt das Sozialarbeitshandeln zum gesellschaftlichen Instrument, setzt aber auf die berufliche Integrität und die in wissenschaftlicher Kompetenz begründete Autonomie der so funktionaüsierten Sozialen Arbeit. Aus dem Mandat heraus lassen sich verschiedene Perspektiven entfalten, allem voran die von Kontrolle und Hilfe, die, wie zu sehen war, in der Verschränkung dieser Merkmale soziale Problemlösung zum Wohl der Betroffenen vorantreibt, 1 aber eben auch die dafür grundlegende Sicht, dass Individual- und Gemeinschaftsinteressen zu vermitteln sind. Ein solches Verständnis ist im Spektrum der Zugangsweisen zur Sozialen Arbeit durchaus darstellbar, mit einem Platz eher sogar noch in der Mitte der
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Vgl. dazu oben die Betrachtung zur Aufgabenstellung der Sozialen Arbeit (Kap. 4, Abschn. 2).
102 • Die zwei Dimensionen sozialarbeiterischer Ethik
Überlegungen, weil es Ansatzpunkte bietet, das von vielen empfundene Dilemma der nächsten zu betrachtenden Variante: des doppelten Mandats, aufzuheben. Diese zweite Variante folgt in gewissem Sinn direkt aus der ersten, wenn nämlich Hilfe und Kontrolle, Individual- und Gemeinschaftsinteresse als Gegensätze verstanden und als Indizien einer Polarisierung erlebt werden. Der Schritt vom einen zum doppelten Mandat wird dort vollzogen, wo Soziale Arbeit im Kern als Hilfe verstanden wird. Dann und nur dann erscheint ein Kontrollauftrag kontraproduktiv und potentiell als Widerspruch; dann und nur dann erscheint es notwendig Klienteninteressen gegenüber bürokratischen Anliegen anwaltschaftlich zu vertreten. Das Motiv war bereits bei Scherpner hervorgetreten, der den Fürsorger „nicht als Kontrolleur, sondern ... als Freund und Berater" versteht (1962, S. 191); es führt zum sprichwörtlichen „Doppelmandat von Kontrolle und Hilfe", wie es viele für die Soziale Arbeit als konstitutiv ansehen (vgl. Thiersch, 2000a, S. 23). Doch es sind Unterformen erkennbar, die deutlich machen, dass durchaus nicht alle immer auch dasselbe darunter verstehen, wenn sie vom Doppelmandat der Sozialen Arbeit sprechen. Da ist zum einen die Haltung, die, mehr oder weniger bewusst, den grammatikalischen Dual betont und auf die unauflösliche Zusammengehörigkeit der Handlungsoptionen Kontrolle und Hilfe abhebt. Das doppelte Mandat kennt noch den einen Ursprung im Sozialarbeitsauftrag, findet darin allerdings „Ambivalenz" und schließt daraus, dass Soziale Arbeit nicht über ein eindeutiges gesellschaftliches Mandat verfügt (vgl. Kleve, 1999b, S. 372). Zugleich ist ein solches Verständnis aber auch Anknüpfungspunkt für Bemühungen, das Handlungsprofil Sozialer Arbeit eindeutig anzulegen und nach den Brücken zu suchen, die der gegebenen „Responsivität im Verhältnis von Bürgern und staatlich organisiertem Gemeinwesen" gerecht werden (Wendt, 1995c, S. 155). Zum andern zeigen sich Tendenzen, das doppelte als ein zweifaches Mandat zu verstehen. Das ist überall dort der Fall, wo eine Beauftragung durch Klienten gesehen wird und zwar auch dann, wenn Anstoß und vor allem Finanzierung der Dienstleistung staatlicherseits geschehen. Die Haltung ist ein wenig schräg und hat auch zu Diskussionen beispielsweise über den Kundenbegriff geführt. 2 Aber sie ist vom Gesichtspunkt einer Sozialen Arbeit, die sich als Dienstleistung versteht, her plausibel, vor allem dann, wenn als Dienst die Hilfeleistung gesehen wird. Dann freilich werden „Rollenkonflikte" virulent (vgl. Dewe u. a., 1986, S. 205), die, nach Meinung mancher, in der Praxis auch zu persönlichen Loyalitätskonflikten führen können (vgl. Hinweise bei Wendt, 1995c, S. 143).3
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Hinweise auf diese Diskussion finden sich weiter unten im Rahmen der Betrachtung zum Dienstleistungsverständnis Sozialer Arbeit (vgl. Kap. 15, Abschn 2).
3
Es ist davon auszugehen, das in der Sozialarbeitspraxis Problematiken, die Loyalitäts fragen aufwerfen können, zum Alltagserleben gehören. Für Klienten und gegen Auftraggeber - in der Einrichtung, im Verband, im Amt - meinen agieren zu müssen, drängt als Entscheidungskonflikt überall dort an Akteure heran, wo ein unbedingtes Hilfeanliegen zu verwirklichen gesucht wird und wo keine geeigneten Kommunikationswege bestehen, die unklare Handlungssituation offen zu kommunizieren. Vgl. zum Thema Loyalitätskonflikt auch unten im 2. Abschnitt.
D e r H a n d l u n g s r a h m e n Sozialer A r b e i t • 1 0 3
Aus systematischen Gründen eigens zu erwähnen ist hier schließlich die Auffassung von Louis Lowy, die dem oben angesprochenen dualen Verständnis zuneigt, aber das Doppelmandat auf die Situation des Einzelnen in der Gemeinschaft zuspitzt. Es geht Sozialer Arbeit demnach um eine Hilfe zur Lebensbewältigung, die einerseits eine persönliche, andererseits eine Umweltkomponente hat (vgl. Lowy, 1983, S. 57).'4 Individuum und Gemeinschaft zeigen sich darin nicht als widerstreitende Interessenssphären, sondern als die beiden Bezugspunkte des einen beruflichen Handelns. Entsprechend sieht Lowy, andererseits, auch wiederum nur „das gesellschaftliche Mandat", aus dem dann die Aufgaben der Stabilisierung und der Veränderung als „Dualität" fließen (ebd., S. 33). Als dritte Variante findet sich bei Rudolph Bauer (1995), gewissermaßen in weiterer Öffnung der Zwiefalt, aber zugleich wie eine Synthese des Doppelbezuges auf Gesellschaft und Individuum ein „dreifaches Mandat", im Rahmen dessen Sozialarbeitshandeln gesellschaftlich-politische Vorgaben und lebensweltliche Kriterien gleichermaßen zu beachten hat, zusätzlich aber „das Verhältnis zu ihren ökonomischen Rahmenbedingungen" wahren soll (S. 134). Hier wird ergänzend ein Gebot der Wirtschaftlichkeit formuliert, das, auch wenn es Sinn macht, vom eigentlichen Mandatsbegriff wegführt. Vielmehr geht es bei solchem Reden vom Mandat, in einem Schnittbereich zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, um Determinationsfaktoren für das berufliche Handeln. Bauers „Paradigma" (ebd., S. 133) hat das Professionsverständnis im Blick, das Ökonomie als eigenen Bereich für sich entdeckt. Dieses Mandatverständnis geht in Richtung Selbstverpflichtung, für die in der Stilisierung zum Mandat vor allem der angenommene obligatorische Charakter herausgestellt wird. Eine Unterform zu dieser Variante kann in dem schon angesprochenen „Wissensmandat" (Staub-Bernasconi, 1994, S. 96) gesehen werden. Hier wird gleichfalls aus einem professionellen Verständnis heraus von einer Verpflichtung gesprochen, zu der Soziale Arbeit über „Fragestellungen aus der Praxis" gelangt (ebd., S. 97). Mandat ist auch hier ein starker, tendenziell irreführender Begriff. Als Mandantin zeigt sich ganz und gar die Soziale Arbeit selbst. Worum es also geht, wäre als Wissensgebot klarer und besser benannt. Eine vierte Variante schließlich zeigt sich bei Dieter Röh (2006), der über vier Mandate die zentralen Handlungsbezüge Sozialer Arbeit hervorhebt. Zunächst gilt der Blick der Gesellschaft. Dabei zeigt sich ein Verständnis, das über Hilfe und Kontrolle ein umfassendes Mandat wirksam sieht, das einen „Normierungsauftrag" mit einschließt (ebd., S. 445). Sodann geht es um die Klientel, für die, unter Andeutung des Doppelmandats, „das anwaltschaftliche Prinzip" aufscheint (ebd.). Ein drittes Mandat kommt von der Profession, was Röh konsequent als „Selbstmandatierung" versteht und auf eine Art „fachpolitisches Mandat" bezieht (ebd., S. 446). Und schließlich erteilen auch die Institutionen der Sozialen Arbeit ein Mandat, zu dem, auch wenn es bei Röh als „neues Mandat" erscheint (ebd., S. 447), die oben 4
Im Rahmen einer am Empowerment ausgerichteten Sicht hat Böhnisch (2003, S. 151) diesen Gedanken weitergeführt.
104 • Die zwei Dimensionen sozialarbeiterischer Ethik
von Bauer angemahnte Beachtung der ökonomischen Rahmenbedingungen passt. Neu ist hier also vor allem der Gedanke eines politischen Mandats, in dem sich Anspruch und Kompetenz Sozialer Arbeit als Profession und Wissenschaft spiegeln. Das ist nun keine (weitere) Determinante im beruflichen Handeln, sondern eine Option, die wahrzunehmen Sozialer Arbeit nicht nur möglich, sondern — so die Diktion - auch aufgetragen ist. Und genau darin unterscheidet sich dieser Mandatsgedanke auch von dem „Anspruch eines allgemeinen politischen Mandats", wie er in den 1970er Jahren diskutiert worden war (vgl. Thiersch, 2000a, S. 17). Zu diesen vier Varianten könnte man noch eine weitere hinzunehmen, die lediglich diffus im Hintergrund wirkt, doch über ihre Wirkung zu identifizieren ist. Es handelt sich nicht um eine eigene Position, wohl aber eine Tendenz, die letztlich darauf verweist, dass die Mandatssituation noch nicht hinreichend geklärt ist. Denn in verschiedenen Beiträgen — und nicht zuletzt in manchem persönlichen Praxisengagement — ist unterschwellig die Phantasie eines ganzheitlichen Lebensweltmandats zu vernehmen. Hans Thiersch notiert sie, rückt aber davon ab (2000a, S. 17). Zu erspüren ist sie dann allerdings in Überlegungen zum anwaltschaftlichen Sozialarbeitshandeln, das sich Parteilichkeit als Prinzip verordnet und durchaus kämpferisch vertritt. 5 In solcher Perspektive begegnet die Tatsache „korporatistischer Verflechtung zu staatlichen und kommunalen Organen" verständlicherweise als „Problem" (Rieger, 2003, S. 102). Auf der anderen Seite künden auch Darlegungen zum Doppelmandat, die dessen Funktionsziel positiv herausstellen und beispielsweise wie Johannes Schilling erklären: „Ziel von Hilfe und Kontrolle sind Anpassung und Integration" (Schilling, 2005a, S. 283), leise von der Vision reiner Hilfeautonomie, wenn sie zu dem Schluss gelangen (ebd.): „Solange Sozialpädagogik im öffentlichen Auftrag handelt ... ist das doppelte Mandat strukturell unvermeidbar . . . " Ein reines Lebensweltmandat macht für Soziale Arbeit jedoch keinen Sinn. Wenn sie ihren gesellschaftlichen Bezug verlöre, wäre auch ihr Handlungsrahmen nicht mehr gegeben. Sie wird immer im öffentlichen Auftrag handeln, was sie freilich nicht daran hindert, eigenständig für die Umsetzung dieses Auftrags zu sorgen. Mit gewisser Dialektik fordert zwar ihr gesellschaftliches Mandat auch zur Gesellschaftskritik auf; aber das führt aus dem gesellschaftlichen Betrachtungsrahmen nicht heraus. Diesen für rein individuelle Bezüge aufzugeben, wäre absurd. So zeigen die dargestellten Varianten vor allem eines: Soziale Arbeit geht von einem gesellschaftlichen Mandat aus, das sie dazu auffordert, die sozialen Belange von Menschen zu erforschen und zu gestalten. Das Mandat gilt im Rahmen der Gesellschaft, die für die Finanzierung der geleisteten Arbeit aufkommt. Aber es schließt die Fähigkeit des beauftragten Berufsstandes mit ein, „eigenbestimmt" diese sozialen Belange auch zu bewerten und zu ordnen. Es ist reizvoll, aus der „doppelten Verantwortlichkeit" für Gesellschaft und Individuum ein Doppel-
5
Vgl. etwa Rieger (2003, S. 99) in Erklärung anwaltschaftlichen Handelns: „Es ist darauf gerichtet, die Interessen und sozialen Rechte relativ machtloser Klienten gegenüber Entscheidungsträgern im Kontext asymmetrischer Machtstrukturen zu vertreten ..."
Ethik als Handlungsverantwortung • 1 0 5
mandat herauszuschälen (vgl. Marzahn, 1992, S. 29); aber wenn man beginnt, dieses aufzuspalten, geht auch der Blick für die besondere Zuständigkeit und das eigentliche Anliegen sozialarbeiterischer Praxis verloren. Beides zeigt sich dagegen über integrative Ansätze, vor allem dann, wenn die Hilfe für den Einzelnen als Hilfe für die Gesellschaft verstanden wird. Das gesellschaftliche Mandat deckt individuelle, lebensweltliche Betrachtung mit ab, ja fordert dazu auf, weil es einer Gesellschaft nur dann gut geht, wenn die Menschen, die in ihr leben, soziale Belange der anderen respektieren und mittragen. Dieser Handlungsrahmen bleibt Sozialer Arbeit: Die Aufmerksamkeit für die Verschränkung von Gemeinschaft und Individuum über soziale Beziehungen und Strukturen; die Aufgabe der sozialen Problemlösung, angelegt als Strategie von Kontrolle und Hilfe; das Interesse für die Funktionsprinzipien und -kriterien einer Gesellschaft und für die Lebenswirklichkeit der Menschen, die Gesellschaft konstituieren; und, last, not least, der Auftrag, in eigener Zuständigkeit gesellschaftliche Prozesse zu beobachten, Wertigkeit einzubringen, Bedarfe wahrzunehmen, Handlungsmöglichkeiten zu reflektieren, Lösungswege zu entwickeln. Es ist im Sinne des Handlungsauftrags an Soziale Arbeit nicht egal, ob diese nach Regeln der Wirtschaftlichkeit verfahrt oder nicht. Aber daraus ergibt sich kein eigenes Mandat. Im Gegenteil: Soziale Arbeit kommt aus fachlichen — oder wenn man so will: professionellen — Erwägungen heraus selbst zu der Verpflichtung, Ressourcen effizient und nachhaltig zu verwenden. Ein Wirtschaftlichkeitsgebot leitet sich hier unmittelbar ab. Von seiten des Mandats her aber geht es, entgegen mancher Meinung in der Öffentlichkeit, nicht um Kosten, sondern um Qualität. Die freilich verbürgt auch Wirtschaftlichkeit. Und schließlich: Von einem Mandat im Sinne der politischen Einmischung zu sprechen, ist ebenfalls hoch gegriffen, denn auch hier ist eine fachlich bzw. professionsperspektivisch begründete Verpflichtung zu erkennen, sozialpolitische Entscheidungen und Prozesse kritisch zu begleiten und, je nach Bedarf, zu unterstützen oder zu anzuprangern. Der besondere Charakter des gesellschaftlichen Mandats fordert auch dazu auf, denn Kontrolle und Hilfe, die dem Einzelnen und dem Ganzen nützen sollen, müssen auch dem Ganzen gelten. Wären hier nicht Scharfsinn und Zivilcourage der Akteure gefordert, die an der „gesellschaftlichen Front" gegen vielfache, auch hausgemachte Widerstände anzugehen haben, beeinträchtigt durch geringe Machtmittel und geschwächt durch ein ambivalentes öffentliches Ansehen, müsste man wiederum eigentlich von einer Selbstverständlichkeit sprechen. So aber stellt sich durchaus die — wie ich meine nicht unplausibel durch Mandatscharakter zur Agenda erhobene — ernsthafte Aufgabe, Soziale Arbeit für die Wahrnehmung dieser Pflicht weiter zu sensibilisieren und voranzubringen.
2 Ethik als Handlungsverantwortung Der aufgezeigte Handlungsrahmen Sozialer Arbeit gilt den Akteuren wie auch dem Beruf. Wenn man ihn auf die ethischen Belange wendet, zeigen sich determinieren-
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de Faktoren, die Handlungslinien und Handlungsweisen vorgeben, aber es werden auch die Spielräume deutlich, über die das Sozialarbeitshandeln verfügt. Die zentralen ethischen Themen, die dieses Handeln, egal ob vordergründig oder hintergründig verstanden, evoziert, sind schon zu sehen gewesen, und es steht bis hierhin fest, dass die Soziale Arbeit Ethik braucht, Ethik will, Ethik auch formuliert, aber wenig motiviert erscheint, sich zu einem eigenen Ethikprofil zu verhelfen. Die bestimmenden Vorgaben lassen dergleichen entbehrlich erscheinen; und über die vorgefundenen Handlungsspielräume ist man vorderhand zu froh, als dass man sie in selbstverordneter Verbindlichkeit allzu leichtfertig aufs Spiel setzten wollte. Der Handlungsrahmen aber zeigt, dass Soziale Arbeit Aufgaben wahrzunehmen hat; dass sie darin in eine gesellschaftliche und gleichermaßen Menschen geschuldete Verantwortung tritt, eine Verantwortung auch zu wissenschaftlicher Sorgfalt; dass sie ein Interesse daran haben muss, Spielräume nicht nur zu besetzen, sondern auch zu rechtfertigen; dass sie letztlich bandeln muss und dabei unter Beobachtung steht. Je klarer und je wirksamer sie ihre Entscheidungen zu treffen vermag, desto leichter fallt es ihr, Kompetenz zu zeigen und sich den öffentlichen Rückhalt zu sichern, den sie braucht, um ihrem beruflichen Profil Legitimation und Akzeptanz zu verschaffen. Dieser Zusammenhang setzt die Akteure gehörig unter Druck. Wenn sie ihre Arbeit ernst nehmen — und davon ist auszugehen —, so wissen sie, dass ihr Tun nicht nur den Adressaten gegenüber Erwartungen zu erfüllen hat; sondern Erwartungen richten sich genauso von der Gesellschaft und vom Berufsstand her an die Sozialarbeiterin und den Sozialarbeiter, zum einen als die Pflicht, die eigene Fachlichkeit repräsentativ und zielführend einzusetzen, zum andern als der Auftrag, die betrieblichen Abläufe zu beachten und damit nicht zuletzt eigene Fachlichkeit profiliert in übergeordnete berufliche Handlungszusammenhänge einzubringen. Wenn Fehler geschehen, gerät nicht allein der begonnene Hilfeprozess aus dem Tritt; auch das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit Sozialer Arbeit ist betroffen, bei Partnern und in der Gesellschaft, und letztlich stellt sich selbstkritisch für den Beruf auch die Frage nach der eigenen Fachlichkeit. Es gibt also gute Gründe — und ein großes, professionelles Interesse in der Sozialen Arbeit —, Fehler zu vermeiden und dazu Maßnahmen zu ergreifen. Hier nun kommt die Ethik ins Spiel. Niemand muss sich Sorgen machen, dass individuelle, berufliche Fehler — wie sie tagtäglich und oft unvermeidlich geschehen — Ansehen und Bestand Sozialer Arbeit gefährden. Aber das sieht bei strukturellen Fehlern schon anders aus, und letztlich haben auch individuelle Fehlleistungen nur dann Sinn und Berechtigung, wenn sie Lernprozesse in Gang setzen. So gibt es eine breite Basis, ethische Anhaltspunkte einzubringen, die das Sozialarbeitshandeln leiten können, und es gibt einen großen Bedarf an solcher Anleitung, weil jede Akteurin und jeder Akteur im alltäglichen beruflichen Handeln Neues antrifft und immer nur bedingt nach Routinen zu verfahren vermag, und auch dann, wenn Routinen greifen, wachen Auges auch diese Prozesse verfolgen sollte. Galt vor Jahren noch die Aufmerksamkeit ganz der Methodik, an die Erwartungen im Sinne normativer Handlungsmodelle (vgl. Dewe u. a., 1986, S. 301) gerichtet wurden, die
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vor dem Hintergrund uneinheitlicher Lebenswelt aber unerfüllbar bleiben mussten, so steht heute die Ethik in demselben Dilemma, „rezeptologisch mißverstanden" (ebd.) zu werden. In den nicht ganz einfachen Handlungszuschnitt, den die beruflichen Akteure und mit ihnen die Soziale Arbeit zu bewältigen haben, greifen die berufsethischen Prinzipien des DBSH ordnend ein. Deren Struktur bildet die Merkmale der geschilderten Drucksituation recht genau nach und liefert dadurch ein Zeugnis für ein Professionsbewusstsein, das Sozialer Arbeit und allen, die in ihr handeln, zu einer serösen Positionierung im beruflichen Handeln verhilft: Neben (1) „allgemeinen Grundsätzen beruflichen Handelns", regeln die Prinzipien das Verhalten (2) „gegenüber Klientel", (3) „gegenüber Berufskolleginnen und Berufskollegen", (4) „gegenüber Angehörigen anderer Berufe", (5) „gegenüber Arbeitgeber/innen und Organisationen" sowie (6) „in der Öffentlichkeit".6 Worüber allerdings keine Auskunft zu erhalten ist, sind die Entscheidungs- und Handlungssituationen selbst, in denen Akteure stehen und in denen sie besagte Fehler lieber vermeiden als begehen würden. So gibt es einen Ethikansatz, der treffsicher die Dimension des Handlungszusammenhangs ausleuchtet, aber das konkrete Handeln nicht trägt. Damit bleibt das Bedürfnis nach den richtigen Entscheidungen im Alltag unbefriedigt, und auch wenn die fachliche Qualifikation für solche Entscheidungen weiterhin wichtigste Voraussetzung ist, kommt der ethischen Orientierung dennoch eine im Wortsinn entscheidende Funktion zu, zum einen, weil sie selbst Teil der Fachlichkeit ist, zum andern, weil sie für die einzelne Sozialarbeiterin ein persönliches Legitimationspotential bereithält, das zur Arbeitszufriedenheit — und damit zur Identifikationsbereitschaft mit dem Anliegen der Profession — wesentlich beiträgt. Es ist also im Interesse des Berufes unbedingt darauf zu achten, den Akteurinnen und Akteuren für ihre tägliche Arbeit ethische Kompetenz mit an die Hand zu geben. Das kann als Grund dafür angesehen werden, warum auch dann, wenn ein Ethikprofil für die Soziale Arbeit in den Facetten ihres Wirkens irrelevant erscheint, zentrale und erprobte Handlungsroutinen dennoch ethisch aufbereitet werden. Man könnte es so verstehen: Ethik Sozialer Arbeit richtet sich, in berufsethischen wie auch in übergreifenden Ansätzen, an die, die diese Arbeit leisten. Das sind in erster Linie diejenigen Akteure, die zu den Menschen Kontakt haben, denen das berufliche Handeln gilt. Der elementarste Bezugspunkt ethischer Orientierung ist der Mensch, in diesem Fall der Adressat. Einschlägige Standards helfenden Handelns und der sozialen Gerechtigkeit zu verfehlen, würde jeden Handlungsansatz entwerten und zu einer Gefahr auch für die Soziale Arbeit als Beruf. Das zeigt sich nicht nur im Kontext der Erfahrungen unter der NS-Diktatur, sondern auch im Kleinen und Alltäglichen, nämlich immer dann, wenn eine Soziale Arbeit die Bedürfnisse von Klienten nicht hinreichend berücksichtigt. Darüber hinaus muss aber als ebenso problematisch angesehen werden, wenn berufliches Handeln in seinem Eifer über das Ziel hinausschießt und zur Bedürfnisbefriedigung Einzelner die Interessen anderer Betroffener ignoriert.
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Vgl. http://www.dbsh.de/Berufsethische_Prinzipien_DBSH.doc.
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Das richtige Maß und, mit dessen Hilfe, die richtige Entscheidung zu finden, kann als ein Desiderat eines jeden verstanden werden, der in die beruflichen Handlungszusammenhänge eingebunden ist. Den einen fällt es leichter, den anderen schwerer; die einen agieren mehr, die anderen weniger gewissenhaft; und es gibt klare und weniger klare Entscheidungssituationen: Aber mutmaßlich jede und jeder sozialarbeitlich Handelnde, ganz gleich, wie ausgeprägt seine berufliche Erfahrung ist, kennt und erlebt immer weiter auch Situationen der Zuspitzung, in denen ein gutes ethisches Urteilsvermögen überaus hilfreich ist. Und genau darauf richten sich die gegenwärtigen Ethiküberlegungen in der Sozialen Arbeit: den beruflichen Akteuren Entscheidungshilfen an die Hand zu geben, die es erlauben, den beruflichen Handlungszusammenhang resp. Handlungsrahmen adäquat zu erfüllen. Der Erfolg dieser Überlegungen ist zweifelhaft. Denn es zeigen sich Irritationen, die in ethischen Konzepten nicht aufgefangen, sondern vielmehr erst ausgelöst werden. Da ist zum ersten das verwirrende „Warenangebot" der Ethik: Soziale Arbeit trifft auf Alternativen ethischer Orientierung (vgl. dieses Merkmal bei Baum, 1996), und auch, wenn sie Stellung bezieht (dazu vorbildhaft Gruber, 2005, S. 140 f.), bleiben Fragen zurück, die der Facettenreichtum ethischer Zugangsweisen immer wieder neu aufwirft. Zuletzt gerät eine in Legitimationsabsicht schlagkräftig konkret angelegte, ethische Sozialarbeitsposition selbst unter Rechtfertigungsdruck, wenn sie im Spektrum gesellschaftlicher Unverbindlichkeit nicht vermittelt ist. Namentlich theologisch gebundene Motive — und die vielfache Einbindung Sozialer Arbeit in kirchliche Trägerschaft legt solche nahe — lassen sich zwar persönlich vertreten, aber nicht immer leicht in eine gesellschaftliche Wirklichkeit hinein tragen, in der, um es mit dem Beispiel eines Buchtitels seinerzeit von Ulrich Wickert zu sagen, „der Ehrliche als der Dumme" angesehen wird. 7 Zum zweiten greifen die besagten Ethiküberlegungen Handlungskontexte auf, die den Einzelnen in UberforderungsSituationen drängen. Im wesentlichen ist hier auf %wei Problempunkte hinzuweisen, die eine berufliche Handlungssituation in der ethischen Bewertung aufwirft: erstens den Aspekt Macht-, zweitens den der Verantwortung. Macht als Kategorie ethischer Aufmerksamkeit bedeutet, das eigene Sozialarbeitshandeln von seinem Autoritätspotential her zu begreifen, zugleich aber zwischen wünschenswerten und gefahrlichen Machtaspekten und -folgen zu unterscheiden und dabei zusätzlich noch die legitimen Autonomieanliegen von Adressaten zu berücksichtigen. Nicht grundsätzlich, aber faktisch gerät so das Anliegen von Kontrolle und Hilfe schnell zu einem Spagat. Fehlverhalten, vom Machtmissbrauch bis hin zum Kompetenzverzicht, scheint vorprogrammiert. Das Verantwortungsmotiv knüpft hier unmittelbar an. Ethisch gesehen entsteht in Situationen, in denen Menschen an Menschen handeln, eine Verantwortung nicht nur im üblichen Sinn für
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Die Tendenz weg von Verbindlichkeit und Festlegung spiegelt auch Lesch (2003, S. 414) mit seiner Warnung: „Völlig kontraproduktiv wäre hingegen die Reduzierung der Theorienvielfalt auf ein einziges Denkmodell, dem eine besondere Affinität zum Ethos sozialer Berufe nachgesagt wird. Ethisches Abwägen lebt vom Antagonismus der Argumente und erstarrt in der Verpflichtung auf eine Lieblingsphilosophie oder gar einen Lieblingsautor zur Ideologie."
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die Handlungsfolgen, sondern, in Anbetracht der besonderen Machtsituation, eine Verantwortung der Person, die handelt, für die Person, auf die sich dieses Handeln richtet, sprich: der Sozialarbeiterin für die Klientin. Verantwortung, so gesehen, als „ethischen Schlüsselbegriff' aufzufassen, 8 entbehrt nicht einer gewissen Tragik, weil ein Sozialarbeitshandeln, das sich derart persönlich auf HandlungsSituationen einlässt, immer nur scheitern kann.9 Und auch wenn im Verantwortungsverständnis Grenzen gesetzt werden,10 bleibt als Irritation die persönlich erlebte Verantwortlichkeit. So ist, wenn man sieht, wie gerade über den ethischen Fokus das Gefüge von Kontrolle und Hilfe an Stabilität verliert, zum dritten der Beitrag zu einer Loyalitätsproblematik nicht zu ignorieren: Doppelmandat hin oder her — erlebte Verantwortlichkeit und konstruktiv verstandene Autorität verschärfen einen Konflikt für viele im beruflichen Alltag, auf den Günter Riegers advokatorischer Ansatz mit den Worten hinweist: „Allzu oft finden sie sich in der prekären Situation, dass sie gegen den eigenen Arbeitgeber, gegen die eigene Einrichtung oder gegen den Geldgeber vorgehen müssen." (Rieger, 2003, S. 102 f.) Es ist nicht die Frage nach einem richtigen oder falschen Sozialarbeitsverständnis oder nach Möglichkeiten der Handlungsoptimierung, die hier in den Blick tritt; es ist das persönliche Erleben dieser Spannung, die auch bei mutmaßlich richtigem Verständnis aus dem ethischen Anspruch fließt.
3 Ethik als Führungsverantwortung Wenn man das eben Gesagte betrachtet, kann der Eindruck entstehen, als würde Ethik Sozialer Arbeit nicht entlasten, sondern, ganz im Gegenteil, die Akteure zusätzlich belasten. Der Eindruck täuscht nicht, und er ist zugleich Indiz für die Notwendigkeit, eine Ethikperspektive Sozialer Arbeit fortzuschreiben. Um es klar zu sagen: Es gibt keinen Weg hinter den gesetzten Ethikimpuls zurück; der Handlungsrahmen Sozialer Arbeit bringt die Akteure unter Druck und zugleich ins Bild — die erste Dimension sozialarbeiterischer Ethik erfasst diese Lage. Hier setzten Ethiküberlegungen vielfach dazu an, fachliches Selbstverständnis in einen Legitimationszusammenhang zu bringen, der vor allem den gesellschaftlichen Auftrag als Mandat begreifen lässt. Zugleich aber richten sie sich an die Individuen, die den Beruf nach außen vertreten. Ethisches Handeln in der Sozialen Arbeit erscheint so
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Vgl. dazu oben in Kap. 6, Abschn. 3, Fußnote 15. Zu beachten sind Warnungen von B. Müller (1991, S. 112 f.), in denen sich die Sorge artikuliert, „dem proletarischen Lebenszusammenhang hilflos ausgeliefert" zu sein. Dazu auch, in Auslegung Müllers, der Hinweis von Thiersch (2000a, S. 23) auf den „sozialen Tod, den der Sozialarbeiter sterben muß, wenn er neben seinen angestammten Mustern des Weltverständnisses auch anderen Lebenswelten gerecht werden will". Vgl. entsprechend Thiersch, 2000a, S. 17: „Soziale Arbeit... ist verantwortlich für Anregungen, Provokationen, Unterstützungen - aber nicht dafür, was die Adressatinnen damit machen: Sie leben ihr eigenes Leben."
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als Angelegenheit von jeder und jedem, die berufliche Praxis generieren. Die Überforderung droht, wenn diese Akteure mit ihren Entscheidungen und der damit verbundenen Verantwortung alleine bleiben,11 und das ist in einem Sozialarbeitsverständnis der Fall, das Ethik als Kompetenzmerkmal in die Handlungssubjekte legt. Von diesem Blick ist abzurücken und eine zweite Dimension sozialarbeiterischer Ethik zu betrachten, die Ethik nicht als Handlungs-, sondern als Strukturkompetenz aufnimmt. Berufliches Handeln lebt nicht nur von den vielfältigen, konkreten Handlungsbezügen und dem individuellen Engagement, sondern unbestritten auch über die Strukturen, an denen entlang der Beruf sein Handeln organisiert. Ethik betrifft daher auch die institutionelle Seite den Sozialen Arbeit und dabei die Frage nach den internen Merkmalen, die das Sozialarbeitshandeln absichern. Inhaltlich gesprochen wirken dieselben Bezugspunkte, die auch für die sozialarbeiterische Handlungsentscheidung ausschlaggebend sind; formal gesehen aber verbinden Entscheidungshierarchien unterschiedliche Strukturebenen und sorgen dafür, dass das, was in vorderster Front geschieht, in einen Gesamtzusammenhang eingebunden ist und so überhaupt erst als berufliche Praxis sichtbar wird. Wenn man von einer „Verantwortung des Sozialarbeiters" sprechen will (Kersting, 1994) und das berufliche Handeln in eine „Ethik der Verantwortung" (Kleve, 2003, S. 82) eingebunden sieht, wird deutlich, dass Verantwortung nicht nur in der unmittelbaren Arbeit mit Adressaten entsteht, sondern überall dort, wo diese Arbeit konzipiert, strukturiert und angeleitet wird. Dabei geht es — über die Kontrollfunktion, die in institutionellen Strukturen wahrzunehmen ist, hinaus — um den Gesichtspunkt einer Verortung von Verantwortung auf allen Handlungsebenen. Überall, wo Soziale Arbeit stattfindet: beim Sozialarbeiter im Umgang mit Klienten, im Team, in Teamleitung, Erziehungsleitung, Abteilungsleitung, Einrichtungsleitung, in Stabsstellen, Behörden, Organisationen und Verbänden und ebenso in Wissenschaft und Forschung, kann ein Verantwortungsrahmen benannt werden. Je umfassender und je allgemeiner dabei der Blick auf den Handlungsrahmen Sozialer Arbeit gerichtet ist, desto weiträumiger ist auch der Verantwortungszusammenhang gesteckt. Es gibt eine Verantwortung von Theoriearbeit und wissenschaftlicher Forschung für die Praxis; es gibt eine Verantwortung politisch tätiger Zirkel für den Beruf; es gibt eine Verantwortung öffentlicher Träger für die freien und privaten Organisationen; und es gibt, last, not least, eine Verantwortung höherer Leitungsebenen für untergeordnete Bereiche und am Ende immer auch eine Verantwortung für die einzelne Mitarbeiterin und den einzelnen Mitarbeiter in ihrer und seiner konkreten Handlungssituation.
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Die Überforderung, die, wie oben gesehen, schon alleine durch den Anspruch entsteht, einer in der Helferbeziehung liegenden, komplexen Machtsituation und dabei auch der Verantwortung, die eine Einmischung in das Leben anderer mit sich bringt, gerecht zu werden, kann für bestimmte Entscheidungssituationen noch dramatisch zugespitzt gesehen werden: Klug (2000) weist auf die Lage von Mitarbeiterinnen in der Schwangerenkonfliktberatung hin, die mit Entscheidungen „an der Nahtstelle zwischen Tod und Leben" betraut sind (S. 185), und warnt angesichts der „sich in dieser Frage völlig widersprechenden ethischen Positionen der Fachvertreter" vor dem „Dilemma", das entsteht, „wenn wir Sozialarbeiterinnen mit solchen Fragestellungen alleine lassen" (S. 187).
Personalität und Entscheidung • 111
Ein großer Teil dieses vielschichtigen Verantwortungszusammenhangs korrespondiert mit der Kontroll- und Fürsorgepflicht. Das ist nicht weiter spektakulär. Neu zu reden aber ist von der ethischen Aufgabe, die sich für jede dieser Ebenen stellt: die jeweils eigene VerantwortungsSituation nämlich mit tragfähigen und legitimierenden ethischen Anhaltspunkten zu verbinden. Hier steht, anders als sonst, die Wissenschaft in vorderster Front. Ihr fallt die Aufgabe zu, diese Anhaltspunkte zu benennen und im Theorie- und Handlungskontext zu befestigen. Dass es sich dabei um eine Aufgabe der So^ialarbeitswissenschaft handelt, kann kaum bezweifelt werden. Für alle anderen Ebenen gilt der Auftrag, den wissenschaftlichen Diskurs zu verfolgen, dazu auch eigene Bedürfnisse anzumelden und für sich jeweils fachlich gebunden ethische Bezüge zu entwickeln.12 Die Perspektive, gemessen am herkömmlichen Ethikverständnis, bleibt umgedreht: Akteure im praktischen Berufsalltag dürfen hoffen, in ihrer Verantwortung und ethischen Kompetenz entlastet zu werden, indem die Qualität ihrer Arbeit rückgebunden bleibt an die Verantwortung auch aller darin involvierten Entscheidungsträger. Ethik in der Sozialen Arbeit ist Führungsverantwortung. So ergeben sich zwei Dimensionen sozialarbeiterischer Ethik mit einer jeweils gegenläufigen Ausrichtung. Eine Verantwortung Einzelner für individuelles berufliches Handeln bleibt bestehen, zumal für Irrtümer und Fehler; aber sie findet in der Realisierung ethischer Rahmenbedingungen auf Leitungs- und Organisationsebene Begrenzung und Anbindung. Eine Verantwortungssituation wiederum der Profession, vertreten durch Theorie und Wissenschaft sowie den Institutionen, die Soziale Arbeit organisieren, führt diese unter Integritätsaspekten in einen Ethikzusammenhang, der längst nicht erschlossen ist, der aber über das Handeln der Einzelnen, d. h. über die berufliche Praxis, Erfüllung erfährt. Soziale Arbeit, mag sie als Beruf, als Profession oder als Wissenschaft in Erscheinung treten, mag sie als Verwaltungshandeln oder als helfendes Handeln wahrgenommen werden, mag sie lebensweltlichen Bezügen oder systemischen Gesichtspunkten folgen, kann sich der Arbeit an einem Ethikprofil nicht länger verschließen.
4 Personalität und Entscheidung Uber die beiden Verantwortungsdimensionen sozialarbeiterischer Ethik zeigen sich die handelnden Personen zugleich unter Druck und endastet. Der Druck entsteht über den Handlungsrahmen, der an sozialarbeiterische Praxis hohe Ansprüche stellt. Die Entlastung geschieht, wenn ethische Handlungsrichtlinien auch strukturell in das berufliche Handeln integriert sind. Die gegenwärtige Situation lässt dazu Ansätze erkennen (vgl. Lesch, 2003, S. 412), aber um den Beruf mit einer ethischen
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Da es hier ausdrücklich um den in der Fachlichkeit des Berufes begründeten Verantwortungszusammenhang geht, wäre es hilfreich, beispielsweise auch seitens der kirchlichen Wohlfahrtsverbände, über deren jeweiliges Leitbild hinaus, fach- und berufsbezogen ethische Strukturmerkmale erhoben und festgeschrieben zu sehen.
1 1 2 • D i e z w e i D i m e n s i o n e n sozialarbeiterischer Ethik
Legitimation betreiben zu können, reicht es nicht aus, Ethik Sozialer Arbeit in der Funktion zu sehen, „Theorie und Praxis über die inhärierenden normativen Gehalte aufzuklären" (Schlittmaier, 2006b, S. 34). Es geht nicht darum, Schnittbereiche zu benennen, in denen — nach dem Motto So^ialarbeit meets Ethik - eine für sich eigenständig gedachte Soziale Arbeit Felder ethischer Relevanz entdeckt, sondern darum, Ethik aus der Sozialen Arbeit heraus zu denken und zu formen, ganz analog der Art und Weise, wie auch Praxis entsteht. Auch Anton Schlittmaier richtet seine „Dimensionen einer Ethik Sozialer Arbeit" an dieser Perspektive aus (2006a, S. 45), aber er differenziert lediglich und strukturiert nicht. Dass es Ethikbezüge nennenswert in allen Fasern sozialarbeiterischer Betätigung gibt, in Praxis wie in Theorie und Wissenschaft und verbreitet auch in institutionellen Kontexten, ist ein hilfreicher Hinweis, aber kein Ansatzpunkt, Ethik in den Handlungsrahmen Sozialer Arbeit zu integrieren. Schlittmaier übersieht, dass Praxis nicht neben Theorie, Wissenschaft und funktionalen Bezügen, sondern als deren Bestimmungsgrund wirkt. Entsprechend unbestimmt bleibt er auch mit seiner Feststellung, dass „alle Ethikentwürfe ... die grundlegende Überzeugung" teilen, „dass Moral und Ethik für die Soziale Arbeit von konstitutiver Bedeutung sind" (ebd., S. 46). Schön und gut. Richtungsweisend zumal. Aber eine Ethik der Profession muss den Entscheidungswegen nachgehen, die Soziale Arbeit als Praxis ausprägen. 13 Ein Merkmal bleibt dabei zentral: Entscheidungsträger sind die Menschen. Sie geraten dadurch in VerantwortungsSituationen, die ethisch zu qualifizieren sind. Es ist im Grunde egal, welches ethische Vorverständnis dazu herangezogen wird; 14 es führt in jedem Fall zu dem Bewusstsein, dass Soziale Arbeit Kriterien braucht, an denen sie ihr Handeln misst und die sie zu Regeln führen, mit denen Verantwortung institutionalisiert werden kann. Damit bleiben die Personen sichtbar, die im Beruf agieren. Die Akteure aber sind die Schnittstelle, an der Praxis entsteht, weil Soziale Arbeit von Menschen für Menschen gemacht wird. So kann von einem personalen Ansatz gesprochen werden, wo immer Soziale Arbeit ethische Kompetenz für sich reklamiert. 13 Wenn man berücksichtigt, dass, wie oben gesehen, die Praxis Sozialer Arbeit zur Sittlichkeit auffordert, wird das Menschenverständnis zu einem Dreh- und Angelpunkt für diese Kompetenz und fordert besondere Beachtung.
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Einen solchen Gesichtspunkt stützt auch eine Überlegung von Annemarie Pieper (2007, S. 5), die, mit Hinweis auf die hierarchischen Strukturen, die Übermacht von Rahmenvorgaben als „Handlungsdirektiven" kritisiert, sofern diese nicht dazu führen, Verantwortung dort festzumachen, wo sie de facto entsteht: „Hier stellt sich für die einzelne Person die existentiell bedrängende Frage nach der individuellen Autonomie, wenn Handlungsanweisungen zwar von oben kommen, bei Fehlern aber in der Regel weiter unter jemand den Hut nehmen muss."
14
Lesch (2003, S. 410) weist daraufhin, „dass das Vorverständnis von ,Ethik' häufig sehr konfus ist".
15
Hier hinein fügt sich auch Kerstings Appell (1994, S. 172), nicht „Moralvorschriften" anzustreben, sondern Sozialarbeitshandeln als persönliches Engagement ernst zu nehmen: „Denn ich brauche als Sozialarbeiter flexible, reversible Entscheidungsmöglichkeiten. Menschen, die ihre Flexibilität verloren haben, werden häufig zu Moralisten."
Zusammenfassung • 113
Personalität ist ein Kriterium bei der ethischen Beurteilung einer konkreten, beruflichen Entscheidungssituation; sie ist weiter ein Merkmal im Kontext von Führungsverantwortung; und sie ist drittens der maßgebliche Be2ugspunkt im Umgang mit Adressaten, denen damit in jeder noch so prekären Lebenslage Würde erwächst. Personalität ist ein Fokus, über den der Ethikrahmen dimensioniert wird. Hilfsweise kann hier Soziale Arbeit als Dienstleistung gesehen werden, auch wenn, wie oben dargelegt, eine solche Sichtweise mit dazu beiträgt, das Mandatverständnis zu irritieren. Aber über den Fokus Personalität lässt sich Soziale Arbeit als „professionelle Praxis personbezogener Dienstleistung" (Volz, 2000, S. 220) betrachten und sachbezogen aufziehen. Die Qualität der Dienstleistung steht und fällt mit der Handlungskompetenz der Anbieter, und dafür wiederum bürgt die dienstleistende Organisation. 16 Bei aller Tendenz, Ethik zum Merkmal der Profession zu erheben, und bei aller Berechtigung, Soziale Arbeit in den allgemeinen, gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen, muss der Beruf über den Menschen Bescheid wissen. Erst das Kriterium der Personalität erlaubt einen angemessenen — und damit überhaupt auch erst einen ethischen — Zugang zur Handlungs- resp. Hilfesituation; und in dem Maß, wie dieses Kriterium die „Würde der Person" absichert (Miller, 2001, S. 155), wirkt es zurück auf jeden, der Sozialarbeitshandeln entsprechend anlegt. Die Achtung gegenüber der personalen Integrität eines Adressaten wird zum Merkmal der Selbstachtung und darin zu einer Quelle verantwortlichen Führungshandelns (Steinforth, 2005). Wie sinnvoll es auch sein mag, „menschliche Individuen als selbstwissensfahige Biosysteme" aufzunehmen (vgl. Obrecht, 2004, S. 287) — hilfreich sind Kenntnisse der Anthropologie, mit denen sich der Mensch ein Selbstbild verschafft (vgl. Baum, 2000, S. 11), das jedes Gegenüber zum Spiegel des eigenen Selbst werden lässt.
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Zusammenfassung
Soziale Arbeit kann in einer ethischen Doppeldimension gesehen werden. In ihrer Praxis tritt ein Verantwortungsmotiv hervor, das den einzelnen Akteur bedrängt und nach Entlastung suchen lässt. Verantwortung für das Sozialarbeitshandeln zu tragen, fällt besonders dann schwer, wenn sich kein Erfolg einstellt oder sich Situationen gar noch verschärfen. Ethische Überlegungen bieten Handhabe, das eigene berufliche Handeln zu beleuchten und sich der Verantwortungssituation zu stellen. Aber auf der anderen Seite bieten sie auch Entlastung, wenn sie Verantwortung musterhaft in den gesamten Handlungs rahmen Sozialer Arbeit einbinden.
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Schlittmaier (2006a, S. 44 f.) kritisiert ein Dienstleistungsverständnis Sozialer Arbeit, weil es den Hilfeaspekt abschwächt und damit die berufliche Handlungssituation verzerrt. Grundsätzlich stimmt das, ändert aber nichts daran, dass Soziale Arbeit Dienstleistungscharakter besitzt und daraus musterhaft Handlungseigenschaften gewinnen kann. Für weitere Klärung zum Dienstleistungsverständnis Sozialer Arbeit siehe auch unten Kap. 15, Abschn. 2.
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Über diese zweite Dimension ethischer Aufmerksamkeit — Ethik als Führungsverantwortung — lassen sich Handlungsprozesse so organisieren, dass eine fragliche Verantwortungssituation für den Einzelnen nur dort entsteht, wo er beruflich leichtfertig Fehler macht. Die Handlungsprozesse orientieren sich am gesellschaftlichen Mandat. Darin ist Soziale Arbeit als wissenschaftlich ausgerichteter Berufsstand angesprochen und aufgefordert, ihre analytischen wie normativen Kräfte für eine Betrachtung gesellschaftlichen Lebens und die Bewertung der Lebensverhältnisse zu mobilisieren. Der Auftrag kulminiert in der sozialen Problemlösung, die nicht nur als Regulativ in Konfliktsituationen dient, sondern auch Teilhabeprozesse mit absichern soll, um in der Gesellschaft ein Gleichgewicht der Kräfte erhalten zu helfen. Das Mandat kann als Doppelung ausgelegt und gesehen werden, dass es im Interesse der Gemeinschaft liegen muss, Einzelne in schwierigen Lebenslagen umfänglich zu unterstützen. Kontrolle und Hilfe werden hier zu Polen sozialarbeiterischer Praxis, die immer gemeinsam nur Aufgabenstellungen erfüllbar machen. Zum Mandat treten zwei wichtige Selbstverpflichtungen des Berufes: zum einen, durch das Beachten der ökonomischen Rahmenbedingungen handlungsfähig zu bleiben; zum andern, die eigene, fachliche Kompetenz in den öffentlichen Raum politischer Meinungsbildung und Entscheidung einzubringen. Das schließt kritische Stellungnahmen mit ein. Der Handlungsrahmen bezieht Soziale Arbeit so, gewissermaßen in „moralischer Selbstdisziplin" (Schneider, 2003, S. 418), auf einen Aktionsraum, in dem eine Fülle von Bezugspunkten und Auslegungen anzutreffen ist. Ethische Orientierung aber, wie immer sie auch angelegt ist, muss Handlungsverantwortung und Führungsverantwortung thematisieren und entlang der Entscheidungswege wirken. Dabei mündet sie in das berufliche Selbstverständnis ein und stärkt die Profession von innen heraus. In ihrer alltäglichen Praxis profitiert jede Sozialarbeiterin von der Einbindung in ethische Strukturen und Vorgaben, vor allem, wenn sie darüber vermittelt bekommt, dass Ethik personal gebunden ist und damit auf das Grundmuster sozialarbeiterischen Handelns hinleitet: der beruflich organisierten, solidarischen Arbeit von Menschen mit Menschen.
8. Kapitel Bezugspunkte und Quellen der Ethik in der Sozialen Arbeit 1 Das Auftreten Sozialer Arbeit als Ethik In der Wahrnehmung vieler spielt Ethik für die Soziale Arbeit eine wichtige Rolle. Da ist die Praktikerin, die immer wieder neu vor Entscheidungen steht, in der sie vordergründig zwischen zwei Übeln zu wählen hat, etwa wenn das Fehlverhalten eines Klienten den Abbruch einer Hilfemaßnahme provoziert und der Abbruch so problematisch erscheint, wie der Verbleib in der Maßnahme, und die wissen will, welche Wahl der Situation angemessen ist. Ethik tritt für sie als Option in den Blick, mit der Entscheidungen abzuwägen, an Kriterien auszurichten und zu rechtfertigen sind. Auch wenn Zukünftiges unwägbar bleibt, wird von der Ethik für die praktische Arbeit doch erwartet, eine Handlungssituation über die Sachlage prospektiv einschätzen zu können. Nicht zuletzt die häufig als Ambivalenz — Doppelwertigkeit — erlebte Handlungsorientierung an Hilfe und Kontrolle verleiht Entscheidungssituationen den Anschein einer .Alternative, einer Wahl mithin, in der %wei fachlich vertretbare Positionen möglich erscheinen. Von den daraus resultierenden, widersinnigen Loyalitätskonflikten war ja schon zu reden. Neben den Praktikern richten aber auch die Theoretiker ihren Blick auf die Ethik und finden Anhaltspunkte für einen Deutungsrahmen, der das sozialarbeiterische Anliegen zu spiegeln vermag. Namentlich der Charakter als Hilfe öffnet Soziale Arbeit ethischen Bestimmungsmerkmalen und mobilisiert begriffliche Bezugspunkte, die es, auch ohne tiefere Reflexion, erlauben, die berufliche Praxis als unverzichtbar im Tagesgeschäft der Gesellschaft zu erweisen. Hier zeigt sich Ethik als Wertigkeit, an der Handlungszusammenhänge gemessen und eingeordnet werden können. Als Spezialfall kann die Perspektive derer angesehen werden, denen Soziale Arbeit als Profession begegnet. Hier wird Ethik wiederum zum Desiderat, das einen anerkannten Bezugsrahmen absichern und berufliche Handlungsautonomie begründen soll. Und wenn sich Theorie zur Wissenschaft hin streckt, ergeben sich unmittelbar Berührungspunkte mit Denkmustern in der wissenschaftlichen Ethikdebatte, an der auch Soziale Arbeit auf diese Weise mitwirken kann. So hat der Reflex auf die Virulenz ethischer Motive in Theorie und Praxis Sozialer Arbeit die Beschäftigung mit sozialarbeitsethischen Fragestellungen intensiviert. Die Komplexität der Zugangsweisen und Schwerpunkte ist im Rahmen der Überlegungen hier schon deutlich geworden. Daraus lässt sich insgesamt folgender Eindruck gewinnen: Im ersten Hinsehen zeigt Soziale Arbeit einen Bedarf an ethischer Reflexion; auf den zweiten Blick tritt sie selbst als Ethik hervor. Soziale Arbeit organisiert, in Theorie und Praxis, eine ethische Rahmengebung, die sie an
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ihrem Handlungsprofil ausrichtet. Dieser Möglichkeit einer stringenten Orientierung ethischer Kontextualität an fachlicher Pragmatik steht allerdings ein vermeintlicher Ethikbegriff gegenüber, der in der wissenschaftlichen und öffentlichen Verwendung in eine große BedeutungsVielfalt hinein ausgelegt ist und dadurch wenig Anhalt bietet. Das Erscheinungsbild der Ethik — Soziale Arbeit sollte sich darüber im Klaren sein — ist zerrissen und verfahren. Der Begriff wird vielfach nur noch als Schlagwort benutzt, mit dem Regeln und Merkmale für alles und jedes angegeben werden, ohne dass über ein begriffliches Ethikverständnis jeweils Rechenschaft abgelegt werden muss. Das beginnt schon dort, wo eine Moraltheologie gegen eine Moralphilosophie antritt, und es reicht bis hin zu spezifischen Anwendungsformen wie etwa der Tierethik.1 Ein weiterer Bereich sind Berufsethiken, die naturgemäß mehr über den Beruf, als über Ethik aussagen. Daneben hält ein Spektrum durchaus seriöser, aber nichtsdestoweniger uneinheitlicher Bemühungen um Ethik offen, was Ethik als Begriff in der Sozialen Arbeit bedeuten kann. Welche Vorverständigung daraus auch gewonnen wird: Wenn sie Argumente stützen soll, muss sie an weiterer Klärung und letztlich wissenschaftlicher Begründung interessiert sein. Eine Betrachtung der Ethik stößt aber genau hier auf Hindernisse. Das erste besteht darin, dass allgemein zwei Grundformen benannt werden, die eine strukturelle Gemeinsamkeit nicht erkennen lassen: Individualethik und Sozialethik. Muss als Bestimmungsgrund der ersten Form letztlich die Freiheit des Einzelnen angesehen werden, sich selbst und seinem Handeln Grenzen und Regeln vorzugeben, besteht der Grund der zweiten Form in der Notwendigkeit für die einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft, Grenzen und Regeln zu setzen und zu beachten, weil sich so ihre Gemeinschaft erst konstituiert. Zwei derart gegenläufige Denkrichtungen verschleiern aber, worauf sich Ethik als Begriff einschlägig beziehen soll. Das zweite Hindernis sind die vielen Unter- und Sonderformen, in denen Ethik in der Diskussion begegnet. Das gilt schon für die individúale resp. personale Ethik, die als Regel-, Situations-, Gesinnung- und Verantwortungsethik — Moraltheologie und -philosophie können teilweise hinzugerechnet werde — unterschiedlich Ausprägung findet. Doch während darin das angesprochene Freiheitsmotiv sicherstellt, dass der Einzelne über Grenzen und Regeln, die er in sein Leben integrieren will, die Kontrolle behält, bringt mutmaßlich jede Form sozialer Ethik Menschen unter Druck. Sozialethik erweckt dadurch von Grund auf Skepsis und fördert eine — auch als Argument im Ethikdiskurs zu sehende — Neigung, Regeln und Grenzen offen, veränderbar und interpretierbar zu halten. Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass Unter- und Sonderformen auch den sozialethischen Ansatz begrifflich weiter verzerren. Dabei irritiert nicht nur die neuerliche Vielfalt, wenn, um auch hier die
1
Zur Tierethik können viele weitere Bezugsbereiche angewandter Ethik („Bereichsethiken") benannt werden: in loser Reihenfolge z. B. Medienethik, Wissenschaftsethik (darin als eigener Bereich die Forschungsethik), Bioethik, Medizinethik (als zuzuordnender Teilbereich neuerdings auch Sterbeethik), Umweltethik, Tourismusethik, um nur die zu nennen, denen vornehmlich die Aufmerksamkeit gilt. Vgl. dazu Vieth, 2006, S. 55 f.
Begriffliche Ansatzpunkte für eine Ethik der Sozialen Arbeit • 117
wichtigsten zu nennen, utilitaristische, deontologische, teleologische, theologische, integrative, feministische und freilich auch die schon betrachtete advokatorische Ethik, sowie Diskurs-, Vertrags-, Wert- und Tugendethik mehr oder weniger nebeneinander treten. Verwirrung stiften besonders die Gegensätze, die einzelne dieser Formen zueinander zeigen, und so vor allem die Widersprüche, die einem Ethikbegriff darin drohen. Das Akzeptanzproblem sozialer Ethik beginnt dort, wo Formen ethischer Grenz- und Regelsetzung gegeneinander stehen und nicht vermittelt werden können. Das ist z. B. der Fall, wenn eine utilitaristisch ausgerichtete soziale Ethik das Individualwohl dem Gemeinwohl unterordnet, auf der anderen Seite aber eine deontologische Ethikorientierung soziales Handeln auf das Wohlergehen jedes einzelnen Menschen verpflichtet. Uneinheitliche sozialethische Positionierungen schwächen das ethische Anliegen; sie resultieren allerdings bereits aus einer Spannung, die sich vom — individualethisch angelegten — Freiheits- und Autonomieanspruch des Einzelnen her aufbaut. Dieser relativiert den Gestaltungsanspruch der Gemeinschaft und führt Ethik so auf einen — gesellschaftlichen — Aushandlungsprozess zurück, der selbst keinen ethischen Charakter mehr zeigt. Der Ausgleich zwischen privaten und öffentlichen Interessen wird damit zu einer politischen Aufgabe und nicht zuletzt zu einer Angelegenheit auch von Parteipolitik. Es ist das Interesse der an diesem Ausgleich mitwirkenden beruflichen Sozialen Arbeit, ihre eigenen, fachlich begründeten Ethikaspekte in den Aushandlungsprozess hineinzutragen. Kaum eine andere wissenschaftlich rückgebundene, gesellschaftliche Institution hat einen vergleichbaren Einfluss auf die ethische Bewertung und Gestaltung der sozialen Mechanismen, die an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gemeinschaft wirken. Umso wichtiger ist es, dass sich die Soziale Arbeit selbst ihrer ethischen Quellen und Wurzeln besinnt und sich um ein Ethikverständnis bemüht, das sie widerspruchsfrei vortragen und umsetzen kann. Daher geht es nicht darum, dem Kanon der ethischen Denkformen eine weitere hinzuzufügen, sondern deren Strukturen zu betrachten und auf einen Ethikbegriff hin zu durchdringen.
2 Begriffliche Ansatzpunkte für eine Ethik der Sozialen Arbeit Grob systematisiert werden ethische Denkformen für gewöhnlich durch die drei Kategorien empirische bzw. deskriptive Ethik, normative Ethik und Metaethik (vgl. Baum, 1996, S. 13). Diese Systematik erscheint belastbar, weil sie in guter wissenschaftlicher Manier den aristotelischen Wissensebenen folgt und Erfahrungswissen, Fertigkeitswissen und schließlich die wissenschaftliche Reflexion nebeneinander stellt.2 Bei genauerem Hinsehen aber erweist sie sich als ungeeignet zur Begriffsfindung, denn die dargestellten Bereiche gliedern lediglich das Spektrum möglicher
2
Vgl. zu diesem aristotelischem Modell oben in Kap. 1, Abschn. 4.
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und tatsächlicher Ethikbetrachtungen, ohne ein Kernwissen herauszuschälen. Am ehesten wäre das noch von der metaethischen Forschung zu erwarten; doch die kümmert sich nicht darum, was Ethik ist, sondern untersucht — im Stile einer „Wissenschaftstheorie" (Pieper, 2003, S. 86) —, wie und warum ein Reden über Ethik möglich ist. Metaethik ist von ihrer Aufmerksamkeit her breit angelegt, aber vor allem mit sprachanalytischen Überlegungen befasst (vgl. Pieper, ebd., S. 244), über die — ganz abgesehen davon, dass auch in der Metaethik unterschiedliche Ansatzpunkte erkennbar sind3 — erhellende Aussagen zum Ethikbegriff nicht zu erwarten sind. Vielmehr ist auch die angesprochene Unterscheidung von empirischer, normativer und Metaethik deskriptiv angelegt und der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass sie durch zusätzliche Formbestimmungen die Vielfalt an Zugangs- und Verständnisweisen nur noch weiter vergrößert. Aufs Ganze gesehen, Anwendungsformen und Berufsspezifikationen mit eingeschlossen, gibt sich Ethik so vor allem als Etikett einer Vielgestaltigkeit zu erkennen, bei der Unterschiede und nicht Gemeinsamkeiten den Ton angeben. Ethik zeigt sich als Klammerbegriff, nirgends aber in Reinform, und wirkt dadurch wie ein Symbol, über dessen Bedeutung, weil sie intuitiv jeder kennt, eine Verständigung überflüssig ist.4 Das liegt nicht zuletzt daran, dass eine Erklärung so einfach wie naheliegend erscheint: Ethik wird, als Begriff, auf das Wortpaar Moral und Sitte bezogen, teils - semantisch korrekt bedeutungsanalog, teils so, dass Angelegenheiten der Moral alias Sitte zum Betrachtungsgegenstand von Ethik erklärt werden.5 Als Inhalt und Bezugspunkt des EthikMoral-Sitte-Komplexes treten Werte in den Blick, die dort, wo Ethik als Moralreflexion gesehen wird, selbst zum Gegenstand der ethischen Betrachtung werden. Dann geht es konsequenterweise auch um den Bezug und die Wirkung solcher Werte für den Menschen.6 So weit, so gut. Aus dem skizzierten Ansatz lässt sich schließen: Ethik betrachtet den Menschen, insofern er von Wertebezügen bewegt wird. Aber in Hinblick auf die wesenhafte Nähe von Mensch und Wertorientierung muss auch gelten: Ethik betrachtet den Menschen, insofern er von Wertebezügen bewegt werden sollte. Beide Bestimmungen spiegeln genau die Zielrichtungen der deskriptiven und der normativen Variante ethischer Betrachtung. Und so schließt sich der Kreis. Was aber nach einer schlüssigen Erklärung dessen aussieht, das die vielen unterschiedlichen Zugangsweisen und Konzepte trägt, offenbart Züge eines tautologischen Urteils,
3
Diese Ansatzpunkte unterscheiden sich wiederum erheblich voneinander, wenn „Naturalisten", „Intuitionisten", „Emotivisten" und „Deontologen" kategorisiert werden. Pieper (2003, S. 245) zeigt über eine Skizze Metaethik so wiederum als einen Sammelbegriff, der einen verbindlichen Inhalt dessen, was er bezeichnet, nicht hervorbringt.
4
Vgl. Quante (2003, S. 10) mit der Feststellung: „Ethik ist, so betrachtet, etwas Alltägliches und Vertrautes: eine, nein, unsere Lebensform." Dazu vgl. bei Pieper, 2003, S. 28: „Die Ethik hat somit Moral (Sitte) und Moralität (Sittlichkeit) ... zu ihrem Gegenstand."
5
6
Vgl. dazu Kerber, 1998, S. 9: „Im Gegensatz zu Moral betrifft die Ethik ... die theoretische über diese Werteinstellung und das sich aus dieser ergebende Verhalten."
Reflexion
Begriffliche Ansatzpunkte für eine Ethik der Sozialen Arbeit • 119
das in Wahrheit nichts erklärt. Denn die logische Kette, die Ethik über die Moral ihren Blick auf Werte richten sieht — also das, was unter Ethik verstanden werden soll —, führt Ethik wieder auf sich selbst zurück, indem sie diese etwas betrachten lässt, das sie als ihren Bezugspunkt schon vorausgesetzt hat. Man kann nicht Ethik durch Moral erklären, und man kann nicht Moral durch Werte erklären. Der Zusammenhang ist nicht falsch, aber er ist, im Wortsinn, selbstverständlich. Für den Wertebezug der Sozialen Arbeit, der bislang auch hier als Argument für eine ethische Ausrichtung des Berufes aufgenommen wurde, heißt das: er indiziert Ethik, vermag deren gestalterisches Potential aber nicht zu erfassen, weil er selbst schon ein Teil davon ist. Der Bezugspunkt für ein Ethikverständnis in der Sozialen Arbeit ist also anderswo zu suchen, mutmaßlich dort, wo Ethik als Wertebezug nicht nur beschrieben, sondern erklärt wird. Dazu ist auf das zu schauen, woran Werte — und Ethik — in Erscheinung treten: das menschliche Handeln. Uber eine solche Rückbindung des Ethikbegriffs an ein Verständnis, das auch die ursprünglichen philosophischen Kategorien mobilisiert: die Frage nach dem richtigen Handeln, das sich von einer allumfassenden „Idee des Guten" leiten lässt (Piaton), das, weil es von Substanz getragen ist, Menschen zur „Glückseligkeit" führt (Aristoteles),7 tritt auch der hier schon betrachtete sittliche Charakter dieses Handelns in den Blick. Kurz gefasst kann man sagen: Ethik ist ein allgemeiner - und zunächst „wertfrei" zu denkender — Aspekt am menschlichen Handeln, der darauf aufmerksam macht, dass der das Handeln tragende menschliche Wille im Status der Entscheidung Orientierung braucht. Als Orientierung dient, aus Sicht der klassischen Philosophie, vor allem die Vernunft, und zwar, weil sie Wahrheit verbürgt — ein Ansatz, der uns bis heute plausibel geblieben ist; aber es interessiert aus der Ethikperspektive auch, inwiefern daneben personale Merkmale oder äußere Vorgaben, sei es durch die Natur, sei es durch Tradition, auf die Entscheidung Einfluss nehmen. Ein Ethikbegriff manifestiert sich auf diese Weise im Zwischenraum von Freiheit und Notwendigkeit. Nicht individuale Ethik hier und soziale Ethik dort bestimmen den Rahmen, von dem her ethisches Denken ansetzt, sondern von Grund auf der Mensch, der sich als handelndes Wesen in einen Bezug zu sich selbst und zu anderen begibt. Vom Menschen her zu denken, ist daher der richtige Ansatzpunkt, um Ethik in ihrem ganzen Ausmaß zu begreifen. 8 Das schließt jede Möglichkeit mit ein, Werte als Bezugspunkte unterschiedlich zu benennen, auch wenn Konflikte nicht ausbleiben.9 Entscheidend bleibt für die Plausibilität jeden Wertebe-
7
Vgl. Piatons Darstellung der „Idee des Guten" als „Ursache von Wissenschaft und Wahrheit" im 6. Buch der Politeia (508 c-e). Für Aristoteles ergibt sich ein ähnlicher Zusammenhang, wenn er „Glückseligkeit" (euöainovia) zum Leitbegriff der Nikomachischen Ethik erhebt und dort im 10. Buch klarstellt, dass „ein Leben nach der Vernunft das glückseligste" ist (1178 a 6).
8
„Prinzip ist der Mensch", konstatiert Aristoteles im 6. Buch der Nikomachischen
9
Auf das auch für die Soziale Arbeit wichtige Beispiel der Schwangerenkonfliktberatung ist hinzuweisen, deren Problematik nicht allein in den persönlichen Nöten derer liegt, die, wie oben mit Klug (2000, S. 185) schon zu sehen war, in Situationen „an der Nahtstelle zwischen Tod und Leben" beraten sollen (vgl. Kap. 7, Abschn. 3). Die eigentliche Schwierigkeit für das Beratungsanliegen liegt
Ethik (1139 b 5).
120 • Bezugspunkte und Quellen der Ethik in der Sozialen Arbeit
zugs die Rückbindung an ein Menschenbild, mag es nun rational, dogmatisch oder ideologisch vermittelt sein;10 — und entscheidend für die Werteorientierung der Sozialen Arbeit bleibt schließlich die Frage, auf welches Menschenbild sie sich bezieht.
3 Die Orientierung an ethischen Qualitäten und Konzepten Der interessanteste und zugleich sensibelste Punkt jeder ethischen Betrachtung ist der Übergang zu Aussagen, die über einen Wertebezug menschliches Handeln qualifizieren und so die Trennlinie zwischen Gut und Böse setzen. Die Dimension solcher Setzung reicht bis zu Entscheidungen über Leben und Tod. Es gilt daher, genau hinzusehen und Aussagen über die Qualität von Handlungsweisen mit besonderer Aufmerksamkeit zu prüfen. Das Gute aber, das gesucht wird, lässt sich nicht ohne weiteres aus den Naturgegebenheiten gewinnen. Schon George Edward Moore hat in seinen 1903 erschienenen Prinäpia Ethica darauf hingewiesen, dass ethische Aussagen gut unter dem Aspekt des Sollens erfassen, ohne dass damit geklärt wäre, dass das so Bezeichnete auch wirklich gut ist (vgl. Moore, 1970, S. 42). Den bedenklichen Vorgang, mit einer Beschreibung der Dinge Wesensaussagen zu verbinden, bezeichnet er als „naturalistischen Fehlschluss" (ebd., S. 41), der sich schon deswegen verbiete, weil Natur und Naturvorgänge wertfrei seien. So sei es bei abweichenden Bestimmungen zum Guten „unmöglich zu beweisen, dass eine andere Definition falsch ist, oder eine solche auch nur abzuweisen" (ebd., S. 42).11 ,„Gut' ist also undefinierbar", folgert Moore (ebd., S. 48), und er unterstreicht, dass er aus der Natur „keinen stichhaltigen Grund für irgendein ethisches Prinzip" abzuleiten vermag (ebd., S. 52). Das von Moore beschriebene Problem spiegelt die allgemeine Erkenntnissituation neuzeitlichen Denkens wider. Es zeigt sich als ein Thema im Empirismus und findet sich schon bei David Hume (1711-1776), dessen Untersuchung über den menschlichen Verstand genau diesen Übergang von der Erfahrung zum Verstandesurteil in vielmehr in der Gegensätzlichkeit zweier für sich jeweils völlig legitimer Wertorientierungen: hier der Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren, die, in den gesetzlich vorgesehenen Grenzen, ihr Kind nicht zur Welt bringen will; dort der Bezug auf das Lebensrecht des ungeborenen Kindes, das sich vom Gedanken der Geschöpflichkeit des Menschen (vgl. die Argumentation dazu bei Reber, 2005, S. 22 ff.) herleitet. 10
Auch für die nationalsozialistische Ideologie ist deskriptiv von einem Wertebezug zu reden. Anders lässt sich die rassistische Werteperversion in der Gesellschaft nicht erklären. Das im Hintergrund wirkende sozialdarwinistische Menschenbild lieferte sogar wissenschaftliche Argumente und sorgte für Akzeptanz.
11
Ein Beispiel für das von Moore monierte Problem findet sich dort, wo Tierverhalten in Kategorien menschlicher Moralität gesehen wird. Auch wenn einem ein Tier als dumm, feige, verschlagen, roh oder grausam erscheint, sagt das nichts über seine Natur aus. Und es wäre, wenn man etwa der Löwin, die das Zebra reißt, Rohheit unterstellt, immerhin genauso möglich, in Anbetracht dessen, dass in der Natur solche Rohheit verbreitet ist, diese ihrerseits zu einem ethischen Prinzip zu erheben.
D i e Orientierung an ethischen Qualitäten und Konzepten • 121
Frage stellt.12 Auch für Kant — auch wenn er Humes Empirismus „reine Urteile a priori", die keine Erfahrung voraussetzen, entgegenhält und im Verstandesurteil eine ordnende Kraft erkennt13 — kommt über den Begriff des synthetischen Urteils dem „Erfahrungsurteil" besondere Bedeutung zu.14 So bleiben Vorstellungen und Begriffe, die sich im Denken ausbilden, von der Realität, die als Erfahrung begegnet, getrennt. Auf die ethischen Überlegungen gewendet heißt das: Die Natur hält keine Werte bereit, durch die sie aus sich selbst heraus interpretierbar wäre; und die deutende Vernunft erreicht das Wesen der Dinge nicht, deren Erkenntnis über die Erfahrung zufällig bleibt. Damit lässt sich Ethik weder in deduktiver noch in induktiver Weise wissenschaftlich begründen. Wenn sie Wertebezüge für gültig erklärt, läuft sie immer Gefahr, dem besagten naturalistischen Fehlschluss aufzusitzen, von dem Moore (1970, S. 45) dementsprechend pauschal auch feststellt: „Man kann ihm in fast jedem Buch über Ethik begegnen; trotzdem wird er nicht erkannt." Es gibt drei Wege, dem Problem zu entgehen: Der erste ist, Ethik ohne normativen Anspruch als rein deskriptive Betrachtung zu belassen. Das bedeutet, dass Werte zwar nicht überflüssig erscheinen, aber als beliebig veränderbar begegnen. Der zweite ist, eine Wertediskussion im Rahmen umfassender ethischer Konzepte zu führen. Das bedeutet, dass ein Konsens Gültigkeit herbeiführen könnte und deshalb auch anzustreben ist. Der dritte ist, den Bezugs- und Denkrahmen für Wirklichkeit so zu setzen, dass diese unmittelbar über Kriterien des Sollens erfahrbar wird. Das bedeutet, in kulturellen Zusammenhängen zu denken und zu einem kritischen Dialog der unterschiedlichen Wertgebung zu gelangen. Jeder dieser Wege wirft neue Fragen auf. Der erste bietet die Schwierigkeit, dass Ethik über den Verlust des Werteinstruments selbst abhanden kommt; der zweite vermag nicht überzeugend darzulegen, nach welchen Kriterien zu Konsensentscheidungen gelangt werden kann; und der dritte schließlich ist auf eine Vermittlung hin angelegt, die möglicherweise unerreichbar ist. Ethik, wenn sie logische Fehler vermeiden will, kann einen Werteanspruch letztlich nur vertreten, wenn sie die Herausforderung annimmt und nicht über Kausalitäten, sondern über menschliche Bedürfnisse und Interessen reflektiert. Sie muss ihre Betrachtung nach erkenntniskritischen Gesichtspunkten ausrichten und sich einlassen auf eine Konkurrenz der Menschbilder und der Kulturen. Das heißt auch, die verschiedenen wissenschaftlichen Kanäle zu nutzen und nicht zuletzt auch über eine politische Öffentlichkeit gestalterischen Einfluss zu nehmen. 12
Vgl. dazu im IV. Abschnitt bei Hume, Enquity conceming human understanding, siehe auch David Hume. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hg. v. R. Richter, Hamburg 1962, S. 47 f. Hume betont dabei auch die Eigenständigkeit der Erfahrung als Wissensquelle (vgl. ebd., S. 50).
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Vgl. den Bezug auf Hume bei Kant im Zuge der Darlegung zum „Besitz gewisser Erkenntnisse a priori"; siehe in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft, s. Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. 3, Berlin 1968, S. 29. Vgl. dort (ebd., S. 30) auch Kants Replik: „Denn wo wollte selbst Erfahrung ihre Gewißheit hernehmen, wenn alle Regeln, nach denen sie fortgeht, immer wieder empirisch, mithin zufallig wären; daher man diese schwerlich für erste Grundsätze gelten lassen kann."
14
Vgl. auch dazu in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft, vgl. Kants Werke, Bd. 3, S. 34.
1 2 2 • Bezugspunkte und Q u e l l e n der Ethik in der Sozialen Arbeit
Die Soziale Arbeit kann durch ihre ethische Reflexion einen solchen Prozess mit unterstützen. Sie selber hat dabei den Vorteil, dass ihr über das gesellschaftliche Mandat ein Handeln angetragen ist, das sich ganz im Rahmen eines sozialen Sollens bewegt. Von der Gesellschaft her ist eine Ethik der Sozialen Arbeit daher zu denken, und sie ist auf den Menschen hin anzulegen. Das bedeutet einen Einstieg in die ethische Betrachtung über Kriterien dessen, was sein soll, und unter Abwägung der realen menschlichen Verhältnisse. Die erkenntniskritische Grenze liegt dort, wo Ethik, zumal Sozialarbeitsethik, Interessen und Ziele formuliert, die für eine Zukunft menschlicher Gemeinschaft — und zwar nicht nur in nationalen Kontexten, sondern auch im internationalen und letztlich in einem globalen Zusammenhang— konstitutiv sind. Diese Interessen und Ziele stellen keine Naturnotwendigkeit dar, sondern sind auszuhandeln. Menschen bleiben frei, sich von ihnen abzuwenden; aber auch der Anspruch bleibt, zu einem Kodex sinnvoller und strategisch hilfreicher Regeln zu gelangen, die individuelles und soziales Leben bereichern und nachhaltig absichern. Die Mooresche Fehlschlusswarnung muss also niemanden schrecken, der menschliches Sein über Kategorien des Sollens erschließt, wenn der Kontext des Sollens als Bezugsrahmen gewählt wird. Das Sollen wird zum Sein dort, wo Menschen sich auf Lebenszusammenhänge einlassen, die zu gestalten sie selbst in der Hand haben. Gesellschaft wird über ihre institutionellen Merkmale dabei zu einem Muster, das auch geeignet ist, die Einbindung des Menschen in soziale Zusammenhänge in allgemeiner Weise zu reflektieren. Ein Nachdenken über Gesellschaft und über die sie tragenden Prinzipien eröffnet zugleich auch einen Zugang zur ethischen Verfasstheit des Menschen, der zwar im Prinzip frei ist, aber auf eigene Bedürfnisse und Interessen achten sollte. An einer Überlegung von Walter Kerber kann demonstriert werden, was damit gemeint ist und was nicht. Wenn Kerber (1998, S. 58) Solidarität als eines der Sozialprinzipien von Gesellschaft herausstellt und zu einer „Aussage über das gesellschaftliche Sein" erklärt (ebd., S. 59), ist ihm zuzustimmen, denn er bezieht sich auf einen integrativen Sollensrahmen, in dem das Sollen das Sein bestimmt. Insofern stimmt auch die Bemerkung von Wolfgang Klug (2000, S. 198), dass „der da und dort erhobene Vorwurf des,naturalistischen Fehlschlusses' ... nicht stichhaltig" sei. Wenn Kerber aber — und Klug übersieht das offensichtlich — apodiktisch voraussetzt, dass „der Mensch ... seinem Wesen nach hingeordnet auf die Gesellschaft" ist (1998, S. 58), kommt es dennoch zu dem besagten Fehlschluss, denn Gesellschaft ist ein menschliches Konstrukt und nicht natürlicherweise gegeben. Statt Gesellschaft wäre hier Gemeinschaft der richtige Begriff, denn diese entsteht, wenn man den Menschen als animal soäale zugrunde legt, wesenhaft und naturbedingt. Doch Solidarität als Kennzeichen von Gemeinschaft bildet wiederum kein Sollen aus, weil sie das Wesen von Gemeinschaft repräsentiert. Die Ethik muss hier deskriptiv bleiben und konstatieren, dass Menschen auf Gemeinschaft angewiesen sind und sich folglich solidarisch verhalten müssen, weil Gemeinschaft sonst nicht entsteht. Normativ agieren kann Ethik dagegen für den gesellschaftlichen Zusammenhang, weil hier ein Rahmen des Sollens geschaffen ist, dem sich Men-
Der besondere Stellenwert theologischer Ethik • 123
sehen anschließen können oder auch nicht.15 Insofern Gemeinschaft auch für das Funktionieren gesellschaftlicher Konstrukte von Bedeutung ist, prägt Solidarität dort das Sollen und wird zu einem Seinsprinzip. So und nicht anders lassen sich ethische Qualitäten für die Soziale Arbeit gewinnen: nicht als Naturgegebenheit, nicht aus irgendeiner Anthropologie heraus, sondern mittels Analyse der zur Gesellschaft hin erweiterten und ausgeformten menschlichen Gemeinschaft. Seinsbezüge bleiben im Blick, weil die Gemeinschaftsidee Sozialprinzipien begründet, aber auch, weil, wie Kerber (1998, S. 58) richtig bemerkt, „die Gesellschaft ihrerseits hingeordnet auf die Einzelmenschen" ist. Damit bleibt Anthropologie — auch über konkurrierende Konzepte — ein wichtiger Bezugspunkt einer Ethik der Sozialen Arbeit; aber den ausschlaggebenden und legitimierenden Rahmen setzt die Gesellschaft, die es den Menschen freistellt, ob sie an ihr teilhaben wollen oder nicht, die aber jeden auf ihre grundlegenden Prinzipien verpflichtet, der die Vorteile gesellschaftlicher Lebensbezüge für sich nutzen will. Gerechtigkeit, Solidarität, Subsidiarität, auch Ökonomie und politische Einmischung, sind zentrale Begriffe, die aus einem gesellschaftlichen Sollensverständnis heraus zu ethischen Qualitäten zu entwickeln sind und dann normativ in Theorie und Praxis Sozialer Arbeit zur Wirkung gelangen. Im Mandat des Sozialarbeitsberufes liegt so gleichsam eine Pflicht zur Ethik begründet, in deren Zusammenhang sich letztlich der weiter oben schon angesprochene gesellschaftliche „Normierungsauftrag" (Röh, 2006, S. 445) auch darstellen lässt. Aufklärung zu leisten „über die inhärierenden normativen Gehalte", denen Theorie und Praxis damit verpflichtet sind (Schlittmaier, 2006b, S. 34), ist dazu ein erster, wichtiger Schritt. Hier werden weitere ethische Qualitäten gewonnen, denn Macht, Verantwortung, Autonomie, Menschenwürde und Menschenrechte — Bezugspunkte, die schon angeklungen sind — richten den gesellschaftlichen Sollenskontext am Menschen aus. Im Rahmen solcher Vorgaben wird es für eine Ethik Sozialer Arbeit auch möglich, ethische Konzepte auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Gesellschaft — idealisiert und auf soziale Wirklichkeit bezogen — gibt ein Kriterium ab, im Spektrum ethischer Entwürfe Positionen auszuwählen und selbstbewusst zu vertreten. 4 Der besondere Stellenwert theologischer Ethik
Die Überlegungen haben bisher gezeigt, dass Ethik für die Soziale Arbeit ein Schlüsselbegriff ist. Eine ethische Aufgabe stellt sich durch die Besonderheit der Tätigkeit, aber auch über das Mandat. Die ethische Perspektive ist umfassend: Sie richtet sich auf die Lebens- und Handlungszusammenhänge von Adressaten ebenso wie auf das berufliche Handeln selbst, dessen Hilfeanliegen in eine Dynamik der Verantwortung führt. Aber auch eine begriffliche Herangehensweise ist impliziert,
15
Von einer „seinshaften Naturfinalität", wie Kerber (1998, S. 59) meint, kann keine Rede sein.
1 2 4 • Bezugspunkte u n d Q u e l l e n der Ethik in der Sozialen A r b e i t
denn ihre gesellschaftliche Funktion rückt Soziale Arbeit an die allgemeinen ethischen Problemstellungen heran, die unter den verschiedenen wissenschaftlichen Blickwinkeln aufscheinen. Auf allen Ebenen — in Praxis, Theorie und Wissenschaft — begegnen auf diese Weise einschlägige ethische Fragestellungen. Zuletzt war die Erwartung deutlich geworden, dass eine ethische Haltung Sozialer Arbeit auch den Fortgang der öffentlichen Ethikdebatte beeinflusst und nicht zuletzt eine wissenschaftlich haltbare Position begründet. Das ist ein hoher Anspruch, der sorgsam dargestellt und konzentriert angegangen sein will. Ihn tragen jene Kräfte, die Soziale Arbeit über lebensweltliches Handeln entfaltet; ihn legitimiert das — ideal zu fassende — gesellschaftliche Interesse; und ihn formt das wissenschaftliche Potential, das Soziale Arbeit über ihre Fachlichkeit demonstriert und das sie zu mobilisieren vermag, wenn sie Ethik als ihr zentrales Kennzeichen versteht. Zur Niederlegung ihrer Ethik muss Soziale Arbeit das Rad nicht neu erfinden; aber sie sollte sich im Spektrum der dargebotenen Formen auch nicht verleiten lassen, nur nach Entsprechungen zu suchen. Ihre umfänglich dimensionierte, normative Rolle - Wolfgang Klug (2000, S. 182) spricht von der „Wertdimension" der Sozialen Arbeit — erfordert ein Ethikverständnis von Grund auf. Nur so ist es möglich, über fachlich-autonom getroffene, berufliche Handlungsentscheidungen überzeugend Auskunft zu geben. Um den gewünschten Halt im wissenschaftlichen Ethikdiskurs zu finden, sind das begriffliche Raster und die eigenen, fachlichen Bezugspunkte von grundlegender und zugleich richtungsweisender Bedeutung. Darüber hinaus geht es um eine Orientierung an ausgewiesenen, ethischen Positionen, die eine in normativer Absicht agierende Sozialarbeitsethik inhaltlich absichern. Dieser Dreischritt — vom begrifflichen Verständnis über ethisch ausgerichtete Fachlichkeit hin zu wissenschaftlichen Begründungszusammenhängen — stärkt die sozialarbeitsethischen Bemühungen, auf dem Feld einer in die Krise geratenen Ethik nicht nur Position zu beziehen, sondern auch die über verschiedene ethische Betrachtungsweisen verstreuten Gestaltungskräfte konstruktiv zusammenzuführen. Zeigen und darstellen lässt sich das beispielhaft am Begriff der Gerechtigkeit. E r kann als Schlüsselbegriff der Ethik angesehen werden, nicht nur, weil schon Sokrates, den die antike Tradition als den Begründer der Ethik führt,16 Gerechtigkeit als „das Beste für die Seele" bezeichnet, 17 sondern auch und vor allem, weil er wie kaum ein anderer Begriff für die Notwendigkeit steht, menschliches Handeln in der Gemeinschaft zu regulieren. Als „politischer Leitbegriff' (vgl. Eisenmann, 2006, S. 232) war er weiter oben schon anzusprechen gewesen, und es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass eine soziale Ethik, die Gerechtigkeitsmerkmale ignoriert, ihren Namen nicht verdient. So ist es überaus einleuchtend, dass sich eine ganze Reihe von ethischen Konzepten mit dem Gerechtigkeitsverständnis befassen, Gerechtigkeit freilich unterschiedlich auslegen, aber insgesamt als ein Kriterium
16
Vgl. dazu das Zeugnis des Diogenes Laertios im Prooemium seiner Darstellung zu Leben und Meinungen berühmter Philosophen (s. ebd., Abschn. 14).
17
»^XTi äpiOTOv"; vgl. Piaton im 10. Buch der Politeia, 612 b.
Der besondere Stellenwert theologischer Ethik • 125
hochhalten, über das menschliches Handeln Orientierung finden kann. Auch Kritiker — oder sagen wir: Realisten — orientieren sich am Gerechtigkeitsbegriff, wenn sie die allgemeine Verführbarkeit und Korrumpierbarkeit von Menschen resigniert zu Kenntnis geben, aber durchaus als Problem betrachten und herausstellen.18 Die Folge ist, dass es eine breit gestreute ethische Debatte um Gerechtigkeit gibt, mit ganz unterschiedlichen Ansatzpunkten. So erscheint Gerechtigkeit, ganz nach sokratischer Manier, als Tugend (vgl. Pieper, 2003, S. 108) und wird so ein zentraler Bestandteil in einem tugendethischen Ansatz, wie er heute in kommunitarischen Überlegungen zu finden ist.19 Andererseits bilden sich eigene gerechtigkeitsethische Konzepte heraus (vgl. Rawls, 1975), die wiederum zur Grundlage für einen vertragstheoretischen Ethikansatz werden. Dieser greift seinerseits die Tradition des schon von Thomas Hobbes (1588-1679) angeregten und in der Aufklärung weitergetragenen Gedankens eines Gesellschaftsvertrages auf und rückt den Gerechtigkeitsbegriff als Medium und Ziel solcher gesellschaftlichen Übereinkunft in den Blick.20 Seit neuerem ist auch eine Debatte um den Gleichheitsgrundsatz im Gerechtigkeitsverständnis zu verzeichnen (vgl. Krebs, 2000). Und nicht zuletzt ist der Gerechtigkeitsbegriff auch zentraler Bestandteil einer theologischen Ethik, die das Handeln Gottes selbst und ebenso das darauf bezogene Handeln der Menschen am Prinzip Gerechtigkeit ausgerichtet sieht.21 Ein ethisches Verständnis von Gerechtigkeit in der Sozialen Arbeit, das im Ethikdiskurs Entscheidungshilfe bieten will, muss die verschiedenen Betrachtungsebenen integrieren. Zu einer Bestimmung aber führt sozialarbeiterische Fachlichkeit, die das berufliche Handeln als Gerechtigkeitsarbeit auszulegen weiß (Kleve, 1999c, S. 72). Das ist der Grundansatz. Die Schwierigkeit, die offenbar wird, liegt aber im Gerechtigkeitsbegriff selbst, der als Sozialprinzip mehrdeutig bleibt, vor
18
Hier erübrigt es sich fast, auf die vielen Zeugnisse hinzuweisen, die innerhalb der Gesellschaft immer wieder und mit großer Regelmäßigkeit sichtbar werden und die auch den privaten Bereich betreffen. Eine Beobachtung von Kant bringt solche Erfahrungen auf den Punkt, der Menschen von in „selbstsüchtige thierische Neigung" eingebunden sieht und zu der berühmten Feststellung gelangt: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden." Vgl. dazu Kant in seiner Schrift Idee ^u einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht; s. Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. 8, Berlin 1968, S. 23.
19
Dazu siehe bei Pieper (2003, S. 275-278), die Ethiküberlegungen des Kommunitarismus, die an das aristotelische Tugendverständnis anknüpfen, als „traditionalen Ansatz" aufnimmt.
20
Vgl. dazu bei Pieper, 2003, S. 273 ff. Hobbes bereits liefert im 15. Kap. seines Leviathan das Muster, nach dem das Einhalten eines solchen Sozialvertrages als „Quelle und Ursprung der Gerechtigkeit" anzusehen ist; siehe dazu Thomas Hobbes. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. v. I. Fetcher, Frankfurt a. M. 1984, S. 110.
21
Dieser Gerechtigkeitsgedanke findet sich nicht nur in christlichem Zusammenhang (vgl. etwa bei Paulus im Römerbrief, 3, 5), sondern auch in anderen großen monotheistischen Religionen, so im Judentum (vgl. Sach, 9, 9: „Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; er ist demütig und reitet auf einem Esel.") und zentral auch im Islam (vgl. Koran, 3,18: „Gott bezeugt, daß es keinen Gott gibt außer ihm, ebenso die Engel und diejenigen, die das Wissen besitzen. Er steht für die Gerechtigkeit ein. Es gibt keinen Gott außer ihm, dem Mächtigen, dem Weisen.")
1 2 6 • B e z u g s p u n k t e u n d Q u e l l e n d e r Ethik in d e r Sozialen A r b e i t
allem dann, wenn feste, für alle gültige Regeln den Einzelfall ignorieren. Schon das Römische Recht notiert mit dem Gedanken des summum ius summa iniuria — d. h. über ein entschlossenes Gerechtigkeitshandeln, das sich de facto in sein Gegenteil verkehrt — diese Ambivalenz als Aporie. Wenn Soziale Arbeit also selbst kein Unrecht produzieren will; wenn sie Gerechtigkeit zu ihrem Leitbegriff erhebt; und wenn sie über ein eigenes Gerechtigkeitsverständnis auch wissenschaftliche Impulse zu setzen hofft, braucht sie eine ethische Entschiedenheit, wie sie über ein analytisches wissenschaftliches Verständnis allein kaum zu gewinnen ist. Das ist durchaus ein allgemeines Problem der Ethik. Für die Soziale Arbeit aber löst es sich, wenn sie sich den Denkzusammenhang der oben angesprochenen theologischen Ethik zunutze macht. Es wirkt auf den ersten Blick kontraproduktiv, eine modernem Gesellschaftsverständnis verpflichtete und gesellschaftlichen Entwicklungen aufgeschlossen gegenüberstehende Soziale Arbeit auf ethische Aussagen zu beziehen, die ein Gottesbild in den Mittelpunkt stellen — von den eigenen und zum Teil eigenwilligen moralischen Implikationen religiöser Weltauslegung ganz zu schweigen. Und doch enthüllt ein zweiter Blick dem, der nicht gleich in Befangenheit gerät, Sinn und Nutzen einer ethischen Haltung, die den Menschen nicht in Überzeichnung seiner Möglichkeiten in die absolute Selbstbestimmtheit und über diese in die soziale Indifferenz entlässt, sondern auf Prinzipien zu verpflichten sucht, die individuell Grenzen setzen und soziale Konturen ausbilden. Nur ein Gottesbegriff vermag menschliche Autonomie in dieser Weise konstruktiv zu zügeln, nicht als Glaubensgebot gedacht, sondern als Symbol\ mit dem sich menschliche Endlichkeit und soziale Wirklichkeit begreifen lassen. Eine Ethik mit dem Bezugspunkt Gott — d. h. ein religiöses, monotheistisch angelegtes Gottesverständnis, das sich dem kritischen Diskurs stellt — vermag Argumente auszuformen, die nicht nur im sozialen Alltag von Menschen und vor dem Hintergrund individualisierter Daseinserfahrung überzeugend Sinnakzente setzen und darüber eine tragfahige Entschiedenheit erzeugen, sondern auch, aufs Ganze menschlicher Existenz gesehen, Hoffnung als Perspektive begründen. Damit ist keineswegs einem Einfluss fundamentalistischer religiöser Strömungen das Wort geredet, vielmehr auch deren Dynamik eine Grenze gesetzt, indem sich an den Ethikanspruch die Verpflichtung knüpft, menschliche Integrität und Selbstbestimmung nicht aufzulösen, sondern zu begründen. Jede theologische Ethik, die diesen Anspruch erfüllt, eignet sich, Soziale Arbeit und deren Verständnis von Menschen anzuleiten. Exemplarisch — aber durchaus formbildend - kann der Einfluss der katholischen Soziallehre gesehen werden, über die ein Subsidiaritätsprinzip in das Gesellschaftverständnis eingeführt wird, das schließlich sowohl im staatlichen Handeln wie auch im Handlungsansatz Sozialer Arbeit das Motiv der Hilfe zur Selbsthilfe ausprägt. 22 Auch darüber hinaus zeigt
22
Der Subsidiaritätsgedanke geht auf die Enzyklika Quadragesimo anno vom 15.5.1931 zurück, die Pius XI. als Gegenkonzept zu den totalitären Ordnungsvorstellungen des italienischen Faschismus und des Stalinismus vorgelegt hat. Darin heißt es in Abschn. 79: „Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützten, darf sie aber
Der besondere Stellenwert theologischer Ethik • 127
sich ein Einfluss über „kirchliche Enzykliken und theologische Theorien" (vgl. Engelke, 2004, S. 432), und insgesamt ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass „die Sozialarbeit in den westlichen Industrienationen durch die christliche Armenlehre mitbegründet worden und auch heute noch von ihr bestimmt" ist (Klüsche, 1994, S. 192). Immer wieder werden solche Begründungslinien mit christlichen Theologen des Mittelalters, namentlich mit Thomas von Aquin (12251274), verbunden (Scherpner 1962; Engelke 2002; Schilling, 2005a). 23 Das macht Sinn und eröffnet nicht zuletzt auch die Ethik des Neuen Testaments als Quelle und Kriterium für soziales Handeln und Sozialarbeitshandeln. So kann das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ebenso als Vorbild dienen (vgl. C. W. Müller, 2006, S. 11), wie die „Radikalforderungen" Jesu in der Bergpredigt, an denen Gesinnung als „Grundlage allen ethisch verantwortlichen Handelns" zu demonstrieren ist (vgl. Gruber, 2005, S. 50). Theologische Reflexion verhilft einer Ethik Sozialer Arbeit zu ihrer eigentlichen Schlagkraft. Solange das berufliche Selbstverständnis im Widerstreit der Meinungen und der gesellschaftlichen Kräfte so dahinschwimmt, kritisch eingestellt zwar, doch gewissermaßen getrieben von Zeitläuften und Normvorgaben, bleibt eine Ethik blass und spiegelt bestenfalls die stärksten Positionen im Diskurs zurück. Wenn sich Soziale Arbeit aber die Kraft einer sinnstiftenden und gleichwohl im Diskurs bewährten Ethikperspektive zunutze macht — Theologie als soziale Handlungslehre auslegt —, wird sie selbst zur ethischen Akteurin, die den oft ziellos und zufällig strömenden gesellschaftlichen Meinungsfluss zu lenken und zu orientieren vermag. Die angesprochene Dimension Hoffnung, die über von einem Gottesbild gestiftete Sinnbezüge in den menschlichen Alltag gelangt, ist auch bei Gefahr einer Selbsttäuschung nach Vorbild der Pascalschen Wette mehr nützlich als schädlich.24 Nicht übersehen werden darf, dass Soziale Arbeit auch — und das in vielen Fällen - in kirchlicher Trägerschaft praktiziert wird. Das soziale Handlungspotential der Kirchen nützt Sozialer Arbeit und schränkt sie nicht ein. Und ohne dass Soziale Arbeit damit „klerikalisiert" wäre, kann sie neutestamentliche Imperative, etwa das „neue Gebot", das Jesus verkündet: „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben", 25 aufnehmen und in fachliche Handlungsprofile übertragen. Ein Leitbild wie das des Caritasverbandes spricht Sozialer Arbeit aus der Seele, wenn es
23
niemals zerschlagen und aufsaugen." Vgl. dazu Bundesverband der Katholischen ArbeitnehmerBewegung, 1977, S. 121. Vgl. auch den Beitrag von Zeller, Susanne: Juan Luis Vives (1492-1540). (Wieder)Entdeckung eines Europäers, Humanisten und So^alreformers jüdischer Herkunft im Schatten der spanischen Inquisition. Ein Beitrag %ur Theoriegeschichte der Sozialen Arbeit als Wissenschaft, Freiburg i. Br. 2006. Mit dem christlichen Renaissancetheologen Vives befasst sich allerdings schon Scherpner (1962) eingehend.
24
Die „Wette" zum Wert solcher Hoffnung, die Blaise Pascal (1623-1662) in seinen Pensees sur la religion (Fragment 233) bietet, kann nicht verloren werden, da ein Leben, das auf Gott ausgerichtet ist, nichts - allenfalls eine schöne Illusion - verliert, sofern es Gott nicht gibt, aber alles gewinnt, wenn es Gott gibt, wogegen ein Leben, das Gott leugnet, nichts gewinnt, wenn es Gott nicht gibt, aber alles verliert, wenn es Gott gibt. Dazu siehe Blaise Pascal. Werke, Bd. 1, Heidelberg 8 1978, S. 123.
25
Joh 13, 34.
128 • Bezugspunkte und Quellen der Ethik in der Sozialen Arbeit
in seiner Präambel heißt: „Als Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege steht der Deutsche Caritasverband in der Mitverantwortung für die sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland. Er läßt sich vom Bild einer solidarischen und gerechten Gesellschaft leiten, in der auch Arme und Schwache einen Platz mit Lebensperspektiven finden können." 26 Das fachliche Verständnis reicht in der Sozialen Arbeit freilich weiter und vermag dieses „Bild" in einen Selbstfindungsprozess von Gesellschaft einzuordnen, der analog zu begleiten ist. Das Gottesbild, das kirchliches Handeln begründet, ist sozialarbeitsethischen Überlegungen nicht fremd; es ist ein kultureller Faktor in der Gesellschaft; und nicht zuletzt begegnet es auch als ein Deutungsmerkmal in der Lebenswelt von Adressaten. So wirkt es umfassend und konstruktiv auf sozialarbeitsethische Überlegungen, die ihrerseits Halt finden und in den Ethikdiskurs eine starke Position einbringen können. Auf das oben angesprochene Gerechtigkeitsbeispiel bezogen heißt das, Soziale Arbeit kann über theologische Überlegungen zur Gerechtigkeit ethische Sicherheit gewinnen, auch wenn weiter ein begrifflicher Streit sowie unterschiedliche Wege zur Realisierung von Gerechtigkeitsmerkmalen in der Gesellschaft zu berücksichtigen sind. Göttliche Gerechtigkeit, als Symbol für Soziale Arbeit genommen, bedeutet, nicht nach Verdienst, sondern nach Bedarf zu geben. 27 Soziale Arbeit muss sich niemand verdienen — und sie fragt auch nicht nach einer Schuld.28 Dass in die Bedarfsfeststellung auch das Interesse derer einfließt, die es sich als Verdienst anrechnen dürfen, eine Sozialarbeitspraxis in der Gesellschaft überhaupt finanzierbar zu machen, und dass auch ein gemäß theologischer Eindeutigkeit operierendes GerechtigkeitsVerständnis in die gesellschaftliche Wirklichkeit hinein kommuniziert werden muss, ist keine schlecht verstandene Dialektik, sondern Gebot der gerechten Sache selbst. Nur als Projekt aller ist so etwas wie soziale Gerechtigkeit zu realisieren, und die Unterstützung der Bedürftigen ist so wichtig wie die Unterstützungsbereitschaft derer, die dazu die materiellen Ressourcen erwirtschaften. Gerechtigkeit, die denen gibt, die wenig haben, gibt auch denen zurück, die ihre Ansprüche einschränken. Niemand muss sich Sorgen machen, zu kurz zu kommen — bis auf die, die meinen, anderen gegenüber Vorteile behaupten zu dürfen: „So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten." 29
26
Vgl. http://www.caritas.de/2230.html.
27
28
Vgl. dazu Mt 20, 1-16 die Gleichniserzählung Jesu von den Arbeitern im Weinberg, die trotz unterschiedlicher Arbeitsleistung alle vom Gutsherrn den gleichen Lohn erhalten. Dazu siehe schon bei Scherpner, 1962, S. 191: „Es handelt sich ... nicht darum, die Schuld des Hilfebedürftigen an seiner Lage oder seine Unschuld festzustellen ... sondern es handelt sich ausschließlich darum, die Basis für die Hilfe zu finden."
29
Mt 20, 16.
Der Umgang mit der Vielfalt • 129
5 Der Umgang mit der Vielfalt Soziale Arbeit sucht die ethische Bestimmtheit. Ethik aber ist zu einem komplexen Gebilde herangewachsen. Auch wenn es im Kern darum geht, dass menschliches Handeln in der Entscheidungssituation Unterstützung bzw. Vorbilder sucht, liefern doch die handelnde Person, die Handlungssituation sowie die soziale und die natürliche Umgebung, in die beides eingebettet ist, recht unterschiedliche Bestimmungsmerkmale. Die Ethikbetrachtung in der Philosophie wird dadurch irritiert und findet ihren Problempunkt im Werteverständnis. Von der Warnung vor einem „naturalistischen Fehlschluss" — d. h. ungerechtfertigt von der Deskription zur Interpretation überzugehen — war schon die Rede; doch über eine nur beschreibend angelegte Ethik gelingt keine Erklärung des Wertephänomens, das als Sittlichkeit menschlichem Handeln eigen zu sein scheint. Eine normative Ausrichtung der Ethik ist deshalb sinnvoll, aber sie setzt sich kritischer Einschätzung aus. Verschiedene Positionen sind so zustande gekommen, die chronologisch betrachtet in folgender Reihung gesehen werden können: • Da ist zunächst der christlich-theologische Bezug, der eine Wertebindung menschlichen Handelns mit der Gottesvorstellung und deren — konfessionell unterschiedliche — Auslegung durch die Kirchen verknüpft. Er prägt die ethischen Überlegungen des Mittelalters, beginnend mit Augustinus (354430), und auch die des Reformators Martin Luther (1483-1546), und er wirkt bis heute fort in den christlichen Kirchen und ihren theologischen Reflexionen. • Zum Zweiten sind die ethischen Schlüsse von Kant (1724-1804) zu nennen, der in Kritik des theologischen Ansatzes Werte an die Vernunft bindet. Vorbildlich ist Kants Versuch, aus einem Menschenverständnis sittliche Gesetzmäßigkeit und damit eine normative Verpflichtung auf bestimmte Handlungsweisen abzuleiten. • Kritik erfahrt Kants Ansatz wiederum durch Jeremy Bentham (1748-1832), der dafür den Begriff einer Pflichtenethik („Deontologie") prägt und eine Ethik, die den Wert einer Handlung über den Nutzen bestimmt („Utilitarismus"), dagegenstellt. • Weil der Utilitarismus selbst in einen Wertekonflikt gerät, indem er das „Glück der größten Zahl" über das Glück des Einzelnen stellt, erfährt der Ausgangspunkt Kants weiterhin Beachtung. Max Scheler (1874-1928) schließlich kritisiert ihn neu, indem er Werte ontologisch bestimmt und als Merkmale in der Persönlichkeit eines Menschen ansieht („Wertethik"). Auch andere Konzepte, wie die Vertragsethik (Rawls) oder der diskursethische Ansatz (Habermas), setzen kritisch bei den Werteargumenten Kants an. Während John Rawls (1975, S. 48) seine Gerechtigkeitskonzept als „deontisch" charakterisiert, orientiert sich Jürgen Habermas, auch an psychologischen und sozialpsychologischen Erkenntnissen zum Phänomen der Moral (vgl. Habermas, 1991, S. 49). Tugendethische bzw. kommunitarische Überlegungen greifen weiter zurück und nehmen, wie gesehen, platonisches und aristotelisches Denken in den Blick (vgl.
1 3 0 • Bezugspunkte u n d Q u e l l e n d e r Ethik in der Sozialen A r b e i t
Eisenmann, 2006, S. 64). Und, last, not least, bringt eine feministische Ethik moderne Standpunkte ein und regt ein „Reflektieren aus der Genderperspektive" an (Pieper, 2003, S. 298). Ob nun aber Ethik als Gerechtigkeitshandeln ausgearbeitet, über individuelle Qualitäten vermittelt gesehen oder an „Geschlechtsidentitäten" (Pieper, 2003, S. 299) festgemacht wird: Sie findet jedesmal andere Wertebezüge, ohne dass auch nur einer davon als überflüssig oder falsch erscheint. Das gilt schließlich auch für jene Überlegungen, die als „integrative Ethik" eine metaphysische oder theologische Argumentation beiseite lassen und, nach eigenem Bekunden, einen „dritten Weg" beschreiten, der vom Subjekt aus gedacht ist. Hans Krämer (1995) hat hier deutlich gemacht, dass nicht die Konstruktion von Wertesystemen, sondern das jeweils individuell zu sehende Anliegen der „Selbstsorge" Menschen zu ethischem Handeln motiviert (ebd., S. 84). Dieser Ethikansatz ist für die Soziale Arbeit bislang noch nicht erschlossen, erscheint aber erwägenswert, weil er einen Lebensweltbezug mitdenkt (vgl. Krämer, 1995, S. 206). Darin wird sichtbar, dass Erwartungshaltungen der Gemeinschaft normierend und die jeweiligen Selbstsorgebestrebungen der handelnden Personen formend wirken (vgl. Endreß, 1995, S. 160). Der darin liegende Grundgedanke, dass es „Bedingung des Lebens" sei, „nichtwissend dennoch handeln zu müssen" (Schmid, 1995, S. 102), kann ohne weiteres für so manches soziale und persönliche Orientierungsproblem von Adressaten akzeptiert werden. Und wenn das Selbstsorgemotiv als „Leitstern" gedacht wird (Schmid, ebd.), kommen keine anderen als individuelle Wertebezüge zum Vorschein, die, lebensweltlich verstanden, als Eigensinn ernst zu nehmen sind.30 Vor den Augen der Sozialen Arbeit breiten sich also unterschiedliche ethische Deutungskonzepte aus und reklamieren Gültigkeit. Die Ansätze zur Wertebegründung sind vielfaltig, und sie sind in ihren jeweiligen Blickwinkeln auch plausibel. Zwar zeigen sie sich zum Teil vernetzt oder auch kongruent; aber solche Übereinstimmungen sind eher geeignet, die Verwirrung noch zu vergrößern, weil sie Unterschiede noch markanter herausheben. Eine oberflächlich ethisch argumentierende Soziale Arbeit mag keine Mühe haben, ein institutionell passendes und situativ handhabbares Ethikwissen zu benennen — sie setzt sich ja auch nicht mit den Gegenargumenten auseinander, sondern duckt sich — eklektisch — in den Windschatten der jeweiligen Positionen. Eine ethisch verantwortete Praxis aber sieht anders aus: Hier geht es nicht einfach um richtige Entscheidungen im Einzelfall, sondern um die ethische Legitimation einer Fachlichkeit, die nicht zur punktuellen Hilfe, sondern zur gesellschaftlichen Betrachtung aufgerufen ist. Erst über diesen Zugang lässt sich sozialarbeiterisches Hilfehandeln in seiner normativen Gestalt eindeutig bestimmen; hier konstituiert sich ein fachlich gebundener Wertekontext, der, auf ein Menschenverständnis bezogen, Soziale Arbeit in die Lage versetzt, die philosophische und sozialwissenschaftliche Wertediskussion für sich auszuwerten.
30
Auf diese Weise ergibt sich, in Anlehnung an den von Thiersch (2005, S. 52) für den Lebensweltzugang geforderten, aber auch von Herriger (2006, S. 75) im Empowermentkonzept angemahnten Respekt gegenüber dem Eigensinn der „Lebenspraxis der Klienten" eine ethische Aufmerksamkeit, die Eigensinn nicht als Abweichung, sondern selbst als ethische Orientierung versteht.
Der Umgang mit der Vielfalt • 131
Den Akteuren in Hinblick auf ihr Menschenbild die,.Aufgabe der Information, des Nachdenkens und der Entscheidung", wie Hermann Baum meint, „ganz persönlich" auferlegen zu können, ist nicht nur deswegen abzulehnen, weil es sie schon vom Anspruch her völlig überfordern würde; schwerer noch wiegt die damit hausgemachte Beliebigkeit und Unverbindlichkeit des Sozialarbeitsgeschehens, das abstrakt nicht, sondern nur konkret weiß, wo der Weg gerade hingeht.31 Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter brauchen in ihrer Praxis Wertvorgaben, die gültig sind, auch wenn sie persönlichen Präferenzen nicht entsprechen. Und sie brauchen - das ist ihre individuelle Reflexionsleistung — einen vorbehaltlosen Blick für abweichende Wertwirklichkeiten bei Adressaten. Für die Akteure der Sozialen Arbeit erweist es sich hier ein weiteres Mal als wichtig, nicht auf ein berufliches Dasein als „Helferlein" reduziert zu werden, auch wenn gerade die anthropologische Perspektive diese Seite herauszukehren scheint.32 Jede Fall- und Handlungsentscheidung geht vielmehr in die Verantwortung des gesamten Berufsstandes über, der sie über Strukturen, aber auch über sein Wissen trägt. Der Umgang mit der Vielfalt an ethischen Deutungsoptionen muss daher beim Gesellschaftsverständnis ansetzen und über eine eigene, tragfähige und fachlich abgeklärte, sozialethische Position geschehen. Dazu zeichnet sich eine Vorgehensweise in fünf Schritten ab: 1) Soziale Arbeit setzt Werte und bezieht sich darauf. 2) Sie gewinnt den Wertebezug aus ihrem fachlichen Selbstverständnis. 3) Sie bezieht das fachliche Selbstverständnis auf die funktionierende Gesellschaft. 4) Sie versteht Gesellschaft ideal als Verwirklichungsraum von Individualinteressen. 5) Sie bezieht Individualinteressen im sozialen Handlungsgefüge auf Rechte und Pflichten.33 Der lebensweltliche Betrachtungsrahmen; das systemische Kausalitätsverständnis; die gesellschaftliche Bedeutung sozialer Prinzipien; ein fundiertes Verständnis der menschlichen Persönlichkeit; und nicht zuletzt ethisches Wissen: das sind die Merkmale, auf die sich sozialarbeiterische Fachlichkeit gründet. Werte wie Solidarität, Gerechtigkeit, Subsidiarität, christliches Menschenverständnis und individuelles Selbstbestimmungsrecht sind darin als Eckpunkte vorhanden. Sie bieten sich auch als Kriterien an, um das Spektrum ethischer Entwürfe auf die Soziale Arbeit hin auszurichten; und sie tragen deren Wertediskussion, nach innen ebenso wie
31
Vgl. diese für einen Beitrag, der „professionell geleistete soziale Arbeit" auf ein „anthropologisches Fundament" beziehen will, zu kurz greifende Feststellung bei Baum, 2000, S. 234: „Hier obliegt denjenigen, die sich in einem sozialen Beruf engagieren wollen, die ganz persönliche Aufgabe der Information, des Nachdenkens und der Entscheidung."
32
Bezeichnend dazu ist Baums Schlusssatz (2000, S, 237): „Soziale Arbeit dürfte nicht bloß als ,Hilfe zur Selbsthilfe' geleistet werden, sondern müßte ,Hilfe zur Selbsthilfe zur Hilfe ...' sein."
33
Eine, wie ich meine, sehr treffende Formulierung findet Pieper, 2007, S. 9: „Das Ich muss dem Wir und das Wir muss dem Ich sozial verträglich gemacht werden."
132 • Bezugspunkte und Quellen der Ethik in der Sozialen Arbeit
nach außen. Zuletzt realisiert sich über sie der Handlungsansatz Sozialer Arbeit profiliert als kritisch-offensive, wertebezogene, ethische Position. 34
6 Zusammenfassung Soziale Arbeit tritt, von ihrem Aufgabenverständnis her gesehen, selbst als Ethik hervor. Sie repräsentiert einen normativen Anspruch, der sich an gesellschaftlichen Bedarfen orientiert, darin aber explizit lebensweltliche Handlungsvollzüge ins Auge fasst. Es macht Sinn, sie kurz und bündig „als gesellschaftliche Antwort auf Solidaritätsbedarf" (Klug, 2000, S. 204) zu charakterisieren, womit sich zugleich ein eigenständiger Wertebezug andeutet. Der Rahmen aber, in den hinein Soziale Arbeit ihre eigenen ethischen Akzente setzt, ist allgemein das wissenschaftliche Ethikverständnis. Dessen Komplexität verwirrt. Der Weg in ihre Ethik führt für die Soziale Arbeit über den Ethikbegriff, der den Handlungsentscheid als Bezugspunkt herausstellt. Der zweite Schritt ist, zu sehen, dass ein normatives Potential nicht nur den beruflichen Alltag prägt, sondern auch in Theorie und Wissenschaft Sozialer Arbeit als ethisches Kennzeichen zu befestigen ist. Der gesellschaftliche Handlungsrahmen setzt Normativität voraus. 35 Hier rücken all jene Ethikansätze in den Blick, die menschliches Handeln in Wertebezüge einbinden; und es zeigt sich auch eine allgemeine Werteproblematik, weil einem deduktiven Ableitungsverfahren induktive Ansätze gegenübertreten. Werte allgemein aus Vernunftgründen abzuleiten, ist für die Soziale Arbeit ebenso interessant, wie der individuelle Bezug, bei dem ein Werteverständnis in der Lebenswelt gesucht wird. Der Vielzahl durch Tendenz zu begegnen, muss nun nicht bedeuten, die Ethik Sozialer Arbeit in die ideologische Erstarrung zu führen (vgl. Lesch, 2003, S. 414). Vielmehr finden sich über eine theologische Ethikbetrachtung normative Begründungsmuster, die Sozialer Arbeit in ihrem Menschenverständnis entgegenkommen. Und über das Menschenbild lassen sich sozialethische Prinzipien gewinnen. Von ihrem eigenen Gesellschaftsverständnis her vermag die beruflich geleistete Soziale Arbeit so den Ethikdiskurs zu durchdringen und die geeigneten Haltepunkte zu setzen. Die etablierten Konzepte der Ethikbetrachtung eröffnen Perspektiven, werden aber nach Gesichtspunkten sozialarbeiterischer Fachlichkeit bewertet. Damit regiert der sozialarbeitswissenschaftliche Blick den bezugswissenschaftlichen Ethikbeitrag und mahnt die Akteure im beruflichen Handeln, sich nicht nach dem Baukastenprinzip Menschenbild und ethische Argumentation zu
34
Auf diese Weise realisiert sich auch die Vermutung von Schlittmaier, 2006b, S. 39: „Eine externe Normierung Sozialer Arbeit durch eine ethische Theorie scheint wenig zukunftsträchtig zu sein."
35
Die Dramaturgie des Zusammenhangs, der auf die Soziale Arbeit wirkt, beschreiben Thole/Cloos (2000, S. 289 f.) als die „kaum zu umgehende ambivalente Crux, gerade jene gegenwärtig allseits vermißte und entwertete Normativität kritisch neu zu reaktivieren und in sachhalüge Geltungs- und Gülugkeitsansprüche zu übersetzen".
Zusammenfassung • 133
verschaffen, sondern einen eigenen ethischen Geltungsanspruch über das beruflichprofessionelle Selbstverständnis zu formulieren.
9. Kapitel Ethik als Merkmal der Praxiswissenschaft Soziale Arbeit 1 Soziale Arbeit als Praxiswissenschaft Im Wissenschaftsverständnis der Sozialen Arbeit spielt die Praxis eine Schlüsselrolle. Formal betrachtet geht es um die praktische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse; inhaltlich gesehen gibt die berufliche Praxis die Themen und den wissenschaftlichen Reflexionsbedarf vor. So ist es recht plausibel, wenn im sozialarbeitswissenschaftlichen Diskurs der letzten 10-15 Jahre immer wieder von Praxiswissenschaft oder auch von Handlungswissenschaft die. Rede ist. Dennoch ist die Verwendung dieser Begriffe uneinheitlich, je nachdem, ob die Seite der Wissenschaft oder die Seite der Praxis betont wird. Ganz allgemein kann Soziale Arbeit über ihre praxisbezogene Wissenschaftlichkeit in die Tradition der praktischen Wissenschaften eingereiht werden. Das Prädikat der Praxiswissenschaft bezieht sich dann auf das Potential und zugleich auf den Anspruch Sozialer Arbeit, eine wissenschaftlich begründete Praxis zu generieren. Ein anderes Verständnis wäre es, praxisbezogene Wissenschaftlichkeit als Kennzeichen angewandter Wissenschaft aufzunehmen. Hier steht der Nutzen im Vordergrund, den Wissenschaft in und für Praxis hat. Zugleich treten Wissenschaft und Praxis als abgegrenzte Bereiche auseinander. Eine dritte Auffassung, für die Soziale Arbeit prädestiniert erscheint, rückt das Merkmal Praxis in den Blick und unterstellt, dass eine wissenschaftlich gestützte Praxis ihre Wissenschaftlichkeit von außen bezieht. Praxiswissenschaft wird dann wertend als eine Halbwissenschafi verstanden, angewiesen auf „Basistheorien", die sie selbst nicht hervorbringt. 1 So ist Praxiswissenschaft einmal ein kategorisierender, einmal ein unterscheidender und einmal ein abwertender Begriff. Auf die Soziale Arbeit angewandt, umfasst er eine wissenschaftskritische und eine wissenschaftseuphorische Haltung gleichermaßen. Eine wissenschaftliche Tendenz erfährt vom Grundsatz her Zustimmung; aber solange das Sozialarbeitsverständnis vieldeutig bleibt und Praxis auch in einer Diskrepanz zu den diversen Theoriebemühungen sieht, erscheint ein Begriff wie Praxiswissenschaft — auch und gerade in seiner offensichtlichen Unschärfe — fast schon ideal geeignet, um einer drohenden wissenschaftlichen Verlegenheit zu entkommen. Praxiswissenschaft also letztendlich ein Verlegenheitsbegriff, der jede Haltung zum wissenschaftlichen Charakter Sozialer Arbeit gleichermaßen vertretbar macht? Dieser Befund ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Aber er ist zu erweitern, denn der Begriff der Praxis- oder Handlungswissenschaft erscheint dort völlig entbehrlich, wo Soziale Arbeit auf ein geistiges Proprium zurückgeführt 1
Diese Lage beschreibt Obrecht, 2004, S. 271 (vgl. dazu oben Kap. 6, Abschn. 5, Fußnote 24).
136 • Ethik als Merkmal der Praxiswissenschaft Soziale Arbeit
werden kann und feststeht, „that social work has its own set of ideas and concepts and that this set of ideas is specific for social work" (Soydan, 1999, S. 4). Damit vermag sich Sozialarbeitswissenschaft selbst zu einer „Metatheorie" aufzuschwingen (Erath, 2006, S. 22), die es erlaubt, dass sich „sozialarbeitswissenschaftliches Denken ... an einer neu geschaffenen, noch von keiner anderen Disziplin besetzten Perspektive orientiert" (ebd., S. 25). Über einen praxiswissenschaftlichen Charakter ist in solchem Zusammenhang nicht zu reden, weil Praxis aus dem sozialarbeitswissenschaftlichen Denken „abzuleiten" ist (vgl. Erath, ebd.). Zusätzlich unübersichtlich wird die Lage Sozialer Arbeit als Praxiswissenschaft, wenn man sieht, wie in Fragen der wissenschaftlichen Profilierung die universitäre Sozialpädagogik zur Federführung neigt und, mit zum Teil hörbar polemischem Unterton, Grenzen zur Fachhochschule und deren Lehr- und Forschungsmöglichkeiten zieht.2 Die schon angesprochene „Bruchlinie zwischen Sozialpädagogik und Sozialer Arbeit" (Konrad/Sollfrank, 2000, S. 99) erweist sich so als weiterhin offen und trägt mit dazu bei, dass die wissenschaftliche Situation der Sozialen Arbeit nach wie vor ungeklärt ist: Trat oben einem verschwommenen Praxiswissenschaftsbegriff der Anspruch Sozialer Arbeit entgegen, klassische wissenschaftliche Stärke entfalten zu können, so ist nun wiederum zu fürchten, dass sich zwei wissenschaftliche Betrachtungsweisen des beruflichen Sozialarbeitshandelns nebeneinander entwickeln und auf Dauer etablieren. Zwei Aufgaben stellen sich dadurch für die Soziale Arbeit: • Sie muss weiter daran arbeiten, die Einheit, die es im beruflichen Handeln längst gibt, auch dem Begriff nach herzustellen; das bedeutet vor allem, den sozialpädagogischen Denkansatz für Belange des Berufes — und das heißt in vorderster Linie: für das gesellschaftliche Mandat — weiter aufzuschließen. • Und sie muss, damit dies nicht ins Leere läuft, das sozialarbeiterische Praxisverständnis weiter wissenschaftlich durchdringen; das bedeutet, Sozialarbeitshandeln nach dem, was oben für das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit entwickelt wurde (vgl. Kap. 3), wissenschaftlicher Betrachtung darzubieten. Die Anlage einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit wirft nach wie vor viele Fragen auf, aber die Entwicklung ist weiter, als es den Anschein hat. Auch wenn die beiden skizzierten Aufgaben noch unerledigt sind, gibt es doch bereits ermutigende Ergebnisse. Den in zwei verschiedenen historischen Linien gewachsenen und in zahlreiche Aufgabenfelder eingewobenen Beruf in einer gemeinsamen und einheitlichen, wissenschaftlichen Betrachtungsweise zusammenzuführen, ist ein Projekt, das seit nunmehr zwei Jahrzehnten betrieben wird. Es schreitet in dem Maß voran, wie ein Sozialarbeitsverständnis zu professioneller Fachlichkeit hin vorankommt.
2
Hier kann der Blick auf Niemeyer (2003) gehen, der mit dem Aufruf „Sozialpädagogik als Wissenschaft - jetzt erst recht" (vgl. ebd., S. 44) sozialpädagogisch geprägte Soziale Arbeit aus dem Handlungskontext des Sozialarbeitsberufes herauslöst und Sorge trägt, der „Gefahr" zu begegnen, „dass einzelne Studiengänge und Subdisziplinen, wie etwa die Sozialpädagogik ... an Fachhochschulen verlagert werden" (ebd., S. 49).
Soziale Arbeit als Praxiswissenschaft • 137
Eine Wegmarke dabei ist die Mahnung von Hans-Jürgen Göppner (1997, S. 35), einem postmodernen „Teilrationalitätenzynismus" zu widerstehen, der „jede Konstruktion als gleichermaßen vernünftig" erklärt. Göppners Anregung geht dahin, Wissenschaft und Praxis — Abstraktion und Konkretion — in ein ausgewogenes und beiderseits fruchtbares Verhältnis zu führen, das verhindert, dass „die Wissenschaft die Praxis kolonisiert", in dem durch Reflexion „alltäglicher Plausibilität" aber auch vermieden wird, dass „die Praxis Klientenprobleme kolonisiert" (ebd., S. 42). Der Ansatz begründet Praxiswissenschaft in einem guten Sinn, nämlich so, dass Anliegen der Praxis und des beruflichen Alltags ihren Eigenwert behalten und zugleich die Kraft der wissenschaftlichen Reflexion gestaltend zum Einsatz kommt. Entscheidend ist, wie mit Göppner deutlich wird, dass die beiden so verschieden aufzufassenden Bereiche Wissenschaft und Praxis — ungeordnete Erkenntnis hier, geordnetes Wissen dort — weder auseinander zu halten noch ineinander zu führen, sondern aufeinander zu beziehen sind.3 Ein zweiter, damit vergleichbarer Strukturschritt kann der Art und Weise abgenommen werden, wie Silvia Staub-Bernasconi Soziale Arbeit als Handlungsmssenschaft versteht. Dabei pointiert sie diese als Erweiterung eines erklärenden wissenschaftlichen Ansatzes, im Rahmen derer die wissenschaftlichen Akteure „Wertungen vornehmen" (Staub-Bernasconi, 2007, S. 246). Normativität kann so als Bestimmungsgrund jeder auf Praxis gewendeten Wissenschaftlichkeit angesehen werden, ohne dass dies den formalen wissenschaftlichen Anspruch einschränkt. StaubBernasconi unterstreicht aber, dass von der Theorie zur Praxis hin eine funktionale Vermittlung zu installieren ist, mit der eine dem Wesen nach durchaus normkritische Reflexion in norm- oder besser: wertbezogenes Handeln übergeführt werden kann. Sie regt an, dazu einen „transformativen Dreischritt" zu gehen (vgl. ebd., S. 202). Dessen Anfang bildet die Ausrichtung wissenschaftlicher Erklärungsfähigkeit an einem Handlungsbedarf; das geschieht durch interpretativ angelegte, „nomologische" Aussagen (ebd., S. 208). Der Zielschritt wiederum besteht in der „Formulierung von normativen Aussagen", aus denen sich „Handlungsleitlinien" für die Praxis gewinnen lassen (ebd., S. 209). Herzstück, wenn man so will, ist der zweite, der eigentliche Vermittlungsschritt, der Theorie und Praxis über wertbezogen-handlungsorientierte — „nomopragmatische" — Aussagen zusammenführt (ebd., S. 208). Staub-Bernasconi bezieht diesen Dreischritt auf konkrete Handlungskontexte und sieht Akteurinnen vermittelnd Hypothesen bilden, die nomologisches Wissen normpragmatisch ausformen und normativ wirksam werden lassen.4 Aber sie bietet damit Anhalt auch für eine allgemeine Auslegung, die vor allem eines deutlich
3
Vgl. dazu auch Göppner/Hämäläinen (2004, S. 77) mit dem Plädoyer für ein „zirkuläres Verhältnis von Theorie/Wissenschaft und Praxis".
4
Das geschieht so schon im Zusammenhang mit der Darstellung des transformativen Dreischritts (Staub-Bernasconi, 2007, S. 208 f.) und zeigt sich dann noch deutlicher am Beispiel einer konkreten Problemlage (ebd., S. 252 ff.), mit dem der transformative Dreischritt als ,„Transformationskompetenz' von Professionellen" illustriert wird.
1 3 8 • Ethik als Merkmal der Praxiswissenschaft Soziale Arbeit
macht: Praxiswissenschaft agiert als Ethik. Dieses Merkmal prägt ein wissenschaftliches Bemühen, das Praxis zu seinem Dreh- und Angelpunkt hat und mittels reflexiver Kompetenz begreift. Professionelle Fachlichkeit erwächst aus dieser Kompetenz und realisiert sich in den Handlungsbezügen des Berufes. Etwas anderes kann Praxiswissenschaft als Charaktermerkmal Sozialer Arbeit nicht bedeuten. Wissenschaft und Ethik fließen dort, wo sozialarbeiterisches Handeln einen wissenschaftlichen Anspruch begründet, zusammen und formen normative Betrachtungsweisen, die zwar allgemein spekulativ angelegt sind, an der Praxisaufgabe aber gemessen werden. Wer daher eine Wissenschaft der Sozialen Arbeit nicht aus Verlegenheit, sondern in Kenntnis ihres fachlichen Profils selbstbewusst als Handlungs- oder Praxiswissenschaft identifiziert, schränkt ihren wissenschaftlichen Anspruch nicht ein, sondern erweitert ihn um die Möglichkeit eines Weges von der Theorie zur Praxis. Sozialarbeitswissenschaft ist darin praktische Wissenschaft, und sie ist nicht weniger auch angewandte Wissenschaft, da sie zu demonstrieren vermag, dass Theorie und Wissenschaft - mancher Skepsis zum Trotz — durchaus dazu taugen, menschliche Lebenspraxis zu Zeiten uferlos erscheinender Möglichkeiten zu orientieren und anzuleiten. Praxiswissenschaft ist hier ein gänzlich unspektakulärer Begriff. Er verfährt, gemessen an diesem Tauglichkeitsanliegen, prädikativ und qualifiziert das Denken und Handeln in der Sozialen Arbeit letztlich als ethische Wissenschaft.
2 Ethik und Praxis Wir sind bislang gewohnt, eine Ethik der Sozialen Arbeit von deren Praxis her zu denken. Zweierlei spricht dafür: einerseits das Ethikverständnis selbst, das seine Fragestellungen im menschlichen Handeln aufgeworfen sieht; andererseits das fachliche Argument, dass Soziale Arbeit insgesamt von ihrer Praxis her bestimmt wird. Solange es für die Soziale Arbeit lediglich um so etwas wie die Rezeption einer Ethik sozialer Berufe (vgl. Baum, 1996) geht, ist der Ansatzpunkt auch richtig. Soziale Arbeit aber als Praxiswissenschaft gedacht, kehrt das Verhältnis um: Ethik zeigt sich nicht länger als peripheres Praxisanliegen, sondern als ein zentraler Bezugspunkt, an dessen Oberfläche Praxis erscheint. Praxis wird über Ethik erschlossen. Damit ersteht kein anderes Praxisverständnis, wie man vielleicht meinen möchte, sondern im Vergleich zu einem Sozialarbeitsbild, das ganz auf das berufliche Interventions- oder Hilfehandeln zugeschnitten ist, entsteht hier überhaupt erst ein Begriff von Praxis. Es mag auf den ersten Blick spitzfindig erscheinen, für die Soziale Arbeit ihre Praxis zum Dreh- und Angelpunkt zu erklären und sie zugleich an einem reflexiven Vermögen auszurichten, das ihre Bedeutung wiederum relativiert. Der Zusammenhang fügt sich dennoch zu einem begrifflich klaren Verständnis, wenn man sieht, dass Anliegen der Praxis Soziale Arbeit zwar historisch begründen, eine Grundlegung der Sache nach aber erst über ein normatives Vermögen geschieht. Ersteres kann als notwendige, Letzteres als hinreichende Bedin-
Ethik und Praxis • 1 3 9
gung aufgenommen werden, analog zu jener Überlegung, die oben den Begriff Sozialer Arbeit absicherte.5 Schon Aristoteles hat auf das Phänomen solch doppelten Anfangs hingewiesen: Auch wenn Sinneswahrnehmung und Erfahrung Erkenntnisprozesse initiieren, wirkt in ihnen doch bereits das begriffliche Verständnis, ohne das ein Austausch über Erkanntes nicht möglich wäre.6 „Dem Begriff nach ist das Allgemeine früher, der sinnlichen Wahrnehmung nach das Vereinzelte", folgert Aristoteles,7 und er hält damit genau jene beiden Elemente in Spannung zueinander, die oben als Pole der Praxiswissenschaft Soziale Arbeit aufgeschienen sind. Praxis erzeugt aus sich selbst heraus kein verwertbares Wissen, jedenfalls nicht, wenn man sie als Ansammlung konkreter Fallbezüge versteht. Wenn sie aber als Ordnungszusammenhang gedacht wird, sich also über logische Kategorien bestimmt, werden Fallbezüge vergleichbar, und es entstehen berufliche Handlungsstrukturen. So setzt Praxis, als Wesensmerkmal des Sozialarbeitsberufes, aber ebenso als Anfangspunkt im beruflichen Handeln, begriffliches Denken voraus. Und dieses Denken inszeniert sich, über Normvorstellungen und fachliche Inhalte, als Ethik. Die bisherigen Überlegungen haben diese Ethik Sozialer Arbeit bereits in Umrissen entstehen lassen: Ein theologischer Deutungsrahmen gehörte ebenso dazu wie ein an gesellschaftlichen Belangen ausgerichtetes Vorverständnis, das es immerhin erlaubt, normative Aussagen anzustreben; entsprechende begriffliche Bezugspunkte — „Werte" — sind gleichfalls deutlich geworden. Das zeigt, wie wichtig es ist, wenn Praxis von einer ethischen Position her gedacht werden soll, diese Position entwerfen und die Einbindung in das Berufshandeln nicht dem Zufall zu überlassen. Wenn Silvia Staub-Bernasconi im Zusammenhang mit der Darlegung zum transformativen Dreischritt notiert, dass zu dessen Vollzug „noch eine explizite ethische Bewertung ... hinzukommen" müsse (2007, S. 209), weiß sie um die Schlüsselfunktion eines Wertewissens für die „Beurteilung sozial problematischer Sachverhalte" (ebd., S. 189); sie bezieht auch die „ethische Reflexion der angestrebten Veränderung" ins Kalkül mit ein (ebd., S. 209); aber sie belässt es bei der herkömmlichen Vorgehensweise, Praxis ethischer Aufmerksamkeit zuzuführen. Das Beispiel zeigt, besonders wenn man berücksichtigt, wie klar und überzeugend Staub-Bernasconi eine normative Funktion Sozialer Arbeit ausweist, die Dringlichkeit der Aufgabe, ethische Reflexion zur Grundlegung sozialarbeiterischer Praxis heranzuziehen.
5 6
7
Vgl. dazu in Kap. 2, Abschn. 4 den Bezug auf Leibniz. Aristoteles hebt hier den wichtigen Aspekt des Lehrens (öiödoKeiv) heraus, das nur dem möglich ist, der über Ursachen Bescheid weiß. In der Reihe der Wissensqualitäten (Erfahrung - Fertigkeit Wissenschaft) trifft dies nicht auf die Erfahrung zu, wohl aber auf die beiden anderen Wissensformen. Vgl. dazu bei Aristoteles, Metaphysik, 1. Buch, 981 b 7 f. Zu den Wissensqualitäten siehe oben Kap. 1, Abschn. 4. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 5. Buch, 1018 b 31 f.: Kaxa 6e tf)v aiaüriovv t a Kaü1 EKaoxa.
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140 • Ethik als Merkmal der Praxiswissenschaft Soziale Arbeit
Soziale Arbeit ist über die Jahre hinweg in eine ethische Rolle und Funktion hineingewachsen, die mehr und mehr auch den Problemlösungsanspruch erfasst. Während einige immer noch in der beruflichen Ethik Halt für Fallentscheidungen suchen — und darin von Sozialarbeitsethikern, die entsprechende individuelle Zuschnitte anbieten, bestärkt werden8 —, zeigen Handlungstheorien und handlungswissenschaftliche Ansätze häufig ein anderes, moderneres Ethikverständnis. Das ist vielfach schon angeklungen, vor allem dort, wo der Handlungsansatz in seiner gesellschaftlichen Dimension gesehen und über das Merkmal der sozialen Problemlösung fixiert wurde.9 So ist es die als Profession gedachte und ausgestaltete Soziale Arbeit, die expressis verbis die ethische Karte spielt. Sie kann damit auch auf Erwartungen eingehen, die sich an den Anspruch knüpfen, und so mit dazu beitragen, ihren Professionsstatus zu festigen. Handlungstheoretisch betrachtet kommt Ethik über das Konstruktionselement des Wertewissens ins Spiel (vgl. Miller, 2001, S. 150). Das in den verschiedenen Handlungstheorien Ausdruck findende Wertebewusstsein zeigt ein hohes Maß an Sensibilität für die Bedeutung der Aufgabe. Von einzelnen einschlägigen Wertebezügen war ja auch schon zu reden. So wird heute niemand ernsthaft bestreiten wollen, dass sich Soziale Arbeit in und mit ihrer Praxis solidarischen Gerechtigkeitsanliegen der Gesellschaft, ebenso aber auch individuellem Schicksal, das in soziale Problemstrukturen verstrickt ist, zu widmen hat. Das ist auch gut so; aber die Initiierung einer solchen Selbstverständlichkeit des Sollens über die fachlich-methodische Schiene offenbart die Schwäche einer nicht von der Ethik her gedachten Praxis. Werte drängen phänomenologisch heran und werden deskriptiv eingebunden oder, wenn sie den fachlichen Bezug vermissen lassen, verworfen.10 So wirken sie vielfach als nachgereichte Legitimation dessen, was aus fachlichen Bezügen heraus als Geltungs- und Normierungsanspruch entsteht. Aber solange sie, ohne die Möglichkeit einer sachlichen Überprüfung, nur soziologisch-deskriptiv erfasst sind, setzt sich Soziale Arbeit dem Zeitgeist aus.11 Das gilt auch dann, wenn „Grundwerte" (Miller, 2001, S. 153) einem Wandel zu widerstehen scheinen, denn diese Widerständigkeit allein qualifiziert sie noch nicht als Sozialarbeitsargument. Um es nochmals am Beispiel Staub-Bernasconis zu verdeutlichen, die in ihrem handlungswissenschaftlichen Überlegungen ein hoch entwickeltes Wertebewusstsein demonstriert und es ihrem eigenen Verständnis nach auch wegweisend in die Diskussion einbringt: Dazu sollen zwei zentrale ethische Bezugspunkte heraus-
8
Vgl. etwa den didaktischen Ansatz, mit dem Langen (2007) „ethische Themen ... für die persönliche Bedeutungsebene des Lernenden fassbar" machen (S. 16) und in „berufsethisches Handeln" überleiten will (S. 18).
9
Vgl. dazu oben Kap. 5, Abschn. 3.
10
Vgl. einen solchen Ansatzpunkt im Werteverständnis von Miller (2001, S. 151): „Werte sind kulturund subkulturabhängig. Es gibt unterschiedliche Werte unter Nationen, Ethnien, Religionen, Schichten und Milieus. So ist für die Menschen eines Kulturkreises die Aufopferung für die Familie der größte Wert, für Angehörige eines anderen Kulturkreises dagegen steht das subjektive Streben und das erfolgsmäßige Weiterkommen im Vordergrund."
11
Dazu Millers Folgerung (ebd., S. 152 f.): „Werte unterliegen dem Wandel ..."
Ethik und Wissenschaft • 141
gegriffen werden, von denen her der Handlungsansatz konzipiert ist. Der eine ist, Soziale Arbeit über das Aufspüren problematischer Machtstrukturen — „soziale Machtproblematiken" (Staub-Bernasconi, 2007, S. 184) - gesellschaftlich wirken zu sehen; der andere, sie auf die global („weltgesellschaftlich") dimensionierte Einlösung der Menschenrechte — „menschengerechte Werte" (ebd., S. 264) — zu verpflichten. Beide Gesichtspunkte sind in unmittelbarer Nähe zum Autonomieansatz des neuzeitlich-europäischen Denkens verortet — Macht als individuelle Selbstbestimmung, die zu beschränken nur durch soziale Argumente zu rechtfertigen ist; Menschenrechte als Tabubereich solcher Beschränkung. Von daher scheinen sie sich von selbst zu tragen — und dennoch bleiben sie, wenn sie ohne Begründung zum Prinzip sozialarbeiterischen Handelns erhoben werden, beliebig und angreifbar: Wie steht es um eine Soziale Arbeit, die Machtstrukturen nicht antastet oder ihr Handeln nicht in erster Linie von der Menschenrechtsfrage bestimmt sieht? Spricht nicht der Handlungsbezug im Einzelfall sogar eher für moralische Kategorien, die Handlungserfolge über lebensweltliche Pragmatik ermöglichen? So unumstößlich Grundwerte wie individuelle Selbstbestimmung und Menschenrechte auch und gerade im — gesellschaftlich mandatierten — Sozialarbeitshandeln erscheinen, so nebensächlich wirken sie oft, wenn man die konkreten Nöte von Adressaten betrachtet und zu lindern sucht. Anspruch und Wirklichkeit, so könnte man es sehen, klaffen hier auseinander und irritieren die ethische Position der in den gesellschaftlichen und lebensweltlichen Alltag hinein wirkenden Sozialen Arbeit. Den ausgewählten Wertebezug selbst stets kritisch zu reflektieren und zu berücksichtigen, dass „nicht alles, was empirisch und sogar wissenschaftlich abgesichert Erfolg bringt ... auch ethisch legitimierbar" ist (Staub-Bernasconi, 2007, S. 263), bleibt das eine; die Wertorientierung zu fachpraktischen Gesichtspunkten kompatibel zu halten, das andere. Beides gelingt, wenn eine Ethik Sozialer Arbeit von deren Grundanliegen her gefasst und ausgeformt wird und über begründete Prinzipen und Wertebezüge handlungsleitend zum Einsatz kommt. Handlungstheorien sind daher aufgefordert, ethische Grundlegung zu betreiben, um Praxis eindeutig und wirksam gestalten zu können.
3 Ethik und Wissenschaft So, wie Soziale Arbeit Praxis entlang ethischer Konturen erzeugt, führt auch ihr Weg zur Wissenschaft über ihre Ethik. Ein Verständnis als Praxiswissenschaft lässt kaum anderes erwarten, und dennoch ist das Verhältnis von Wissenschaft und Ethik bislang nicht bestimmt. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass in der Diskussion der vergangenen Jahre ein mehrdeutiges — und streckenweise ambivalentes — Wissenschaftsverständnis keine eindeutige Zuordnung erlaubte; aber es ist auch eine Folge jener Praxisauffassung, die Ethik ganz für die Ausgestaltung und Schärfung der Handlungskompetenz vereinnahmt. Schrittweise lässt sich allerdings eine sozialarbeitswissenschaftüche Perspektive zur Ethik gewinnen, die deren bezugs-
142 • Ethik als Merkmal der Praxiswissenschaft Soziale Arbeit
wissenschaftlich-funktionale Umgrenzung auflöst. Das geschieht über den oben (vgl. Abschn. 1) betrachteten, normativen Reflexions- und Deutungsansatz, der für die Soziale Arbeit das Denk- und Wirkungspotential einer praktischen Wissenschaft erkennen lässt. Und es kommt weiter voran durch eine konsequente, normative Erschließung der diversen Praxisfelder, der die ethische Reflexion als legitimierendes Argument dient (vgl. Abschn. 2). Der nächste, absehbare Schritt ist nun, von dieser Scharnierfunktion der Ethik her auch die Wissenschaftlichkeit Sozialer Arbeit zu beleuchten. Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit lenkt den Blick direkt weiter zum Objekt, auf das sie sich richtet. Der Gegenstand des beruflichen Handelns ist zugleich auch der Ansatzpunkt für die wissenschaftliche Betrachtung. Wie immer man auch den Gegenstand verstehen möchte — für die Soziale Arbeit „das zu benennen, was sie ausmacht" (Erath, 2006, S. 25), setzt zugleich Themen und Bezugspunkte auch für die wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Als „objekttheoretische Weichenstellungen" bezeichnet Staub-Bernasconi (2007, S. 168) eine solche Vorgehensweise, bei der, wiederum, in erster Linie normative Deutungsparadigmen — systemische Zusammenhänge; Menschenbilder; Gesellschaftsbilder — zu erwägen sind (vgl. Staub-Bernasconi, ebd.). Damit kann auch dem — für jede Wissenschaftsambition ernst zu nehmenden — „Problem der epistemischen Horizonteinschätzung" (Göppner, 1997, S. 35) begegnet werden. Mit anderen Worten: Die Ausgestaltung einer Wissenschaftlichkeit nach Gesichtspunkten der Praxis rückt den Wertebezug in den Blick und verlangt eine prinzipielle Klärung der normativen Absichten und Möglichkeiten. Ethik, in Praxiswissen integriert, formt das wissenschaftliche Anliegen mit, zum einen über Wertefragen, an denen sich Erkenntnisinhalte ausrichten, zum andern durch die Entscheidung über Bedarfe, die wissenschaftlicher Klärung zuzuführen sind. Wenn also bezugswissenschaftliche Beiträge über ein wissenschaftliches Nervenzentrum Sozialer Arbeit ausgewählt und zugeordnet werden (was ja in den Augen mancher den Beginn einer eigenständigen sozialarbeitswissenschaftlichen Betätigung markiert), kommt implizit ein wert- und normorientierter Ordnungsansatz zur Geltung. Eine entsprechende Kompetenz führt auch auf die „metatheoretische" Ebene (vgl. Erath, 2006, S. 23), denn die grundsätzliche Erkenntnishaltung Sozialer Arbeit bestimmt sich ebenfalls von ihrem normativen Anliegen her. In die erkenntnistheoretische Diskussion klärend einzugreifen — und beispielsweise „Konstruktivsten" vorzuhalten, dass sie „meist unbemerkt von ganz realen Menschen und konkreten Problemen" sprechen (vgl. Staub-Bernasconi, 2007, S. 241) —, bahnt zuletzt den Weg zu einer Wirklichkeit, die, auch wenn auf objektive Erkenntnis nicht zu hoffen ist, unter einer gesetzten Ethikperspektive aufscheint und erfasst werden kann.12 Gesellschaft und die Menschen in ihr bilden nicht nur den Handlungsraum
12
Engelke (2004, S. 155 ff.) ordnet unter der Rubrik „Offene Fragen und grundlegende Antworten" beispielhaft die wesentlichen Bezugspunkte für einen sozialarbeiterischen Erkenntniszugang. Mit der Orientierung dabei an den von Kant gestellten Grundfragen der Philosophie: Was kann ich wissen?; Was soll ich tun?-, Was darf ich hoffenWas ist der Mensch? (vgl. ebd., S. 158) bringt er maßgeblich
Ethik u n d W i s s e n s c h a f t • 1 4 3
einer problemanalytisch operierenden Sozialen Arbeit, sondern erzeugen auch einen spezifischen Erkenntnisbedarf, der formal-wissenschaftlich abzusichern ist. Der richtungsweisende Ethikbezug — Schlüsselbegriffe, Mandatsverständnis, Menschenbild — führt damit auch zu den abstrakten Bestimmungsgründen sozialarbeitswissenschaftlicher Erkenntnishaltung und demonstriert so, dass über ihn schließlich die „Einzigartigkeit der Sozialarbeitswissenschaft" (Erath, 2006, S. 25) erfasst wird. Soziale Arbeit erweist sich einmal mehr als Praxiswissenschaft, wenn sie in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit nicht lediglich Praxis zum Strukturprinzip erklärt, sondern darüber hinaus Ethik als Identifikationsmerkmai verankert. So und nicht anders gelingt die eindeutige wissenschaftliche Charakterisierung der Sozialen Arbeit, die als Praxiswissenschaft vom Vermögen von Wissenschaft bestimmt wird, Praxis zu regieren, die aber solche „Herrschaft" nicht als Vereinnahmung, sondern als Brückenschlag realisiert, wissend, dass Praxis auch aus sich heraus Wissen erzeugt, zu dessen Einordnung allerdings auf das strukturierende Eingreifen der Theorie angewiesen ist. Darin bleibt Soziale Arbeit Praxis, aber sie zeigt sich auch in der Lage, diese Praxis als ihren Gegenstand zu erfassen und in die wissenschaftliche Reflexion zu führen. Es ist vielleicht trivial, die Qualität der wissenschaftlichen Reflexion philosophisch abzusichern und darin auf ethische Motive und Muster zu stoßen. Dennoch ließe sich der Erkenntnisanspruch, den Soziale Arbeit erhebt, im Licht moderner Wissenschaftskritik durchaus auch pointiert skeptisch sehen. Keineswegs ist es als Selbstverständlichkeit und Trivialität hinzunehmen, wenn Akteure der Sozialen Arbeit Handlungsbedarf erkennen und in eine von ihnen bestimmte — und vielfach als Helfen stilisierte — Richtung zu wirken anheben. Gerade das Hilfemotiv lohnt einen kritischen Blick, vor allem dann, wenn es, in neurotischer Ausprägung, selbst ein „berufsethisches Problem" aufwirft (vgl. Martin, 2001, S. 110). Was als Sozialarbeitshandeln ausgewiesen ist, erfährt erst in der wissenschaftlich fundierten Begründung — und nicht sporadisch — seine Legitimation. Der philosophische Weg, wenn man so will (vgl. Engelke, 2004, S. 141), beinhaltet bereits eine Entscheidung, die ihren Grund nicht schuldig bleiben sollte. Wieder sind es die Wertekonstellationen, die es zu benennen und offenzulegen gilt. Eine philosophische Diskussion hilft sozialarbeiterischer Wissenschaft, Werte zu finden und zu kommunizieren; und sie vermag über die argumentative Absicherung dieser Werte eine „Eigenständigkeit der Sozialarbeitswissenschaft" (Bango, 2000, S. 106) weiter zu fördern. 13 Als Praxiswissenschaft verstanden, verabschiedet Soziale Arbeit die Vorstellung, dass Ethik sie wie ein Trabant umkreist. Entdeckt und so gesehen vor Zeiten, ist
ethische Kategorien ins Spiel. 13
Wenn Bango (2000, S. 106) feststellt, dass „die Sozialphilosophie ... in anderen Fachwissenschaften der Sozialarbeit willkommen" und „ihre begleitende Rolle ... nie in Zweifel gezogen" sei, könnte man zwar auch mutmaßen, ob es, im Kontext moderner Wissenschaftskritik, am Ende nicht vielleicht höchste Zeit wäre, diesen Zweifel anzumelden. Was das Argument bei Bango aber — mehr erspürt als reflektiert — trägt, ist, dass eine Ethik Sozialer Arbeit, wie oben gesehen (vgl. Kap. 8, Abschn. 4), ihre Schlagkraft maßgeblich aus einer theologischen Reflexion zu ziehen vermag.
144 • Ethik als Merkmal der Praxiswissenschaft Soziale Arbeit
Ethik längst nicht mehr ein reiner Betrachtungsgegenstand, mit berechenbarem, aber begrenztem Einfluss; sondern ein modernes Ethikverständnis hat sie längst ins Boot geholt und mit fachlichen Anliegen verwoben. Auch wenn dies zunächst den Eindruck einer transdiszipünären „Verstärkung" der Sozialarbeitswissenschaft erweckt (vgl. Bango, ebd.), ist die Soziale Arbeit inzwischen so weit, alle notwendigen normativen Bezugspunkte aus sich selbst heraus zu erzeugen und begründen. Der Sache nach steht diese Fähigkeit freilich am Anfang sozialarbeiterischen Selbstverständnisses, das berufliches Handeln und wissenschaftliche Theorie gleichermaßen über eine ethische Position entfaltet.
4 Kultur als Horizont in der Ethik Sozialer Arbeit Für eine Soziale Arbeit, die als Praxiswissenschaft berufliches Handeln und dessen Reflexion nach normativen Gesichtspunkten betreibt, stellt sich die Frage nach den ethischen Prinzipien, die darin zur Geltung kommen. Theologische Ethik kommt als Ansatzpunkt in Betracht, insofern sie, über einen Gottesbegriff, dem Menschen individuelle Handlungsverantwortung auferlegt und zu sozialem Handeln auffordert.14 Dabei ist es weniger die darin angelegte Glaubenshaltung, die dem Beruf die gesuchte Orientierung verschafft, sondern der Wertebezug, den sie aufgreift. Ein solcher Wertebezug — auch das ist in den Überlegungen hier schon deutlich geworden — ist nicht unproblematisch. Eine theologische Ethik hat noch die geringste Mühe dabei. Wer sich auf die philosophische Diskussion einlässt, findet neben unterschiedlichen Zugängen zu Werten auch die Option einer Wertedestruktion verhandelt. Wenn man Ethik andererseits über Werte definiert, verliert man sie als Instrument dort, wo eine Werteskepsis Raum greift. Sieht man in der Ethik aber den allgemeinen Rahmen einer Wertekritik, die den Menschen in seinen Entscheidungssituationen im Blick hat, vermag auch der philosophische Ethikdiskurs konstruktive Impulse zu setzen, auch wenn unterschiedliche Konzepte konkurrieren und eine unübersichtliche Argumentationslage erzeugen. So ist zwar niemandem geholfen, wenn Sozialarbeitsanliegen über einschlägige deontologische, utilitaristische, kommunitaristische, feministische oder integrativ-, Vertrags- oder diskursethische Argumente unterschiedlich beleuchtet werden; doch die den verschiedenen Positionen gemeinsame Frage nach den Werten: wie, unter welchen Bedingungen und mit welcher Konsequenz Werte zu gewinnen — oder zu verwerfen sind, stellt einen Fokus dar, an den auch das sozialarbeiterische Wertebedürfnis heranreicht. So lassen sich Aspekte einbinden und Verbindungen knüpfen, die helfen, dieses Wertebedürfnis zu verstehen und zu befriedigen.15 Und es ist genauso möglich, über eine kritische Haltung Grenzen und Gefahren auszuloten,
14
Vgl. dazu Kap. 8, Abschn. 4.
15
Ein entsprechendes Ethikverständnis zeigt Schlüter (1995), der zur Qualifizierung Sozialer Arbeit „als Arbeit von Menschen mit Menschen" ein grundsätzliches „Sinnbewußtsein" einfordert (S. 13). Schlüters „Ethik der Intervention" (S. 167) bildet schließlich das angesprochene Wertebedürfnis ab.
Kultur als Horizont in der Ethik Sozialer Arbeit • 1 4 5
die ein normatives Ansinnen mit sich bringt. Das gelingt dann, wenn die jeweiligen Voraussetzungen der verschiedenen Ethikkonzepte betrachtet und auf die Soziale Arbeit bezogen werden. Der diskursethische Ansatz beispielsweise, der besagt, „dass nur diejenigen Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden könnten" (Habermas, 1991, S. 12), fordert eine normativ instruierte berufliche Praxis dazu auf, die normativen Bezugspunkte an ihrer Zustimmungsfähigkeit zu messen. Der besagte „praktische Diskurs" ist von der Sozialen Arbeit mit zu führen. Ein weiteres Beispiel, das in einer handlungswissenschaftlichen Perspektive illustrativ zur Geltung kommt, ist der Ansatz der feministischen Ethik. Auch diese bildet nicht das ethische Sozialarbeitsverständnis ab, polarisiert vielmehr durch feministische Akzentuierung die allgemeine Ethikdiskussion, der sie, was die traditionellen philosophischen Positionen angeht, ein diskriminierendes Frauenbild vorhält (vgl. Pieper, 2003, S. 290). Doch es ist für die Soziale Arbeit durchaus relevant, wenn in der Ethik über ein soziales Rollenverständnis Frauen eine besondere „Stärke auf dem Gebiet der Urteilskraft" zugesprochen und in der Konsequenz eine gemeinsame Anstrengung beider Geschlechter gefordert wird, um „auch den zukünftigen Generationen ein Mindestmaß an Lebensqualität" zu ermöglichen (ebd., S. 292). Das ist ein unmittelbar sozialarbeiterisches Anliegen, und in ihm findet Soziale Arbeit letztlich mit einem ethischen Argument die allgemeine Bedeutung der Genderperspektive bestätigt. Welches Ethikkonzept man auch heranziehen möchte: Soziale Arbeit lernt von der anderswo geführten Diskussion. 16 Im Rückgriff auf „Urteilskraft" und „Rationalitätsstruktur" (vgl. Pieper, 2003, S. 292) sind freilich auch die theologischen Wegweiser dem kritischen Blick zu unterwerfen. Über sie und ihren Bezug zum philosophischen Denken wird aber etwas ganz Entscheidendes deutlich: Die Ethik bewegt sich im Kontext der abendländischen Wissenschaft und Kultur. Es ist zunächst eine philosophisch-hellenistische und dann eine theologisch-christliche Tradition, aus der die Grundlagen auch der modernen, kritischen Überlegungen stammen. Die Aufklärung und ihre korrigierende und gestaltende Kraft hat die letzten, formbildenden Impulse beigesteuert und Ethik in eine wissenschaftlich komplexe, aber grundsätzlich offene und damit menschengerechtere Betrachtung geführt — menschengerecht allerdings nur vor dem Hintergrund jenes Menschenbildes, das über das Autonomiemotiv der Aufklärung und ein biblisches Verantwortungsverständnis bis auf den Wissenschafts- und Vernunftbegriff der Antike zurückreicht. Dieser Wissenschaftsbegriff suggeriert — so ist er angelegt — universale Gültigkeit der gewonnenen Erkenntnisse, aber seine Erfolgsgeschichte führt über christlich-religiöse Inhalte, die, etwa durch Thomas von Aquin, auf engste Weise
16
Über Diskursgebot und Genderperspektive hinaus werden Anregungen der unterschiedlichen Ethikansätze für die Soziale Arbeit weiter unten in Kap. 10 noch genauer betrachtet. Siehe besonders den Ordnungsansatz dort in Abschn. 5.
146 • Ethik als Merkmal der Praxiswissenschaft Soziale Arbeit
mit ihm verwoben wurden. 17 Die Verschränkung von Wissenschaft und Religion hat sich zwar mit Beginn und im Verlauf der Neuzeit verändert, aber sie ist — Aufklärung hin, Säkularisation her — genauso wenig aufgelöst, wie das Christentum aus dem öffentlichen Leben verschwunden ist. Wissenschaftlich verbürgte Erkenntnis und die christliche Religion sind die herausragenden kulturellen Errungenschaften des europäischen Raums. Sie haben nicht nur Jahrhunderte und Jahrtausende überdauert, sondern Zeitalter geprägt und den Gang der Geistesgeschichte maßgeblich bestimmt. Was immer man als Charaktermerkmal abendländischeuropäischer Kultur ansehen möchte — es ist von den wissenschaftlichen Visionen der verschiedenen Epochen und maßgeblich auch von der Heilsbotschaft des Christentums geformt worden. Dazu gehört, im vordersten Bereich, das Menschenbild. Ethik, die sich um den Menschen dreht, trägt in erster Linie dieser spezifischen, kulturellen Entwicklung Rechnung. Sie beschreibt und erfasst, wenn man so will, die Lage des Menschen systemimmanent, unter den Voraussetzungen des alles in allem christlich geprägten, „westlichen" Kulturansatzes. Es ist eine überlegene, stolze Kultur, auch eine, die es immer verstanden hat, neue und auch fremde Elemente aufzunehmen und wirken zu lassen. Das ist seinerzeit mit dem Christentum so geschehen, und das war nicht anders, als in der Folge neuzeitlich-rationalistischer Experimente verstärkt Wissenschaftsskepsis und Religionskritik Einzug hielten. D o c h trotz universalen Anspruchs sieht sich dieser westliche Weg anderen Kulturformen gegenüber, die aus jeweils eigenständigen Entwicklungsverläufen resultieren, von eigenen Wissens- und vor allem religiösen Bezügen bestimmt sind und darin auch eigenständige Menschenbilder ausgeformt haben. Die diesbezügliche Vielfalt auf der Erde ist groß, freilich von unterschiedlich starken Kräften getragen, und es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass namentlich der aufs Christentum rückbezogene Kulturbereich global großen Einfluss ausübt; aber einige der anderen Kulturformen, vor allem jene, die wiederum selber in der Tradition einer großen Religion stehen, vermögen durchaus auf Augenhöhe zu operieren. Wirtschaftliche und nicht zuletzt militärische Macht sind das eine, geistige Akzentuierung und Ideenströme das andere, wenn es darum geht, Deutungs- und soziale Lebensmodelle in weltweiter Konkurrenz aufeinander treffen und um Gültigkeit und Vorherrschaft ringen zu lassen. Es ist dabei — wiederum systemimmanent gesehen — eine eigene, ethische Frage, inwieweit ein kulturelles Dominanzstreben überhaupt legitimiert (und legitimierbar) ist. Die Weltgeschichte kennt zwar manche fruchtbar verlaufenen, aber eben auch zahlreiche Negativbeispiele der Herrschaft einer Kulturform über eine andere. D o c h auch wenn man das kulturelle
17
Hinzuweisen ist hier auf die Absicht, die Thomas von Aquin seiner Summe der Theologie zugrunde legt: Das, was zur christlichen Religion gehört („ea quae ad christianam religionem pertinent") nach den Regeln einer Wissenschaft („secundum ordinem disciplinae") darzulegen; vgl. diese Bekundung im Prolog zur Summa theologiae. Besagte Inhalte der Religion fasst Thomas als „sacra doctrina" - als heilige Lehre — auf, die er im zweiten Arukel des ersten Fragenkreises als Wissenschaft („scientia")
demonstriert; vgl. Summa theologiae, I, 1, 2.
Kultur als H o r i z o n t in der Ethik Sozialer Arbeit • 1 4 7
Nebeneinander global betrachtet als offene Konkurrenzsituation akzeptiert, bleibt doch immer zu bedenken, dass Ideen, und seien sie noch so erfolgreich, immer bestimmten Kontexten entstammen, in denen sie ihre jeweilige Bedeutung entfalten. Der für die Ethik und für die sozialen Belange einer Gesellschaft gleichermaßen so bedeutsame Bezugspunkt Menschenrechte ist ein einschlägiges Beispiel dafür, wie ein Ethikkonzept aus politischem Pragmatismus heraus — vor dem Hintergrund der schockierenden Erfahrung der von maßloser Aggressivität beförderten und im Kern vernunftlos dynamischen Zerstörungsspirale, die der Zweite Weltkrieg gezeigt hat — weltweit installiert und im Miteinander der Nationen zum Handlungskriterium erklärt wird, aber dennoch eine leere Hülse bleibt, solange es nicht in jedem Kulturkreis durch eine adäquate Auslegung verankert ist.18 So geht die Weltgeschichte einstweilen weiter, indem einzelne Staaten das Thema Menschenrechte — gleichsam ideologisch — als Kampfinstrument gegen andere Staaten wenden — nur um ihrerseits nolens volens zu demonstrieren, dass sie es mit den Menschenrechten selber auch nicht so genau nehmen. Wie auch immer: Es bleibt schwierig, ein allen Menschen gemeinsames Wertefundament zu finden, wenn immer wieder sichtbar wird, dass Ansätze dazu jeweils eine eigene kulturelle Heimat nicht verleugnen können.19 Sofern das zum Anlass wird, die jeweilige Position in ihren Grenzen zu sehen und andere Entwürfe und vor allem deren kulturelle Einbindung ernsthaft und wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen, scheint dennoch ein Weg dorthin gangbar, der freilich weniger autoritativ als kommunikativ anzulegen ist. Dies wiederum kann als ein ethisches Prinzip auch einer Praxiswissenschaft Soziale Arbeit angesehen werden: zu wissen, dass der eigene normative Ansatzpunkt nicht selbstverständlich ist, sondern der plausiblen Darlegung und ebenso der ständigen Überprüfung bedarf. So, wie sich Soziale Arbeit im Gefüge westlicher Industriestaaten historisch entwickelt und entfaltet hat, wirkt auch ihre Ethik auf diesen Zusammenhang. Der kulturelle Horizont ist daher zu beachten, wenn eine normative Absicht sozialarbeiterisches Hilfehandeln auf Werte festlegt. Ein weiterer kulturrelevanter Aspekt ergibt sich angesichts der Quelle, die Sozialer Arbeit eine normative Ausrichtung überhaupt erst ermöglicht. Gesellschaft, die ein Mandat erteilt, soziales Leben kritisch zu reflektieren und Einzelne in ihrer Teilhabe zu unterstützen, ist das Produkt eines kultursystemischen Prozesses. Hier ist im Kulturverständnis abzurücken von den großen Zusammenhängen und ideologischen Grenzziehungen und stärker auf die Dynamik und Entwicklung zu 18
O h n e solche Verankerung in den anderen Kulturräumen ist auch der V o r w u r f eines kulturimperialistischen „Kolonialismus im G e w ä n d e der Humanität" (Staub-Bernasconi, 1995, S. 413) nicht v o n der H a n d zu weisen.
19
A u f seiner Suche nach einem „Grundprinzip des Sittlichen" findet auch Albert Schweitzer (18751965) diese, wenn m a n s o will, globale Herausforderung. In seinen 1923 erschienenen Überlegungen zu Kultur und Ethik macht er deutlich, dass es, u m „einen solchen allgemeinsten Begriff des G u t e n " aufzuspüren (Schweitzer, 1990, S. 118), „ d a s gesamte ethische Suchen der Menschheit . . . nachzuerleben" gilt (S. 119).
148 • Ethik als Merkmal der Praxiswissenschaft Soziale Arbeit
blicken, die in spezifischen Kulturmerkmalen die „Antworten von Menschen auf ihre jeweilige Lebenssituation" (Staub-Bernasconi, 1995, S. 289) wiederfinden. Der Kulturbegriff lässt sich damit öffnen für die konkreten Belange sozialarbeiterischer Praxis, bleibt aber das Kriterium, um berufliches Handeln ethisch zu orientieren. Auch und gerade in einer systemischen Betrachtungsweise zeigen sich die Grenzen ethischer Einschätzung, denn was in einer Gesellschaft gilt oder gelten soll, wird nicht allein durch menschliche Erfahrung bedingt, sondern immer auch durch deren Deutung, die auf überkommene und in aller Regel erprobte und bewährte DeutungswÄJ"/«r zurückgreift. Das normative Handeln einer als Praxiswissenschaft verstandenen Sozialen Arbeit — ohne das gesellschaftliche Mandat nicht denkbar — erfahrt in ethischkulturellem Relativismus seine eigentliche Rechtfertigung. Die Versuchung ist groß, Erfolgsmodelle aus dem eigenen Kulturkreis zu lancieren, vor allem wenn sie, in der Innenansicht, alternativlos erscheinen; aber erst wer zur Kenntnis nimmt, in welcher Innensicht andere Kulturkreise argumentieren und sich um „kulturelle Übersetzungsarbeit" bemüht (vgl. Staub-Bernasconi, 1995, S. 303), vermag eine Außensicht glaubwürdig zu vertreten. 20 Das gilt für das Menschenbild ebenso wie für eine Vermittlung der sozialen Rollenverständnisse von Männern und Frauen sowie für vieles andere mehr. So ist in der Sozialen Arbeit ein Bewusstsein über den eigenen kulturellen Horizont ebenso erforderlich, wie die Kompetenz, sich in die bewussten und unbewussten kulturellen Bezugspunkte anderer Menschen hineinzudenken. 21 Handlungswissenschaft heißt daher auch, den wissenschaftlichen Denkansatz kritisch auf das Kulturverständnis zu beziehen. Je mehr Soziale Arbeit über Deutungsalternativen weiß, umso mehr Nachdruck vermag sie hinter ihre eigene normative Position zu legen und umso leichter fällt ihr das normative Handeln selbst.
5 Zusammenfassung Praxiswissenschaft ist ein Begriff, für den, auf die Soziale Arbeit angewandt, genaueres Hinsehen lohnt. Dreierlei Meinung ist zu erkennen, zum einen die einer Praxis, die sich einen wissenschaftlichen Anstrich gibt; dann die einer Wissenschaft, die in obligatorischem Praxisbezug Autonomie verfehlt und an Grundlagenfor-
20
Staub-Bernasconi kann auch als Beleg für die — systemisch zu verstehende — Schwierigkeit dienen, Innensicht und Außensicht stets getrennt zu halten. Wenn sie Kultur semantisch über „den historischen Ubergang der Menschheit von der ländlichen zur Urbanen Existenz, von der Schweinezucht zu Picasso, von der Bodenbearbeitung zur Atomspaltung" verortet (vgl. Staub-Bernasconi, 2007, S. 334), muss offen bleiben, ob ein solches Verständnis in andere Kulturkreise hinein so ohne weiteres kommunizierbar ist.
21
Vgl. auch die Hinweise von Miller (2001) zu kulturellen Wertebezügen oben in Abschn. 2, Fußnote 10. Ohne Kulturreflex dagegen, obwohl die „Entwicklungsgeschichte der Menschheit" in den Blick genommen wird, bleibt die Wertebetrachtung bei Eisenmann (vgl. 2006, S. 128), der damit wichtige sozialarbeiterische Handlungsräume nicht erschließt.
Zusammenfassung • 149
schung nicht zu denken braucht; und schließlich die einer „echten" Wissenschaft, deren Gegenstand über die Praxis gewonnen wird. Eine Oberflächlichkeit im Theorie-Praxis-Verständnis, so ist weiter zu sehen, hält dabei jene Spannung aufrecht, nach der Theorie und Praxis einander eher im Wege stehen, als dass sie aufeinander bezogen werden können (vgl. Erath, 2006, S. 53). Die Brücke aber zwischen Theorie und Praxis baut die Ethik, als eine Betrachtungsweise, die Handeln qualifiziert und wissenschaftliche Erkenntnis in eine Verantwortungsperspektive führt. Soziale Arbeit zeigt sich über ihre Ethik als eine praktische Wissenschaft, ausgestattet mit allen Erkenntnismöglichkeiten, getragen von den Anliegen des beruflichen Handelns und mit der Besonderheit einer normativen Orientierung. Praxiswissenschaft, Handlungswissenschaft — die Bezeichnungen haben Sinn und Berechtigung darin, wissenschaftliche Erkenntnis in der Sozialen Arbeit an normativen Bedarfen auszurichten und „praktisches Handeln" (Erath, ebd., S. 55) über diesen besonderen Bedarfscharakter aufzuschließen. Sozialarbeiterische Ethik vermittelt Wissenschaft und Praxis in einer normativen Absicht, die letztlich über die Sittlichkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens begründet ist. Gesellschaft kommt ohne Regeln nicht aus und überträgt die Aufgabe der Reflexion solcher Regeln auch und vor allem auf die Soziale Arbeit. Deren ethische Perspektive richtet sich auf die Gesellschaft zunächst als sozialer Aktionsraum, dann als Definitionsraum für die soziale Problemlösung. Ihre Aufgabe eröffnet Sozialer Arbeit den Blick auf Werte, die Gesellschaft nach einem Gebot der Vernunft hervorbringen: als menschlicher Autonomie verpflichtete, solidarische Form sozialen Lebens und als von ihren Mitgliedern autorisierte sowie mit einem Gewaltmonopol ausgestattete Instanz für den Ausgleich individueller Interessen. Ein Menschenbild kommt darin zum Tragen, das seine kulturelle Bindung an die Geistesgeschichte des Abendlandes nicht verleugnen kann und will. Wenn es daher in dem logischen Postulat einer identischen Wertigkeit aller Menschen Inhalte wie Menschenrechte, Menschenwürde, Diskriminierungsverbot, Rechts Staatlichkeit u. a. m. begründet, bleibt, trotz eines globalen „Siegeszugs" dieser Inhalte, eine Grenze deutlich, die nach transkultureller Aufmerksamkeit (vgl. Staub-Bernasconi, 1995, S. 315) verlangt. Nimmt man die lebensweltliche Dimension des gesellschaftlichen Alltags in diese Aufmerksamkeit mit hinein, zeigt sich Kultur umfassend als der Horizont für die — praxiswissenschaftlich konzipierte Ethik Sozialer Arbeit.
10. Kapitel Die Notwendigkeit einer ethischen Bestimmtheit Sozialer Arbeit 1 Von der Gefahr ethischer Beliebigkeit Auf den ersten Blick erscheint es offen, ja geradezu egal, welche ethischen Akzente in der Sozialen Arbeit gesetzt werden. Nicht dass generell alles möglich wäre; aber so, wie sich Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit das Ethikthema angeeignet haben, kann es nur den Schluss geben, dass sich ein ethisches Feuer am Handlungsansatz entzündet, einerseits, weil der in dem normativen Impuls, das ihn trägt, ein moralisches Sendungsbewusstsein demonstriert, andererseits, weil in seiner Umsetzung vielfach Gewissens- und Entscheidungsnöte begegnen, die nach einer Bestätigung dessen verlangen, was „das Richtige" ist. Soziale Arbeit, so kann man es sehen, wird maßgeblich von der Leidenschaftlichkeit derer bestimmt, die Helfen als eine herausragende Kategorie sozialen Handelns betrachten und die sich selbst in der Pflicht sehen, Hilfebedarf aufzuspüren und eigenes Können denen zur Verfügung zu stellen, die auf Hilfe angewiesen sind. In einer Welt, in der private Egoismen und davon geprägte Machtstrukturen Menschen auch immer wieder dazu drängen, soziales Handeln am eigenen Vorteil auszurichten, ist dieser persönliche Antrieb keine Selbstverständlichkeit; aber er scheint, weil er nützt und nicht schadet, in jeder Weise unangreifbar. Und genau da liegt das Problem. Sozialer Arbeit scheint ein moralischer Impuls immanent, der seine eigene Rechtfertigung in sich trägt. Was kann falsch daran sein, anderen Menschen helfen zu wollen? Wer kann jemanden dafür verurteilen, der in bester Absicht handelt, aber dabei Fehler macht? Ist Soziale Arbeit, als Beruf gesehen, nicht Inbegriff solch „bester Absicht", verbunden mit strategischen Merkmalen, die die Fehlerquote gering halten? Historisch betrachtet ist ein solches Selbstbild dem Beruf keineswegs fremd. Freilich gab es immer schon auch die Warnung vor naiver Hilfeeuphorie, die übers Ziel hinausschießt und letztlich schadet, statt nützt. Namentlich die Stellungnahme der katholischen Kirche aus dem Jahr 1931, die den Subsidiaritätsgedanken einführt, mahnt an, Menschen nicht durch Hilfe zu bevormunden. 1 Aber die generelle Ausrichtung als Hilfeleistung wird bis heute ausgewiesen, Soziale Arbeit insgesamt als Helfen, das zum Beruf geworden ist, aufgenommen (C. W. Müller, 2006), sodass nach wie vor Anlass besteht, den ethischen Antrieb von innen heraus
' Vgl. ein weiteres Mal die Enzyklika Quadragesimo anno Pius' XI. vom 15.5.1931, die dafür einsteht, dass „dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden d a r f (vgl. ebd., Abschn. 79). Für den Text siehe Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung, 1977, S. 121.
1 5 2 • D i e N o t w e n d i g k e i t einer ethischen Bestimmtheit Sozialer Arbeit
zu begründen. Das an Mitmenschlichkeit ausgerichtete Hilfeziel mag Soziale Arbeit davor bewahrt haben, sich die menschenverachtenden Vorgaben der Nationalsozialisten zu eigen zu machen — auch wenn der Berufsstand „gleichgeschaltet" wurde; aber die Strategien blieben dieselben: überzeugt, in bester Absicht zu handeln, Fürsorgeziele zu verfolgen, ohne dabei unnötig Fehler zu machen. Manche Fürsorgerinnen brachte das in Lebensgefahr; andere wurden zu einer solchen für ihre — hier nicht ohne Zynismus so zu nennenden — „Adressaten". — Es war eine wichtige Aufgabe, nach 1945 Soziale Arbeit in Deutschland zu einem neuen Handlungsbewusstsein zu führen, das sich nun wiederum eng am Hilfemotiv anlehnte. Hans Scherpners altruistischer Ansatz ist weiter oben (Kap. 4, Abschn. 1) schon skizziert worden. Eine Erneuerung des angesprochenen Sendungsbewusstseins — Hilfe als „lebenserhaltende Funktion der Gemeinschaft" betrachtet (Scherpner, 1962, S. 127) — ist dabei gleichfalls erkennbar. Ethisch gesehen bleibt die Verpflichtung, nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen, erhalten, ebenso der strategische Imperativ, sich um geeignete Methoden und Arbeitsweisen zu kümmern, um Fehler zu vermeiden. Darüber hinaus erscheint es weiter schwer vorstellbar, dass eine so instruierte Soziale Arbeit irgendetwas falsch machen könnte. Die Diskussion der 1970er und 1980er Jahre hat in ethischer Hinsicht vor allem zwei Entwicklungsschritte, wenn man es so nennen mag, hervorgebracht: zum einen den Ansatz, sozialarbeiterische Hilfe kybernetisch zu konzipieren und in eine Theorie zu führen, die sie als eine „Sozial-Technologie" (vgl. Rössner, 1975, S. 278) praktikabel macht — die ethische Frage bleibt unbeachtet, weil das Handlungswissen keinen normativen Anspruch entfaltet;2 zum andern den Lebensweltfokus, der Soziale Arbeit auf individuelle Problemlagen — „spezifische egologische Strukturen von ,Lebenswelt'" (Dewe u. a., 1986, S. 89) — ansetzt und auf eine „intermediäre Rolle" (Dewe u. a., ebd., S. 238) festlegt, die Parteilichkeit impliziert — die ethische Frage zeigt sich virulent, bleibt aber weiterhin unterhalb der normativen Schwelle und entfaltet sich in anwaltschaftliches Handeln hinein, zu dem sich Akteure durch die „Unfähigkeit anderer verpflichtet" sehen (Brumlik, 1987, S. 61). Hilfeverpflichtung und Expertentum evozieren in der Sozialen Arbeit ein ethisches Verhalten, aber sie drängen nicht auf ethische Prinzipien, an denen sich das berufliche Handeln verbindlich ausrichtet. Das ändert sich zwar, als mit den 1990er Jahren Professionsüberlegungen weiter vorankommen, die — das ist auch der aktuelle Befund — die gesellschaftliche Verantwortung sozialarbeitlichen Handelns herausstellen und darin eine normative Rolle der Praxis und der Wissenschaft Sozialer Arbeit verankern; weil aber diese Rolle implizit immer schon Kennzeichen des Berufes war,3 bringen auch die neueren Überlegungen keinen anderen Ethikbefund als den gewohnten: ethisch ist Soziale
2
Vgl. zu Rössners Ansatz auch oben in Kap. 3, Abschn. 4, Fußnote 27.
3
Vgl. das Merkmal normativer Einmischung schon im Fürsorgeverständnis Klumkers (1918, S. 23): „Fürsorge ist Erziehung Unwirtschaftlicher, Versorgung Unwirtschaftlicher, Verwertung Unwirtschaftlicher. Ihr Ziel ist rein wirtschaftlich bestimmt; darin liegt ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit, darin auch ihre sichere Umgrenzung." Zu Klumker siehe auch Kap. 6, Abschn. 1, Fußnote 2.
V o n d e r G e f a h r ethischer Beliebigkeit • 1 5 3
Arbeit als Haltung. Damit bleibt es den Akteuren überlassen, wie gesagt nicht beliebig, aber nach eigener fachlicher Einschätzung, persönlichem Engagement und über methodische Ansatzpunkte ihren ethischen Zugang frei auszugestalten. Traditionell, wenn man so will, sorgt die aufrichtige Hilfeabsicht für die richtige Orientierung; zusätzlich wirken Leitbilder der Wohlfahrtsverbände — ohne dass sie in sozialarbeitsethischer Reflexion entstanden sind — als „ethische Vorgaben", die „Grenzen des Handelns" umreißen (Callo, 2005, S. 132). Es ist im Grunde eine abenteuerliche Situation, wenn sich Soziale Arbeit derart auf frei schwebende, moralische Zusammenhänge bezieht und sich in der Folge auch ethisch — expertokratisch, anwaltschaftlich, normativ — verhält, aber über das Wesen ihrer ethischen Orientierung nicht nachdenkt. Bei näherem Hinsehen nun möchte man meinen, dass sich die Lage dennoch verbessert hat. Es gibt reflektierte Ethikbetrachtungen für die Soziale Arbeit — nicht wenige sogar, wie bereits deutlich wurde. Und diese Betrachtungen halten unisono dazu an, das berufliche Handeln an passenden und verbindlichen Werten und Normen auszurichten bzw. in geeigneter Weise in den wissenschaftlichen Ethikdiskurs einzuspeisen. Die Gefahr ethischer Beliebigkeit scheint erkannt und Soziale Arbeit über ihre Fachlichkeit Wertebezüge zu erzeugen, die es herauszuschälen und in einen Argumentationszusammenhang zu stellen gilt: Ungefähr so stellt sich die ethische Lage des Berufes mittlerweile dar, und alles deutet tatsächlich auf einen Fortschritt hin. Aber worin besteht dieser? Die Veränderung der letzten 20 Jahre — das ist grob der Zeitraum, in dem ethische Überlegungen aufgetaucht sind und Fuß gefasst haben — betrifft hauptsächlich das professionelle und wissenschaftliche Selbstverständnis Sozialer Arbeit. Beide Bezüge implizieren das Ethikthema: Soziale Arbeit als Profession, weil diese eine „internalisierte Wertloyalität" voraussetzt; 4 und Soziale Arbeit als Wissenschaft, weil über ethische Beliebigkeit resp. Gleichgültigkeit normatives Handeln nicht verstanden werden kann.5 Damit zeigen sich aber weiterhin keine zwingenden ethischen Inhalte, sondern nur der Zwang, Ethik angemessen zu thematisieren. Sich dabei auf das Hilfemotiv zu beziehen, liegt nahe, schafft aber neue Verunsicherung, weil — auch das wurde die letzten zwei Jahrzehnte über ausgiebig betont — ein eindeutiger Hilfeauftrag nicht besteht, vielmehr in einer Doppelung von Hilfe und Kontrolle ein „Dilemma" aufscheint (vgl. Erath, 2006, S. 71),6 das den gesamten Hilfeansatz in Frage
4
3
6
Vgl. dies in Abgleich mit der Mängelliste, über die Dewe u. a. (1986, S. 195 f.) „Semi-Professionen" ausweisen. Nachdrücklich in diese Richtung weist Erler, der für Soziale Arbeit als Wissenschaft fordert (2004, S. 116): „Das bedeutet, sie muss ihre eigene disziplinäre Matrix, also ihr praktisches und theoretisches Koordinatensystem immer wieder neu begründen. Nur mit entsprechendem Wissen über sich selbst ist es möglich, Soziale Arbeit und ihren Auftrag zu Strukturproblemen einer modernen Gesellschaft und den Formen ihrer sozialpolitischen Bearbeitung in Beziehung zu setzen." Die kritischen Stimmen der vergangenen Jahre gehen bis auf Lowy zurück, der im Doppelmandat „kontinuierliche Konflikte" angelegt sieht (Lowy, 1983, S. 33). Eine „Gratwanderung" sagen Dewe u. a. (1986, S. 205) voraus, einen „doppelbödigen Bezug" konstatiert Gildemeister (1992, S. 129), „Verschlingungen" Wendt (1995c, S. 142); Thiersch spricht von „Drastik" (2000a, S. 23), Erler von
154 • Die Notwendigkeit einer ethischen Bestimmtheit Sozialer Arbeit
stellt. Eine „Ethik des Helfens" greift für die Soziale Arbeit, die Hilfe als Kontrolle anlegt, ins Leere. Andere Inhalte kommen über das Gesellschaftsverständnis heran, doch mit der Benennung ethischer Bezugspunkte ist es nicht getan. Solange sie nicht systematisch eingebunden sind, können sie eine Ethik der Sozialen Arbeit nicht stützen. D a s gilt am Ende auch für das Menschenbild, das eine überzeugende Begründung braucht, um in der Sozialen Arbeit verpflichtenden Charakter entfalten zu können. Neuere Verschiebungen im Gesellschaftsgefüge erschweren eine solche Begründung: allgemein, wenn man sieht, wie ein Trend zu lückenloser staatlicher Überwachung die Autonomie und zuletzt die Würde von Menschen wesentlich tangiert;7 und sozialstaatlich angesichts sich dramatisch verändernder Altersstrukturen und entsprechend alarmierender Kostenrechnungen. Kinder- und Familienpolitik; Gesundheits- und Rentenpolitik; Fragen der sozialen Sicherung bis hin zur Kostendiskussion im Pflegewesen; und immer wieder die Sorge um die innere Sicherheit — all das sind hochdynamische Aktionsfelder im Szenario einer gesellschaftlichen Umbruchsituation, die, in der Argumentationsfigur einer notwendigen Güterabwägung, alles auf den Prüfstand zu setzen scheint, was individuelle Ansprüche einzelner Bürger bisher begründet hatte. Soziale Arbeit ist einbezogen in diese Dynamik, und es wird ihr schwerfallen, ihren Wertebezug gesellschaftlich zu begründen. Umgekehrt sollte sie sich aber auch davor hüten, sich lediglich als Indikator der gesellschaftlichen Veränderungsbewegungen zu begreifen. 8 Gesellschaft ist im Rahmen der weit reichenden Transformationsprozesse, die sie erfasst haben, darauf angewiesen, dass sie Orientierungspunkte behält und in ihrem sozialen Wandel kompetent begleitet wird. Eine ethisch unbestimmte Soziale Arbeit ist im Wortsinn für die Gesellschaft wertlos. Sie vermag vielleicht, in individueller Zuwendung, Hilfebedarf zu stillen und darin ihr Kemgeschäft aufrecht zu erhalten; aber sie agiert ohne Überblick und erfüllt ihr Mandat, durch das sie in eine gesellschaftliche Verantwortung gestellt ist, nicht. A m E n d e scheitert sie, in die Strudel ziellosen Zeitgeistes verstrickt, auch in ihrem lebensweltlichen Hilfeanliegen, das sie gegenüber einer Rechenschaft fordernden, marktliberalen Gesellschaft immer nur schwer aufrecht zu erhalten vermag. 9
einer „undurchsichtigen Situation" (2004, S. 126), Kleve von „Ambivalenz" (2005, S. 37). 7
Einen „Umbau des Rechtsstaats in einen Präventionsstaat" und damit einhergehende substantielle Änderungen im Menschenverständnis konstatiert Heribert Prantl in seinem Beitrag „Der große Rüssel" in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom 21./22.4.2007 als gewissermaßen schleichende innenpolitische Entwicklung seit den Terroranschlägen von New York 2001.
8
Vgl. dazu auch oben in Kap. 3, Abschn. 5, Fußnote 26 den Hinweis auf Kleve, 1999b, S. 370.
9
Im Fall des zweijährigen Kevin aus Bremen, dessen Leiche im Oktober 2006 im Kühlschrank der Wohnung seines Vaters, dem er vom Jugendamt anvertraut war, gefunden wurde, hat im April 2007 der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des Bremer Senats „Politik- und Staatsversagen" festgestellt, bei dem „verwaltungsinterner Spardruck" stark auf den Bereich der Jugendhilfe gewirkt habe. Das individuelle Versagen, das dabei dem Fallmanager im Bremer Amt für Soziale Dienste vorgeworfen wird, spiegelt die Schwäche und die Tragik letztlich einer Sozialen Arbeit, die nicht eigenen ethischen Prinzipien folgt und ihrerseits die Gesellschaft nicht dazu anhält, über fachliche Sozialarbeitsstandpunkte als notwendig zu erkennende, soziale Prioritäten zu setzen.
Wegmarken einer ethischen Orientierung • 155
2 Wegmarken einer ethischen Orientierung Alle Erfahrung in Geschichte und Gegenwart lehrt: Perspektiven des Sozialen aufrecht zu erhalten, erfordert eine besondere Anstrengung. Menschen mögen für ihr eigenes Wohlergehen noch so sehr auf andere angewiesen sein - das hindert sie selten daran, andere zum eigenen Vorteil auszunutzen. Um in der Gesellschaft das Nehmen und Geben einigermaßen auszutarieren, bedarf es fester, sanktionsfahiger Regeln. Diese Regeln sind allerdings nicht automatisch an einem Ideal sozialen Zusammenlebens orientiert, sondern schaffen einen Handlungsrahmen für das gesellschaftliche Ganze, der erst einmal Stabilität garantiert. Dieser Stabilität wird alles andere untergeordnet, und in Zeiten knapper Kassen kann es schon auch passieren, dass Kostenargumente das soziale Handeln diktieren. Egoismen, denen es auf der einen Seite Einhalt zu gebieten gibt, und das Gemeinwohl, dem auf der anderen Seite Einzelinteressen geopfert werden, bestimmen das öffentliche Handeln in einer demokratisch verfassten Gesellschaft und produzieren öffentliche Handlungszwänge, denen idealistische Forderungen wie die nach sozialer Gerechtigkeit manchmal ganz einfach nur im Wege sind. Die Pragmatik einer Gesellschaft bestimmen, so gesehen, primär ökonomische, dann ökologische und danach erst soziale Überlegungen. Gesellschaften, die so in den Blick treten, stehen, weil sie in der demokratischen Ausrichtung pluralistisch angelegt sind, durchaus unter Rechtfertigungsdruck, der nach ethischer Argumentation verlangt. Dreierlei wird dabei immer wieder deutlich: 1) die Neigung, einen Ethikrahmen flexibel zu halten und dazu deskriptivempirisch statt normativ-systematisch vorzugehen; 2) die Entschlossenheit, fixe normative Bezugspunkte auf ein Minimalmaß zu begrenzen und für weitere Beschränkungen zugänglich zu halten; 3) die Begeisterung für das marktliberalistisch angelegte Ethikkonzept des Utilitarismus, das Gemeinwohl über Individualwohl stellt. Schon beim ersten Hinsehen zeigt sich, dass ein solcher Ethikzugang den Ansprüchen Sozialer Arbeit nicht genügt; aber er lässt sich auch nicht so einfach vom Tisch wischen, weil er wesentliche Gesichtspunkte enthält, denen sich auch eine sozialarbeiterische Ethik nicht verweigern kann. So wird im ersten Punkt deutlich, dass ein wesentliches ethisches Potential in der Gesellschaft daher rührt, dass sie über ihre Angelegenheiten selbst entscheiden kann. Es mag bedenklich erscheinen, Verbindlichkeiten in letzter Konsequenz immer unverbindlich zu halten; aber Flexibilität steht auch für Selbstbestimmung, für Mündigkeit, für Aufgeklärtheit. Der zweite Punkt verwahrt, in den demokratischen Gesellschaften der Moderne, so wichtige Güter und Errungenschaften wie Menschenrechte und Gemeinwohl und alle sozialen Ideale, auch wenn sie bleibend zur Disposition stehen. So wird bei aller Modernität, Flexibilität und Globalität ein widerständiges Element als, wenn man so will, kulturelles Erbe wirksam, das ethische Fixpunkte als stabile Pflöcke einschlägt. Und der dritte Punkt schließlich favorisiert ökonomische Vernunft als Motor auch des sozialen Handelns. Das Zurückstehen von Einzelinteressen hinter einem Gemeinwohl, dessen Definition Einzelnen obliegt, mag irritieren; aber
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solange dieses Gemeinwohl als überprüfbare Größe ernsthaft das gemeine Wohl als Bedingung der Möglichkeit individuellen Wohlergehens anstrebt, ist der utilitaristische Nutzengedanke gerechtfertigt.10 Drei Themen werden über diese Punkte fokussiert, die auch in einem rudimentären Selbstbild von Gesellschaft mitgedacht sind und deshalb den ethischen Handlungsansatz Sozialer Arbeit mit bestimmen. Zunächst das Thema Autonomie, angelegt als Selbstbestimmungsrecht einer Nation, eines Staates, eines Volkes, getragen aber vom individuell ausgewiesenen Selbstbestimmungsrecht der Mitglieder. Autonomie steht hier symbolisch für das Menschenbild, auf das sich Gesellschaft bezieht und im Sinne einer Rechenschaftslegung immer auch beziehen muss. Auslegungs- und Diskussionsbedarf mag bestehen; aber die Grundposition ist klar und als Ansatzpunkt auch für die Soziale Arbeit relevant, die ihre Reflexion wiederum in den gesellschaftlichen Diskurs mit einspeisen kann. Zweitens das Thema Macht, als weiterer Schlüsselbegriff im Kontext sozialen Lebens, gedacht aber auch als Verpflichtung zur Herrschaft, die über feste Bezugspunkte zu realisieren ist. Machtstruktur und Machtkontrolle sind die Bereiche, die es über Konsensprinzipien auszugestalten gilt. Wie immer das auch geschieht und wie bedenklich es auch ist, wenn Menschenrechte dabei zur Verfügungsmasse werden — in den Vordergrund tritt das Verantwortungsmotiv als Mittel einer „Konstruktion von Orientierung" (Martin, 2001, S. 49). Und drittens das Thema Ökonomie, das jede funktionierende menschliche Gemeinschaft zu beachten hat und das auch für eine Soziale Arbeit, die Gemeinwohl von der Befriedigung individueller Bedürfnisse her denkt, zur besonderen Herausforderung geworden ist (vgl. Nowak, 2005). Nicht nur, weil niemand auf Dauer über seine Verhältnisse leben kann, sondern auch, weil Wirtschaftlichkeit Existenz sichert, wird Ökonomie zum ethischen Prinzip. So eignet sich Gesellschaft, typologisch betrachtet, zwar nicht als ethisches Bestimmungsraster für die Soziale Arbeit, aber sie liefert, über ihr Kernverständnis, die Anhaltspunkte, von denen her eine solche Bestimmung erfolgt. Diese beruht demnach (1) auf einer Klärung des Menschenbilds, das als Muster aus der geistesgeschichtlichen Tradition herauszuschälen und anhand der aktuellen Verhältnisse zu überprüfen ist; (2) auf einer Strukturierung von Verantwortung, die Macht im sozialen Miteinander absichert, aber auch funktionalisiert und begrenzt; (3) auf einer ökonomisch ausgerichteten, sozialen Vernunft, die Effizienz und Nachhaltigkeit zu verbinden weiß. Das gesellschaftliche Mandat sorgt also für eine Vororientierung, aus der die ethische Bestimmtheit Sozialer Arbeit erwächst. Für die Bestimmung selbst liefert die wissenschaftliche Reflexion die Wegmarken, und über die verschiedenen philosophisch-analytischen Ethikentwürfe lassen sich Argumentationsfiguren gewinnen, zu denen Soziale Arbeit in Bezug gesetzt und über die sie auf ihre ethische Substanz hin durchdrungen werden kann. Die genannte Vor-
10
Eisenmann nimmt in seiner Darstellung zu Werten und Normen in der Sotqalen Arbeit die „Nutzenethik" auch gleich mit ins Kalkül (vgl. 2006, S. 89), versteht sie allerdings als ideale Absicht, allen Beteiligten maximale Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, was erkennbar in Diskrepanz zu den realen Möglichkeiten („Verschiedenheit der Bedürfnisse der Menschen") stehe (vgl. S. 93).
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Orientierung wirkt darin, in Verbindung mit fachpraktischen Gesichtspunkten, als ein Ordnungsprinzip, das den einzelnen Entwürfen ihren jeweiligen Ort im Bestimmungsraum des sozialarbeiterischen Ethikanliegens zuweist. 11 Der utilitaristische Ethikansatz steht als erster auf dem Prüfstand, denn ein nutzenorientiertes Denken scheint der ethischen Intention, den Handlungsentscheid zu qualifizieren, unmittelbar zu entsprechen: Das oben in Kap. 8, Abschn. 2, dargelegte Ethikverständnis, das auf eine im Ansatz wertfreie Unterstützung des Menschen in Entscheidungssituationen abzielt, realisiert sich dort, wo eine Entscheidung verlässlich erfolgreiches Handeln hervorbringt. Der Misserfolg wird dabei als Bedrohung erlebt, vor allem dann, wenn er eine unkalkulierbare Größe bleibt.12 Und so geht es in der Ethik primär darum, Fehlentscheidungen zu vermeiden, die menschlichem Handeln den Erfolg versagen würden. Dass der Erfolg das ist, was nützt, liegt auf der Hand, sodass eine ethische Perspektive, die den Wert einer Handlung nach dem bemisst, „was hinten rauskommt" (Helmut Kohl), in jeder Weise plausibel erscheint. Im Utilitarismus wird eine solche Perspektive mit einem Entscheidungskriterium verbunden, das es erlaubt, das Prädikat nützlich (lat. utilis) menschlichem Handeln eindeutig zuzuordnen. Dieses Kriterium geht vom menschlichen Streben nach Glück aus — Glück immer auch verstanden als Erfolg — und erklärt dasjenige für erstrebenswert, das Glück maximiert, d. h. ein größtmögliches Glück für eine größtmögliche Anzahl von Menschen hervorbringt. 13 Diese sozialethische Komponente lässt den utilitaristischen Ansatz auch als Basis für das Gesellschaftsverständnis, wie oben gesehen, geeignet erscheinen. Das ist die eine Seite. Aus Sozialarbeitssicht zeigt sich aber das Problem, dass eine reine Nutzenorientierung, andererseits, die Besonderheit und die Bedarfe der Lebenswelt außer Acht lässt. Der Gedanke, die Allgemeinheit zugunsten individuellen Glücks zu
11
Während perspektivisch angelegte Ethikbetrachtungen zur Sozialen Arbeit bisher nur entweder summarisch (Baum, 1996) oder in Vorauswahl (Eisenmann, 2006) ethische Bezugspunkte präsentieren, ohne dabei irgendeine — ohnehin schwer zu rechfertigende - Systematik zu entfalten, ergibt sich hier wiederum ein topologsches Verständnis, das umgekehrt von einem Bezugspunkt Soziale Arbeit aus gewissermaßen eine ethische Landkarte zeichnen lässt.
12
Schon die Epen Homers demonstrieren - durch den Erfolg der Achaier über die Trojaner (vgl. Homers Ilias) und die Heimkehr des Odysseus (vgl. Homers Odyssee) - wie Wege durch das Unwägbare führen, wenn Plan und Tatkraft Risiken des Scheiterns vermindern. Homer liefert damit ein Grundmuster für die antiken Ethiküberlegungen, das Erfolg und Misserfolg als Grundkategorien menschlichen Handelns begreifen lässt. In der daran anknüpfenden philosophischen Analyse werden zwar Inhalte erwogen und Kriterien verfeinert; bis heute aber definiert sich richtiges Handeln durchgängig über seinen Erfolg.
13
Das Kriterium geht in der Formulierung „the greatest happiness for the greatest numbers" auf eine Überlegung von Francis Hutcheson (1694-1746) zurück (vgl. dazu Schräder, 1984, S. 96) und ist in Verbindung zu sehen mit dem Utilitarismuskonzept von John Stuart Mill (1806-1873), der darin notiert: „Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken." Vgl. dazu Mill im 2. Kapitel seines 1871 in der Endfassung erschienenen Essays XJtilitarianisnr, für das Zitat siehe John Stuart Mill. Der Utilitarismus, übers, v. D. Birnbacher, Stuttgart 1985, S. 13.
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belasten, findet im Utilitarismus keinen Halt; und spitzfindig dazu überzugehen nachzuweisen, dass solche Einzelmaßnahmen das Glück aller ä la longue vergrößern, bedeutet nur, sich auf eine große Schwäche des utilitaristischen Ansatzes einzulassen: Denn auf der Suche nach dem maximalen Glück — der besten aller möglichen Varianten — droht die Gefahr, sich in immer mehr Details zu verstricken, bis keine Entscheidung mehr tragbar erscheint. Diesem Haupteinwand gegen den Utilitarismus treten eine Reihe weiterer Kritikpunkte zur Seite, die alle auch im Sozialarbeitsdenken greifen. So ist z. B. Glück nicht notwendig und schon gar nicht derart absolut zum Ethikkriterium zu erheben. Zwar ist nachvollziehbar, dass einer für sich das Beste will, aber ob das dazu Anvisierte immer jeder als Glück bezeichnen würde, muss dahin gestellt bleiben; Glücksvorstellungen wiederum zu normieren, stellt vor das Problem der Berücksichtigung kultureller Unterschiede und kann am Ende immer nur als Entmündigung verstanden werden. Dies darf als Kern auch einer Polemik Friedrich Nietzsches (1844-1900) gegen den Utilitarismus angesehen werden, die unterstellt: „Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das." 14 Als besondere Schwierigkeit Sozialer Arbeit mit utilitaristischer Argumentation aber ist die Frage nach dem Menschenwert zu betrachten, den der Utilitätsansatz nur als Nutzen zu verbuchen weiß. Nützlichkeit, zum Kriterium erhoben, vermittelt Wert als Verwertbarkeit — eine Sichtweise, die ihre Grenze dort erreicht, wo Lebensumstände Menschen nicht nach ihrer Verwertbarkeit beziffern lassen. Das mag, zynisch gesprochen, für manche, ohne in Nazijargon zu verfallen, eine Frage der Relation sein; aber Soziale Arbeit, wenn sie ihr Hilfeanliegen ernst nimmt und sich von diesem tragen und leiten lässt, ist auch und ganz und vor allem für jene Menschen da, die der Gesellschaft mehr zu schaden als zu nützen scheinen. Sicherlich hat ihre Arbeit auch den Aspekt, einen befürchteten Schaden bzw. Belastungen für die Gemeinschaft zu begrenzen und, ideal gedacht, ins Gegenteil zu wenden; aber dieser Effekt prägt nicht den Zugang, der nie anders lauten kann, als Hilfe offen und damit auch denen anzubieten, die der Gemeinschaft vielleicht nie etwas zurückgeben können oder wollen. Eine ethische Haltung, die den Wert einer Handlung nur am Ergebnis bemisst, entwickelt kein Gespür für die Bedeutung des Weges, der zum Ergebnis führt. Auch wenn manche Zwecke, situativ betrachtet, jedes Mittel zu rechtfertigen scheinen,15 bleibt doch dann, wenn die Heiligung der Mittel durch den Zweck pauschal verstanden wird, die Wertebindung und damit im eigentlichen Sinn die Sittlichkeit menschlichen Handelns außen vor. Menschliches Handeln, das, ganz gleich, ob individuell oder kollektiv, nur auf den Nutzen aus ist, hat nicht nur ein Problem, diesen Nutzen prospektiv zu bestimmen, sondern es bleibt, in seiner Beliebigkeit bei der Wahl der Mittel, im Wortsinn wertlos. Folgt man dem dargelegten Argument
14
Vgl. Nietzsche in der Göt^endämmerung, München "1969, S. 944.
s. Friedrich Nietzsche. Werke, hg. v. K. Schlechta, Bd. 2,
Notwehr, die nach deutschem Recht auch dann nicht bestraft wird, wenn sie zum Tod des Angreifers führt (vgl. § 32, Abs. 1 StGB), wäre ein Beispiel dafür.
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(vgl. oben Kap. 4, Abschn. 4), dass es zu den Grundelementen von Zivilisation gehört, dass Menschen stets wertgebunden handeln, weil anders keine Verantwortlichkeit entsteht, die wiederum als Grundlage sozialer Zusammenhänge anzusehen ist, bleibt für den Utilitarismus nur der Geschmack des Widerspruchs. 16 Position Sozialer Arbeit kann es daher nicht sein, das gesellschaftliche Handeln über den Nutzenaspekt zu regulieren, sondern von ihrem Menschenverständnis her muss sie einen Ansatz suchen, der eine Wertebindung impliziert. Das schließt Nützlichkeitsüberlegungen nicht aus; aber zur Wegmarke der ethischen Orientierung wird, wenn man so will, ein philosophischer Gegenentwurf, der den Wert einer Handlung unabhängig von ihrem Nutzen betrachtet und entsprechend qualifizierte Handlungen auch dann empfiehlt, wenn sie keinen erkennbaren Profit beinhalten bzw. sogar Einschränkung bringen. Kerngedanke dabei ist, dass eine Handlung ungeachtet ihrer Folgen gut sein kann und deshalb einer ethisch zweifelhaften Handlung vorzuziehen ist, auch wenn diese einen größeren Nutzen zu erzielen verspricht. Der „gute Wille", in der Diktion Kants, regiert hier das Handeln und setzt das „praktische Gesetz" als Pflicht, „der jeder andere Bewegungsgrund weichen muß". 17 Das praktische Geset.^ aber, über den kategorischen Imperativ verstanden, macht deutlich, dass sich Handeln immer über sein Motiv und nie über seinen Effekt qualifiziert. 18 Ein solcher an sittliches Pflichtverständnis gebundener — deontologischer — Ansatz findet sich auch im Zusammenhang mit theologischen Überlegungen, etwa wenn Anselm von Canterbury (1033-1109) gerechtes Handeln als dasjenige herausstellt, bei dem man aus freier Entscheidung heraus das tut, was man tun soll. Auch er lehnt eine Nutzenbindung ab: „Die Rechtheit des Willens verliert auch dann nicht den Namen Gerechtigkeit, wenn sich das recht Gewollte als undurchführbar erweist." 19 Das spricht so mancher sozialarbeiterischen Handlungsabsicht aus der Seele. Ganz gleich, welcher Wertebezug gesehen wird: Ein deontologisches Ethikprinzip ist Sozialer Arbeit nicht fremd. Es spiegelt ihr Menschenbild, das einen Wert der Person aus sich selbst heraus und nicht über irgendeine Utilität gewährleistet und für das explizit auch schon Kant eintritt, wenn er den Imperativ auch folgendermaßen formuliert: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." 20
16
Ein entsprechender Hinweis findet sich wiederum bei Nietzsche im Nachlass der Acht^getjahre (s. Friedrich Nietzsche. Werke, hg. v. K. Schlechta, Bd. 3, München 6 1969, S. 484): „Der Utilitarismus ... kritisiert die Herkunft der moralischen Wertschätzungen, aber er glaubt an sie . . . "
17
Vgl. Kant, Grundlegung %ur Metaphysik derSitten\ s. Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. 4, Berlin 1968, S. 403.
18
Vgl. Kant in der Kritik der praktischen Vernunft,; s. Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. 5, Berlin 1968, S. 30: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."
19
Vgl. Anselm von Canterbury, De veritate, Kap. 12.
20
Vgl. Kant, Grundlegung %ur Metaphysik der Sitten', s. Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. 4, Berlin 1968, S. 429.
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3 Soziale Arbeit als Tugend Ethische Bestimmtheit kommt Sozialer Arbeit nicht aus Nützlichkeitserwägungen zu. Menschenbild und Gesellschaftsverständnis fordern dazu auf, von klaren Wertvorstellungen auszugehen, die sich wiederum maßgeblich auf den Autonomiegedanken und ein Prinzip der sozialen Verantwortlichkeit stützen. Der ökonomische Zusammenhang — als dritter Bezugspunkt — mahnt zwar ein KostenNutzen-Denken an, aber auch er rechtfertigt keine utilitaristische Ausrichtung: weder der Sozialen Arbeit noch der Gesellschaft im Ganzen, sondern dient als Folie für ein vernünftiges und zugleich realitätsbewusstes sozialstaatliches Handeln. Auch wirtschaftliches Denken braucht den Kulturkontext, in dem es sich entfalten kann, und dieser gibt soziale Werte vor, die jeden Nutzen resp. unternehmerischen Profit an Menschenwürde und Handlungsverantwortung zurückbinden. Der Gestaltungsspielraum mag weit sein — doch auch marktwirtschaftlich liberal agierende Gesellschaften können, wenn sie ein Gemeinwohl im Sinn haben, auf soziale Strukturprinzipien nicht verzichten. Es bleiben freilich kulturspezifische Merkmale, die diese sozialen Komponenten einfordern und legitimieren. Doch genau darin zeigt sich die Stärke einer Kultur, wenn es ihr gelingt, menschliches Zusammenleben so zu organisieren, dass nicht nur die Starken, sondern auch die Schwachen Daseinsperspektiven haben, die ihnen eine lebenswerte Zukunft eröffnen. Von der „Sozialkultur" spricht treffend Wolfgang Klug (2000, S. 176), die aus einem „gesellschaftlichen Grundkonsens" erwächst. Ökonomie ist Teil dieser Kultur. Der Zusammenhang ist abstrakt, und die Dynamik gesellschaftlicher Prozesse ist hoch. Es bleibt eine spannende Frage, mit welchen Kräften und Mechanismen eine Gesellschaft, die auf ihre kulturellen Wurzeln verwiesen ist, auf globale Veränderungen reagiert und wie sie Verlockungen widersteht, traditionell Gewachsenes und zugleich Bindendes allzu bereit für eine höhere, aber notwendig oberflächliche Flexibilität aufzugeben. Soziale Arbeit ist eines der Instrumente, doch ihre Kraft hängt davon ab, wie weit es ihr gelingt, für den gesellschaftlichen Rahmen, in dem sie wirkt, ethische Zuständigkeit und Kompetenz zu demonstrieren. Genau dies aber vermag sie, paradoxerweise, indem sie ihre Praxis auf die Hinwendung zum Einzelnen abstellt. Wichtige Bezugspunkte sozialarbeiterischer Ethik sind deutlich geworden: Neben theologischen Überlegungen sind Diskursgebot und Genderperspektive in den Blick getreten, ebenso die Bedeutung des kulturellen Horizonts; zuletzt markierten ein Gesellschaftverständnis und eine deontologische Ausrichtung inhaltliche Optionen, in die hinein Begriffe wie Autonomie, Verantwortung, Gerechtigkeit und Menschenwürde zu stellen waren. Gewendet aber auf den beruflichen Alltag und dessen komplexe Entscheidungs- und Handlungswirklichkeit, die nicht theoretisch, sondern konkret praktisch erfasst sein will, zeigt sich ein weiterer Schlüsselaspekt: Ethik Sozialer Arbeit bestimmt sich als Haltung. Die Haltung, um die es geht, kann, wenn sie ethisch überzeugend — und das heißt: in Einklang mit den aufgezeigten, wertorientierten Vorstellungen — vorgetragen wird, über die Soziale Arbeit exemplarisch ausgeformt und gleichsam archetypisch für alle gesellschaftlichen Handlungsfelder vorgetragen werden. Aus
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dem Beruf heraus erwächst gewissermaßen ein ethisches Vorbild, das als Einstellung zum Menschen und zum Wert tragfähiger sozialer Strukturen in jeden Gesellschaftsbereich hinein beliebig übertragen werden kann. Anders formuliert: Soziale Arbeit lebt mit ihrem Umgang mit Adressaten, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil sie auch staatliches Handeln repräsentiert, ein Idealbild öffentlicher sozialer Beziehungen vor, das von daher auch als ein wesentliches Merkmal professioneller Handlungsstrukturen angesehen werden kann. In den Wirren des Alltags mag es oft verfehlt werden bzw. immer wieder neu zu justieren sein; wo es aber erreicht wird, wirkt Soziale Arbeit, ethisch gesehen, als Tugend. Der Begriff der Tugend ist vieldeutig, auch etwas angestaubt;21 im Kern aber bezeichnet er eine Haltung, die allgemeine Anerkennung genießt. Aristoteles hebt die Haltung — zu verstehen auch als Eigenschaft) heraus, die man „loben kann", und notiert: „Eine lobenswerte Haltung aber wird Tugend genannt." 22 Aristoteles teilt das Tugendverständnis in einen Bereich, der die Haltung im Handeln im Blick hat und daher als „ethische Tugend" (äpeif) r | ö i T i K f j ) bezeichnet wird, und einen Bereich, der deutlich macht, dass auch im Denken Haltung eine Rolle spielt, und den er „Verstandestugend" (äpext) Ö K X V o r ) t i K f j ) nennt.23 Aufschlussreich ist noch, dass Aristoteles beide Bereiche, d. h., modern gesprochen, den Verhaltens- und den kognitiven Bereich in Hinblick auf die Ausbildung tugendhafter Merkmale als „Erziehungsarbeit" (epyov 7iaiöeia