BAND 67 Modalverben in der Kindersprache: Kognitive und linguistische Voraussetzungen für den Erwerb von epistemischem "können" 9783050087313, 9783050044330

Die vorliegende Studie befasst sich mit dem Erwerb der epistemischen Lesart des Modalverbs "können" in der Kin

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German Pages 239 [240] Year 2007

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BAND 67 Modalverben in der Kindersprache: Kognitive und linguistische Voraussetzungen für den Erwerb von epistemischem "können"
 9783050087313, 9783050044330

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Serge Doitchinov Modalverben in der Kindersprache

studia grammatica Herausgegeben von Manfred Bierwisch unter Mitwirkung von Hubert Haider, Stuttgart Paul Kiparsky, Stanford Angelika Kratzer, Amherst Jürgen Kunze, Berlin David Pesetsky, Cambridge (Massachusetts) Dieter Wunderlich, Düsseldorf

studia grammatica 67

Serge Doitchinov

IVIodalverben in der Kindersprache Kognitive und linguistische Voraussetzungen für den Erwerb von epistemischem können

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004433-0 ISSN 0081-6469

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Druck und Bindung: MB Medienhaus Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis Tabellen und Abbildungen

7

1

Einleitung 1.1 Gegenstand der Arbeit 1.2 Aufbau der Arbeit

11 11 13

2

Theoretische Grundlagen 2.1 Zur MV-Semantik 2.2 Zur MV-Syntax 2.2.1 Zur Auxiliarhypothese 2.2.2 Zur Orientierungshypothese 2.2.3 Zur Konvergenzhypothese 2.3 MV und skalare ImpUkaturen 2.4 Zur präferierten Lesart einzelner MV-Konstruktionen

15 15 19 19 22 26 29 31

3

Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick 3.1 Langzeitstudien 3.1.1 Deutsch 3.1.2 Englisch 3.1.3 Weitere Sprachen: Griechisch, Polnisch und Französisch 3.2 Experimentelle Verstehensstudien 3.2.1 Zum Verstehen der epistemischen MV-Lesart 3.2.2 Zu anderen epistemischen Modalausdrücken 3.3 Zusammenfassung

37 38 38 43 50 55 55 71 75

4

Hypothesen zum MV-Erwerb 4.1 Die Unentscheidbarkeits-Hypothese 4.1.1 Zur Entwicklung einer repräsentationeilen ToM — Ein Exkurs . . 4.1.2 Zum Erwerb des Begriffes der epistemischen Unentscheidbarkeit 4.1.3 Fazit 4.2 Die Implikatur-Hypothese 4.3 Die Kontrast-Hypothese 4.4 Die Anhebungshypothese 4.5 Zusammenfassung

77 77 79 89 96 96 103 108 117

Inhaltsverzeichnis 5

Methodologische Fragen 119 5.1 Methodologische Vorüberlegungen 119 5.2 Experiment 1: kann sein, dass der Jungeins Haus gegangen ist." . . .126 5.2.1 Methode 126 5.2.2 Teilnehmer 133 5.2.3 Ergebnisse 133 5.2.4 Diskussion 140 5.3 Zusammenfassung 148

6

Die Unentscheidbarkeits- und die Implikatur-Hypothese 6.1 Experiment 2: Die Modalausdmck-, die Implikatur- und die Unentscheidbarkeits· Aufgabe 6.1.1 Methode 6.1.2 Teilnehmer 6.1.3 Ergebnisse 6.1.4 Diskussion 6.2 Experiment 3: Die Implikatur-Hypothese — Ein Nachtrag 6.2.1 Methode 6.2.2 Teilnehmer 6.2.3 Ergebnisse 6.2.4 Diskussion 6.3 Zusammenfassung

150 150 158 158 161 169 169 171 171 172 178

Die Kontrast- und die Anhebungshypothese 7.1 Experiment 4: ,3s kann sein, dass der Junge im Haus ist." 7.1.1 Methode 7.1.2 Teilnehmer 7.1.3 Ergebnisse 7.1.4 Diskussion

179 179 179 181 181 188

7.2

193

7

8

Zusammenfassung

Zusammenfassung

149

195

Anhang: Materialien für die Experimente

201

Literatur

223

Tabellen und Abbildungen Tab. 2.1 Abb. 1 Tab. 5.1 Tab. 5.2 Tab. 5.3 Tab. 5.4 Tab. 5.5 Tab. 5.6 Abb. 2 Abb. 3 Tab. 6.1 Abb. 4 Tab. 6.2 Tab. 6.3 Tab. 6.4 Tab. 6.5 Tab. 7.1 Tab. 7.2 Tab. 7.3 Tab. 7.4

Taxonomie dt. MV nach Kratzer (1991:650) Exp. 1: Bildgeschichten für den Testsatz Es kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist Exp. 1: Durchschnitt der erzielten Punkte Exp. 1 : Verhältnis der korrekten Antworten zwischen vielleicht und epist. können Exp. 1 : Verhältnis der korrekten Antworten zwischen vielleicht xmà scheinen Exp. 1 : Verhältnis der korrekten Antworten zwischen epist. können xind scheinen Exp. 1 : Durchschnitt der erzielten Punkte beim Kontrollexperiment Exp. 1 : Verhältnis der korrekten Antworten zwischen wahrscheinlich und wahrscheinlich, dass (Kontrollexperiment) Exp. 2: Bildgeschichten für den Testsatz Es kann sein, dass der Junge im Haus ist in der MA-Aufgabe Exp. 2: Bildergeschichte für die Implikatur-Aufgabe Exp. 2: Testsätze und Kombinationen aus möglichen Fortsetzungen für die Implikatur-Aufgabe Exp. 2: Bilder für die Unentscheidbarkeits-Aufgabe Exp. 2: Durchschnitt der erzielten Punkte Exp. 2: Höhe und Signifikanz der herauspartialisierten Korrelationen Exp. 3 : Testfälle in der TVJ-Aufgabe Exp. 3: Anzahl der Kinder, die die jeweilige Aufgabe gelöst haben Exp. 4: Durchschnitt der erzielten Punkte Exp. 4: Verhältnis der korrekten Antworten zwischen vielleicht und es kann sein, dass+präs. Exp. 4: Verhältnis der korrekten Antworten zwischen vielleicht und der Junge kann Exp. 4: Verhältnis der korrekten Antworten zwischen es kann sein, dassund der Junge капп+^ет

19 130 135 136 137 138 139 140 151 153 154 156 159 161 170 171 182 183 185 185

Vorwort Die vorliegende Arbeit stellt eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im November 2005 von der Universität Tübingen angenommen wurde. An ihrer Verwirklichung haben viele Personen mitgewirkt. Der Anteil, den meine Betreuerin Veronika Ehrich am Gelingen dieser Arbeit hat, kann nicht hoch genug geschätzt werden: Durch sie habe ich meine Liebe zum Spracherwerb entdeckt, und erst ihre sachliche Kompetenz, ihre herzliche Art und ihre Geduld haben das Zustandekommen dieser Arbeit ermöglicht. Dafür danke ich ihr von Herzen. Mein besonderer Dank gilt Marga Reis, die die Entwicklung dieser Arbeit fortlaufend unterstützt und mir mit ihrem guten Rat stets zur Seite gestanden hat. Ich möchte auch den weiteren Gutachtern meiner Dissertation, Wolfgang Klein und Tanja Anstatt danken, die durch ihre konstruktive Kritik an der ersten Fassung zur Verbesserang dieser Arbeit in wichtigen Punkten beigetragen haben. Es wird zu Recht behauptet, die Promotion gleiche einer einsamen Reise durch die Wüste. Das stimmt in meinem Fall aber nur zum Teil, da ich das Privileg hatte, in einer Oase arbeiten zu dürfen. Meinen vielen Kollegen des SFB 441 ,X.inguistische Datenstrakturen" sei dafür herzlichst gedankt, insbesondere allen Mitarbeitern der Grappe B3 ,Alodalverben und Modalität im Deutschen" : Daniel Holl, Dirk Wiebel, Reimar Müller, Sergej N. Kulakow und vor allem Katrin Axel. In diesem Umfeld fand ich immer Gesprächspartner, die bereit waren, mir mit ihren Fachkenntnissen zu unterstützen. Für ihre technische Unterstützung möchte ich mich auch bei Matthias Frühauf (Korrekturen), Frank Schlosser (Hilfe bei der Durchführang der Experimente), Babara Dillenburger (Zeichnungen) bedanken. Mein Dank gilt auch den Kindern, die an den Experimenten teilgenommen haben, ihren Eltern, den Erzieherinnen, sowie den verschiedenen Behörden, die mir erlaubt haben, in Schulen bzw. Kindergärten zu arbeiten. Last but not least, möchte ich mich auch bei meiner Familie herzlichst bedanken, die mich ermutigt hat, diese Arbeit zu beginnen (und vor allem zu beenden).

Kapitel 1

Einleitung 1.1

Gegenstand der Arbeit

Von Voltaire stammt der Spruch, vielleicht würde bei Diplomaten immer ,^iein" bedeuten, bei Frauen dagegen immer ,ja". Schön und gut! Was aber meinen Kinder, wenn sie epistemische Ausdrücke verwenden? Und wie verstehen sie solche Ausdrücke? Diese Antworten blieb uns der Philosoph schuldig. Also müssen sie empirisch erarbeitet werden. Diese Arbeit steht ganz im Sinne dieses Desiderats: In einer Reihe von vier Verstehensexperimenten mit Kindern zwischen sechs und zehn Jahren soll der Frage nachgegangen werden, welche Unguistischen und kognitiven Voraussetzungen dem Erwerb der epistemischen Lesart von können — und verwandten Ausdrücken, wie eben vielleicht— zugrunde liegen. Angesichts der Eigenschaften der deutschen Modalverben (= MV) stellt der Erwerb ihrer Bedeutung das Kind — und infolgedessen auch die Spracherwerbsforschung — vor eine Vielzahl von Herausforderungen. Diese betreffen sowohl seine kognitive Entwicklung als auch seine sprachliche Kompetenz: Es ist zu erwarten, dass der Erwerb von epistemischen Bedeutungen mit der Entwicklung einer ganzen Reihe von kognitiven Fähigkeiten einhergeht, wie z.B. der Entwicklung einer repräsentationeilen Theory of Mind, des Wahrscheinlichkeitsbegriffs und der Fähigkeit, epistemische Inferenzen zu vollziehen — um nur die wichtigsten an dieser Stelle zu nennen. Die MV besitzen aber auch verschiedene linguistische Eigenschaften, die sie teilweise stark von ihren Systemkonkurrenten (mentale Verben, Satzadverbien usw.) unterscheiden und die möglicherweise auch einen wesentlichen Einfluss auf den Erwerb ihrer epistemischen Bedeutung haben: (i) Lexikalisch-semantisch sind alle MV — und das unterscheidet sie wesentlich von ihren Systemkonkurrenten — polyfunktional, (ii) Was ihre syntaktischen Eigenschaften betrifft, wird in der Literatur oft diskutiert, ob die MVPolyfunktionalität eine Entsprechung in der Syntax hat (Stichtworte: Anhebung/Kontrolle, Kohärenz, AuxiUarität; s. dazu die Diskussion unter 2.2). (iii) Auch die pragmatischen MV-Eigenschaften stellen für das Kind eine besondere Herausforderung dar: MV sind skalare Ausdrücke, die entsprechende Implikaturen auslösen.

12

1. Einleitung

Diese kurze Auflistung der linguistischen MV-Eigenschaften beinhaltet also eine ganze Reihe von Fragen in Bezug auf den MV-Erwerb, die bis heute weitgehend unbeantwortet geblieben sind: Erschwert die MV-Polyfunktionalität den Erwerb der epistemischen MV-Lesart? Ist der Erwerb von Kontrolle und Anhebung eine Voraussetzung für die Ontogenese der epistemischen MV-Lesart? Hängt der Erwerb der MV-Bedeutung von der Fähigkeit ab, skalare Implikaturen zu erkennen? Die Entwicklung epistemischer Ausdrücke in der Kindersprache wurde bis heute hauptsächlich aus entwicklungspsychologischer Perspektive untersucht, mit der Folge, dass die hier erwähnten linguistischen MV-Eigenschaften nur unzureichend berücksichtigt wurden. Vor allem Jean Piaget und Berbel Inhelder (s. u. a. Piaget & Inhelder [1951] 1975; Inhelder & Piaget [1955] 1958) legten in den fünfziger Jahren den Grundstein für die Erforschung der Entwicklung des Notwendigkeits- und des Möglichkeitsbegriffs beim Kind. In Arbeiten, die in dieser Tradition stehen, wurde das Verstehen epistemischer Sätze in experimentellen Situationen lediglich dazu verwendet, neue Erkenntnisse über die kindlichen Fähigkeiten beim Verstehen logischer Schlüsse (Pieraut-Le Bonniec 1980) oder über die Entwicklung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs beim Kind (Green 1979) zu gewinnen. In diesen Arbeiten fanden die linguistischen Faktoren, die den Erwerb epistemischer Ausdrücke mitsteuem, kaum Beachtung: Ganz im Sinne der Piaget'schen Epistemologie wurde die Sprache lediglich als Spiegel der kindlichen Kognition betrachtet (s. dazu unter 4.1.2). Obwohl in den neunziger Jahren die Forschung zur Entwicklung einer Theory of Mind zunehmend ein Augenmerk auf die Rolle der Sprache bei dieser Entwicklung gelegt hat, fanden die MV im Unterschied zu den mentalen Verben und ihrer finiten Komplementation weiterhin nur wenig Beachtung (s. dazu unter 4.1.1). Wenngleich die besonderen syntaktischen und semantischen Klasseneigenschaften der MV in der synchron-systematischen Literatur immer wieder hervorgehoben und diskutiert wurden, sind die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Aspekte des MVErwerbs auch in den linguistisch orientierten Arbeiten zum MV-Erwerb bis heute größtenteils unbeleuchtet geblieben. Diese Arbeiten haben sich vor allem auf die Frage konzentriert, wann welche Lesart erworben wird, und weniger auf die Frage, inwieweit diese besonderen Klasseneigenschaften einen spezifischen Einfluss auf den MV-Erwerb im Vergleich zu anderen Modalausdrücken ausüben (s. dazu Kap. 3). Die Untersuchung — nicht nur aus ontogenetischer Perspektive — dieser MV-Klasseneigenschaften stand im Mittelpunkt des zwischen 1999 und 2004 von der DFG geförderten Projekts ,JVIodalverben und Modalität im Deutschen" unter der Leitung von Veronika Ehrich und Marga Reis, in dessen Rahmen diese Arbeit entstanden ist.' Während das Problem der MV-Klasseneigenschaften in Bezug auf den Spracherwerb in Ehrich (2004b, 2005) anhand longitudinaler Koφus-Daten behandelt wurde, wird es in der hier vorliegenden Arbeit ausschließlich mittels experimenteller Verstehensdaten untersucht. 1 Das Projekt wurde von der DFG als Teilprojekt des Tübinger Sonderforschungsbereichs 441 . l i n guistische Datenstrukturen: Theoretische und empirische Grundlagen der Grammatikforschung" gefördert.

1.2 Aufbau der Arbeit

13

Zusammenfassend formuliert, sollen durch diese Arbeit also die kognitiven und die linguistischen Voraussetzungen für den Erwerb der epistemischen MV-Lesart mittels der experimentellen Methode umfassend rekonstruiert werden. Die Experimente werden exemplarisch an können und einigen seiner Systemkonkurrenten durchgeführt.

1.2

Aufbau der Arbeit

Diese Arbeit ist wie folgt geghedert: In Kapitel 2 werden in einer kurzen Übersicht die wichtigsten syntaktischen, semantischen und pragmatischen Eigenschaften der deutschen MV dargestellt, die dem empirischen Teil der Arbeit zugrunde gelegt werden. Dabei wird besonderes Augenmerk auf folgende MV-Eigenschaften gelegt: (i) Was die MV-Semantik betrifft, wird — Kratzer (1976,1981,1991) folgend — gezeigt, dass die MV-Polyfunktionalität in der Unterscheidung zwischen der zirkumstantiellen und der epistemischen Lesart begründet ist. (ii) Die Diskussion der syntaktischen MV-Eigenschaften orientiert sich vor allem an der Frage, ob die MV-Polyfunktionalität ein syntaktisches Korrelat hat. Reis (2001) folgend, wird in diesem Zusammenhang die Position vertreten, dass die deutschen MV keine Auxiliare sind, dass Anhebung möglicherweise eine notwendige Bedingung der epistemischen MVLesart ist und dass die Polyfunktionalität mit der Eigenschaft deutscher MV als Auslöser von starker Kohärenz einhergeht. Kapitel 3 bietet eine umfangreiche Darstellung des Standes der Forschung zur MVOntogenese. Während im ersten Teil des Kapitels die Ergebnisse von Langzeitstudien zum MV-Erwerb im Deutschen und in einigen weiteren Sprachen (Englisch, Französisch, Polnisch und Griechisch) vorgestellt werden, die sich vor allem auf die Altersspanne zwischen zwei und vier Jahren konzentrieren, werden im zweiten Teil des Kapitels die Ergebnisse experimenteller Studien zum Verstehen der epistemischen MV-Lesart und anderer epistemischer Ausdrücke kritisch besprochen, nicht zuletzt auch aus methodologischer Sicht. Aus dieser kritischen Diskussion werden sich die zwei Hauptfragestellungen des empirischen Teils dieser Arbeit herauskristallisieren: (i) Warum wird die epistemische Lesart von können kaum vor 8;0 vollständig erworben? (ii) Warum wird sie später erworben als manche der epistemischen Konkurrenten von können! In Kapitel 4 werden die in der experimentellen Untersuchung überprüften linguistischen und kognitiven Hypothesen zum Erwerb der epistemischen fcönnen-Lesart vorgestellt und ausführlich begründet. Insgesamt werden vier Hypothesen formuliert: Die Unentscheidbarkeits- und die Implikatur-Hypothese bieten eine Antwort auf die Fragestellung (i) dieser Arbeit an (s. o.). Die Unentscheidbarkeits-Hypothese führt den späten Erwerb der epistemischen MV-Lesart auf die mangelnde Fähigkeit von Vor- und Grundschulkindem zurück, epistemische Inferenzen zu vollziehen. Die Implikatur-Hypothese geht dagegen davon aus, dass Vor- und Grundschulkinder skalare Implikaturen nicht in demselben Maße wie Erwachsene erkennen. Die Kontrast- und die Anhebungshypothese ihrerseits geben Antworten auf die Fragestellung (ii) — nämlich warum epistemisches können später erworben wird als einige seiner Systemkonkurrenten wie etwa vielleicht. Die Kontrast-Hypothese führt diesen späte-

14

1. Einleitung

ren Erwerb auf verschiedene Einschränkungen zurück, die den Lexikon-Erwerb steuern. Die Anhebungshypothese dagegen besagt, dass die epistemische MV-Lesart erst dann erworben werden kann, wenn das Kind die semantischen Voraussetzungen und die syntaktischen Mechanismen von Anhebung erlernt hat — Voraussetzungen, die keine Rolle beim Erwerb von Satzadverbialen oder mentalen Verben spielen. Die Kapitel 5 bis 7 stellen den empirischen Teil dieser Arbeit dar. Die vier Experimente dieser Arbeit dienen natürlich in erster Linie der Übeφгüfung der Gültigkeit der in Kap. 4 aufgestellten Hypothesen. Kapitel 5 widmet sich in erster Linie methodologischen Fragen. In Experiment 1 soll weniger die Gültigkeit der zuvor aufgestellten Hypothesen getestet werden, vielmehr wird das in dieser Arbeit verwendete Testverfahren auf seine Tauglichkeit zur Überprüfung jener Hypothesen überprüft. Im Mittelpunkt dieses Experiments steht neben dem Verstehen von epistemischen kônnenS'éXztn auch dasjenige von rein zirkumstantiellen. Nur dadurch kann festgestellt werden, ob die untersuchten Kinder im Rahmen der Testmethode unterschiedliche Verhaltensweisen aufweisen, je nachdem, wie sie den Testsatz interpretiert haben. Kapitel 6 und 7 bilden den Kem dieser Arbeit: Kapitel 6 stellt die Ergebnisse der Experimente 2 und 3 dar, die sich mit den kognitiven Voraussetzungen (Unentscheidbarkeits-Hypothese) und der Rolle der Berechnung von skalaren Implikaturen beim Verstehen schwacher epistemischer Ausdrücke beschäftigen. Experiment 2 stellt die Kinder vor drei Aufgaben: In der ersten Aufgabe wird ihr Verständnis von epistemischen Sätzen mit können und vielleicht untersucht; in der zweiten, welche Lesart von skalaren Ausdrücken die Kinder präferieren; und in der dritten, ob sie dazu fähig sind, zu erkennen, wann sie über nicht genügend Evidenz verfügen, um über das Bestehen eines Sachverhalts entscheiden zu können. Nur dadurch, dass alle drei Aufgaben mit denselben Kindern durchgeführt werden, ist es möglich, den genauen Grund zu ermitteln, warum 6- bis 8-Jährige epistemisches können oft falsch interpretieren. Kapitel 7 widmet sich mit dem Experiment 4 der Überprüfung der Kontrast- und der Anhebungshypothese. Dabei wird mit der in Kap. 5 vorgeschlagenen Methode das Verstehen von verschiedenen epistemischen Satzkonstruktionen mit können sowie von vielleicht-Sätzen getestet. Nach der Kontrast-Hypothese sind vielleicht-Sätze leichter zu verstehen als epistemische können-Sätze. Die Anhebungshypothese ihrerseits besagt, dass können-Fomien, die von ihrer Oberflächenstruktur her leicht als Kontrollkonstruktionen fehlinteφretiert werden können, nicht epistemisch verstanden werden, solange die Kinder nicht über Anhebung verfügen. Kapitel 8 bietet schließlich eine umfassende Zusammenfassung der Hauptergebnisse dieser Arbeit.

Kapitel 2

Theoretische Grundlagen In diesem Kapitel werden die wichtigsten semantischen, syntaktischen und pragmatischen Eigenschaften der deutschen MV kurz dargestellt. Da es sich hier um eine Arbeit zur MV-Ontogenese handelt, beschränkt sich die Darstellung auf die wesentlichen Aspekte der MV-Eigenschaften, die für den empirischen Teil der Arbeit relevant sind. In der Literatur ist weitgehend unumstritten, dass die sechs Verben in (la) die Kemgruppe der deutschen MV bilden.' Zusätzlich werden aber oft die fünf Verben in (Ib) ebenfalls zur Gruppe der MV dazugerechnet:^ (1)

2.1

a. müssen, können, mögen, sollen, άϋφη und wollen. b. mächt-, (nicht) brauchen, werden, würde und lassen.

Zur MV-Semantik

Charakteristisch für die Semantik aller MV ist — und darüber herrscht Einigkeit in der Forschung —, (i) dass sie den denotierten Sachverhalt nicht als faktisch darstellen, d. h. dass sie eine modale Bedeutung haben, und (ii) dass sie eine ganze Vielzahl von Bedeutungen bzw. Bedeutungsvarianten aufweisen, wie (2) zeigt: (2)

a. Niko kann jetzt schwimmen. [Er hat es im Kindergarten gelernt.] b. Niko kann an dieser Stelle schwimmen. c. Niko kann bis zum Ufer geschwommen sein.

In (2a) wird kann in der Fähigkeitslesart verwendet, weil es ausdrückt, dass Niko die Fähigkeit hat, zu schwimmen; (2b) kann deontisch verstanden werden, weil es durchaus eine Erlaubnis ausdrücken kann; und der „Witz von (2c)" (Reis 2001:288) ist, dass

1 Lediglich Wurmbrandt (2001) schließt wollen aus der Kemgruppe der MV aus. 2 Welche Autoren welche Verben in (ib) als MV betrachten, wird in Öhlschläger (1989: 2f.) ausführlich dargestellt.

16

2. Theoretische Grundlagen

sich die ausgedrüciite Möglichkeit nicht mehr auf Umstände in der Welt bezieht, sondern als eine Vermutung des Sprechers zu erfassen ist: Kann wird hier epistemisch verwendet. Wo sich die Geister der MV-Forschung jedoch scheiden, ist (i) die Ermittlung und vor allem die Gruppierung der verschiedenen MV-Bedeutungsvarianten und (ii) die Frage, ob es sich bei den MV — angesichts ihrer Bedeutungsvielfalt — um einen Fall von Mehrdeutigkeit, Polysemie oder Polyfunktionalität handelt. Zu (i): Man stößt in der Literatur immer wieder auf die Unterscheidung zwischen der epistemischen/evidentiellen MV-Lesart (wie in (2c)) einerseits und den verschiedenen nicht-epistemischen MV-Lesarten andererseits (u. a. (2a,b)). Die epistemische Modalität gibt den Standpunkt des Sprechers hinsichtlich des Wahrheitswerts der Proposition. Sie drückt also den Grad an Sicherheit des Sprechers hinsichtlich des Bestehens eines Sachverhalts aus. In epistemischer Lesart lässt sich (2c) etwa durch die Paraphrase in (3) umschreiben: (3)

Ich [der Sprecher] halte für möglich, dass Niko bis zum Ufer geschwommen ist.

Wie Öhlschläger (1989:28f.) zu Recht bemerkt, sind die nicht-epistemischen Modalitäten schwieriger positiv zu bestimmen als die epistemischen. In der hier vorliegenden Arbeit werden sie alle unter dem Begriff der zirkumstantiellen Modalität zusammengefasst. Die zirkumstantielle Modalität kann am besten als Ausdruck von Notwendigkeit und Möglichkeit in der realen Welt (in Opposition zum Sprecher-Bezug der epistemischen Modalität) aufgefasst werden. Bei der zirkumstantiellen Modalität gibt die ausgedrückte Modalität nicht direkt die Einstellung des Sprechers in Bezug auf das Bestehen des Sachverhalts wieder, sondern sie bezieht sich auf das grammatische Subjekt des Satzes (Raynaud 1976:228f., Kratzer 1991). (2a,b) in zirkumstantieller Lesart lassen sich nach dieser Definition etwa durch folgende Paraphrase wiedergeben: (4)

Es ist für Niko möglich zu schwimmen.

In (4) bezieht sich die Möglichkeit auf Niko (= Nikos Beschaffenheit, bzw. eine Erlaubnis, die Niko erteilt wurde) und nicht auf die epistemische Einstellung des Sprechers. Die deontische, die buletische, die realistische, die dispositionelle Lesart, usw. sind demzufolge als Varianten der zirkumstantiellen Modalität aufzufassen. Zu (ii): Dieser Arbeit wird Kratzers (1976,1981,1991) Ansatz zugrunde gelegt, weil er am besten geeignet ist, die unter (i) eingeführten Differenzierungen zu erfassen. Auf die Pionierarbeiten von Bech (1949, 1951) aufbauend, analysiert Kratzer (1976, 1981, 1991) die MV-Bedeutung im Rahmen einer Möglichen-Welt-Semantik. Dabei verfolgt sie einen unitarischen Ansatz, wonach alle MV jeweils eine invariable Grundbedeutung teilen. Die verschiedenen Lesarten eines MV entstehen durch den Bezug dieser Grundbedeutung auf jeweils unterschiedliche Redehintergründe. Ein Redehintergrand wird als eine Menge A von Propositionen definiert, relativ zu der ein Sachverhalt ρ als notwendig bzw. möglich eingestuft wird. Ein epistemischer Redehintergrund ist also eine Menge von Propositionen, die das in einer gegebenen Welt w zugängliche Wissen wiedergeben. Dementsprechend ist ein deontischer Redehintergrand eine Menge von Propositionen, welche die in einer gegebenen Welt w gültigen Vorschriften wiedergeben. Ein buletischer Hintergrand ist eine Menge von Propositionen, die die Wünsche und Präferen-

2.1 Zur MV-Semantik

Π

zen einer Person (Gruppe, Gesellschaft usw.) wiedergeben. Formal ausgedrückt: Kratzer definiert den Redehintergrund als eine Funktion f, die einer Welt w eine Menge A von Propositionen ρ zuordnet (f(w) = A). In Kratzer (1991) wird die MV-Bedeutung durch drei Dimensionen erfasst: (i) Die modale Kraft {modal force), (ii) die modale Basis (modal base) und (iii) die Quelle der Ordnung (ordering source). Die modale Kraft bildet die invariante Kembedeutung eines jeden MV (= den semantischen Teil seiner Bedeutung). Jedes MV fungiert als ein Modaloperator, der entweder eine Notwendigkeit oder eine Möglichkeit ausdrückt, die jeweils gradiert sein können (Kratzer 1991:643f.). So drückt z.B. müssen eine Notwendigkeit, dürfte und sollen eine schwache Notwendigkeit, können eine Möglichkeit und wird eine geringe Möglichkeit aus. Notwendigkeit und Möglichkeit werden wie folgt definiert:^ Eine Proposition ρ ist notwendig relativ zu einer Menge A von Propositionen (= einem Redehintergrund), wenn ρ aus A f o l g t , u n d eine Proposition ρ ist möglich relativ zu A, wenn ρ mit A kompatibel^ ist. Demnach gilt für jeden Satz α und jeden Redehintergrund f(nach Kratzer 1991:641): (5)

a. b.

[muss a]^: {w G W : folgt aus f(w)} [kann θίγ·. {w G W : [α]^ ist verträglich mit f(w)}

Wie die Definition der modalen Kraft gezeigt hat, wird die MV-Modalität immer in Relation zu Redehintergriinden ausgedrückt: der modalen Basis und der Quelle der Ordnung. Sowohl die modale Basis als auch die Quelle der Ordnung sind jeweils Redehintergründe, also Funktionen f, die einer Welt w € W eine Menge A von Propositionen zuordnen. Die dem Kontext angemessene Deutung des MV entsteht aus dem Zusammenspiel der modalen Basis und der Quelle der Ordnung, was im Folgenden kurz erläutert werden soll. Kratzer unterscheidet zwischen zwei verschiedenen modalen Basen: (i) der epistemischen und (ii) der zirkumstantiellen.^ Die modale Basis entspricht der oben eingeführten Definition des epistemischen Redehintergrunds: Sie ist die Menge der Propositionen, die das in einer gegebenen Welt w zugängliche Wissen des Sprechers wiedergibt. Die zirkumstantielle modale Basis ist ihrerseits die Menge der Propositionen, die die in einer gegebenen Welt zugänglichen Fakten wiedergibt. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf die Definition der einfachen Notwendigkeit und Möglichkeit. Zur Definition der verschiedenen Gradierungen der modalen Kraft s. Kratzer (1991:643ff.). Eine Proposition ρ folgt aus einer Menge von Propositionen A, gdw. wenn ρ in allen den Welten wahr ist, in denen alle Propositionen aus A wahr sind. Eine Proposition ρ ist kompatibel mit einer Menge von Propositionen A, gdw. ρ U A konsistent ist. Dabei ist eine Menge A von Propositionen ρ konsistent, gdw. es mindestens eine Welt w gibt, in der alle Propositionen aus A wahr sind. Kratzer berücksichtigt keine selbstständige evidentielle modale Basis. Die evidentielle Lesart wird durch eine leere modale Basis in Verbindung mit einer quotativen Quelle der Ordnung erwirkt (Kratzer 1991:650). Einige Autoren (u.a. Öhlschläger 1989) sehen dagegen die evidentielle Lesart als Teil der epistemischen. Andere wie Westmoreland (1996) und Drubig (2001) argumentieren umgekehrt dafür, dass die epistemische Lesart als Variante der evidentiellen zu betrachten ist. Ehrich (2001) plädiert — in Übereinstimmung mit de Haan (2001) — wiederum für die Annahme einer selbstständigen evidentiellen modalen Basis neben der epistemischen und der zirkumstantiellen.

18

2. Theoretische Grundlagen

Die Quelle der Ordnung etabliert eine Rangfolge (= die Ordnung) innerhalb der Menge der Welten der modalen Basis.^ Im Unterschied zur modalen Basis, bei der nur zwei mögliche Redehintergründe in Frage kommen, gibt es eine ganze Reihe von Redehintergründen, die als Quelle der Ordnung fungieren können: deontische (= die Pflichten von x), buletische (= die Wünsche von x), doxastische (= die Meinungen von x), dispositionelle (= die Eigenschaften von x), realistische (die Umstände der Welt), stereotypische (Propositionen, die einem normalen Verlauf der Ereignisse entsprechen) usw.. Während also eine deontische Quelle der Ordnung die Welten einer zirkumstantiellen Basis im Hinblick auf das ordnet, was die Pflichten bzw. Gesetze darstellen, ordnet ein stereotypischer Hintergrund die Welten einer epistemischen Basis nach dem Kriterium eines normalen Ablaufs der Ereignisse. Es ist dabei klar, dass nicht jede Quelle der Ordnung mit jeder modalen Basis verträglich ist: Während stereotypische und doxastische Redehintergründe nur als Quelle der Ordnung einer epistemischen Basis fungieren können, treten buletische, deontische, realistische und dispositionelle Hintergründe nur in Verbindung mit der zirkumstantiellen Basis auf. Nach der Definition der modalen Kraft, der modalen Basis und der Quelle der Ordnung kann (6) u. a. folgende Lesarten haben: (6)

Niko muss in die Schule gehen. a. Im Hinblick auf die Gesetzlage Deutschlands, muss Niko in die Schule gehen. b. Im Hinblick auf das vorhandene Wissen [des Sprechers] und einen normalen Ablauf der Dinge, muss Niko gerade dabei sein, in die Schule zu gehen.

(6) im Sinne von (6a) drückt eine Notwendigkeit (modale Kraft) aus, die relativ zu den Welten besteht, die im Hinblick auf die Umstände der realen Welt (zirkumstantielle Basis) Nikos Pflichten (deontische Quelle der Ordnung) entsprechen. In der Lesart (6b) wird in (6) natürlich ebenso eine Notwendigkeit ausgedrückt, die diesmal relativ zu den Welten besteht, die im Hinblick auf das vorhanden Sprecher-Wissen (epistemische Basis) einem normalen Verlauf der Ereignisse (stereotypische Quelle der Ordnung) entsprechen. Unter Berücksichtigung dieser drei Dimensionen lässt sich die in Tab.2.1 (s. nächste Seite) dargestellte Taxonomie der deutschen MV aufstellen. Mit der Unterscheidung zwischen der modalen Basis und der Quelle der Ordnung trägt Kratzer der in der Literatur immer wiederkehrenden Feststellung (s. o.) Rechnung, dass die Unterscheidung zwischen zirkumstantiell und epistemisch in Bezug auf die MVBedeutung von grundsätzlicherer Natur ist als z. B. die Unterscheidung zwischen der buletischen und der deontischen Lesart. Durch die Unterscheidung zwischen der modalen Basis und der Quelle der Ordnung wird klar, dass die sogenannte ,>Iehrdeutigkeit" der MV auf zwei verschiedenen Ebenen zu erfassen ist. Die primäre Ebene betrifft die Unterscheidung zwischen der epistemischen/evidentiellen Lesart einerseits und der zirkumstantiellen andererseits. Die sekundäre Ebene betrifft die jeweiligen Varianten derselben. 7

In der Möglichen-Welt-Semantik wird eine Proposition ρ als die Menge aller möglichen Welten w definiert, in denen ρ wahr ist. Eine Proposition ρ ist in einer Welt w wahr, gdw. w G p. Aus dieser Definition der Proposition folgt, dass ein Redehintergrund auch eine Menge von Welten ist.

2.2 Zur MV-Syntax

19

Tabelle 2.1: Taxonomie dt. MV nach Kratzer (1991:650) muss kann darf solli S0II2 wird dürfte

Modale Kraft Notwendigkeit Möglichkeit Möglichkeit Notwendigkeit Notwendigkeit schw. Notwendigkeit schw. Notwendigkeit

Modale Basis alle alle zirk. zirk. leer epist. epist.

Quelle der Ordnung alle alle deontisch, teleologisch buletisch quotativ doxastisch stereotypisch

Zusammenfassend lässt sich die MV-Bedeutung wie folgt erfassen: MV sind insofern polyfunktional, als sie grundsätzlich zwei Lesarten zulassen: Die zirkumstantielle und die epistemische/evidentielle.^ Von einer Mehrdeutigkeit kann nur die Rede sein — wenn überhaupt — hinsichthch der verschiedenen Varianten der epistemischen bzw. der zirkumstantiellen MV-Lesart.

2.2

Zur MV-Syntax

Ob und ggf. welches syntaktische Korrelat die MV-Polyfunktionalität hat, ist eine der meist diskutierten Fragen zur MV-Syntax. In den folgenden drei Abschnitten wird — Reis (2001) folgend — dafür argumentiert, dass die Polyfunktionalität deutscher MV weder mit einem Auxiliarstatus (Auxiliarhypothese) noch mit ihrer ,Orientierung' (Orientierungshypothese) korreliert, sondern mit der Eigenschaft der deutschen MV als Auslöser von obligatorischer Kohärenz mit 1. Status (Konvergenzhypothese).

2.2.1

Zur Auxiliarhypothese

In Anlehnung an die Forschung zu den englischen MV wird oft angenonunen, dass die deutschen MV keine Vollverben sind, sondern Auxiliare — zumindest in epistemischer Lesart. Darüber, dass die englischen MV Auxiliare sind und in einer funktionalen Position basisgeneriert werden, herrscht Einigkeit in der generativ orientierten Forschung (Kamenade 1999; Roberts & Roussou 1999): Englische MV können nur finit auftreten (7a), haben eine defektive Flexion (7b) und treten — im Unterschied zu den englischen Vollverben — systematisch links von der Negation not auf, ohne dabei ein do-Support zu benötigen (7c). Sie verhalten sich also wie die typischen Auxiliare be und have: Die MV hätten dann drei grundlegende Lesarten, wenn der evidentielle Redehintergrund als selbstständige Basis erfasst wird.

20

2. Theoretische Grundlagen (7)

a. *to may, *to must, *to can. b. *He/she mays/musts/cans/musted. c. cannot, must not, *work not, *see not, do not work, do not see.

In Anlehnung an Cinque (1999) wird in generativen Ansätzen oft angenommen, dass die MV-Polyfunktionalität mit einer Basisgenerierung der MV in unterschiedlich hohen funktionalen Projektionen korreliert, wobei zirkumstantielle MV in einer tieferen Projektion angesiedelt werden als epistemische. So z. B. analysiert Butler (2003) die englischen MV als propositionale Operatoren, die entweder in der fP-Phrase (zirkumstantiell) oder in der CP-Phrase (epistemisch) generiert werden.^ In den letzten Jahren wurde eine ähnliche Analyse für die deutschen MV vorgeschlagen (Wurmbrandt 2001; Abraham 2001; Durbin & Sprouse 2001). So z. В. unterscheidet Wurmbrandt (2001:183, Bsp. 139) zwischen zwei Klassen von Modalen: Die MV in zirkumstantieller Lesart werden oberhalb der uP in ModP generiert, während sie in epistemischer Lesart in einer höheren Position als Kopf der AuxP erzeugt werden:'® (8)

AuxP

o: epistemic

Modo: root Als empirische Evidenz für die Auxiliarhypothese im Deutschen werden zwei Hauptargumente eingeführt: (i) die Flexion der deutschen MV ist defizitär: Keine Imperativform (9a) und Abwesenheit einer Vergangenheitsform für die epistemische Lesart (9b) (Diewald 1999; Abraham 2001; Durbin & Sprouse 2001). (ii) Epistemische MV können nicht in einer infiniten Form auftreten (=,Jnfinitheitslücke") (9c). (9)

9

a. *Kann! b. Niko konnte schwimmen. c. Schwimmen zu können, ist schön.

(* für epist.) (* für epist.)

Die Auxiliarhypothese findet ein großes Echo nicht nur in generativen Ansätzen, sondern sie hat auch eine lange Tradition im Grammatikahsierungsansatz. Dieser Ansatz nimmt an, dass sich die MV von Vollverben (zirkumstantielle Lesart) zu Auxiliaren (epistemische Lesart) grammatikalisiert haben (Gamon 1994; Heine 1995; Bybee, Perkins & Pagliuca 1994). Für das Deutsche wurde diese Position zuletzt von Diewald (1999) vertreten. Ihrer Ansicht nach haben sich die deutschen MV in epistemischer Lesart zu grammatischen Elementen entwickelt und gehören deshalb zum Modusparadigma (Diewald 1999: 167ff.). 10 Durbin & Sprouse (2001) argumentieren dagegen, dass die deutschen MV innerhalb der υΡ generiert werden. Durch die Ansiedlung der MV in vV soll der Tatsache Rechnung getragen werden — so die Autoren —, dass sich die deutschen MV mehr wie Vollverben verhalten als die englischen.

2.2 Zur MV-Syntax

21

Vor allem die Infinitheitslücke wird als starkes Zeichen dafür betrachtet, dass die deutschen MV in epistemischer Lesart — gleich den englischen — in einem funktionalen Kopf oberhalb der VP basisgeneriert werden (Abraham 2001). Reis (2001) zeigt jedoch, dass diese Argumentation nicht haltbar ist: Zu (i): Die MV haben zwar eine abweichende Flexion (,präteritopräsentische' Rexion), diese ist jedoch keinesfalls defizitär. Und dass MV nicht in imperativer Form auftreten können, hat semantische/historische Gründe, jedoch keine systematisch syntaktische (Reis 2001:291). Es handelt sich also hier um historisch erklärbare Gebrauchslücken und nicht um Folgen von Grammatikalisierung. Ferner ist die epistemische MV-Lesart im Präteritum zwar nur in erlebter Rede möglich (10a), aber die evidentielle Lesart kennt eine solche Restriktion überhaupt nicht (10b):" (10) a. b.

Peter konnte der Mörder gewesen sein. Peter wollte es mal nicht gewesen sein.

Reis (2001:291, Bsp. 6c)

Zu (ii): Auch die so genannte ,Jnfinitheitslücke" epistemischer MV-Varianten hält als Argument für einen Auxiliarstatus deutscher MV — zumindest in epistemischer Lesart— bei näherer Betrachtung nicht Stand. Zunächst hat diese Lücke offensichtliche Lücken, wie die Sätze in (11) belegen (Reis 2001:295f.): (11) a. b. c.

Nach allem, was ich weiß, hätte er da noch in Prag sein können. Der Verdacht, sich täuschen zu müssen, drängte sich auf. Er hätte sich aber schwer getäuscht haben müssen.

Gegen die Auxiliarhypothese argumentiert Reis (2001) weiter, dass sowohl finite als auch infinite MV-Sätze ähnliche distributionelle Restriktionen vorweisen wie finite und infinite Sätze ohne MV. Sie plädiert also für die Annahme, dass die ,Infinitheitslücke' epistemischer MV semantisch-pragmatisch bedingt ist, jedoch nicht auf syntaktische Restriktionen zurückzuführen ist. In selbstständigen finiten Sätzen kommen epistemische MV nur in Deklarativen (12a), Exklamativen (12b) und in Suggestivfragen (12c) vor, d. h. in Sätzen, mit denen in irgendeiner Form ein Wahrheitsanspruch erhoben wird. In Direktiven (12d), Fragesätzen (12e) und Optativen ( I i i ) dagegen ist eine epistemische MV-Inteφretation ausgeschlossen (alle Beispiele aus Reis 2001:296): (12) a. b. c. d. e. f.

Er muss Linguist sein. Wie zornig derjetzt sein muss! Könnte er nicht Linguist sein? Er muss bitte Linguist sein! Muss er Linguist sein? Ach wenn er Linguist sein könnte!

(y^epist.) (-v/epist.) (^/epist.) (*epist.) (*epist.) (*epist.)

Selbstständige infinite Sätze (auch ohne MV) kommen wiederum nur in Direktiven (13a), Expressiven (13b) und deontischen w-Fragen-Lesarten (13c), jedoch nie als Assertionen 11 Zur Möglichkeit der epistemischen Lesart mit MV im Perfekt und Präteritum s. auch Abraham (2001:15); Condoravdi (2002); Boogaart (2003,2004) und Stowell (2004a,b).

22

2. Theoretische

Grundlagen

vor. Ansonsten müssten sie in Verbindung mit faktizitätsbezogenenen Partikeln und Adverbien auftreten können, was aber ausgeschlossen ist, wie (13d) zeigt (alle Beispiele aus Reis 2001:297): (13) a. b. c. d.

Radfahrer abbiegen! Ach, noch einmal Venedig sehen! An wen sich (denn) wenden? Das Haus (*ja, *wohl, *vermutlich, *leider) vornehm einrichten.

Aus dem Paradigma in (12) und (13) zieht Reis (2001:297) den Schluss, dass es wenig erstaunlich ist, dass epistemische MV nie in selbstständigen Infinitivkonstruktionen vorkommen, da diese die für eine epistemische MV-Lesart unabdingbare assertive Illokution nicht zulassen (Beispiel aus Reis 2001:296): (14) Linguist sein müssen.

(-yzirk.;*epist.)

Ahnliches gilt auch für eingebettete Sätze (Beispiele aus Reis 2001:297): (15) Petra glaubt/sagt/folgert/argwöhnt/*bezweifelt/*bedauert, dass er deprimiert sein muss.

(* für epist.)

Auch hier ist es offensichtlich, dass die epistemische MV-Lesart in finiten eingebetteten Sätzen nur unter Verben des Sagens, Glaubens und unter inferenziellen Prädikaten vorkommen kann. Dass Gleiches auch für eingebettete infinite Konstraktionen gilt, hat schon (11) gezeigt. Zusammenfassend deuten die von Reis (2001) in (11) bis (15) herangezogenen Daten darauf hin, dass die Infinitheitslücke nicht syntaktisch durch MV-Auxiliarität bedingt ist, sondern dass die epistemische MV-Distribution semantisch-illokutiven Restriktionen unterliegt: Die epistemische Lesart kann nur unter einer assertiven Illokution vorkommen. Letztere ist aber in infiniten Sätzen nur selten realisierbar.

2.2.2

Zur Orientierungshypothese

In der Literatur wird oft die Meinung vertreten, die MV-Polyfunktionalität korreliere syntaktisch mit der ,Orientierang' (Bech 1955) der MV als Auslöser einer Anhebungs- bzw. Kontroll-Infinitivkomplementation. In einer Subjekt-Kontrollkonstmktion selegiert das Matrixverb sein Subjekt, und dieses kontrolliert die Subjektstelle des eingebetteten Satzes via PRO-Element (16a). In einer Anhebungskonstraktion dagegen vergibt das Matrixverb keine Θ-Rolle an sein Subjekt. Diese bekommt es vom eingebetteten Infinitiv. Es wird lediglich an die Subjektposition des Matrixsatzes angehoben, um mit dem Matrix verb zu kongruieren (16b). (16) a.

Marthai

b.

Martha¡

versucht,

[PROi

t_[e]_J Γ

t

Ί

scheint, [íj

t

einen dritten Teller Brei zu

essen]

[β]

1

einen dritten Teller Brei zu

essen]

[0]

1

2.2 Zur MV-Syntax

23

Der Hauptunterschied zwischen beiden Konstruktionen besteht also darin, dass das Matrixverb jeweils unterschiedliche Restriktionen in Bezug auf die Selektion seines Subjekts ausübt. In Bezug auf die MV werden in der generativen Literatur hauptsächlich zwei Positionen vertreten: (i) MV sind Kontrollverben in zirkumstantieller Lesart und Anhebungsverben in epistemischer Lesart. Diese Position, die für das Englische auf Ross (1969) zurückgeht, wird für das Deutsche vor allem von Stechow & Sternefeld (1988) und auch im Wesentlichen von Diewald (1999) vertreten, (ii) Im Gegensatz zu Position (i) nehmen Ohlschläger (1989) und Kiss (1995) an, dass die MV in Bezug auf ihre Orientierung in zwei distinkte Klassen eingeteilt werden müssen: Während können, müssen, dürfen, sollen und mögen unabhängig von der Lesart immer Anhebungsverben sind, lösen wollen und möcht- genauso unabhängig von der Lesart immer eine Kontrollkonstruktion aus. Ihr Unterscheidungskriterium ist also nicht der Unterschied [iepistemisch], sondern eher der Unterschied [ivolitiv].^^ Zu (i): Dass die Position (i) nicht haltbar ist, wurde von Ohlschläger (1989) und Kiss (1995) gezeigt. Wären können, dürfen, müssen, mögen und sollen in zirkumstantieller Lesart Kontrollverben, so sollten sie Restriktionen in Bezug auf die Selektion ihres Subjekts ausüben. Im Gegensatz dazu sollte wollen in evidentieller Lesart keinerlei Selektionsrestriktionen ausüben. Die klassischen Tests über Anhebung und Kontrolle zeigen jedoch, dass diese Erwartungen nicht zutreffen:'^ In zirkumstantieller Lesart erlauben können, müssen, dürfen, mögen und sollen expletive Subjekte, aber nur wenn diese vom eingebetteten Infinitiv selegiert werden (17a-c). Sie binden aber auch kein Subjekt an sich, das mit dem Infinitiv nicht verträglich wäre (17d). Diese MV in zirkumstantieller Lesart besitzen also kein eigenes thematisches Subjekt und sind völlig transparent für die Subjektsrestriktionen des Infinitivs. Dieses Verhalten ist typisch für Anhebungsverben (Beispiel (17b) aus Reis 2001:302 und (17c) aus Öhlschläger 1989: III): (17) a. b. c. d.

Es kann/muss regnen. Ihm kann leicht der Geduldsfaden reißen. Heute kann/darf/muss getanzt werden. *Es/*eine Muschel/Adam kann Rad fahren.

(zirk.) (zirk.) (zirk.) (zirk.)

Darüber hinaus weisen sie die für Anhebungsverben typische Aktiv-Passiv-Äquivalenz (= Beibehaltung der Wahrheitswerte trotz Aktiv-Passiv-Transformation) auf (Bsp. aus Reis 2001:302): (18) a. Den Fisch kann/darf/soll/muss man HIER räuchern. b. Der Fisch kann/darf/soll/muss HIER geräuchert werden.

(zirk.) (a=b)

12 Wurmbrandt (2001) vertritt die Auffassung, dass alle deutschen MV Anhebungsverben sind. Dementsprechend wird das Kriterium [±Anhebung] zum Hauptdefinitionsmerkmal der MV-Klasse. Konsequenterweise schließt Wurmbrandt wollen und möcht- aus der Юasse der MV aus. Ich betrachte hier Wurmbrandts Position als Variante von Position (ii). 13 Als Tests werden hier nur die Möglichkeit expletiver Subjekte und die Aktiv-Passiv-Äquivalenz dargestellt. Zu weiteren Tests s. Öhlschläger (1989:105-127) und Kiss (1995: 6ff.).

24

2. Theoretische Grundlagen

Agens-orientierte MV-Sätze, wie etwa in (19), scheinen jedoch Position (ii) in Frage zu stellen: (19) a. Peter darf Maria küssen. b. Maria darf von Peter geküsst werden.

(a^^b)

In (19a,b) funktioniert die Aktiv-Passiv-Aquivalenz nicht: Dass Peter Maria küssen darf, heißt noch lange nicht, dass Maria von ihm geküsst werden darf. Prima Facie muss (19) so analysiert werden, dass sich die ausgedrückte Erlaubnis auf das grammatische Subjekt von άϋφη via Theta-Zuweisung bezieht. M. a. W. in (19) würde eindeutig eine KontrollKonstruktion vorliegen. Demnach würde die Trennlinie zwischen Anhebung und Kontrolle innerhalb der zirkumstantiellen MV-Lesart verlaufen, d. h. zwischen agens- und nicht-agens-orientierten MV-Lesarten. (Man könnte diese Position als Position (üb) bezeichnen.) Es gibt jedoch gute Gründe anzunehmen, dass der Bruch der Aktiv-Passiv-Äquivalenz in (19) nicht semantisch-syntaktischer Natur ist, sondern pragmatisch bedingt ist. Im Normalfall wird die von dürfen ausgedrückte Erlaubnis auf sein grammatisches Subjekt bezogen bzw. auf die Menge der Propositionen, die dessen Pflichten bilden (deontische Quelle der Ordnung, s. unter 2.1, S. 18). Wie gerade erwähnt, kann nicht als gesichert gelten, dass die jeweiligen Pflichten von Peter und Maria in den Punkten identisch sein müssen, die ihr Verhalten beim Küssen und Geküsstwerden regeln. Daher die nicht Äquivalenz von (19a) und (19b).''' Ist das Subjekt eines Passivsatzes mit ¿«//en jedoch nicht erlaubnisfähig, so kann bzw. muss der Bezug der Erlaubnis auf die agentive von-PP verschoben werden, wie z. B. in (20b): (20) a. Peter darf Kekse essen. b. Kekse dürfen von Peter gegessen werden.

(a=b)

Hier gilt die Aktiv-Passiv-Äquivalenz immer, weil sowohl in (20a) als auch in (20b) nur Peter als Bezugselement für die Erlaubnis in Frage kommt. Dadurch wird nur die Menge der Pflichten von Peter bei der Inteφretation von (20b) berücksichtigt (die Pflichten von Keksen gibt es dagegen nicht). Diese ist natürlich identisch mit derjenigen von Peter in (20a). So sind die Sätze gleichbedeutend. Die Grammatikalität von (20b) beweist eindeutig, dass der Bezugspunkt der von dürfen ausgedrückten Erlaubnis nicht durch eine Kontrollbeziehung festgelegt wird. Ein weiteres Phänomen unterstreicht den Anhebungscharakter von d ü φ n in agensorientierten Sätzen: (21) a. Peter darf nur MAria küssen. b. Nur MAria darf von Peter geküsst werden.

(a=b)

14 Würde man wissen, dass die Kuss-Pflichten von Maria und Peter von derselben Instanz (Quelle der Obligation im Sinne von Bech 1951) geregelt werden, so wären beide Sätze in der Tat äquivalent. Eine Instanz, die Peter erlaubt Maria zu küssen und gleichzeitig Maria verbietet, von Peter geküsst zu werden, kann als widersprüchlich bzw. schizophren bezeichnet werden.

2.2 Zur MV-Syntax

25

Im Unterschied zu (19b) ist iiier die Aktiv-Passiv-Äquivalenz möglich, weil in (21b) zwei Lesarten erlaubt sind (s. dazu Reis 2001:303): (a) Peter darf nur Maria küssen (Aktiv = Passiv) (in (19b) unmöglich); (b) von allen (anwesenden) Frauen hat nur Maria die Erlaubnis, von Peter geküsst zu werden (Aktiv ^ Passiv wie in (19b)). Offensichüich bewirkt die besondere Fokussierung in (21b), dass der Bezug der Erlaubnis nicht mehr unbedingt auf den Pflichtenkatalog des grammatischen Subjekts von dürfen fällt, sondern auch eine Lesart erlaubt, die nur die Pflichten des Agens berücksichtigt. Eine Kontrollkonstruktion dagegen würde — aufgrund der syntaktischen Theta-Zuweisung — eine solche Verschiebung der Lesart durch Fokussierung nie erlauben (s. dazu (23b-c)). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass müssen, dürfen, sollen und mögen durchgehend Anhebungsverben sind.'^ Was können betrifft, scheint es dagegen in der Tat so zu sein, dass die Fähigkeitslesart eng nüt Kontrolle verbunden ist: (22) a. b. c. d.

Niko kann Autos reparieren. Autos können von Niko repariert werden. Niko kann nur AUtos reparieren. Nur AUtos können von Niko repariert werden.

{^фЪ in Fähigkeitslesart) (a^^b in Fähigkeitslesart)

Obwohl die ausgedrückte Fähigkeit in (22) von einem pragmatischen Standpunkt nur auf Niko bezogen werden kann, lassen sowohl (22b) als auch (22d) nur eine Interpretation zu, wonach Autos die Fähigkeit besitzen sollten, repariert zu werden. Auch eine besondere Fokussierung bewirkt keine Verschiebung (22d). Aller Wahrscheinlichkeit nach ist können in Fähigkeitslesart ein Kontroll- und kein Anhebungsverb. Möcht- und wollen zeigen sowohl in zirkumstantieller (23a-c) als auch in evidentieller (23d-f) Lesart ein typisches Kontrollverhalten, da sie ihr grammatisches Subjekt immer selbst selegieren: (23) a. b. c. d. e. f.

*Es möchte/will gerne regnen. Adam will/möchte Martha küssen. Martha will/möchte von Adam geküsst werden. Adam/*Die Muschel will Rad gefahren sein. Der Schiedsrichter will das Spiel nicht manipuliert haben. Das Spiel will nicht vom Schiedsrichter manipuliert worden sein.

(zirk.) (zirk.) (c^^b)'^ (epist.) (epist.) (f^^e)

Diese Analyse zeigt also, dass nur Position (ii) haltbar ist: können, müssen, dürfen, mögen und sollen sind durchgehend Anhebungsverben; wollen und möchte dagegen immer Kontrollverben. Damit scheint es so zu sein, dass keine systematische Korrelation zwischen MV-Orientierung und MV-Polyfunktionalität besteht. In diesem Sinne kann Anhebung 15 Aus Platzgründen wurde hier nur dürfen berücksichtigt. Die Analyse lässt sich aber ohne Weiteres auf oben genannte Verben ausdehnen. Für eine ähnliche Analyse s. auch Wurmbrand (1999). 16 Auch eine besondere Fokussierung wie in (21) ermöglicht keine Aktiv-Passiv-Äquivalenz in (23b-c): (i)

a. b.

Adam will/möchte nur MARtha küssen. Nur MARtha will/möchte von Adam geküsst werden.

(a^b)

26

2. Theoretische Grundlagen

nicht als hinreichende syntaktische Bedingung für die epistemische MV-Lesart fungieren. Es bleibt jedoch Tatsache, dass die epistemische MV-Lesart im engeren Sinne — also unter Ausschluss der evidentiellen — stets mit Anhebung korreliert. Es darf also nicht ausgeschlossen werden, dass Anhebung — wenn keine hinreichende — jedoch eine notwendige Voraussetzung der epistemischen MV-Lesart ist (Reis 2001:305).'^ Da jedoch wollen polyfunktional ist, ohne dabei ein Anhebungsverb zu sein, sollte es klar sein, dass Anhebung weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für MVPolyfunktionalität sein kann.

2.2.3

Zur Konvergenzhypothese

Wenn die MV-Polyfunktionalität weder mit Auxiliarität noch mit Orientierung korreliert, stellt sich weiterhin die Frage, ob bzw. wie MV-Polyfunktionalität und MV-Syntax in irgendeiner Weise aufeinander „abgestimmt" sind. In einem neueren Ansatz sehen Ehrich & Reis (1998) und Reis (2001) eine enge Verbindung zwischen der Polyfunktionalität der MV und ihrer Eigenschaft als Auslöser von obligatorischer Kohärenz mit Rektion des 1. Status.'® Im Deutschen gibt es zwei Typen von Infinitivkomplementationen. In einer inkohärenten Infinitivkonstruktion bleibt der Infinitivsatz eine selbstständige syntaktische Einheit. Erfolgt dagegen die Infinitivkomplementation in kohärenter Form, verschmelzen der Matrix- und der Infinitivsatz so, dass beide Verbalkomplexe zusammen nur noch eine einzige syntaktische Einheit bilden. Es gibt eine ganze Reihe von Anzeichen dafür, ob eine Infinitivkonstruktion kohärent oder inkohärent ist:'^ Kohärente Konstruktionen erlauben eine Reihenfolge,mischung' zwischen Elementen des Infinitivkomplements und des Matrixsatzes (Restfeldverschränkung) (24) sowie einen Doppelbezug (weiten vs. engen Skopus) der Negation und von Satzadverbialen (25). (24) a. dass ihr Susanna Muffins zu geben versuchte, b. dass Susanna ihr Muffins zu geben versuchte. (25) a. dass Adam Martha nicht zu stören versuchte. b. -^dass Adam nicht versuchte, Martha zu stören. c. -^^dass Adam versuchte, Martha nicht zu stören.

(weiter Skopus) (enger Skopus)

Der sicherste Indikator für eine inkohärente Konstruktion bleibt dagegen die Extraponierbarkeit des Infinitivsatzes: 17 Diese wichtige Frage für die Ontogenese der epistemischen MV-Lesart wird unter 4.4, S. 108ff. ausführlicher diskutiert. 18 Bech (1955) unterscheidet zwischen drei Statusrektionen für infinite Verbformen: Mit dem 1. Status wird der bloße Infinitiv regiert, mit dem 2. Status der ги-Infinitiv und mit dem 3. Status das Partizip II. 19 Die erste moderne Analyse der deutschen Infinitkomplementation geht auf Bech (1955) zurück, ebenso die Termini „Kohärenz" und ,4nkohärenz". Im Folgenden werden nur die drei wichtigsten Anzeichen für Kohärenz genannt. Für weitere syntaktische Eigenschaften von Kohärenz bzw. Inkohärenz s. vor allem Kiss (1995: 26ff.).

2.2 Zur MV-Syntax

27

(26) a. dass Adam versuchte, Martha zu beruhigen. b. dass Adam Martha zu beruhigen versuchte.

(inkohärent) (kohärent)

In Bezug auf die Unterscheidung [ibKohärenz] gibt es drei Klassen von Verben: Einige — wie z.B. die MV — konstruieren obligatorisch kohärent. Diese Verben erlauben demzufolge keine Extraposition ihres Infinitivkomplements: (27) a. dass Martha ohne ihre F4ippe einschlafen kann, b. *dass Martha kann, ohne ihre Puppe einschlafen. Andere Verben erlauben sowohl Kohärenz als auch Inkohärenz. Dies ist z. B. bei versuchen der Fall (s. (24), (25) und (26)). Eine dritte Klasse von Verben konstruiert obligatorisch inkohärent: (28) a. dass Susanna Martha überzeugt, die neue Schaukel zu probieren, b. • · dass Susanna Martha die neue Schaukel zu probieren überzeugt. Es gibt aber auch einige Regelmäßigkeiten zwischen Statusrektion und der Eigenschaft als Auslöser von [¿obligatorischer Kohärenz]:^® (i) Alle Verben, die den ersten (und den dritten) Status regieren, konstruieren stets obligatorisch kohärent (Bechs Kohärenzregel 1955: §65). Es handelt sich dabei hauptsächlich um die MV und die Acl-Verben.^' (ii) Die Verben, die den zweiten Status regieren, können in drei Klassen eingeteilt werden: (a) Anhebungsverben mit гм-Infinitiv konstruieren stets kohärent {scheinen, drohen, versprechen). (b) Viele Kontrollverben sind fakultativ kohärent (versuchen), (c) Eine zweite Klasse von Kontrollverben konstruiert obligatorisch inkohärent (überzeugen, überreden). Ausgehend von dem Zusammenhang zwischen Statusrektion, Orientierung und Kohärenz-Verhalten unterscheidet Reis (2001) zwischen verschiedenen Graden von Kohärenz: (29) Kohärenz- bzw Transparenzskala (nach (i) Aufgrund I.Status (ii) Aufgrund Anhebung + 2. Status (iii) Bei Kontrolle + 2. Status

Reis 2001:310) obi. Kohärenz ,starke Kohärenz' obi. Kohärenz fak. Kohärenz ,schwache Kohärenz'

Ihrer Kohärenzskala entsprechend sieht Reis (2001) das syntaktische Korrelat zur MVPolyfunktionalität nicht in Auxiliarisierung bzw. in einer MV-Doppelorientierung, sondern in starker Kohärenz. Sie argumentiert, dass nur starke Kohärenz die für die MVPolyfunktionalität notwendige Transparenz und syntaktische Nähe zwischen Matrix- und Infinitivsatz liefert. Im Unterschied zum Englischen, wo diese Transparenz durch Auxiliarisierung entstanden ist (s. o.), wird sie im Deutschen durch obligatorische Kohärenz mit 1. Status bei Beibehaltung des Vollverbstatus erreicht. Die Konvergenzhypothese sagt dreierlei voraus: (i) Alle Verben, die starke Kohärenz auslösen, sollten dazu neigen, polyfunktional zu werden. Dies betrifft hauptsächlich die 20 Eine umfangreiche, кофи5Ьа51ег1е Untersuchung zum [ikohärenten] Verhalten einzelner Verben bietet Grosse (2005). 21 Zu weiteren Verben, die ebenfalls obligatorisch kohärent konstruieren und den 1. Status regieren s. Reis (2001: 307). Reis betrachtet sie jedoch als Randerscheinungen.

28

2. Theoretische Grundlagen

Acl-Verben, (ii) Alle Ausdrücke, die sowohl eine zirkumstantielle als auch eine epistemische Lesart haben bzw. bekommen, sollten dazu tendieren, stark kohärent zu werden, (iii) Alle Systemkonkurrenten der MV, die keine starke Kohärenz auslösen, sollten nicht polyfunktional sein. Dies gilt in besonderem Maße für alle Modaladjektive und Modaladverbien sowie für scheinen. Die Punkte (i) und (ii) sind an dieser Stelle von geringer Relevanz, weil sie nur wenige Verben betreffen, die zudem im empirischen Teil dieser Arbeit keinerlei Rolle spielen werden.^^ Im Folgenden wird also nur (iii) ausführlicher diskutiert, weil die Systemkonkurrenten scheinen und vielleicht für den empirischen Teil dieser Arbeit relevant sind. Kaum ein MV-Systemkonkurrent ist polyfunktional: Dies gilt in erster Linie für scheinen, das zwar obligatorisch kohärent konstruiert, jedoch mit dem 2. Status. Auch modale Adjektive, die nur fakultativ kohärent sind, und Satzadverbiale sind entweder auf der zirkumstantiellen (notwendig, möglich, (un)nötig, unabdingbar, zwingend usw.) oder auf der epistemischen Basis festgelegt (möglicherweise, notwendigerweise). Einige Satzadverbiale wie bestimmt oder vielleicht stellen jedoch komplexere Fälle dar: Modaladverbiale wie vielleicht erlauben nach der üblichen epistemischen Lesart möglicherweise auch zirkumstantielle wie (30) belegt (Bsp. aus Ehrich 2004a): (30) A: Ach, ich fühle mich so krank. B: Geh vielleicht zum Arzt! Ehrich (2004a) schlägt für vielleicht und ähnliche Satzadverbien vor, sie nicht als modale Operatoren wie die MV zu behandeln, sondern als Illokutionsmodifikatoren, die das Gewicht der Syncerity Condition für Sprechakte einschränken bzw. verstärken. Bei affirmativen Assertionen bewirken vielleicht, bestimmt usw. eine Einschränkung des Wahrheitsanspruchs, mit dem Effekt, dass eine dem Gebrauch von entsprechenden MV ähnliche Sprecherunsicherheit erzielt wird (= epistemische Lesart dieser Adverbien).^^ Vorschlägen bzw. Empfehlungen wie in (30) wird eine Abmilderung (vielleicht) oder eine Verstärkung (bestimmt, sicher) der Dringlichkeit des Vorschlags bzw. der Empfehlung erreicht. Die scheinbare Polyfunktionalität von Modaladverbien wird — so Eh22 Was die Acl-Verben betrifft, nimmt Reis (2001: 308) an, dass sie ansatzweise polyfunktional sind (lassen) oder wie alle Verba sentiendi von vornherein direkte Evidentiale sind, (ii) betrifft vor allem brauchen (zu), das immer mehr dazu neigt, den 1. Status zu regieren und gleichzeitig eine epistemische Lesart entwickelt (Reis 2001: 312). 23 In der Regel führt die Modifikation von Assertiven durch vielleicht zu einer epistemischen Lesart: (i)

Er kommt vielleicht morgen [mehr weiß ich nicht].

Es kann aber nicht ganz ausgeschlossen werden, dass die Modifikation von Deklarativa zu einer realistischen Lesart von vielleicht-Sätzen führen kann, wie in (ii): (ii)

A: Bekommt Martha ein Eis? B: vielleicht!

(ii) lässt folgende Interpretation zu: A und В wissen genau, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Martha ein Eis bekommt. Mit vielleicht weist В auf diese Umstände hin: 'p wird faktisch, wenn... '. In diesem Fall liegt keine epistenüsche Unsicherheit vor.

2.3 MV und skalare Implikaturen

29

rich (2004a) — über eine Implikatur erreicht. Demnach sind Modaladverbien nicht im semantisch-grammatikalischen Sinn polyfunktional, sondern von ihrer Bedeutung her nur Illokutionsmodifikatoren. Ihre scheinbare Mehrdeutigkeit ist also durch den Illokutionstyp bedingt, den sie modifizieren.^'^ Zusammenfassend lässt sich aus der hier durchgeführten Diskussion neuerer Literatur zur MV-Syntax zeigen, (i) dass die deutschen MV keine Auxiliare, sondern unabhängig von ihrer Lesart stets Vollverben sind; (ii) dass sie genauso unabhängig von ihrer Lesart entweder Anhebungsverben (können, müssen, dürfen, sollen, mögen) oder Kontrollverben (wollen, möcht-) sind; (iii) dass sie — neben den Acl-Verben— die einzigen Verben sind, die gleichzeitig obligatorisch kohärent konstruieren und den 1. Status regieren (d. h. eine starke Kohärenz auslösen im Sinne von Reis 2001) und (iv) dass sie die einzigen in Bezug auf die modale Basis polyfunktionalen Modalausdrücke des Deutschen sind. Aus den Beobachtungen (i) bis (iv) kann geschlossen werden, dass eine mögliche Korrelation zwischen MV-Polyfunktionalität und MV-Syntax nicht aufgrund ihres Auxiliarstatus oder ihrer Orientierung besteht, sondern — wenn überhaupt — nur aufgrund ihres Status als Auslöser von starker Kohärenz.

2.3

MV und skalare Implikaturen

Seit Horn (1972), Grice (1975) und Gazdar (1979) ist bekannt, dass die MV skalare Ausdrücke sind, die entsprechende Implikaturen auslösen. Eine linguistische Skala ist eine geordnete Menge von linguistischen Ausdrücken derselben grammatischen Kategorie, die nach ihrem Informativitätsgrad geordnet sind (Levinson 1983). Gegeben die Ausdrücke Ai bis An, die nach ihrem Informativitätsgrad geordnet werden, so ergibt sich folgende Skala: (31) < Л 1 , . . . , Л „ > Wenn hier von Ordnung nach dem Informativitätsgrad die Rede ist, so ist gemeint, dass die Wahrheit eines stärkeren Ausdrucks einer gegebenen Skala ( = ^ i ) immer auch die 24 Hiermit wäre die Liste der möglichen Systemkonkurrenten noch lange nicht zu Ende. Was modale Infinitive betrifft, zeigt Holl (2006), dass diese zwar mehrdeutig sind, weil ihre modale Kraft variieren kann (s. (i)), sie sind jedoch nicht polyfunktional in Bezug auf die modale Basis, die immer zirkumstantiell bleibt. (i)

Diese Aufgabe ist zu lösen. a. b.

Diese Aufgabe muss gelöst werden. Diese Aufgabe kann gelöst werden.

(y^zirk./*epist. Notwendigkeit) (y'zirk./*epist. Möglichkeit)

Auch modale Suffixe wie -bar, -fähig oder -tüchtig sind nur zirkumstantiell interpretierbar (zu möglichen Ausnahmen s. Kulakow 2005). Was drohen und versprechen in Anhebungkonstruktion betrifft (Das Fest droht/verspricht, in eine Orgie umzuschlagen), plädiert Reis (2005) dafür, sie nicht als epistemisch bzw. modal zu betrachten, sondern als aspektuelle Verben anzusehen, die in der Nähe zu den Phasenverben (anfangen, beginnen) anzusiedeln sind (s. auch Fn. 56, S. 113).

30

2. Theoretische Grundlagen

Wahrheit aller schwächeren Ausdrücke der Skala ( = A2 bis Л„) impliziert, jedoch nicht umgekehrt. M. a. W. in allen Fällen, in denen ein Satz der Form S ( ^ i ) wahr ist, sind alle Sätze S ( ^ 2 ) , . . . , 8(Л„) genauso wahr. Typische linguistische Skalen sind z. В.: (32)

Kalle, viele, einige, wenige>^^

usw.

Da Notwendigkeit auch immer Möglichkeit impliziert, bilden auch die MV und alle anderen Modalausdrücke Skalen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass modale Skalen nur dann entstehen, wenn der Redehintergrund konstant gehalten wird. Z. B. impliziert deontische Notwendigkeit zwar deontische Möglichkeit, realistische oder dispositionelle Möglichkeit jedoch nicht: Dass Niko schwimmen muss (deontisch), impliziert überhaupt nicht, dass er wirklich schwimmen kann (Fähigkeit).^^ In Bezug auf die Modalausdrücke bekommt man u. a. folgende Skalen ((33a) nach Öhlschläger 1989:206): (33) a. b. c.

^^

(epistemisch) (deontisch)

Von einem rein semantischen Standpunkt her können also alle Situationen, die mit einem stärkeren Ausdruck einer gegebenen Skala beschrieben werden können, genauso gut mit allen schwächeren Ausdrücken dieser Skala beschrieben werden. Diese Möglichkeit wird jedoch in der Regel durch eine skalare Implikatur verhindert: Ausgehend von Grices (1975) erster Quantitätsmaxime (.Gestalte deinen Beitrag so informativ wie von der gegenwärtigen Gesprächssituation verlangt wird. ' ) wird die Verwendung eines schwächeren Ausdrucks der Skala so verstanden, dass der Sprecher über nicht genügend Informationen verfügt, um einen stärkeren Ausdruck der Skala zu verwenden. Z. B. löst die Verwendung eines epistemischen können-Satzes die skalare Implikatur aus (außer in Kontexten, in denen diese nicht entsteht bzw. gelöscht wird), dass der Sprecher nicht über die Informationen verfügt, die ihm erlauben würden, einen epistemischen müssen-Satz zu verwenden. Ebenso sollte er — hinsichtlich der ersten Quantitätsmaxime — nicht können, sondern müssen verwenden, wenn er über genügend Information verfügt. Die Verwendung

25 Bei dieser Skala ist zu beachten, dass einige zwei Bedeutungen hat: (i) eine quantifizierende {mehr als ein X, ein paar x) und (ii) eine existenzielle (ei gibt mind, ein x, dass). In der hier herangezogenen Skala ist nur die quantifizierende Bedeutung von einige involviert. Nur diese Bedeutung von einige wird von alle impliziert. Die existenzielle Bedeutung von einige wird dagegen von alle nie impliziert. 26 Eine weitere Einschränkung innerhalb der deontischen MV-Lesart wäre auch, dass die Quelle der Modalisierung im Bech'schen Sinne konstant gehalten wird: Dass Niko aus Sicht seiner Mutter schwimmen muss, impliziert nicht, dass er aus Sicht seines Vaters schwimmen darf. 27 Dass müssen am Anfang und können am Ende der Skala steht, ist unumstritten. Ob dagegen die Reihenfolge der anderen Ausdrücke stimmt, ist — zumindest aus psycholinguistischer Sicht — zweifelhaft. Dazu mehr auf S. 60, Fn. 41.

2.4 Zur präferierten Lesart einzelner MV-Konstruktionen

31

eines schwächeren Ausdracks verneint also, dass alle Situationen zutreffen, die von einem stärkeren Ausdruck beschrieben werden könnten. In diesem Sinne: (34) a. können implikatiert nicht müssen b. vielleicht implikatiert nicht wahrscheinlich c. einige implikatiert nicht alle Angesichts der hier oben beschriebenen semantischen Eigenschaften von Skalen sollte nun klar sein, dass die in (34) enthaltene Verneinung aller stärkeren Fälle pragmatischer und keinesfalls semantischer Natur ist.

2.4

Zur präferierten Lesart einzelner MV-Konstruktionen

Dass MV grundsätzlich polyfunktional sind, heißt nicht, dass alle MV-Konstraktionen im gleichen Maße zwischen zirkumstantiellen und epistemischen Lesarten „pendeln". In der Grammatikalisierangsforschung wird immer wieder betont, dass eine ganze Reihe von Faktoren die Präferenz für die eine oder andere Lesart von MV-Konstruktionen beeinflussen. In den folgenden Abschnitten werden diese Faktoren kurz dargestellt. Heine (1995:25ff.) — auf Coates (1983) aufbauend — führt eine ganze Reihe von Merkmalen an, die eine zirkumstantielle Deutung von MV-Sätzen begünstigen: (a) Die Äußerang ist eine Frage; (b) das MV erscheint in einer periphrastischen Konstraktion (z. B. im Perfekt) oder im Präteritum; (c) der Satz ist negiert; (d) der eingebettete Infinitiv ist telisch; (e) der eingebettete Infinitiv ist ein Handlungsverb und (f) das MV-Subjekt ist in der 1. oder 2. Person. Dementsprechend favorisieren folgende Faktoren eine epistemische Deutung von MVSätzen: (g) Der eingebettete Infinitiv ist in einer Verlaufsform (Er kann am Schwimmen sein.)·, (h) der eingebettete Infinitiv drückt einen Zustand aus; (i) der eingebettete Infinitiv ist im Perfekt und (j) das MV-Subjekt ist expletiv oder unpersönlich. Da die Bedeutung der Faktoren (a) und (b) schon unter 2.2.1 diskutiert wurde, bedürfen sie hier keiner weiteren Diskussion. Außer Faktor (c) — von dem Diewald (1999:254) bemerkt, dass ihre Korpus-Daten eine Bevorzugung der zirkumstantiellen Lesart (= ,nichtdeiktischen' in Diewalds Terminologie) durch Negation,glicht pauschal bestätigen", lassen sich alle weiteren Faktoren — so Diewald (1999:255) — in zwei Hauptgrappen einteilen: (i) Die Eigenschaften des MV-Subjekts (f,j) und (ii) die Eigenschaften der InfinitivErgänzung (d,e,g,h,i). Zu (i): Der Einfluss des MV-Subjekts auf die MV-Lesart wird i. Allg. auf seine Agentivität zurückgeführt (= Faktor [iagentiv]). Die Anwesenheit eines MV-Subjekts, das ein hohes Maß an proto-agentivischen Merkmalen wie [ibelebt] oder [itwillensfähig] aufweist, führt zu einer Präferenz für die zirkumstantielle Inteφretation.^^ Diese Präferenz liegt sicherlich nicht zuletzt daran, dass alle sozial-orientierten Lesarten (deontisch. 28 Arbeiten im Rahmen des Grammatikalisierungsansatzes sprechen deswegen oft nicht von root oder von circumstantial modality, sondern von agent oriented modality, so ζ. В. Heine (1995).

32

2. Theoretische Grundlagen

buletisch) sowie die Fähigkeitslesart kaum mit unbelebten, willensunfáhigen Wesen verträglich sind. Wie jedoch Diewald (1999:256) bemerkt, ist ein Umkehrschluss nicht möglich: Nicht-Belebtheit favorisiert keinesfalls die epistemische Lesart. Wichtig zu bemerken ist auch, dass indefinite bzw. generische Subjekte eine Präferenz für die zirkumstantielle Lesart hervorrufen: (35) a. Dirk Novitzki muss groß sein. b. Ein Basketballspieler muss groß sein.

(präf. epist.) (präf. zirk.)

Zu (ii): Der Kontrast in (36) zeigt, dass die Anwesenheit eines (terminativen) Handlungsverbs (= Faktor [±Handlungsverb]) in der Infinitiv-Ergänzung die Präferenz für die zirkumstantielle Lesart deutìich steigert: (36) a. Der Ball kann im Haus sein. b. Der Ball kann ins Haus rollen.

(präf. epist.) (präf. zirk.)

Oft wird in der Literatur angenommen, die Anwesenheit eines Perfekt-Infinitivs (Faktor [iPerfekt-Inñnitiv]) würde zwangsweise zu einer epistemischen Deutung von MVSätzen führen (Abraham 1998,2001; Diewald 1999): (37) Martha kann die Holzkugeln mit dem Hammer in die Kiste versenkt haben. Raynaud (1975:86) weist darauf hin, dass eine epistemische Lesart in MV-Konstruktionen mit Perfekt-Infinitiv stark präferiert wird, und zwar unabhängig von der Art des Subjekts und von der Aktionsart des eingebetteten Infinitivs. Aus diesem Grund kommt Diewald (1999:261) zu dem Schluss, dass „der Anschluss eines Infinitiv II [... ] den isolierenden Kontext für die deiktische [= epistemische, S.D.] Lesart dar[stellt]".^^ Ob die Anwesenheit eines Perfekt-Infinitivs wirklich als automatischer Auslöser von Epistemizität — wie Diewald und Abraham annehmen — zu sehen ist, ist jedoch sehr fraglich. Dazu sei zunächst nur folgendes gesagt: Die Präferenz für die epistemische Lesart in (37) hängt nicht alleine von der Anwesenheit eines Perfekt-Infinitivs ab, sondern ist auch von anderen Faktoren abhängig. Liegt die denotierte Situation relativ zur Äußerungszeit in der Vergangenheit und ist das Subjekt définit, so wird in der Tat eine epistemische Lesart erzwungen: (38) a. Gestern muss Katrin das Buch zu Ende gelesen haben. b. Gestern muss das Buch auf dem Tisch gelegen haben.

(nur epist.) (nur epist.)

29 .Jsolierende" Kontexte sind nach Diewald (1999:291) Kontexte, „die eine bestimmte Lesart ausschließen und auf diese Weise die nicht-ausgeschlossene Lesart dominant setzen". Dabei ist es wichtig zu bemerken, dass mit „Kontext" nicht ,^edehintergrund" im Sinne von Kratzer (s. o.) gemeint ist. Diewalds Begriff von „Kontext" „bezieht sich auf mit dem Modalverb zusammen vorkommende sprachliche Elemente, Merkmale, Kategorien, wobei zunächst der Satz, in dem das Modalverb steht, die Grenze des kontextuellen Feldes bildet" (Diewald 1999: 249, Fn. 1). Er darf also genausowenig als Rede- bzw. Diskurskontext aufgefasst werden, sondern er ist eher als „syntaktische Umgebung" zu begreifen.

2.4 Zur präferierten Lesart einzelner MV-Konstruktionen

33

Wie (38a) und (38b) zeigen, bleibt die präferierte Lesart epistemisch, auch wenn das Subjekt nicht agentivisch und der Infinitiv nicht terminativ ist. Aus diesem Grund kommt Diewald (1999:293f.) zu folgendem Schluss: ,JDer Kontext [im Sinne Diewalds s. Fn. 29, S.D. ], der die deiktische Lesart dominant setzt, ist der Infinitiv IL Dieser verbindet eine stative und eine resultative Komponente, wodurch andere Lesarten ausgeschlossen werden. Die Subjektmerkmale spielen bei der deiktischen Lesart keine Rolle." Dass Diewalds Annahme so nicht stimmt, belegt (39): (39) a. Bis morgen muss Adam das Buch gelesen haben. b. Bis morgen kann Adam das Buch gelesen haben. c. Die Amtseinführung von Benedikt XVL muss man gesehen haben.

(präf. zirk.) (zirk. und epist.) (präf. zirk)

Wenn die Situation nicht eindeutig in der Vergangenheit liegt, kann sich die Lesart-Präferenz eines MV-Satzes mit Perfekt-Infinitiv schlagartig zugunsten der zirkumstantiellen Lesart verwandeln (vor allem bei müssen (39a)); oder es wird unklar, welche Lesart überhaupt noch favorisiert wird (vor allem bei können (39b)). Und die Anwesenheit eines indefiniten bzw. generischen Subjekts legt die Lesart-Präferenz ebenfalls auf die zirkumstantielle Lesart fest, auch wenn die Situation eindeutig in der Vergangenheit liegt (39c). (39) zeigt, dass Diewalds „isolierender Kontext" nur dann eindeutig entsteht, wenn (i) das Subjekt définit ist und (ii) die Situation in der Vergangenheit liegt. Ein ähnlicher Effekt ist auch bei MV-Sätzen mit einer einfachen Zustandsergänzung zu beobachten. Auch hier sorgt eine Verlagerang des Sachverhalts in die Zukunft für eine Verschiebung der Präferenz: (40) a. Martha muss in der Krippe sein. b. Bis morgen muss Martha in der Krippe sein.

(präf. epist.) (präf. zirk.)

Dass indefinite bzw. generische Subjekte die Präferenz auf die zirkumstantielle Lesart in MV-Sätzen mit Zustandsergänzungen legen, hat (35) schon gezeigt. Fazit: Die Kontraste (38) vs. (39) einerseits und (40a) vs. (40b)/(35b) andererseits deuten daraufhin, dass sich MV-Ergänzungen mit Perfekt-Infinitiv im Wesentlichen nicht von anderen MV-Ergänzungen mit Zustandsverben unterscheiden. Dies würde also nichts anderes bedeuten, als dass der Faktor [iPerfekt-Infinitiv] als Variante des Faktors [±Handlungsverb] zu betrachten ist. Diesbezüglich argumentieren Raynaud (1975:86) und Diewald (1999:262ff.) zu Recht, dass der Perfekt-Infinitiv deshalb zu einer präferierten epistemischen Lesart führt, weil der denotierte Sachverhalt in diesem Fall als ein resultativer Zustand betrachtet wird. Berücksichtigt man alle Faktoren, die die Lesart-Präferenz von MV-Sätzen beeinflussen, so stellt sich heraus, dass weniger die Perfekt-Infinitiv-Konstmktion die epistemische MV-Straktur par excellence darstellt — wie von Diewald angenommen —, sondern vielmehr die es kann sein, daii-Konstruktion:

34

2. Theoretische Grundlagen (41) a. Es kann sein, dass Martha die Holzkugeln in die Kiste versenkt hat/versenkt/ versenken wird. (immer präf. epist.) b. Es kann sein, dass Basketballspieler groß sind. (präf. epist.)

Die es kann sein, ¿aíj-Form in (41a) hat immer eine präferierte epistemische Lesart, und dies — im Unterschied zu der Konstruktion mit Perfekt-Infinitiv — unabhängig davon, in welchem Verhältnis (vor-, nach-, gleichzeitig) die Situation zur Außerungszeit steht. Auch die Anwesenheit eines indefiniten Subjekts im Nebensatz ändert die Präferenz nicht (41b). Die starke Präferenz der es kann sein, dass-Yorm für die epistemische Lesart ist vor allem in der Transparenz der Konstruktion begründet: (i) In (41 ) nimmt können ein Korrelaten als Subjekt — also ein unpersönliches Subjekt —, das für die gesamte eingebettete Proposition steht. Diese Konstruktion kann also kaum so gedeutet werden, dass sich die ausgedrückte Möglichkeit direkt auf das Subjekt der eingebetteten Proposition bezieht — ein Umstand, der eine zirkumstantielle Deutung deutlich erschwert (s. S. 16). (ii) Können hat in dieser Konstruktion eine einfache Zustandsergänzung mit sein, (iii) Der Anhebungscharakter dieser Konstruktion ist transparenter als in anderen MV-Konstruktionen, weil das thematische Subjekt der Proposition nicht gleichzeitig das grammatische Subjekt von kann sein kann, (iv) Die Skopusverhältnisse sind auch sehr transparent: Das MV nimmt Skopus über die gesamte eingebettete Proposition, (v) Wenn die denotierte Situation in der Vergangenheit liegt, wird eine epistemische Lesart sogar erzwungen. Dass diese Konstruktion jedoch u. U. auch eine zirkumstantielle Präferenz haben kann (wenn es sich um einen Exklamativen handelt), zeigt (42): (42) Es kann nicht sein, dass nun die Dänen in Schleswig-Holstein regieren! In (42) kann leicht von einem buletischen bzw. deontischen Hintergrund ausgegangen werden. Eine Präferenz für die zirkumstantielle Lesart der es kann sein, daii-Konstruktion in (42) ist auch durch die Negation bedingt, weil diese eine Deutung als Exklamativ erleichtert. Die Variante von (42) ohne Negation löscht sofort diese Präferenz (ohne Negation wird eine Inteφretation als Exklamativ deutlich erschwert): (43) Es kann sein, dass nun die Dänen in Schleswig-Holstein regieren.^'' Zusammenfassend ergibt die Diskussion der Faktoren, die die Präferenz für die epistemische bzw. zirkumstantielle Lesart beeinflussen, folgendes Bild: Unabhängig vom Außerungskontext scheint vor allem die es kann sein, Jaíí-Form eine eindeutige Präferenz für 30 Obwohl (43) eine starke epistemische Präferenz aufweist, ist eine realistische Lesart in bestimmten Kontexten weiterhin möglich: (i)

A: Wer wird in Schleswig-Holstein regieren? B: Es kann sein, dass nun die Dänen in Schleswig-Holstein regieren, aber es kann auch sein, dass die SPD einer großen Koalition mit der CDU doch zustimmt.

In (i) liegt keine Epistemizität vor. Es werden lediglich realistische Möglichkeiten erwähnt. Solche Beispiele zeigen, dass die realistische und die epistemische Lesart nur schwer voneinander zu unterscheiden sind.

2.4 Zur präferierten Lesart einzelner MV-Konstruktionen

35

die epistemische Lesart hervorzurufen. In bestimmten syntaktischen Kontexten (vor allem mit Negation) wird jedoch diese Präferenz gelöscht. Die MV-Konstruktion mit PerfektInfinitiv löst auch eine eindeutige Präferenz für die epistemische Lesart aus, aber nur solange der Außerungskontext so ist, dass die denotierte Situation vor der Außerungszeit liegt und das Subjekt définit ist. Folgende Faktoren beeinflussen die Inteφretation von MV-Sätzen ebenfalls maßgeblich: (i) Die Eigenschaften [±Handlungsverb] des eingebetteten Infinitivs sind von großer Bedeutung für die präferierte Inteφretation eines MV-Satzes, (ii) Die zirkumstantielle Lesart wird eindeutig favorisiert, wenn das MV im Perfekt oder im Präteritum seht, (iii) Die Eigenschaften des MV-Subjekts [iagentiv] scheinen — im Vergleich zu oben genannten Faktoren — nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die Anwesenheit eines expletiven bzw. unpersönlichen Subjekts favorisiert jedoch eine epistemische Deutung deutlich. Im Gegensatz dazu wird eine zirkumstantielle Deutung stärkt präferiert, wenn das Subjekt indefinit bzw. generisch ist.

Kapitel 3

Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der bisherigen Forschung zur MV-Ontogenese vorgestelh. Wie schon Stephany (1995) anmerkt, dient die Beschreibung der MV-Ontogenese zunächst der Klärung dreier primärer Fragen: (i) In welcher zeitlichen Abfolge werden die verschiedenen MV-Lesarten erworben? (ii) Welche Funktion(en) übernehmen die jeweiligen MV-Lesarten im Laufe des Erwerbs? (iii) Können dabei feste Erwerbsstadien festgestellt werden? Da es einerseits schon sehr ausführliche Beschreibungen des Erwerbs der verschiedenen zirkumstantiellen Lesarten gibt (s. Stephany 1986,1993,1995) und da andererseits die hier vorliegende Arbeit sich hauptsächlich mit dem Verstehen der epistemischen Bedeutung von können beschäftigt, richtet dieses Kapitel hinsichtlich der drei oben genannten Gründe sein besonderes Augenmerk auf den Erwerb der epistemischen MV-Lesart. Neben den von Stephany (1995) erwähnten drei primären Fragen stellt sich im Hinblick auf den MV-Erwerb ein weiteres Problem, das bis jetzt in der Forschung nur wenig Berücksichtigung gefunden hat, nämlich die Rolle der MV-Polyfunktionalität im Spracherwerb selbst. Wie in Kap. 2 dargestellt wurde, ist die MV-Polyfunktionalität, die vor allem in der Spannung zwischen der zirkumstantiellen und der epistemischen/evidentiellen MV-Lesart zum Ausdruck kommt, eine zentrale MV-Klasseneigenschaft. Es ist nun durchaus möglich, dass sie auch im Spracherwerb eine große Rolle spielt. Daher kann sich die Forschung zum Bedeutungserwerb der MV in der Erstsprache nicht darauf beschränken, die zeitliche Abfolge beim Erwerb der verschiedenen Lesarten oder der verschiedenen Funktionen von MV zu beschreiben. Sie muss vielmehr auch der Frage nachgehen, ob und ggf. inwieweit die Tatsache, dass die MV polyfunktional sind, den Erwerbsverlauf beeinflusst. In diesem Kapitel soll deshalb anhand der Literatur auch das Phänomen der Polyfunktionalität im Zusammenhang mit der epistemischen MV-Bedeutung untersucht und seine mögliche Bedeutung für den MV-Erwerbsverlauf so präzis wie möglich bestimmt werden. Für die Bewältigung dieser Aufgabenstellung ist es aber unverzichtbar, dass der MVErwerbsverlauf mit demjenigen anderer, nicht polyfunktionaler, epistemischer Ausdrücke verglichen wird. Als potenzielle Vergleichsausdrücke treten dabei in erster Linie — was

38

3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

den Erstspracherwerb betrifft — die Satzadverbiale vielleicht und wahrscheinlich und die mentalen Verben (glauben, denken, wissen) auf. Erwerbsdaten über die Semantik/Pragmatik dieser Ausdrücke werden deshalb in diesem Kapitel mitbehandelt.

3.1

Langzeitstudien

3.1.1

Deutsch

Obwohl die Юа88е der MV ein relativ gut erforschtes Feld der germanistischen Linguistik ist, haben sich bis jetzt nur wenige Arbeiten dem Erwerb der MV-Bedeutung gewidmet. Eine Rekonstruktion der Ontogenese der deutschen MV kann demzufolge aufgrund der bisherigen Literatur nur fragmentarisch bleiben. Neben eher beiläufigen Bemerkungen in pragmatisch orientierten Arbeiten (Biere 1978; Völzing 1982 und Redder & Martens 1983) haben sich lediglich die Studien von Adamzik (1985); Ramge (1987) und neuerdings Ehrich (2004b, 2005) systematisch mit der Ontogenese der MV-Semantik beschäftigt.' Adamzik (1985) hat den MV-Erwerbsverlauf von sechs Kindern aus dem MünsterКофи8 analysiert.^ Die Beobachtungsperiode beginnt für jedes Kind mit dem Auftreten der ersten MV-Äußerungen (zwischen 1;4^ und 2;4 je nach Kind) und erstreckt sich über acht oder neun Monate. Ihre Ergebnisse zeigen einen relativ einheithchen Erwerbsverlauf bei allen sechs Kindern: wollen und können sind die ersten MV, die produktiv verwendet werden. Wollen wird in der überwiegenden Mehrheit der Fälle an die buletische Lesart gebunden. Es dient also dem zentralen kommunikativen Bedürfnis der Äußerung von Wünschen. Die Belege von können verteilen sich auf drei Hauptlesarten: Die Fähigkeitsund die Erlaubnislesarten (letztere nur mit dem Kind selbst als Quelle der Ordnung) sowie eine von Adamzik kaum definierte Möglichkeitsbedeutung, die vermutlich den dispositionellen und den realistischen Hintergrund umfasst. Adamziks Daten deuten also darauf hin, dass das zirkumstantielle können innerhalb der zirkumstantiellen Lesart quasi von Anfang an verschiedene Deutungen zulässt. Die MV dürfen, sollen und mögen werden frühestens zwei Monate — manchmal erst sieben Monate — nach dem ersten MV-Auftreten zum ersten Mal produziert.'' Sollen und mögen treten zunächst oft — aber mit abnehmender Häufigkeit — mit einem buletischen Hintergrand auf, während dürfen zielsprachig sofort deontisch verwendet wird. Lediglich müssen lässt sich nicht ohne Weiteres in ein einheitliches Schema einordnen: Teilweise erscheint müssen im Wortschatz der Kinder zeitgleich mit können und wollen. 1 Eine weitere Arbeit zum MV-Erwerb stellt die Arbeit von Redder (1987) dar. Da sich deren Untersuchung weitgehend auf das empirische Material von Adamzik und Ramge bezieht, wird auf sie an dieser Stelle nicht näher eingegangen. 2 Zum Münster-Koφus s. Gippert (1979). 3 Alle Altersangaben in Jahr;Monat(.Tag). 4 Sollen tritt etwa drei bis sieben Monate später auf als wollen und können-, dürfen etwa drei bis zehn Monate und mögen drei bis sieben Monate später (Adamzik 1985: 21).

3.1 Langzeitstudien

39

zum Teil aber auch erst fünf oder sechs Monate später. Adamzik (1985:21) führt dieses uneinheitliche Bild auf den Umstand zurück, dass „dieses Modalverb nicht der Realisierung eines ganz zentralen kommunikativen Bedürfnisses dient". Zur Begründung dieser These führt sie an, dass müssen in nur einem Drittel der Belege dazu verwendet wird, eine zirkumstantielle Notwendigkeit auszudrücken. Mit den übrigen müssen-küüemngen wird lediglich „eine gerade ablaufende Handlung verbaUsiert oder kommentiert oder eine kurz bevorstehende Handlung angekündigt" (Adamzik 1985:20), wie in (1): (1)

Kind: Was muß Mami machen? Mutter: mami schreibt

Florian (2;2)

I. Allg. stellt Adamzik (1985:17f) jedoch aufgrund der Häufigkeit ihres Auftretens fest, dass die MV können, müssen und wollen mit 2;6 als erworben gelten können. Ihre Daten zeigen femer, dass am Ende der untersuchten Periode (zwischen 2;0 und 3;11) alle MV von den Kindern produktiv verwendet werden.^ Dies bedeutet aber keineswegs, dass das Modalverbsystem am Ende der untersuchten Periode als vollständig erworben gelten kann. Zum einen produzieren die Kinder noch eine Reihe von moφhologisch (Adamzik 1985:21ff.) oder pragmatisch (Adamzik 1985:27ff.) abweichenden Formen. Zum anderen sind einige Lesarten im Koij)us nicht belegt: So sind z.B. die evidentielle und die epistemische Lesart mit keiner Äußerung vertreten (s. dazu Adamzik 1985:36, Fn. 34). Zusammenfassend lässt sich aus Adamziks Untersuchung festhalten, dass in der Kindersprache die zirkumstantiellen Lesarten vor der epistemischen Lesart auftreten, und dass der Erwerb der epistemischen MV-Bedeutung augenscheinlich nicht vor dem vierten Lebensjahr beginnt. Ramges (1987) Untersuchung zur MV-Ontogenese ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil geht er anhand älterer Кофога^ der Frage nach, ob es eine eindeutige überindividuelle MV-Erwerbsabfolge gibt. Seine Analyse dieser Кофога zeigt eine große Übereinstimmung mit Adamziks Ergebnissen (Ramge 1987:134f.). Alle Kinder beginnen zwischen 1;1 und 2;2, MV produktiv zu verwenden. Die ersten erworbenen MV sind auch hier wollen und können. Die anderen MV treten erst einige Monate später ohne erkennbare feste Abfolge auf. Im Alter von 3;0 sind alle MV erworben, also etwa ein Jahr nach dem Auftreten des ersten MV. Ramge (1987:136) deckt darüber hinaus einen auffälligen zeitlichen Zusammenhang zwischen den ersten MV-Äußerungen und dem Auftreten der Pronominalform ich (s. hier unten) auf. Im Hauptteil seiner Arbeit analysiert Ramge die MV-Entwicklung bei seinem Sohn Peter in der Periode von 2;3 bis 3;2. Dabei stellt er vier Erwerbsphasen fest (Ramge 1987:137-140). In der ersten Phase (2;3-2;5) treten die ersten MV (müssen, wollen und können) ohne erkennbare Regelmäßigkeit auf, so dass keine Rückschlüsse auf einen typischen Erwerbsverlauf möglich sind.

5 6

Mit Ausnahme von nicht brauchen, das nur von zwei Kindern überhaupt benutzt wird. Die Daten stammen aus Stern (1928), Scupin & Scupin (1933a[1907]), Preyer (1905), Lindner (1898), Meringer (1908), Clahsen (1982) und aus eigenen Protokollen (s. dazu Ramge 1987: 134f.).

40

3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

In der zweiten Phase (2;5-2;7.1) bilden können und wollen den Hauptanteil der MVÄußerungen. Während wollen an die buletische Lesart gebunden bleibt, zeigt können ein hohes Maß an Variabilität: Es wird sowohl dazu verwendet, Fähigkeiten, allgemeine Möglichkeiten und Erlaubnisse darzustellen, als auch Wünsche auszudrücken, wobei letztere Lesart den Hauptanteil der fennen-Äußerungen bildet. Äußerungen wie ich kann haben werden in dieser Phase als Synonyme für ich will haben behandelt. Während der dritten Phase (2;7.2-2;ll) nimmt der können-knXeW. an den MV-Äußerungen rapide ab zugunsten von wollen- und dürfen-Äußsmngen. In Ramge (1975) — eine frühere und eher qualitative Analyse von Peters Daten — betrachtet Ramge die Entwicklung von Phase II zu Phase III als typischen Fall der Überwindung einer Übergeneralisiemng: Je reicher und differenzierter die MV-Klasse während der dritten Phase wird, desto präziser stellt sich die Semantik der jeweiligen MV dar. Am Ende dieser Periode werden wollen, können, müssen und dürfen regelmäßig produktiv verwendet. Während der Phase IV (2;11-3 ;2) setzt sich der Prozess dieser Ausdifferenzierung fort. Die MV sollen, mögen und möcht- kommen neu hinzu. Am Ende dieser Phase werden alle MV produktiv verwendet. Ramge erklärt den späteren Gebrauch von dürfen, sollen und mögen gegenüber wollen, können und müssen dadurch, dass „sie als markierte [MV] speziellen Verwendungsbedingungen unterliegen" (Ramge 1987:142), die z.B. für können und müssen nicht gelten. In Ramges Koφus, das mit 3;2 endet, finden sich keine Belege für die epistemische MV-Verwendung (s. Ramge 1987:131 und Fn. 8). Diese Beobachtung stimmt also mit Adamziks Annahme überein, wonach epistemische MV im Deutschen nicht vor dem vierten Lebensjahr auftreten. Ramge (1987:128) stellt aber zu Recht fest, dass der MVErwerb nicht isohert von den anderen Modalausdrücken betrachtet werden kann, vor allem was den epistemischen Gebrauch betrifft. Diesbezüglich nimmt er folgende Erwerbsabfolge an (Ramge 1987:154, Fn.3): Zunächst werden einige Modalpartikel erworben {auch, schon, denn). In einer späteren Phase erscheinen die ersten Konjunktivformen in Rollenspielen, dann werden die ersten Satzmodale {vielleicht, wahrscheinlich, eigentlich) gebraucht und erst danach treten erste epistemische MV-Formen auf. Er merkt aber auch an, dass diese Beobachtungen lediglich vorläufiger Natur seien (ebda.), da sie auf keiner systematischen empirischen Analyse basierten. Ramges Analyse des MV-Erwerbs enthält jedoch eine Beobachtung — wenngleich indirekter Natur —, die einen möglichen Hinweis zum epistemischen MV-Erwerb liefert: Ramge stellt nämlich bei seinem Sohn Peter — genauso wie in den anderen Korpora (s.o) — einen auffälligen Zusammenhang zwischen dem MV- und dem Pronomen-Gebrauch fest: In den ersten Phasen (I bis III) ist der MV-Gebrauch weitgehend an die гс/г-Form gebunden. Erst in Phase IV ergeben sich einige Veränderungen: Dürfen-, müssen- und sollen-Fonnen werden vermehrt in der 2. bzw. 3. Person verwendet, wodurch sie kennzeichnen, „was der andere tun (oder nicht tun) soll" (Ramge 1987:146), während ich will und ich möchte weiterhin eigene Wünsche/Absichten ausdrücken. Diese Verschiebung wird von Ramge (1987:146) mit der kognitiven Entwicklung des Kindes erklärt: „[...] insgesamt beginnt sich hier eine Differenzierung in eine Fremddomäne und eine Eigendomäne abzuzeichnen, die an bestimmte Modalverben gebunden ist. Als Hauptergebnis können wir festhalten, daß in Phase IV eine kognitive Differenzierung durchscheint, die über die Differenzierung in

3.1 Langzeitstudien

41

Fremd- und Eigendomäne allmählich semantische Modalverbkonzepte herausbildet." Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass sich eine der fundamentalen kognitiven Voraussetzungen für den epistemischen MV-Gebrauch erst am Ende des dritten Lebenjahres herausbildet. Es ist nämlich kaum vorstellbar, dass ein Kind MV epistemisch korrekt verwendet, solange ihm die Unterscheidung zwischen der Eigenwelt und einer vom Ich unabhängigen Welt fremd bleibt. Deshalb kann die Herausbildung dieser kognitiven Fähigkeit als ein erster Schritt zum Erwerb einer vollständigen Theory of Mind eingestuft werden (zu einer ausführlichen Diskussion der kognitiven Voraussetzungen des epistemischen MV-Gebrauchs s. unter 4.1, S. 77ff.).·^ In ihrer Einzelfall-Studie untersucht Ehrich (2004b, 2005) alle MV-Vorkommen im CAROLINE-Korpus aus der CHILDES-Datenbank (McWhinney 2000).^ Ihre Ergebnisse bestätigen weitgehend die von Adamzik (1985) und Ramge (1987) beobachtete Erwerbsabfolge der verschiedenen zirkumstantiellen MV-Lesarten (Ehrich 2005: Abs. 3.1): Als erstes MV wird wollen im Alter von 1;8 erworben. Es wird in diesem Alter mit einem buletischen Redehintergrund verwendet. Dürfen in deontischer Lesart tritt mit 1;11 zum ersten Mal auf. Mit 2;0 erwirbt Caroline die Formen mag nicht (in buletischer Lesart) und soll nicht (in deontischer Lesart). Können (Fähigkeitslesart) und müssen (deontischer Lesart) werden mit 2;2 erworben. Ehrich (2005: Abs. 3.1) bemerkt dazu, dass Caroline in diesem Alter alle MV mindestens einmal produziert hat. Erste Verwendungen von können in Möglichkeitslesart sind ab 2;6 belegt (Ehrich 2004b: Abs. 3.2.0): (2)

MOT (= Mutter): ne alleine geht nich #2. CHI (= Kind): das ist einfach ## CHI: da kannst dich zu leicht schneiden

CAROLINE (2;6)

Im Unterschied zu Adamzik (1985) und Ramge (1987) finden sich im CAROLINEКофи8 einige Belege von MV in epistemischer Verwendung. Ein erster Beleg, den Ehrich als „proto-epistemisch" einstuft, wird von Caroline schon mit 2;3 produziert (ebda.):

Obwohl Ramge zu Recht bemerkt, dass die Entwicklung dieser Differenzierung eine bedeutsame Rolle im Erwerb eines semantischen Modalkonzepts spielt, darf daran gezweifelt werden, dass der Pronomen-Erwerb als Indikator für die Herausbildung dieser Differenzierung fungieren kann. Wie die Literatur zum Pronomen- und Deixis-Erwerb zeigt, wird die kindliche Verwendung von pronominalen Formen von sehr komplexen semantischen und pragmatischen Faktoren regiert. Es ist also sehr fraglich, ob der Pronomen-Erwerb lediglich durch die kognitive Entwicklung des Kindes erklärt werden kann (zu einem allgemeinen Forschungsüberblick des Pronomen-Erwerbs s. Chiat 1986; zum Erwerb der Deixis s. Wales 1986). Das Hauptziel von Ehrichs Einzelstudie besteht eigentlich darin, die linguistischen Faktoren des Erwerbs der epistemischen MV-Lesart zu untersuchen. Dieser Teil ihrer Arbeit wird erst im nächsten Kapitel ausführlicher diskutiert (s. dazu unter 4.4, S. 114f.).

42

3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick (3)

MOT: die da bei dir haengen # da sind doch Delphine # 1. CHI: nicht fine # ich glaub ich # dieses auf dem xx totdemacht #1. CHI: nage scheinlich eine reht [?]#. MOT: Nagel wahrscheinlich eingetreten? CHI: ja # scheinlich # vielleicht #1 soll sein #. MOT: das soll so sein #? CHI: ja. CAROLINE (2;3)

Neben dieser schwer deutbaren Äußerung von Caroline enthält das Koφus noch zwei weitere MV-Äußerungen, die diesmal eindeutig epistemischer Natur sind. Beide Belege wurden von Caroline in der zweiten Hälfte ihres dritten Lebensjahrs produziert (ebda): (4)

CHI: steckt die # das ## in Mun Mund ## in Mund Mund xxx#. CHI: des muss ein #1 mal rund #1 gewesen sein ## weil ein Knetgummi#3. CAROLINE (2;7)

(5)

CHI: Wo ist denn [?] ## ein einen muss da oben sein. CAROLINE (2;9)

Neben dem MV-Erwerb untersucht Ehrich (2004b, 2005) auch die Vorkommen verschiedener epistemischen MV-Konkurrenten. Erste epistemische Verwendungen von vielleicht sind ab 2;5 belegt (Ehrich 2004b: Abs. 3.2.4):^ (6)

MOT: der sagt # irgendjemand hat an meinem Fuss geknabbert. CHI: sag ich #2 MOT: Ich weiß nich wer das war #2 CHI: vielleicht des # schwarze Pferd #1 CAROLINE (2;5)

(7)

MOT: und da # hat er da sein Taschentuch #1 ? CHI: nein ein Baby #1 MOT: und warum sitzt es da #1? CHI: vielleicht ist es in Papis Bauch #2

CAROLINE (2;8)

Mentale Verben wie denken werden auch von Caroline verwendet, jedoch nur — so Ehrich (2004b: Abs.3.2.3) — in ,4nteraktiver Verwendung". Etwa in der Zeit, in der MV erstmals epistemisch verwendet werden, treten auch erste wenn-Konditionale auf. Auch der Gebrauch von sonst ist in dieser Periode belegt: (8)

MOT: soll ein Blumenstrauss sein gell -? #. CHI: ja #4 sonst ganz traurig #.

CAROLINE (2;9)

Zu diesen jonji-Verwendungen bemerkt Ehrich (2004b: Abs. 3.2.4), dass sie darauf hindeuten, dass Caroline am Ende ihres dritten Lebensjahrs dazu fähig ist — zumindest

Die Verwendung von vielleicht ist eigentlich schon mit 2;3 belegt, jedoch nicht in epistemischer Lesart, sondern in einer „primär handlungsbezogenen Verwendung" (Ehrich 2004b: Abs. 3.2.4): Vielleicht will ich liegen, CAROLINE (2;3).

3.1 Langzeitstudien

43

ansatzweise —, sich Gedanken über Ereignisaltemativen und deren denkbaren Folgen zu machen. Zusammenfassend bestätigt Ehrichs Studie die Annahme, dass die epistemische MVLesart nach der zirkumstantiellen erworben wird. Soweit eine Einzelfallstudie repräsentativ sein kann, zeigt sie aber auch, dass die epistemische MV-Lesart nicht unbedingt später erworben wird als die wichtigsten epistemischen MV-Konkurrenten. Dass der Erwerb der epistemischen MV-Lesart später als die der zirkumstantiellen beginnt, scheint keine spezielle Eigenschaft des Deutschen zu sein, sondern findet sich genauso in den Erwerbsdaten anderer Sprachen. In den folgenden zwei Abschnitten werden kurz die Forschungsergebnisse der in dieser Hinsicht meist untersuchten Sprachen dargestellt: Englisch, Griechisch, Polnisch und Französisch.

3.1.2

Englisch

Im Englischen sind can und will die ersten MV, die produktiv verwendet werden. Sie werden zwischen 1 ; 10 und 2;6 erworben. Oft erscheinen sie zuerst ohne feste semantische Bedeutung und lediglich als syntaktische Träger der Negation, aber auch als Ausdruck von Wünschen und Intentionen oder als Handlungskommentierungen (Brown 1973; Bloom, Lightbown & Hood 1975; Fletcher 1979). Etwa im selben Alter erscheinen zum ersten Mal auch die Kontraktionen wanna, hafia und gonna (Brown 1973; Bloom, Lightbown & Hood 1975). Eine der umfangreichsten Darstellungen des MV-Erwerbs im Englischen bietet Wells' (1979) Analyse eines Korpus von 60 Kindern. Auch seine Ergebnisse bestätigen, dass can und will als erste MV in der Kindersprache auftreten. Beide MV werden mit 2;6 von mehr als 50% der untersuchten Kinder regelmäßig verwendet. Dieses von Wells' (1979) festgelegte Erwerbskriterium'" wird bei be going to mit 2;9 erreicht, bei have got to mit 3;2 und bei shall mit 3;3." Could ist mit 3;6 die letzte Form, die diesem Kriterium am Ende der untersuchten Periode (3;6) noch genügt. Alle anderen MV (must, may, might, should, would usw.) können im Alter von 3;6 noch nicht von der Hälfte der untersuchten Kinder produziert werden: Am Ende des beobachteten Zeitraums wird must von 45% der Kinder verwendet, should und would von 25% bzw. 22%, während might und may von nur 22% bzw. 17% der Kinder benutzt werden. Schlusslichter sind be able to und ought to mit weniger als 10%. Auch in der Untersuchung von Pea & Mawby (1984) sind can, will, have to und gonna die am häufigsten verwendeten MV.^^ MV wie would, should, might treten dagegen nur sporadisch auf. Die MV may, must, shall und ought sind im Unterschied zu Wells' Daten im Koφus nicht vorhanden (Pea & Mawby 1984:208). Es ist dennoch sehr auffällig, 10 Wells' Kriterium (1979) gilt als erreicht, wenn eine bestimmte Form von mindestens 50% der untersuchten Kinder mindestens einmal verwendet wurde. 11 Wells bingt leider keine Einzelbeispiele, so dass es nicht klar ist, ob be going to und shall in diesem Alter wirklich modal oder lediglich futurisch verwendet werden. 12 In Pea & Mawby (1984) wurden die Daten von sechs Kindern gesammelt. Die Aufzeichnungen beginnen je nach Kind zwischen 2;4 und 2;10 und enden dementsprechend zwischen 2;11 und 3;5.

44

3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

dass sich die von Peas & Mawbe (1984) und Wells (1979) beschriebenen Erwerbsreihenfolgen sehr ähnlich sind, so dass die beschriebenen Verläufe auf ein relativ typisches Erwerbsmuster im Englischen hindeuten. Da die Autoren mit zum Teil sehr unterschiedlichen theoretischen Hintergründen arbeiten, ist es nicht leicht festzustellen, ob beim Erwerb der verschiedenen MV-Lesarten ein ähnliches einheitliches Muster wie beim ersten Auftreten der MV besteht. Wells (1985:159f.) beobachtet folgende Erwerbsabfolge für die verschiedenen zirkumstantiellen Lesarten: In einer ersten Phase werden MV lediglich dazu verwendet, Wünsche, Erlaubnisse und Fähigkeiten auszudrücken. Auf diese Lesarten folgt einige Monate später eine zweite Gruppe von zirkumstantiellen Lesarten, die verschiedene Formen der ,J^otwendigkeif' zum Ausdruck bringen. Wünsche werden typischerweise mit will, want to oder der Kontraktion wanna ausgedrückt (Stephany 1986:390; Shepherd 1982), während die Fähigkeits- und die Erlaubnislesart fast ausschließlich von can übernommen werden (Wells 1979:258; Pea & Mawby 1984:218; Stephany 1986:390). Notwendigkeiten — insbesondere die deontische — werden vor allem durch have (got) to, shall, should und in seltenen Fällen auch mit must ausgedrückt (Wells 1979; Stephany 1986:390). Wells (1985:253f.) stellt zusammenfassend fest, dass „[...] by 39 month all five categories of Modulation [die zirkumstantielle Lesart in Wells' System, S.D.] are likely to be present in the speech of the average child." Es ist unverkennbar, dass die von Wells' (1985) hier beschriebene Erwerbsabfolge der zirkumstantiellen MV-Lesarten im Englischen weitgehend mit den Beobachtungen von Adamzik (1985), Ramge (1987) und Ehrich (2004b, 2005) für das Deutsche übereinstimmen. Es kann also davon ausgegangen werden, dass dieses Muster weniger von der jeweiligen Sprache abhängig ist als vielmehr von der sozialen und kognitiven Entwicklung des Kindes. Es lassen sich dennoch interessante Unterschiede im Erwerb beider MV-Systeme beobachten. Während im Deutschen dürfen als Ausdruck deontischer Möglichkeit schon sehr früh erworben wird, spielt may in dieser Lesart im Englischen frühen MV-Erwerb kaum eine Rolle. Wells (1979) berichtet, dass 97% der Kinder can deontisch verwenden, während may nur für 15% der Kinder diese Funktion übernehmen kann.'^ Ein ähnlicher Unterschied scheint zunächst auch für müssen und must zu bestehen. Auch hier tritt der deutsche Ausdruck früher auf als seine englische Entsprechung. Es gibt dennoch gute Gründe anzunehmen, dass beide Fälle nicht vergleichbar sind. Zum einen ist im Fall von müssen und must der Unterschied deutlich weniger markiert: Mit 3;6 benutzen immerhin 45% der Kinder in Wells' Korpus (1979:257) must zirkumstantiell. Zum anderen lässt sich diese Differenz leicht erklären, wenn man bedenkt, dass die Funktion des deutschen müssen im Englischen zunächst oft nicht von must, sondern von have (got) to übernommen wird.'"' Der festgestellte Unterschied zwischen dem Er13 Diese Beobachtung wird indirekt von Pea & Mawby (1984) bestätigt, da may in ihrem Кофиз nie vorkommt (s. o.). 14 Mir ist aus keiner Arbeit zum Deutschen bekannt, wann die Form hat... zu erworben wird.

3.1 Langzeitstudien

45

werb von dürfen im Deutschen und may im Englischen ist dagegen womöglich auf die Tatsache zurückzuführen, dass dürfen im Deutschen das typische MV für die deontische Möglichkeitslesart ist, während sich may im Englischen mehr und mehr zu einem rein epistemischen MV entwickelt. Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass dürfen im Deutschen früher erworben wird als das deontische may im Englischen. Was die epistemische MV-Lesart betrifft, bestätigen die englischen Daten die Annahme, dass epistemische MV deutlich später erworben werden als die zirkumstantiellen (s. dazu u.a. Wells 1979; Pea et al. 1982; Pea & Mawbe 1984; Wells 1985 und Stephany 1986,1993,1995). Oft wird aber betont, dass der relativ frühe futurische MV-Gebrauch als Vorstufe zum Erwerb der epistemischen Lesart betrachtet werden kann (Shepherd 1982; Gee 1985; Stephany 1995:140). So beobachten Wells (1979) und Pea & Mawby (1984), dass die MV will, shall, going to und gonna, die ab 2;6 als Ausdrücke von Wünschen und Absichten in einer unmittelbaren Zukunft fungieren, im Laufe der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahres immer häufiger dazu verwendet werden, Vorhersagen über Handlungen oder Ereignisse zu machen, die nicht mehr vom Kind selbst kontrolliert werden. Shepherd (1982) stellt in einer Einzelfallstudie eine ähnliche Entwicklung bei dem von ihr untersuchten Kind fest. Sie beobachtet eine Bedeutungserweiterung von will über den Ausdruck der Volition hinaus zu einem der Vorhersage. Will wird im Laufe des dritten Lebensjahres vom untersuchten Kind immer häufiger dazu verwendet, entweder auf die entfernte Zukunft hinzuweisen oder aber auf die unmittelbare, wenn der denotierte Sachverhalt nicht vom Kind selbst kontrolliert wird. Parallel dazu übernimmt gonna die komplementäre Funktion, eigene Intentionen und Absichten in unmittelbarer Zukunft auszudrücken. Gees (1985) Analyse von 189 will- und 445 gonna-Äußerangen von Kindern zwischen 3;2 und 4;2 zeigt eine ähnliche semantische Funktion beider MV für Vorhersagen wie von Shepherd (1982) angenommen, jedoch mit einer umgekehrten Rollenverteilung beider MV. Gee (1985:217) stellt fest, dass will von den Kindern nie dazu benutzt wird, Vorhersagen zu machen, die nicht vom Sprecher abhängen, wie in (9) exemplifiziert (Gee 1985:217): (9)

Let's make some noises and then he' II wake up.

Im Gegenteil „one of the constraints on the use of WILL for the children observed was that it can be used to express the consequences [Alle Hervorhebungen im Original, S.D.] of the speaker's activity. That is, what is predicted in a third person WILL is not an event which stands on its own, but rather the event is, and is represented as a consequence of some activity on the part of the participants." Der Gebrauch von gonna unterscheidet sich von demjenigen von will dadurch, dass das von gonna denotierte Ereignis nicht vom Sprecher abhängig ist. Gonna drückt Ereignisse aus, die mehr „the course of event" oder „the way things go" (Gee 1985:218) entsprechen, wie in (10) (ebda.):

46

3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick (10) He's gonna wake up.

Der Kontrast zwischen (9) und (10) zeigt deutlich den Unterschied zwischen will und gonna: Während in (9) das Aufwachen als Konsequenz einer Handlung des Sprechers dargestellt wird, bezieht sich (10) darauf, dass explicit representation of the connection between the very same outcome and the speaker's action is made" (Gee 1985:218). Diese fortschreitende Aneignung der Fähigkeit, sich auf eine immer entferntere Zukunft zu beziehen und Prognosen über Ereignisse anzustellen, die nicht vom Kind selbst abhängen, deutet auf eine Loslösung des Kindes von der Unmittelbarkeit der Wahrnehmung hin. In diesem Sinne sind Prognosen und Vorhersagen erste Äußerungen, die sich nicht auf aktuelle Sachverhalte beziehen, sondern eine Spekulation über die Möglichkeit von Sachverhalten darstellen. Daher können sie nach Hamer (1982) und Stephany (1986,1995) als eine Vorstufe zum Erwerb einer epistemischen Modalität betrachtet werden. Hamer (1982:116) stellt femer über das Verhältnis von Sprechersicherheit und zeitlicher Unmittelbarkeit bei Kindern zwischen 2;0 und 4;0 folgende Überlegung an: „It seems likely that there is an overlap between immediacy and certainty such that the more immediate the future event, the more certain one can be that it will occur." Natürlich soll dabei auch der Umkehrschluss gelten: Je entfemter die beschriebene Zukunft ist, um so geringer kann die Sicherheit eines Sprechers über sie sein. Die fortschreitende Fähigkeit des Kindes, sich auf eine immer entfemtere Zukunft zu beziehen, könnte als eine Vorstufe zum Erwerb der epistemischen Möglichkeit gelten. Die von Wells (1979), Shepherd (1982), Pea & Mawby (1984) und Gee (1985) beobachtete Verschiebung in der Verwendungsweise von will, shall, going to und gonna, von Ausdrücken unmittelbarer Wünsche und Absichten zu Ausdrücken allgemeiner Vorhersagen, lässt folgenden Schluss zu (Stephany 1986:392): ,Jf it is 'the degree of certainty of the speaker's statements being factual' which influence the choice of a future referent (near versus remote) in 3-5 year olds [...], this is further evidence that epistemic modality develops from the prediction of events not controlled by the child." Diese Verwendungsweisen von will und gonna können natürlich nur als Vorstufe einer epistemischen MV-Bedeutung gelten, da sie erstens immer an eine futurische Referenz gebunden bleiben und zweitens sich auf nicht faktische Sachverhalte beziehen, ohne dabei jedoch die (Un)Möglichkeit bzw. Notwendigst dieser Faktivität direkt zu thematisieren. In ihrer Zukunftslesart besagen will und gonna lediglich, welches Ereignis aus einer offenen Menge von Altemativen tatsächlich faktiv sein wird.'^ 15 Gee (1985:221) 1П1ефге11еП ihre Daten auch in Bezug auf die in der Literatur oft debattierte Frage über die Existenz eines Futurs im Englischen (s. dazu u. a. Lyons 1977; Fleishman 1982 und Palmer 1986). Sie kommt zu dem Schluss, dass die futurische Referenz von gonna und will als eine Konsequenz der modalen Funktion zu betrachten ist. Bassano (1996: 80) argumentiert dagegen, dass nur die Referenz auf futurische Ereignisse epistemisch sein kann, deren Eintreffen nicht vom Sprecher abhängig sind; m. a. W. nur PrognosenAbrhersagen sind epistemisch, Intentionen dagegen nicht.

3.1 Langzeitstudien

47

Neben diesem Gebrauch von gonna und will, nämlich auf zukünftige Ereignisse Bezug zu nehmen, treten MV während des dritten Lebensjahres in der epistemischen Lesart nur sporadisch auf. Stephany (1986:396f.) notiert, dass, obwohl in Korpora erste Belege für epistemische MV schon in der Hälfte des dritten Lebensjahres gefunden wurden, die epistemische Lesart bis 3;6 oder sogar später (Cromer 1974; Kuczaj 1977:386,397) noch nicht wirklich etabliert ist. Ganz ähnlich konnten Pea et al. (1982) in 1766 MV-Äußerungen eines Kindes nur sieben epistemische finden, von denen fünf nach 2;8 vorkamen (zitiert in Stephany 1986:396).'^ Die MV, die von den verschiedenen Autoren als epistemisch gezählt werden und bis 3;6 vorkommen, sind might, must, may, should, can, could und would (Wells 1979; Pea & Mawby 1984; Stephany 1986). Die Untersuchung von Wells (1979) zeigt aber, dass die Frequenz des Auftretens der verschiedenen epistemischen MV recht unterschiedlich ist: Von den 64 Äußerungen, die man in seinem Koφus als epistemisch einstufen kann,'^ werden 32 mit might, 13 mit would, 1 mit must, 6 mit may, 4 mit could und 2 mit should realisiert. Wells (1979:257) stellt aber auch fest, dass alle von ihm als epistemisch gezählten would- und could-Formen eigentlich Konditionale sind.'^ Bemerkenswert an Wells' Daten ist darüber hinaus die herausragende Rolle von might irn frühen kindlichen epistemischen MV-System: Abgesehen von den would- und could- Äußerungen werden knapp 70% der epistemischen MV-Äußerungen mit might realisiert.

16 Es ist an dieser Stelle noch zu bemerken, dass Pea et al. (1982) eine nebulose buletische Lesart von will zu den epistemischen zählen, was die Anzahl der beobachteten epistemischen MV künstlich erhöht haben könnte. 17 Wells (1979) unterscheidet zwei verschiedene epistemische Kategorien: 1. Die likelihood-Kategoríe: „the modal meanings are [here] concerned with the probability of the event being actualised [...]" (Wells 1979:255): (i)

It may rain. We'd better take our coats.

2. Die /n/erence-Kategorie: „[...] the probability of an event which is not directly known is inferred with varying degrees of certainty from information which is directly available" (ebda.): (ii)

That may be John. He said he'd call.

Wie man Wells' Definition entnehmen kann, sind beide Kategorien insofern epistemisch, als sie sich auf die Wahrscheinlichkeit des Auftretens/Bestehens von Sachverhalten beziehen. Der einzige Unterschied zwischen beiden Kategorien scheint zu sein, dass sich Inferences ausdrücklich als Schlüsse aus vorhandenen Informationen darstellen, während diese Referenz auf eine Quelle des Wissens in der likelihood nicht erforderlich ist. Es ist fraglich, ob diese Unterscheidung im Rahmen des Spracherwerbs sinnvoll ist: Es ist nämlich kaum zu erwarten, dass Kinder die Quelle ihres Wissens in ihren epistemischen Äußerungen ausdrücklich erwähnen, so dass eine zuverlässige Einteilung der kindlichen epistemischen MV-Äußerungen in diese zwei Kategorien kaum durchführbar ist. Aus diesem Grund werden in der hier vorliegenden Darstellung von Wells' (1979,1985) Ergebnissen beide Kategorien zusammengefasst. 18 Dies bedeutet natürlich nicht, dass alle would- und coiiW-Formen in Wells' Korpus epistemisch sind: Wells' Daten zeigen nämlich, dass 94% aller could- und immerhin 48% aller wowW-Äußerungen zirkumstantiell zu deuten sind (Wells 1979:257f.).

48

3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

Man sollte dabei aber nicht außer Acht lassen, dass im Alter von 3;6 weniger als 50% der von Wells (1979) untersuchten Kinder überhaupt epistemische Äußerungen mit might (32%) oder may (3%) tätigen. Es ist deshalb anzunehmen, dass der Erwerb der epistemischen MV-Bedeutung tatsächlich erst in einem höheren Alter stattfindet. Es gibt nur wenige Langzeituntersuchungen zum Englischen, die sich auf den MVErwerb bei Kindern über 4;0 beziehen. Diese bestätigen jedoch sämtlich die in Wells' Daten beobachtete Rolle von might im epistemischen MV-System von Kindern bis etwa 12;0. Wells (1985) untersucht die Entwicklung der epistemischen MV-Bedeutung bei Kindern zwischen 3;3 und 5;0. Dabei bezieht er sich auf dasselbe Кофиз wie in seiner früheren Studie (Wells 1979). Seine Ergebnisse bestätigen einerseits die Ergebnisse von Wells (1979), andererseits zeigen sie aber auch, dass zwischen 3;6 und 5;0 eigentlich nicht allzuviel geschieht. Die einzige nennenswerte Entwicklung ist, dass Wells' 50%Kriterium (s.o.) für might und may mit 5;0 erreicht wird.'^ Dagegen benutzen lediglich 46% der untersuchten Kinder Ausdrücke der epistemischen Notwendigkeit. Wells (1985:254) kommt zu folgendem Schluss: „only Possible [d.h. die likelihood-beáeubxng für Möglichkeit, S.D.], realized typically by 'may' and 'might', is really firmly established by 60 months, whilst Inferential das hardly begun to appear at all." Perkins (1983) führt im Rahmen des Polytechnic of Wales Language Development Project eine Studie über den Erwerb von Modalausdrücken bei Kindern zwischen 6:0 und 12;0 durch.^'' Was den MV-Gebrauch betrifft, stimmen seine Analysen genau mit Wells' (1979,1985) Beobachtungen überein. Perkins' (1983:141) quantitative Auswertung seines Koφus bestätigt die Annahme, dass might (25 Äußerungen im Korpus) das meist benutzte epistemische MV ist. Im Vergleich werden may und must und should jev/eiis nur fünfmal in dieser Lesart verwendet. Femer notiert Perkins (1983:148), dass might und may nur epistemisch und nie zirkumstantiell gebraucht werden. Bei must und should ist dies eindeutig nicht der Fall: Nur 25% der must- und nur 10% der i/iOMW-Äußerungen sind epistemischer Art. Perkins' (1983) und Wells' (1985) Daten zeigen also übereinstimmend, dass bis zu einem relativ hohen Alter (12;0) lediglich might regelmäßig epistemisch verwendet wird, während andere MV in dieser Lesart nur sporadisch auftreten. Die Gründe für die hier beobachtete besondere Stellung von might im kindlichen epistemischen MV-System können auf mehrere Faktoren zurückgeführt werden: Zum einen ist es durchaus möglich — wie von Wells (1985) angenommen —, dass Ausdrücke der epistemischen Möglichkeit früher erworben werden als Ausdrücke der epistemischen Notwendigkeit, weil epistemische Notwendigkeit und Faktizität der ausgedrückten Wahrscheinlichkeit nach so nah aneinanderstehen, dass sie oft kaum voneinander unterscheidbar sind. Zum anderen könnte aber auch die MV-Polyfunktionalität eine entscheidende Rolle bei der beobachteten Sonderstellung von might spielen. Dies vor allem wenn man 19 Mit 5;0 haben 91% der Kinder mindestens einmal eine der Formen verwendet. Wells (1985:253) macht leider keine getrennten Angaben über die verwendeten MV. 20 Seine Daten bestehen ausschließlich aus Gesprächen unter Kindern.

3.1 Langzeitstudien

49

bedenkt, dass might das einzige MV im Englischen ist, das keine zirkumstantielle Verwendungsweise hat, also rein epistemisch ist. Wie alle englischen Daten zeigen (s. o.), ist dagegen die zirkumstantielle Bedeutung von must oder should schon lange vor der epistemischen weitgehend etabliert?' Eine definitive Einschätzung beider Faktoren ist aber nicht möglich, ohne eine vergleichende Analyse des Erwerbsverlaufs einiger Systemkonkurrenten wie der Adverbien maybe und perhaps sowie der mentalen Verben think, know, guess usw.. Perkins' (1983) Studie stellt diesbezüglich die einzige Untersuchung zum Englischen dar, die neben der MV-Entwicklung auch den Erwerbsverlauf anderer epistemischer Ausdrücke analysiert. In seinem Korpus treten verschiedene Systemkonkurrenten der MV auf: Am häufigsten ist die Form / think vertreten. Perkins (1983:147) weist darauf hin, dass die primäre Funktion von I think zwar vor allem darin besteht, eine subjektive epistemische Unsicherheit seitens des Sprechers wiederzugeben, dass think aber auch als Ausdruck sozialer Unsicherheit oder der Höflichkeit verwendet wird.^^ Festzuhalten ist aber auch, dass / think mit 74 Belegen deutlich häufiger von 6- bis 12-Jährigen verwendet wird als das meistverbreitete epistemische MV might. Im Unterschied zu / think fallen die Satzadverbien perhaps und maybe in Perkins' Korpus kaum ins Gewicht: Perkins zählt lediglich drei Äußerungen mit maybe und zwei mit perhaps, also deutlich weniger als mit might und sogar mit may. Bei den Satzadverbien spielt lediglich probably mit 8 Belegen eine gewisse Rolle. Perkins notiert darüber hinaus, dass diese Adverbien im Unterschied zu think und might erst von den 7-Jährigen und den älteren Kindern verwendet werden. In zwei Studien haben Shatz et al. (1983) den spontanen Gebrauch verschiedener kognitiver Verben wie think, know, believe oder guess bei Vorschulkindern analysiert.^^ In der ersten Studie wurde die Entwicklung eines Kindes zwischen 2;4 und 4;0 verfolgt, während im zweiten Teil der Arbeit eine Querschnittstudie über 30 2-Jährige durchgeführt wurde. Die Ergebnisse des ersten Teils der Untersuchung zeigen, dass einige kognitive Verben schon vor dem vierten Lebensjahr erworben werden. So tritt know schon mit 2;4 zum ersten Mal auf; think, guess und believe sind ihrerseits ab 2;8 dokumentiert (Shatz et al. 1983:306, Tab.l). Von einem quantitativen Standpunkt aus scheinen vor allem know (709 Belege) und think (405 Belege) eine sehr wichtige Rolle zu spielen. Das Korpus enthält dagegen 35 Äußerungen mit guess und lediglich vier ¿eZ/eve-Äußerungen. Was die Funktion der Verben betrifft, bemerken die Autoren, dass diese Verben nicht von Anfang an auf mentale Zustände referieren, sondern zunächst in Floskeln wie I think oder You know diskurspragmatische Funktionen (Shatz et al. 1983:311) erfüllen. Think wird als erstes Verb erst mit 2;8 verwendet, um auf mentale Zustände zu referieren oder 21 Für eine ausführliche Behandlung dieser Frage s. unter 4.3, S.106. 22 Diesbezüglich stellt Perkins (1983:147) fest, dass I think signifikant häufiger von Mädchen als von Jungen verwendet wird. Als Erklärung für diesen Unterschied schließt er sich Lakoffs (1975) These an, dass Mädchen in einer Weise erzogen werden, die zu einer sozialen Unsicherheit und in der Folge zu einer Bescheidenheit führt, welche die Mädchen die Stärke ihrer Aussagen häufiger als Jungen relativieren lässt. 23 Für eine komplette Liste der untersuchten Lexeme s. Shatz et al. 1983: 306, Tab.l.

50

3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

eine epistemische Unsicherheit beim Sprecher auszudrücken.^'^ Zwei Monate später wird auch know in diesen Funktionen verwendet^^ und believe einen Monat nach know. Guess ist in dieser Funktion erst mit 3;1 belegt. Aus Shatz' et al. (1983) Querschnittstudie kann man vor allem festhalten, dass sie die in der Einzelstudie erzielten Ergebnisse sowohl hinsichtlich der Funktionen als auch des Erwerbsalters der verschiedenen untersuchten Verben bestätigt. Nichtsdestotrotz zeigen Perkins' (1983) und vor allem Shatz' et al. (1983) Daten, dass kognitive Verben (vor allem think und know) häufiger und etwa fünf Monate vor den ersten epistemischen MV regelmäßig benutzt werden.

3.1.3

Weitere Sprachen: Griechisch, Polnisch und Französisch

Neben dem Deutschen und dem Englischen wurden auch Langzeitstudien zu anderen Sprachen durchgeführt. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeiten werden nachfolgend kurz dargestellt.^® Das Neugriechische kennt im Grunde nur zwei echte MV: Die MV boro, das die Bedeutung von können und dürfen haben kann, und prépi, das defektiv nur in der dritten Person vorkommt und semantisch müssen entspricht (Stephany 1985:176). Beide MV können sowohl zirkumstantiell als auch epistemisch vorkommen. Neben diesen zwei echten MV zählt aber Stephany (1986:377) noch die Vollverben θέΐο ,wollen', kséro ,wissen', ,fähig sein zu', epitrépo ,erlauben' und anangázo ,vorschreiben' zu den lexikalischen Modalausdrücken. In einer Langzeitstudie hat Stephany (1985,1986) den spontanen Gebrauch dieser Verben bei fünf Kindern zwischen 1;8 und 2;11 untersucht.^^ Boro ist in allen Кофога vom frühesten Alter an belegt. Es kommt hauptsächlich in der Fähigkeitslesart vor. Prépi wird mit 2;4, also später als boro erworben (Stephany 1985:176). Es wird deontisch oder buletisch verwendet. Das Hauptverb θέΐο ist in allen Korpora reichlich belegt (Stephany 1985:178), während die anderen verbalen Modalausdrücke nur selten auftreten: Nur kséro und epitrépo kommen ab 2;10 vor (Stephany 1985:176 und Stephany 1986:382). Stephany (1986:385) stellt aber auch fest, dass die MV prépi und boro in der untersuchten Periode lediglich zirkumstantiell verwendet werden. In ihrem Koφus befinden sich also keine epistemischen Äußerungen unter Verwendung dieser Verben. In einer Einzelstudie von 2;6 bis 4;0 fand jedoch Katis (1983) erste Belege für epistemische MV-Äußerungen (zitiert in Stephany 1986:396): 24 Shatz et al. (1983) stellen aber zusätzlich fest, dass think in beiden Funktionen zeitgleich erworben wird (Shatz, Wellman & Silber 1983: 311). 25 Aus Shatz' et al. Daten (1983: 311) ist nicht ganz ersichtlich, ab wann know in diesen Funktionen wirklich belegt ist, da sie die Form I don't know (ohne Komplement) unanalysiert einer eigenständigen Funktion zuordnen, die nicht näher definiert wird. Sie bemerken lediglich, dass frühe Äußerungen dieser Phrase oft als eine Art idiomatischer Form der Negation zu betrachten und dass sie ansonsten kaum einer eindeutigen Kategorie zuzuordnen sind (Shatz et al. 1983: 308). 26 Zum MV-Erwerb des Koreanischen s. hier unten S. 107ff.. 27 Stephany (1985, 1986) hat die Aufnahmen nicht kontinuierlich, sondern nur punktuell durchgeführt. Ihre Daten sind in vier Perioden eingeteih: In Periode I waren die Kinder im Schnitt 1 ;9 alt, in Periode II 2;4 und in Periode III 2; 10 (s. dazu Stephany 1986: 377).

3.1 Langzeitstudien (11) bori ke na fovótane es-kann-sein also dass angst-hab-3Pers.+Prät.+Konj. Es kann also sein, dass er Angst hatte

51

(3;9)

Eine ähnliche Untersuchung wie Stephany (1985,1986) für das Griechische wurde von Smoczyñska (1993) für das Polnische durchgeführt. Das polnische MV-System kennt zwei Grundmodal Verben: moze (Infinitiv móc), das semantisch können entspricht, und musi (Infinitiv musiec) ,müssen'. Beide Verben sind wie im Deutschen polyfunktional, obgleich Smoczyñska (1993) betont, dass die zirkumstantielle Bedeutung bei Weitem überwiegt. Die epistemische Funktion wird dagegen im Polnischen vor allem von Modalpartikeln und -adverbien getragen (Smoczyñska 1993:146). Noch zu erwähnen ist, dass chce das polnische Standardverb des Wollens ist. Anzuführen ist des Weiteren das Verb powinien, das etwa dem englischen should oder dem deutschen sollen entspricht und sowohl eine deontische Notwendigkeit (Verpflichtung) als auch eine epistemische Probabilität ausdrücken kann.^^ Im Laufe der Beobachtungsperiode (von 1 ;0 bis 3 ; 1 ) werden von den vier untersuchten Kindern alle Kategorien der zirkumstantiellen Modalität allmählich erworben. Wie in den anderen Sprachen spielt auch im Polnischen die buletische Modalität in der Kindersprache eine herausragende Rolle, so dass es nicht weiter erstaunlich ist, dass chce als erster Modalausdrack erworben wird (ab 1 ;6). Das MV musiec wird ab 1 ;9 zunächst in der buletischen Lesart verwendet. Oft wird es in Kontexten gebraucht, in denen die Kinder ihre Pläne gegen den Willen anderer durchsetzen wollen (Smoczyñska 1993:154). Am Ende der Erhebungsperiode erscheint musiec aber auch, um auf Normen hinzuweisen, wenn es in der dritten Person verwendet wird (Smoczyñska 1993:156). Ab 1;7 werden schwächere imperative Notwendigkeiten oft mit der impersonalen Form trzeba ausgedrückt (Smoczyñska 1993:156f.). Die frühesten Formen von maze drücken die eigene кофегИсЬе Unfähigkeit des Kindes aus, etwas zu tun (von 1;9 an) (Smoczyñska 1993:164f.). In diesem Kontext werden neben dem MV moze auch die impersonale Form nie da si^ ,es kann nicht gemacht werden (= es geht nicht)' und benutzt (ebda.). Erlaubnisse und Verbote werden typischerweise von 1;8 an mit dem MV moze und der impersonalen Konstruktion (nie) wolno (,es ist (nicht) erlaubt') augedrückt. Smoczyñskas Daten zeigen aber auch, dass die polyfunktionalen MV musiec und moze bis zum Ende der Erhebungsperiode (3;1) nie epistemisch vorkommen. Sie bemerkt zudem, dass das ebenfalls polyfunktionale quasi-MV powinien beim Kind Kasia zwar sehr selten gebraucht wird, jedoch dann nur in der epistemischen Lesart (Smoczyñska 1993:160): (12) Chybanie powinny chodzic do przedszkola, bo sq mate wohl nicht sollten gehen zum Kindergarten, weil sind klein Ich dachte, sie werden wohl noch nicht in die Kita gehen, weil sie klein sind. KASIA (2;9) 28 Neben chce und den MV musiec und móc kennt das Polnische noch eine Reihe von impersonalen Modalkonstruktionen wie moina (,man kann', Erlaubnis/allgemeine Möglichkeit), wolno (,es ist erlaubt'), trzeba (,es ist nötig/notwendig', impersonale Verpflichtung), da 5Ц (Möglichkeit im Sinne von Machbarkeit).

52

3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick (13) Powinny }uz wrócic sollten schon zurückkommen Sie sollten jetzt zurück sein.

ICASIA (2; 10)

Hier begegnet uns wieder ein an sich polyfunktionales MV nur in einer seiner Hauptfunktionen.^^ Im Gegensatz zur epistemischen MV-Lesart sind epistemische Modalpartikel und -adverbien in Smoczyñskas Korpus sehr früh dokumentiert (Smoczyñska 1993:149f.): (14) Maie to od dzin-dzinial Vielleicht das von Ding-Dong? Vielleicht kommt es vom Ding-Dong (= der Glocke)?

JAS (1;11)

(15) Czyja to butelkal Mamy chyba Wessen das Flasche? Mama wohl Wem gehört diese Flasche? Wohl der Mama.

KASIA (2;0)

(16) Uciekl tramwaj, chyba przyjedzie Geflohen Straßenbahn, wohl kommt Die Straßenbahn ist weg, sie wird wohl (zurück)kommen.

KASIA (2;4)

{\1) Jutro sobiepozwolç naprawic zßbka, na pewno morgen nur erlauben reparieren Zähnchen, ganz sicher Morgen werde ich erlauben, mein Zähnchen zu behandeln, ganz sicher. KASIA (2;8) Nach Smoczyñskas Angaben kommen solche Äußerungen mit Modalpartikeln und -adverbien zwar relativ selten vor, sie werden aber immer korrekt verwendet. Neben dem Griechischem und dem Polnischem wurde der MV-Erwerbsverlauf auch im Französischem durch Korpus-Studien untersucht. Obwohl Bassanos Einzelfallstudie (Bassano 1996) eines Kindes zwischen 2;0 und 4;0 sich nicht direkt mit dem MV-Erwerb beschäftigt, sondern mit der Entwicklung epistemischer Ausdrücke im Allg., enthält sie einige wichtige Informationen zum Erwerb der epistemischen MV-Lesart: Epistemische MV treten in ihrem Korpus nur sehr selten und darüber hinaus sehr spät auf. Bassano konnte insgesamt nur drei Belege mit epistemischem devoir ,müssen' auffinden, ab 3;3 z.B. (Bassano 1996:112):^° (18) ça c'est vert, ça doit aller là das das-ist grün, das muss gehen hier Das ist grün. Es muss da rein.

(3;3)

29 Leider analysiert Smoczynska die powinien-Außerungen anderer Kinder nicht, so dass eine genauere Betrachtung der Polyfunktionalität dieses Verbs im Spracherwerb nicht möglich ist. Sie bemerkt lediglich, dass „utterances of this kind are highly unusual with young children, especially [..] involving the epistemic modality" (Smoczyñska 1993:159f.). Daraus lässt sich schließen, dass powinien in der Mehrheit der Fälle doch zirkumstantiell verwendet wird. 30 M. E. ist es nicht klar, ob die Äußerung in (18) wirklich ein epistemisches MV enthält. Die Äußerung kann auch so inteφretiert werden, dass das Kind eine Spielregel formuliert, etwa im Sinne „Es gehört da rein". In diesem Fall wäre devoir deontisch zu verstehen. (Zu diesem Problem s. auch auf S. 122).

3.1 Langzeitstudien

53

Belege mit epistemischem pouvoir ,können' konnte sie dagegen im Кофиз nicht dokumentieren (Bassano 1996:100).^^ Ihre Untersuchung zeigt femer, dass andere epistemische Modalausdrücke viel früher erworben werden als die epistemische Lesart von devoir und pouvoir. Genauso wie Shepherd (1982), Hamer (1982) und Gee (1985) für das EngHsche nimmt Bassano (1996) an, dass Ankündigungen und Prognosen über zukünftige Ereignisse als Vorläufer der epistemischen Modalität anzusehen sind.^^ Diese kommen schon mit 2;0 vor und werden typischerweise mit dem periphrastischen Futur {aller ,gehen' + Infinitiv) reaUsiert (Bassano 1996: I I I ) : (19) Va veni elsa geht kommen Elsa Elsa wird kommen.

(2;0)

Erste echte epistemische Modalausdrücke treten in Äußerungen ab 2;5 produktiv hervor, die einen hohen Grad an Sicherheit beim Sprecher ausdrücken (epistemische Notwendigkeit). Diese werden in einer ersten Phase nur subjektiv verwendet (20a), d. h. sie sind „expressions of a personal state of certainty or knowledge on the part of the modal subject" (Bassano 1996:92). Erst ab 2;8 finden sich auch Äußerungen der objektiven epistemischen Modalität (Behauptung über den Wahrheitswert einer Proposition), wie in (20b): (20) a. J'en étais sûr, sûr Ich-davon war sicher, sicher Ich war (mir) sicher, sicher. b. y'a des loups, oui, c'est vrai es-hat von-den Wölfen, ja, das-ist wahr Es gibt Wölfe, ja, das stimmt.

(2;8)

(2;8)

Epistemische Sicherheit wird vor allem mit dem Verb savoir,wissen' (ab 2; 10) und mit anderen kognitiven Verben wie connaître ,wissen, kennen' (ab 2;5) ausgedrückt sowie mit modalen Adjektiven wie vrai ,v/ahr\faux ,falsch', sûr ,sicher' (ab 2;4) und dem Adverb bien sûr ,sicher, selbstverständlich' (ab 3;6). Auch Ausdrücke der epistemischen Unsicherheit sind in Bassanos Korpus in einem viel früheren Alter dokumentiert als die epistemische MV (Bassano 1996:92ff.,96ff.). So sind z. B. Äußerungen, die die Unwissenheit des Sprechers ausdrücken, schon ab 2;3 belegt. Sie werden zunächst fast ausschließlich mit der negierten Form von savoir ,wissen' 31 Es gibt im Кофив einige Belege mit pouvoir im Konditional, die aber nicht als epistemisch eingestuft werden können, weil sie eine bedingte zirkumstantielle Möglichkeit zum Ausdruck bringen: (i)

si quelqu 'un casse le fil, on pourrait plus regarder la télé Wenn jemand das Kabel zerreißt (zerreißen würde), könnten wir nicht mehr fernsehen. (3 ; 1 )

32 Bassano (1996:79f.) weist ausdrücklich darauf hin, dass die Begriffe der epistemischen Möglichkeit und Notwendigkeit als Ausdrücke der Faktivität bzw. Nicht-Faktivität von Sachverhalten für ihren Begriff der Epistemizität zentral sind, während Sprecherurteile über das zukünftige (Nicht-)Auftreten von Ereignissen eine periphere Rolle spielen.

54

3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

realisiert (21a). Einige Monate später (ab 2;7) treten erste Äußerungen der epistemischen Unsicherheit mit dem Adverb peut-être ,vielleicht' auf (21b) und weitere zwei Monate später erste Ausdrücke des Glaubens (mit dem Verb croire .denken, glauben') (21c) (Bassano 1996:112): (21) a. sais pas weiß nicht Ich weiß nicht b. peut-être va partir au train Vielleicht geht weggehen zum Zug Vielleicht wird er zum Zug gehen c. moi, je crois bien y a encore des oeufs ich, ich glaube wohl es hat noch von-den Eiern Ich, ich denke wohl, dass es noch Eier gibt

(2;3)

(2 ;7)

(2; 11 )

Diese Formen — vor allem croire und peut-être — werden also deutlich früher und dann viel häufiger verwendet als das epistemische devoir^^ und pouvoir?'^ Bassano (1996:100) kommt demzufolge zu dem Schluss: „modal auxiHaries usually considered as marking prototypically epistemic possibihty and probability, namely verbs pouvoir (may) and devoir (must), were almost absent: pouvoir, which was never used with epistemic meaning, seemed to be reserved for deontic and dynamic uses, and devoir was not used until late and then very infrequently. In contrast, a number of highly lexicalised devices of various types, such as cognitive main verbs and adverbs, were employed." Zusammenfassend ist festzuhalten, dass alle Langzeitstudien zum MV-Erwerb ein relativ einheitliches Bild des MV-Erwerbsverlaufs ergeben. Sprachübergreifend kann man Folgendes festhalten: Erste MV treten am Ende des zweiten Lebensjahres auf. Sie werden zunächst nur zirkumstantiell verwendet. Am frühesten und häufigsten drücken sie Fähigkeiten, Wünsche und Erlaubnisse aus. Der Erwerb der verschiedenen zirkumstantiellen Lesarten kann zu Beginn des vierten Lebensjahres als abgeschlossen gelten. Übereinstimmend zeigen alle Studien, dass die epistemische Lesart später als die zirkumstantielle erworben wird. Da die meisten Studien spätestens mit 4;0 enden und sich über unterschiedlich lange Erhebungsperioden erstrecken, ist es kaum möglich, einen typischen Erwerbsverlauf der epistemischen MV-Lesart zu rekonstruieren. Im Deutschen und Polnischen sind Belege dieser Lesart vor 3;1 kaum dokumentiert. Nach den untersuchten Korpora treten im Französischen und Griechischen erste epistemische MV erst am Ende des vierten Lebensjahres auf. Die englischen und Daten zeigen. 33 An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass Bassano (1996: 80) das epistemische devoir nicht wie üblich angenommen zu den Ausdrücken der epistemischen Notwendigkeit zählt, sondern zu denjenigen der epistemischen Möglichkeit, weil es nicht die Faktivität des Sachverhaltes betont. 34 Im Unterschied zu den drei Belegen von devoir und der totalen Abwesenheit des epistemischen pouvoir zählt Bassano (1996:98, Tab. 6) für die ganze Untersuchungsperiode 134 Äußerungen mit ne pas savoir, 21 mit croire und 17 mit peut-être.

3.2 Experimentelle Verstehensstudien

55

dass erste Vorläufer der epistemischen Lesart ab 2;6 vorkommen: Es handelt sich dabei um Äußerungen mit gonna und will, die dazu dienen, Vorhersagen über eine mehr oder weniger nahe Zukunft zu machen. Echte epistemische MV treten in diesen Sprachen aber auch — genauso wie in den anderen Sprachen — kaum vor dem vierten Lebensjahr auf. Lediglich das englische epistemische MV might scheint eine Ausnahme im englischen MV-Erwerb darzustellen, da es schon bei Kindern von 3;0 deutlich öfter vorkommt als die anderen epistemischen MV und als einziges epistemisches MV mit 5;0 als erworben gelten kann. Dieses sehr frühe Auftreten von might kann möglicherweise auf seine NichtPolyfunktionalität zurückgeführt werden: might ist nämlich das einzige englische MV, das nicht polyfunktional ist. Diese Ausnahmestellung von might wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass das entsprechende MV in allen anderen Sprachen vor 4;0 kaum belegt ist. Einen ähnlichen Unterschied zu den anderen Sprachen gibt es dagegen bei den MV der epistemischen Notwendigkeit überhaupt nicht. Was den Erwerb einiger Systemkonkurrenten betrifft, kann man vor allem festhalten, dass mentale Verben und modale Partikeln oder Adverbien im Allgemeinen zeitlich vor der epistemischen MV-Lesart erworben werden. Dies wird sowohl von den englischen Daten als auch von den französischen, den polnischen und in geringerem Maße von den griechischen bestätigt.

3.2

Experimentelle Verstehensstudien

Neben den oben erwähnten Langzeitstudien wurde auch eine ganze Reihe von experimentellen Untersuchungen zum Erwerb der MV-Bedeutung durchgeführt. Im Unterschied zu den Langzeitstudien betreffen sie vor allem den MV-Erwerb zwischen 3;0 und 12;0. Daher muss man von vornherein davon ausgehen, dass die gewonnenen Daten beider Untersuchungsmethoden nur eingeschränkt miteinander vergleichbar sind.^^

3.2.1

Zum Verstehen der epistemischen MV-Lesart

In seiner Untersuchung geht Green (1979) der Frage nach, ob Kinder zwischen 5;4 und 17; 11 Ausdrücke der epistemischen Unsicherheit verstehen können, darunter auch die MV may und might. Im ersten der von ihm durchgeführten Tests sollten die Kinder anhand vorgesprochener Sätze wie in (22) einschätzen, ob der Sprecher (eine Puppe) sich schon entschieden hatte, die Handlung durchzuführen oder nicht: (22) a. I might go outside. b. I'll probably visit a friend. c. Perhaps I might go swimming. 35 Zu einer weiterführenden Diskussion der Daten-Problematik im MV-Erwerb s. unter 5.1, S. 119ff..

56

3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

Getestet wurden Sätze mit MV (22a), Modaladverbien (22b) und Kombinationen aus beiden (22c). Wenn die Kinder der Meinung waren, dass die Puppe noch nicht entschlossen war, mussten sie sie auf den sogenannten „Thinidng Chaii" setzen, damit sie weiter überlegen konnte. Als richtige Antwort galt jedesmal, dass die Puppe unentschlossen war. In einem zweiten Test sprachen zwei Puppen jeweils einen Satz aus einem Satzpaar wie in (23) vor, die sich nur durch ihren Grad an epistemischer Modalisierung unterschieden: (23) a. I'll probably play a game, b. Maybe I might play a game. Die Kinder mussten entscheiden, welche Puppe sich rascher zur Ausführung der Handlung entschlossen hatte. Als richtige Antwort galt, dass sich diejenige Puppe rascher zum Handeln entschlossen hatte, welche die stärkere der beiden Äußerungen gemacht hatte.^^ Ziel dieses zweiten Tests war natürlich zu ermitteln, ab welchem Alter Kinder den Grad an epistemischer Sicherheit verschiedener Modalausdrücke verstehen. Die Ergebnisse beider Aufgaben zeigen übereinstimmend, dass erst 8-Jährige in der Lage sind, den epistemisch unsicheren Charakter der Testsätze richtig zu verstehen. Da die Antworten der Kinder im ersten Experiment nur zusammengefasst und nicht nach Typen (22a-c) ausgewertet wurden, liefert Greens Studie leider keine eindeutigen Rückschlüsse auf den MV-Erwerb im Vergleich zu anderen Modalausdrücken. Nichtsdestotrotz deuten Greens Ergebnisse auf einen möglichen Unterschied zwischen experimentellen Untersuchungen und Langzeitstudien hin: Während die englischen MV teilweise schon mit 3;3 in epistemischer Lesart auftreten, zeigt Greens Experiment, dass might und andere MV als Ausdrücke von Sprecherunsicherheit—zumindest, wenn sie einen relativen hohen Grad an Unsicherheit ausdrücken — erst mit 8;0 verstanden werden. Green führt diesen Unterschied zwischen Perzeption und Produktion auf die kognitive Entwicklung des Kindes zurück, speziell auf die Unfähigkeit jüngerer Kinder, Sprecherunsicherheit zu erkennen.^^ Green (1979:673) geht davon aus, dass Vorschulkinder lediglich über eine partielle Semantik der epistemischen Modalausdrücke verfügen: „The inability of preoperational children to distinguish both physical certainty from physical uncertainty and speaker certainty from speaker uncertainty implies that production with modal operators by preoperational children probably does not function for them as conveying uncertainty. Consequently, the question of what function is served remains unanswered." 36 Bei der Vorbereitung seiner Studie führte Green (1979:670) eine Befragung mit 10 Erwachsenen durch. Dabei stelh er folgende Skalen fest: (i)

a. b. c. d.

(Mit 100% Übereinstimmung unter den Befragten) Kprobably, perhaps, may> (90%) (80%) (80%)

37 Zu diesem Thema s. auch unter 4.1.2, S. 89ff.

3.2 Experimentelle Verstehensstudien

57

Diesch (1988:74f.) weist aber daraufhin, dass Greens Ergebnisse der ersten Aufgabenstellung auf ein Artefakt in dessen Experiment zurückzuführen sein könnten. Er stützt seine Kritik auf eine Ambiguität der verwendeten Testsätze. Nach Diesch (1988:74) können Sätze wie in (22) nämlich auch dazu dienen, ,4η sozialen Situationen [...] Handlungsvorschläge in abgemilderter Form vorzubringen". In diesem Sinne ist es „nicht unangemessen, von einem Sprecher anzunehmen, daß er die Handlung ausführen wird, wenn er sich in der angegebenen Art und Weise tentativ äußert [d.h. mit einem epistemischen Modaloperator wie in (22), S.D.] und nicht einmal eine Alternative artikuliert." Diesch stellt damit zu Recht fest, dass ein Satz wie (24) durchaus von einem Sprecher geäußert werden kann, um zu signalisieren, dass er zwar keine Lust auf den Besuch habe, sich jedoch zu dem Besuch verpflichtet fühle. (24) Ja, ich werde ihn vielleicht besuchen. In einer solchen Situation sieht Diesch keine epistemische Interpretation des Modalausdrucks, „sondern vielmehr eine soziale Form der Sprecherunsicherheit" (ebda.). Bs ist demzufolge nicht auszuschließen, dass vor allem die jüngeren der getesteten Kinder die experimentelle Situation so inteφretiert haben, dass die Puppe zwar keine Lust auf die vorgeschlagene Handlung hatte, sich aber schon entschieden hatte, sie trotzdem durchzuführen. Diese Interpretation der Testsätze würde in Greens Auswertung sofort zu einer fehlerhaften Antwort führen. Auch Greens zweites Experiment ist von seiner Konstruktion her nicht unproblematisch. Er geht in seinem Experiment von einer Korrelation zwischen Entscheidungszeit und Grad der ausgedrückten epistemischen Unsicherheit aus. Wie Diesch (1988:74f.) anmerkt, darf dieser Zusammenhang jedoch „wohl kaum als Teil des semantischen Wissens kompetenter Sprecher angesehen werden". Das bekannteste und in der Forschung einflussreichste Experiment zum Verstehen der MV wurde von Hirst & Weil (1982) durchgeführt. Ziel ihres Experiments war es, herauszufinden, ob Kinder zwischen 3;0 und 6;6 die relative MV-Stärke verstehen können.^® Angenommen wurde, dass MV um so schneller voneinander unterschieden werden, je größer der Kontrast zwischen ihnen ist, und dass somit der Erwerbsveriauf durch Jakobsons Prinzip des maximalen Kontrastes gesteuert wird. Bei der epistemischen Aufgabe mussten die Kinder erraten, ob eine Erdnuss unter einer Schachtel oder unter einer Tasse versteckt war, und dies nur mit Hilfe zweier von Puppen ausgesprochener Sätze, so z. B. mit Hilfe des Satzpaares in (25): (25) a. The peanut must be under the box. b. The peanut may be under the cup. Bei der zirkumstantiellen Aufgabe dagegen mussten die Kinder erraten, wohin eine Puppe gehen würde, nachdem sie Instruktionen von ,J..ehrem" (ebenfalls Puppen) erhalten hatte, wie z. B. die folgenden: 38 Im Anschluss an Horn (1972) gehen Hirst & Weil von folgender Skala für das Englische aus: .

58

3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick (26) a. You should go into the green room, b. You may go into the the red room.

In beiden Aufgaben wurde angenommen, dass die Kinder die Anweisung der Puppe befolgen würden, die die stärkere Aussage gemacht hatte bzw. dass die Kinder die Anweisung befolgen würden, die ihnen am stärksten erscheint. Bei den Minimalpaaren in (25) und (26) wurde also angenommen, dass die Kinder die Anweisung in (25a) und (26a) befolgen würden, wenn sie für die Stärke der jeweiligen MV sensibel sind. In der epistemischen Aufgabe wurde also eine Antwort als korrekt betrachtet, wenn das Kind auf die Stelle (Schachtel oder Tasse) als Versteck der Erdnuss gezeigt hatte, auf die mithilfe des stärkeren Ausdrucks verwiesen wurde. In der zirkumstantiellen Aufgabe wurde dementsprechend eine Antwort als korrekt bewertet, wenn das Kind auf den Raum gezeigt hatte, der durch die Verwendung des stärkeren Ausdrucks beschrieben wurde. Das allgemeine Ergebnis des Experiments bestätigt Hirst & Weils (1982) Erwartungen und zeigt, dass die unterschiedliche Stärke zweier MV um so früher von den Kindern erfasst wird, je weiter zwei MV in der Skala voneinander entfernt liegen (s. En. 38). So werden in der epistemischen Aufgabe may und must schon mit 3;0-3;6 unterschieden, während die Differenz zwischen should und must erst mit 6;0-6;6 verstanden wurde. Eemer zeigte ihr Experiment, dass die Kinder durchgehend bessere Ergebnisse bei der epistemischen Aufgabe als bei der zirkumstantiellen erzielten. Dieses Ergebnis zeigt also, dass Kinder den durch epistemische MV ausgedrückten Grad an epistemischer Unsicherheit konzeptuell deutlich früher erfassen können als von Green (1979) in seinem zweiten Experiment angenommen. Dieser Unterschied ist wahrscheinlich auf den deutlich besseren experimentellen Aufbau von Hirst & Weil (1982) im Vergleich zu dem Greens (1979) zurückzuführen: Die Verbindung zwischen einem Versteck und einem Ausdruck der Sprecherunsicherheit ist m. E. für die Kinder viel einleuchtender als die Verbindung desselben Ausdrucks mit der Entscheidungsschnelligkeit einer Puppe. Hirst & Weils (1982) Ergebnisse scheinen aber auch denjenigen Langzeitstudien zu widersprechen, wonach die zirkumstantiellen MV-Lesarten vor der epistemischen erworben werden. Dies ist um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Langzeitstudien zum englischen MV-Erwerb übereinstimmend zeigen, dass mit 3;6 die verschiedenen zirkumstantiellen MV-Lesarten von den Kindern regelmäßig verwendet werden, während ein MV wie may in diesem Alter in ihrem Wortschatz kaum belegt ist. Hirst & Weil bleiben jedoch in der Interpretation ihrer Ergebnisse vorsichtig. Sie betonen vor allem, dass zwei Faktoren die zirkumstantielle Aufgabe erschwert haben könnten: Das Ergebnis der zirkumstantiellen Aufgabe hing nämlich davon ab, (i) wie Kinder die Autorität der jeweiligen Lehrer einschätzten und (ü) inwieweit sie davon ausgingen, dass die Puppe mit sozialen Regeln umgehen konnte/wollte.^^ Bei der epistemischen Aufgabe spielten beide Faktoren dagegen keine Rolle. 39 Welche Handlung die Puppe durchführen würde, hängt in dieser Aufgabe nicht nur davon ab, wie die Anweisung formuliert wird, sondern auch davon, wie die Kinder den Charakter der Puppe einschätzten. Z. B. gibt es weniger Chancen, dass die Puppe der stärkeren Aussage folgt, wenn sie von den Kindern als bockig eingestuft wird (z.B. weil das getestete Kind selbst Anweisungen nur ungern folgt).

3.2 Experimentelle VerstehensStudien

59

Eine weitere und viel gewichtigere Schwäche von Hirst & Weils (1982) Experiment liegt aber im Aufbau der epistemischen Aufgabe selbst. Es ist nämlich fraglich, ob ihr Testverfahren wirklich die Fähigkeit der Kinder testete, die epistemische MV-Bedeutung zu verstehen. Man kann sich nämhch ohne Weiteres vorstellen, dass die Kinder diese Aufgabe lösen konnten, ohne den Testsätzen eine epistemische Bedeutung zu verleihen. Die Kinder könnten die Testsätze der epistemischen Aufgabe wie folgt interpretiert haben ((27) als Inteφretation von (25)): (27) a. Etwas in der Welt macht es für die Erdnuss möglich, unter der Tasse zu sein, b. Etwas in der Welt macht es für die Erdnuss notwendig, unter der Schachtel zu sein. Hier wäre von einem realistischen Hintergrund auszugehen. Wie (28) jedoch zeigt, würde sogar eine deontische bzw. eine buletische Inteφretation der Testsätze zum Erfolg führen ((28) als buletische Interpretation von (25)): (28) a. Nach dem Willen des Experimentators kann/darf die Erdnuss unter der Tasse sein. b. Nach dem Willen des Experimentators muss die Erdnuss unter der Schachtel sein. Eine rein zirkumstantielle Inteφretation der Testsätze führt bei diesem Testparadigma genauso wie eine epistemische zu einer korrekten Wahl des Verstecks. Dieser Einwand wird noch plausibler, wenn man bedenkt, dass (i) die Testsätze der epistemischen Aufgabe unter anderen Umständen durchaus zirkumstantiell deutbar sein können, und (ii) die Kinder im Experiment davon ausgehen konnten, dass das Versteck der Erdnuss lediglich vom Willen der Experimentatoren abhing, was leicht zu einer buletischen bzw. deontischen Inteφretation der Sätze geführt haben kann. Aus diesen Gründen kann man also davon ausgehen, dass Hirst & Weils (1982) Experiment zwar die Sensibilität von Kindern für die relative Stärke von MV messen konnte, jedoch nur unzuverlässige Daten über das Verstehen ihrer epistemischen Bedeutung liefert und daher die Ergebnisse der Langzeitstudien und anderer Experimente kaum in Frage stellen kann. Byrnes & Duff (1989) haben Hirst & Weils Ergebnisse durch eine Wiederholung der Originalstudie mit teilweise anderen Modalverben (s. unten) bei Kindern zwischen 3;0 und 5;0 bestätigt. Die 5-Jährigen erzielten deutlich bessere Ergebnisse als die 3- und 4Jährigen. Wie in der Originalstudie wurde die epistemische Aufgabe bei den zwei jüngeren Gruppen auch besser gelöst als die zirkumstantielle. Interessant an ihrer Wiederholung von Hirst & Weils Experiment ist vor allem, dass sie zeigt, dass die Kinder bessere Ergebnisse erzielten, wenn die gebotene Skala umgangssprachliche Wörter enthielt {has to, can't) als wenn sie gehobene und weniger alltägliche Begriffe enthielt (might, might not). Dieser eigentlich zu erwartende Umstand fand aber in der bisherigen Forschung kaum Berücksichtigung.'"' 40 In einer dritten Wiederholung von Hirst & Weils Experiment konnten auch Moore, Pure & Furrow (1990) die Ergebnisse der ursprünglichen Studie bestätigen. Getestet wurde das Verstehen der MV must, might und could sowie der Adverbien probably, possibly, und maybe. Ihre Ergebnisse

60

3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

In einer Wiederholung der epistemischen Aufgabe von Hirst & Weils Experiment an 40 deutschsprachigen Kindern zwischen 3;0 und 6;0 hat Hofmann (1986) überprüft, inwieweit Hirst & Weils Ergebnisse auf das Deutsche übertragbar sind. Ihrer Untersuchung legte sie folgende epistemische Skala zugrunde: (29) '^^ Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Teilskala schon mit 3;7 korrekt verstanden wird, d. h. die Kinder haben ab diesem Alter verstanden, dass ist ein stärkerer Ausdruck ist als epistemisches kann!^^ Die Oppositionspaare und werden dagegen erst mit 5;1 bzw. 5;7 richtig interpretiert. Ebenfalls von Interesse sind ihre Ergebnisse bezüglich der Oppositionspaare , und . Bei der Teilskala sind ihre Ergebnisse anscheinend kontradiktorisch: Das Erwerbskriterium von 50% wird bei der Gruppe 3;0-3;6 erreicht; es wird aber bei den Altersgruppen zwischen 3;7 bis 5;0 nicht mehr erreicht. Erst Kinder ab 5;1 schätzen die Skala wieder mehrheitlich richtig ein. Femer erkennen Kinder erst ab 5;1, dass wird ein stärkerer Ausdruck ist als kann. Geht man bei dem Paar muss/wird von der Ordnung aus, dann zeigen Hofmanns Daten, dass der Kontrast zwischen beiden MV von keiner Gruppe außer der jüngsten (3;0-3;6) korrekt erfasst wird. Geht man aber von der Ordnung aus — also der von den untersuchten Erwachsenen angenommenen (s. Fn.41) — zeigt sich durchaus ein Entwicklungsverlauf: Die Gruppen der 4;l-4;6-Jährigen und ab 5;1 nehmen mehrheitlich an, dass wird ein stärkerer epistemischer Ausdruck ist als muss. Die Erwerbsdaten spiegeln also die Schwierigkeiten der Erwachsenen wider, die Bestimmung des Paares muss/wird eindeutig zu erfassen (s. dazu hier oben Fn. 41 und Hofmann 1986:32). Übereinstimmend mit Hirst & Weil nimmt Hofmann an, dass weniger der Faktor ±faktiv (also ist vs. muss/wird/kann) den Erwerbsverlauf bestimmt als vielmehr das Prinzip des maximalen Kontrastes (¿Kontrast). Hofmann begründet diese Annahme mit zwei Beobachtungen: (i) Nach dem Faktor ifaktiv müsste die Teilskala früher bestätigen die Annahme, dass die Fähigkeit, die relative Stärke epistemischer Ausdrücke zu verstehen, zwischen 3;0 und 5;0 erworben wird. Ferner ist an ihren Ergebnissen festzuhalten, dass die MV leichter zu verstehen waren als die Adverbien (Moore, Pure & Furrow 1990: 725). Diese Beobachtung bestätigt diejenigen von Perkins (1983), wonach schwache epistemische Adverbiale wie maybe womöglich später erworben werden als may/might (zu Perkins' Studie s. S. 49ff.). 41 Dies entspricht der in der Modallogik angenommenen Skala für das Deutsche (s. dazu Ohlschläger 1989: 206 und S.30). In einem Probelauf ihres Experiments mit 13 Erwachsenen konnte Hofmann (1986:19) jedoch feststellen, dass eine Mehrheit der Versuchspersonen (60%) wird stärker als muss eingeschätzt hatte, also von folgender Skala ausging: . 42 Als Erwerbskriterium legt Hofmann genauso wie Hirst & Weil fest, dass 50% der untersuchten Kinder die vorgegebene Skala richtig interpretieren. Da jedoch Hofmanns Kinder in 8 Gruppen mit jeweils 6 bis 8 Kindern eingeteih sind, ist es fraglich, ob ihr Erwerbskriterium statistisch haltbar ist. Darüber hinaus wurde am Aufbau des Experiments nichts geändert. Daher bleiben die oben genannten Einwände gegen Hirst & Weils Aufbau der epistemischen Aufgabe auch hier bestehen.

3.2 Experimentelle

Verstehensstudien

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erworben werden als die Teilskala , weil nur die erste Teilskala aus einem faktiven (sein) und einem nicht-faktiven Verb (wird) besteht. Ihre Befunde bestätigen diese Annahme jedoch nicht, (ii) Der Kontrast zwischen den Ausdrücken ist und kann — d. h. der maximale Kontrast in Hoffmanns Skala — wird als erster verstanden. Hofmann ( 1 9 8 6 : 3 6 ) stellt ebenfalls fest, dass Hirst & Weils Hypothese zwar aufs Deutsche übertragbar sei, dass sich jedoch „das Verständnis von M V in epistemischer Verwendung im Deutschen im Ganzen später zu entwickeln [scheint] als im Englischen". Worauf dieser Unterschied zurückzuführen ist, bleibt jedoch in ihrer Arbeit offen.'^^ In drei Experimenten hat sich Diesch (1988) verschiedenen Aspekten des MV-Verstehens bei Kindern im Vorschulalter (3;0-6;0) gewidmet. In Dieschs ( 1 9 8 8 : 1 3 7 f f . ) erstem Experiment, das mit 4- bis 6-Jährigen durchgeführt wurde, ging es hauptsächlich um die Fragen, (i) ab wann müssen und können als Notwendigkeits- bzw. Möglichkeitsoperator verstanden werden, (ii) ob die epistemische Lesart

43 Hirst & Weils Experiment wurde auch für das Französische von Day (1996) mit Kindern zwischen 6;0 und 12;0 wiederholt. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die MV devoir ,müssen', pouvoir ,können' und das Auxiliar être ,sein' erst ab 6;0 in ihrer epistemischen Stärke allmählich voneinander unterschieden werden, also noch später als im Deutschen und im Englischen: Der Kontrast wird als erster, und zwar ab 6;0 verstanden. Die Skalen und ) von keiner der untersuchten Gruppen (und darüber hinaus nicht einmal von den Erwachsenen) richtig erfasst wurde. Day (1996: 550f.) führt dieses Ergebnis darauf zurück, dass Kinder zuerst rein lexikalische Skalen bilden, die später von morphologischen Varianten eines MV erweitert werden. Diese Erklärung würde die Annahme bestätigen, dass die englischen MV rein lexikalisch zu erfassen sind. Eine weitere Inteφretation ihrer Daten kann aber darin bestehen, dass sich die Konditionalform von der indikativen Form hinsichtlich ihrer epistemischen Stärke nicht unterscheidet, sondern dass andere semantische und pragmatische Faktoren den Bedeutungsunterschied beider Formen ausmachen (zur Unterscheidung Indikativ vs. Konjunktiv s. auch die Ergebnisse von Bascelli & Barbieri 2002 für das Italienische).

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3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

schwerer zu verstehen ist als die zirkumstantielle und (iii) ob negierte MV-Sätze schwieriger zu verstehen sind als affirmative. In diesem Experiment wurde den Kindern eine Modellautobahn gezeigt, die zu einer Garage führt. In der Mitte der Strecke teilt sich der Hauptast der Autobahn in zwei Nebenäste, die jedoch vor der Garage wieder zusammenlaufen. Auf die Strecke wurden auch zwei Schranken gestellt: Eine am Anfang des Hauptastes und eine andere in die Mitte eines der beiden Nebenäste (der andere Nebenast blieb dagegen ohne Schranke).'^'' Die Schranke auf dem Hauptast wurde demnach so postiert, dass sie notwendigerweise offen sein musste, damit ein Auto die Garage erreichen konnte. Die Nebenschranke konnte dagegen geschlossen bleiben, ohne dass das Auto daran gehindert gewesen wäre, in die Garage zu fahren (Das Auto konnte immer ungehindert auf dem anderen Nebenast fahren). Die Aufgabe der Kinder bestand darin, anhand von vorgesprochenen Testsätzen zu beurteilen, welche Schranke auf- oder zugemacht werden konnte/musste, damit das Auto die Garage ohne Hindernis erreichen konnte. Das Experiment wurde unter vier verschiedenen Testbedingungen durchgeführt: (i) mit Sätzen im Futur (30a), (ii) mit Sätzen im Perfekt mit Ersatzinfinitiv (30b), (iii) mit solchen im Präsens mit Perfekt-Infinitiv (30c) und (iv) mit solchen im Präsens mit Präsens-Infinitiv (30d): (30) a. Welche Schranke werde ich (nicht) zumachen können bzw. (nicht) aufmachen müssen? b. Welche Schranke habe ich (nicht) zumachen können bzw. (nicht) aufmachen müssen? c. Welche Schranke kann ich (nicht) zugemacht haben bzw. (nicht) aufgemacht haben? d. Welche Schranke kann ich (nicht) zumachen bzw. muss ich (nicht) aufmachen? Diesch nimmt an, dass die Sätze (30a,b und d) zirkumstantiell zu inteφretieren sind, während Satz (30c) epistemisch zu deuten ist. Schon an dieser Stelle kann auf die größte Schwäche der Versuchsanordnung hingewiesen werden: Testsatz (30c) ist im Unterschied zu Dieschs Annahme keineswegs nur epistemisch deutbar, sondern einfach in Bezug auf beide Lesarten mehrdeutig, wie (31) zeigt: (31) Welche Schranke muss ich geöffnet haben, damit das Auto die Garage erreichen kann? Als Regelanleitung ist (31) durchaus zirkumstantiell zu verstehen. Aus diesem Grund ist von vornherein zweifelhaft, ob Dieschs Experiment wirklich die Fähigkeit von Kindern erfassen konnte, die epistemische Lesart von MV-Sätzen zu verstehen. Bei den Versuchsbedingungen im Präsens und Futur (30a,d) wurde den Kindern erklärt, dass das Auto in die Garage möchte. Anschließend wurde ihnen eine der Testfragen gestellt und sie mussten herausfinden, welche Schranke im Sinne der Testfrage bewegt 44 Das Experiment wurde alternativ mit hebbaren Brücken durchgeführt. Um die Darstellung des Experiments zu vereinfachen, wird hier nur von der Schranken-Variante ausgegangen.

3.2 Experimentelle Verstehensstudien

63

werden konnte/musste (je nach getestetem MV), so dass das Auto am Fahren nicht gehindert würde. In den Versuchsbedingungen im Perfekt (30b,c) mussten sich die Kinder umdrehen, das Auto wurde in die Garage geführt und anschheßend mussten die Kinder auf die Schranke hinweisen, die im Sinne der gestellten Frage hätte bewegt werden können/müssen, so dass das Auto die Garage ohne Weiteres hatte erreichen konnen."*^ Eine Antwort wurde als korrekt bewertet, wenn auf die Schranke im Nebenast gezeigt wurde, wenn Sätze mit affirmativem können oder negiertem müssen verwendet wurden bzw. auf die Schranke des Hauptastes bei Sätzen mit affirmativem müssen oder negiertem können verwiesen wurde. Die Ergebnisse des Experiments können wie folgt zusammengefasst werden: Die MVSätze sowohl mit können als auch mit müssen werden im Allg. mit zunehmendem Alter besser verstanden, was allerdings wenig erstaunlich ist. Die Sätze im Präsens und Futur werden besser verstanden als die Sätze mit Ersatzinfinitiv. Diese werden wiederum besser inteφretiert als diejenigen mit Perfekt-Infinitiv. Diesch (1988:174) erklärt das spätere Verstehen beider Satztypen im Perfekt im Vergleich zu den präsentischen und futurischen durch die mangelnde Fähigkeit der jüngeren Kinder, zeitlich zu dezentrieren. Er nimmt zu Recht an, dass es für die Kinder wohl schwieriger war, die Bedingungen für eine freie Fahrt des Autos zu rekonstruieren, nachdem es die Fahrt durchgeführt hatte: In diesem Fall musste das Kind davon ausgehen, dass das Auto die Garage hatte erreichen können (das ist in diesem Fall ein Faktum). Es musste sich also vorstellen, unter welchen Bedingungen das Auto die Garage nicht hätte erreichen können. Diese mentale Rekonstruktion ist in den präsentischen und futurischen Sätzen nicht notwendig: Das Kind muss in diesen Fällen lediglich eine Lösung finden, damit das Auto die Garage erreichen kann. Dieser Suchprozess ist dem Kind allerdings sehr vertraut, weil er strukturell jedem Suchprozess im Alltag entspricht. Das bessere Abschneiden der Kinder bei den Sätzen mit Ersatzinfinitiv im Vergleich zu den Perfekt-Infinitiv-Sätzen erklärt Diesch teilweise dadurch, dass epistemische Sätze schwerer zu verstehen sind als zirkumstantielle.''^ Gegen Dieschs Inteφretation seiner Ergebnisse können jedoch mehrere Einwände erhoben werden. Zunächst — wie oben schon erwähnt — waren die verwendeten epistemischen Sätze mehrdeutig. Es ist also nicht sicher, dass die Kinder die Sätze mit PerfektInfinitiv tatsächlich epistemisch inteφretiert haben. Femer verlangte das Experiment keineswegs ein epistemisches Verstehen der Testsätze, um eine korrekte Antwort zu geben: Ob epistemisch oder nicht, es genügte im Experiment zu wissen, dass müssen eine Notwendigkeit ausdrückt und können eine Möglichkeit. Die Ergebnisse des Experiments zeigen also nicht, ob die MV von den Kindern wirklich epistemisch verstanden wurden, sondern inwieweit die untersuchten Kinder mit der Logik der Schranken und ihrer Verkettung 45 Die Schranken wurden natürlich offen gezeigt, wenn Test-Sätze mit,zumachen" verwendet wurden, und geschlossen bei Sätzen mit „aufmachen". 46 Diese Annahme wird aber von den Daten nur schwach gestützt, wie Diesch selbst zugibt (Diesch 1988:174). In der Tat ist der Unterschied zwischen den Sätzen mit Ersatzinfinitiv einerseits und denjenigen mit Perfekt-Infinitiv andererseits nur bei den 5-Jährigen und nur für können nachweisbar. Bei den epistemischen m«jj-Sätzen antworteten nur die 5- und 6-Jährigen signifikant häufig richtig (binomial). Bei den tenn-Sätzen ist dies bei keiner Gruppe der Fall (Diesch 1988:160f.).

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3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

(im Sinne der Boolschen Algebra) umgehen konnten. In diesem Sinne litt Dieschs Experiment an einem ähnlichen Problem wie Hirst & Weils epistemische Aufgabe. Darüber hinaus kann das bessere Verstehen der Sätze mit dem Ersatzinfinitiv im Vergleich zu denjenigen mit Perfekt-Infinitiv auch durch die Satzform erklärt werden. Wie Diesch (1988:179) selbst zugesteht, ergeben sich bei einer zirkumstantiellen Interpretation der Sätze mit Perfekt-Infinitiv größere Dezentrierungsschwierigkeiten als bei den Sätzen mit Ersatzinfinitiv: ,J)er (naheliegende) Versuch, die epistemischen Modalverbsätze [= die mit Perfekt-Infinitiv, S.D.] präsentisch/pragmatisch [= zirkumstantiell, S.D.] zu inteφretieren und also das Modalverb auf die im Infinitivkomplement beschriebene Handlung zu beziehen, kann nur verwirren, da diese Handlung ja durch die Infinitiv-II-Form der Satzergänzung als vergangene Handlung beschrieben wird, das Modalverb aber eine gegenwärtige Möglichkeit oder Notwendigkeit ausdrückt. Der Begriff der gegenwärtigen pragmatischen Möglichkeit oder Notwendigkeit einer vergangenen Handlung ist widersprüchlich." Es ist demzufolge naheliegend, das schlechtere Verstehen der Sätze mit Perfekt-Infinitiv auf ihre komplizierten strukturellen Eigenschaften zurückzuführen. Diesch (1988:180) argumentiert gegen die Möglichkeit, dass seine Ergebnisse nur auf die unterschiedlichen Satzformen der perfektivischen Sätze zurückzuführen sei, mit dem Hinweis, dass präsentische epistemische Sätze in seinen anderen Experimenten nicht besser verstanden wurden. Aber auch dieses Argument ist problematisch: Es ist durchaus möglich, dass im Alter von 4;0 bis 6;0 sowohl der Perfekt-Infinitiv als auch die Epistemizität nicht verstanden werden. Eine Überlagerung beider Erwerbsprobleme macht es dann fast unmöglich, das schlechte Verstehen der Perfekt-Infinitiv-Sätze auf eine der möglichen Ursachen eindeutig zurückzuführen. M. a. W. reicht die Unfähigkeit, den Perfekt-Infinitiv zu verstehen aus, um zu Dieschs Ergebnissen zu kommen, vollkommen unabhängig davon, ob die betreffenden Kinder epistemische Sätze überhaupt verstehen konnten oder nicht: Beide Phänomene sind an sich jeweils eine hinreichende Erklärung für Dieschs Ergebnisse. Als weiteres Ergebnis des Experiments führt Diesch an, dass die kann-Sätze i. Allg. schlechter verstanden wurden als die muss-Sätze, die negierten kann-Sätze wiederum schlechter als die affirmativen, was aber für die muss-S'àtze nicht galt. Er führt diese Unterschiede weniger auf Probleme bei der sprachlichen Verarbeitung der Sätze zurück als auf verschiedene Such-Strategien beim Lösen der Aufgabe (Diesch 1988: ISSff.).·^^ 47 Nach Diesch könnte die Such-Strategie von handlungsorientierten Kindern dadurch beeinflusst worden sein, dass bei den kann-Sätzen die Schranken offen waren, bei den muss-Sätz&n dagegen geschlossen. Wenn das Kind das Auto vor die Schranke führt, ist es bei geschlossener Schranke gezwungen, sich eine mentale Repräsentation der Form SCHRANKE MUSS GEÖFFNET WERDEN zu bilden. Da bei den kann-Sätzen die Schranke schon offen war, war die Bildung solch einer mentalen Repräsentation nicht mehr erforderlich. Diesch (1988:182) kommt demzufolge zu dem Schluss, dass „ein Kind, das den Zustand weder der Haupt- noch der Nebenhindemisse kodiert, [...] diese natürlich auch nicht mit dem Testsatz vergleichen [kann]."

3.2 Experimentelle Verstehensstudien

65

Mit seinem zweiten Experiment versucht Diesch, die Hypothese zu йЬефгй£еп, dass jüngere Kinder epistemische Sätze nur subjektiv inteφretieren können.''^ Er nimmt diesbezüglich an, dass jüngere Kinder kognitiv noch nicht in der Lage sind, den epistemischen Redehintergrund einer Äußerung so systematisch zu rekonstruieren, dass ihnen eine objektive Einschätzung ihres inferenziellen Charakters ermöglicht würde (Diesch 1988:180): , Jüngere Kinder verfügen vermutlich nicht über Strategien der Objektivation und der Konkretisierung epistemischer (dispositioneller) Möglichkeiten und interpretieren unabhängig von der Intention des Sprechers und unabhängig von den in der Äußerung offenstehenden Inteφretationsmöglichkeiten alle epistemischen (und dispositionellen) Modalverbsätze subjektiv." In diesem zweiten Experiment wurde ein Verfahren als Testparadigma gewählt, in dem sich die Möglichkeit, den Wahrheitswert von epistemischen MV-Sätzen mehr oder weniger objektiv einzuschätzen, durch Änderung des jeweiligen Bezugssystems variieren lässt. Aus einer Menge von 96 farbigen Murmeln (die Supeφopulation) wurden 80 Murmeln mit 10 verschiedenen Farben ausgewählt (die Basispopulation). Aus dieser Basispopulation wurden verschiedene Subpopulationen gebildet, die in unterschiedliche Behälter gesteckt wurden: In Behälter E wurden zwei Murmeln derselben Farbe ausgewählt, in Behälter Ζ vier Murmeln mit zwei verschiedenen Farben, in Behälter V sechs Murmeln mit sechs verschiedenen Farben und schließlich in Behälter U die restlichen Murmeln der Supeφopulation. Die untersuchten Kinder konnten dabei immer (außer bei der Bildung der Supeφopulation) zuschauen, wie die Murmeln der verschiedenen Subpopulationen in die undurchsichtigen Behälter zusammengelegt wurden. (Die Behälter waren natürlich leicht voneinander zu unterscheiden.) Hinsichdich der Möglichkeit, zu wissen, wie der jeweilige Inhalt der Behälter zusammengesetzt ist, bilden die Behälter E bis U unterschiedliche „epistemische Bezugssysteme". Es ist hier leicht zu verstehen, wie sich die epistemischen Bezugssysteme E bis U voneinander unterscheiden (die Bezeichnung der Bezugssysteme entspricht der Bezeichnung der Behälter): Beim Bezugssystem E kann das Kind ohne Weiteres wissen, wie der Inhalt des Behälters zusammengestellt ist, also verfügt es sogar über ein inferenzielles Wissen über eine mögliche Ereignisstichprobe. Das Bezugssystem Ζ unterscheidet sich von E nur dadurch, dass ein inferenzielles Wissen nicht mehr möglich ist. Das Kind kann sich jedoch beim Bezugssystem Ζ noch objektiv vorstellen, wie der Inhalt des Behälters zusammengesetzt ist. Beim Bezugssystem V nimmt Diesch an, dass das Kind Schwierigkeiten haben wird, sich an die Zusammensetzung des Behälters zu erinnem.''^ Beim Bezugssystem U war die Zusammensetzung völlig unbekannt. Nur eine subjektive Repräsentation des Inhalts des Behälters U war möglich. Die Bezugssysteme bilden also eine Skala mit abnehmendem epistemischen Objektivierungsgrad.

48 Zu den Begriffen der subjektiven und objektiven epistemischen Modalitäten s. Lyons (1977). 49 Versuche mit dem Behälter V wurden nie als erste durchgeführt, so dass immer viel Zeit zwischen dem Zusammensetzen der Behälter und den Testversuchen mit V verstrichen war.

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3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

Bei jedem Versuchsdurchgang wurde dem Kind einer der Behälter gezeigt und der Versuchsleiter tat, als ob er eine Murmel herausnehmen wollte. Dabei stellte er dem Kind folgende Fragen (in dieser Reihenfolge): (32) a. b. c. d. e.

Kann Muss Kann Muss Muss

die Murmel... [FARBE] sein? sie . . . [FARBE] sein? (nur wenn (32a) bejaht wurde) sie auch . . . [ANDERE FARBE] sein? sie . . . [ANDERE FARBE] sein? (nur wenn (32c) bejaht wurde) sie . . . [FARBE NUR IN DER SUPERPOPULATION] sein?

Die Durchgänge wurden für alle Behälter/Kind durchgeführt und die Fragen (32a-e) wurden mit verschiedenen Farbbezeichnungen mehrmals pro Behälter wiederholt, so dass manchmal die genannte Farbe mit derjenigen der Murmeln im Behälter übereinstimmte und manchmal nicht. Bei den Kindern, die „objektivieren" können, wurde erwartet, dass die Häufigkeit, dass ein mögliches Ereignis für unmöglich gehalten wird (U/M-Fehler), in den Versuchssituationen E, Z, V, и On der Reihenfolge ihrer Erwähnung) zunehmen sollte. Das Gleiche wurde auch für die Häufigkeit erwartet, dass ein Ereignis, das möglich ist, für notwendig gehalten wird (N/M-Fehler), und für die Häufigkeit, dass ein unmögliches Ereignis für möglich oder sogar notwendig gehalten wird (M/U-Fehler). Diese Erwartungen sind natürlich dadurch bedingt, dass, je undurchsichtiger das Bezugssystem ist, die Urteile umso subjektiver (und dabei fehlerhafter) werden. Bei den Kindern, die nicht „objektivieren" können, wird eine Zunahme von Fehlem in den oben genannten Fällen dagegen nicht erwartet, da diese Kinder ihre Urteile immer subjektiv fällen, egal wie objektiv das Bezugssystem tatsächHch ist. Das Ergebnis des Experiments zeigt, dass die Häufigkeit korrekter Antworten mit zunehmenden Alter steigt: Während die 4-Jährigen lediglich die Hälfte der Aufgaben richtig lösen konnten, stieg der Anteil richtiger Antworten auf 66% bei den 5-Jährigen, 73% bei den 6-Jährigen, um bei den 7-Jährigen sogar 77% zu erreichen (Diesch 1988:206). Es zeigt sich aber auch, dass der Anteil korrekter Antworten auch zwischen den vier Bezugssystemen unterschiedlich ist: Für die Bezugssysteme E, Z, V, U waren 78% bzw. 67%, 64% und 57% der Antworten richtig, was deutlich zeigt, dass die Aufgaben mit zunehmender Undurchschaubarkeit des Bezugssystems durch die Kinder immer schwieriger zu lösen waren, genau wie angenommen (ebda.). Bezogen auf die Interaktion zwischen Bezugssystem und Alter (Diesch 1988:207, Tab. 13) bedeuten diese Ergebnisse, dass alle Altersgruppen die Aufgabe des Typs E gut lösen konnten, während bei allen anderen Typen ein großer Unterschied zwischen den 4-Jährigen einerseits und den übrigen Gruppen deutlich wurde. Die Fehleranalyse bestätigt ebenfalls Dieschs Annahmen: Die Wahrscheinlichkeit eines U/M-, eines M/U- bzw. eines N/M-Fehlers hängt deutlich von der Fähigkeit ab, ein objektives Bezugssystems zu rekonstruieren (ebda.). Zusammenfassend kann man also festhalten, dass das Experiment die Annahme bestätigt, dass die Fähigkeit, ein Bezugssystem bei der Evaluation von möglichen Ereignissen (Herausnahme einer bestimmten Kugel) zu objektivieren, bei 4-Jährigen und z.T. auch bei 5-Jährigen noch nicht sehr ausgeprägt ist. Es bleibt jedoch fraglich —genauso wie in Dieschs erstem Experiment —, ob wirklich getestet wurde, ob die untersuchten Kinder die Epistemizität der MV-Testsätze verstanden haben. Auch hier stellt sich die Frage, ob

3.2 Experimentelle Verstehensstudien

67

in diesem Experiment lediglich die Fähigkeit der Kinder untersucht wurde, Notwendigkeit von Möglichkeit zu unterscheiden. Und dies vollkommen unabhängig davon, ob die Kinder die Testsätze in (32) epistemisch oder zirkumstantiell verstanden haben und ob sie das Bezugssystem als solches verstanden haben. In seinem dritten Experiment widmet sich Diesch wieder der Frage, ob Kinder im Vorschulalter (4;0 bis 6;0) die epistemische MV-Bedeutung verstehen können. Als Hypothese nimmt er an, dass Kinder, die dazu nicht fähig sind, dazu neigen, MV-Sätze zirkumstantiell in Situationen zu verstehen, in denen sie eigentlich epistemisch inteφretiert werden müssen. Es wurde das Verstehen folgender Sätze getestet (Diesch 1988:230): (33) a. Du musst/kannst dich in der Garage verstecken. b. Der kann/muss sich in der roten (grünen/schwarzen) Garage verstecken. Während in (33a) eine zirkumstantielle Deutung nahegelegt wird,^® ist (33b) hochgradig ambig, weil hier verstecken sowohl als Zustands- (= epistemische Lesart bevorzugt) als auch als Handlungsverb (= zirkumstantielle Lesart bevorzugt) inteφretierbar ist. Anhand von zwei Schlumpffiguren und drei farbigen Garagen wurden zwei Kontexte geschaffen. In der ,^ufforderangssituation" schlägt ein Schlumpf mit dem Testsatz (33a) (= der deontische Testsatz) dem anderen vor, sich in einer der Garagen zu verstecken. Anschließend dreht sich der Schlumpf um und beginnt zu zählen. In der „Schlussfolgerungssituation" lässt der Versuchsleiter einen Schlumpf abzählen, während der andere sich in einer Garage versteckt. Dann äußert der erste Schlumpf den Testsatz (33b) (= den epistemischen Testsatz). Unmittelbar nach der Darbietung des Testsatzes wurden die Kinder aufgefordert, diesen zu imitieren, so dass ein kleines Koφus gesammelt werden konnte. Anschließend wurde den Kindern folgende Frage gestellt: ,JIat er das gesagt, weil er das will oder weil er das glaubt?'. In der Aufforderungssituation wurde die Frage vor dem Verstecken gestellt und in der epistemischen nach dem Verstecken. Es wurde natürlich angenommen, dass die Kinder den deontischen Satz mit „Wollen" assoziieren und den epistemischen mit „Glauben", weil eine entsprechende Inteφretation der Testsätze durch die jeweiligen Situationen nahegelegt wurde. In der Aufforderungssituation wurde eine Antwort als korrekt betrachtet, wenn das Kind den Testsatz (33a) mit „Wollen" assoziiert hatte. In der Schlussfolgerungssituation wurde eine Antwort als korrekt gezählt, wenn das Kind den Testsatz (33b) mit „Glauben" verbunden hatte. Als Ergebnis des Experiments kann zunächst festgehalten werden, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Aufgabe zu lösen, 0.5 für die deontische Aufgabe betrug und 0.59 für die epistemische. Nach Altersgruppen aufgeschlüsselt, zeigt sich, dass die 4-Jährigen eher zufällige Antworten gaben. Diesch (1988:236) geht diesbezüglich davon aus, dass die Aufgaben für diese Altersgruppe wahrscheinlich zu schwierig waren. Die 5- und 6-Jährigen erzielten bessere Ergebnisse bei der epistemischen Aufgabe als bei der deontischen. Vor allem die 6-Jährigen zeigten mit einer Lösungswahrscheinlichkeit von 0.7, 50 (33a) ist nur in einer sehr speziellen Situation epistemisch interpretierbar: Der Sprecher weiß zwar nicht, wo der Hörer ist, ist sich jedoch sicher, dass der Hörer ihn hören kann. Dann kann er tatsächlich (33a) mit der Bedeutung äußern, dass er (stark) vermutet, dass der Hörer in der Garage ist.

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3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

dass sie die epistemische Aufgabe recht gut lösen konnten. Ein signifikanter Unterschied zwischen den Altersgruppen konnte dennoch nicht festgestellt werden.^' Auch die Auswertung des Korpus liefert kaum aufschlussreichere Erkenntnisse. Die meisten Paraphrasen des deontischen Testsatzes deuten darauf hin, dass dieser tatsächlich von den Kindern deontisch verstanden wurde.^^ Die Paraphrasen des epistemischen Testsatzes sind dagegen schwer zu deuten. Es gibt auch in diesem Fall viele io/Z-Paraphrasen (s. hier unten Fn. 52), aber der Testsatz wurde oft auch mit einem einfachen Aussagesatz im Perfekt (mit haben) wiederholt. Diese einfachen Aussagesätze sind möglicherweise als Hinweis auf ein epistemisches Verständnis des Testsatzes zu deuten, wie Diesch (1988:242) annimmt. Sie können aber genauso einen rein beschreibenden Charakter haben ohne jeglichen Bezug auf den eigentlichen Testsatz (in dieser Aufgabe war die versteckte Figur von Anfang an in der Garage), wenn dieser vom Kind nicht verstanden wurde. Diese Ergebnisse — und vor allem das bessere Abschneiden der 5- und 6-Jährigen bei der epistemischen Aufgabe als bei der deontischen — lassen sich auf mögliche Artefakte im Experiment zurückführen. In der epistemischen Aufgabe zunächst hat eine Assoziation des Testsatzes mit dem Willen der sprechenden Figur gar keinen Sinn. Die andere Figur ist nämlich von Anfang an versteckt. Es ist daher für die Kinder kaum nachvollziehbar, welche Rolle die Wünsche der sprechenden Figur in der dargestellten Szenerie spielen und worauf sich die Wünsche in dem vorgegebenen Kontext beziehen sollten. Dass der Schlumpf dagegen möglicherweise nicht weiß, wo sein Spielfreund versteckt ist, liegt auf der Hand (und zwar unabhängig vom Testsatz). Es ist also anzunehmen, dass die Antworten der Kinder weniger durch den Testsatz bedingt waren als von ihrem pragmatischen Wissen über die dargestellte Szene. Dieses pragmatische Wissen führt in der epistemischen Aufgabe automatisch zu einer Assoziation der Szene — und nicht direkt des Testsatzes — mit dem Glauben der sprechenden Figur. In der deontischen Aufgabe liegt die Sachlage diesbezüglich völlig anders. Hier ist es für das Kind schwieriger, sich lediglich auf sein pragmatisches Wissen über die Situation zu verlassen. Hier können (i) die Wünsche und (ii) die epistemische Einschätzung der sprechenden Figur über eine zukünftige Handlung der anderen Figur im Sinne einer Prognose/Vorhersage eine Rolle spielen, aber auch (iii) ihre epistenüsche Einschätzung der zirkumstantiellen Möglichkeit der handelnden Figur, sich in einer Garage zu verstecken (in Sinne:, J)u kannst Dich dort verstecken, weil nur dort die Tür offen ist"). Das Kind muss in der ,^ufforderungssituation" die Äußerung der sprechenden Figur als zusätzliche Information verwenden, um entscheiden zu können, ob (i), (ii) oder (iii) der Fall ist. Hier spielt aber die Satzform der deontischen Sätze eine entscheidende Rolle. Die Sätze in (33a) stehen in der 2. Pers. Sing., so dass ein buletischer oder deontischer Hintergrund sehr wahrscheinlich wird. Daher wird — wie von Diesch intendiert — eine Interpretation (i) der Situation durch die Satzform nahegelegt.^^ 51 Diesch (1988: 234) nimmt aber an, dass bei einer Erweiterung der untersuchten Altersspanne signifikante Unterschiede möglich gewesen wären. 52 Die häufigste Form der Paraphrase wurde mit sollen 1988:

in der zweiten Person gebildet (Diesch

im.).

53 Die Wahrscheinlichkeit wird noch dadurch verstärkt, dass nach dem Aussprechen des Testsatzes die

3.2 Experimentelle Verstehensstudien

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Zusammenfassend kann man aus Dieschs drittem Experiment festhalten, dass es möglicherweise weniger die Fähigkeit testete, epistemische MV zu verstehen, als vielmehr epistemische Zustände anderer Personen im Sinne mentaler Zuschreibungen zu erkennen. Coates (1988) testete die Fähigkeit von 8- bis 12-Jährigen, zwischen der zirkumstantiellen und der epistemischen MV-Bedeutung zu unterscheiden, indem sie in einem cardsorting game Karten nach Bedeutungsähnlichkeiten gruppieren ließ, auf denen epistemisch und zirkumstantiell modalisierte Sätze aufgeschrieben waren. Ihre Ergebnisse zeigen, dass 8-Jährige may und might zwar eine ähnliche Bedeutung wie maybe und perhaps zuschreiben, gleichwohl noch nicht über eine klar definierte Kategorie der epistemischen Modalität verfügen. Das Kategorisierungsmuster der 12-Jährigen dagegen unterscheidet sich kaum noch von demjenigen der Erwachsenen. Problematisch an dem Experiment ist, dass jeder Satz nur einer Kategorie zugeordnet werden konnte, so dass der polyfunktionale Charakter der MV unberücksichtigt bleiben musste. Darüber hinaus ist das Experiment für jüngere Kinder nicht geeignet, da es Lesefähigkeit voraussetzt. In einer weiteren von Hirst & Weil inspirierten Studie wiederholen Noveck et al. (1996) im ersten Teil ihrer Studie Hirst & Weils hidden-peanut-Aufgabe, um das Verstehen von 5-Jährigen im Hinblick auf die relative (epistemische) Stärke der MV zu testen. Ihre Ergebnisse stimmen weitgehend mit denjenigen der Original-Studie überein. Interessanter ist jedoch das zweite Experiment ihrer Studie. Noveck et al. (1996) vermuten, dass MV wie has to oder might nicht nur Indikatoren einer relativen epistemischen Stärke (also Indikatoren des Überzeugungsgrades eines Sprechers) sind, sondern vielmehr, dass sie auch logische Operatoren der Möglichkeit und der Notwendigkeit sind. In diesem zweiten Experiment ging es also darum, zu übeφrüfen, inwieweit 5-, 7- bzw. 9-Jährige diesen logischen Aspekt der MV erfassen können. Den Kindern wurden drei Kisten gezeigt: In der ersten befand sich ein Papagei, in der zweiten ein Papagei und ein Teddybär und der Inhalt der dritten Kiste wurde nicht gezeigt. Es wurde den Kindern aber erklärt, dass der Inhalt der dritten Kiste entweder demjenigen der ersten oder der zweiten entsprach. Mit Hilfe dieser Informationen waren nun zwei Inferenzen möglich: (i) „Die Kiste enthält notwendigerweise einen Papagei" und (ii) „die Kiste enthält möglicherweise einen Teddybären". Wie beim Hirst & Weils Paradigma gaben zwei Puppen den Kindern miteinander unvereinbare Informationen über den Inhalt der dritten Kiste in Form von zwei MV-Sätzen wie in (34): (34) a. There can't be a parrot in the box. b. There might be a bear in the box.

angesprochene Figur tatsächlich beginnt, im Sinne der Äußerung zu handeln, was von den Inteφretationen (ii) und (ili) der Situation weniger nahegelegt wird. Femer sind die Inteφгetationen (ii) und (iii) besser mit den können- als mit den müssen-SUztn kompatibel. Dies könnte erklären, warum die deontischen Können-Sätze häufiger mit dem Glauben der Figur assoziiert wurden als die müssen-S'itze (ohne dennoch zu signifikanten Unterschieden zu führen). Einen solchen Unterschied zwischen können und müssen gibt es in der epistemischen Aufgabe dagegen nicht (Diesch 1988: 234, Fig. 19).

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3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

Die Satzpaare wurden immer so gewählt, dass die stärkere Aussage über den Inhalt der Kiste falsch war (34a), die schwächere dagegen wahr (34b). Anschließend mussten die Kinder beurteilen, welche Puppe die Wahrheit gesagt hatte. Die Hypothese des Experiments war, dass nur die Kinder die Aufgabe lösen können, die nicht nur auf die relative epistemische Stärke der MV achten, sondern auch dazu fähig sind, die logischen Aspekte (Notwendigkeit vs. Möglichkeit) der MV zu erkennen, um zu dem Schluss zu kommen, dass nur der schwächere Ausdruck wahr ist. Bei diesem Experiment stellte sich als Ergebnis heraus, dass alle Gruppen die Aufgabe gut lösen konnten, jedoch mit immer besserer Trefferquote bei zunehmendem Alter, wobei die Gruppe der 9-Jährigen sich nicht mehr von den Erwachsenen unterscheiden ließ. Dieses Experiment bringt neue Erkenntnisse über die Fähigkeit von Vorschulkindern, zwischen logischer Notwendigkeit und Möglichkeit zu unterscheiden. Vor allem die hohe Sensibilität der 7-Jährigen, die logische MögHchkeit zu erkennen, steht in Widerspruch zu anderen Arbeiten über dieses Thema, die diese Fähigkeit erst bei 9-Jährigen zu erkennen vermögen (s. dazu unter 4.1.2, S.89ff.). Noveck et al. (1996:642) kommen demnach zu dem Schluss, dass die logischen MV-Aspekte auch für Vorschulkinder zentrale MVEigenschaften sind, die eine genau so große Rolle im epistemischen MV-Erwerb spielen wie pragmatische Aspekte, wie z. B. die subjektive (Un)sicherheit des Sprechers. Es muss jedoch betont werden, dass das experimentelle Design von Noveck et al. (1996) die Lösung der Aufgabe stark vereinfacht haben könnte. Zunächst hatten die Kinder im Experiment keinen Grund, sich auf die Puppen zu verlassen, weil sie einerseits davon ausgehen konnten, dass diese nicht mehr Wissen besaßen als sie selbst, und andererseits die Puppen sowieso widersprüchliche Angaben machten, von denen zu erwarten war, dass eine falsch ist. Es ist demzufolge fraglich anzunehmen, dass die Kinder, die nicht in der Lage waren, den logischen Charakter der MV zu verstehen, automatisch davon ausgehen würden, dass ausgerechnet die Puppe recht haben sollte, welche die stärkere Aussage macht. In diesem Punkt unterscheidet sich das Design von Noveck et al. (1996) entscheidend von demjenigen Hirst & Weils (1982). In Hirst & Weils Experiment wurde den Kindern erzählt, sie würden Hinweise von den Puppen bekommen, so dass die Kinder davon ausgehen konnten, dass keine der Puppen lügen würde, sondern vielmehr dass beide versuchen würden, nach bestem Willen und Können zu helfen. Nur aus diesem Grund konnten sich die Kinder allein auf die Hinweise verlassen. Diese Bedingung ist in Novecks et al. (1996) Version des Experiments bewusst unterschlagen worden. Daher musste es den Kindern klar sein, dass sie sich auf die Hinweise nicht zu sehr verlassen, sondern vielmehr nach anderen Informationsquellen suchen sollten, m. a. W. sie wurden dazu ermutigt, sich auf ihre eigenen Schlüsse über den Inhalt der Kiste zu verlassen. Es gibt aber einen weiteren Punkt in dem Experiment von Noveck et al. (1996), der zu einer vermehrten Anzahl korrekter Antworten geführt haben kann. Es ist nämlich leicht vorstellbar, dass Kinder, die den logischen Aspekt der MV nicht verstehen konnten, dennoch zu richtigen Antworten kommen konnten. Eine korrekte mentale Vorstellung über die mögliche Zusammensetzung der verschlossenen Kiste stellt — zumindest für die jüngeren Kinder — eine komplizierte kognitive Repräsentation über die verschiedenen Alternativen dar, die während des Experiments permanent abrufbar sein muss. Es kann also durchaus sein, dass einige Kinder diese kognitive Leistung nicht zustande brachten

3.2 Experimentelle Verstehensstudien

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mit der Konsequenz, dass sie einfach zum Schluss kamen, man könne nicht genau wissen, was die Kiste enthält. Dieses einfache Nicht-Wissen kann natürlich nicht zu den erforderlichen Inferenzen führen, nämlich (i) dass ein Papagei in der Kiste sein muss und (ii) dass ein Teddybär darin sein kann, sondern lediglich zu einer epistemischen Unsicherheit. Es ist nun wenig erstaunlich, dass Kinder, die über den Inhalt der Kiste einfach unsicher sind, eher die Puppe der Lüge bezichtigen, die eine eindeutige Aussage über den Inhalt macht {has ίο-Aussage), als diejenige, die zum Ausdruck bringt, dass sie es nicht genau weiß (might-Aussage).^'^ Dies bedeutet nichts weniger, als dass es nicht notwendig war, ein repräsentationelles Wissen über die alternativen Inhalte der Kiste zu haben, um die Aufgabe zu bestehen. Ein einfaches Nicht-Wissen (also eine pragmatische Unsicherheit) über den Inhalt war im Experiment ausreichend, um zu einer richtigen Antwort zu kommen. Die hier beschriebene Lösungsmöglichkeit hat vor allem gravierende Konsequenzen für die Schlussfolgerung von Noveck et al. (1996) aus ihren Ergebnissen (s. o.). Sie zeigt, dass deren Ergebnisse nicht unbedingt das kindliche Wissen über den logischen Aspekt der MV widerspiegeln, sondern möglicherweise lediglich das Wissen darüber, dass epistemische MV den Grad der Sprecherunsicherheit zum Ausdruck bringen, was eigentlich schon im Hirst-&-Weil-Experimentparadigma gezeigt wurde.

3.2.2

Zu anderen epistemischen Modalausdrücken

Neben den zahlreichen Untersuchungen zum Verstehen der epistemischen MV-Lesart wurden viele Untersuchungen zum Verstehen anderer epistemischer Modalausdrücke durchgeführt, die sich vor allem auf die mentalen Verben denken und wissen in verschiedenen Sprachen konzentrieren. Das eigentliche Ziel der Untersuchung von Abbeduto & Rosenberg (1985) war, zu ermitteln, ob Vor- und Grundschulkinder (24 Kinder zwischen 3;0 und 7;0) die von den mentalen Verben know, forget und remember ausgelöste Präsupposition verstehen können.^^ In drei Aufgaben wurde drei Fragen nachgegangen, (i) welchen Wahrheitswert 54 In einem zweiten Teil des Experiments wurden den Kindern Aussagen angeboten, die zwar von gleicher epistemischer Stärke waren, von denen aber auch nur eine richtig war. Die Ergebnisse dieses Teilexperiments zeigen, dass die 5- und 7-Jährigen mit folgendem Satzpaar mehr Schwierigkeiten hatten als mit den anderen: (i)

a. b.

There has to be a parrot in the box. There has to be a bear in the box.

Diese Schwierigkeit passt gut zum hier vorgestellten Erklärungsansatz. Die Sätze in (i) waren möglicherweise deshalb schwieriger zu beurteilen, weil beide eine hohe Sprechersicherheit ausdrücken. Sie waren also für die Kinder, die davon ausgingen, dass man einfach nicht wissen könne, was in der Kiste ist, gleichermaßen unpassend. Bei diesen Sätzen ist es dringend erforderlich zu wissen, dass ein Papagei in der Kiste sein muss, um die richtige Lösung zu finden. 55 Abbeduto & Rosenbergs (1985) Arbeit schließt an eine Reihe früherer Arbeiten zum Präsuppositionserwerb an, die zeigen, dass Kinder unter 6;0-7;0 deutlich mehr Schwierigkeiten haben, nicht-faktive Verben (z. B. think) zu verstehen als faktive wie know (s. dazu Harris 1975; MacNamara et al. 1976; Johnson & Maratsos 1977; Hopmann & Maratsos 1978; Hiddi & Hildyard 1979; Scoville & Gordon

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3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

die untersuchten Kinder der eingebetteten Proposition in Bezug auf die präsuppositionalen Eigenschaften des Hauptverbs zuschreiben, (ii) ob sie das richtige Verb in Bezug auf die Qualität der Evidenz auswählen, die einen Sprecher über einen Sachverhalt besitzt, und (iii) ob sie die Präsupposition einiger Verben definieren können. Da die hier vorliegende Arbeit sich nicht direkt mit dem Phänomen der Präsupposition beschäftigt, sind an dieser Stelle die von Abbeduto & Rosenberg (1985) untersuchten Fragen (i) und (iii) von geringer Relevanz, im Unterschied zur Frage (ii), die im besonderen Maße auch für die epistemische MV-Lesart zutrifft. Daher werden im Folgenden nur die Ergebnisse von Abbeduto & Rosenbergs zweiter Aufgabe diskutiert. In dieser Aufgabe wurde den untersuchten Kindern eine Geschichte vorgestellt, in der eine Figur entweder Zeuge des beschriebenen Ereignisses war (Zeuge-Fall) oder nicht wissen konnte, was wirklich stattfand (Nicht-Zeuge-Fall). Anschließend wurden die Kinder dazu aufgefordert, das Verb auszuwählen, das den mentalen Zustand der Figur am besten beschreibt. Die Verben zur Auswahl wurden immer paarweise vorgestellt {think/believe·, believe/know und think/know). Erwartet wurde von den Autoren, dass das stärkere Verb gewählt würde, wenn die Figur Zeuge, und das schwächere, wenn sie nicht Zeuge war. Abbeduto & Rosenbergs (1985:632ff.) Ergebnisse zeigen, dass nur die 7-Jährigen in allen Bedingungen der Aufgabe signifikant häufig das richtige Verb gewählt haben. Bei den 3-Jährigen galt dies nur in einem einzigen Fall: Wenn das Paar know/believe zur Auswahl stand und know das richtige Verb war (Zeuge-Fall). Die 4Jährigen gaben signifikant überdurchschnittlich korrekte Antworten, nur wenn know das richtige Verb und die Alternative think war. Aus den Ergebnissen der 3- und 4-Jährigen ziehen die Autoren den Schluss, dass die Kinder beider Gruppen nicht in der Lage waren, zu erkennen, dass Verben wie think oder believe eine epistemisch unsichere Situation beschreiben. Dafür können drei Erklärungen herangezogen werden: (i) Die jüngeren Kinder könnten den epistemisch unsicheren Charakter des Nicht-Zeuge-Falls falsch eingeschätzt haben, falls sie fälschlicherweise davon ausgingen, dass die Figur durchaus in der Lage war zu wissen, was geschehen war (diese Erklärung wird von den Autoren bevorzugt), (ii) Es ist aber auch durchaus möglich, dass sie mit den Verben believe und think einen sehr (zu) hohen Grad an epistemischer Sicherheit beim Sprecher verbinden, wie Greens (1979) es schon vermutet hat (s. dazu S.55). Und (iii) konnten sie sich vielleicht einfach nicht in die Rolle des Zeugen versetzen und gingen von ihrer eigenen Wahrnehmung aus. Mit dem Testverfahren von Hirst & Weil (1982) (s. dazu S.57) untersuchten Moore, Bryant & Furrow (1989), ob und inwieweit Vor- und Grundschulkinder die unterschiedliche epistemische Stärke der mentalen Verben know, guess und think richtig einschätzen können.^^ Das allgemeine Ergebnis ihrer Untersuchung ist, dass schon 4-Jährige beginnen, zu verstehen, dass know ein stärkerer Ausdruck ist als think oder guess, m. a. W. dass die mentalen Verben think und know einen niedrigeren Grad an epistemischer Sicher1980). Zu neueren Arbeiten zum Erwerb von Präsupposition s. Schulz (2003). 56 Moore, Bryant & Furrow ( 1989:168) gingen davon aus, dass know der epistemisch stärkste Ausdruck ist, weil es (i) die Wahrheit der eingebetteten Proposition präsupponiert und (ii) einen hohen Grad an Sicherheit beim Sprecher denotiert. Welcher von guess und think der stärkere Ausdruck ist, ist den Autoren selbst unklar. Sie nehmen aufgrund einer Befragung bei Erwachsenen an, dass think stärker ist als guess.

3.2 Experimentelle Verstehensstudien

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heit beim Sprecher ausdrücken als know. Diese Fähigkeit ist bei den 5-Jährigen definitiv etabliert. Der Unterschied dagegen zwischen think und guess wird nicht einmal von den 8-Jährigen zuverlässig erkannt. In einer weiterführenden Untersuchung wurde von Moore & Davidge (1989) der Frage nachgegangen, warum know früher verstanden wird als think. Als Arbeitshypothesen nahmen sie an, dass know besser verstanden wird als think, entweder weil es die Wahrheit der eingebetteten Proposition präsupponiert (semantische Hypothese) oder weil es einen höheren Grad an Sicherheit beim Sprecher zum Ausdruck bringt (pragmatische Hypothese). Nach dem Hirst-&-Weil-Verfahren wurden mit 3-, 4-, 5- und 6-Jährigen folgende Kontraste getestet: (i) know/think, (ii) be sure/think und (iii) know/be sure. Die Autoren gingen davon aus, dass nach der semantischen Hypothese der Kontrast know/think früher von den Kindern korrekt erfasst werden sollte als der Kontrast be sure/think, weil be sure im Unterschied zu know keine Präsupposition auslöst. Darüber hinaus wurde auch erwartet, dass die Kinder beim Kontrast (iii) know als einen stärkeren Ausdruck empfinden würden als be sure. Nach der pragmatischen Hypothese sollten die Kontraste (i) und (ii) etwa im gleichen Alter verstanden werden, weil know und be sure einen ähnlichen Grad an Sprechersicherheit ausdrücken. Dementsprechend sollten sie beim Kontrast (iii) beide Verben als gleich stark empfinden und zufällige Antworten geben. Als Ergebnis des Experiments kam heraus, dass sowohl know als auch be sure als stärkere Ausdrücke von den 4- und 5-Jährigen empfunden wurden als think. Femer gab es für keine der Gruppen einen Unterschied zwischen know und be sure. Moore & Davidge (1989) inteφretieren demzufolge diese Ergebnisse als Bestätigung ihrer pragmatischen Hypothese: Kinder zwischen 4;0 und 5;0 scheinen sich demzufolge auf die pragmatischen Eigenschaften mentaler Verben zu beziehen, um diese voneinander zu unterscheiden. Die Ergebnisse von Moore, Bryant & Furrow (1989) und Moore & Davidge (1989) scheinen zunächst zu zeigen, dass das Scheitern der Kinder in Abbeduto & Rosenbergs (1985) Untersuchung nicht daran gelegen hat, dass die untersuchten Kinder den Verben believe und think einen zu hohen Grad an Sprecher-Sicherheit zugeordnet haben. Vergleicht man die Ergebnisse beider Experimente miteinander, kommt man zu dem Schluss, dass das schlechtere Abschneiden in Abbeduto & Rosenbergs Aufgabe wahrscheinlich auf die Unfähigkeit der jüngeren Kinder zurückzuführen ist, den Grad an Wissen einer anderen Person über einen bestimmten Sachverhalt richtig einzuschätzen. Der Frage nach der Fähigkeit von Vor- und Grandschulkindem, das Hintergrundwissen einer Person über einen bestimmten Sachverhalt richtig einzuschätzen, wurde von D. Bassano, C. Champaud und M. Hickmann experimentell in einer aufwändigen Studie nachgegangen (Bassano et al. 1992; Hickmann et al. 1993 und Champaud et al. 1993). Den untersuchten Kindem^^ wurden kleine Videofilme gezeigt, in denen eine Figur (ein Tier) eine Handlung durchführte (eine Tasse zerbrechen, ein Heft verschmutzen usw.). In der Hälfte der Filme wurde das Tier dabei von einem Jungen beobachtet, in der anderen Hälfte war der Junge nicht Zeuge der Handlung [±Zeuge]. Anschließend wurde der Junge von einem Mädchen gefragt, wer die Handlung durchgeführt hätte. Die Antwort des Jungen war manchmal wahr, manchmal jedoch falsch [±wahr]. Diese Aussage war in der Hälfte der Fälle mit croire ,denken, glauben' modalisiert und in der anderen 57 60 Kinder in drei Gruppen: die 4/5-, die 6/7- und die 8/9-Jährigen.

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3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

Hälfte hatte sie die Form einer einfachen Behauptung [imodalisiert]. Es gab also acht verschiedene Varianten des Videofilms. Nachdem ein Kind einen der Filme angeschaut hatte, wurde es dazu aufgefordert, den Inhalt des Filmes nachzuerzählen, und anschließend wurden ihm folgende Fragen gestellt: (i) Was hat er [der Junge] gesagt?, (ii) Warum hat er das gesagt?, (iii) hättest Du gesagt? und (iv) Ist er sicher oder nicht? In Bassano et al. (1992) wurde die Fähigkeit der Kinder untersucht, das Hintergrundwissen des Jungen korrekt einzuschätzen. Dabei wurden die Antworten der Kinder auf die Frage (iv) analysiert. Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass die Urteile der 4/5Jährigen fast ausschließlich durch den Faktor [±wahr] beeinflusst wurden. Diese Kinder gingen davon aus, dass der Junge sicher war, wenn seine Behauptung richtig war, und umgekehrt, wenn sie falsch war. Der Faktor [±Zeuge] hatte nur einen geringen Einfluss auf die Urteile dieser Kinder, während die Modalisierung der Aussage durchgehend außer Acht gelassen wurde (Bassano et al. 1992:399). Auch die 6/7-Jährigen gründeten ihre Antworten hauptsächlich auf den Faktor [±wahr]. Die Wahl der Antwort nicht sicher wurde aber in dieser Gruppe teilweise durch die Modalisierung der Aussage beeinflusst, jedoch kaum durch den Faktor [±Zeuge]: Diese Kinder neigten deutlich dazu, der Figur den epistemischen Zustand der Sicherheit zuzuschreiben, auch wenn diese nicht Zeuge gewesen ist (ebda.). Erst die 8/9-Jährigen bezogen die Wahl der Antwort nicht sicher auf den Faktor [iZeuge]. Der Faktor [imodalisiert] spielte auch in der Wahl ihrer Antworten eine gewisse Rolle, während die Wahrheit der Aussage von dieser Altersklasse nicht mehr berücksichtigt wurde (Bassano et al. 1992:401). Diese Daten weisen deutlich darauf hin, dass erst 8/9-Jährige in der Lage sind, den epistemischen Charakter einer Aussage auf das Hintergrundwissen des Sprechers zurückzuführen, während die jüngeren Gruppen sich eher an der Übereinstimmung der Aussage mit der Realität orientieren. Die Analyse der Antworten der Kinder auf die Fragen (i-iii) zeigt auch einen starken Entwicklungverlauf zwischen 4;0 und 9;0 (Champaud et al. 1993 und Hickmann et al. 1993): Auf die Frage (i) Was hat er gesagt? wurde fast immer die Aussage des Jungen wiederholt, wenn es sich um eine einfache Aussage handelte [-modalisiert]. Substitutionen und Unterlassungen gab es nur bei den cro/re-Aussagen. Die 4/5-Jährigen zeigten dabei eine starke Tendenz, den Modalausdruck in ihren Wiederholungen zu unterlassen, vor allem wenn der Junge Zeuge war (Champaud et al. 1993:196 und Hickmann et al. 1993:372). Substitutionen dagegen fanden nur bei den älteren Kindern statt (ebda.). Substitutionen im Fall [+Zeuge] bestanden hauptsächlich darin, das Verb croire durch penser ,denken' zu ersetzen. Im Fall [-Zeuge] wurde oft croire durch sûrement,sicherlichpewi-eire ,vielleicht' oder das epistemische MV devoir ,müssen' ersetzt (Hickmann et al. 1993:372). Auf die Frage (ii) Warum hat er das gesagt? antworteten die 4/5-Jährigen mehrheitlich mit dem Hinweis, dass der Junge Zeuge war (z. B: er hat gesehen) oder dass er wusste, was geschehen ist. Erst die 6/7- und vor allem die 8/9-Jährigen wiesen häufig darauf hin, dass der Junge seine Aussage aufgrund einer Inferenz gemacht hatte, wenn dieser nicht Zeuge gewesen war (Hickmann et al. 1993:380, Fig. 4). Auf die Frage (iii) Was hättest Du gesagt? orientierten sich die 5-Jährigen am Faktor [±wahr]: Sie versuchten die Aussage so zu ändern, dass sie wahr würde (Champaud et al. 1993:199). Erst die 6/7-Jährigen und vor allem die 9-Jährigen neigten dazu, kei-

3.3 Zusammenfassung

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ne definitive Aussage machen zu wollen/können, wenn der Junge nicht Zeuge gewesen war.^^ Champaud et al. (1993:208) und Hickmann et al. (1993:385f.) stellen zusammenfassend fest, dass die 4/5-Jährigen durchaus in der Lage sind, epistemische Ausdrücke auf das Hintergrundwissen einer Person zu beziehen; sie beziehen jedoch dieses Hintergrundwissen lediglich auf perzeptuelle Evidenzen und nicht auf inferenzielle, was zu Fehleinschätzungen im Fall [-Zeuge] führt. Diese Kinder haben also eine rein realistische Konzeption der epistemischen Sicherheit, die sie mit dem Verb croire assoziieren. 6/7-Jährige beginnen dagegen zu begreifen, dass nicht nur perzeptuelle Evidenz zum Hintergrundwissen einer Person beitragen kann, sondern auch inferenzielles. Daher sind sie in der Lage zu verstehen, dass man einen gewissen Grad an epistemischer Sicherheit über einen Sachverhalt erlangen kann, ohne Zeuge gewesen zu sein. Dies entspricht keinem realistischen Begriff von epistemischer Sicherheit, sondern einem subjektiven. Die epistemische Modalisierung von Aussagen wird aber in diesem Alter noch nicht in Betracht gezogen, wenn der epistemische Zustand einer Person rekonstruiert werden muss. Erst die 8/9-Jährigen ziehen aus der Modalisierung einer Aussage Rückschlüsse auf den epistemischen Zustand des Sprechers. Auch die Fähigkeit, Undeterminiertheit als epistemischen Zustand zu erfassen, wird erst in diesem Alter erworben.^^ Die Ergebnisse dieser Studie weisen auf drei wichtige Aspekte beim Erwerb der epistemischen Bedeutung von Modalausdrücken, die in anderen Arbeiten oft nicht genau berücksichtigt wurden: (i) Das Kind muss in der Lage sein, mentale Zustände als unabhängig von der Realität zu betrachten, (ii) Es muss aber auch erkennen, dass objektive Unentscheidbarkeit zu epistemischer Unsicherheit führt; und (iii) es muss verstehen, dass epistemische Modalausdrücke eine epistemische Unsicherheit beim Sprecher zum Ausdruck bringen, dass die Wahl eines epistemischen Ausdrucks etwas über den epistemischen Zustand der Person aussagt.

3.3

Zusammenfassung

Ausgehend von den Ergebnissen der bisherigen Forschung zum MV-Erwerb wurde in diesem Kapitel versucht, den MV-Erwerbsverlauf kurz zu skizzieren. Dabei wurde ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung der epistemischen Lesart gelegt. Die Ergebnisse der Langzeitstudien zum Deutschen, Englischen, Polnischen, Griechischen und Französischen weisen auf einen relativ einheitlichen Erwerbsverlauf hin: 58 Champaud et al. (1993: 198) stellt in diesem Fall drei Strategien bei den Kindern fest: (i) darauf hinweisen, man hätte zuerst fragen sollen, was geschehen sei; (ii) zugeben, dass man selbst nicht wissen könne, und (iii) darauf hinweisen, dass es andere Verdächtige geben könne. 59 In früheren Arbeiten hat sich D. Bassano mit dem Erwerb verschiedener epistemischer Ausdrücke beschäftigt (Bassano 1985a,b, 1990). Aus Platzgründen kann im Rahmen dieser Arbeit nicht auf diese Untersuchungen ausführlich eingegangen werden. Sie zeigen jedoch alle, dass schwache epistemische Ausdrücke erst mit 8;0-9;0 korrekt interpretiert werden. Ihre Ergebnisse stehen also im Einklang mit den hier dargestellten Ergebnissen von D. Bassano, C. Champaud und M. Hickmann.

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3. Die MV-Ontogenese: Ein Forschungsüberblick

MV in zirkumstantieller Lesart treten in der Regel schon ab dem zweiten Lebensjahr regelmäßig auf. Die wichtigsten zirkumstantiellen Lesarten werden bis zur Mitte des dritten Lebensjahrs erworben. MV in epistemischer Lesart treten dagegen bis 3;6 nur vereinzelt auf. Diese Lesart wird also deutlich später erworben als die zirkumstantielle. Die wenigen vorhandenen Daten über Kinder, die älter sind als 4;0, zeigen aber auch, dass sich der Erwerb der epistemischen MV wahrscheinlich über eine lange Periode hinzieht. Femer deuten die vorgestellten Langzeitstudien darauf hin, dass Systemkonkurrenten der epistemischen MV wie das Modaladverb vielleicht oder die mentalen Verben wissen und denken teilweise deutlich (ab 2;8) vor diesen erworben werden. Die Ergebnisse der experimentellen Studien zum Erwerb der epistemischen MV-Lesart ergeben kein einheitliches Bild, vor allem weil die unterschiedlichen Testverfahren der vorgestellten Studien zu einem heterogenen Bild des Erwerbsverlaufs führen: Einerseits zeigen die Experimente, bei denen zwei modalisierte Sätze unterschiedlicher epistemischer Stärke beurteilt werden müssen (Hirst-&-Weils Verfahren), dass die relative epistemische MV-Stärke zwischen 3;0 und 5;0 weitgehend erworben wird. Andererseits zeigen aber experimentelle Studien, die in ihrem Verfahren vom Kind verlangen, dass es die epistemische Stärke von Modalausdrücken in Hinblick auf das Hintergrundwissen einer anderen Person beurteilen soll, dass der epistemisch unsichere Charakter von Modalausdrücken wie denken nicht vor 8;0 richtig verstanden wird. Femer wird durch keine experimentelle Studie ein Unterschied beim Verstehen von epistemischen MV und Systemkonkurrenten festgestellt. An den Studien zum MV-Verstehen ist noch kritisch anzumerken, dass sie wegen der ausgewählten Verfahren selten in der Lage sind, das Verstehen der epistemischen Lesart getrennt von der zirkumstantiellen zu untersuchen, weil sich die gestellten Aufgaben oft auch mit einem zirkumstantiellen Verständnis der Testsätze lösen lassen. Aus dieser Darstellung des MV-Erwerbs ergeben sich zwei wichtige Fragestellungen im Hinblick auf eine Rekonstruktion des MV-Erwerbsverlaufs, die im empirischen Teil dieser Arbeit untersucht werden sollen: 1. Warum wird die epistemische MV-Lesart später als die zirkumstantielle erworben bzw. warum werden epistemische Bedeutungen kaum vor 8;0 korrekt verstanden? 2. Wie kann man erklären, dass einige epistemische Systemkonkurrenten vor der epistemischen MV-Lesart erworben werden? Die verschiedenen entwicklungspsychologischen und linguistischen Ansätze zur Lösung dieser zwei Probleme werden nun im nächsten Kapitel behandelt.

Kapitel 4

Hypothesen zum MV-Erwerb Die Darstellung der bisherigen Literatur zum MV-Erwerb im vorherigen Kapitel hat auf zwei verschiedene Phänomene aufmerksam gemacht, die charakteristisch für den MVErwerbsverlauf sind: (i) Langzeitstudien sowie experimentelle Verstehensstudien zeigen, dass der Erwerb der epistemischen MV-Lesart deutlich später einsetzt als der Erwerb der zirkumstantiellen, und dass die epistemische Lesart erst im Grundschulalter zuverlässig verstanden wird, (ii) Darüber hinaus legt der Vergleich der Daten zum Erwerb der epistemischen MV-Lesart und anderer epistemischer Ausdrücke die Vermutung nahe, dass MV in epistemischer Lesart später erworben werden als einige ihrer Systemkonkurrenten wie z. B. denken oder vielleicht. In den folgenden Abschnitten werden vier Hypothesen zum Erwerb der deutschen MV vorgeschlagen und diskutiert: Die Unentscheidbarkeits-, die Implikatur-, die Kontrastund die Anhebungshypothese. Die zwei ersten Hypothesen sollen zur Klärung der ersten Fragestellung dienen: Die Unentscheidbarkeits-Hypothese führt die späte Entwicklung epistemischer Bedeutungen auf die Entwicklung der kognitiven Fähigkeit zurück, epistemische Möglichkeit zu verstehen (s. unter 4.1). Die Implikatur-Hypothese sagt voraus, dass Kinder bis 9;0 skalare Implikaturen nicht im selben Maße berücksichtigen wie Erwachsene, was das späte Verstehen schwacher epistemischer Ausdrücke erklären könnte (s. unter 4.2). Zur Klärung der zweiten Fragestellung, werden ebenfalls zwei Hypothesen vorgeschlagen: Die Kontrast-Hypothese führt die späte Entwicklung der epistemischen MV-Lesart — im Vergleich zu den MV-Systemkonkurrenten — auf die Tatsache zurück, dass nur die MV polyfunktional sind (s. unter 4.3). Die Anhebungshypothese ihrerseits sieht den Erwerb von Anhebung als eine notwendige Voraussetzung für die epistemische MV-Lesart. Diese Voraussetzung spielt dagegen keine Rolle beim Erwerb der MV-Systemkonkurrenten (s. unter 4.4).

4.1

Die Unentscheidbarkeits-Hypothese

Da die Mehrzahl der Untersuchungen, die sich mit dem Erwerb der MV beschäftigen, im Rahmen entwicklungspsychologischer Ansätze durchgeführt wurden, ist es wenig er-

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4. Hypothesen zum MV-Erwerb

staunlich, dass das späte Auftreten der epistemischen MV und ihrer Systemkonkurrenten i. Allg. auf die kognitive Entwicklung des Kindes zurückgeführt wird. Es wird z. B. immer wieder betont (u. a. Stephany 1986; Pea & Mawby 1984), dass für Kinder die soziale Funktion der MV — also die handlungsorientierten MV-Bedeutungen (= die zirkumstantiellen) — grundlegend ist und die epistemische von dieser lediglich abgeleitet wird.' Stephany (1986:398) bemerkt diesbezüglich, dass „[... ] deontic meanings are expressed before epistemic ones [...]. This must therefore be ascribed to cognitive development with the egocentric ,will-do' being much more basic for the child than the ,will-happen'." Neben dieser Fokussierung jüngerer Kinder auf soziale Interaktion wird in der Literatur auf zwei kognitive Voraussetzungen hingewiesen, die eine herausragende Rolle beim Erwerb der epistemischen MV-Lesart spielen sollen. In vielen Arbeiten wird immer wieder betont, dass die Entwicklung einer repräsentationeilen Theory of Mind (=ТоМ) eine unabdingbare Voraussetzung für das Verstehen und das Produzieren von epistemischen Äußerungen darstellt. Es handelt sich dabei um die kognitive Fähigkeit, zwischen realen Sachverhalten und deren mentalen Repräsentation zu unterscheiden. Da epistemische Ausdrücke die Einstellung eines Sprechers zur Möglichkeit bzw. Notwendigkeit des Bestehens eines Sachverhalts — u. U. auf der Basis einer epistemischen Inferenz — bezeichnen, weisen sie zwangsläufig darauf hin, dass eine Beziehung zwischen der inneren mentalen Welt des Sprechers und der externen Realität besteht: Sie drücken nämlich aus, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Sprecher davon ausgeht, dass seine mentale Repräsentation eines Sachverhalts eine Entsprechung in der Realität hat. Es ist demzufolge anzunehmen, dass die kognitive Fähigkeit, Mentales von Realem zu unterscheiden bzw. der realen Welt alternative Welten (Welten von Wünschen, von Annahmen) gegenüberzustellen, eine Voraussetzung für die Verwendung solcher Ausdrücke ist. Als zweite kognitive Voraussetzung für die Verwendung epistemischer Ausdrücke wird auch — neben dem Erwerb einer repräsentationellen ToM — auf die Herausbildung der Fähigkeit hingewiesen, die vorhandene Evidenz über das Bestehen eines Sachverhalts korrekt einzuschätzen (Green 1979; Perkins 1983; Moore, Pure & Furrow 1990). Diese Fähigkeit ist natürlich von großer Bedeutung, wenn es darum geht, korrekt einzuschätzen, ob das Bestehen eines Sachverhalts angenommen bzw. ausgeschlossen werGelegentlich wird auch angenommen, dass diese zeitliche Priorität der zirkumstantiellen Bedeutung der epistemischen gegenüber im Spracherwerb auf eine strukturelle zurückzuführen sei. Vor allem Sweetser (1990) plädiert in ihrem Polysemie-Ansatz für die Annahme, die epistemische Bedeutung als von der zirkumstantiellen abgeleitet zu betrachten. Als Evidenz führt sie heran, dass die zirkumstantiellen MV-Bedeutungen auch in der historischen Sprachentwicklung vor der epistemischen auftreten (zur sprachhistorischen MV-Entwicklung s. fürs Deutsche Valentin 1984; Fritz 1997; Diewald 1999; Axel 2001; Müller 2001 und fürs Englische Goossens 1982; Sweetser 1990; Shepherd 1982). Die in Kap. 3 festgestellte Erwerbsabfolge wäre demzufolge Ausdruck dieses allgemeinen Prinzips. Ganz ähnlich argumentiert Stephany (1986: 400): „the priority of deontic, as compared to epistemic, modality in the ontogenesis as well as in the history of languages can be considered as indicating the primacy of the social, as compared to the epistemic, function of language."

4.1 Die Unentscheidbarkeits-Hypothese

79

den muss (epistemische Notwendigkeit) oder nur angenommen bzw. ausgeschlossen werden kann (epistemische Möglichkeit). M. a. W. epistemische Ausdrücke können erst dann sinnvoll von Kindern verwendet werden, wenn als sicher gelten kann, dass sie zwischen epistemischer Notwendigkeit und epistemischer Möglichkeit unterscheiden können.^ In diesem Zusammenhang ist vor allem wichtig, dass das Kind erlernt zu erkennen, wann es über nicht genügend Information bzw. Evidenz verfügt, um über das (Nicht-)Bestehen eines Sachverhalts definitiv entscheiden zu können. Es muss also die Fähigkeit erwerben, „epistemische Unentscheidbarkeit" (engl. ,epistemic uncertainty') zu erkennen, um zwischen epistemischer Notwendigkeit und Möglichkeit unterscheiden zu können. Solange dies nicht geschehen ist, ist zu erwarten, dass Kinder Schwierigkeiten haben, zwischen Ausdrücken der epistemischen Notwendigkeit und der epistemischen Möglichkeit zu unterscheiden. Sowohl die Entwicklung einer repräsentationeilen ToM als auch der kognitiven Fähigkeit, epistemische Unentscheidbarkeit zu erkennen, sind möglicherweise wichtige kognitive Voraussetzungen für den Erwerb epistemischer Ausdrücke. Sie haben das Potenzial zu erklären, warum epistemische Ausdrücke erst im späten Grundschulalter korrekt verstanden werden. In der Literatur wird angenommen, dass eine repräsentationeile ToM zwischen 3;0 und 5;0 erworben wird und die Fähigkeit, epistemische Unentscheidbarkeit zu erkennen, zwischen 5;0 und 10;0 (oder sogar später). Da die vier Experimente, die den empirischen Teil dieser Arbeit bilden, nur der Frage nachgehen, wie 6- bis 10-Jährige epistemische MV-Sätze verstehen, sind in diesem Abschnitt vor allem die Diskussion der Arbeiten zur Entwicklung des Begriffs der epistemischen Unentscheidbarkeit in Abs. 4.1.2 von großer Relevanz: Erst in diesem Abschnitt wird die Plausibilität der dem empirischen Teil dieser Arbeit zugrundeliegenden Unentscheidbarkeits-Hypothese begründet. Was die Entwicklung einer repräsentationellen ToM angeht, wird eher davon ausgegangen, dass Kinder in diesem Alter bereits über die nötige kognitive Fähigkeit verfügen, Realität und Repräsentationen zu unterscheiden. Obwohl die Entwicklung einer ToM — aus oben genanntem Grund — nur eine geringere Rolle im Rahmen dieser Arbeit spielt, wird in Abs. 4.1.1 in einem ausführlichen Exkurs der Erwerbsverlauf der ToM dargestellt. Dieser Abschnitt ist insofern von Bedeutung, da er wichtige Hinweise zur Klärung der Frage erbringen wird, warum die epistemische MV-Lesart später als die zirkumstantielle erworben wird.

4.1.1

Zur Entwicklung einer repräsentationellen ToM — Ein Exkurs

Junge Kinder zeigen von früh an ein Interesse dafür, Intentionen anderer Personen zu inteφretieren, sei es durch deren Gesichtsmimik, sei es durch deren Gestik oder deren Tonfall in der Stimme. Dieser natürliche Hang des Menschen, sich ein Bild über den Hier ist nur die Rede von der kognitiven Fähigkeit, zwischen epistemischer Möglichkeit und Notwendigkeit zu unterscheiden. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass alle Erwachsenen bei gleicher Evidenz immer den gleichen Schluss ziehen würden. Unabhängig von dieser kognitiven Fähigkeit ist es immer möglich, dass zwei Personen die vorhandene Evidenz anders interpretieren und daher zu unterschiedlichen Schlüssen kommen.

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4. Hypothesen zum MV-Erwerb

mentalen Zustand anderer Personen zu machen und mentale Zuschreibungen über sich selbst und über andere zu vollziehen, wird in der Philosophie traditionell ah folk psychology bezeichnet. Die Frage, die in diesem Abschnitt zu untersuchen ist, lautet also, wie und ab wann Kinder lernen, eigene Annahmen und die anderer Personen als solche zu erkennen und den ontologischen Unterschied zwischen ihnen und den Sachverhalten der äußeren Welt zu erkennen. Diese Frage wird seit etwa zwanzig Jahren unter dem Schlagwort des Erwerbs einer ToM intensiv diskutiert.^ Zum Erwerb einer ToM gehört also Folgendes: Das Kind muss lernen, (i) dass Gedanken über Sachverhalte etwas anderes als die Sachverhalte selbst sind, (ii) dass Vorstellungen ohne entsprechende Sachverhalte in der Welt bestehen können, und (iii) dass Intentionen nicht immer ihrer tatsächlichen Realisierung entsprechen. Schon Piaget untersuchte in mehreren Arbeiten (Piaget 1955,1962), wie sich die Begriffe des Glaubens, der Intention und des Lügens herausbilden. Er kam in diesen Arbeiten zu dem Schluss, dass Kinder unter 7;0 zwischen dem Mentalen und dem Realen nicht deutlich unterscheiden können und dass diese Kinder oft interne Aktivitäten wie Denken oder Träumen mit externen wie Sprechen oder Handeln verwechseln. Piaget nennt dies „den kindlichen Realismus". Es ist leicht zu verstehen, dass die von Piaget dargestellte Form des kindlichen Realismus kaum mit einer zielsprachlichen Verwendung epistemischer Ausdrücke verträglich ist: Es ist nämlich kaum vorstellbar, wie Inferenzen über die Möglichkeit des Bestehens von Ereignissen möglich sein sollen, solange zwischen mentaler Repräsentation und Realität nicht unterschieden werden kann. Die Unfähigkeit von Kindern im Vorschulalter, epistemische Ausdrücke korrekt zu verstehen und zu verwenden, wurde also in der entwicklungspsychologischen Literatur lange Zeit auf die Abwesenheit einer ToM bei Kindern in der präoperationalen Phase zurückgeführt. Obwohl Piagets Ansichten sowohl auf theoretischer als auch auf empirischer Ebene durch neuere Arbeiten stark in Frage gestellt wurden (s. u. a. Donaldson 1978), bleibt es dennoch in der Literatur unumstritten, dass Kinder lediglich ein rudimentäres Verständnis der Gedankenwelt anderer Personen haben und dass die Herausbildung einer ToM Teil ihrer kognitiven Entwicklung ist. Im Unterschied zu Piagets Vorstellung, Kinder unter 7;0 verfügten nicht über eine ToM, lautet der Haupttenor der modernen Forschung, dass die entscheidenden Schritte in Richtung ToM zwischen 3;0 und 5;0 gemacht werden. Gestützt wird diese Annahme durch zwei empirische Forschungsansätze: Wimmer & Pemers (1983) false-belief task und Flavell et als. (1986) appearance-reality task. In Wimmer & Pemers (1983) ursprünglicher Aufgabe wurde den Kindern folgende Szene vorgeführt: Ein Junge stellt ein Stück Schokolade unter eine Tasse und geht anDie Frage nach dem Besitz einer ToM wurde von Premack & Woodruff (1978) zunächst in Bezug auf Primaten gestellt. Die Entstehung des Begriffs der Theory of Mind geht auf diese Arbeit zurück. Premack & Woodruffs (1978) Fragestellung wurde 1983 durch Wimmer & Pemer (1983) zum ersten Mal für die Entwicklungspsychologie fruchtbar gemacht. Für klare und einführende Forschungsüberblicke zum Thema ToM s. vor allem Astington (1993) und Mitchell (1996). Zu aktuellen Ansätzen in der ToM-Forschung s. Mitchell & Riggs (2000) und Astington (2000b).

4.1 Die Unentscheidbarkeits-Hypothese

81

schließend weg. In seiner Abwesenheit wird das Stück Schokolade unter eine andere Tasse geschoben. Wenn der Junge zurückkommt, werden die getesteten Kinder gefragt, wo der Junge das Stück zuerst suchen werde. 3-Jährige zeigen in diesem Experiment fast ausschließlich auf die Tasse, in der sich das Stück tatsächlich befindet, davon ausgehend, dass der Wissensstand des Jungen ihrem eigenen entsprechen würde (Realismus-Fehler). 4-Jährige dagegen zeigen auf die ursprüngliche Tasse, weil sie zu Recht annehmen, dass der Junge nur glauben kann, das Stück sei unter der ersten Tasse, weil er nicht wissen kann, dass das Stück verschoben wurde. Die Autoren schließen aus diesem unterschiedlichen Verhalten der 3- und 4-Jährigen, dass erst letztere Gruppe zwischen Glaubensinhalt und Realität sowie zwischen den mentalen Repräsentationen verschiedener Personen unterscheidet. 3-Jährige dagegen würden nach Wimmer & Pemers (1983) Meinung von einem naiven Realismus ausgehen, bei dem zwischen Repräsentation und Sachverhalt kein Unterschied besteht. In Flavells et al. (1986) appearance-reality-Aufgabe wird einem Kind ein Objekt gezeigt (ein Schwamm), das jedoch wie ein anderes (ein Stein) aussieht. Das Kind wird gefragt, worum es sich bei diesem Objekt handelt. Die typische Antwort lautet natürlich: ein Stein. Dann wird ihm gezeigt, dass es sich eigentlich um einen Schwamm handelt. Anschließend wird es gefragt, worum es sich wirklich handelt. Die Antworten der 3-Jährigen zeigen, dass sie stets davon ausgehen, es handle sich um das Objekt X (Schwamm oder Stein, beides kommt in den Antworten vor), das auch immer nach X aussehe. 4-Jährige dagegen erkennen, dass es ein Schwamm ist, der aber wie ein Stein aussieht. Flavell 0988) zieht aus den Ergebnissen der appearance-reality-Auîgabe den Schluss, dass 3Jährige noch nicht in der Lage sind, zwei mentale Repräsentationen ein und desselben Objektes gleichzeitig — also dass es sich von den Eigenschaften her um einen Schwamm handelt, aber vom Aussehen her um einen Stein — aufrechtzuerhalten. Bezogen auf die ToM bedeutet dies, dass 3-Jährige noch nicht begreifen, dass mentale Repräsentationen auch etwas anderes sein können als der Sachverhalt, auf den sie sich beziehen. Die Ergebnisse der hier vorgestellten experimentellen Paradigmen deuten darauf hin — und darüber herrscht weitgehend Einigkeit in der Forschung —, dass sich in der Periode zwischen 3;0 und 4;0 entscheidende Fortschritte in Richtung Erwerb einer ToM vollziehen. Jedoch gehen die Meinungen hinsichtlich der Inteφretation dieser Daten und der dem ToM-Erwerb zugrunde liegenden Mechanismen weit auseinander. Leslie (1988), der Fodors (1983) modularem Ansatz folgt, argumentiert, dass die Repräsentation einer ToM von einem spezialisierten Modul gesteuert wird, die er Theoryof-Mind Mechanism (ToMM) nennt. Dieses Modul ist unter anderem dafür zuständig, Informationen über Einstellungen zur Realität und über fiktionale Sachverhalte zu verarbeiten. Ein weiterer und wichtiger Aspekt in Leslies (1987, 1988) Theorie ist, dass er den ToM-Erwerb mit demjenigen der Fähigkeit zum pretend play — d. h. zum symbolischem Spielen — verbindet, die anfangs des dritten Lebensjahres weitgehend ausgereift ist. Konsequenterweise nimmt Leslie an, dass das ToMM-Modul ab diesem Alter voll funktionsfähig ist und dass Kinder ab diesem Alter über eine vollständige ToM verfügen. Problematisch in Leslies Hypothese ist, dass sie voraussetzt, dass das Kind den als ob-Charakter des pretend play als mentalen Zustand erfasst. Lilliard (1993a,b) zeigt jedoch, dass Kinder das pretend play möglicherweise lediglich als handeln, als ob verstehen und nicht als mentalen Zustand.

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4. Hypothesen zum MV-Erwerb

Wie jeder generative Ansatz lässt Leslies ToMM-Annahme kaum Platz für einen Entwicklungsprozess beim Kind. Den immer sicherer werdenden Umgang des Kindes mit der false belief-Aufgabe während des vierten Lebensjahres erklärt Leslie nicht mit einer Umwandlung der kognitiven Fähigkeit des Kindes in eine repräsentationeile ToM, sondern lediglich mit einem feineren Umgang mit dem ToMM. Im Unterschied zu Leslie vertritt Pemer (1991) eine Position, nach der eine ToM sich beim Kind in drei Stufen entwickelt: Säuglinge verfügen lediglich über „direktes Wissen"; 2-Jährige schon über eine Re-präsentation, die es ihnen erlaubt, zwei Repräsentationen zeitgleich zu erfassen, wie z.B. beim symbolischen Spiel. Die dritte Stufe - die Meta-Repräsentation — wird Ende des vierten Lebensjahres erreicht. Ab diesem Alter versteht das Kind, dass mentale Zustände Repräsentationen sind, m. a. W. es erkennt den repräsentationeilen Charakter seiner Repräsentationen. Dennoch bleibt in Pemers Theorie die Frage, wie der Übergang von einer Stufe zur nächsten verläuft, weitgehend unklar. Wellman (1990) und Gopnik (1993) vertreten eine starke kognitivistische Position. Gemeinsam mit Pemer (1991) führen sie die fortschreitende Entwicklung im Bereich der ToM zwischen 3;0 und 4;0 auf die allgemeine kognitive Entwicklung des Kindes zurück. Sie vertreten die Auffassung, dass diese Fortschritte vor allem auf die Fähigkeit des Kindes zurückzuführen sind, sein Wissen in immer feineren und elaborierteren Theorien zu organisieren.^ Sie postulieren also, dass Kinder ihre Theorie über mentale Repräsentationen schrittweise aufbauen. Für Gopnik (1993) besitzen zwar schon 3-Jährige eine ToM, die aber noch nicht voll ausgereift ist. Nach Gopnik glauben Kinder dieses Alters, dass es zwei Kategorien von psychologischen Zuständen gibt: Einerseits so genannte silly states, die Träume, Bilder, Fiktionen und symbolische Spiele umfassen, und andererseits serious states, denen Intentionen, Wünsche und Annahmen über die reale Welt entsprechen. Falsch an der ToM eines 3-Jährigen ist nach Gopnik die Annahme, serious states würden die Realität direkt widerspiegeln. Im Laufe des vierten Lebensjahres würde das Kind in der Manier eines Wissenschaftlers gezwungen werden, seine Theorie über die Natur mentaler Zustände zu revidieren, um zu dem Schluss zu kommen, mentale Zustände seien nur indirekte Repräsentationen der Realität. Wellman (1990) steht der Position Gopniks sehr nahe. Auch er zeigt, dass 2- bis 3Jährige durchaus zwischen der Realität und mentalen Repräsentationen unterscheiden können. Kinder in diesem Alter verstehen schon, dass z.B. ein real existierender Keks fassbar und manipulierbar ist, während ein solcher Keks als Gedanke nicht an eine andere Person weitergegeben werden kann (Wellman & Estes 1986). Nach Wellman ist die Auffassung 2-Jähriger über mentale Zustände weitgehend auf Wünsche (desire) begrenzt, Bis jetzt wurden hier die Begriffe theory bzw. ToM in der allgemeinen Bedeutung von .Vorstellung' bzw. , Vorstellung über mentale Repräsentationen' verwendet. Die hier gemeinten Ansätze gehen jedoch von der Annahme aus, dass das Kind eine angemessene Theorie über mentale Zustände im Sinne von Hypothesenbildung aufbaut. Deshalb werden Wellmans und Gopniks Ansätze als Theory Theory bezeichnet, weil sie Theorien sind, die von einer Theoriebildung beim Kind bzw. beim Menschen ausgehen (s. dazu Wellman 1990:94ff.). Diese Auffassung ähnelt solchen Entwicklungstheorien, nach denen der Mensch sein Wissen in der Form domänenspezifischer Theorien organisiert (Carey 1985; Spelke 1991).

4.1 Die Unentscheidbarkeits-Hypothese

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Glaubensinhalte {beliefs) werden erst von 3- und vor allem von 4-Jährigen als mentale Zustände erfasst.® Der Unterschied zwischen 2- bis 3-Jährigen und 4- bis 5-Jährigen besteht also darin, dass die erste Gruppe zwar eine scharfe Trennlinie zwischen realen Objekten und deren mentalen Repräsentationen zieht, jedoch immer noch davon ausgeht, mentale Repräsentationen würden die Realität unmittelbar widerspiegeln {copy theory)? Erst 4- bis 5-Jährige verfügen über eine representational ToM, d. h. über eine ToM, die ausdrücklich die Erkenntnis beinhaltet, dass mentale Zustände nur Repräsentationen im Sinne von Inteφretationen sind, die keine realen Entsprechungen zu haben brauchen, d. h. falsch sein können (Wellman 1990:257): „The essential change [zwischen 3;0 und 6;0, S.D.] is that children come to understand a variety of informational relations to an event rather than a simple copy relation. Thus, they begin to understand such notions as interpretation, construal, and inferences (although they do not use these terms). These are the sort of active, constructive processes of representation central to an interpretative understanding but outside the pale of a copy understanding of representation." Vergleicht man den Verlauf einerseits der ToM-Entwicklung und andererseits des Erwerbs epistemischer Ausdrücke, fallen sofort eindeutige, zeiüiche Parallelen auf: (i) Ausdrücke des Wunsches werden im Laufe des dritten Lebensjahres erworben, also etwa in dem Alter, in dem Kinder Wünsche als mentale Zustände auffassen können; (ii) erste epistemische Ausdrücke werden etwa mit 3;0 verwendet, also exakt in dem Alter, in dem angenommen wird, dass Kinder Glaubensinhalte erkennen können, und (iii) epistemische Ausdrücke bleiben bis 4;0-5;0 sehr rar, also bis zu der Zeit, in der eine repräsentationeile ToM erworben wird. Obwohl in der ToM-Forschung weitgehend Konsens darüber herrscht, dass der Erwerb epistemischer Ausdrücke und die Entwicklung einer repräsentationeilen ToM eng miteinander verbunden sind (Tager-Flusberg 1994; Tager-Flusberg & Sullivan 1994; Happé Wellman (1990) versteht seine Theorie als Belief-Desire Theory. Nach Wellman (1990) verfügen 2Jährige lediglich über eine desire psychology, nach der menschliche Handlungen nur auf Wünsche zurückgeführt werden. 3-Jährige dagegen erkennen, dass menschliche Handlungen auch auf Glaubensinhalte zurückgeführt werden können, die aber noch stark von Wünschen determiniert sind. Nach der desire-belief psychology 3-Jähriger handelt der Mensch nach der Regel wants Y, so Χ believes Y exists, which implies that X will act to achieve Y". Erst 4-Jährige (genauso wie Erwachsene) trennen Wünsche und Glaubensinhalte als mentale Repräsentationen voneinander. Sie verfügen also über eine belief-desire psychology, in der sich Glaubensinhalte entweder auf die Wahrheit von Propositionen bzw. die Existenz von Sachverhalten oder auf Fiktionales beziehen, während Wünsche eine von den Glaubensinhalten getrennte Kategorie bilden. Femer begreifen erst 4-Jährige, dass beide kognitiven Kategorien als Quelle menschlicher Handlungen fungieren können. (Zu einer Darstellung von Wellmans Belief-Desire-Thtont s. auch Bartsch & Wellman 1995: Kap. 1 und 8.) Mit seiner copy theory trägt Wellmann der Tatsache Rechnung, dass 3-Jährige die false beliefAufgabe noch nicht lösen können, obwohl sie schon über das Wissen verfügen, mentale Repräsentationen seien etwas anderes als reale Objekte. Die copy-theory besagt letztendlich nichts anderes, als dass 3-Jährige fälschlicherweise glauben, mentale Repräsentationen seien immer wahr.

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4. Hypothesen zum MV-Erwerb

1995; Bartsch & Wellman 1995; Astington & Jenkins 1999), bleibt die Frage nach der Natur dieser Beziehung sehr umstritten. Die Standardannahme folgt dem kognitiven Determinismus (s. dazu Cromer 1988; Johnston 1985) und besagt, dass die Entwicklung der ToM eine Voraussetzung für den Gebrauch epistemischer Ausdrücke ist (Ferner 1991; Karmiloff-Smith 1992; Leslie 1994; Cromer 1991; Tager-Flusberg 1994; Papafragou 1997,2000,2001).^ Ganz in der Tradition des kognitiven Determinismus führt Papafragou (1997,2000, 2001) das späte Auftreten epistemischer Ausdrücke auf die Entwicklung einer ToM zurück, wie sie etwa von Ferner (1991), Gopnik (1993) und Wellman (1990) aufgefasst wurde: Kinder unter 3;0 sind zwar in der Lage, Wünsche als mentale Zustände zu erkennen, so dass es wenig erstaunlich ist, dass zirkumstantielle MV — vor allem mit buletischem Hintergrund — ab Mitte des dritten Lebensjahres regelmäßig verwendet werden (s. unter 3.1, S. 38ff.). Da Kinder aber erst mit 3;0 Annahmen über die Welt als solche erkennen (s. o.), sind sie erst ab diesem Alter dazu fähig, epistemische Ausdrücke zu verwenden. Aus dieser Farallele schließt Fapafragou (2001:176), dass „it appears that modal language is driven to a considerable extent by developments in the employment of ToM. From a cognitive perspective, the root-epistemic discrepancy is linked to the fact that early root interpretations presuppose simpler (or no) conceptions of the mind than early epistemic inteφretations." Dass Kinder erst mit 4;0 oder 5;0 über eine repräsentationeile ToM verfügen, hat für Fapafragou (2000:164) zwei Konsequenzen: Zum einen treten epistemische Modalausdrücke vor dem fünften Lebensjahr nur spärlich auf (s. unter 3.1.2, S.47ff.) und zum anderen muss davon ausgegangen werden, dass Kinder in diesem Alter nur über eine partielle Semantik der Ausdrücke verfügen (Fapafragou 2000:164, Fn. 12). Zum zweiten Punkt sagt Wellmans Annahme einer copy theory voraus, dass für Kinder zwischen 3;0 und 4;0 epistemische Ausdrücke immer einen hohen Grad an Sprechersicherheit ausdrücken, da diese iCinder von der Wahrheit mentaler Repräsentationen ausgingen. In der Tat zeigen die unter 3.2 dargestellten experimentellen Daten, dass Kinder unter 4;0-5;0 noch nicht erkennen, dass können bzw. denken schwächere Ausdrücke sind als müssen bzw. wissen. Es gibt aber so gut wie keine empirische Untersuchung im Bereich der kindlichen Entwicklung, die Fapafragous Analyse empirisch bestätigen könnte. Lediglich Moore et al. Vertreter des kognitiven Determinismus sehen die ToM-Entwicklung entweder modular (Leslie 1987, 1994) oder durch eine mehrstufige Entwicklung verschiedener allgemeiner kognitiver Ebenen der Repräsentation determiniert (Pemer 1991 ; Karmiloff-Smith 1992). Oft wird auch angenommen, dass die Entwicklung des Erinnerungvermögens (im Sinne der working memory) die ToM-Entwicklung stark beeinflusst (Freeman 1994; Olson 1993). Femer scheint auch die Entwicklung der Fähigkeit zur sozialen Interaktion beim Kind eine Rolle für die Entwicklung sowohl der ToM als auch der Verwendung epistemischer Ausdrücke zu spielen (Hobson 1994; Shatz 1994). Interessante Daten zugunsten des kognitiven Determinismus stammen auch aus der AphasieForschung. Varley (1998) konnte z. B. zeigen, dass der Verlust der Fähigkeit, Sprechereinstellungen auszudrücken, keinen negativen Einfluss auf die Performanz von Aphasikem bei der Lösung von false èe/ie/-Aufgaben hat.

4.1 Die Unentscheidbarkeits-Hypothese

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(1990) haben experimentell untersucht, inwieweit das korrekte Verstehen der relativen epistemischen Stärke verschiedener Modalausdrücke von dem Vorhandensein einer repräsentationellen ToM abhängt. Moore et al. (1990) haben bei 3- bis 5-Jährigen untersucht, ob eine Korrelation zwischen den Ergebnissen dieser Kinder in einem Experiment mit Hirst & Weils (1982) Design^ und in dQr false-belief - und der appearance-realityAufgabe feststellbar ist. Moores et al. (1990:729) Studie zeigt eindeutig, dass „children start to understand that belief may be held with differing degrees of certainty at about 4 years of age and that this understanding is tied to their understanding of the nature of beliefs and the distinction between appearance and reality." Zusammenfassend besagen die hier diskutierten Arbeiten, dass das Auftreten epistemischer Ausdrücke im Wortschatz des Kindes in hohem Maße von dessen Fortschritten bei der Entwicklung einer repräsentationeilen ToM abhängt. Die von Papafragou ( 1997,2000, 2001) formuherte Hypothese erlaubt es ohne Weiteres zu erklären, warum die epistemische MV-Bedeutung später als die zirkumstantielle erworben wird und warum sie vor 4;0-4;5 nur spärlich auftritt. Sie kann dennoch allein nicht erklären, warum andere epistemische Ausdrücke deutlich vor den epistemischen MV erworben werden. Sie drückt also lediglich eine notwendige Voraussetzung für den MV-Erwerb aus, jedoch keine hinreichende. Der Unterschied zwischen dem Erwerb mentaler Verben und der epistemischen MV-Bedeutung kann nur mit zusätzlichen Hypothesen erklärt werden.'" Wie schon erwähnt, ist diese rein kognitive Sicht des Verhältnisses Sprache/ToMErwerb in der Forschung sehr umstritten. Im Gegensatz zu Papafragou sehen sich viele Forscher dem Unguistischen Relativismus (linguistic relativity) veφflichtet und räumen der Sprache demzufolge eine wesentliche Rolle bei der ToM-Entwicklung ein." Olson (1988:421f.) ist der erste Forscher, der die ToM-Entwicklung mit der Sozialisation des Kindes und dessen Spracherwerb in Verbindung gebracht hat: „[Children, S.D.] begin to see their utterances as expressions of beliefs, for example, they begin to distinguish their behefs from their utterances, to distinguish beliefs from reality, to store their beliefs as episodic representations of events [... ]" Nelson (1996:303ff.) kritisiert an den rein kognitiven Ansätzen von Wellman (1990), Ferner (1991) und Gopnik (1993), dass sie zwar, die verschiedenen Stufen der ToMEntwicklung zu beschreiben vermögen, jedoch keinerlei plausible Erklärung für den Übergang von einer Stufe zur nächsten liefern. Vor allem an Wellmans und Gopniks Theory 9

Moores et al. (1990) Experiment stellt eine Fortsetzung der Arbeiten von Moore et al. (1989) und Moore & Davidge (1989) dar (zu einer genauen ÖMStellung dieser Arbeiten s. unter 3.2.2, S.72f., und zu Hirst & Weils (1982) experimentellem Design s. unter 3.2, S. 57ff.).

10 In der Tat räumt Papafragou (1997:19ff., 2000:168ff.) ein, dass möglicherweise zusätzliche Annahmen in Betracht gezogen werden müssen, um den MV-Erwerb vollständig beschreiben zu können. Da ihre Zusatzhypothesen denjenigen entsprechen, die unter 4.2 bis 4.4 behandelt werden, werden sie an dieser Stelle nicht weiter diskutiert. 11 Für einen Forschungsüberblick zum linguistischen Relativismus s. den Sammelband von Gumperz & Levinson (1996).

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4. Hypothesen zum MV-Erwerb

Theory kritisiert sie, dass sie von zwei fragwürdigen Prinzipien über den menschlichen Verstand ausgeht: (i) dass er nur auf abstrakte Prinzipien aufbaut, die immer perfekt kohärent sind, und (ii) dass er sich von alleine durch eigenen Antrieb weiterentwickelt (Nelson 1996:302). Gegen den rein kognitiven Ansatz der Theory Theory führt Nelson an, dass das Kind eine ToM nur über soziale Interaktion erwerben kann, also dass Sozialisation (enculturation) die treibende Kraft in der ToM-Entwicklung ist (ebda.)· Ihrer Ansicht nach spielt die Sprachentwicklung des Kindes eine wesentliche Rolle im Prozess des ToM-Erwerbs, nicht zuletzt weil Sprache vielleicht der wichtigste Zugang zur mentalen Welt anderer Personen ist und weil sie eine der treibenden Kräfte in der Entwicklung der Symbolfunktion darstellt, die für die Unterscheidung von Schein und Realität uneriässlich ist (Nelson 1996:304). Wie sich die Rolle der Sprache in der ToM-Entwicklung konkret darstellt, ist seit Olsons (1988) Pionierarbeit unter verschiedenen Aspekten untersucht worden. Happé (1995) konnte durch eine Auswertung von Daten aus verschiedenen Arbeiten zeigen, dass die allgemeine Sprachfähigkeit von 3- bis 4-Jährigen mit ihrer Performanz bei der false belief-Aufgabe zusammenhängt. Jenkins & Astinton (1996) haben eine ähnliche Korrelation bei Kindern zwischen 3;0 und 5;0 festgestellt.In einer Folgeuntersuchung konnten Astington & Jenkins (1999) sogar zeigen, dass sich die Kompetenz von 3-Jährigen bei der Lösung der false Belief - und der appearance-reality-Aufgabe anhand der Fortschritte in ihrer allgemeinen Sprachentwicklung voraussagen lässt; aus der ToMEntwicklung jedoch lassen sich — so die Autoren — keine Prognosen über die allgemeine Sprachentwicklung der untersuchten Kinder herleiten. Ihre Arbeit deutet also darauf hin, dass sich Spracherwerb und ToM-Entwicklung nicht nur parallel entwickeln, sondern dass der Spracherwerb möglicherweise eine Voraussetzung für die ToM-Entwicklung darstellt oder zumindest letztere begünstigt, und nicht umgekehrt, wie vom kognitiven Determinismus angenommen wird.'^ Die bisher diskutierten Arbeiten stützen lediglich die Annahme, dass die allgemeine Sprachentwicklung Einfluss auf die Entwicklung einer repräsentationellen ToM hat. Einige Autoren versuchen diesen Einfluss präziser zu erfassen und messen entweder dem Erwerb der Semantik mentaler Verben oder demjenigen der syntaktischen Komplementation eine große Bedeutung zu. 12 Die allgemeine Sprachfähigkeit der Rinder wurde bei Happé (1995) mit dem British Picture Vocabulary Scale (BPVS) gemessen (Dunn et al. 1982), bei Jenkins & Astinton (1996) mit dem Test of Early Language Development (TELD) (Hresko et al. 1981). 13 An den hier zitierten Arbeiten von Astington und Jenkins wird oft kritisiert, dass die Korrelation nur dadurch entstehe, dass die. false belief - und die appearance-reality-Auigabe ein relativ hohes Niveau an Sprachfähigkeit verlangen. So stellen z.B. Freeman et al. (1991) fest, dass Kinder die StandardToM-Aufgaben besser (bzw. in einem jüngeren Alter) lösen können, wenn die linguistischen Voraussetzungen für die Aufgaben reduziert werden. Gegen diese Auffassung argumentiert Astington (2000a: 272), dass eine Reduzierung der sprachlichen Voraussetzungen die ToM-Experimente zwar vereinfachen können, dass jedoch ToM-Experimente, die völlig auf eine sprachliche Komponente verzichten, gleich schwierig zu lösen sind wie die Originalaufgaben (Call & Tomasello 1999) oder manchmal sogar schwieriger zu lösen werden, wie von Plaut & Karmiloff-Smith (1993) demonstriert wurde. Aufgrund dieser Polemik und ihrer eigenen Ergebnisse gehen Astington und Jenkins davon aus, dass ToM- und Sprachentwicklung voneinander abhängig sind (ebda.).

4.1 Die Unentscheidbarkeits-Hypothese

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Olson (1988) vertritt die Meinung, dass der Erwerb der Bedeutung verschiedener mentaler Verben wie denken, wissen oder sich erinnern als Trigger für die ToM-Entwicklung fungiert, weil diese Verben die einzigen sprachlichen Mittel sind, die direkt die mentale Welt anderer Personen denotieren. Eigentlich nicht beobachtbare mentale Zustände werden durch diese mentalen Verben linguistisch erfasst und so für das Kind zugänglich gemacht. De Villiers (1995) und de Villiers & de Villiers (2000) sehen dagegen weniger den Erwerb der Bedeutung der mentalen Verben als Auslöser für den Erwerb einer repräsentationeilen ToM an, als vielmehr das Auftreten der syntaktischen Subordination am Anfang des vierten Lebensjahres. Für beide Autoren stellt die syntaktische Subordination ein linguistisches Abbild des strukturellen Unterschieds zwischen Proposition (= Sachverhalt) einerseits und propositionaler Einstellung (= mentale Repräsentation eines Sachverhalts beim Sprecher) andererseits dar. Vor allem die semantischen Konsequenzen der Komplementation mit Verba dicendi und mentalen Verben können ihrer Ansicht nach eine große Rolle beim Erwerb der Fähigkeit spielen,/aZie beliefs zu erkennen. Es ist nämlich möglich, dass ein Satz wie (1) insgesamt wahr ist, obwohl die eingebettete Proposition falsch ist: (1)

Friederike glaubt, dass sie Clubmeisterin geworden ist.

(1) ist immer dann wahr, wenn Friederike glaubt, sie sei Clubmeisterin geworden, unabhängig davon, ob sie es tatsächlich geworden ist. Dass Friederike nicht Clubmeisterin ist, es aber trotzdem glaubt, ist ein typischer Fall von false belief Wenn Kinder erkennen, dass in solchen syntaktischen Strukturen der Matrix- und der subordinierte Satz unabhängig voneinander wahr sein können, können sie daraus — so de Villiers (1995) — die Struktur des false belief herleiten und dadurch eine repräsentationelle ToM entwickeln. De Villiers (1995) (zitiert in de Villiers & de Villiers 2000:196f.) schlägt folgendes Erwerbsmodell in fünf Schritten vor: (i) Das Kind kennt nur einfache Sätze, die der Realität immer entsprechen, (ii) Es lernt zu erkennen, dass einfache Sätze falsch sein können (symbolisches Spiel, Lüge), (iii) Es erlernt die Struktur der Subordination, ohne deren semantische Konsequenzen zu verstehen. Beide Teilsätze werden immer für wahr gehalten (entspricht etwa Wellmans copy theory), (iv) Es lernt, dass beide Teilsätze unabhängig voneinander wahr sein können. Zuerst nur bei Verba dicendi, weil diese Verben leicht mit der Realität zu vergleichen sind, (v) Die Erkenntnisse aus (iv) werden auf die mentalen Verben ausgedehnt. Damit kann das Kind false belief verstehen. In Bezug auf dieses Modell konnten de Villiers & de Villiers (2000) zeigen, dass der Erfolg der Kinder bei der false belief-Aufgäbe von ihren Forschritten im Erwerb der Komplementationssyntax abhängt, jedoch nicht umgekehrt. 14 In einer neueren Studie haben Ruffman et al. (2003) in aufwändigen Experimenten getestet, ob die allgemeine Sprachentwicklung, die semantischen Eigenschaften von mentalen Verben oder wiederum die Komplementationssyntax eine Rolle in der ToM-Entwicldung spielen. Ihre Ergebnisse zeigen deutlich, dass weder die Semantik mentaler Verben noch die Komplementationssyntax per se als Trigger der ToM-Entwicklung angesehen werden können, sondern nur die allgemeine Sprachentwicklung des Kindes, wie von Astington & Jenkins (1999) angenommen (s. o.). Darüber hinaus kritisieren Ruffman et al. (2003) auch das experimentelle Verfahren von de Villiers

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4. Hypothesen zum MV-Erwerb

Olsons (1988), Astington & Jenkins (Jenkins & Astinton 1996; Astington & Jenkins 1999) und de Villiers' (de Villiers 1995; de Villiers & de Villiers 2000) Arbeiten deuten also auf einen linguistischen Determinismus beim ToM-Erwerb hin und stellen demzufolge die hier oben dargestellte kognitive Hypothese von Papafragou (1997,2000,2001) stark in Frage: Ihrer Ansicht nach liegt die Ursache für den späten Erwerb der epistemischen MV-Bedeutung im Vergleich zur zirkumstantiellen weniger in der kognitiven Entwicklung des Kindes, sondern sie hängt vielmehr von seiner Fähigkeit ab, mentale Verben zu verstehen bzw. die Komplementationssyntax zu beherrschen, oder sie ist einfach durch die allgemeine Sprachentwicklung des Kindes bedingt. Damit würde sich diese Frage lediglich als alleiniges Problem des Spracherwerbs entpuppen. Darüber hinaus würde die von Olson und de Villiers vorgeschlagene linguistische Erklärung der ToM-Entwicklung auch die Frage beantworten, warum die epistemische MV-Bedeutung später erworben wird als die mentalen Verben. Da MV im Deutschen obligatorisch kohärent konstruieren (s. dazu Abs. 2.2.3, S. 26ff.), unterscheidet sich ihre Syntax fundamental von der normalen Subordination: Die obligatorische Kohärenz löst den Unterschied zwischen Matrix und eingebetteten Satz komplett auf, so dass sie in de Villiers' Schema keine Rolle als Trigger für die ToM-Entwicklung spielen kann. De Villiers & de Villiers (2000:223) lehnen jedoch eine einfache Formel der Art „ToM hängt vom Spracherwerb ab" entschieden ab. Sie plädieren vielmehr für die Annahme der von Gopnik & Meltzoff (1997) vorgeschlagenen Erwerbshypothese der mutual facilitation.^^ Nichtsdestotrotz bleibt der Erwerb der Komplementationssyntax der entscheidende Trigger: & de Villiers (2000). De Villiers & de Villiers (2000) haben eine Korrelation festgestellt zwischen einer klassischen false belief-Aufgabt (s. o.) und der Fähigkeit der Kinder, sich an den Inhalt eines eingebetteten Satzes (mit think als Matrixverb) zu erinnern. Sie inteφretieгen diese Korrelation in der Weise, dass die Kinder den Inhalt des Satzes nicht wiederholen können, solange sie die Komplementation nicht beherrschen. Bezug nehmend auf die Studien von Ferner (1991) und Wimmer & Hartl (1991) argumentiert Ruffman et al. (2003:141), dass Kinder sich erst dann an den Inhalt falscher Propositionen erinnern können, wenn sie die false belief-Aufgabe lösen können, m. a. W. erst wenn sie über eine repräsentationeile ToM verfügen. Der Grund dafür läge nach Ruifman et al. (2(ЮЗ: 141) darin, dass „the (3-year-old) child's report of what was said corresponds to their current level of understanding, so they [die Kinder, S.D.] reason in terms of what they know to be true." M. a. W.: Kinder, die über keine repräsentationelle ToM verfügen, erinnern sich nur an wahre Sachverhalte. Demnach wäre die von de Villiers & de Villiers (20(Ю) beobachtete Korrelation auf einen Zusammenhang zurückzuführen zwischen false be lief-Verstehen und der Fähigkeit, sich an falsche Propositionen zu erinnern. Dieser Zusammenhang bestünde nach Ruffman et al. (2003) unabhängig von der Komplementationssyntax. In derselben Richtung weist die Arbeit von Custer (1996) darauf hin, dass sich 3-Jährige an den Inhalt von eingebetteten Propositionen in pretend pZay-Kontexten deshalb erinnern können, weil sie eben pretend p/ay-Situationen kognitiv begreifen können. 15 Sie begründen ihre Auffassung mit der Tatsache, dass viele Aspekte des Spracherwerbs von der ToMEntwicklung abhängig sind (de Villiers & de Villiers 2000: 223), wie z. B. der Gebrauch des Konjunktivs (bzw. Subjunktivs) in Relativsätzen (Pérez-Leroux 1997) (zitiert in de Villiers & de Villiers 2000) oder das Verstehen von temporalen Relationen in eingebetteten Konstruktionen (Hollerbrandse 1999).

4.1 Die Unentscheidbarkeits-Hypothese

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„The overall process is undoubtedly one of mutual facilitation between language and theory of mind, but the critical piece for us is the relationship between mastery of the fundamental syntax of complementation and false belief understanding." Unabhängig vom Verhältnis zwischen kognitiver Entwicklung und Spracherwerb hat die Diskussion in diesem Abschnitt gezeigt, dass der Erwerb der epistemischen MVBedeutung in enger Verbindung zur Entwicklung einer repräsentationeilen ToM steht, mit der Konsequenz, dass erstere immer in Verbindung mit letzterer zu betrachten ist. D. h. der Erwerb der epistemischen MV-Bedeutung kann im Grunde nur unter Berücksichtigung der ToM-Entwicklung sinnvoll analysiert werden. Die Entwicklung einer repräsentationeilen ToM kann jedoch die im Kap. 3 aufgeworfene Frage alleine nicht beantworten, warum Kinder anscheinend erst mit 8;0 Sätze verstehen können, die einen hohen Grad an epistemischer Unsicherheit ausdrücken. Die Entwicklung einer repräsentationellen ToM zwischen 3;0 und 5;0 scheint also offensichtlich nicht ausreichend zu sein, um alle Beobachtungen bezüglich des epistemischen MVErwerbs zu erfassen. Deshalb muss der Erwerb weiterer kognitiver Fähigkeiten herangezogen werden, um die Rolle der kognitiven Entwicklung beim MV-Erwerb vollständig zu erfassen. Einigkeit herrscht in der Literatur zum ToM-Erwerb darüber, dass die Entwicklung einer repräsentationeilen ToM mit 5;0 keineswegs bedeutet, dass alle Aspekte der ToM eines Erwachsenen schon in diesem Alter als vorhanden gelten können. Obwohl sich die ToM-Forschung hauptsächlich mit der Periode zwischen 3;0 und 5;0 beschäftigt hat, wird gelegentlich auch darauf hingewiesen, dass vor allem im Bereich des Meta-Wissens (die meta-kognitiven, meta-strategischen und epistemologischen Dimensionen der ToMEntwicklung) entscheidende Fortschritte nach 6;0 gemacht werden (Wellman 1990; Kuhn 2000). Femer betont Papafragou (2000, 2001) im Hinblick auf den MV-Erwerb, dass 4bis 5-Jährige zwar schon verstehen, dass epistemische MV einen mehr oder weniger hohen Grad an Sprechersicherheit ausdrücken, dennoch den inferenziellen Charakter der MV noch nicht erfassen können. Diese Fähigkeit wird nach Papafragou erst ab 5;0 langsam erworben. Die Entwicklung dieser zusätzlichen kognitiven Voraussetzungen wurde in den einleitenden Abschnitten dieses Kapitels unter dem Begriff der „epistemischen Unentscheidbarkeil" zusammengefasst. Der nächste Abschnitt beschäftigt sich nun mit dieser Fragestellung. Dabei wird hauptsächlich der Frage nachgegangen, ab wann Kinder inferenzielle Urteile korrekt einzuschätzen vermögen.

4.1.2

Zum Erwerb des Begriffes der epistemischen Unentscheidbarkeit

Wenn ein Sprecher einen epistemischen Satz äußert, drückt er das Ergebnis einer epistemischen Inferenz aus. Dabei muss er mithilfe der ihm zugänglichen Evidenz einschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Sachverhalt besteht. Wie einige der unter 3.2 diskutierten Verstehensstudien nahelegen, scheinen Kinder unter 8;0 erhebliche Schwierigkeiten damit zu haben, die vorhandenen Informationen richtig einzuschätzen, wenn sie urteilen müssen, ob ein schwacher epistemischer Satz zur dargestellten Situation passt

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4. Hypothesen zum MV-Erwerb

oder n i c h t . I n diesem Abschnitt werden die Ergebnisse weiterer Untersuchungen zu diesem Themenkomplex dargestellt, die sich mit der Frage beschäftigen, ob und inwieweit Kinder in der Lage sind, diese Einschätzung korrekt zu vollziehen. Es wird sich durch diese Diskussion herausstellen, dass 6- bis 10-Jährige erhebliche Schwierigkeiten haben, zwischen epistemischer Notwendigkeit und epistemischer Möglichkeit zu unterscheiden — in dem Sinne, dass sie die erstgenannte übergeneralisieren. M. a. W. Kinder haben in diesem Alter noch Schwierigkeiten, zu erkennen, wann sie über nicht genügend Informationen verfügen, um endgültig entscheiden zu können, ob ein Sachverhalt besteht oder nicht (= epistemische Unentscheidbarkeit). Piaget & Inhelder (1975) haben untersucht, welche Auffassung Kinder von physikalischer Undeterminiertheit haben. Ihre Ergebnisse führen zu einem dreistufigen Erwerbsmodell: (i) Kinder in der präoperationellen Phase (also unter 6;0-7;0) können nicht zwischen physikalischer Notwendigkeit und Möglichkeit unterscheiden, (ii) In der Phase der konkreten Operationen (von 7;0 bis 12;0) können sie zwischen physikalischer Notwendigkeit und Undeterminiertheit unterscheiden. Diese Fähigkeit bleibt jedoch auf das Gebiet konkreter Ereignisse beschränkt, (iii) Erst mit Beginn der formal-operationalen Phase (ab 12;0) verfügen Kinder über einen komplexen Wahrscheinlichkeitsbegriff: Epistemische Unsicherheit wird also als ein System von kombinierbaren Möglichkeiten (d. h. eine Wahrscheinlichkeitstheorie im Sinne einer Kombinatorik) erfasst. Da sich Piaget & Inhelders Fragestellung auf physikalische Experimente bezieht, verlangen ihre Experimente von den untersuchten Kindern ein hohes Verständnis komplexer physikalischer Ereignisse. Aus diesem Grund wurden in ihrer Studie sehr komplexe Fälle untersucht, was möglicherweise zu einer Unterschätzung der kindlichen Fähigkeit geführt haben könnte, epistemische Unentscheidbarkeit zu erfassen (s. dazu auch die Experimente in Piaget 1987 und deren Kritik durch Sophian & Somerville 1988:184). In einer Pionierarbeit zum Erwerb des Modalitätsbegriffs hat sich auch Pieraut-Le Bonniec (1980) der Frage gewidmet, ab wann Kinder epistemische Unentscheidbarkeit verstehen können. Vor allem in ihrem fünften Experiment hat sie dieses Problem direkt untersucht. In diesem Experiment wurde eine Kiste verwendet, die zwei Öffnungen verschiedener Größe besaß. Durch das größere Loch konnten sowohl kleine Kugeln als auch kleine Holzstäbchen in die Kiste geworfen werden, während die kleine Öffnung zwar groß genug für die Holzstäbchen war, jedoch zu klein für die Kugeln. Den Kindern wurde diese Eigenschaft der Kiste vorgeführt. Während der gesamten experimentellen Phase wurde die Kiste hinter ein Verdeck gestellt. Den Kindern wurde u. a. folgende Frage gestellt: ,Jch werfe etwas durch das große Loch in die Kiste. Kannst Du mir sagen, ohne hineinzuschauen, um welches Objekt es sich dabei handelt?' Die erwartete Antwort war natürlich, dass man dies nicht wissen könne, weil sowohl die Kugeln als auch die Holzstäbchen durch die große Öffnung in die Kiste gelangen können. Auf eine weitere Frage, ob das Kind sagen könne, um welches Objekt es sich handle, wenn es durch die kleine Öffnung in die Kiste geworfen wurde, wurde erwartet, dass das Kind auf die Holzstäbchen hinweist, da nur diese durch die kleine Öffnung passten. Mittels dieser zwei Fragen konnte also 16 S. dazu vor allem die Diskussion der Untersuchungen von Diesch (1988) einerseits (S.ólff.) sowie Bassano et al. (1992), Hickmann et al. (1993) und Champaud et al. (1993) andererseits (S. 73ff.).

4.1 Die Unentscheídbarkeits-Hypothese

91

untersucht werden, ob Kinder sowohl Notwendigkeitsinferenzen (zweite Frage) als auch Möglichkeitsinferenzen (erste Frage) machen können. In Piéraut-Le Bonniecs Experiment waren erst die 9- bis 10-Jährigen in der Lage, die epistemische Unentscheidbarkeit zuverlässig zu erkennen. Jüngere Kinder konnten nur die Fälle korrekt beurteilen, die der epistemischen Notwendigkeit entsprachen: Nur 30% der 7-Jährigen beantworteten die erste Frage korrekt. Piéraut-Le Bonniec kommt zu dem Schluss, dass die Konstruktion eines Begriffs der epistemischen Unentscheidbarkeit erst im Alter von ungefähr neun Jahren abgeschlossen ist. Neben dieser rein quantitativen Auswertung ihres Experiments untersucht Piéraut-Le Bonniec auch die Erklärungen, welche die Kinder ihren Antworten beigefügt hatten. Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass jüngere Kinder zwar die Fähigkeit besitzen, mehrere Alternativen gleichzeitig in Betracht zu ziehen, aber noch nicht zwischen entscheidbaren und unentscheidbaren Situationen differenzieren können. Mit einer Menge von Hypothesen konfrontiert, neigen diese Kinder dazu, sich für eine der Alternativen zu entscheiden. Femer tendieren sie auch dazu, dem Prämissensystem irrelevante Informationen hinzuzufügen, was einen korrekten Schluss quasi unmöglich macht (s. dazu auch Diesch 1988:61). Piérault-Le Bonniec berichtet femer, dass sich die 6- bis 8-Jährigen in den Experimenten zwar unsicher fühlten, diese Unsicherheit aber nicht in ihr deduktives System integrieren konnten. Die qualitative Analyse von Piéraut-Le Bonniecs Daten legt die Vermutung nahe, dass die Schwierigkeiten jüngerer Kinder in ihrem Experiment möglicherweise weniger mit ihrer Fähigkeit zu tun hatten, epistemische Inferenzen überhaupt zu vollziehen, als vielmehr mit derjenigen, epistemische MögUchkeit von epistemischer Notwendigkeit zu unterscheiden.'^ Die Hauptschwierigkeit liegt dabei darin, dass Kinder unter 9;0 noch nicht zuverlässig erfassen können, wann sie über das Bestehen einer vorgegebenen Situation nicht entscheiden können. Ausgehend von der Annahme, dass Vorschulkinder Inferenzen vollziehen können, untersuchten Sodian & Wimmer (1987) die Frage, ob die von Pieraut-Le Bonniec (1980) erzielten Ergebnisse möglichwerweise dadurch erklärbar sind, dass Kinder unter 9;0 zwar Inferenzen vollziehen, sie jedoch nicht als potenzielle Wissensquelle verwenden können. M. a. W. hätten die Kinder in Piéraut-Le Bonniecs Experiment zwar korrekte Inferenzen gezogen, ihre Urteile jedoch gefällt, ohne in Betracht zu ziehen, dass ihr Wissen über die Sachlage nur inferenzieller Art war.'^ In zwei Experimenten sollten die untersuchten Kinder (zwischen 4 und 6 Jahren) einschätzen, ob eine andere Person den Inhalt einer Tüte mit Sicherheit kennen konnte. Den Kindern und einem Erwachsenen wurde eine Schachtel mit Bällen gezeigt, die alle dieselbe Farbe hatten. In einem zweiten Schritt wurde ein Ball von der Schachtel in eine Tüte 17 In der Tat zeigen viele Studien, dass Vorschulkinder in der Lage sind, Inferenzen zu vollziehen, und zwar in verschiedensten Kontexten, wie z.B. bei kausalen Zusammenhängen (Kun 1978; Bullock et al. 1979; Gelman et al. 1980) oder bei Inferenzen über die Position und Bewegung von Objekten (Sophian & Wellman 1980; Haake & Somerville 1985). 18 Als Beispiel für diese Unterscheidung führen Sodian & Wimmer (1987:424) an, dass 2-Jährige Objektpermanenz aufgrund einer logischen Inferenz verstehen können, dagegen jedoch noch nicht verstehen können, dass sie eine Inferenz gezogen haben.

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4. Hypothesen zum MV-Erwerb

transferiert. Dabei wurden zwei Situationen berücksichtigt. In der ersten konnten sowohl das Kind als auch der Erwachsene sehen, wie der Ball transferiert wurde. Die zweite — und für das Anliegen der Untersuchung kritische — Situation war so konzipiert, dass der Erwachsene nicht zuschauen durfte, wie der Transfer stattfand. Es wurde ihm jedoch gesagt, dass ein Ball von der Schachtel in die Tüte transferiert wurde. In dieser kritischen Situation verfügte der Erwachsene zwar über keinerlei visuelle Evidenz über den Inhalt der Tüte, er konnte jedoch aufgrund einer epistemischen Inferenz wissen, welche Farbe der Ball in der Tüte hatte. Anschließend wurde das Kind gefragt, ob der Erwachsene wissen konnte, welche Farbe der Ball in der Tüte hatte. Die Ergebnisse der Untersuchung deuten auf einen entscheidenden Entwicklungsprozess zwischen 4;0 und 6;0 hin. So erkannten 6-Jährige ohne Weiteres, dass die andere Person den Inhalt der Tüte dann richtig einschätzt, wenn die vorhandenen Informationen ausreichend für einen epistemischen Notwendigkeitsschluss sind. 4- und 5-Jährige dagegen urteilten von einem rein empirischen Standpunkt aus: Für sie konnte die Person den Inhalt nur dann kennen, wenn sie die Objekte gesehen hatte. Dass auch eine Inferenz zum benötigten Wissensstand führen kann, wurde von ihnen ignoriert. Die Autoren betonen femer, dass das Wissen über eine Inferenz von den jüngeren Kindern systematisch als ,^'aten" eingestuft wird (Sodian & Wimmer 1987:432). Wie Sodian & Wimmer (1987:433) annehmen, liegt also das Problem der jüngeren Gruppen darin, dass sie nicht über das nötige Meta-Wissen bzw. die meta-kognitive Fähigkeit verfügen, den inferenziellen Charakter logischer Schlüsse zu verstehen: „An interesting aspect of the present findings is that even our youngest children were rather systematic in the assessment of the others person's knowledge. This concistency suggests that children assessed the other person's knowledge according to the only source of knowledge they had a metacognitive understanding. This source of knowledge was perception." Die Autoren räumen jedoch ein, dass einige Faktoren ihre Ergebnisse negativ beeinflusst haben können (Sodian & Wimmer 1987:432). Zum einen betraf ihr Experiment einen einzigen Typ von Inferenzen (universelle Instantiierung von Objekten) in einem besonderen Kontext (Inhalt einer Tüte). Sie vermuten, dass Kinder einfachere Inferenztypen als Wissensquelle leichter erfassen können (ebda). Zum anderen sehen die Autoren die Tatsache als problematisch an, dass das Verstehen von Inferenzen nur im Kontext der Evaluierung vom Wissenstand einer anderen Person stattgefunden hat. Möglicherweise sind die Kinder zu dem Schluss gekommen, dass die andere Person nicht wusste, was in der Tüte war, jedoch aufgrund der gegebenen Informationen durchaus in der Lage gewesen wäre, den korrekten Schluss zu ziehen, wenn sie wüsste, was eine Inferenz ist. M. a. W. wurde in ihrem Experiment auch getestet, welche Fähigkeiten die getesteten Kinder der anderen Person in Bezug auf das Vollziehen von Inferenzen zugetraut haben. Byrnes & Overton (1986) untersuchten die Frage, ab wann Kinder in einem Schluss erkennen können, dass die Conclusio aus den Prämissen notwendigerweise folgt oder mit ihnen nur verträglich ist. Dabei berücksichtigten sie zwei verschiedene Kontexte: Die erste Aufgabe ihres Experiments stellte eine leicht modifizierte Version des Experiments von Pieraut-Le Bonniec (1980) dar. Byrnes & Overton (1986) gingen bei dieser Aufgabe von einem konkreten Kontext aus, bei dem der semantische Gehalt der Pränüssen eine

4.1 Die Unentscheidbarkeits-Hypothese

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Rolle spielte (empirischer Schluss). Die zweite Aufgabe fand dagegen nicht mehr in einem konkreten Kontext statt, sondern bestand lediglich in der Einschätzung der Wahrheit von Syllogismen (logischer Schluss). Es handelte sich also um eine rein logisch-formale Aufgabe, bei der der empirische Gehalt der Prämissen völlig in den Hintergrund gedrängt wurde. Die Ergebnisse der ersten Aufgabe bestätigen diejenigen von Pieraut-Le Bonniec: Das Verstehen von epistemischer Notwendigkeit wird früher erworben als das Verstehen der epistemischen Möglichkeit. Diese ist etwa mit 10;0 im konkreten Kontext erworben, noch später im logisch-formalen Kontext. Durch die Verwendung anderer experimenteller Kontexte konnten jedoch mehrere Untersuchungen zeigen, dass die Fähigkeit, epistemische Unentscheidbarkeit zumindest ansatzweise schon mit 6;0 erworben wird.^^ Die Studie von Falmagne (1975) zeigt, dass 6-Jährige epistemische Unentscheidbarkeit dann erkennen können, wenn sie im Vorfeld des Experiments auf diese Möglichkeit explizit aufmerksam gemacht werden.^^ Ganz ähnlich fanden Horobin & Acredolo (1989) heraus, dass junge Kinder mehrere Lösungen eines logischen Problems besser in Betracht ziehen können, wenn ihnen explizite Hinweise in dieser Richtung gegeben werden. Nichtsdestotrotz blieb die Fehlerquote der Kinder in ihrer Studie auch mit expliziter Lenkung sehr hoch (s. dazu auch Mynatt et al. 1977; Markovits 1988; Kuhn et al. 1995). Somerville et al. (1979) wählten für ihre Untersuchung einen räumlichen Kontext. Sie sahen dabei zwei Vorteile. Zum einen sind räumliche Beziehungen von Kindern leicht zu erfassen, und zum anderen erlaubt dieser Kontext, mit konkreten Objekten zu experimentieren. In einer Serie von Aufgaben mussten die untersuchten Kinder herausfinden, welches von zwei Häusern der Großmutter gehörte, nachdem ihnen erklärt wurde, dass die Großmutter z. B. einen blauen Stuhl besitzt. Die Aufgabe wurde in zwei verschiedenen Kontexten gestellt: Im Kontext der Notwendigkeit enthielt nur eines der angebotenen Häuser einen blauen Stuhl, so dass genug Information vorhanden war, um einen notwendigen Schluss zu ziehen. Im Kontext der Möglichkeit enthielten zwei Häuser einen blauen Stuhl, so dass nicht mit Sicherheit festgestellt werden konnte, in welchem Haus die Großmutter wohnte. Erwartet wurde, dass die Kinder, die zwischen epistemischer Notwendigkeit und Möglichkeit unterscheiden konnten, im Kontext der epistemischen Möglichkeit darauf hinweisen würden, dass sie nicht wissen konnten, um welches Haus es sich handelte. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass 5-Jährige die Lösung im Kontext der Notwendigkeit zuverlässig lösen konnten, nicht aber im Kontext der Möglichkeit: Diese Kinder neigten systematisch dazu, sich für eine der Alternativen zu entscheiden. Die 6-Jährigen dagegen zeigten mehrheiüich eine deuüiche Tendenz, sich einer Wahl zu enthalten, wenn die Situation unentscheidbar war. Die Autoren betonen dennoch, dass die 19 Auf diese Möglichkeit wurde schon in der Diskussion von Noveck et al. (1996) Studie hingewiesen. S. dazu S. 70. 20 Falmagnes (1975) Interesse galt eigentlich der Frage, wie deduktive Prozesse beim Kind ablaufen, und nicht wie sie mit Epistemizität umgehen. Hatte ein Kind während des Experiments epistemische Unentscheidbarkeit nicht erkannt, so wurde ein kurzes Gespräch mit ihm geführt, um es auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen (Falmagne 1975:182).

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4. Hypothesen zum MV-Erwerb

Fehlerquote bei den 6-Jährigen noch relativ hoch war. Ihre Ergebnisse bestätigen zunächst Piéraut-Le Bonniecs Annahme, wonach Kinder dazu neigen, epistemische Notwendigkeit zu übergeneralisieren mit der Folge, dass epistemische Unentscheidbarkeit nur schwer erkannt wird. Sie zeigen aber auch, dass Piéraut-Le Bonniec das Alter für den Erwerb der epistemischen Unentscheidbarkeit zu hoch angesetzt hat. Somerville et al. (1979:130f.) kommen zu dem Schluss, dass ein entscheidender Fortschritt in Richtung des Verstehens epistemischer Unentscheidbarkeit zwischen 5;0 und 6;0 gemacht wird. Fabricius et al. (1987) weisen auf ein Problem in Somervilles et al. (1979) Testverfahren hin, das die Aufgabe erschwert haben könnte. Im entscheidenden Fall wurden die Kinder mit zwei gleichwertigen Alternativen konfrontiert, die dem gesuchten Haus jeweils gleich gut entsprachen (damit die Situation unentscheidbar wurde). Es handelte sich also um einen Fall von referenzieller Unbestimmtheit. Fabricius et al. (1987:410) vermuten, dass sich Kinder in Fällen von referenzieller Unbestimmtheit für eine der Alternativen entscheiden, auch wenn sie sich grundsätzlich unsicher fühlen. Um dieses Problem zu vermeiden, haben Fabricius et al. (1987) für ihr Experiment ein Verfahren ohne referenzielle Ambiguität gewählt: Den Kindern wurden drei Häuser mit jeweils zwei Türen gezeigt. Sie mussten entscheiden, welches Haus einer verbalen Beschreibung entsprach. Manchmal war es notwendig, beide Türen zu öffnen, um eine sichere Zuordnung zu ermöglichen, und manchmal genügte es, nur eine der Türen zu öffnen. Erwartet wurde, dass die untersuchten Kinder erst dann ein Urteil fällen würden, wenn sie über genug Informationen verfügten und dass sie in diesem Fall auch nicht mehr weiter suchen würden. Die Ergebnisse der Studie fallen deutlich besser aus als die der Studie von Somerville et al. (1979): Schon 3;6-Jährige waren in manchen Situationen in der Lage, ihre Suche im richtigen Augenblick zu stoppen. D. h. sie waren in der Lage, die Quantität der benötigen Informationen für einen notwendigen Schluss korrekt einzuschätzen. 5- bis 6-Jährige konnten die Aufgabe ohne Weiteres lösen. Die Ergebnisse von Fabricius et al. (1987) werden von Sophian & Somervilles (1988) Untersuchung weitgehend bestätigt. Sophian & Somerville (1988) wählten ebenfalls ein Testverfahren aus, bei dem referenzielle Unbestimmtheit keine Rolle spielte. Den Kindern wurden zwei Objekte und eine Reihe von Tassen präsentiert, die an einem Brett hingen. Unter der Versteck-Bedingung wurde das erste Objekt in eine der Tassen versteckt. Dann zeigte der Experimentator dem Kind das zweite Objekt, das er zwar auch in eine Tasse verstecken wollte, aber nur an die Stelle, wo sich das erste Objekt schon befand. Dann lief er mit seiner Hand von Tasse zu Tasse einen Teil des Wegs durch die Reihe der Tassen (die Hand lief z. B. hinter zwei von vier Tassen). Wenn der Experimentator an der Tasse mit dem schon versteckten Objekt vorbeigelaufen war, zeigte er dem Kind seine leere Hand: So musste das Kind davon ausgehen, dass die Tasse in einer der besuchten Tassen versteckt worden war. Hatte er die Tasse mit dem schon versteckten Objekt auf seinem Weg nicht besucht, so zeigte er dem Kind, dass sich das Objekt immer noch in seiner Hand befand. Das versteckte Objekt musste sich demzufolge in einer der nichtbesuchten Tassen befinden. Das Kind wurde anschließend gebeten, das versteckte Objekt durch Bewegen der Tassen zu Fall zu bringen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass schon 4-Jährige das gesuchte Objekt relativ zuverlässig hinter den korrekten Tassen suchten. Kein Entwicklungstrend wurde zwischen den 4- und 6-Jährigen festgestellt. Dieses Experiment legt vor allem nahe, dass die starke Serialisie-

4.1 Die Unentscheidbarkeits-Hypothese

95

rang der Ereignisse (Lauf der Hand hinter einer bestimmten Anzahl von Tassen und das sequenzierte Bewegen der übrigen Tassen am Ende, um das Objekt zu Fall zu bringen) die Aufgabe stark vereinfacht haben könnte, weil die Kinder zwar mehrere Alternativen in Betracht ziehen mussten, jedoch ihre Suche nach einem try and eZ/mmaie-Verfahren — d. h. durch serielles Testen von Alternativen — organisieren konnten. Ein solches Verfahren war in Somervilles et al. (1979) Untersuchung nicht möglich, weil die untersuchten Kinder beide Alternativen nicht hintereinander überprüfen durften, sondern eine mentale Repräsentation beider Alternativen auf einmal aufrechthalten mussten, um zu urteilen, dass eine Wahl nicht möglich war.^' Aufgrand der hier besprochenen und anderer weiterführender, experimenteller Ergebnisse nimmt Moshman ( 1990) in seinem Forschungsüberblick folgenden Verlauf beim Erwerb (meta-)kognitiver und (meta-)logischer Fähigkeiten bei der Entwicklung der Fähigkeit an, (epistemische) Inferenzen zu vollziehen und zu erkennen: In einer ersten Phase orientiert sich das Kind vor allem am semantischen Gehalt der Prämissen, um die Validität der Conclusio zu übeφrüfen. Es kann daher aus den Prämissen ,31umen sind Pflanzen oder Tiere" und ,31umen sind keine Tiere" schließen, dass Blumen Pflanzen sind. In der zweiten Phase beginnt das Kind, logische Schlüsse nur noch aufgrand der Straktur zwischen Prämissen und Conclusio und nicht mehr in Abhängigkeit vom semantischen Gehalt der Prämissen/Conclusio zu überprüfen. Setzt man die Prämissen „Sprangis sind Tiere oder Pflanzen oder Maschinen" und „Sprangis sind keine Tiere", würde ein Kind in der ersten Phase einfach zwischen Pflanze und Maschine wählen, je nachdem, was es sich unter Sprangis vorstellt. Ein Kind in der zweiten Phase hat gute Chancen zu erkennen, dass es hier ein Problem gibt. Diese Erkenntnis beraht jedoch noch nicht auf meta-logischem Denken, sondern erfolgt eher intuitiv (Moshman 1990:211). Vor allem der Begriff der logischen Notwendigkeit wird in dieser Phase noch nicht explizit erfasst, mit der Konsequenz, dass eine Übergeneralisierang der logischen Notwendigkeit je nach Situation immer möglich ist (s. dazu hier oben die Ergebnisse von Pieraut-Le Bonniec 1980, Somerville et al. 1979, Byrnes & Overton 1986). Diese Phase erstreckt sich von 6;0 bis 10;0. In der dritten Phase (ab 10;0-11;0) beginnen Kinder, systematisch zwischen logischer und empirischer Wahrheit zu unterscheiden: Erst in dieser Phase akzeptieren sie folgenden Schluss als logisch wahr (also unabhängig davon, ob er einen Sinn ergibt): „Elefanten sind Tiere oder Pflanzen"; .Elefanten sind keine Tiere"; also „sind Elefanten Pflanzen". Jüngere Kinder lehnen diesen Schluss ab, weil er empirisch falsch ist. Die vierte Phase unterscheidet sich von der dritten lediglich dadurch, dass das Kind begreift, dass Logik ein System bildet. Die Stufe des expliziten metalogischen Denkens ist damit erreicht.

21 Dieser wichtige Aspekt der Entwicklung des Konzepts der epistemischen Unentscheidbarkeit wird in der Diskussion der Ergebnisse von Exp. 2 wieder aufgegriffen und ausführlicher diskutiert. S. dazu unter6.1.4, S. 161ff.

96

4. Hypothesen zum MV-Erwerb

4.1.3

Fazit

In den letzten zwei Abschnitten wurde versucht, die Annahme plausibel zu machen, dass die kognitive Entwicklung des Kindes eine Voraussetzung für den Erwerb epistemischer Ausdrücke i. Allg. und der epistemischen MV-Lesart im Besonderen darstellt. Die Rolle der kognitiven Entwicklung wurde unter zwei Aspekten untersucht: (i) Erst der Erwerb einer repräsentationeilen ToM erlaubt dem Kind, zwischen Realität und mentaler Repräsentation zu unterscheiden — eine Voraussetzung für den Gebrauch epistemischer Ausdrücke, (ii) Der inferenzielle Charakter epistemischer Ausdrücke kann erst dann zuverlässig von Kindern eingeschätzt werden, wenn sie epistemische Unentscheidbarkeit erkennen können. D. h sie müssen erlernen, die Wahrscheinhchkeit des Bestehens einer Situation unter Berücksichtigung mehrerer (möglichen) Alternativen zu erfassen. Solange dies nicht geschieht, sollte ein Kind dazu neigen, Situationen, die eigentlich epistemisch unentscheidbar sind, für völlig entscheidbar zu halten. Dies wiederum hätte zur Folge, dass es (zumindest schwache) epistemische Ausdrücke weder korrekt verwenden noch richtig verstehen sollte. Im empirischen Teil wird — aufgrund des Alters der untersuchten Kinder — nur der zweite Aspekt der kognitiven Voraussetzungen zum Erwerb der epistemischen MV-Lesart experimentell untersucht. Aus diesem Grand wird im empirischen Teil dieser Arbeit von folgender Arbeitshypothese ausgegangen: (2)

Die Unentscheidbarkeits-Hypothese: 6- bis 10-Jährige können (schwache) epistemische Sätze erst dann korrekt interpretieren, wenn sie in der Lage sind, epistemische Unentscheidbarkeit zu erkennen, d. h. zu erkennen, wann sie über nicht genügend Evidenz verfügen, um eine endgültige Entscheidung über das (Nicht-)Bestehen eines Sachverhalts zu treffen.

Auch wenn die Unentscheidbarkeits-Hypothese eine plausible Erklärang für den späten Erwerb (schwacher) epistemischer Ausdrücke darzustellen scheint, wurde in der Literatur auf ein weiteres Phänomen hingewiesen, das ebenfalls erklären könnte, waram 6bis 8-Jährige immer noch Schwierigkeiten haben, schwache epistemische Ausdrücke zu verstehen: 6- bis 8-Jährige scheinen skalare Implikaturen in vielen Kontexten nicht zu berücksichtigen, mit der Konsequenz, dass sie oft keinen Unterschied zwischen starken und schwachen epistemischen Ausdrücken machen. Der nächste Abschnitt wird sich also mit dem Erwerb der Fähigkeit beschäftigen, skalare Implikaturen zu erkennen.

4,2

Die Implikatur-Hypothese

Wie unter 2.3 dargestellt wurde, ist jeder epistemische können-Satz von einem rein semantischen Standpunkt mit jeder Situation verträglich, in der ein entsprechender epistemischer müssen-Sälz wahr ist. Die Verwendung eines epistemischen können-Satzes beim Sprecher löst jedoch meistens eine skalare Implikatur aus, die dafür sorgt, dass alle Situationen ausgeschlossen werden, die eigentlich mit müssen beschrieben werden können.

4.2 Die Implikatur-Hypothese

97

Was den Spracherwerb betrifft, wird dadurch klar, dass Kinder, die skalare Implikaturen nicht berücksichtigen, möghcherweise davon ausgehen, dass die Verwendung von epistemischen können-Süiztn (und von anderen schwachen epistemischen Sätzen ebenfalls) auch in allen Situationen akzeptabel ist, die epistemisch entscheidbar sind. M. a. W. diese Nicht-Berücksichtigung skalarer Implikaturen könnte die Beobachtung erklären, dass Kinder unter 8;0 können- bzw. vielleicht-Sätze. mit Situationen ohne Weiteres assoziieren, die Erwachsene nur mit epistemischem müssen bzw. sicher beschreiben würden (s dazu unter 3.2, S.55fi.)P In einer Pionierarbeit argumentiert Noveck (2001), das späte Verstehen des englischen epistemischen might sei nicht auf die Unfähigkeit von Kindern zurückzuführen, epistemische Unentscheidbarkeit kognitiv zu erfassen, sondern vielmehr auf eine Neigung von Kindern dieses Alters, skalare Implikaturen in vielen Kontexten nicht zu berücksichtigen. Novecks (2001) experimentelles Design folgt weitgehend dem in Noveck et al. (1996) entwickelten Verfahren (s. dazu S. 69). 68 Kindern in drei Altersgruppen (5-, 7-, 9-Jährige) und 20 Erwachsene wurden drei Kisten präsentiert: Die erste enthielt einen Papagei, die zweite einen Bären und einen Papagei und die dritte war verschlossen, so dass ihr Inhalt während des ganzen Experiments unbekannt blieb. Den Kindern wurde erzählt, der Inhalt der dritten Kiste entspräche entweder demjenigen der ersten oder der zweiten. Im Unterschied zum Experiment in Noveck et al. (1996) bestand diesmal die Hauptaufgabe nicht mehr darin, den richtigen Satz unter zwei vorgegebenen zu finden, sondern zu beurteilen, ob die folgenden Testsätze pragmatisch angemessen sind oder nicht:^^ (3)

a. There might be a parrot in the box. b. There might be a bear in the box.

(v^sem.; *pragm.) (-^sem.; ^pragm.)

Erwartet wurde, dass die Kinder, die die skalare Implikaturen im Kontext dieses Experiments nicht berechnen, fälschlicherweise beide Testsätze als angemessen einstufen würden, während die anderen Kinder den Testsatz (3a) als unkorrekt einstufen würden, weil sie sicher sein konnten, dass die Kiste einen Papagei enthielt und weil die skalare Implikatur dafür sorgte, dass dieser semantisch korrekte Fall ausgeschlossen wurde. Die Ergebnisse des Experiments bestätigen Novecks Annahme, dass das späte Verstehen des epistemischen might auf eine Nicht-Berechnung der skalaren Implikatur zurückzuführen sei: Einerseits beurteilen sie in 53% der Fälle (5-Jährige), 80% (7-Jährige) und 100% (9-Jährige) den Testsatz (3b) als korrekt. Dieses Ergebnis zeigt aber auch, dass 5Jährige die Bedeutung von might noch nicht sicher erfasst haben, so dass davon ausgegangen werden muss, dass bis 7;0 andere Faktoren als nur die Berechnung von Implikaturen eine Rolle beim Erwerb epistemischer Ausdrücke spielen.

22 In diesem Abschnitt ist nur von epistemischen Sätzen die Rede, weil sich die hier vorliegende Arbeit nur mit der epistemischen MV-Lesart beschäftigt. Sollte die Implikatur-Hypothese zutreffen, so wäre zu erwarten, dass Kinder auch Schwierigkeiten mit skalaren Implikaturen im Bereich der zirkumstantiellen Modalität haben sollten. In diesem Zusammenhang ist mir jedoch keine Arbeit bekannt, die sich mit dem Erwerb von skalaren Implikaturen mit MV in zirkumstantieller Lesart beschäftigt hätte. 23 Aus Platzgründen werden hier nur die zwei entscheidenden Sätze angeführt. Insgesamt hat Noveck (2001:171) acht verschiedene Kombinationen mit might, has to (auch negiert) und cannot verwendet.

98

4. Hypothesen zum MV-Erwerb

Andererseits sind dieselben Kinder noch bis 9;0 sehr sicher, dass (3a) angemessen ist (jeweils 72% der Antworten bei den 5-Jährigen, 80% bei den 7-Jährigen und 69% bei den 9-Jährigen).^'' Vor allem in Bezug auf die Gruppe der 7-Jährigen kommt Noveck (2001:174) zu dem Schluss: „Seven-year-olds tend to accept the logical inteφretation of there might be a parrot in the box whereas adults tend to draw out its pragmatic potential. This finding can be taken to mean (1) that the growing conversationalist effortfully prefer a logical inteφretation over a pragmatic one or (2) that logical inteφretation of might remain the default and they give way to pragmatic inteφretations. [Alle Hervorhebungen im Origninal, S.D.]" In einem weiteren Experiment hat Noveck (2001) mit einer zweiten Gruppe von Kindern untersucht,^^ ob ähnliche Effekte mit dem Quantiñkator certains ,einige' entstehen, wenn Kinder die von certains ausgelöste skalare Implikatur nicht in Betracht ziehen. Ahnlich wie im ersten Experiment wurden von den Kindern Urteile verlangt. Die entscheidenden Sätze hatten folgende Form (in der in Novecks Arbeit vorgegebenen englischen Übersetzung):^^ (4)

a. Some birds live in a cage. b. Some giraffes have long necks.

(v^sem.; y^pragm.) (-Узет.; *pragm.)

Auch hier hätte (4b) wegen der skalaren Implikatur eigentlich abgelehnt werden müssen. Die untersuchten Kinder zeigten ein ähnliches Verhalten wie im ersten Experiment: Von beiden Altersklassen wurden sowohl die Testsätze (4a) als auch die Testsätze (4b) als korrekt eingestuft, was — nach Novecks Inteφretation — noch einmal ihre Schwierigkeiten mit skalaren Implikaturen unterstreicht.^^ Noveck inteφretiert seine Befunde jedoch nicht als Evidenz dafür, dass 7-Jährige überhaupt nicht in der Lage seien, skalare Implikaturen zu erkennen, sondern vielmehr — wie das obige Zitat es verdeutlicht — dass sie eine Präferenz für die logische Lesart von skalaren Termini haben und daher die Implikatur erst dann berücksichtigen, wenn der Kontext sie dazu „zwingt".^^ Novecks Ergebnisse stehen im Einklang mit Beobachtungen älterer Arbeiten zu den logischen Kompetenzen junger Kinder. Schon Anfang der achtziger Jahre haben Smith (1980) und Braine & Rumain (1981) in ihren Arbeiten ähnliche Effekte festgestellt: Smith (1980) beobachtete, dass Kinder zwischen 4;0 und 7;0 some als verträglich mit all einstufen. Braine & Rumain (1981) ihrerseits kommen in ihrer Untersuchung zu dem Schluss, dass 7- bis 9-Jährige den Konnektor or logisch (im Sinne von ,entweder... oder, und viel24 Das Ergebnis der 9-Jährigen ist als einziges nicht signifikant. Wichtig zu erwähnen ist aber auch, dass die Erwachsenen (3a) in immerhin 35% der Fälle als angemessen eingestuft haben. 25 Es handelte sich um 61 8- und 10-Jährige. 26 Zusätzlich wurden noch Sätze mit tou(s/tes)

,alle' getestet.

27 Über 80% der Antworten der Kinder entsprachen der logischen Inteφretation der Testsätze. Immerhin noch 41% der Antworten der Erwachsenen bei den Testsätzen (4b) waren auch rein logisch motiviert, also ohne Berücksichtigung der skalaren Implikatur. 28 Zu einer weiterführenden Diskussion von Novecks Ergebnissen verweise ich an dieser Stelle auf die Diskussion der Ergebnisse von Exp. 3 unter 6.2.4, S. 173ff..

4.2 Die Implikatur-Hypothese

99

leicht beides'), aber nicht pragmatisch (im Sinne von ,entweder... oder, aber nicht beides') interpretieren. Neuere Untersuchungen zum Verstehen von some und or führen jedoch zu einem weitaus differenzierteren Bild des Erwerbs skalarer Implikaturen. Um das Verstehen der logischen und pragmatischen Eigenschaften von some und or untersuchen zu können, wurde von Chierchia et al. (1998) in einer Truth Value Judgement Task^'^ das Verstehen beider Ausdrücke in zwei verschiedenen Kontexten getestet.^® Im sogenannten description mode entscheidet sich eine Gruppe von Zwergen nach langer Beratung, einen Bootsausflug zu unternehmen und keine Radtour. Entsprechend ihrem Beschluss steigen alle Zwerge ins Boot. Der Frosch Kermit, der die ganze Szene mit anschauen durfte, gibt anschließend folgenden Kommentar:^' (5)

I know what happened! Some dwarfs went for a ride in the boat.

Der hier geschaffene Kontext verlangt, dass der Testsatz als pragmatisch inakzeptabel erfasst wird, weil (5) in diesem Kontext gegen die skalare Implikatur verstößt. In der Tat lehnten 86% der englischsprachigen und 66% der italienischsprachigen Kinder den Testsatz (5) im description mode ab. Die Mehrheit der untersuchten Kinder scheint also in diesem Test — im Gegensatz zu Noveck (2001) — die Implikatur ohne Weiteres zielsprachig zu berechnen. Im sogenannten prediction mode wurde den Kindern ein Kontext angeboten, in dem die skalare Implikatur gelöscht ist. Ein Magier (Puppe) macht Vorhersagen über das, was später geschehen werde, wie in (6): (6)

I know what will happen! Some Ninja will watch Batman on TV.

Im kritischen Fall wurde anschließend vom Experimentator eine Szene dargestellt, in der eine Gruppe von Ninjas überlegt, ob sie Batman anschauen oder lieber mit der VideoKonsole spielen will. Am Ende der Beratung entscheiden sich alle Ninjas fernzusehen. Am Ende dieser kleinen Darstellung wurden die Kinder gefragt, ob sich der Magier geirrt habe oder nicht. Erwartet wurde, dass die Kinder die Prognose des Magiers für angemessen halten würden, weil die Implikatur in diesem futurischen Kontext gelöscht wird: In solchen Kontexten sind Sätze mit some korrekt, auch wenn all in diesen Fällen zutreffen würde. Die untersuchten Kinder betrachteten (6) im hier vorgestellten Kontext — mit 75% korrekter Antworten — als völlig korrekt. Chierchia et al. (1998) kommen am Ende ihrer Untersuchung zu dem Schluss, dass Kinder nicht nur skalare Implikaturen verstehen, sondern dass sie auch ihren pragmatischen Charakter berücksichtigen, weil sie durchaus in der Lage sind, sie in geeigneten

29 Zu einer genaueren Beschreibung dieses Verfahrens s. Fn. 27 auf S. 142 und unter 6.2.1, S. 169. 30 Getestet wurden 13 englischsprachige und 6 italienischsprachige Kinder. Bedaueriicherweise machen die Autoren keine Angaben über das Alter der untersuchten Kinder. 31 Die Autoren testeten auch Sätze mit or. Da die Ergebnisse für beide Ausdrücke sehr ähnlich sind, wurde hier aus Platzgründen auf eine genaue Darstellung des Testverfahrens für die or-Sätze verzichtet.

100

4. Hypothesen zum MV-Erwerb

Kontexten zu löschen. Aus diesem Grund nehmen sie an, dass Kinder schon sehr früh über eine vollständige Kompetenz bezüglich skalarer Implikaturen verfügen. Ähnlich wie Chierchia et al. (1998) stellen sich Chierchia et al. (2001) die Frage, ob Vorschulkinder die logischen und die pragmatischen Eigenschaften (skalare Implikatur) von or in verschiedenen Kontexten erfassen können. Im linguistischen Kontext (7a) wird die skalare Implikatur gelöscht, nicht jedoch im Kontext (7b) (Chierchia et al. 2001:164): (7)

a. Every student who wrote a paper or made a presentation received a good grade. b. Every student wrote a paper or a presentation.

Nur (7a) — so die Autoren — ist mit der inklusiven Lesart von or verträglich, während (7b) wegen der skalaren Implikatur die exklusive verlangt.^^ In einer ersten Truth Value 7Mí/gemení-Aufgabe wurde getestet, ob 15 englischsprachige Kinder zwischen 3;7 und 6;11 skalare Implikaturen in DE-Kontexten löschen. Folgender Typ von Sätzen wurde in diesem Experiment verwendet (Chierchia et al. 2001:164): (8)

Every dwarf who chose a banana or a strawberry received a jewel. (DE = -Impl.)

Erwartet wurde, dass die Kinder die inklusive Lesart von or in diesem Experiment akzeptieren sollten. In einer zweiten Truth Value Judgement-huígdibe. wurde mit einer zweiten Gruppe von 15 Kindern zwischen 3;5 und 6;2 der Frage nachgegangen, ob die Implikatur in positiven Kontexten berücksichtigt wird (Chierchia et al. 2001:165): (9)

Every dwarf chose a skate-board or a bike.

(+Impl.)

Hier wurde erwartet, dass die Kinder den Testsatz ablehnen, wenn die Implikatur berücksichtigt wird. 32 In (7a) wird die Implikatur gelöscht, weil es sich hier um einen so genannten downward entailing context (DE-Kontext) handelt. Definitionsgemäß erlaubt eine DE-Umgebung Schlüsse von einer Menge auf alle ihre Teilmengen. Die Negation ist z. B. ein typischer DE-Operator: (i)

Der Mann hat keine Pizza gegessen. => Der Mann hat keine Pepperoni-Pizza gegessen.

Seit Ladusaw (1979) ist bekannt, dass Negative Polarity Items (NPI) zwar in von Quantoren lizensierten DE-Umgebungen vorkommen können, nie jedoch in upward entailing contexts. Wie der folgende Kontrast zeigt, lizensiert der Allquantor every sein internes Argument (Restriktor) als DE-Umgebung (iia), sein externes Argument jedoch als upward entailing context (üb): (ii)

a. b.

Every [woman who has any children] ist called mother, 'Every woman [has read any book.]

In der Literatur über Implikaturen wird vor allem die Frage diskutiert, warum skalare Implikaturen im Skopus der Negation gelöscht werden (Horn 1989: 233ff.). Boster & Crain (1993) folgend argumentieren Chierchia et al. (2001: 160f.) diesbezüglich, dass skalare Implikaturen in DE-Kontexten systematisch gelöscht werden, weil für jeden DE-Operator Δ gilt, dass A ( C or D) Δ ( 0 ) and A ( C CT D) Δ ( Ό ) . Dadurch wird die inklusive Lesart von or in DE-Kontexten möglich.

4.2 Die Implikatur-Hypothese

101

Das allgemeine Ergebnis der Untersuchungen zeigt, (i) dass die Kinder die inklusive Lesart der Disjunktion in DE-Kontexten ohne Weiteres akzeptieren (erstes Experiment), und (ii) dass sie sie jedoch in positiven Kontexten nicht ablehnten, obwohl die Implikatur zu einer solchen Ablehnung führen sollte (zweites Experiment). Fazit der Studie ist also, dass Kinder unter 6;0 skalare Implikaturen offensichtlich nicht berücksichtigen, was Novecks Annahme — zumindest für dieses Alter — bestätigt.^^ Das Ergebnis der Studie widerspricht damit derjenigen von Chierchia et al. (1998). Es muss jedoch betont werden, dass die Kinder in letzterer Untersuchung möglicherweise älter als 5;5 waren (s. En. 30, S. 99), so dass beide Studien nur bedingt miteinander vergleichbar sind. Die Untersuchung von Papafragou & Musolino (2003) verfolgt zwei Hauptanliegen. Zum einen möchten die Autoren klären, ob die von Noveck (2001) und Chierchia et al. (2001) festgestellen Schwierigkeiten in Bezug auf skalare Implikaturen für alle Typen von Skalen gilt oder ob bestimmte skalare Implikaturen von den Kindern leichter verstanden werden als andere. Zum anderen gehen sie der Frage nach, inwieweit die Komplexität der bisher verwendeten Testverfahren die Performanz der Kinder bei der Berechnung von skalaren Implikaturen eingeschränkt haben könnte. In ihrem ersten Experiment in der Form einer Truth Value Judgement-Aufgabe — das im Übrigen vom Aufbau her dem Verfahren von Chierchia et al. (1998) im description mode genau entspricht (s. o.) —, wurde das Verstehen skalarer Implikaturen in drei verschiedenen Skalen bei 30 Kindern zwischen 4; 11 und 5; 11 untersucht: (i) mit Quantifikatoren , (ii) mit Zahlen und (iii) mit inchoativen Verben . Die untersuchten Kinder gaben bei den Skalen (i) und (iii) nur in weniger als 15% der Fälle eine Antwort, die auf ein korrektes Verstehen skalarer Implikaturen schließen lässt. Bei den Zahlen urteilen sie dagegen in 65% der Fälle, dass two nicht mit dem Fall verträglich ist, in dem auch three wahr ist.^'* Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass einige skalaren Implikaturen möglicherweise leichter zu verstehen sind als andere. Papafragou & Musolino (2003) weisen dennoch zu Recht darauf hin, dass die Frage, ob die natürlichen Zahlen wirklich skalare Implikaturen auslösen, in der Forschung sehr umstritten ist.^^ 33 Die Autoren erklären ihre Beobachtung auf eine andere Weise als Noveck (2001). Reinharts (1999) Ansatz folgend führen Chierchia et al. (2001) die Ergebnisse der untersuchten Kinder weniger auf ihre prinzipielle Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit zurück, skalare Implikatur zu berechnen, sondern vielmehr auf ihre Unfähigkeit, die Repräsentation eines Satzes lange genug im Gedächtnis zu behalten, um sie mit einer alternativen Repräsentation zu vergleichen. Reinhart (1999) hat vorgeschlagen, dass Interpretationen von Sätzen, die einen Vergleich zwischen verschiedenen Repräsentationen des Satzes verlangen, außerhalb der Berechnungskapazität (working memory) von Kindern unter 4;0-5;0 stehen. In diesem Sinne würde — so Chierchia et al. (2001: 166) — die Berechnung einer skalaren Implikatur einen Vergleich verlangen zwischen der semantischen und der pragmatischen Repräsentation des betreffenden Satzes einerseits und dem Kontext andererseits, zu dem der Satz passen soll. Diese kognitive Leistung könnte demnach für 5-Jährige zu anspruchsvoll sein. 34 Die Autoren fanden dagegen keinen signifikanten Unterschied zwischen den zwei anderen Skalen. 35 Gegen die Annahme, kardinale Zahlen würden eine Skala bilden, wird vor allem argumentiert, dass die für Skalen typische ,>lindestens"-Lesart schwächerer Ausdrücke bei Zahlen oft nicht möglich

102

4. Hypothesen zum MV-Erwerb

An Papafragou & Musolinos zweitem Experiment nahmen 30 Kinder zwischen 5 ; 1 und 6;1 teil. Dieses hatte zum Ziel, den Einfluss der bisher angewendeten Testverfahren auf die Performanz der Kinder bei der Berechnung von skalaren Implikaturen einzuschätzen. Das Verfahren des ersten Experiments wurde in drei Punkten modifiziert: Erstens wurde vor dem eigentlichen Experiment eine Einführungsphase eingeschoben, in der die Kinder über wahre, jedoch pragmatisch unangemessene Sätze (ohne Implikatur) urteilen mussten (z. B. wurde in Testsätzen die Formulierung „Tier mit vier Beinen" anstatt des präziseren Begriffs, Jlund" verwendet, wenn dargestellt wurde, dass ein Hund eine Handlung durchführte).^^ Zweitens wurden die Geschichten im Hauptexperiment so geändert, dass genauer auf die Haupthandlung fokussiert wurde. Drittens erfolgte der Kommentar der beobachtenden Puppe während der Handlung und nicht mehr anschließend. Die hier dargestellten Modifikationen des Verfahrens führten zu einer deutlich verbesserten Trefferquote: Die Kinder lehnten in knapp 52% der Fälle den Jome-Satz ab, wenn klar war, dass alle Figuren die Handlung durchgeführt hatten (gegenüber 12% im ersten Experiment). Im Vergleich zum ersten Experiment liegt dieser Wert immer noch bei 47,5% gegenüber 10% bei start und er beträgt bei den kardinalen Zahlen 90%. Diese Verbesserung der Trefferquote zeigt, dass Vorschulkinder skalare Implikaturen möglicherweise prinzipiell berechnen können, sie es jedoch nur tun, wenn ihnen in den Experimenten klar gemacht wird, dass die pragmatische Bedeutung der getesteten Begriffe gefragt ist und nicht ihr kontextfreier Wahrheitswert. Papafragou & Musolino (2003:267) schließen aus den Ergebnissen dieses zweiten Experiments, dass „children's success in computing scalar inferences within a single 'scale' depends on their awareness of the goals and the general nature of the task." Die durch die getesteten 5-Jährigen erzielten Ergebnisse sind jedoch nach wie vor weit entfernt von denjenigen der Kontrollgruppe (30 Erwachsene), die über 90% korrekte Antworten in beiden Experimenten gaben. Die Ergebnisse der hier vorgestellten Untersuchungen zum Erwerb skalarer Implikaturen deuten daraufhin, dass Vor- und Grundschulkinder diesen Typ von Implikaturen nicht im selben Maße erkennen wie Erwachsene. Es ist also mit Noveck (2001) nicht auszuschließen, dass das späte Verstehen der epistemischen MV-Lesart auf diese Schwierigkeit zurückgeführt werden muss. Dadurch lässt sich folgende Hypothesen formulieren, deren Gültigkeit im Rahmen der Experimente in Kap. 6 untersucht werden soll: ( 10) Die Implikatur-Hypothese : Kinder haben Schwierigkeiten, schwache epistemische Ausdrücke zu verstehen, weil sie die von diesen Ausdrücken ausgelöste skalare Implikatur nicht im selben Maße wie Erwachsene berücksichtigen. Dies hat zur Konsequenz, dass diese Kinder schwache epistemische Sätze auch mit Situationen verbinden, die normalerweise nur zu einem stärkeren epistemischen Satz passen. bzw. unerwünscht ist (z. B. in der Mathematik). Zu dieser Problematik s. u. a. Sadock (1984), Carsten (1998) und Levinson (2000: 87ff.). 36 Diese Einführungsphase wurde natürlich als Truth Value Judgement-kxiigabe· durchgeführt. Falls die Kinder nicht spontan den zu allgemeinen Satz ablehnten, wurden sie vom Experimentator auf die pragmatische Unangemessenheit des Satzes aufmerksam gemacht.

4.3 Die Kontrast-Hypothese

103

Mit der Unentscheidbarkeits- und der Implikatur-Hypothese wurden zwei Hypothesen vorgeschlagen, die erklären können, warum die epistemische MV-Lesart später als die zirkumstantielle erworben wird, und warum schwache epistemische Ausdrücke erst im Grundschulalter zuverlässig verstanden werden. In den folgenden Abschnitten wird nun erörtert, welche Hypothesen herangezogen werden können, um der Frage nachzugehen, warum die epistemische MV-Lesart später erworben wird als ihre Systemkonkurrenten. Während die in Abs. 4.3 vorgeschlagene Kontrast-Hypothese dieses Phänomen auf die Tatsache zurückführt, dass MV im Unterschied zu ihren Systemkonkurrenten polyfunktional sind, sieht die in Abs. 4.4 diskutierte Anhebungshypothese die Ursache für diesen späteren Erwerb in der Tatsache, dass Anhebung eine notwendige Voraussetzung für den Erwerb der epistemischen MV-Lesart ist, jedoch nicht für einige ihrer Systemkonkurrenten.

4.3

Die Kontrast-Hypothese

Wie schon in Kap. 2 dargestellt wurde, stellt Polyfunktionalität eine der wichtigsten MVЮasseneigenschaften dar. Im folgenden Abschnitt wird die Frage erörtert, ob bzw. inwieweit die Tatsache, dass die MV im Unterschied zu ihren Systemkonkurrenten polyfunktional sind, beim Erwerb der epistemischen MV-Lesart von Relevanz sein könnte. In den einleitenden Worten zur Diskussion in Abs. 4.1 der möglichen kognitiven Voraussetzungen für den Erwerb der epistemischen MV-Lesart wurde bereits erwähnt, dass die meisten Arbeiten zum MV-Erwerb nur die kognitive Entwicklung des Kindes als Erwerbsfaktor für die epistemische MV-Lesarten betrachten. Die MV-Polyfunktionalität spielt in diesen Arbeiten zwar eine Rolle, aber lediglich als Spiegel der kognitiven Fähigkeit des Kindes: Die Erwerbsreihenfolge der verschiedenen MV-Lesarten wird akribisch beschrieben und anschließend durch die kognitive Entwicklung des Kindes erklärt. Dass die MV in ihrer epistemischen Bedeutung in der Regel später erworben werden als die meisten ihrer Systemkonkurrenten (s. dazu die ausführliche Beschreibung im Kap. 3) und dass dieser Zeitunterschied auf einen möglichen Einfluss der Tatsache zurückzuführen ist, dass MV polyfunktional sind, wird dabei meistens vollkommen übersehen. Lediglich Shatz & Wilcox (1991:322) schlagen als Alternative zu diesen rein kognitiven Ansätzen vor, dass die MV-Polyfunktionalität einen retardierenden Effekt auf den Erwerb der epistemischen MV-Bedeutung hat: „Two questions to be asked, then, about the acquisition of the modal system is whether modal input is simplified by the avoidance of plurifunctionality, and whether children, in their early use of modals, demonstrate an avoidance of plurifunctionality. If so, the avoidance of plurifunctionality could be seen as a constraint on the course of acquisition of the modal system." In der Forschung zum Erwerb des Lexikons wird immer wieder beobachtet, dass Kinder Schwierigkeiten beim Erlemen von neuen Wörtern haben, wenn kein eins-zu-einsVerhältnis zwischen Wortform und Wortbedeutung besteht. Fälle von Homonymie, Poly-

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4. Hypothesen zum MV-Erwerb

semie und Synonymie scheinen ihnen also besondere Schwierigkeiten zu bereiten (s. dazu u. a. Markman 1987,1989; Slobin 1985b; Karmiloff-Smith 1992; Clark 1993). In Bezug auf die Struktur des Lexikons nimmt Clark (1987, 1993) an, dass Sprachen immer so beschaffen sind, dass jede Bedeutung exakt einer Form zugeordnet werden kann. Clark nennt diese allgemeine linguistische Eigenschaft das Principle of Contrast (= PoC). Clarks Prinzip besagt, dass „every two forms contrast in meaning" (Clark 1987:2). Clarks PoC bedeutet also nichts anderes, als dass es keine (perfekte) Synonymie im Lexikon geben kann. Bei Clarks PoC ist aber auch wichtig, im Auge zu behalten, dass es zwar ein Synonymie-Verbot enthält, jedoch weder Homonymie noch Polysemie ausschließt. Clark (1987,1993) sieht es als essenziell an, dass sich Kinder von Anfang an an dem PoC und an dem Principle of Conventionality^'^ orientieren, um ihren Lexikon-Erwerb erfolgreich zu meistern. Ohne die Einhaltung dieser zwei Prinzipien wäre es den Kindern unmöglich, das Lexikon ihrer Sprache zu erlernen. Angesichts der Vielfalt an Schwierigkeiten beim Erwerb von Homonymie,^^ gehen mehrere Autoren davon aus, dass zusätzlich zum PoC reine Erwerbsprinzipien angenommen werden müssen, um diese Fakten zu erklären: Markmans (1987,1989) Mutual Exclusivity Assumption und Slobins (1985b: 1227ff.) Principle of Unifunctionality stipulieren nicht nur ein Synonymie-Verbot im Spracherwerb, sondern auch ein Homonymie-Verbot. Beide Prinzipien gehen also davon aus, dass Kinder in einer ersten Phase ihrer Sprachentwicklung eine einfache Strategie verfolgen: Jede Form wird exakt einer Bedeutung zugeordnet und jede Bedeutung exakt einer Form {one-to-one mapping). Im Unterschied zu Clarks PoC stellen Markmans und Slobins Prinzip lediglich Erwerbsbeschränkungen — und keine allgemein linguistischen Prinzipien — dar, die mit zunehmendem Alter und kognitiver Reife allmählich verschwinden.^^ Angesichts der MV-Eigenschaften und des epistemischen Sprachsystems des Deutschen wäre es wenig erstaunlich, wenn die epistemische MV-Lesart die Kinder vor erhebliche Schwierigkeiten stellen würde: Zum einen sind (fast) alle MV polyfunktional (Polysemie/Homonymie-Problem) und zum anderen steht sie immer in Konkurrenz zu anderen epistemischen Ausdrücken (Synonymie-Problem).

37 Mit Konventionalität ist gemeint, dass in einer Spechergemeinschaft darüber Einigkeit herrscht, welche Bedeutung mit welcher Form verbunden wird. Dabei wird natürlich erwartet, dass die Mitglieder dieser Sprechergemeinschaft sich an die etablierten Konventionen halten. Clarks (1993: 67) Principle of Conventionality besagt also, dass ,/ог certains meanings there is a form that speakers expect to be used in the language community." Wenn ein Sprecher eine bestimmte Bedeutung ausdrücken möchte, muss er die konventionelle Form verwenden. 38 Zum Homonymie-Erwerb s. u. a. Campbell & Bowe (1977); Beveridge & Marsh (1991); Mazzocco (1997,1999); Mazzocco et al. (2003). 39 Clark (1987: 2) hält es zwar für denkbar, dass Sprachen tendenziell Homonymie meiden (Homonymy Assumption). Eine solche Homonymy Assumption kann ihrer Ansicht nach jedoch keinesfalls als allgemeines Sprachprinzip angesehen werden wie das PoC, weil es in jeder Sprache unzählige Fälle gibt, die gegen ein Homonymie-Verbot verstoßen (Clark 1993:70). Clark argumentiert femer, dass es auch reichlich viele Beispiele von Homonymie-Verwendungen in der Kindersprache gibt, was gegen die Annahme zusätzlicher Erwerbsprinzipien als das PoC und das Principle of Conventionality spricht.

4.3 Die Kontrast-Hypothese

105

Diesbezüglich ist es leicht zu sehen, wie das PoC im Zusammenspiel mit den oben genannten Erwerbseinschränkungen in Bezug auf Homonymie/Polysemie die Erwerbsabfolge der verschiedenen epistemischen Ausdrücke steuern könnte (Shatz & Wilcox 1991:342f.). Die MV werden schon sehr früh mit der zirkumstantiellen Modalität belegt. Nach Slobins (1985) oder Markmans Prinzip sollten sie für die epistemischen Bedeutungen nicht mehr verfügbar sein — zumindest zum Zeitpunkt, als diese gerade erworben werden: Kinder, für die die MV schon eine gut etablierte zirkumstantielle Bedeutung besitzen, würden über eine lange Periode hinweg einfach annehmen, dass MV zirkumstantielle Notwendigkeit bzw. Möglichkeit ausdrücken, während epistemische Möglichkeit bzw. Notwendigkeit durch konkurrierende Ausdrücke wie vielleicht oder denken ausgedrückt werden. Der entscheidende retardierende Effekt der MV-Polyfunktionalität liege darin, dass Kinder in dem Alter, in dem sie beginnen, epistemische Bedeutungen zu erfassen, den MV längst eine andere Bedeutung (nämlich die zirkumstantielle) zugeordnet haben. Clarks PoC — das eine deutlich stärkere Beschränkung in der Sprache darstellt — sollte auch einen starken und langen aufschiebenden Effekt haben in Bezug auf den Erwerb der epistemischen MV-Lesart, der möglicherweise bis 6;0 oder länger andauert. Die Bedeutung des PoC liegt darin, dass Kinder, die die Bedeutung von Satzadverbialen (vielleicht) und von mentalen Verben (denken) erfolgreich erworben haben, es vermeiden, den MV eine ähnliche Bedeutung zuzuschreiben, bis sie in der Lage sind, einen deutlichen Bedeutungsunterschied zwischen MV und ihren Systemkonkurrenten festzustellen. Dieser entscheidende Bedeutungsunterschied könnte vor allem im inferenziellen Charakter der MV liegen: Im Unterschied zu ihren Systemkonkurrenten drücken MV nicht nur eine mehr oder weniger große epistemische Sicherheit bzw. Unsicherheit aus, sondern auch, dass die Quelle dieser Unsicherheit eine Inferenz ist (s. dazu unter 2.1, S. 15ff. und 2.2.3, S. 28f.). Der Unterschied zwischen vielleicht und epistemischem können würde demnach darin bestehen, dass vielleicht lediglich eine epistemische Unsicherheit seitens des Sprechers ausdrückt, ohne dabei die Quelle dieser Unsicherheit zu nennen, während epistemisches können eine ähnliche Sprecherunsicherheit ausdrückt, jedoch mit einem direkten Bezug auf die Tatsache, dass diese Unsicherheit das Ergebnis einer epistemischen Inferenz ist. Die Bedeutung von epistemischem können enthält also einen expliziten Hinweis auf den inferenziellen Charakter der Sprecherunsicherheit.Demzufolge ist es durchaus möglich, dass die epistemische Lesart von können erst dann erworben wird, wenn Kinder gelernt haben, nicht nur epistemische Inferenzen zu ziehen, sondern diese auch als solche zu erkennen. Wie schon unter 4.1.2 dargestellt wurde, wird diese meta-kognitive Fähigkeit nach Moshman (1990) erst zwischen sechs und zehn Jahren erworben (s. dazu hier oben S. 95). Die hier dargestellte Rolle von verschiedenen Erwerbsbeschränkungen einerseits und des PoC andererseits erklärt, warum mentale Verben und epistemische Satzadverbiale in den meisten in Kap. 3 untersuchten Sprachen vor der epistemischen MV-Lesart erworben werden. Sie ist aber genauso in der Lage zu erklären, warum das englische MV might/may in epistemischer Lesart früher erworben wird als alle anderen epistemischen MV. Wie 40 In diesem Sinne steht die epistemische MV-Lesart evidentiellen Bedeutungen deutlich näher als es bei den Systemkonkurrenten der Fall ist (außer natürlich bei scheinen). S. dazu Fn. 6, S. 17.

106

4. Hypothesen zum MV-Erwerb

schon unter 3.1.2 (s. S. 47ff.) angemerkt wurde, stellt das englische MV might/may eine Ausnahme dar: Als einziges MV wird es regelmäßig von den Kindern zwischen 2;6 und 3;5 erworben, also im Schnitt ein bis zwei Jahre früher als die epistemische Bedeutung anderer MV wie must oder should. Wie die Darstellung auf S. 47 gezeigt hat, wird die deontische Lesart von may zwischen 2;0 und 3;0 in aller Regel nicht erworben (Erlaubnisse werden von 2- bis 4-Jährigen mit can ausgedrückt). Nachdem also die zirkumstantiellen Lesarten erworben worden sind, stehen sowohl may als auch might — im Unterschied zu den anderen englischen MV — weiterhin zu Verfügung, um mit epistemischen Bedeutungen belegt zu werden. Das Homonymie/Polysemie-Verbot greift in diesem Fall n i c h t . D a s PoC dagegen sollte zum Effekt haben, dass die Satzadverbiale maybe/perhaps erst spät erworben werden sollten, wenn may/might in epistemischer Lesart früh erworben werden. In der Tat zeigen Perkins' (1983) Daten (s. S. 49f.), dass diese Satzadverbiale — im Gegensatz zu anderen in Kap. 3 untersuchten Sprachen — von den Kindern noch mit 6;0 kaum verwendet werden. (Für eine mögliche Widerlegung dieser Beobachtung sprechen die Daten von Ehrich 2004b, 2005. S. dazu S.41ff..) Diese Besonderheit des Erwerbs im Englischen lässt sich ohne Weiteres aus den in diesem Abschnitt besprochenen Sprach- und Erwerbseinschränkungen herleiten: Wenn die MV might/may früh als Markierer für epistemische Unsicherheit verwendet werden können, weil sie zum Zeitpunkt des Erwerbs epistemischer Lesarten mit keiner anderen Bedeutung belegt sind, dann gibt es im kindlichen epistemischen System des Englischen aufgrund des PoC keinen Platz für entsprechende Satzadverbiale, solange Kinder keinen Bedeutungsunterschied zwischen maybe/perhaps einerseits und den MV might/may feststellen können.''^ In den anderen in Kap. 3 untersuchten Sprachen dagegen sagen diese Einschränkungen einen umgekehrten Erwerbs verlauf voraus: Da alle MV eine früh erworbene zirkumstantielle Bedeutung haben, sind sie zunächst für die epistemische Lesart blockiert. Epistemische Satzadverbiale werden demzufolge vor der epistemischen MV-Lesart erworben, was genau den beobachteten Daten für diese Sprachen entspricht. Die hier besprochenen Daten legen die Vermutung nahe, dass die Annahme verschiedener Sprach- und Erwerbseinschränkungen erklären könnte, warum die epistemische MV-Lesart später erworben wird als die epistemischen MV-Konkurrenten. Verschiedene Erwerbseinschränkungen deuten auf eine kindliche Neigung, Homonymie bzw. Polyse41 Dabei spielt es keinerlei Rolle, ob may/might in der Erwachsenensprache poly funktional sind. 42 Wells (1985) (s. S.48f.) und Papafragou (1997: 22ff.) argumentieren dagegen, dass das spätere Auftreten von epistemischem must gegenüber might/may dadurch zu erklären sei, dass sich das Konzept der epistemischen Notwendigkeit sehr spät entwickelt. Die unter 4.1.2 (S. 89ff.) angeführten Daten bestätigen zwar diese Annahme, aber die Daten belegen auch, dass Kindern vor allem der Fehler unterläuft, epistemische Notwendigkeit auf Fälle der epistemischen Unentscheidbarkeit zu übergeneralisieren. Demzufolge wäre eher zu erwarten, dass jüngere Kinder zuerst das epistemische must erwerben und es verwenden, um epistemisch unentscheidbare Situationen zu beschreiben. Darüber hinaus zeigen die Daten anderer Sprachen — wie z. B. dem Französischen —, dass in der Regel zuerst solche Ausdrücke erworben werden, die einen hohen Grad an epistemischer Sicherheit ausdrücken (s. hier oben S.50). Also muss davon ausgegangen werden, dass die Erwerbsabfolge im Englischen eine Ausnahme darstellt, die dadurch zu erklären ist, dass might/may als einzige MV — zumindest in der Kindersprache — nicht-polyfunktional sind.

4.3 Die Kontrast-Hypothese

107

mie zu meiden. Clarks PoC hat zur Konsequenz, dass die epistemische MV-Lesart erst dann richtig erworben werden kann, wenn Kinder über die Fähigkeit verfügen, epistemische Inferenzen als solche zu erkennen. Aus diesen Gründen lässt sich folgende Erwerbshypothese formulieren: (11) Die Kontrasthypothese: Clarks Principle of Contrast führt — im Zusammenspiel mit verschiedenen Erwerbseinschränkungen die ein Homonymie-Verbot beinhalten — dazu, dass die epistemische MV-Lesart deutlich später erworben wird als die MV-Systemkonkurrenten. Shatz & Wilcox (1991:343) verstehen ihre Hypothese jedoch nicht als Ergänzung, sondern als Alternative zu den in Abs. 4.1 besprochenen kognitiven Einschränkungen: „However, a substantive cognitive constraint against epistemic understanding can be eliminated as an appropriate explanation for the lateness of modal epistemic use. If there were such a substantive constraint, one would not expect to find epistemic instances with mental verbs in the second half of the third year of life [... ]" Als empirische Grundlage für diese Annahme dienen ihnen zum einen die schon besprochenen Daten von Shatz, Wellman & Silber (1983) und (s.o. 49ff.), zum anderen vor allem Erwerbsdaten aus dem Koreanischen, die — nach Shatz & Wilcox (1991) — belegen, dass eine rein morphologisch markierte epistemische/evidentielle Bedeutung durchaus sehr früh erworben werden kann, und zwar viel früher als es nach den kognitiven Einschränkungen möglich sein sollte. Choi (1995) hat in ihrer Studie den Erwerbsverlauf des epistemischen/evidentiellen Systems des Koreanischen bei drei Kindern verfolgt. Das koreanische System besteht — neben den epistemischen MV -na pwa ,inference', -ci molla ,schwache Möglichkeit', -kes kathayl-tus hay ,starke Möglichkeit' und -пД kkeya ,Wahrscheinlichkeit' (Choi 1995:171) — aus fünf obligatorischen verbalen Flexiven (so genannte SE-Suffixen), die den epistemischen/evidentiellen Status der denotierten Informationen markieren. Genauer gesagt, weist -ta auf neue bzw. nicht-assimilierte Informationen hin; -e markiert seinerseits, dass die Information schon bekannt ist; mit -tay bezieht sich der Sprecher auf Hörensagen; -ci/cyana betont die epistemische Sicherheit der ausgedrückten Proposition oder dass die Information bekannt ist; -kwun weist auf eine neu entstandene Inferenz hin. Chois Studie belegt, dass das System der koreanischen SE-Suffixe zwischen 1;8 und 3;0 erworben wird, also viel früher als epistemische Ausdrücke in anderen Sprachen. Choi (1995:176f.) erklärt diesen Unterschied (i) mit der Sichtbarkeit der Suffixe am Ende des Satzes, (ii) mit ihrer obligatorischen Präsenz und (iii) mit dem Umstand, dass das koreanische Modalsystem auf einen hohen Grad an semantischer Transparenz hinweist, weil die SE-Suffixe nicht polyfunktional sind. Der Erwerbsverlauf der echten MV des Koreanischen dagegen folgt dem im Kap. 3 dargestellten Muster: Das zirkumstantielle MV-System ist mit 3;0 fast komplett erworben, während in diesem Alter von dem epistemischen nur -na pwa erworben ist, das einen hohen Grad an epistemischer Sicherheit ausdrückt.

108

4. Hypothesen zum MV-Erwerb

AufFállig in Chois Daten ist aber auch, dass ausgerechnet die SE-Suffixe -kwun und -ci, die im Unterschied zu den anderen als einzige eine Inferenz als Quelle der Information ausdrücken, in dieser Periode nicht erworben werden.'*^ Diese Beobachtung ist in doppelter Hinsicht von Bedeutung. Erstens zeigt sie — worauf schon Papafragou (2000:155) hingewiesen hat —, dass die Daten aus dem Koreanischen der Annahme kognitiver Einschränkungen keineswegs widersprechen, wie von Shatz & Wilcox (1991:332) angenommen wurde: Epistemische Bedeutungen werden auch im Koreanischen kaum vor 3;0 erworben. Die zwischen 1;8 und 3;0 erworbenen SE-Suffixe haben keine epistemische Bedeutung, sondern eine evidentielle.'^ Zweitens kann der späte Erwerb der epistemischen SE-Suffixe auch nicht durch Shatz & Wilcox' Hypothese erklärt werden, da -kwun nicht polyfunktional ist, dennoch nicht vor 3;0 erworben wird. Eine genaue Analyse von Chois (1995) Daten widerspricht also Shatz & Wilcox Annahme, die Kontrast-Hypothese stelle eine Alternative zur Annahme kognitiver Erwerbseinschränkungen dar. Tatsache ist vielmehr, dass die MV-Polyfunktionalität einen großen Einñuss auf den Erwerb der epistemischen MV-Bedeutung in der Periode zwischen dem Erwerb einer ToM (mit 3;0) ausübt und dem Erwerb (mit 8;0) der metakognitiven Fähigkeit, zu erkennen, dass die epistemische MV-Bedeutung nicht nur epistemische Unsicherheit zum Ausdruck bringt (wie z. B. Satzadverbiale), sondern auch eine explizite Referenz auf deren inferenziellen Charakter enthält. Die Kontrast-Hypothese stellt eine mögliche Erklärung dafür dar, warum die epistemische MV-Lesart später erworben wird als die MV-Systemkonkurrenten. Alternativ bzw. ergänzend zur Kontrast-Hypothese wird im nächsten Abschnitt eine weitere Hypothese vorgeschlagen, die sich auf dieselbe Fragestellung bezieht. Die Anhebungshypothese geht davon aus, dass epistemische Adverbien oder mentale Verben deshalb leichter zu erwerben sind als epistemische MV, weil letztere Anhebungsverben sind.

4.4

Die Anhebungshypothese

Obwohl das Verhältnis zwischen der syntaktischen Realisierung von MV-Sätzen und deren semantischer Interpretation (zirkumstantiell vs. epistemisch) eine herausragende Rolle in der theoretischen MV-Forschung spielt (s. dazu unter 2.2, S. 19ff.), hat dieses Problem in der Spracherwerbsforschung bislang keine große Aufmerksamkeit gefunden. Folgendes Zitat aus Stephany (1995:106) ist bezeichnend für diese allgemeine Haltung: 43 -ci in seiner Funktion als Markierer für bekannte Informationen wird schon mit etwa 2;0 verwendet. 44 Papafragou (2000: 155) argumentiert, dass die Daten von Choi nahelegen, dass das System der Evidentialität vor dem System der Epistemizität erworben wird. Sie notiert weiter: ,Jt is quite possible that both evidentiality and epistemic modality tum on roughly the same type [Hervorhebung im Original, S.D.] of cognitive ability [... ] However epistemic modality makes stronger demands on the human metarepresentational device and is therefore to be expected that genuine epistemic instance will emerge at more advanced stages of development."

4.4 Die Anhebungshypothese

109

„Since epistemically modalized expressions do not seem to be formally more complex than deontically ones, the reason for the later emergence of epistemic modality in linguisic ontogenesis is generally sought in cognitive development." Die wenigen Arbeiten (vor allem Stephany 1986), die dennoch versuchen, den formalen syntaktischen MV-Eigenschaften im Rahmen kognitiver Ansätze Rechnung zu tragen, folgen mehr oder weniger explizit dem Grammatikalisierungsansatz und der von ihm getragenen Auxiliarhypothese (s. dazu unter 2.2.1, S. 19ff.): Der frühere Erwerb einiger Systemkonkurrenten wird einfach auf die Tatsache zurückgeführt, dass MV in epistemischer Lesart einen höheren Grad an Grammatikalisierung aufweisen. Während Systemkonkurrenten wie Satzadverbiale oder mentale Verben als volle Lexeme gelten, werden in diesen Ansätzen die MV als Auxiliare betrachtet. M. a. W. die epistemische Bedeutung von Adverbialen oder mentalen Verben wird in diesen Ansätzen als Bestandteil ihrer lexikalischen Bedeutung angesehen, während sie bei MV nicht lexikalisch kodiert ist, sondern über die grammatikalische Funktion der MV als Auxiliare entsteht. Wie unter 2.2.1 schon ausführlich dargestellt wurde, wird in modernen generativen Ansätzen diesem Unterschied dadurch Rechnung getragen, dass die MV in epistemischer Lesart in einer höheren funktionalen Position generiert werden als die MV in zirkumstantieller Lesart — eine Position, die möglicherweise später erworben wird. Stephany (1986:395) stellt diesbezüglich zusammenfassend fest, dass „epistemic verbs like think and adverbs like maybe may precede epistemically modalized statements in which the expression of modality is integrated into the verb phrase in language development." Wie die Diskussion der Syntax der deutschen MV unter 2.2 deutlich gemacht hat, gibt es jedoch gute Gründe anzunehmen, dass diese Erklärung fürs Deutsche nicht tragfähig ist: Die deutschen MV sind keineswegs Auxiliare, sondern Vollverben. Es stellt sich also die Frage, wie die epistemische Lesart der deutschen MV entstehen kann, wenn diese nicht in einer diesbezüglich spezifischen funktionalen Position basisgeneriert werden. Die theoretische Diskussion in Abs. 2.2 hat zu erkennen gegeben, dass zwei syntaktische Faktoren möglicherweise eine Rolle in Bezug auf die epistemische MV-Lesart spielen: Nach der Konvergenzhypothese (s. 2.2.3, S. 26ff.) korreliert die MV-Polyfunktionalität mit dem Status der deutschen MV als Auslöser von starker Kohärenz und die Diskussion der Orientierungshypothese (s. unter 2.2.2, S. 22ff.) hat gezeigt, dass Anhebung möglicherweise eine notwendige Voraussetzung der epistemischen MV-Lesart im engeren Sinne (= ohne die evidentielle Lesart) darstellt. Da die Konsequenzen der Konvergenzhypothese für den Spracherwerb experimentell kaum йЬефгйп^аг sind, wird im Folgenden nur die Rolle des Erwerbs der semantischen und syntaktischen Eigenschaften von Anhebung im Zusammenhang mit dem Erwerb der epistemischen MV-Lesart besprochen."*^ Diese Diskussion wird verdeutlichen, dass der Erwerb von Anhebung möglicherweise eine 45 In Bezug auf die Konvergenzhypothese stellt sich allgemein die Frage, inwieweit der Erwerb von Kohärenz nachprüfbar ist. Mir sind keine Arbeiten bekannt, die sich mit diesem Themenkomplex beschäftigt hätten. Lediglich die Studie von Ehrich (2004b, 2005) enthält Hinweise dafür, dass die epistemische MV-Lesart mit dem Erwerb vom ersten Status zeitlich korreliert.

110

4. Hypothesen zum MV-Erwerb

Voraussetzung für den Erwerb der epistemischen MV-Lesart darstellt (= die Anhebungshypothese). Die Diskussion der syntaktischen MV-Eigenschaften unter 2.2 hat gezeigt, dass — Öhlschläger (1989) und Kiss (1995) folgend — können, müssen, dürfen, mögen und sollen unabhängig von der Lesart stets Anhebungsverben sind und dass wollen und möchtals Kontrollverben zu betrachten sind. Es ist klar, dass diese Position die Möglichkeit ausschließt, das Kind würde sich der Unterscheidung Anhebung vs. Kontrolle bedienen, um die MV-Polyfunktionalität zu erfassen und auf diesem Weg zur epistemischen MV-Lesart zu gelangen. Wie Reis (2001:305) bemerkt, bedeutet diese Analyse der MVOrientierung zwar, dass die MV-Polyfunktionalität nicht mittels der Unterscheidung Anhebung vs. Kontrolle systematisch erfassbar ist. Sie zwingt jedoch nicht zu der Annahme, dass es keinen Zusammenhang zwischen Anhebung und epistemischer MV-Lesart gebe: Reis (2001:305) stellt immerhin fest, dass alle epistemischen MV-Lesarten stets mit Anhebung verbunden sind. Die Vermutung liegt nahe, dass Anhebung eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Voraussetzung der epistemischen MV-Lesart ist.'^^ Umgekehrt formuliert, bedeutet dies nichts anderes, als dass die Kontroll-Konstruktion eine epistemische Inteφretation von MV-Sätzen wenn nicht vollkommen verhindert, so doch deutlich erschwert. Der Grund dafür könnte in den semantischen Ursachen der jeweiligen Konstruktionen liegen: Während Kontrollverben mit ihrem overten Subjekt nicht nur syntaktisch kongruieren, sondern ihm auch seine Θ-Rolle zuweisen, üben Anhebungsverben keinerlei semantische Restriktionen bezüglich ihres overten Subjekts aus. Dieses bekommt seine Θ-Rolle vom eingebetteten Infinitiv und nicht vom MV, d. h. das syntaktische MV-Subjekt ist, semantisch gesehen, Teil der eingebetteten Proposition und nicht des Matrixsatzes. Bei Subjektkontrolle gehört es dagegen eindeutig zur Matrix-Proposition: Das Subjekt gehört in diesem Fall semantisch nur indirekt — durch die Kontrolle von PRO — zur eingebetteten Proposition (s. dazu Bsp. (16) auf S. 22). Demnach würde Kontrolle — aufgrund der Zuweisung einer Θ-Rolle zum overten Subjekt durch das MV — eine zirkumstantielle Interpretation des MV-Satzes nahelegen: Dem overten Subjekt würde die Eigenschaft möglich/notwendig zugesprochen, die durch die eingebettete Proposition ausgedrückt wird. Nur Anhebung würde eine epistemische Interpretation des MV-Satzes ermöglichen, weil sich in diesem Fall die Notwendigkeit bzw. Möglichkeit nicht auf das overte Subjekt beziehen würde, sondern auf die gesamte eingebettete Proposition zu der das overte Subjekt semantisch gehört. Es ist also durchaus möglich, dass Kinder — solange sie nicht über Anhebung verfügen — MV-Sätze systematisch so inteφгetieren, dass das MV dem overten Subjekt eine ΘRolle zuweist — mit der Konsequenz, dass alle MV-Sätze zirkumstantiell verstanden werden. Erst der Erwerb der Anhebungskonstruktion macht eine epistemische Inteφretation von MV-Sätzen zugänglich. Die Beschreibung des Erwerbs von Kontrolle und Anhebung im Deutschen ist in der Spracherwerbsforschung noch recht fragmentarisch. Neben eher beiläufigen Bemerkungen zum Auftreten einiger Verben, die typischerweise Infinitivsätze einbetten,'^'' stellen 46 Diese Beobachtung gilt nicht für die evidentiellen Lesarten: Sollen ist zwar ein Anhebungsverb, wollen jedoch nicht. 47 Interessante Ausführungen zum Erwerb der Infinitivkomplementation im Deutschen enthalten vor

4.4 Die Anhebungshypothese

111

Gawlitzek-Maiwald (1997) und Ehrich (2004b, 2005) die einzigen Langzeitstudien dar, die sich mit dem Erwerb von Anhebung und Kontrolle im Deutschen beschäftigt haben. In ihrer Analyse der Produktion von Infinitivergänzungen bei drei monolingualen Kindern''^ kommt Gawlitzek-Maiwald (1997:280) zu dem Schluss, dass alle Kinder am Ende der Erhebungsperiode Infinitivergänzungen produzieren. Dabei handelt es sich vor allem um Kontrollkonstruktionen, die an eine kleine Zahl von Matrixverben {brauchen, versuchen, helfen und probieren) gebunden bleiben. Als mögliches Acl-Verb tritt lediglich lassen mehrfach auf Einige Kinder produzieren gelegentlich auch potenzielle Anhebungskonstruktionen mit einer geringen Anzahl von Matrixverben, wie brauchen und den Phasenverben anfangen und außören. Dabei ist sich die Autorin allerdings nicht sicher, ob die von ihr beobachteten Belege wirklich als Anhebungkonstruktionen zu analysieren sind (ebda.). Auf jeden Fall sind diese potenziellen Anhebungskonstruktionen deutlich später als die Kontrollkonstruktionen belegt und treten viel seltener auf (Gawlitzek-Maiwald 1997:286f. und Tab. 8.2). Wie zu erwarten war, verwenden alle untersuchten Kinder MV mit erstem Status, lange bevor andere Infinitivergänzungen zum ersten Mal auftreten. Leider unternimmt Gawlitzek-Maiwald (1997) keine genauere Analyse der MV-Vorkommen, so dass es anhand ihrer Daten nicht möglich ist zu entscheiden, ob bzw. ab wann MV Kontrolle oder Anhebung auslösen. Bei der Studie von Gawlitzek-Maiwald ist also wichtig, in Erinnerung zu behalten, dass sich ihre Annahmen zum Erwerb von Kontrolle und Anhebung auf alle möglichen Verben außer den MV beziehen. Gawlitzek-Maiwald (1997:289ff.) führt den späteren Erwerb der Anhebung im Vergleich zur Kontrolle auf zwei Faktoren zurück, die beide auf eine höhere syntaktische Komplexität der Anhebung hindeuten: Sie nimmt erstens an, dass das prototypische Subjekt eines finiten Verbs lexikalisch ist und umgekehrt, dass das Subjekt eines infiniten Verbs das Merkmal [-lexikalisch] trägt. Kontrolle wäre demnach die unmarkierte Infinitivkonstruktion, weil das Subjekt der Infinitiveinbettung nicht lexikalisch ist (= PRO). Anhebung wäre dagegen eine untypische Konstruktion, weil das logische Subjekt des eingebetteten Infinitivs auf der D-Struktur lexikalisch realisiert wird. Zweitens sind für Gawlitzek-Maiwald syntaktische Konstruktionen ohne Bewegung ökonomischer als andere. Auch nach diesem zweiten Kriterium wäre Kontrolle einfacher als Anhebung zu realisieren, weil letztere eine move-a-Bewegung involviert. Was den MV-Erwerb betrifft, stellt Gawlitzek-Maiwald (1997:286) lediglich fest, dass „deutsche Kinder Modalverben anfangs nicht zielsprachlich als Raising- bzw. Kontrollallem Scupin & Scupin (1933a,b), Grimm (1973) und Rothweiler (1993). Allgemeiner Tenor dieser Arbeiten ist, dass Infinitivnebensätzen bis 5;0 nur sehr selten auftreten und dass sie später erworben werden als finite Nebensätze. Oft wird diesbezüglich angemerkt, dass Verben, die wahlweise mit einer finiten bzw. Infinitivergänzung realisiert werden können, fast systematisch zuerst nur mit einer finiten Ergänzung vorkommen (Rothweiler 1993: 87ff.). Diese Arbeiten enthalten aber keine spezifische Analyse des Erwerbs von Kontrolle und Anhebung. Für eine ausführliche Diskussion der Ergebnisse dieser Arbeiten s. Gawlitzek-Maiwald (1997:76ff.). 48 Die Untersuchungsperiode erstreckt sich für jedes fönd auf einem Zeitraum zwischen ca. 2;10-3;0 und 3;9 bis 4;7. Neben den drei monolingualen Kindern wurden auch drei bilinguale Kinder untersucht. Meine Darstellung der Ergebnisse von Gawlitzek-Maiwald (1997) beziehen sich ausschließlich auf die monolingualen Kinder

112

4. Hypothesen zum MV-Erwerb

Verben analysieren". Sie untermauert ihre Annahme mit zwei Argumenten: (i) MV werden ihrer Ansicht nach von den Kindern zuerst nicht als Vollverben aufgefasst, sondern treten anfangs systematisch in der linken Position auf.'^® Sie nimmt also an, dass Kinder MV zunächst nach dem für das Englische gültigen Muster — das allerdings der deutschen Erwachsenensprache nicht entspricht — als Auxiliare analysieren (Gawlitzek-Maiwald 1997:287).^® (ii) Ihre Daten weisen auf einen großen Zeitunterschied zwischen den ersten MV-Vorkommen und den ersten Anhebungs- und Kontrollstrukturen mit anderen Verben auf. Sie argumentiert dafür, dass erklärt werden müsse, warum Anhebung- und Kontrollkonstruktionen mit Vollverben später auftreten als mit MV, wenn letztere von Anfang an Anhebungsvollverben sind. Gawlitzek-Maiwalds erstes Argument schließt natürlich nicht aus, dass sich MV wie Anhebungs,vollverben' verhalten, da Auxiliare definitionsgemäß ihrem logischen Subjekt keine Θ-Rolle zuweisen. MV würden demzufolge ihrem Subjekt keine Θ-Rolle zuweisen, jedoch nicht aufgrund irgendwelcher Anhebungseigenschaften als Vollverben, sondern wegen ihres Auxiliarstatus. Gawlitzek-Maiwalds Argument scheitert jedoch an wollen: Wollen tritt — als eines der ersten MV überhaupt—wie alle übrigen MV zunächst ausschließlich in der linken Position auf. Es wäre also, nach Gawlitzek-Maiwalds Annahme, als Auxiliar aufzufassen. Wollen zeigt jedoch von Anfang an alle Eigenschaften eines Kontrollverbs und semantische Fehler in der Besetzung seiner Subjektposition treten nicht auf.^' Der Fall von wollen zeigt eindeutig, dass MV, vollkommen unabhängig von ihrem Status als potenzielle Auxiliare oder Vollverben, unterschiedliche Restriktionen in Bezug auf die Realisierung ihres overten Subjekts ausüben. Es gilt also vielmehr, dass Kinder beim MV-Erwerb von Anfang an mit dem Problem konfrontiert werden, welche MV ihrem logischen Subjekt eine Θ-Rolle zuweisen und welche nicht. Ein möglicher 49 Hier folgt sie der herrschenden Meinung, wonach MV im Laufe des Spracherwerbs zuerst Auxiliare sind, bevor sie zu Vollverben reanalysiert werden. Dieses Argument stützt sich auf die Beobachtung, dass MV zunächst nur finit auftreten (Clahsen 1982). Diesbezüglich plädieren u. a. Tracy (1991) und Kaltenbacher (1990) für die Annahme, dass Kinder zunächst über zwei Satzstrukturen verfügen (Gawlitzek-Maiwald 1997:73): (i)

a.

AUX . . .

b.

...VNF

Die Struktur (ia) wird typischerweise mit MV und Auxiliaren realisiert und MV treten zuerst nur in dieser Position auf (s. o.). Erst wenn Kinder bemerken, dass Auxiliare und Vollverben Gemeinsamkeiten haben (z. B. dass beide Verbformen in beiden Positionen auftreten können), werden beide Strukturen zugunsten einer einzigen aufgegeben, welche beide Verbpositionen (V2- und V-End) in eine systematische Beziehung setzt. 50 Gawlitzek-Maiwald (1997: 287) geht davon aus, dass MV bei Kindern zunächst mit zwei verschiedenen Muster subkategorisiert werden: (i)

a. b.

Vo [ ...NP/Pro/...] z.B.: ich kann das Io [ . . . VP] (entspricht Struktur (ia) in Fn. 49) z. В.: ich kann ein Bild malen

51 Ehrich (2004b, 2005) hat alle MV-Subjektrealisierungen im САЯОЬГЫЕ-Кофив untersucht. Dabei stellt sie keine thematischen Fehlbesetzungen bei den Subjekten von wollen fest.

4.4 Die Anhebungshypothese

113

(vorläufiger) Auxiliarstatus kann also nicht als Argument dafür dienen, dass die semantische Dimension der Anhebung bzw. der Kontrolle im frühen Spracherwerb keinerlei Bedeutung habe. Dies schließt natürlich wiederum nicht aus, dass Kinder zunächst alle MV generell als Kontroll-(Verben/Auxiliare) ansehen.^^ Zu Gawlitzek-Maiwalds zweitem Argument ist Folgendes zu sagen: Der von ihr festgestellte Zeitunterschied kann auch durch zwei andere Faktoren erklärt werden. Zum einen verlangen alle Anhebungsverben außer den MV einen гм-Infinitiv (2. Status). Es wäre also wichtig zu klären, welchen Einfluss der Erwerb des I. bzw. des 2. Status auf die Distinktion Kontrolle/Anhebung hat. Möglicherweise verbinden Kinder in einer ersten Phase Kontrolle mit dem гм-Infinitiv und Anhebung mit dem bloßen Infinitiv.^^ Der Einfluss des Erwerbs des 1. bzw. des 2. Status könnte also erklären, warum für Kinder möglicherweise zunächst nur MV als Anhebungsverben in Frage kommen. Zum anderen muss betont werden, dass die meisten Anhebungs-Vollverben^'^ in der Erwachsenensprache, verglichen mit den MV, relativ selten vorkommen. Demzufolge ist es also kaum erstaunlich, wenn sie in der Kindersprache auch nur ein sehr marginales Phänomen darstellen. Wie immer in der Korpuslinguistik ist es sehr riskant, aus der Abwesenheit einer Form zu schließen, dass diese Form nicht vorkommen kann.^^ Es ist also in der Kindersprache nicht unbedingt zu erwarten, dass solche Verben überhaupt auftreten, vor allem wenn man bedenkt, dass viele Anhebungsverben im Deutschen eng mit Epistemizität/Evidentialität verbunden werden {scheinen, drohen, versprechen).^^ Wenn die Entwicklung einer ToM eine Einschränkung beim MV-Erwerb darstellen sollte, wäre es nicht erstaunlich, dass diese Verben im von Gawlitzek-Maiwald untersuchten Zeitraum (2;6 bis 4;5) kaum vorkommen können. Dies hätte natürlich zur Konsequenz, dass die Wahrscheinlichkeit, solche Verben vor diesem Alter in Кофога der Kindersprache zu finden, noch geringer wäre. Die Chance also, Anhebungsverben in kindlichen Кофога aufzufinden, beschränkt sich wahrscheinlich hauptsächlich auf die Phasenverben. Aller52 Für diese Analyse spricht — neben dem frühen Auftreten von wollen — auch die Tatsache, dass die ersten to'nnen-Belege in der Fähigkeitslesart vorkommen. Wie unter 2.2.2 (S.25) dargestellt wurde, ist können in dieser Lesart aller Wahrscheinlichkeit nach ein Kontrollverb. 53 Diesbezüglich weisen sprachhistorische Daten auf ein interessantes Phänomen hin: Wie Demske (2001) zeigt, verlangten Anhebungsverben im Althochdeutschen — genauso wie MV und AclVerben — systematisch den 1. Status, während Kontrollverben diesbezüglich nicht fixiert waren. Sprachhistorisch scheint es also zunächst eine enge Verbindung zwischen Anhebung und 1. Status gegeben zu haben. Warum sich Anhebungsverben in Richtung 2. Status entwickelt haben, bleibt nach Demske jedoch völlig offen. 54 Damit meine ich alle Anhebungsverben außer den MV. 55 S. dazu unter 5.1, S. 120. 56 Dass scheinen evidentiell ist, ist unumstritten. Der Fall von drohen und versprechen ist dagegen viel komplizierter zu analysieren. Oft werden beide Verben in Sätzen wie (i) — also als Anhebungsverben — als Halbmodale mit (quasi-)epistemischer Bedeutung analysiert (Askedal 1997; Gunkel 2000): (i)

Die Wahl des Vorstandes droht/verspricht, zu einer Farce zu verkommen.

Gegen diese Auffassung argumentiert Reis (2005), dass drohen und versprechen als Anhebungsverben keine modale Bedeutung haben, sondern sie drücken Zukünftigkeit aus und müssen demzufolge eher als Phasenverben betrachtet werden (dazu auch Heibig & Schenkel 1973).

114

4. Hypothesen zum MV-Erwerb

dings ist die Einordnung dieser Verben als Anhebungsverben nicht immer klar, so dass es durchaus möglich ist, dass sie von den untersuchten Kindern als Kontrollkonstruktionen analysiert werden.^' Die Annahme, Anhebung sei eine Voraussetzung der MV-Epistemizität, wird von Ehrichs (2004b, 2005) Analyse des CAROLINE-Кофив stark in Frage gestellt (zu dieser Untersuchung s. auch S. 41f.). Ehrich (2004b, 2005) geht u. a. der Frage nach, ob die ersten epistemischen MV-Vorkommen im CAROLINE-Korpus zeitlich mit dem Erwerb von Anhebung korrelieren. Dabei untersucht sie, wie Caroline die Subjekte von können und wollen realisiert: Sie stellt fest, dass das Subjekt von wollen oft nicht overt realisiert wird. Ehrich nimmt an, dass die Tilgung des Subjekts von wollen per Topic Drop erfolgt. Dies kann natürlich nur geschehen — so Ehrichs Analyse —, wenn sich das Subjekt von wollen im Vorfeld befindet, von wo es getilgt wird. Interessant in ihrer Analyse von Carolines MV-Subjektrealisierung ist vor allem, dass ein solches Topic Drop bei können in der Regel nicht stattfindet. Ehrich führt diesen Unterschied zwischen der Subjektrealisierung bei wollen einerseits und bei können andererseits auf die Tatsache zurück, dass das Subjekt von können immer overt realisiert wird, weil es nicht in das Vorfeld angehoben wird, von wo es getilgt werden könnte. Um in das Vorfeld bewegt zu werden, muss das Subjekt von können zuerst in die Matrixposition angehoben werden: Bei können ist Topic Drop also erst nach dem Erwerb von Anhebung möglich. Bei wollen dagegen bedarf das Subjekt keinerlei Anhebung, da es sich direkt in der Matrixposition befindet, von wo es ins Vorfeld bewegt werden kann. Aus dieser Beobachtung schließt Ehrich, dass Caroline in dem Alter, in dem die ersten epistemischen MV belegt sind, über Anhebung noch nicht verfügt. Aus diesem Grund könne Anhebung — so Ehrich (2004b, 2005) — weder eine hinreichende noch eine notwendige Voraussetzung für den Erwerb der epistemischen MV-Lesart darstellen (Ehrich 2004b: Abs. 3.2.1). Ihre Ergebnisse sprechen also gegen die Annahme einer Anhebungshypothese zum Erwerb der epistemischen MV-Lesart. Eine Analyse von Carolines Subjekt-Realisierungen bei können zeigt zwar eindeutig, dass Caroline die syntaktischen Mechanismen der Anhebung offensichtlich noch nicht beherrscht, sie widerlegt jedoch die Annahme nicht völlig, dass Caroline möglicherweise die semantischen Komponenten von Anhebung schon (ansatzweise) verstanden hat, in 57 In der Tat sind diese Verben die einzigen potenziellen Anhebungsverben, die in Gawlitzek-Maiwalds Korpus überhaupt vorkommen (s. o.). Es ist jedoch umstritten, ob die Phasenverben wirklich immer Anhebungsverben sind. Sie weisen einerseits typische Merkmale wie die unpersönliche Konstruktion in (i) auf, die für Anhebung sprechen: (i)

Es fángt an, zu regnen.

Andererseits verhalten sie sich beim Passivierungstest (Aktiv-Passiv-Aquivalenz) wie Kontrollverben: (ii)

a. Der Mechaniker fängt an, den Wagen zu reparieren. b. *Der Wagen fángt an, vom Mechaniker repariert zu werden.

(üb) ist nicht äquivalent zu (iia), weil anfangen in solchen Fällen offensichtlich ein Agens als Subjekt verlangt. Der Unterschied zwischen (iia) und (üb) spricht gegen Anhebung (zu den Phasenverben s. u. a. Haider 1993; Kiss 1995; Gunkel 2000).

4.4 Die Anhebungshypothese

115

dem Alter, in dem sie beginnt, epistemische MV zu produzieren. In ihrer Analyse weist Ehrich (2004b: Abs. 3.2.1) auf eine Reihe von Belegen hin, bei denen das MV-Subjekt im Mittelfeld realisiert wird. (12) a. darf man gar nicht ## toeten # b. kann ich gar nicht sagen schlafen

CAROLINE (2;7) CAROLINE (2;7)

Bei diesen Belegen handelt es sich nicht um Entscheidungsfragen, sondern um Deklarative. Ehrich (ebda.) stellt fest, dass die Anzahl solcher Reahsierangen zwischen 2;5 und 2;8 bei den Anhebungs-MV deutlich höher ist als bei wollen}^ Diese Belege könnten darauf hindeuten, dass Carohne in diesem Alter schon verstanden hat, dass dürfen in (12a) und können in (12b) keine Θ-Rolle für ihr Subjekt zu Verfügung stellen. Aus diesem Grand wird das Subjekt an der Stelle realisiert, in der es semantisch selegiert wurde. Diese Belege könnten also zeigen, dass Caroline die semantische Motivation von Anhebung begriffen hat, ohne deren syntaktische Mechanismen zu beherrschen: Das Subjekt wird einfach nicht angehoben und bleibt im Mittelfeld stehen. So gesehen, ist es möglich, dass Caroline schon über genügend Kenntnisse über die semantischen Aspekte von Anhebung verfügt, wenn sie anfängt, epistemische MV zu produzieren. Diese Beobachtung ist aber auch von einem methodologischen Standpunkt wichtig: Dass Caroline verstanden hat, dass können u. U. kein Subjekt selegiert, könnte ausreichend sein, um epistemische können-Sätze zu produzieren. Ob dies dagegen ausreicht, um Anhebungssätze korrekt zu verstehen, ist eine andere Sache: Um epistemische MVSätze korrekt zu inteφretieren, muss sie auch verstanden haben, dass das grammatische MV-Subjekt des zu verstehenden Satzes nicht sein logisches ist, wie die Oberflächenstraktur des Satzes vermuten lässt (in dem Satz, den es zu verstehen gilt, ist das Subjekt angehoben worden). Versteht sie nicht, dass es syntaktisch angehoben wurde, kann sie leicht zu dem Schluss kommen, dass der Satz eine Kontrollkonstraktion ist.^^ M. a. W. die semantischen Eigenschaften von Anhebung sind möglicherweise eine Bedingung, um epistemische MV-Sätze zu produzieren, während die syntaktischen Eigenschaften von Anhebung erst beim Verstehen von epistemischen MV-Sätzen beherrscht werden müssen. Neben Gawlitzek-Maiwalds und Ehrichs Langzeitstudien wurden einige experimentelle Untersuchungen zum Verstehen bzw. zur Produktion von Infinitivkonstraktionen durchgeführt, deren Ergebnisse hier kurz dargestellt werden sollen. Schaner-Wolles & Haider (1987) untersuchten experimentell den Zusammenhang zwischen Kognition und Spracherwerb. Sie führten zwei Verstehenstests mit 58 bzw. 37 Kindern zwischen 5;0 und 9;11 durch. Untersucht wurde das Verständnis von Reflexivpronomen, Pronomen, Kontrollbeziehungen mit PRO und nicht zuletzt von diversen Kombinationen aus diesen Elementen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass sogar die jüngste Grappe (5;56; 11) in mehr als 75% der Fälle PRO korrekt inteφretiert hat, solange der Testsatz nur eine Variable enthielt (Schaner-Wolles & Haider 1987:69, Tabelle 11). Zudem ließ sich weder ein signifikanter Unterschied zwischen den Altersklassen noch eine Korrelation zwi58 Im Alter von 2;8-2;9 nimmt die Anzahl von Subjektrealisierungen im Mittelfeld bei wollen kräftig zu, so dass der Unterschied verschwindet. 59 Man darf in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass können in Fähigkeitslesart ein Kontrollverb ist (s. S. 25).

116

4. Hypothesen zum MV-Erwerb

sehen kognitivem Niveau und Sprachentwicklung feststellen. Allerdings sank die Trefferquote aller Gruppen der untersuchten Kinder proportional mit der Zunahme der Anzahl von Variablen in den Testsätzen. Vor allem die Kombination PRO/Pronomen/Pronomen wurde kaum von mehr als 40% der ältesten Kinder verstanden (Schaner-Wolles & Haider 1987:71).^° Schaner-Wolles & Haider (1987:7Iff.) stellen auch fest, dass die Fehler, die die Kinder bei der Interpretation von PRO machten, vor allem von einer Übergeneralisierung von Subjektkontrolle und nicht von Linearitätsprinzipien wie das Minimal Distance Principle verursacht wurden (s. dazu Fn. 62). In einer nicht veröffentlichten Studie haben Rothweiler & Siebert-Ott (1988) (zitiert in Gawlitzek-Maiwald 1997:83f.)^' eine Elizitationsstudie mit sieben Kindern zwischen 5;6 und 7;3 durchgeführt. Die Autorinnen beobachteten u. a., dass alle Kinder problemlos sowohl Kontroll-Infinitivsätze — und dies praktisch ohne Fehler — als auch Anhebungsund Acl-Konstruktionen produzieren, die spontan kaum in Erscheinung treten.^^ 60 Getestet wurden Kombinationen wie in (i) (Schaner-Wolles & Haider 1987: 63): (i)

a. b.

Die Mutteri verspricht der Susij [PROi sie* zu ihrj ins Zelt zu lassen.] Die Mutterj bittet die Susii [PROi sie* zu ihrj ins Zelt zu lassen.]

Die Nicht-Koreferenz zwischen sie^ und Susij wurde vor dem Test nicht erklärt. Sie wurde den Kindern nur über die für den Test verwendeten Bilder suggeriert, so dass die Kinder möglicherweise von einer Koreferenz beider Elemente ausgingen. Wie Gawlitzek-Maiwald (1997:84, Fn. 24) zu Recht bemerkt, könnte diese Ambiguität, die bei der Testauswertung nicht berücksichtigt wurde, die Ergebnisse verfälscht haben. 61 Die nachfolgende Darstellung der Studie von Rothweiler & Siebert-Ott (1988) beruht ausschließlich auf Gawlitzek-Maiwalds Rezension. 62 Schanner-Wolles & Haiders und Rothweiler & Sieber-Otts Daten stimmen mit den englischen Daten zum Erwerb von Kontrolle und Anhebung überein. Diese zeigen, dass Kinder ab 4;0-5;0 über die syntaktische Kategorie PRO verfügen, obwohl noch regelmäßig Fehler auftreten. (Zum Erwerb von Kontrolle im Englischen, s. u. a. Chomsky 1969; Goodluck 1981; Goodluck & Behne 1992; Eisenberg & Caims 1994, zu anderen Sprachen s. Goodluck & Terzi 1997 und Goodluck et al. 2001.) Chomsky (1969) testet in ihrer Studie auch das Verstehen von adjektivischen Anhebungskonstruktionen wie in (i): (i)

Is the dolli easy to see ei? (dabei ist die Puppe blind)

Ihre Ergebnisse deuten sogar bei 10-Jährigen auf Schwierigkeiten hin, solche Sätze zu verstehen. Typischerweise wird (i) von Kindern so verstanden, dass die Puppe als das logische Subjekt des Satzes interpretiert wird. Chomsky führt diese Schwierigkeit auf drei Faktoren zurück: (a) Das Subjekt eines Verbs ist die nächstmögliche NP (Minimal Distance Principle), (b) die Wortabfolge ist immer kanonisch und (c) Kinder nehmen an, logisches und grammatisches Subjekt seien immer identisch. Die Faktoren (a-b) weisen auf Linearitätsbeschränkungen hin. Schaner-Wolles & Haider (1987) argumentieren, dass solche Beschränkungen für das Englische zwar noch Sinn haben können, jedoch für das Deutsche wegen seiner relativ freien Wortstellung unbrauchbar sind. Der dritte Faktor besagt nichts anderes, als dass Kinder bis 10;0 Anhebung noch nicht verstehen. Alternativ zu Chomskys syntaktischer Erklärung argumentieren einige Autoren, dass Chomskys Ergebnisse auf kognitive Faktoren zurückgeführt werden können (Cromer 1972; Cambon & Sinclair 1974), während Morsbach & Steel (1976) das von Chomsky verwendete experimentelle Design als problematisch ansehen (für eine Diskussion von Chomskys Ergebnissen s. Karmiloff-Smith 1986: 457f. und Bowerman 1979: 279).

4.5 Zusammenfassung

117

Die hier diskutierten Daten ergeben zwar nur ein sehr lückenhaftes Bild des Erwerbs von Kontrolle und Anhebung. Sie legen dennoch die Vermutung nahe, dass Kontrolle vor Anhebung erworben wird und dass zumindest das Verstehen von Anhebungskonstruktionen für Kinder besonders schwierig ist. Vor allem können sie per se die Hypothese nicht widerlegen, dass MV möglicherweise zunächst systematisch als Kontrollverben analysiert werden und dass eine solche Analyse Kinder daran hindern würde, MV eine epistemische Bedeutung zu geben. Im Gegenteil, die hier vorgestellten Befunde experimenteller Studien deuten vielmehr darauf hin, dass junge Kinder dazu neigen, das logische und das grammatische Subjekt als identisch zu betrachten. Dies entspräche genau der Vorhersage der hier vorgestellten Anhebungshypothese: (13) Die Anhebungshypothese: Voraussetzung für das Verstehen der epistemischen MV-Lesart ist, dass das grammatische MV-Subjekt nicht zugleich als sein logisches inteφretiert wird.

4.5

Zusammenfassung

Die dem empirischen Teil dieser Arbeit zugrunde liegenden Hypothesen zum Erwerb der epistemischen Lesart von können können wie folgt zusammengefasst werden. Zur Klärung der Frage, warum die epistemische MV-Lesart besonders spät erworben wird, wurden folgende Hypothesen vorgeschlagen: 1. Die Unentscheidbarkeits-Hypothese besagt, dass der Erwerb epistemischer Ausdrücke von den Fortschritten des Kindes in seiner kognitiven Entwicklung abhängt. Diesbezüglich gilt, dass epistemische Ausdrücke, die einen hohen Grad an epistemischer Unsicherheit ausdrücken, erst mit 8;0 verstanden werden, weil Kinder vor diesem Alter dazu neigen, epistemische Notwendigkeit zu übergeneralisieren. Sie sind noch nicht in der Lage, zuverlässig zu erkennen, wann sie nicht über genügend Evidenzen verfügen, um eine definitive Entscheidung über das (Nicht-) Bestehen eines Sachverhaltes zu treffen (epistemische Unentscheidbarkeit). 2. Die Implikatur-Hypothese begründet das späte Verstehen schwacher epistemischer Ausdrücke mit einer Neigung von Kindern unter 8;0-10;0, skalare Implikaturen nicht zu berücksichtigen. Zur Klärung der Frage, warum epistemische MV später erworben werden als ihre Systemkonkurrenten, wurden ebenfalls zwei Hypothesen vorgeschlagen: 3. Die Kontrast-Hypothese geht davon aus, dass Kinder aufgrund von Clarks Principle of Contrast und einigen Erwerbseinschränkungen (Homonymie-Verbot) über eine lange Periode hinweg annehmen, dass MV nur zirkumstantielle Notwendigkeit bzw. Möglichkeit ausdrücken. Sie fassen nur epistemische Adverbien und mentale Verben als Ausdrücke der Epistemizität auf.

118

4. Hypothesen zum MV-Erwerb

4. Die Anhebungshypothese führt den späten Erwerb der epistemischen MV-Lesart auf die syntaktischen Eigenschaften von MV-Sätzen zurück: Danach ist die epistemische Lesart erst zugänglich, wenn die Anhebungskonstruktion erworben wird. Die epistemischen MV-Konkurrenten können schneller erworben werden, weil sie ohne Kenntnisse von Anhebung erworben werden können. Es ist offensichtlich, dass diese Hypothesen jeweils nur notwendige, aber keine hinreichende Erwerbsbedingungen postulieren. Möglicherweise kann nur eine Kombination aus einigen (oder mehreren) dieser Hypothesen eine hinreichende Erklärung des Erwerbsverlaufs der epistemischen MV-Lesart liefern. Bevor jedoch die Gültigkeit dieser Hypothesen in den Kapiteln 6 und 7 йЬефгйп wird, werden im nächsten Kapitel einige wichtige methodologische Fragen diskutiert und die Aussagekraft des ausgewählten Testverfahrens йЬефгйп.

Kapitel 5

Methodologische Fragen Während in den vorausgehenden Kapiteln die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit, der Stand der Forschung und die verschiedenen Hypothesen zum Erwerb der epistemischen MV-Lesart ausführlich diskutiert wurden, eröffnet dieses Kapitel den empirischen Teil dieser Arbeit. Die in diesem und in den nächsten Kapiteln beschriebenen vier Experimente dienen dazu, die im vorherigen Kapitel besprochenen Hypothesen anhand von Verstehensexperimenten auf ihre Gültigkeit empirisch zu übeφrüfen. Die vier Experimente dieser Studie sind wie folgt aufgebaut: Das erste Experiment dient der Klärung wichtiger methodologischer Fragen und vor allem der Überprüfung, ob das gewählte Testverfahren überhaupt dazu geeignet ist, das Verstehen epistemischer können-Sätze experimentell zu untersuchen. Mit den zwei Experimenten des folgenden Kapitels wird die Gültigkeit der Unentscheidbarkeits- und derlmplikatur-Hypothese überprüft und mit den zwei letzten Experimenten in Kap. 7 die Gültigkeit der Kontrast- und der Anhebungshypothese.

5.1

Methodologische Vorüberlegungen

In diesem Abschnitt sollen die methodischen und methodologischen Überlegungen dargestellt werden, die dem empirischen Teil dieser Arbeit zugrunde liegen. Dabei soll insbesondere der Wert der experimentellen Datenerhebung betont werden. In Kap. 3 wurde festgestellt, dass epistemische MV zwar relativ früh produziert, jedoch möglicherweise erst im Grundschulalter vollständig verstanden werden. In Kap. 4 wurde anhand verschiedener Erwerbshypothesen versucht, die dem Erwerbsverlauf der epistemischen MV-Lesart zugrunde liegenden Faktoren zu erfassen. Bei dieser Diskussion wurde aber ein wichtiger methodologischer Aspekt nicht berücksichtigt, der ein großes Erklärungspotenzial mit sich trägt: Alle Daten, die belegen, dass die MV-Lesart früh erworben wird, stammen aus Langzeitstudien (also aus Кофога), während alle Daten experimenteller Art auf ein spätes Verstehen der epistemischen MV-Lesart hindeuten. Dieser Unterschied zwischen kindlicher Produktion einerseits und Perzeption epistemischer MV andererseits könnte also auch auf die Beschaffenheit des jeweiligen Datentyps zurück-

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5. Methodologische Fragen

zuführen und daher durch die Methode der Datenerhebung bedingt sein. Diese Frage soll in den nächsten Abschnitten kurz erörtert werden. Dabei wird der Schwerpunkt der Diskussion weniger auf die allgemeinen Vor- und Nachteile von Кофиз- bzw. experimentellen Daten gelegt, sondern vielmehr ganz besonders auf die Auswirkung dieser Vor- und Nachteile auf die Untersuchung des Erwerbs der epistemischen MV-Lesart.' Im Vergleich zur experimentellen Methode haben Langzeitstudien einige Vorteile: Zunächst kann die Sprachentwicklung sehr junger Kinder mit dieser Methode beobachtet werden, was in experimentellen Verstehensstudien aufgrund der Komplexität ihrer Aufgaben und der ungewöhnHchen Laborsituation nicht ohne Weiteres möglich ist. Daher sind Langzeitstudien das ideale Mittel, um den Anfang des Erwerbsprozesses zu untersuchen.^ Femer erlauben sie als einzige Methode die Beobachtung des Spracherwerbs in einer (fast) natürlichen Umgebung. Die kindlichen Äußerungen können dann immer eng in ihrem Äußerungskontext inteφretiert werden. In Bezug auf die epistemische MVLesart bringt die Einbettung der wissenschaftlichen Untersuchung in einem vielfältigen, stark ausdifferenzierten und dem Kind vertrauten Kontext einen weiteren wesentlichen Vorteil mit sich: Ob ein Sachverhalt von einem Sprecher als epistemisch unmöglich bzw. möglich oder sogar notwendig eingestuft wird, hängt in entscheidendem Maße von seiner Einschätzung der ihm zugänglichen Informationen über das Bestehen dieses Sachverhalts ab. Eine angemessene Verwendung eines epistemischen MV-Satzes hängt also grundsätzlich von einer Evaluation der im Äußerungskontext vorhandenen Informationen über den denotierten Sachverhalt ab. In diesem Sinne sind die Art, die Qualität und die Quantität der vorhandenen kontextuellen Information von grundlegender Bedeutung für den Gebrauch und das Verstehen epistemischer MV-Sätze. Da die Kinder in Langzeitstudien in ihrem Alltag aufgenommen werden, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass dabei Situationen auftreten, in denen die beobachteten Kinder ihr Unwissen über einen bestimmten Sachverhalt richtig einschätzen können und es mit einem epistemischen können (oder einem Systemkonkurrenten) dementsprechend zum Ausdruck bringen. Trotz der vielfältigen Vorteile sind Koφus-Studien zum Erwerb der epistemischen MV-Lesart jedoch grundsätzlich mit drei Hauptproblemen behaftet, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen. Zum ersten werden MV in ihrer epistemischen Lesart nur selten verwendet. KoφusStudien zur MV-Verwendung bei Erwachsenen zeigen, dass epistemische MV nur sehr selten auftreten: Wie Diewald (1999) und vor allem Ehrich (2004b) feststellen, ist der Anteil epistemisch deutbarer MV-Sätze in Кофога sehr gering: Ehrich (2004b) stellt in einer Stichprobe des COSMAS-Koφus z. B. fest, dass nur 8% aller MV-Vorkommen epistemisch zu deuten sind.^ Wenn also MV in epistemischer Lesart in den großen KorAllgemein zu den Vor- und Nachteilen longitudinaler und experimenteller Studien im Spracherwerb, s. Karmiloff-Smith (1986); Lust et al. (1987); Stromswold (1996); Gawlitzek-Maiwald (1997); Schulz (2003). Allgemein zu methodologischen Fragen in der Linguistik s. Labov (1972) und vor allem Schütze (1996). Da die meisten Кофога zu deutschen Kindern bei einem Alter von etwa 4;5 jedoch aufhören, sind sie leider meistens nicht dazu geeignet, den kompletten Erwerbsverlauf der epistemischen MV-Lesart zu rekonstruieren. Ab diesem Alter ist die Forschung daher fast ausschließlich auf experimentelle Daten angewiesen. Wie die Autorin selber bemerkt, besteht darüber hinaus das COSMAS-Korpus größtenteils aus Zei-

5.1 Methodologische Vorüberlegungen

121

pora der Erwachsenensprache nur selten vorkommen, dann ist zu erwarten, dass sie in den vergleichsweise kleinen Sammlungen kindlicher Äußerungen so gut wie nie auftreten werden, unabhängig davon, ob die Kinder die Form beherrschen oder nicht. Das für Korpus-Recherchen allgemein schwierige Problem der Wertung von selten bzw. nicht auftretenden Formen ist also im Bereich des MV-Erwerbs besonders schwierig zu behandeln. Die zu erwartende Seltenheit epistemischer MV in der Kindersprache führt bei den Autoren der in Kap. 3 besprochenen Untersuchungen zu folgenden zwei charakteristischen Schlussfolgerungen: (i) In einigen Arbeiten (Adamzik 1985; Ramge 1987) wird einfach angenommen, dass die epistemische MV-Lesart im untersuchten Zeitraum noch nicht erworben ist, weil sie einfach nicht zu belegen ist."* (ii) Die Seltenheit von MV in epistemischer Lesart kann aber auch zu einer umgekehrten Schlussfolgerung führen: Einigen Autoren reichen nur sehr wenige Belege epistemischer MV-Lesarten für die Annahme aus, die Form könne (mehr oder weniger) als erworben gelten (u. a. Wells 1979,1985; Ehrich 2004b,2005). So legt z.B. Wells (1979,1985) seinen Korpus-Untersuchungen als Erwerbskriterium zugrunde, dass eine MV-Form nur jeweils mindestens einmal bei mehr als 50% der untersuchten Kinder vorkommen muss, um als erworben zu gelten. Damit genügt also ein einziger Beleg einer epistemischen MV-Form dafür, dass vom betreffenden Kind angenommen wird, es würde die Form beherrschen. Dieses Kriterium ist zwar insofern legitim, als von vornherein angenommen werden muss, dass Kinder epistemische MV kaum produzieren werden, auch wenn sie diese Lesart beherrschen. Würde man ein höheres Kriterium in Betracht ziehen, würde man schnell mit dem Problem konfrontiert werden, dass das gewählte Kriterium aufgrund der Seltenheit der epistemischen MV-Lesart kaum zu erreichen ist. Nichtsdestotrotz kann diese Haltung dazu führen, dass der Erwerbsbeginn epistemischer MV-Formen in longitudinalen Studien zu früh angesetzt wird. Es bleibt also grundsätzlich fraglich, inwieweit feste fundierte Erkenntnisse auf der Basis weniger Belege als aussagekräftig betrachtet werden können. Das zweite Problem von Koφus-Recherchen zum Erwerb der epistemischen MV-Lesart liegt in der Inteφretierbarkeit der wenigen Belege, die überhaupt gefunden werden. Wie Stromswold (1996:26) feststellt, „sometimes the fact that children are able to say whatever they want makes it difficult for researcher to figure out what they actually say." Diese von Stromswold festgestellte allgemeine Schwierigkeit, Korpus-Belege im Spracherwerb zu interpretieren, ist im Fall der MV insofern besonders akut, als diese — zumindest im Deutschen — stets polyfunktional sind. Da die Zugehörigkeit einer MV-Form tungsartikeln. Es ist also wahrscheinlich, dass die Anzahl epistemischer Belege in diesem Кофив deutlich höher ist als z. B. in der Alltagssprache. In ihrer Analyse zum Erwerb der Infinitivkomplementation (s. Abs.4.4, S. III) steht GawlitzekMaiwald (1997) vor demselben Problem: Sie konunt zu dem Schluss, dass Anhebung bei MV mit 4;0 noch nicht erworben ist, weil Anhebungsvollverben (außer den MV, die sie nicht zu den Vollverben zählt) im Korpus noch nicht belegt sind. Dabei wäre eigentlich eher zu erwarten, dass Anhebung zuerst bei den in der Erwachsenensprache sehr häufig auftretenden MV erscheinen sollte und dann auf seltenere Verben wie scheinen ausgedehnt wird. Auch in ihrer Arbeit zeigt sich, wie problematisch es ist, zuverlässige Schlüsse zu ziehen, die sich auf das Nicht-Vorhandensein von Strukturen bzw. Formen in Кофога stützen.

122

5. Methodologische

Fragen

zu einem Redehintergrund definitionsgemäß nur pragmatisch feststellbar ist, verlangt die Analyse von MV-Belegen sehr genaue Kenntnisse über den Kontext, in der die Äußerungen gemacht wurden. Dies ist aber oft nur möglich, wenn der Forscher über Video- bzw. Audio-Aufnahmen verfügt, was z. B. in den auf der CHILDES-Datenbank^ basierten Studien nicht der Fall ist (auch wenn die СШЬОЕ8-Кофога oft Anmerkungen zum Äußerungskontext beinhalten).^ Obwohl eine genaue Rekonstruktion des Äußerungskontextes sehr hilfreich ist, reicht sie trotzdem oft nicht aus, zwischen zwei potenziellen Redehintergründen einer MV-Äußerung zu unterscheiden, wie folgendes Beispiel aus Bassano (1996) verdeutlicht (= Bsp. (18), S. 52): (1)

ça c'est vert, ça doit aller là das das-ist grün, das muss gehen dahin das ist grün. Es muss da rein. a. b.

Nach allem was ich w e i ß , . . . Nach den Regeln dieses Spiels . . .

(epistemisch) (deontisch)

Bassano (1996) zählt diese Äußerung zu den epistemischen (la). Es ist jedoch völlig unklar, ob das Kind mit (1) nicht vielmehr auf eine Spielregel hindeuten wollte, die verlangt, dass Objekte einer bestimmten Farbe in das entsprechende Loch geworfen werden müssen (Ib). Ob das Kind nun (1) epistemisch oder zirkumstantiell gemeint hat, lässt sich wahrscheinlich nicht einmal über den Kontext rekonstruieren, weil das Wissen über die Spielregeln (Ib) die Grundlage für den epistemischen Schluss der Notwendigkeit in (la) bildet.^ 5 6

Zum CHILDES-System s. McWhinney (2000) In Stromswolds Worten (1996: 26): ,3ecause transcripts of spontaneous speech provide only limited information about the phonetic form or nonlinguistic context of utterances, the problem of interpreting children's utterances is magnified if the person analyzing the transcripts does not have access to videotapes or audiotapes of the transcribed sessions."

7

Diesbezüglich bemerkt Holl (2006: lOlf.), dass das Problem der Interpretierbarkeit von MV-Äußerungen vor allem bei können ausgeprägt ist, weil epistemische können-Sätze nur schwer von dispositionellen (außer in der Fähigkeitslesart) zu unterscheiden sind, wie (i) belegt (aus Holl 2006: 101): (i)

Hier können Hortensien wachsen.

Kratzer (1991:646) folgend argumentiert Holl (2006:102), dass eine epistemische Interpretation von (i) meistens durch eine Inferenz entsteht, „die auf theoretische Überlegungen g e e n d e t ist, die für die dispositionelle wesentlich sind. [... ] Sowohl für die dispositionelle als auch für die epistemische Aussage brauchen wir folglich eine grundlegende Theorie über die Wachstumbedingungen von Hortensien." M. a. W. die „botanische Disposition" des Ortes bestimmt im Wesentlichen, ob ein Sprecher epistemisch annehmen kann, dass Hortensien an diesem Ort wachsen. Ähnliche Überlegungen zur Nähe von dispositionellem und epistemischem können finden sich auch in Diewald (1999: 277).

5.1 Methodologische Vorüberlegungen

123

Das dritte Problem mit Korpus-Studien zum Erwerb der epistemischen MV-Lesart liegt darin, dass einige der in Kap. 4 vorgeschlagenen Hypothesen anhand dieses Datentyps kaum йЬефгй£Ьаг sind. Dies gilt in erster Linie für die Unentscheidbarkeits-Hypothese: Korpus-Daten können definitionsgemäß nur sprachliche Hinweise auf die kognitive Entwicklung des Kindes liefern, so dass die Entwicklung der Fähigkeit, Inferenzen zu ziehen, mit dieser Methode nur über die Verwendung epistemischer Ausdrücke feststellbar ist. Auch wenn das Auftreten verschiedener epistemischer Ausdrücke als Indiz gelten kann, dass eine ToM erworben wird (s. Ehrich 2004b, 2005), sagt dieses erste Auftreten nur wenig darüber, in welchem Stadium der Entwicklung einer ToM sich das Kind gerade befindet. Eine Einsicht in die nicht-sprachliche Kognition des Kindes bleibt КофизUntersuchungen definitionsgemäß immer verwehrt. Darüber hinaus können Produktionsdaten zwischen den Voraussagen der Unentscheidbarkeits- und der Implikatur-Hypothese nicht unterscheiden: Wenn in einer Koφus-Studie beobachtet wird, dass ein Kind können und vielleicht systematisch mit Fällen assoziiert, die eigentlich müssen oder sicherlich verlangen würden, bleibt es unmöglich, diese Beobachtung einer der Hypothesen eindeutig zuzuordnen: Sie lässt sich genauso mit der Unentscheidbarkeits- (das Kind kann nicht zwischen Inferenzen der epistemischen Notwendigkeit und Möglichkeit unterscheiden) als auch mit der Implikatur-Hypothese (das Kind vollzieht die skalare Implikatur nicht) erklären. Diese drei Probleme lassen sich dagegen in experimentellen Verstehensstudien relativ einfach umgehen: (i) Das Nicht-Vorhandensein bestimmter MV-Formen spielt in experimentellen Verstehensstudien keine entscheidende Rolle. Durch die freie Auswahl der Testsätze lässt sich das Verstehen aller möglichen epistemischen MV-Formen ohne Weiteres testen.^ (ii) Durch die Wahl geeigneter experimenteller Kontexte kann darüber hinaus festgestellt werden, ob ein vorgegebener Testsatz tatsächlich epistemisch verstanden wird oder ob er von den Kindern zirkumstantiell umgedeutet wird. Dadurch wird das Problem der Inteφretierbarkeit von MV-Sätzen weitgehend gelöst. Anstatt — wie in KoφusStudien — zu versuchen, kindliche MV-Sätze richtig zu inteφretieren, kann in experimentellen Studien „der Spieß umgedreht werden" : Hier wird vom Kind verlangt, vorgegebene Sätze zu inteφretieren, und durch seine Reaktion lässt sich eindeutig feststellen, wie der vorgegebene Satz inteφretiert wurde.^ In diesem Zusammenhang ist auch die freie Auswahl der Testsätze von großem Vorteil: Das Verstehen von nicht-mehrdeutigen zirkumstantiellen bzw. epistemischen MV-Sätzen wie in (2) macht es möglich, das ,Jnteφretationsproblem" potenziell mehrdeutiger MV-Sätze einfach zu umgehen: (2)

a. Armstrong konnte das Plateau de Beille vor Ullrich erreichen. b. Es kann sein, dass Armstrong das Plateau de Beille vor Ullrich erreicht hat.

(nur zirk.) (nur epist.)

Es ist jedoch immer davon auszugehen, dass sehen vorkommende Formen schwieriger zu verstehen sind als häufig vorkommende Formen. Das Interpretierbarkeitsproblem von MV-Äußerungen ist mit der experimentellen Methode prinzipiell lösbar. Dass es vom Design der Experimente her nicht ohne Weiteres zu lösen ist, wird die Diskussion hier unten zeigen.

124

5. Methodologische Fragen

(iii) Durch Experimente können alle in Kap. 4 angeführten Hypothesen auf ihre Gültigkeit hin йЬефгйп werden, da es bei Experimenten immer möglich ist, verschiedene Aufgaben zu kombinieren und entsprechende Korrelationen zu ermitteln: So ist es ohne Weiteres möglich, eine Aufgabe zum Verstehen epistemischer MV sowohl mit einer nichtsprachlichen Aufgabe zum Verstehen von Inferenzen als auch mit einer Aufgabe zum Verstehen skalarer Implikaturen zu kombinieren, um die Gültigkeit der jeweiligen Hypothese zu übeφrüfen. Aus diesen Gründen stützt sich die hier vorliegende Studie ausschließlich auf experimentelle Daten. Nur durch diese Methode lassen sich die Hauptziele dieser Arbeit sinnvoll realisieren: Nämlich die Ermittlung der linguistischen und kognitiven Voraussetzungen für den Erwerb der epistemischen MV-Lesart. Obwohl bei der Untersuchung des MV-Erwerbs die experimentelle Methode deutliche Vorteile im Vergleich zu Korpus-Recherchen aufweist, ist auch sie nicht frei von potenziellen Problemen. Zum einen bietet die experimentelle Situation einen relativ armen Kontext für die verwendeten Sätze. Das Kind verfügt nur über geringe und sehr gezielte Informationen, die es genau verstehen muss, um überhaupt eine Chance zu haben, über den Grad an Epistemizität der verwendeten Sätze urteilen zu können. Karmiloff-Smith (1979) nennt dieses Phänomen das „experimentelle Dilemma" : Wenn einerseits ein Experiment genügend extra-linguistische Information bietet, kann sich der Experimentator nicht mehr sicher sein, welches Phänomen er mit seinem Experiment tatsächlich untersucht. Andererseits, wenn er diese extra-linguistische Information stark reduziert, kann er wiederum nicht mehr ausschließen, dass das Verhalten der Kinder nicht auf die Laborsituation zurückzuführen ist. Wenn man nun bedenkt, dass die Hauptaufgabe beim Verstehen epistemischer Ausdrücke darin liegt, die vorhandene kontextuelle Information korrekt zu interpretieren, ist es wenig erstaunlich, dass die in Experimenten stark reduzierte Menge an extra-linguistischer Information die Reaktion von Kindern negativ beeinflussen könnte. Eine Folge daraus wäre, dass die Fähigkeit von Kindern, epistemische Unentscheidbarkeit zu erkennen, in Experimenten z. T. maskiert wird. Es ist also davon auszugehen, dass Verstehensexperimente eher konservative Ergebnisse liefern in Bezug auf den Erwerb epistemischer Ausdrücke. Dies könnte erklären, warum die epistemische Lesart in Verstehensexperimenten später verstanden wird, als Produktionsdaten es vermuten ließen. 10 I. Allg. wird angenommen, dass Sprachverstehen und Sprachproduktion nicht symmetrisch sind, sondern dass das Verstehen der Produktion vorausgehen muss (Clark 1993: 245f.). Diese Annahme, die gleichermaßen für die Erwachsenen- als auch für die Kindersprache gilt, hat ein logisches Fundament: Ein Sprecher kann im Grunde nur über das reden, wovon er eine Vorstellung hat. Clark (1993: 246) argumentiert, dass diese Asymmetrie eine besondere und entscheidende Rolle in der Steuerung des Spracherwerbs spielt, weil ,4t allows children to work at leisure on their own production and to perfect it without having to rely directly on adult speakers for examples of the target words." M. a. W. es ist für die Kinder unabdingbar, eine Vorstellung der Bedeutung der Wörter zu haben, die sie benutzen, sei es nur, um ihre eigene Produktion zu kontrollieren (im Sinne von Levelts 1989 monitoring) oder sei es nur, um Diskrepanzen zwischen ihrer Produktion und den Wortbedeutungen zu überwinden, die sie über Sprachverstehen erworben haben. Obwohl diese Asymmetrie im Spracherwerb weit verbreitet und dementsprechend gut dokumentiert ist (s. u. a. Layton et al. 1979; Harris

5.1 Methodologische Vorüberlegungen

125

Zum anderen wurde an den in Kap. 3 vorgestellten experimentellen Studien vor allem kritisiert, dass sich die gestellten Aufgaben zum Verstehen der epistemischen MV-Lesart ohne Weiteres lösen lassen, auch wenn die eigentlich epistemischen Testsätze zirkumstantiell umgedeutet werden (s. dazu vor allem die Kritik am Experiment von Hirst & Weil 1982, S.58ff.). Die größte methodische Schwierigkeit bei experimentellen Untersuchungen zum Erwerb der epistemischen MV besteht also darin, Testverfahren zu entwickeln, in denen die untersuchten Kinder ein deutlich unterschiedliches Verhalten zeigen, je nachdem ob der verwendete Testsatz epistemisch oder zirkumstantiell interpretiert wird. Gelingt dies nicht, so kehrt das oben erwähnte Problem der Interpretierbarkeit von MV-Sätzen zurück: Aus dem Verhalten des untersuchten Kindes lässt sich dann nicht mehr einwandfrei festeilen, ob der Testsatz epistemisch oder zirkumstantiell verstanden wurde. Die Auswahl eines geeigneten Testverfahrens zur Übeφrüfung des Verstehens epistemischer können-Sätze ist nicht einfach. In den meisten experimentellen Studien zum Erwerb epistemischer Ausdrücke wird angenommen, dass schwach epistemische Ausdrücke erst dann korrekt verstanden werden, wenn sie einwandfrei mit einem Kontext assoziiert werden, in dem die Versuchsperson nicht sicher sein kann, ob der denotierte Sachverhalt wirklich besteht. Bei diesem Kriterium darf man aber eines nicht vergessen: Der hier erwähnte Kontext muss immer so beschaffen sein, dass der denotierte Sachverhalt im zirkumstantiellen Sinne bestehen könnte.'' Kann dagegen das Bestehen des in Rede stehenden Sachverhalts ausgeschlossen werden, so ist der Kontext nicht mehr geeignet, mit einem epistemischen Testsatz assoziiert zu werden. M. a. W. zirkumstantielle Möglichkeit ist immer eine Voraussetzung für epistemische Möglichkeit.'^ Jeder Kontext also, der zu einem epistemischen können-Satz passt, muss auch immer mit einer zirkumstantiellen Inteφretation dieses Satzes verträglich sein. Diese enge kontextuelle Beziehung zwischen epistemischer und zirkumstantieller Möglichkeit — ein Sachverhalt kann erst dann für epistemisch möglich gehalten werden, wenn er zirkumstantiell für möglich gehalten wird — hat eine fatale Folge: Allein aus der Verbindung eines epistemischen können-Satzes mit einem epistemisch unsicheren Kontext kann nicht der Schluss gezogen werden, dass der können-Satz tatsächlich epistemisch verstanden wurde, da der dargestellte Kontext mit einer zirkumstantiellen Interpretation des Satzes immer genauso verträglich ist. In dieser Verbindung zwischen Kontext und Satzinterpretation liegt der Grund, warum die meisten Untersuchungen zum Erwerb epistemischer MV-Lesart keine eindeutigen Schlüsse auf das Verstehen epistemischer MV-Sätze erlauben. et al. 1995), wurden neben dem MV-Erwerb mehrere Ausnahmen zu dieser Regel beobachtet. So werden z. B. von Kindern Determinierer (Karmiloff-Smith 1979), Personalpronomen (Chiat 1986), Adverbialkonjunktionen (French & Nelson 1985; French 1988) korrekt verwendet, lange bevor sie eine zuverlässige Kompetenz zeigen, deren Bedeutung in Experimenten zu verstehen. Diese Ausnahmen werden oft auf Schwierigkeiten mit der Laborsituation zurückgeführt (French & Nelson 1985; French 1988). 11 Die in Fn. 7 (S. 122) besprochene Nähe der dispositionellen und epistemischen Lesart von könnenSätzen stellt also ein schwieriges Problem auch für die experimentelle Methode dar. 12 Diese Verbindung ist aber nicht logisch zu verstehen, sondern nur psychologisch. Natürlich kann eine Person — epistemisch gesehen — einen Sachverhalt für möglich halten, obwohl dieser in Wirklichkeit — also zirkumstantiell gesehen — unmöglich ist.

126

5. Methodologische Fragen

Die Hauptschwierigkeit, die es methodologisch zu überwinden gilt, liegt also darin, ein Testverfahren zu entwickeln, das dieser besonderen Verbindung zwischen epistemischer und zirkumstantieller Interpretation von Können-Sätzen Rechnung trägt und es erlaubt, genauer als in der bisherigen Forschung zu bestimmen, ab wann Kinder in der Lage sind, die epistemische Lesart von können korrekt zu verstehen. Im Folgenden werden die Ergebnisse eines Experiments dargestellt, das zum Hauptziel hatte, zu überprüfen, ob das Picture 5e/ecííon-Verfahren dazu geeignet ist, das hier besprochene methodologische Problem zu überwinden.

5.2

Experiment 1 : , 3 s kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist."

Die hier angeführten methodologischen Überlegungen haben einen entscheidenden Einfluss auf den Aufbau des empirischen Teils dieser Arbeit. Das folgende Experiment widmete sich — vor allem durch die Auswahl der verwendeten Testsätze (s. hier unten) — in erster Linie der Klärung der im vorherigen Abschnitt diskutierten methodologischen Fragen. Darüber hinaus konnten in diesem Experiment wertvolle Hinweise zur Klärung der Hauptfragestellung dieser Arbeit gewonnen werden, nämlich welche der in Kap. 4 angeführten Faktoren den Erwerbsverlauf der epistemischen MV-Lesart entscheidend beeinflussen.

5.2.1

Methode

Das Experiment wurde nach dem Picture 5e/eci/on-Verfahren durchgeführt. Bei diesem Verfahren werden dem Teilnehmer zwei (oder mehr) Bilder zur Auswahl gestellt. Das Ziel der Aufgabe ist es, das richtige Bild mit Hilfe eines vorgegebenen Testsatzes auszuwählen. Wie das Verfahren im Rahmen einer Untersuchung zum Verstehen der epistemischen Lesart von können eingesetzt werden kann, wird im folgenden Abschnitt ausführlich dargestellt. Testsätze Die Auswahl der syntaktischen Form der Können-Testsätze in diesem Experiment wurde vor allem durch die methodologischen Fragestellungen bedingt, die in diesem Experiment verfolgt wurden. Diesbezüglich war es vor allem wichtig, solche können-Sätze zu verwenden, die entweder nur eine epistemische oder nur eine zirkumstantielle Bedeutung haben. Vor allem die Auswahl rein zirkumstantieller können-Sätze, deren Form als erworben gelten kann, erlaubte es zu übeφrüfen, wie die getesteten Kinder im Rahmen des ausgewählten Testverfahrens reagieren würden, wenn sie einen können-Satz zirkumstantiell inteφretiert hatten. Zeigten die Kinder dann eine ähnliche Reaktion bei rein epistemischen Können-Sätzen, so ließe sich daraus schließen, dass die Kinder diese Sätze

5.2 Experiment 1 : ,Ms kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist. "

127

unkorrekterweise zirkumstantiell interpretiert hatten. Erst wenn sie je nach Satztyp eine unterschiedHche Reaktion zeigen würden, konnte angenommen werden, dass sie die epistemische können-Lesan verstanden hatten. Um zu kontrollieren, wie Kinder im Experiment reagieren, wenn sie können-Sätze zirkumstantiell inteφretieren, wurden Sätze wie (3) herangezogen: (3)

Der Junge konnte ins Haus gehen.

Diese Form hatte zwei große Vorteile: Zum einem ist diese Form nur zirkumstantiell interpretierbar, zum anderen kommt sie bekannterweise bei 6-Jährigen regelmäßig vor. Es war auf jeden Fall zu erwarten, dass Sätze wie (3) ohne Weiteres richtig verstanden würden. Die im Experiment verwendeten epistemischen können-Sätze hatten die Form es kann sein, dass mit einer Ergänzung im Perfekt wie in (4): (4)

Es kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist.

{es kann sein, dass+peri.)

Diese Konstruktion wurde aus den unter 2.4 (S. 3 If.) erwähnten Gründen gewählt: Erstens erzwingt sie eine epistemische Interpretation des MV — d. h. können-Sätze in dieser Form sind nicht polyfunktional — und zweitens ist diese Konstruktion syntaktisch sehr transparent für die epistemische Lesart: (i) Die unpersönliche MV-Konstruktion zeigt deutlich, dass das MV hier kein semantisches bzw. thematisches Subjekt selegiert. Vor allem erlaubt diese Konstruktion keine Interpretation, in der sich die ausgedrückte Möglichkeit direkt auf das Subjekt der eingebetteten Proposition bezieht. Dies erschwert eine zirkumstantielle Deutung des Satzes erheblich, (ii) Die Skopusverhältnisse an der Oberflächenstruktur sind leicht erkennbar: Das MV ist syntaktisch getrennt von der Proposition, die den eigentlichen Sachverhalt ausdrückt, und nimmt Skopus über sie. (iii) Die einfache iem-Ergänzung legt auch eine epistemische Deutung nahe, (iv) Diese Konstruktion ist nur epistemisch zu verstehen, weil die denotierte Situation eindeutig in der Vergangenheit liegt. Wie schon erwähnt, diente die Auswahl dieser epistemischen Ä:önnen-Konstraktion vor allem dazu, die ausgewählte Testmethode auf ihre Aussagekraft hin zu überprüfen. Daher wurde in Kauf genommen, dass diese können-Sätze möglicherweise aus formalen Gründen (syntaktische Komplexität und vor allem die unterschiedlichen Tempusformen zwischen Haupt- und Nebensatz sowie die daraus folgende Komplexität bei der Berechnung der Ereignisabfolge) schwieriger zu verstehen sind als einfache können-Sätze im Präsens und mit einfacher ie/n-Ergänzung wie etwa in Es kann sein, dass der Junge im Haus ist. Solche Sätze im Präsens haben aber den Nachteil, grundsätzlich beide Lesarten zuzulassen, was in diesem Experiment unbedingt vermieden werden sollte. Die Auswahl dieser zwei fcönnen-Konstruktionen hatte den entscheidenden Vorteil, einen Vergleich zwischen rein epistemischen (4) und rein zirkumstantiellen (3) könnenKonstraktionen zu ermöglichen. Damit konnte genau überprüft werden, ob die ausgewählte Testmethode geeignet war, zwischen der Reaktion der Kinder auf epistemische bzw. zirkumstantielle Sätze zu unterscheiden (s. dazu hier unten). 13 Das Verstehen dieser Struktur wird jedoch in Exp. 4 getestet.

128

5. Methodologische Fragen

Obwohl dieses Experiment in erster Linie der föärung methodologischer Fragen dienen sollte, konnten durch die Verwendung von Vergleichskonstruktionen einige der in Kap. 4 angeführten Hypothesen йЬефгйп werden. Als Vergleichskonstraktion zu den epistemischen Können-Sätzen wurden auch Testsätze mit vielleicht und scheinen herangezogen: (5)

a. Der Junge ist vielleicht ins Haus gegangen. b. Es scheint, dass der Junge ins Haus gegangen ist.

(es scheint, dass+peri.)

Das Satzadverb vielleicht wurde deshalb gewählt, weil es mit dem epistemischen können insofern vergleichbar ist, als beide Ausdrücke in etwa den gleichen Grad an epistemischer Unsicherheit beim Sprecher ausdrücken."' Vielleicht wurde aber auch deshalb gewählt, weil es schon sehr früh im kindlichen Lexikon auftritt (s. dazu Kap. 3). Die scheinenKonstraktion hat den Vorteil einer ähnlichen syntaktischen Komplexität wie die herangezogene epistemische tónnen-Konstruktion. Darüber hinaus ist scheinen im Unterschied zu können nicht polyfunktional.Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass scheinen im Unterschied zu vielleicht und können einen deutlich höheren Grad an epistemischer Sicherheit ausdrückt. Es wurde also erwartet, dass die untersuchten Kinder keinen Unterschied zwischen beiden fcönnen-Konstraktionen machen würden, wenn sie nicht in der Lage wären, können epistemisch zu verstehen. Eine zweite Erwartung des Experiments war, dass Kinder die Sätze mit vielleicht und scheinen besser verstehen würden als die epistemischen könnenSätze, wenn die MV-Polyfunktionalität (Kontrast-Hypothese) den Erwerb der epistemischen MV-Lesart tatsächlich erschweren sollte, weil letztere Lexeme nicht polyfunktional sind. Die erwarteten Ergebnisse dieses Experiments können dagegen kaum dazu dienen, die Anhebungshypothese zu überprüfen, weil die ausgewählte epistemische können-Kon14 Hier wird keinesfalls die Behauptung aufgestellt, dass vielleicht und können die gleiche Semantik aufweisen. Das epistemische können besitzt z. B. einen inferenziellen Charakter, der von vielleicht nicht geteilt wird (s. dazu die Diskussion auf S. 28ff.). Dieser inferenzielle Charakter ist jedoch nicht direkt Gegenstand dieser Untersuchung. In diesem Experiment wird ledighch davon ausgegangen, dass die untersuchten fönder können mit Epistemizität verbinden und nicht mit Zirkumstantialität, wenn sie den Ausdruck mit epistemischer bzw. Sprecher-Unsicherheit verbinden. Es wird also ledighch davon ausgegangen, dass ein korrektes Verständnis beider Ausdrücke zum selben Verhalten seitens der Kinder im Rahmen dieses Experiments führen sollte. 15 Diese Feststellung gilt aber nur mit Einschränkungen: Scheinen ist auch mit mehreren Bedeutungen belegt: Als intransitives Verb hat es die Bedeutung von „strahlen" oder „leuchten" (ia-b): (i)

a. b.

Die Sonne scheint, Jan scheint.

(ia) ist unproblematisch, (ib) ist nur möghch, wenn scheinen im übertragenen Sinne verstanden wird (Gawlitzek-Maiwald 1997:32). Wichtig zu bemerken ist, dass sich die zwei Bedeutungsvarianten von scheinen syntaktisch voneinander stark unterscheiden, so dass von Polyfunktionalität nicht im selben Maße wie für können geredet werden kann. Im Anschluss an Gawlitzek-Maiwald (1997: 32) nehme ich aus diesem Grund an, dass es sich hierbei vielmehr um zwei verschiedene Verben handelt.

5.2 Experiment 1: „Es kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist. "

129

struktion wahrscheinlich auch ohne Kenntnisse der syntaktischen Eigenschaften von Anhebung korrekt inteφretiert werden kann.'^ Ob Kinder Anhebung beherrschen oder nicht, scheint also keine wesentliche Rolle beim Verstehen der Sätze in (4) und (5b) zu spielen. Auch die Unentscheidbarkeits- und die Implikatur-Hypothese können in diesem Experiment nicht direkt йЬефгйп werden, weil sich die ausgewählte epistemische könnenKonstruktion in dieser Hinsicht nicht von ihren Systemkonkurrenten unterscheidet. Ein potenzielles Problem bei der Auswahl der Konstruktionen (4) und (5a) lag in ihrer unterschiedlichen syntaktischen Komplexität. Die vielleicht-S'átze sind einfache Hauptsätze, während die epistemischen können- und die scheinen-Sätze aus einem Matrixsatz und einem eingebetteten untergeordneten Satz bestehen. Es könnte also sein, dass Kinder mehr Schwierigkeiten haben, die Konstruktionen (4) und (5b) korrekt zu interpretieren als (5a), wenn sie einige Aspekte der Subordination noch nicht beherrschen.'^ Hopmann & Maratsos (1978) beobachten, dass 3-Jährige dazu neigen, den Wahrheitswert finiter eingebetteter Sätze unabhängig vom Wahrheitswert des Matrixsatzes zu interpretieren, wenn diese prinzipiell selbstständig sein können. Diese Tendenz wird Complement-Only Strategy (Abbeduto & Rosenberg 1985:623) genannt. Eine ähnliche Tendenz kann Bassano (1985a: 424) noch bei 4- bis 5-Jährigen feststellen. Die Anwendung der Complement Only Strategy könnte also dazu führen, dass die hier getesteten Kinder den Wahrheitswert des mit können epistemisch modalisierten Matrixprädikats in (4) einfach systematisch ignorieren und daher keinen Unterschied zwischen (4) und (6) machen: (6)

Der Junge ist ins Haus gegangen.

Um den Effekt einer möglichen Anwendung der Complement Only Strategy bei 6- bis 9-Jährigen zu erfassen, wurde ein Kontrollexperiment mit einer zweiten Gruppe von Kindern und folgenden Satztypen durchgeführt: (7)

a. Es ist wahrscheinhch, dass der Junge ins Haus gegangen ist. b. Der Junge ist wahrscheinlich ins Haus gegangen.

Die Complement Only Strategy müsste dazu führen, dass der epistemische Charakter von (7a) vollkommen ignoriert wird, während dies bei (7b) nicht der Fall sein sollte. Kinder, die die Complement Only Strategy systematisch anwenden, sollten also (7b) deutUch besser verstehen als (7a). Vorgehen Das Experiment wurde nach dem Picture Verfahren durchgeführt. Den Kindern wurden zwei Bildergeschichten gleichzeitig gezeigt. Jede Bildergeschichte bestand aus zwei Bildern. 16 In (4) wird das Subjekt des eingebetteten Satzes nicht angehoben, so dass es für die Kinder klar sein sollte, von welchem Verb es selegiert wird. 17 Da im Experiment nur Kinder zwischen sechs und neun Jahren getestet wurden, gehe ich davon aus, dass zumindest die syntaktischen Aspekte der Subordination als erworben gelten können (zum Erwerb der syntaktischen Aspekte der finiten Subordination s. u. a. Rothweiler 1993 und d'Avis & Gretsch 1994).

130

5. Methodologische Fragen

E В^

\

\

Abb. Ib: Die .unsichere Geschichte'

Abbildung 1: Exp. 1: Bildgeschichten für den Testsatz Es kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist

Die erste Geschichte zeigte im ersten Bild einen Jungen beim Vollzug einer Handlung. Am Ende der Geschichte war im zweiten Bild immer das Ergebnis der Handlung zu sehen. Diese Geschichte wird im Folgenden die ,sichere Geschichte' genannt. In Bezug auf die Beispielsätze (4) und (5a) stellte die .sichere Geschichte' dar, wie ein Junge auf ein Haus zugeht und am Ende aus dem Haus herausschaut, also ins Haus gegangen ist (s. Abb. la). Die zweite Geschichte — die so genannte .unsichere Geschichte' — zeigte im ersten Bild dieselbe Handlung wie die .sichere Geschichte'. Das zweite Bild ließ jedoch offen, ob der Junge die Handlung wirklich zu Ende gebracht hatte oder nicht. Im Fall unserer Beispiel-Geschichte war es am Ende der .unsicheren Geschichte' also unmöglich zu wissen, ob der Junge tatsächlich ins Haus gegangen war (s. Abb. Ib). Das Picture 5eZecíion-Verfahren wurde anderen Testmethoden vorgezogen, weil es ermöglicht, dass die Teilnehmer beide Geschichten gleichzeitig anschauen und sie leichter vergleichen können. Dadurch wurde der epistemisch unentscheidbare Charakter der .unsicheren Ge-

5.2 Experiment 1 :

kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist. "

131

schichte' möglicherweise leichter erkennbar.'^ Damit die Teilnehmer beide Geschichten besser voneinander unterscheiden konnten, hatten die Jungen jeweils eine andere Haarfarbe. Das Experiment wurde den Teilnehmern als Ratespiel vorgestellt. Ihnen wurden dann die zwei Bildergeschichten vorgelegt: Eine links von ihnen und die andere rechts, aber immer deutlich voneinander getrennt, so dass kaum Raum für Verwechslungen bestand. Der erste Versuch wurde ihnen wie folgt vorgestellt: „Wir werden jetzt ein Ratespiel gemeinsam spielen. Pass auf! Ich zeige Dir, wie es geht. Schau! Ich zeige Dir immer zwei verschiedene Bildergeschichten gleichzeitig. Wie Du sehen kannst, hat jede Geschichte zwei Bilder. Beide Geschichten sind über einen Jungen. Wie Du aus den zwei Bildern hier sehen kannst, ist die erste Geschichte über DEN Jungen mit blondem/braunem Haar. Und, wie Du auf den zwei Bildern auf der anderen Seite sehen kannst, ist die andere Geschichte über DEN Jungen mit braunem/blondem Haar. Schau bitte beide Geschichten sehr genau an! Wenn Du dann bereit bist, werde ich Dir eine Frage stellen und Du musst dann raten, welche der Geschichten die richtige Antwort auf meine Frage ist. Du musst aber genau zuhören, was ich Dir sage." Den Teilnehmern wurde genug Zeit gegeben, sich beide Geschichten genau anzuschauen. Nachdem sie ein Zeichen gegeben hatten, dass sie bereit waren, mit dem Ratespiel zu beginnen, stellte der Experimentator folgende Frage: „Von welcher Geschichte spreche ich, wenn ich sage:...". An dieser Stelle wurde der Testsatz eingeführt. Die Teilnehmer mussten also eine der Geschichten auswählen und anschließend ihre Wahl begründen. Die Wahl der Teilnehmer wurde auf einem Fragebogen von einem zweiten Experimentator notiert und die Begründung auf Tonband aufgenommen, um die spätere Auswertung zu vereinfachen. Es wurde erwartet, dass die Teilnehmer die .unsichere Geschichte' wählen, wenn ein epistemischer Testsatz vorgesprochen wurde, weil die ,sichere Geschichte' mit dem epistemisch unsicheren Charakter des Testsatzes nicht übereinstimmt. Es wurde im Anschluss auch eine entsprechende Begründung von dem Teilnehmer — etwa in der Form,3ier (bei der ,sicheren Geschichte') kann ich sehen, dass er es getan hat" oder „Hier (bei der ,unsicheren Geschichte') kann man nicht sehen, ob er das getan hat." — erwartet. Bei den zirkumstantiellen konnte-S'àtzen ist dagegen die Frage nach der richtigen Auswahl viel schwieriger zu beantworten, weil beide Geschichten mit dem Testsatz prinzipiell vereinbar sind. In beiden Fällen ist man eigenüich berechtigt, davon auszugehen, dass der Junge in der Lage war, die Handlung zu vollziehen, unabhängig davon, ob er sie tatsächlich durchgeführt hat oder nicht. Es wurde dennoch erwartet, dass die Teilnehmer bei den konnte-Sätzen eher auf die ,sichere Geschichte' zeigen würden, weil sie in diesem Fall ganz sicher sein konnten, dass der Junge tatsächlich in der Lage war, die Handlung durchzuführen. Dies ist bei der ,unsicheren Geschichte' nicht unbedingt der Fall. Hier kann man nicht ausschheßen, dass der Junge u. U. nicht in der Lage war, die Handlung zu vollziehen. M. a. W. aus der Tatsache, dass man nicht sehen kann, dass der Junge die Handlung durchgeführt hat, lässt sich durchaus schließen, dass er sie vielleicht nicht vollziehen konnte (und daher auch nicht vollzogen hat). Diese Möglichkeit ist dagegen in der 18 Zu einem Vergleich zwischen den Vor- und Nachteilen des Picture &fecfíon-Verfahrens im Vergleich zum Truth Value ywdgemeni-Verfahren s. hier unten die Diskussion der Ergebnisse des Experiments.

132

5. Methodologische Fragen

sicheren Geschichte ganz ausgeschlossen: Aus der Tatsache, dass jemand eine Handlung vollzogen hat, lässt sich eindeutig schließen, dass diese Person die Handlung vollziehen konnte. Genau in diesem Punict liegt der große Vorteil des Picture 5e/ecí/on-Verfahrens gegenüber anderen Methoden: Hier wird nicht getrennt йЬефгйй, ob die konnte-Sätze zu den jeweiligen Geschichten passen (was wahrscheinlich der Fall wäre), sondern es wird vielmehr davon ausgegangen, dass die ,sichere Geschichte' einen besseren Kontext für diese Sätze darstellt als die .unsichere Geschichte'. Dadurch wurden unterschiedliche Verhaltensweisen der Kinder erwartet, je nachdem wie der Input-Satz verstanden wurde: Bei epistemisch verstandenen Sätzen wurde eine Präferenz für die ,unsichere Geschichte' erwartet und bei zirkumstantiell verstandenen Sätzen eine Präferenz für die ,sichere Geschichte'. Mit diesem Verfahren konnten also die im vorherigen Abschnitt diskutierten methodologischen Schwierigkeiten der in Kap. 3 erwähnten Experimente vermieden werden: Je nach Interpretation der Input-Sätze wurde jeweils eine andere Präferenz für eine der Geschichten erwartet. Diese Überlegungen zeigen aber auch, dass keine Rückschlüsse auf das Verstehen der zirkumstantiellen MV-Bedeutung in diesem Experiment erlaubt ist. Dies ist jedoch unproblematisch, weil diese Sätze nur zu Vergleichszwecken eingeführt wurden und sowieso davon ausgegangen wurde, dass die untersuchten Kinder die zirkumstantielle MV-Lesart längst erworben haben. Um zu vermeiden, dass eine Fehlinterpretation einer Geschichte das Ergebnis verfälschen würde, wurde das Experiment für jeden Satztyp viermal wiederholt.'^ Um weitere Störeffekte zu vermeiden, wurde die Abfolge der Geschichte nach jeweils drei Teilnehmern gewechseh; auch die Position der ,sicheren' bzw. der,unsicheren Geschichte' (links oder rechts vom Teilnehmer) und die Verteilung der Haarfarbe des Jungen in den Geschichten wurden randomisiert. Um femer sicherzustellen, dass die untersuchten Kinder dazu fähig waren, aus zwei Bildern jeweils eine Geschichte zu bilden und die beiden Geschichten auseinander zu halten, wurde ein Vortest durchgeführt.^" In diesem Vortest wurden den Kindern zwei Probe-Geschichten gezeigt, wobei diese einfach nacherzählt werden sollten.^' Kinder, die im Vortest offensichüich dazu unfähig waren, aus zwei Bildern eine Geschichte zu formen, wurden aus der Wertung herausgenommen. Die Kinder wurden einzeln in einem separaten Raum ihrer Schule bzw. ihres Kindergartens getestet. Das Hauptexperiment fand in zwei Sitzungen mit jeweils 12 Testsätzen statt. Jede Sitzung dauerte circa 15 Minuten. Das Kontrollexperiment fand in einer Sitzung von circa 15 Minuten statt.

19 Das Hauptexperiment bestand insgesamt aus 24 Geschichten: 16 Testsätze und 8 sogenannte Filier (33% der gesamten Menge). Das Kontrollexperiment bestand aus 12 Testsätzen und 4 Filiera. 20 Auf diesem Vortest wurde bei der Gruppe der Erwachsenen verzichtet. 21 Im Vortest wurden nur ,sichere Geschichten' verwendet, um zu vermeiden, dass sich die Kinder beim Erzählen einer .unsicheren Geschichte' auf eine der möglichen Interpretationen festlegten. Dies hätte den Effekt haben können, dass die Kinder während der folgenden Aufgaben davon ausgingen, dass diese Interpretation die einzig mögliche sei.

5.2 Experiment 1 : „Es kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist. "

5.2.2

133

Teilnehmer

Insgesamt beteiligten sich 124 Kinder und 10 Erwachsene an dem Experiment. Am Hauptexperiment nahmen 91 Kinder von 5;7 bis 9;6 in vier Gruppen und 10 Erwachsene teil: 1. 6-Jährige: 19 Kinder zwischen 5;7 und 6;6 (Altersdurchschnitt: 6;2) 2. 7-Jährige: 22 Kinder zwischen 6;7 und 7;6 (Altersdurchschnitt: 7;1) 3. 8-Jährige: 25 Kinder zwischen 7;7 und 8;6 (Altersdurchschnitt: 8;1) 4. 9-Jährige: 25 Kinder zwischen 8;7 und 9;6 (Altersdurchschnitt: 9;2) 5. 10 Erwachsene (alle Studenten der Universität Tübingen) Am Kontrollexperiment zur Complement Only Strategy nahmen 33 Kinder von 6;7 bis 8;7 in zwei Gruppen teil: 1. 7-Jährige: 16 Kinder zwischen 6;7 und 7;6 (Altersdurchschnitt: 7;2) 2. 8-Jährige: 17 Kinder zwischen 7;7 und 8;6 (Altersdurchschnitt: 8;3) Für das Kontrollexperiment wurden keine Erwachsenen herangezogen. Alle Kinder besuchten Grundschulen bzw. Kindergärten in Stuttgart. Sie waren alle monolinguale Sprecher des Deutschen.

5.2.3

Ergebnisse

Die Antworten der Kinder wurden als korrekt bewertet, wenn (i) die passende Geschichte gewählt und (ii) eine korrekte Begründung gegeben wurde (s. dazu auf S.129ff.). Eine typische korrekte Antwort für die vielleicht- und für die epistemischen könnenSätze (bzw. für alle wahrscheinlich-Sätze im Kontrollexperiment) war die Ablehnung der .sicheren Geschichte' mit dem Hinweis, man könne sehen, dass der Junge die Handlung vollzogen hat; oder umgekehrt die Wahl der ,unsicheren Geschichte' mit dem Hinweis, dass man dort nicht sicher sein könne bzw. nicht sicher sei, ob der Junge die Handlung wirklich vollzogen habe. Dieses Verfahren ist insofern restriktiv, als es alle Antworten auf die epistemischen Testsätze als falsch bewertet, bei denen die ,unsichere Geschichte' gewählt wurde mit dem Hinweis, dass der Junge die Handlung vollzogen habe. Aber es wäre sowieso kaum möglich, diesen Typ von Antworten richtig zu deuten. Einerseits könnte er auf eine zirkumstantielle Deutung hinweisen (es wird immerhin gesagt, dass der Junge die Handlung vollzogen hat), andererseits auf ein (partielles) Verständnis der epistemischen Sätze, da immerhin die ,unsichere Geschichte' gewählt wurde, auch wenn die Erklärung nicht mit einer epistemischen Inteφretation übereinstimmt. Man könnte also annehmen, dass das Kind den epistemischen Charakter der Sätze zwar versteht, aber noch nicht über die metasprachliche Fähigkeit verfügt, seine Wahl korrekt zu begründen.

134

5. Methodologische Fragen

Da jedoch die untersuchten Kinder nur in weniger als 2% der Fälle die .unsichere Geschichte' gewählt haben mit dem Hinweis, die Handlung sei vom Jungen vollzogen, kann davon ausgegangen werden, dass die mit diesem Reaktionsmuster verbundenen Probleme im Rahmen des Experiments kaum ins Gewicht fallen. Darüber hinaus deutet diese Feststellung darauf hin, dass die Reaktion der Kinder exakt den Erwartungen entspricht: Sobald sich ein Kind — aus welchem Grund auch immer — sicher ist, dass der Junge die Handlung vollzogen hat, neigt es dazu, die evidentere der beiden Geschichten zu wählen. Die Wahl der .unsicheren Geschichte' findet wiederum nur statt, wenn das Kinder nicht sicher ist, was der Fall ist. Das hier gewählte Verfahren bietet daher den Vorteil, dass nur ein eindeutig korrektes Verstehen der Testsätze als richtig gewertet wird. Die Kriterien für eine korrekte Antwort bei den konnte-S'éXztn sind — wie im vorherigen Abschnitt diskutiert wurde — wesentlich schwieriger festzulegen. Um einen Vergleich mit der Reaktion bei den epistemischen fcönnen-Sätzen zu ermöglichen, wurden zunächst alle Antworten auf die konnte-Sätze als richtig gewertet, bei denen das Kind die ,sichere Geschichte' gewählt hatte mit der Begründung, der Junge habe die Handlung vollzogen. Antworten auf die konnte-Sätze, bei denen das Kind auf die .unsichere Geschichte' gezeigt hatte, wurden nur dann als korrekt bewertet, wenn aus der Begründung ersichtlich war, dass gemeint war, der Junge wäre in der Lage gewesen, die Handlung durchzuführen. Auch in diesem Fall wurden also alle Antworten als falsch bewertet, bei denen das Kind auf die .unsichere Geschichte' gezeigt hatte mit der Begründung, die Handlung sei vollzogen worden. Jede korrekte Antwort wurde mit 0.25 Punkten und jede falsche mit 0 Punkten gewertet. So konnte jedes Kind für jeden Satztyp innerhalb einer Skala von 0 bis 1.0 eingestuft werden. Ergebnisse des Hauptexperiments Tabelle 5.1 zeigt den Durchschnitt der von den Kindern erzielten Punkte für die jeweiligen Altersgruppen und Satztypen beim Hauptexperiment (s. nächste Seite).^^ In einem ersten Schritt wurden die Daten in einer 5 (Alter: 6, 7. 8, 9, Erw.) χ 2 (Geschlecht) MANOVA auf Varianz analysiert. Der Faktor GESCHLECHT spielte bei keiner der Aufgaben eine signifikante Rolle (F(l,98) = 0,42; ρ > .5 für zirk. können-, F(l,98) = 0,51; ρ > .4 für epist. können, F (1.98) = 0.85; ρ > .3 für vielleicht und F(l,98) = 0,59; ρ > .4 für scheinen). Das Ergebnis zeigt auch keinen Effekt des Faktors ALTER bei den zirkumstantiellen könnenSäizQn (F(4,95) = 1,11 ; ρ > .35). Ein signifikanter Effekt dieses Faktors wurde dagegen für alle epistemischen Satztypen festgestellt (F(4,95) = 15,25; ρ < .000 für das epistemische können, F(4,95) = 11,30; ρ < .000 für vielleicht und F(4,95) = 18,34; ρ < .000 für scheinen). Post-hoc Dunnet-C Tests (α = .05) zeigen, dass die Erwachsenen signifikant besser abschneiden als alle Gruppen der Kinder, und dies sowohl bei den epistemischen können22 Da ein 6-Jähriger Schwierigkeiten hatte, die Probe-Geschichten korrekt nachzuerzählen, wurde er aus der Wertung herausgenommen. Bei der Auswertung der Daten besteht also die Gruppe der 6-Jährigen aus 18 Kindern.

5.2 Experiment 1:

kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist."

135

Tabelle 5.1: Exp. 1: Durchschnitt der erzielten Punkte (Hauptexperiment. Mit Standardabweichung (=sd)) zirk. können 6Jahre(n=18) 7 Jahre (n=22) 8 Jahre (n=25) 9 Jahre (n=25) Erw. (n=10)

0,93 0,85 0,89 0,92 0,90

(sd=0,14) (sd=0,14) (sd=0,13) (sd=0,ll) (sd=0,13)

epist. können 0,22 0,37 0,68 0,73 1,00

(sd=0,22) (sd=0,33) (sd=0,27) (sd=0,29) (sd=0,00)

0,40 0,69 0,84 0,81 1,00

vielleicht

scheinen

(sd=0,30) (sd=0,25) (sd=0,28) (sd=0,22) (sd=0,00)

0,17 (sd=0,21) 0,30 (sd=0,30) 0,56 (sd=0,30) 0,64(sd=0,31) 1,00 (sd=0,00)

Sätzen als auch bei den vielleicht- und scheinen-Sätzcn. Die post-hoc-Tests zeigen aber Unterschiede zwischen den vier Gruppen der Kinder. Bei den epistemischen können-Sätzen weisen die Tests auf zwei verschiedene Gruppen hin: Die 8- und 9-Jährigen erzielten signifikant bessere Ergebnisse als die zwei jüngeren Gruppen. Zwischen den Ergebnissen der 6- und 7-Jährigen bestand dagegen kein signifikanter Unterschied. Und genauso wenig zwischen den 8- und 9-Jährigen. Auch bei den vielleicht-Sätzen zeigen die Tests, dass die 6-Jährigen signifikant schlechter abschneiden als die anderen Altersklassen. Es konnte dagegen kein Unterschied zwischen den 7-, 8- und 9-Jährigen festgestellt werden. Bei scheinen deuten die Daten auf einen sehr gleichmäßigen Erwerbsverlauf hin: Es gab keinen signifikanten Unterschied zwischen benachbarten Altersgruppen, sondern lediglich zwischen den 6- und 8-Jährigen und zwischen den 9- und 6- bzw. 7-Jährigen. Es zeichnet sich also hier ab, dass vor allem der Erwerb von epistemischem können und vielleicht nicht parallel abläuft, wie die unterschiedlichen Ergebnisse bei den 7-Jährigen zeigen: Die 7-Jährigen verstanden vielleicht (fast) genauso gut wie die 8- und 9-Jährigen. Bei den epistemischen können-Sätzen dagegen waren ihre Ergebnisse signifikant schlechter als diejenigen der zwei älteren Gruppen. Dieser Kontrast deutet darauf hin, dass vielleicht möglicherweise leichter zu verstehen ist als epistemisches können. Ob es Unterschiede im Erwerb der drei epistemischen Begriffe gibt, kann am besten durch einen Vergleich der Ergebnisse innerhalb der jeweiligen Altersklassen gezeigt werden.23 Die 6-, 7- und 8-Jährigen erzielten beim epistemischen können eine signifikant niedrigere Anzahl korrekter Antworten als bei vielleicht (z = -2,21; p < .03 bei den 6-Jährigen; ζ = -3,44; p < .002 für die 7-Jährigen; und ζ = -2,98; p < .003 für die 8-Jährigen). Im Gegensatz dazu konnte diesbezüglich kein Unterschied bei den 9-Jährigen festgestellt werden (z = -l,64; ρ > .1). Bei 6- und 7-Jährigen wurde kein signifikanter Unterschied zwischen den Ergebnissen für das epistemische können und scheinen festgestellt (z = -l,06; ρ > .28 für die 6Jährigen und ζ = -1,08; ρ > .27 für die 7-Jährigen). Bei den zwei älteren Gruppen wurde

23 Die Daten wurde mit dem Wilcoxon-Test analysiert ( q = .05, zweiseitig).

136

5. Methodologische Fragen

epistemisches können signifikant besser verstanden als scheinen (z = -2,2; ρ < .03 für die 8-Jährigen und ζ = -1,99; ρ < .05 für die 9-Jährigen). Femer wurde in allen Gruppen vielleicht signifikant besser verstanden als scheinen (z = -2,75; ρ < . 0 0 7 für die 6-Jährigen, ζ = -3,47; ρ = .001 für die 7-Jährigen, ζ = -3,34; ρ = .001 für die 8-Jährigen und ζ = -2,6; ρ < .01 für die 9-Jährigen). Darüber hinaus bestätigt eine Analyse der Antworten Kind für Kind die Ergebnisse der Wilcoxon-Tests. Wie Tabelle 5.2 zeigt, gab es in jeder Gruppe — außer bei den 9-Jährigen — eine absolute Mehrheit von Kindern, die vielleicht besser verstanden als das epistemische können, während nur eine sehr kleine Anzahl von Kindern vielleicht schlechter verstand als das epistemische können.

Tabelle 5.2: Exp. 1: Verhältnis der korrekten Antworten zwischen vielleicht und epist. können Kind für Kind ermittelt (Hauptexperiment)

6 Jahre (n=18) 7 Jahre (n=22) 8 Jahre (n=25) 9 Jahre (n=25) Gesamt (n=90)

vielleicht besser als epist. können

epist. können besser als vielleicht

vielleicht = epist. können

11 16 13 10 50

2 1 2 5 10

5 5 10 10 30

Charakteristisch für die Gruppe der Kinder, die bessere Ergebnisse beim epistemischen können erzielt haben als bei vielleicht, ist das niedrige Niveau korrekter Antworten insgesamt: Alle Kinder dieser Gruppe — außer einem 9-Jährigen — gaben nur eine korrekte Antwort bei der Aufgabe mit epistemischem können und keine einzige bei vielleicht. Dies zeigt deutlich, dass diese Kinder eigentlich keinen von beiden Begriffen richtig verstanden haben. Man kann also davon ausgehen, dass es im Experiment keine Kinder gab, die das epistemische können verstehen konnten, ohne gleichzeitig auch vielleicht zu verstehen. Die Gruppe der Kinder hingegen, die bei vielleicht besser abgeschnitten hat als beim epistemischen können, kann in zwei Teilgruppen aufgeteilt werden: Die erste Teilgruppe enthält die Kinder, die bei vielleicht nur eine korrekte Antwort mehr gegeben haben als beim epistemischen können. Bei diesen Kindern ist also davon auszugehen, dass sie zwar mit vielleicht sicherer umgehen können als mit dem epistemischen können, aber es darf keinesfalls bei diesen Kindern angenommen werden, sie würden vielleicht verstehen, das epistemische können jedoch nicht. Wenn z.B. ein Kind die vie//eic/îi-Aufgabe viermal korrekt löst, das epistemische können dagegen nur dreimal richtig interpretiert, kann daraus kaum geschlossen werden, dieses Kind würde nur vielleicht verstehen. Der Anteil der Kinder, der dieser Teilgruppe zugeordnet werden kann, ist bei den 8Jährigen auffällig hoch: Bei 77% der 8-Jährigen, die ein besseres Ergebnis bei vielleicht erzielten als bei den epistemischen kônnen-S'àXzen, betrug der Unterschied zugunsten von

5.2 Experiment 1: „Es kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist."

137

vielleicht exakt eine korrekte Antwort. Dagegen gehören nur 50% der 9-Jährigen, 46% der 6-Jährigen und nur 38% der 7-Jährigen zu dieser Teilgruppe. Die zweite Teilgruppe enthält alle Kinder, die mindestens zwei korrekte Antworten mehr bei vielleicht gegeben haben als beim epistemischen können. Da der Unterschied korrekter Antworten zugunsten von vielleicht in dieser Gruppe relativ hoch ist, kann davon ausgegangen werden, dass diese Kinder vielleicht deutlich besser verstanden haben als epistemisches können. Erwartungsgemäß ist der Anteil der Kinder, die dieser Gruppe angehören, bei den 6- und 7-Jährigen am höchsten, d. h. bei den zwei Altersgruppen, die die größten Unterschiede zwischen den Ergebnissen bei vielleicht und dem epistemischen können aufweisen: Bei den 6-Jährigen gaben 54% der Kinder, die vielleicht besser verstanden haben als das epistemische können, mindestens zwei korrekte Antworten mehr bei vielleicht als beim epistemischen können; dieser Anteil beträgt bei den 7-Jährigen sogar 62%, bei den 8-Jährigen dagegen nur 23%. Diese Analyse Kind für Kind weist also auf einen Unterschied vor allem zwischen den 7- und den 8-Jährigen hin: Charakteristisch für die 7-Jährigen ist, dass sie das epistemische können noch nicht richtig verstehen, obwohl sie vielleicht schon richtig inteφretieren. Anders die 8-Jährigen: Bei den Kindern dieser Gruppe muss eher davon ausgegangen werden, dass sie prinzipiell in der Lage sind, beide Ausdrücke zu verstehen, sich jedoch im Umgang mit den vielleicht-S'átzen sicherer fühlen als mit den epistemischen könnenSätzen. Tabelle 5.3 zeigt die Auswertung Kind für Kind für vielleicht und scheinen:

Tabelle 5.3: Exp. 1 : Verhältnis der korrekten Antworten zwischen vielleicht und scheinen Kind für Kind ermittelt (Hauptexperiment) vielleicht besser als scheinen 6Jahre(n=18) 7Jahre(n=22) 8Jahre(n=25) 9Jahre(n=25) Gesamt (n=90)

12 16 18 11 57

scheinen besser als vielleicht 2 1 1 3 7

vielleicht = scheinen 4 5 6 11 26

Auch hier zeigt die Analyse Kind für Kind, dass nur eine sehr kleine Minderheit der Kinder scheinen besser verstanden hat als vielleicht. Das Gesamtergebnis dieser Gruppe ist im Allgemeinen sehr niedrig: Keines der Kinder dieser Gruppe hat mehr als zwei korrekte Antworten bei scheinen gegeben. Ferner gaben diese Kinder nie mehr als eine korrekte Antwort mehr bei scheinen als bei vielleicht. In der Gruppe der Kinder, die vielleicht besser verstanden haben als scheinen, zeigt sich ein uneinheitliches Bild: Bei den 6- und 8-Jährigen gibt es eine leichte Mehrheit der Kinder, bei denen der Unterschied zugunsten von vielleicht nicht mehr als eine korrekte Antwort beträgt (58% bei den 6-Jährigen und 56% bei den 8-Jährigen). Bei den zwei

138

5. Methodologische Fragen

anderen Gruppen ist es umgekehrt: Eine relativ große Mehrheit der Kinder erzielt mindestens zwei korrekte Antworten mehr bei vielleicht als beim epistemischen scheinen (63% bei den 7-Jährigen und 64% bei den 9-Jährigen). Diese Ergebnisse bestätigen jedoch die Feststellung, dass ein deutlicher Erwerbssprung zwischen sechs und sieben Jahren beim Erwerb der Bedeutung von vielleicht stattfindet, der bei den anderen epistemischen Ausdrücken so nicht feststellbar ist. Tabelle 5.4 zeigt die Ergebnisse des Vergleichs Kind für Kind zwischen epistemischem können und scheinen: Tabelle 5.4: Exp. 1: Verhältnis der korrekten Antworten zwischen epist. können und scheinen Kind-für-Kind ermittelt (Hauptexperiment)

6 Jahre (n= 18) 7 Jahre (n=22) 8 Jahre (n=25) 9 Jahre (n=25) Gesamt (n=90)

epist. können besser als scheinen

scheinen besser als epist. können

epist. können = scheinen

8 5 12 8 33

3 4 4 2 13

1 13 9 15 44

Diese Analyse zeigt in erster Linie, dass es mehr Kinder gibt, die epistemisches können besser verstanden haben als scheinen. Die Bedeutung dieser Beobachtung wird jedoch relativiert, wenn man bedenkt, dass der Unterschied zwischen den Ergebnissen beider epistemischen Ausdrücke in allen Gruppen — außer bei den 7-Jährigen — nicht mehr als eine korrekte Antwort beträgt (100% bei den 6-Jährigen, 83% bei den 8-Jährigen und 75% bei den 9-Jährigen). Bei den 7-Jährigen dagegen haben 80% der Kinder, die epistemisches können besser verstanden haben als scheinen, zwei korrekte Antworten oder mehr zugunsten des MV gegeben. Da jedoch nur 5/22 der 7-Jährigen zu dieser Gruppe gehören, relativiert sich die Bedeutung dieser Beobachtung sehr stark. Bei den Kindern, die scheinen besser verstanden haben als epistemisches können, ergibt sich ein sehr einheitliches Bild: Für eine große Mehrheit der Kinder in allen Altersgruppen gilt, dass der Unterschied zugunsten von scheinen nicht mehr als eine einzige Antwort beträgt (67% bei den 6-Jährigen, 75% bei den 7-Jährigen, 100% bei den 8- und 9-Jährigen). Das Hauptergebnis dieses letzten Vergleichs deutet also darauf hin, dass epistemisches können zwar besser verstanden wurde als scheinen. Es zeigt sich aber auch, dass der beobachtete signifikante Unterschied zwischen dem Verstehen von epistemischem können und scheinen in den zwei ältesten Gruppen weniger auf eindeutige unterschiedliche Erwerbsverläufe zurückzuführen ist als auf einen sichereren Umgang mit können als mit scheinen. Bei sehr unterschiedlichen Erwerbsverläufen hätte man eine größere Anzahl von Kindern erwartet, die beim epistemischen können mindestens zwei korrekte Antworten mehr als bei scheinen gegeben hätten.

5.2 Experiment 1:

kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist. "

139

Ergebnisse des Kontrollexperiments Tabelle 5.5 zeigt den Durchschnitt der erzielten Punkte beim Kontrollexperiment.

Tabelle 5.5: Exp. 1: Durchschnitt der erzielten Punkte beim Kontrollexperiment (mit Standardabweichung (=sd))

7 Jahre (n= 16) 8 Jahre (n= 17)

vielleicht

wahrscheinlich

wahrscheinlich, dass

0,67 (sd=0,31) 0,75 (sd=0,40)

0,50 (sd=0,37) 0,61 (sd=0,38)

0,53 (sd=0,40) 0,57 (sd=0,44)

Auch bei den Ergebnissen des Kontrollexperiments wurden Unterschiede zwischen den Altersklassen analysiert. Der Mann-Whitney-Test zeigt, dass sich die 7- und 8-Jährigen bei keiner der Aufgaben signifikant voneinander unterscheiden (U= 110; ζ = -1,01; ρ > .36 bei vielleicht-, U = 112; ζ = -0,89; ρ > .40 bei wahrscheinlich-, und U = 126,5; ζ = -0,35; ρ > .72 bei wahrscheinlich, dass). Die 7-Jährigen erzielten signifikant bessere Ergebnisse (Wilcoxon-Test, α = .05, zweiseitig) bei vielleicht als bei wahrscheinlich (z = -2,32; ρ < .021) und wahrscheinlich, dass (z = -2,31 ; ρ < .022), aber es konnte kein signifikanter Unterschied zwischen beiden wahrscheinlich-Formen festgestellt werden (z = -0,30; ρ > .76). Bei den 8-Jährigen zeigt sich ein leicht abweichendes Bild: Die Ergebnisse zwischen vielleicht und wahrscheinlich unterscheiden sich zwar nicht signifikant voneinander (z = -1,62; ρ > .1), aber die Kinder dieser Gruppe schnitten bei wahrscheinlich, dass signifikant schlechter ab als bei vielleicht (z = -2,05; p = .04). Wichtiger für die Untersuchung ist jedoch, dass kein signifikanter Unterschied zwischen den Ergebnissen für beide wahrscheinlich-Formtn bei den 8-Jährigen gemessen werden konnte (z = -1,00; ρ > .31 ). Die signifikanten Unterschiede zwischen den Ergebnissen der vielleicht-Auigibe und den zwei wahrscheinlich fdassj-Aufgaben lassen sich möglicherweise dadurch erklären, dass die wahrscheinlich-Fonaen einen deutlich höheren Grad an epistemischer Sicherheit ausdrücken als vielleicht. Auch die Analyse Kind für Kind bestätigt die gerade vorgestellten Ergebnisse. Wie Tabelle 5.6 zeigt (s. nächste Seite), erzielten 58% der Kinder bei beiden wahrscheinlich-Formen das gleiche Ergebnis; bei 12 von 14 Kindern, die ungleiche Ergebnisse im Hinblick auf beide Formen erzielt haben, übertraf der Unterschied zugunsten einer der Begriffe nicht mehr als eine einzige Antwort; bei lediglich zwei Kindern betrug dieser Unterschied zwei Antworten oder mehr.^'^ Diese Analyse zeigt also deutlich, dass es kaum große Abweichungen beim Verstehen der Kinder in Bezug auf die zwei wahrscheinlich-Formen gibt. Dies bedeutet, dass eine 24 Es handelte sich um einen 7-Jährigen, der 0,75 bei wahrscheinlich, dass erzielt hat und 0 bei wahrscheinlich, und um einen 8-Jährigen, der 0,5 bei wahrscheinlich und 0 bei wahrscheinlich, dass erzielt hat.

140

5. Methodologische Fragen

Tabelle 5.6: Exp. 1 : Verhältnis der korrekten Antworten zwischen wahrscheinlich und wahrscheinlich, dass Kind-für-Kind ermittelt (Kontrollexperiment) wahrscheinlich besser als wahrsch., dass 7Jahre(n=16) 8Jahre(n=17) Gesamt (n=33)

wahrsch., dass besser als wahrscheinlich 4

4 8

wahrsch., dass = wahrscheinlich 4

2 6

8 11 19

mögliche Anwendung der Complement Only Strategy aller Wahrscheinlichkeit nach keine Rolle im Hauptexperiment gespielt hat.

5.2.4

Diskussion

Ziel dieses Experiments war es zu überprüfen, (i) ob das in anderen Untersuchungen festgestellte relativ späte Verstehen epistemischer Ausdrücke auf methodologische Schwächen der betreffenden Untersuchungen zurückzuführen ist; (ii) ob Kinder Ausdrücke der epistemischen Unsicherheit allgemein erst ab sieben oder acht Jahren korrekt inteφretieren. Diesbezüglich würde ein spätes Verstehen solcher Ausdrücke für die Annahme der Unentscheidbarkeits- und der Implikatur-Hypothese sprechen, (iii) Der Vergleich in diesem Experiment zwischen dem Verstehen von vielleicht, epistemischem können und scheinen soll Hinweise dafür liefern, ob nicht-polyfunktionale epistemische Ausdrücke leichter zu verstehen sind als polyfunktionale (Kontrast-Hypothese). Der potenzielle Einfluss der MV-Syntax (Anhebungshypothese) konnte aufgrund der syntaktischen Realisierung der in diesem Experiment verwendeten können-Sätze nicht überprüft werden. Die Ergebnisse dieses Experiments belegen, dass erst 7- bis 9-Jährige in der Lage sind, die mit vielleicht modalisierten Sätze der unsicheren Situation weitgehend systematisch zuzuordnen (zwischen 69% und 83% korrekte Antworten). Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass keine der kindlichen Gruppen das Niveau der Erwachsenen erreicht hat. Dabei spielt natürlich die Tatsache eine Rolle, dass die experimentelle Situation den Kindern sicherlich mehr Schwierigkeiten bereitet hat als den Erwachsenen. Wenn man femer bedenkt, dass es nur vier Testätze pro Struktur gab, darf man kein zu hohes Erwerbskriterium anlegen. Die 9-Jährigen haben immerhin im Schnitt mehr als 3/4 korrekte Antworten gegeben. Das Kriterium von 3/4 korrekter Antworten wird von den 7- und 8-Jährigen beinah erreicht. Man darf also bei diesen Gruppen davon ausgehen, dass sie eine schon recht stabile Vorstellung der Epistemizität der vielleicht-Sätze besaßen. Die Gruppe der 6-Jährigen assoziiert dagegen nur in 40% der Fälle die mit vielleicht modalisierten Sätze mit der unsicheren Situation. In den restlichen Fällen wählen sie einfach die ,sichere Geschichte' und begründen ihre Wahl mit dem Hinweis, der Junge habe die Handlung vollzogen.

5.2 Experiment 1: „Es kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist. "

141

Die Ergebnisse zeigen femer, dass die epistemischen können-Sätze erst von den 8Jährigen einigermaßen korrekt inteφretiert wurden (68% bzw. 73% korrekter Antworten bei den 8- bzw. 9-Jährigen gegenüber 22% bzw. 37% bei den 6- bzw. 7-Jäiirigen). Auch hier begründen die Kinder ihre Wahl — wenn sie die falsche Geschichte gewählt haben — mehrheitlich damit, dass die Handlung durchgeführt wurde. Die Ergebnisse zeigen auch, dass scheinen offenbar besonders schwer zu verstehen ist. Für alle Altersgruppen wurde festgestellt, dass dieser Ausdruck schlechter verstanden wurde als vielleicht und epistemisches können. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass scheinen einen viel größeren Grad an epistemischer Sicherheit als epistemisches können und vielleicht aufweist. Es ist anzunehmen, dass dieser Faktor die Ergebnisse bei scheinen beeinflusst hat. Diesbezüglich ist auch festzuhalten, dass alle Erwachsenen scheinen zwar mit der ,unsicheren Geschichte' systematisch assoziiert haben, jedoch mehr Zeit brauchten, diese Aufgabe zu lösen als diejenigen mit vielleicht und epistemischem können. Als Erklärung für dieses Zögern gaben die Erwachsenen vor allem an, dass die ,unsichere Geschichte' ein bisschen zu „unsicher" sei, um zu scheinen zu passen. Für diese Interpretation sprechen auch die Ergebnisse des Kontrollexperiments: Auch hier wurde festgestellt, dass die vielleicht-Sätze besser verstanden wurden als die wahrscheinlich-Sätze, obwohl beide Satztypen sehr ähnlich sind und beide Ausdrücke nur eine epistemische Lesart zulassen. Der Grund für diesen Unterschied ist mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls auf den unterschiedlichen Grad an epistemischer Sicherheit zurückzuführen, den vielleicht und wahrscheinlich jeweils zum Ausdruck bringen. Diese Überlegung zeigt vor allem, dass das ausgewählte Testverfahren nicht dazu geeignet ist, das Verstehen von Ausdrücken zu überprüfen, die einen relativ hohen Grad an epistemischer Sicherheit aufweisen.^^ Bei den zirkumstantiellen Können-Sätzen haben sich die Kinder wie erwartet verhalten: In ca. 90% der Fälle wurde die ,sichere Geschichte' gewählt mit der Begründung, der Junge habe die Handlung durchgeführt. Dies entspricht also genau dem Reaktionsmuster der Kinder, die bei den epistemischen können-Sätzen eine falsche Wahl getroffen haben. Auch die typischen Reaktionsmuster der Erwachsenen in diesem Experiment zeigen, dass die hier gewählte Methode der Picture Selection zuverlässige Daten über den Erwerb epistemischer Ausdrücke liefern kann: Alle Erwachsene wählten ohne Zögern die ,unsichere Geschichte', wenn sie mit den epistemischen Sätzen konfrontiert wurden, und sie haben in immerhin 90% der Fälle bei den zirkumstantiellen können-Sätzen, wie erwartet, die ,sichere Geschichte' gewählt. In diesem Zusammenhang ist vor allem wichtig, zu beachten, dass die große Mehrheit der Erwachsenen argumentiert, die konnte-Sätze passten

25 In einer Pilotstudie zu diesem Experiment wurde auch das Verstehen von epistemischen Sätzen mit müssen bei Erwachsenen getestet. Die Ergebnisse dieser Pilotstudie zeigen, dass Erwachsene epistemisches müssen lieber mit der .sicheren Geschichte' verbinden als mit der .unsicheren Geschichte'. Ihre Begründungen zeigen deutlich, dass epistemisches müssen nicht zur .unsicheren Geschichte' passt, weil epistemisches müssen— so ihre Begründungen — einen zu hohen Grad an epistemischer Sicherheit ausdrücke, um zu dieser Geschichte zu passen. Diese könne nur mit können beschrieben werden, weil die vorhandene Evidenz nicht ausreiche, um einen stärkeren Ausdruck verwenden zu können.

142

5. Methodologische Fragen

besser zur,sicheren Geschichte', weil man sehen könne, dass die Handlung durchgeführt worden sei. Letzteres weist also auf eine große Ubereinstimmung zwischen Kindern und Erwachsenen bei der Inteφretation der zirkumstantiellen können-Sätze hin. Diese Beobachtung ist weniger von empirischem Wert — dass Kinder mit 6;0 zirkumstantielle können-Sätze verstehen, ist allgemein bekannt — als von methodologischem. Wie in den einleitenden Abschnitten dieses Kapitels schon mehrmals erwähnt wurde, kann das Experiment erst dann zuverlässige Daten über den Erwerb der epistemischen Lesart von können liefern, wenn es als garantiert betrachtet werden kann, dass die zirkumstantiellen Testsätze bzw. die epistemischen der .sicheren' bzw. der .unsicheren Geschichte' eindeutig zugeordnet werden. Ansonsten könnte die Wahl der .unsicheren Geschichte' bei den epistemischen Sätzen doppeldeutig sein: Einerseits könnte sie ein Hinweis sein, dass der Satz korrekterweise epistemisch verstanden wurde, aber andererseits könnte diese Wahl — wie unter 5.1 und unter 5.2.1 festgestellt — auch darauf beruhen, dass das Kind den eigentlich epistemischen Testsatz fälschlicherweise zirkumstantiell interpretiert hat. Das Verhalten sowohl der Kinder als auch der Erwachsenen belegt also eindeutig, dass in dem hier gewählten Verfahren zirkumstantielle können-Sätze (fast) systematisch der ,sicheren Geschichte' zugeordnet werden und nicht der ,unsicheren' — obwohl dies prinzipiell möglich gewesen wäre —, weil diese Wahl die naheliegendste ist (da man sehen kann, dass der Junge im Haus ist, kann man sehr sicher sein, dass er ins Haus gehen konnte). Dieses eindeutige Verhalten bei den konnte-Sätzen bedeutet nichts anderes, als dass umgekehrt die Wahl der ,unsicheren Geschichte' durch die Kinder in Verbindung mit den epistemischen können-Sätzen tatsächlich auf eine epistemische Interpretation dieser Sätze zurückzuführen ist, und nicht auf eine zirkumstantielle. Ansonsten müsste erklärt werden, warum die Kinder (und die Erwachsenen) bei den konnte-Sätzen die ,sichere' und bei den es kann sein, daii+perf.-Sätzen die ,unsichere Geschichte' gewählt haben, wenn sie beide Satztypen zirkumstantiell verstanden hätten. Im Gegensatz zum Verfahren von Hirst & Weil (1982) (s. S. 57f.) und Novecks (2001) Truth Value Judgeement Task (s. S. 97f.) hat das Picture 5e/eciîon-Verfahren den erheblichen Vorteil, dass die den Kindern vorgelegte Aufgabe, die Epistemizität von könnenSätzen zu evaluieren, in einer eindeutigeren und zugänglicheren Form präsentiert werden kann. In dem Verfahren von Hirst & Weil dagegen wird den Kindern ein epistemischer Kontext angeboten, in dem sie die Stärke epistemischer Sätze einschätzen müssen. Es wird also in diesem Verfahren viel eher vorausgesetzt, dass die Kinder die durch den Kontext verliehene Epistemizität der Testsätze verstehen, als dass es dieses Verstehen zum zentralen Punkt des Experiments macht.^^ Das Truth Value Judgement-Verìahien hat zwar grundsätzlich den Vorteil, die Akzeptanz eines vorgegebenen Testsatzes in verschiedenen Kontexten zu testen, also die verschiedenen Lesarten dieses Satzes getrennt zu überprüfen.^^ Im Zusammenhang jedoch 26 S. dazu die Kritik an diesem Verfahren auf S. 58f.. 27 Die Truth Value Judgement Task läuft nach folgendem Schema ab. Der Versuchsperson und einem Beobachter wird eine kleine Szene vorgeführt (oder ein Bild gezeigt). Der Beobachter macht anschließend eine Bemerkung (mit dem Testsatz) über die dargestellte Szene. Die Versuchsperson muss

5.2 Experiment 1:

kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist. "

143

mit epistemischen können-S'dXzQn im Deutschen ist dieses Verfahren mit methodologischen Schwierigkeiten verbunden, die mit dem Verfahren der Picture Selection besser gelöst werden können. Ein Truth Value Judgement-Experíment kann grundsätzlich so durchgeführt werden, dass eine Versuchsperson zuerst zu entscheiden hat, ob ein Testsatz A zu einem Kontext A passt und anschließend, ob derselbe Testsatz zu einem Kontext В passt usw..^^ Dadurch lässt sich einfach ermitteln, wie der Testsatz verstanden wird (d. h. mit welchen möglichen Kontexten die Versuchsperson den Testsatz verbindet und mit welchen nicht). Ob Kinder epistemische können-Sätze verstehen oder nicht, kann in einem Truth Value Judgement-Experíment auf zwei Wegen ermittelt werden: (i) Epistemische können-Sätze müssen in Verbindung mit einem epistemischen Kontext (z. B. der .unsicheren Geschichte') akzeptiert werden; (ii) dieselben Sätze müssen aber auch in Verbindung mit einem zirkumstantiellen Kontext (z.B. der ,sicheren Geschichte') abgelehnt werden. Zu (i): Eine unabdingbare Voraussetzung des Truth Value Judgement-Werìahrens ist, dass die dargebotenen Kontexte jeweils nur zu einer Deutung des Testsatzes passen, wenn das Verstehen mehrdeutiger bzw. polyfunktionaler Wörter bzw. Sätze getestet werden soll. Wird die Akzeptanz eines Testsatzes, der zwei Lesarten A und В zulässt, in Verbindung mit einem Kontext getestet, der sowohl mit der Lesart А als auch mit der Lesart В verträglich ist, so ist es in einem Truth Value Judgement-\erìahT&n grundsätzlich nicht mehr möglich zu ermitteln, wie der Testsatz verstanden wurde (Lesart A oder Lesart B). Und genau diese hier vorgestellte Voraussetzung des Truth Value Judgement-Verìahrens ist im Zusammenhang mit können-Sätzen nicht erfüllbar, weil — wie auf S. 125f. ausführlich diskutiert wurde—jeder Kontext, der mit der epistemischen Interpretation eines könnenSatzes verträglich ist, auch immer mit einer zirkumstantiellen Interpretation jenes Satzes verträglich sein muss. Hier liegt die Schwäche der Truth Value Judgement-MeXYioáe, wenn es darum geht, die epistemische Lesart von können zu testen: Wenn die Versuchsperson entscheidet, dass der vorgegebene epistemische Testsatz zu dem dargebotenen epistemischen Kontext passt, kann ihr positives Urteil genauso bedeuten, dass sie sowohl Testsatz als auch Kontext zirkumstantiell „umgedeutet" hat. Aus diesem positiven Urteil kann also nicht ohne Weiteres geschlossen werden, dass sie den Testsatz tatsächlich epistemisch verstanden hat.^^ Zu (ii): Die Ablehnung eines epistemischen können-Salzes in Verbindung mit der ,sicheren Geschichte' ist sicher aussagekräftiger als die Akzeptanz desselben in Verbindung urteilen, ob die Bemerkung zum Kontext passt oder nicht. Zu einer ausführlichen Beschreibung dieser Methode s. Crain & Thornton (1998) und die Beschreibung des Exp. 3 in Abs. 6.2, S. 169ff.. 28 Dies entspricht dem Aufbau von Chierchia et al. (1998): Die Akzeptanz von iorae-Sätzen wurde in zwei Kontexten geprüft: in einem, in dem nicht alle Figuren die Handlung vollziehen und in einem, in dem alle Figuren die Handlung durchführen (s. dazu S. 99ff.). 29 Z.B. wird eine Versuchsperson gefragt, ob Testsatz (4) (S. 127) zur .unsicheren Geschichte' passt oder nicht. Wenn sie ,ja" antwortet, kann dies zwei Gründe haben: (i) Der Satz wurde epistemisch verstanden, und die Versuchsperson ist nicht sicher, dass der Junge ins Haus gegangen ist; oder (ii) der Satz wurde zirkumstantiell verstanden, und sie ist zwar nicht sicher, ob der Junge ins Haus gegangen ist, aber sie nimmt an, dass der Junge ins Haus gehen konnte. Eine Ja-Antwort der Versuchsperson sagt also wenig darüber, ob der Testsatz epistemisch (i) oder zirkumstantiell (ii) verstanden wurde.

144

5. Methodologische Fragen

mit der,unsicheren Geschichte'. Dies gilt aber nur, solange der verwendete Testsatz nicht sowohl epistemisch als auch zirkumstantiell interpretierbar ist. Lässt der verwendete Testsatz neben einer stark präferierten epistemischen Lesart auch eine zirkumstantielle zu, ist bei der Truth Value Judgement-Mttìioàe, zu erwarten, dass der Testsatz in Verbindung mit der .sicheren Geschichte' als korrekt angesehen wird, weil er eben auch zirkumstantiell deutbar ist. Bei tónnen-Konstruktionen, die beide Lesarten zulassen, ist es also nicht möglich, das Verstehen der epistemischen können-Leszii über die Ablehnung der ,sicheren Geschichte' zu überprüfen. Dies ist nur in Verbindung mit rein epistemischen könnenKonstruktionen möglich. Bei mehrdeutigen fcönnen-Konstruktionen ist man dagegen mit dem Truth Value Judgement-Werfahren auf die Akzeptanz der epistemischen Können-Sätze in Verbindung mit der ,unsicheren Geschichte' angewiesen, was — wie unter (i) schon dargestellt wurde — zu keinem befriedigenden Ergebnis führen kann. Diese Feststellung ist insofern wichtig, als im Deutschen grundsätzlich alle können-Formen im Präsens, die eine präferierte epistemische Lesart nahelegen, auch immer eine zirkumstantielle Lesart erlauben. Das hier verwendete Picture 5e/ecft'on-Verfahren kann diese Probleme weitgehend umgehen: Beide Kontexte werden gleichzeitig gezeigt und das Kind muss sich lediglich den besseren Kontext zu einem vorgegebenen Testsatz aussuchen. Zudem ist es dem Kind durch die Konfrontation beider Kontexte viel klarer, worum es eigentlich geht. Beide Geschichten unterscheiden sich nur dadurch, dass es in einem Fall klar ist, dass die Handlung durchgeführt wurde, im anderen Fall aber nicht. Damit wird dem Kind von Anfang an nahegelegt, dass es sich bei der Lösung der Aufgabe an den Faktoren [ ± S E H E N ] bzw. [ i w i S S E N ] orientieren soll. Da die Picture 5e/ecí/on-Methode von ihrem Design her immer das Verstehen der präferierten Lesart eines Testsatzes prüft, ist sie ohne Weiteres zuverlässig, solange die Können-Testätze eine präferierte epistemische Lesart haben. Dieses Verfahren funktioniert aber auch nur, wenn als gesichert gilt, dass bei einem zirkumstantiellen Verstehen der Testsätze immer die ,sichere Geschichte' bevorzugt wird. Wie die Reaktion der Teilnehmer auf die konnte-S'átze es deutlich zeigt, ist dies in diesem ersten Experiment der Fall gewesen, so dass die erzielten Ergebnisse als zuverlässig gelten können. Neben dieser methodologischen Fragestellung hatte das Experiment auch zum Ziel, die Validität einiger Hypothesen zum Erwerb der epistemischen tó'nnen-Lesart zu überprüfen. Die Ergebnisse des Experiments deuten darauf hin, dass Kinder unter sieben Jahren Ausdrücke der epistemischen Unsicherheit nicht korrekt verstehen. Dieses Ergebnis stimmt weitgehend mit denjenigen anderer Untersuchungen überein, die sich mit dem Verstehen unterschiedlicher epistemischer Ausdrücke beschäftigt haben (s. Green 1979 für may und maybe·, Bassano 1985b für peut-être ,vielleicht' und Bassano et al. 1992, Hickmann et al. 1993, Champaud et al. 1993 für penser ,denken'). Diese Untersuchungen zeigen zwar, dass die epistemischen Adverbiale erst mit 8;0 — also etwa ein Jahr später als in der hier vorliegenden Untersuchung — verstanden werden; dieser zeitliche Unterschied kann aber auch einfach dadurch erklärt werden, dass beide Autoren eine andere Einteilung der Kinder als hier vorgenommen haben: In beiden Studien werden die 6- und 7-Jährigen in einer einzigen Gruppe zusammengefasst, was möglicherweise dazu geführt hat, dass die Kompetenz der 7-Jährigen unterschätzt wurde.

5.2 Experiment 1: ,JEs kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist. "

145

Die Frage, die sich hier jedoch stellt, ist, warum 6-Jährige vielleicht bzw. das epistemische können noch nicht zielsprachlich verstehen, obwohl 3-Jährige in der Regel schon beginnen, diese Ausdrücke in ihrer Sprache zu verwenden. Wie in Kap. 4 schon ausführlich diskutiert wurde, kommen diesbezüglich zwei Erklärungen in Frage: Die Unentscheidbarkeits- und die Implikatur-Hypothese. Für die Unentscheidbarkeits-Hypothese spricht, dass sie ohne Weiteres erklären kann, warum die Kinder, die die epistemische Unentscheidbarkeit — also wenn nicht genügend Evidenz vorliegt, um eine definitive Entscheidung über das (Nicht-)Bestehen eines Sachverhaltes zu treffen — nicht erfassen konnten, die Aufgabe in Exp. 1 nicht lösen konnten. Der Grund für die Fehlurteile könnte darin gelegen haben, dass sich die betroffenen Kinder bei der ,unsicheren Geschichte' auf eine der möglichen Interpretationen festgelegt haben, ohne die Alternative zu berücksichtigen. Eine solche Haltung führt zwangsweise dazu, dass der unentscheidbare Charakter dieser Geschichte verkannt wird. Für die Kinder, die davon ausgegangen sind, dass der Junge in der ,unsicheren Geschichte' die Handlung definitiv nicht vollzogen hat, waren die epistemischen Sätze mit der ,unsicheren Geschichte' nicht mehr verträglich. Das Verhalten der Kinder, die davon ausgegangen sind, dass der Junge in der .unsicheren Geschichte' die Handlung auf jeden Fall durchgeführt hat, ist schwieriger einzuschätzen, weil in diesem Fall beide Geschichten gleich gut zu den epistemischen Sätzen passen. Möglicherweise haben sie dann die ,sichere Geschichte' bevorzugt, weil sie eindeutiger ist. Die Form des Experiments könnte diesbezüglich eine der zwei Inteφretationen der ,unsicheren Geschichte' nahegelegt haben: Von den drei eigentlich vorhandenen Alternativen — (i) dass man sicher sein kann, dass der Junge die Handlung vollzogen hat, (ii) dass man diesbezüglich nicht sicher sein kann und (iii) dass man sicher sein kann, dass er sie nicht vollzogen hat — wurden den Kindern nur zwei angeboten, nämlich (i) und (ii). Die Kinder, die epistemische Unentscheidbarkeit nicht erfassen konnten, könnten deshalb fälschlicherweise davon ausgegangen sein, dass ihnen der maximale Kontrast angeboten wurde — also die Alternativen (i) und (iii) —, d. h. sie hätten die ,unsichere Geschichte' so inteφretiert, dass der Junge die Handlung nicht vollzogen hat.^" Ob die Unfähigkeit jüngerer Kinder, die epistemischen Testsätze mit der ,unsicheren Geschichte' zu verbinden, auf eine Schwierigkeit zurückzuführen ist, skalare Implikaturen zu erkennen — so die Implikatur-Hypothese —, hängt von einer wichtigen Annahme ab: Es muss unbedingt angenommen werden, dass die Kinder, die im Experiment die Implikatur nicht berechnet haben, die ,sichere Geschichte' gegenüber der ,unsicheren' bevorzugen. Diese Annahme kann aber nicht von vorneherein als sicher gelten. Im Gegenteil, von einem theoretischen Standpunkt aus ist vielmehr zu erwarten, dass die Kinder, die keine skalaren Implikaturen berechnen, beide Geschichten gleichermaßen passend finden und demzufolge ihre Wahl zufällig treffen. Genausowenig kann ausgeschlossen werden, dass die ,unsichere Geschichte' auch ohne Berechnung der Implikatur präferiert wird, so z. B. wenn diese Kinder die Bedeutungsverhältnisse zwischen Begriffen ein und derselben Skala rein lexikalisch erfassen. In diesem Fall würden sie einfach die Skala 30 Im Experiment von Bassano (1985b) allerdings wurden den Kindern alle drei Alternativen angeboten. Dies führte jedoch zu keinem besseren Verständnis der epistemischen Ausdrücke als in dem hier durchgeführten Experiment.

146

5. Methodologische Fragen

ignorieren und davon ausgehen, dass können epistemisch unsichere Fälle bezeichnet und müssen epistemisch sichere Fälle, ohne zu erkennen, dass können in der Erwachsenensprache auch mit epistemisch sicheren Fällen verträglich sein kann (wenn die Implikatur gelöscht wird). Da das Picture 5eZecííon-Verfahren nur die präferierte Lesart eines Satzes ermittelt und nicht, ob verschiedene Lesarten dieses Satzes akzeptiert werden, ist dieses Verfahren nicht besonders dafür geeignet, das Verstehen skalarer Implikaturen zu testen. Im Zusammenhang mit der Implikatur-Hypothese stellt die Truth Value Judgement-M&\hoàQ — wie sie von Chierchia et al. (1998) angewendet wurde — eindeutig die bessere Testmethode dar, weil sie im Gegensatz zum Picture 5eZecííon-Verfahren die Lesarten (mit oder ohne Implikatur) einzeln übeφrüfen kann: Dabei sollen Kontexte abgelehnt werden, die nur zu einer semantischen Interpretation von Testsätzen mit schwachen skalaren Ausdrücken passen. Die hier vorliegenden Daten zeigen zwar, dass Kinder vor 7;0 epistemische Ausdrücke im Allg. nicht korrekt verstehen. Ob die Unentscheidbarkeits- oder die Implikatur-Hypothese jeweils diese Tatsache zu erklären vermögen, konnte hier nicht ermittelt werden. Diese Frage ist Gegenstand der im nächsten Kapitel beschriebenen Experimente. Die dritte wichtige Erkenntnis dieses Experiments ist, dass das Adverb vielleicht etwa ein Jahr vor dem epistemischen MV können korrekt verstanden wurde. Dieser Unterschied ist besonders bei den 6- und 7-Jährigen ausgeprägt: Bei den 6-Jährigen wird vielleicht doppelt so oft korrekt inteφretiert wie das MV; bei den 7-Jährigen beträgt dieser Unterschied immerhin noch 30%-Punkte. Bei den 8-Jährigen dagegen konnte eine Analyse der Antworten Kind für Kind zeigen, dass der immer noch signifikante Unterschied beim Verstehen beider epistemischer Ausdrücke (ca. 16%-Punkte) wahrscheinlich auf einen nach wie vor unsicheren Umgang mit der epistemischen Lesart von können zurückzuführen ist, jedoch nicht auf eine systematische Schwierigkeit, können epistemisch zu verstehen (s. hier oben S. 136f.). Da das Verstehen beider Ausdrücke in diesem Experiment ähnliche Fähigkeiten in Bezug auf die Unentscheidbarkeits- und die Implikatur-Hypothese erforderte, kann keine dieser Hypothesen erklären, warum vielleicht von den 6- und 7-Jährigen deutlich besser verstanden wurde als können. Aufgrund der syntaktischen Realisierung der verwendeten können-S'iize kann femer weitgehend ausgeschlossen werden, dass dieser Unterschied auf eine fehlerhafte Inteφretation von Anhebung (Anhebungshypothese) beruht, weil die hier gewählte Konstruktion die wichtigste semantische Eigenschaft von Anhebung erfüllt: Das Subjekt des Matrixsatzes wird in unpersönlicher Form von können selegiert und das Subjekt des eingebetteten Satzes wird eindeutig von dessen Verb selegiert. Dass das Subjekt des eingebetteten Satzes als Subjekt von können inteφretiert wird, ist daher völlig ausgeschlossen. Da die Ergebnisse des Kontrollexperiments vor allem bei den 7-Jährigen deutlich aufzeigen, dass die Kinder keinen Unterschied beim Verstehen beider Satztypen mit wahrscheinlich machten, kann femer auch ausgeschlossen werden, dass eine systematische Verwendung der Complement Only Strategy eine Rolle im Experiment gespielt haben könnte. Dieses Experiment liefert empirische Evidenz dafür, dass ein rein kognitiver Ansatz nicht ausreicht, um den Erwerb der epistemischen MV-Lesart vollständig zu erklären. Es

5.2 Experiment 1:

kann sein, dass der Junge ins Haus gegangen ist. "

147

muss vielmehr angenommen werden, dass der späte Erwerb der epistemischen MV-Lesart im Vergleich zu ihren Systemkonkurrenten auf die MV-Polyfunktionalität zurückzuführen ist, da in diesem Experiment die Anhebung wahrscheinlich keine Rolle gespielt hat. Gegen diese Annahme sprechen jedoch die Daten des Experiments über das Verstehen der scheinen-SätzQ. Nach der Kontrast-Hypothese sollte scheinen leichter zu verstehen sein als epistemisches können, weil es nicht polyfunktional ist. Die Ergebnisse des Experiments widerlegen diese Voraussage deutlich: Bei allen Altersgruppen wurde scheinen sogar schlechter verstanden als können. Zwei wichtige Faktoren machen jedoch einen zuverlässigen Vergleich zwischen den Ergebnissen bei können und scheinen in Bezug auf die Kontrast-Hypothese sehr problematisch: (i) Wie schon oben erwähnt wurde, drückt scheinen einen deutlich höheren Grad an epistemischer Sicherheit aus als können. Es kann also nicht ausgeschlossen werden, dass dieser Unterschied die Performanz der Kinder im Experiment beim Verstehen der scheinen-S'átze negativ beeinflusst hat. Für diese Annahme spricht auch, dass wahrscheinlich im Kontrollexperiment schlechter verstanden wurde als vielleicht, obwohl beide Satztypen syntaktisch sehr ähnlich waren. Dies zeigt deutlich, dass der durch die verschiedenen getesteten Begriffe ausgedrückte Grad an epistemischer Sicherheit einen großen Einfluss auf die Ergebnisse des Experiments gehabt hat. (ii) Scheinen ist in der im Experiment verwendeten Konstruktion zwar nichtpolyfunktional, aber scheinen hat als intransitives Verb eine andere Bedeutung als etwa in Die Sonne scheint?^ In solchen Sätzen wird scheinen keinesfalls epistemisch verwendet, sondern vielmehr in der Bedeutung von ,strahlen' oder ,schimmern'. Möglicherweise haben viele Kinder im Rahmen des Experiments scheinen in dieser zweiten Bedeutung inteφretiert, die deutlich besser zur ,sicheren Geschichte' als zur ,unsicheren' passt. Neben der Kontrast-Hypothese gibt es jedoch einen weiteren Faktor, der den Unterschied zwischen den Ergebnissen bei vielleicht einerseits und können und scheinen andererseits erklären kann: Die syntaktische Realisierung der vielleicht-Sätze ist deutlich einfacher als diejenige der können- und scheinen-Sätze. Es konnte zwar gezeigt werden, dass die syntaktische Konstruktion der können- und scheinen-Sätze zu keiner Anwendung der Complement Only Strategy geführt hat. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass einige Kinder Schwierigkeiten hatten, die es kann sein, JaM+perf .-Sätze richtig zu inteφretieren, weil die diesen Sätzen zugrunde liegende Ereignisabfolge (Hauptsatz im Präsens und Nebensatz im Perfekt) schwieriger zu berechnen war als bei den einfachen vielleicht-Sätzen. Es wäre wenig erstaunlich, wenn die Kinder, die mit der Komplexität dieser Sätze überfordert waren, deren epistemischen Charakter nicht erkannt haben. Um diesen möglichen Einfluss genauer zu übeφrüfen, ist es notwendig, das Verstehen einfacherer epistemischer tó'nngn-Konstraktion wie Es kann sein, dass der Junge im Haus ist zu testen. Dieser Frage wird in Kap. 7 nachgegangen.

31 S. hier oben Fn. 15 auf S. 128.

148

5.3

5. Methodologische Fragen

Zusammenfassung

Dieses erste Experiment diente in erster Linie der Klärung der Frage, ob das für diese Studie gewählte Verfahren der Picture Selection geeignet ist, das Verstehen epistemischer können-Sätze bei Kindern zu untersuchen. Zu diesem Zweck wurde das Verstehen rein epistemischer können-Sätze in der Form es kann sein, dass+p^rf. mit dem Verstehen rein zirkumstantieller können-Sätze in der Form konnte verglichen. Die Ergebnisse dieses Experiments zeigen, dass das gewählte Verfahren eindeutige Schlüsse auf das Verstehen epistemischer können-Sätze zulässt: Es konnte vor allem gezeigt werden, dass Kinder und Erwachsene im Rahmen des Experiments deutlich unterschiedliche Verhaltensmuster aufwiesen, je nachdem ob die können-Testsätze epistemisch oder zirkumstantiell verstanden wurden. Eine zirkumstantielle Deutung der Sätze führte fast automatisch zur Wahl der,sicheren Geschichte', während eine epistemische Deutung die Wahl der ,unsicheren Geschichte' zur Folge hatte. In Bezug auf die in Kap. 4 dargestellten Hypothesen konnte festgestellt werden, dass Kinder unter 7;0 noch nicht in der Lage sind, Ausdrücke der epistemischen Unsicherheit zu verstehen, was sowohl mit der Unentscheidbarkeits- als auch mit der ImplikaturHypothese verträglich ist. Dass vielleicht etwa ein Jahr vor epistemischem können verstanden wurde, spricht wiederum für die Kontrast-Hypothese. Da jedoch die hier gesammelte empirische Evidenz zugunsten dieser Hypothesen nicht ausreichend ist, soll ihre jeweilige Gültigkeit durch weitere Experimente genauer überprüft werden. Das Kapitel 6 widmet sich nun der Überprüfung der Unentscheidbarkeitsund der Implikatur-Hypothese, während die Kontrast- und die Anhebungshypothese in Kap. 7 untersucht werden.

Kapitel 6

Die Unentscheidbarkeits- und die Implikatur-Hypothese Die Ergebnisse von Exp. 1 zeigen, dass sowohl epistemisches können als auch vielleicht erst mit 7;0-8;0 korrekt interpretiert werden, also deutlich später, als die Beobachtung der kindlichen Produktion in Langzeitstudien vermuten lässt. Dieser Befund lässt sich durch zwei in Kap. 4 schon ausführlich diskutierte Hypothesen erklären. Nach der Unentscheidbarkeits-Hypothese liegt die Ursache in der kognitiven Entwicklung des Kindes: Erst 7bis 8-Jährige sind in der Lage, zwischen Inferenzen hinsichtlich der epistemischen Notwendigkeit und der epistemischen Möglichkeit zu unterscheiden, d. h. epistemische Unentscheidbarkeit wird erst in diesem Alter voll begriffen. Nach der Implikatur-Hypothese dagegen wird die Unfähigkeit junger Kinder, zwischen Ausdrücken der epistemischen Sicherheit und Unsicherheit zu unterscheiden, auf deren mangelde Bereitschaft zurückgeführt, skalare Implikaturen zu berechnen. Beide Hypothesen führen gleichermaßen zu der Aussage, dass Kinder unter 7;0-8;0 in vielen Kontexten schwache epistemische Ausdrücke falsch inteφretieren. Aufgrund des ausgewählten Testverfahrens lässt sich aus den Ergebnissen von Exp. 1 jedoch keinerlei Erkenntnis darüber gewinnen, ob sich das späte Verstehen epistemischer Ausdrücke am besten durch die Unentscheidbarkeits-, oder die Implikatur-Hypothese (oder sogar durch beide Hypothesen) erklären lässt: Die (fast) systematische Verbindung der epistemischen Testsätze mit der ,sicheren Geschichte' in Exp. 1 ist im Grunde mit beiden Hypothesen gleichermaßen verträglich. In den folgenden Abschnitten werden die Ergebnisse zweier Experimente dargestellt, die zum Ziel hatten, die Aussagekraft beider Hypothesen in Hinblick auf den Erwerb epistemischer Ausdrücke zu klären.

150

6. Die Unentscheidbarkeits- und die Implikatur-Hypothese

6.1

Experiment 2: Die Modalausdruck-, die Implikaturund die Unentscheidbarkeits-Aufgabe

6.1.1

Methode

Den Teilnehmern wurden in diesem Experiment drei Aufgaben gestellt. In der Modalausdruck-Aufgabe wurde das Verstehen der epistemischen Lesart von können sowie des Adverbs vielleicht nach demselben Verfahren wie in Exp. 1 getestet. In der zweiten Aufgabe — der Imphkatur-Aufgabe — wurde das Verstehen skalarer Implikaturen anhand des Quantors einige йЬефгйп. Und mittels der dritten Aufgabe — der Unentscheidbarkeits-Aufgabe — wurde untersucht, inwieweit die Teilnehmer dazu fáhig waren, epistemische Unentscheidbarkeit in einem nicht-sprachlichen Kontext zu erkennen. Die Modalausdruck-Aufgabe Die Modalausdruck-Aufgabe (= MA-Aufgabe) stellte eine leicht modifizierte Version von Exp. 1 dar. Der wichtigste Unterschied zu Exp. 1 lag in der Auswahl der getesteten Modalformen. Da in Exp. 1 deutlich gezeigt werden konnte, dass Kinder die ,sichere Geschichte' so gut wie systematisch wählen, wenn sie mit einem zirkumstantiellen können-SaXz konfrontiert werden, wurde in der MA-Aufgabe darauf verzichtet, zirkumstantielle MVSätze einzubeziehen. Ferner wurden für die MA-Aufgabe es kann sein, dass-Sätze mit einer einfachen ¿ii-Ergänzung im Nebensatz herangezogen (1), weil diese Form den Kindern möglicherweise viel vertrauter ist als die es kann sein, dass-Form mit Perfekt, die in Exp. 1 verwendet wurde, und daher leichter mit Epistemizität zu verbinden ist. (1)

Es kann sein, dass der Junge im Haus ist.

es kann sein, dass+Präs.

Als entsprechende vielleicht-Sätze wurden Konstruktionen wie in (2) einbezogen: (2)

Der Junge ist vielleicht im Haus.

Der Nachteil der hier gewählten Satzformen ist, dass sie im Unterschied zu den Satzstrukturen in Exp. 1 durchaus eine zirkumstantielle Lesart erlauben, wie in Fn.23 auf S.28 diskutiert wurde. Im Kontext des in dieser Arbeit ausgewählten Testverfahrens ist jedoch eine Interpretation mit zirkumstantiellem Hintergrund vom Außerungskontext her eigentlich ausgeschlossen.' Was die verwendeten Bildergeschichten betraf, blieben die .sicheren Geschichten' unverändert (s. Abb. 2a auf der nächsten Seite): Man konnte am Ende der Geschichte weiterhin sehen, wo sich der Junge befand. Bei den .unsicheren Geschichten' dagegen war es am Ende der Geschichte nie möglich zu wissen, wo sich der Junge tatsächlich befand (s. Abb. 2b). Auch am Ablauf des Experiments wurde nichts geändert: Die Kinder mussten weiterhin zuerst die Geschichten anschauen, dann folgende Frage beantworten: 1 Diese Auffassung wird durch die Ergebnisse von Exp. 4 in Kap. 7 bestätigt: I. Allg. wird die Epistemizität der Sätze in (1) und (2) besser verstanden als diejenige der Sätze in Exp. 1. Dazu s. auch die Diskussion in Fn.8 auf S. 163.

6.1 Experiment 2: Die MA-, die Implikatur- und die U-Aufgabe

151

Abb.2b: Die .unsichere Geschichte'

Abbildung 2: Exp. 2: Bildgeschichten für den Testsatz Es kann sein, dass der Junge im Haus ist in der MA-Aufgabe

„Von welcher Geschichte spreche ich, wenn ich sage:,... "', und anschließend ihre Wahl begründen. Die Implikatur-Aufgabe Die unter 4.2 diskutierte Implikatur-Hypothese besagt, dass die Kinder, die skalare Implikaturen nicht berücksichtigen, Sätze mit schwachen epistemischen Ausdrücken als akzeptabel betrachten sollten in Verbindung mit einer Situation, die normalerweise nur mit einem starken epistemischen Ausdruck zu beschreiben ist. Dies könnte erklären, warum die Mehrheit der 6-Jährigen (und ein Teil der 7- bis 9-Jährigen) die epistemischen Sätze von Exp. 1 mit der .sicheren Geschichte' verbunden hat und nicht mit der ,unsicheren Geschichte'. In der Tat sind die .sicheren Geschichten' von Exp. 1 mit den epistemischen können- bzw. vielleicht-Sätzen verträglich, aber nur wenn die skalare Implikatur nicht berücksichtigt wird. M. a. W. die ,sicheren Geschichten' von Exp. 1 bzw. der MA-

152

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

Aufgabe sind durchaus mit einer rein ,semantischen Lesart' von epistemischen könnenbzw. vielleicht-Sätzen verträglich, jedoch nicht mit einer ,pragmatischen Lesart' solcher Sätze.^ Die .unsichere Geschichte' ist dagegen nur mit der ,pragmatischer Lesart' von schwachen epistemischen Ausdrücken verträglich. Daraus folgt — so die ImplikaturHypothese —, dass die Wahl der,sicheren Geschichte' in Exp. 1 durch die Nicht-Berücksichtigung der skalaren Implikatur verursacht wurde. In der Diskussion der Ergebnisse von Exp. 1 (S. 145ff.) wurde jedoch festgestellt, dass ein Misserfolg in Exp. 1 — und a fortiori in der MA-Aufgabe dieses Experiments — nur unter zwei Bedingungen von der Nicht-Berücksichtigung der skalaren Implikatur abhängt: Nur wenn die Kinder diesen Typ von Implikaturen nicht berechnen und gleichzeitig die ,semantische Lesart' schwacher skalarer Ausdrücke gegenüber deren ,pragmatischen Lesart' bevorzugen, kann die Nicht-Berücksichtigung einer skalaren Implikatur als Ursache der Bevorzugung der ,sicheren Geschichte' in der MA-Aufgabe betrachtet werden. Wichtig ist dabei festzustellen, dass beide Bedingungen erfüllt sein müssen. Wie schon in der Diskussion von Exp. 1 erwähnt (S. 145ff.), ist es grundsätzlich schwierig, a priori einzuschätzen, welche Lesart skalarer Ausdrücke Kinder präferieren, die skalare Implikaturen nicht berücksichtigen. Eine starke Präferenz für die ,semantische Lesart' schwacher skalarer Ausdrücke kann damit zwar als eindeutiger Hinweis gedeutet werden, dass sie die Implikatur nicht berücksichtigt haben. Es ist jedoch genauso möglich, dass diese Kinder die ,pragmatische Lesart' skalarer Ausdrücke gegenüber der ,semantischen' bevorzugen, und dies unabhängig von jeglicher Implikatur, so z. B. weil die ,pragmatische Lesart' ihrer alltäglichen Erfahrung mit der Bedeutung skalarer Ausdrücke besser entspricht oder weil sie einen rein semantisch-lexikaUschen Ansatz verfolgen (s. dazu unter 5.2.4, S. 145). Im Ergebnis lässt sich der Effekt einer Nicht-Berechnung der skalaren Implikatur in einem Picture Selectt'on-Experiment wie folgt erfassen: Wenn die ,semantische Lesart' präferiert wird, kann der Schluss gezogen werden, dass die Implikatur nicht berücksichtigt wurde. Aus der Tatsache dagegen, dass die ,pragmatische Lesart' präferiert wird, lässt sich nicht schließen, dass die Implikatur tatsächlich berechnet wurde. Ziel der Implikatur-Aufgabe war es also weniger, die Fähigkeit der Kinder zu testen, skalare Implikaturen zu verstehen, sondern vielmehr zu übeφrüfen, welche Lesart (die ,semantische' bzw. die ,pragmatische') skalarer Ausdrücke Kinder in einer Picture Selection Task präferieren. Damit sollte festgestellt werden können, ob die Verbindung von vielleicht und epistemischem können mit der .sicheren Geschichte' in der MA-Aufgabe mit einer Präferenz für die ,semantische Lesart' von skalaren Ausdrücken zusammenhängt.^

Mit „semantischer Lesart" ist die Bedeutung schwacher skalarer Ausdrücke gemeint, die genau ihrer Semantik entspricht. Unter „pragmatischer Lesart" wird dagegen die Bedeutung solcher Ausdrücke verstanden, die das Ergebnis der skalaren Implikatur berücksichtigt, also ihre semantische Bedeutung abzüglich aller Fälle, die von stärkeren Termini der Skala ausgedrückt werden können. Die ,semantische Lesart' von einige wäre dann mit ein paar und vielleicht alle zu paraphrasieren und seine .pragmatische Lesart' mit nur ein paar und nicht alle. Die Fähigkeit, skalare Implikaturen zu berechnen, ist Gegenstand von Exp. 3. S. dazu S. 169ff..

6.1 Experiment2: Die MA-, die Implikatur- und die U-Aufgabe

153

Abb. 3a: Beispiel einer Geschichte in der Implikatur-Aufgabe (mit offenem Ende)

EINIGE-Fall

iJiij; ALL-Fall

KEIN-Fall

Abb. 3b: Drei mögliche Fortsetzungen der Geschichte auf Abb. 3a (entsprechend den Testsätzen in

(3)) Abbildung 3: Exp. 2: Bildergeschichte für die Implikatur-Aufgabe Zu diesem Zweck wurde das Verstehen von mit einige, alle und kein quantifizierten Sätzen wie in (3) getestet: (3)

a. Einige Kinder sind im Boot. b. Alle Kinder sind im Boot. c. Kein Kind ist im Boot.

154

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

Den Teilnehmern wurde der Anfang einer Geschichte mit zwei Bildern gezeigt (s. Abb. 3a auf der vorherigen Seite). Dieser Anfang stellte immer eine Gruppe von fünf Kindern dar, die dabei waren, eine Handlung durchzuführen. Das Ende dieser Geschichte wurde nicht gezeigt (leeres Bild): Es blieb also völlig offen. Gleichzeitig wurden den Teilnehmern zwei Bilder gezeigt, die zwei alternative Fortsetzungen der Geschichte darstellten. Den Teilnehmern wurden dabei in jedem Testversuch jeweils zwei von folgenden drei alternativen Fortsetzungen gezeigt (s. Abb. 3b): Die erste Alternative zeigte, dass drei von fünf Kindern die Handlung durchgeführt hatten (= EINIGE-Fall); die zweite, dass alle fünf Kinder die Handlung durchgeführt hatten (= ALL-Fall); und die dritte, dass kein Kind die Handlung durchgeführt hatte (= KEIN-Fall). Genauso wie die MA-Aufgabe wurde die Implikatur-Aufgabe in der Form eines Ratespiels durchgeführt. Das erste Bild der Geschichte stand links vom Teilnehmer. Die zwei vorgeschlagenen Fortsetzungen waren rechts von ihm platziert.'' Die Aufgabe wurde mit folgenden Worten eingeführt: „Schau'mal. Hier ist der Anfang einer Bildergeschichte mit zwei Bildern. Wie Du sehen kannst, ist das Ende der Geschichte noch völlig offen. Und hier, auf der anderen Seite, kannst Du zwei mögliche Enden der Geschichte sehen. Ich werde dir eine Frage stellen, und du musst raten, welches von beiden Bildern das richtige Ende der Geschichte ist. Dabei musst Du genau zuhören, was ich sage." Dem Teilnehmer wurde genug Zeit gegeben, sich die Bilder genau anzuschauen. Nachdem er ein Zeichen gegeben hatte, dass er bereit sei, stellte ihm der Experimentator folgende Frage: „Welches ist das richtige Ende der Geschichte, wenn ich sage ,... "'. An dieser Stelle wurde der Testsatz eingeführt. Der Teilnehmer musste eine der zwei vorgeschlagenen Fortsetzungen auswählen und seine Wahl begründen. Tabelle 6.1 zeigt, welche Kombinationen aus Testsätzen und alternativen Fortsetzungen in der Implikatur-Aufgabe getestet wurden: Tabelle 6.1: Exp. 2: Testsätze und Kombinationen aus möglichen Fortsetzungen für die Implikatur-Aufgabe Fall Nr. 1 2 3 4 5 6

Testsatz mit Einige Alle Kein Kein Einige Einige

Mögliche Fortsetzungen der Gescliichte Alle Einige — Einige — Alle Kein Einige — Kein — Alle Einige — Kein Alle Kein

Das Verstehen der für die Zwecke der Untersuchung kritischen Kombinationen 1 und 2 wurde jeweils dreimal getestet und das Verstehen der Kombinationen 3 bis 5 nur zweimal. Diese fünf ersten Kombinationen wurden den Kindern zwar in zufälliger Abfolge Die Links/Rechts- Anordnung beider Fortsetzungen auf der rechten Seite des Teilnehmers wurde randomisiert.

6.1 Experiment!: Die MA-, die Implikatur- und die U-Aufgabe

155

geboten, aber die drei Versuche mit dem kritischen Fall 1 wurden immer vor den drei Versuchen mit dem kritischen Fall 2 durchgeführt. Dadurch konnte vermieden werden, dass die Kinder ihre Entscheidung im Fall 1 aufgrund von Erkenntnissen aus dem Fall 2 motivierten. Die 6. Kombination stellte einen Sonderfall dar. Hier wurde das Verstehen der semantischen Eigenschaften von einige geprüft: Dem Kind wurde ein Testsatz mit einige angeboten mit zwei möglichen Ausgängen: dem KEIN-Fall, der nicht in Verbindung mit dem Testsatz zu bringen ist, und dem ALL-Fall, der nur unter Berücksichtigung der rein semantischen Eigenschaften von einige, d. h. ohne Berechnung der skalaren Implikatur zu dem Testsatz passen kann. Dieser Fall wurde nur einmal getestet und nur als letzte Kombination im Experiment angeboten, um einen möglichen Einfluss auf das Verhalten der Kinder bei den anderen Kombinationen zu vermeiden. Im kritischen Fall Nr. 1 wurde erwartet, dass die Kinder den ALL-Fall auswählen, wenn sie die skalare Implikaturen nicht berechnen und die ,semantische Lesart' von einige bevorzugen. Es wurde dagegen erwartet, dass alle Kinder den EINIGE-Fall in diesem kritischen Fall wählen würden, wenn sie entweder die skalare Implikatur berechnet hatten oder wenn sie aus anderen Gründen die ,pragmatische Lesart' des Quantors präferierten. Im Hinblick auf die Implikatur-Hypothese wurde darüber hinaus erwartet, dass die Kinder, die in der MA-Aufgabe die,sichere Geschichte' bevorzugen, eine deutliche Präferenz für den ALL-Fall im 1. Fall der Implikatur-Aufgabe zeigen würden, wenn die Unfähigkeit dieser Kinder, epistemische Ausdrücke zu verstehen, mit einer Nicht-Berechnung der skalaren Implikatur zusammenhängt. Sollten jedoch die Kinder, die in der MA-Aufgabe die .sichere Geschichte' präferieren, im 1. Fall der Implikatur-Aufgabe die pragmatische Lesart von einige (d. h. den EINIGE-Fall) bevorzugen, so würde dieses Verhalten die Implikatur-Hypothese falsifizieren: In diesem Fall würden die Ergebnisse der ImplikaturAufgabe eindeutig belegen, dass Kinder — warum auch immer — die ,pragmatische Lesart' skalarer Ausdrücke gegenüber der ,semantischen' bevorzugen. Ihre gleichzeitige Präferenz für die ,sichere Geschichte' in der MA-Aufgabe könnte deshalb nicht mehr auf Schwierigkeiten mit skalaren Implikaturen zurückgeführt werden. Zusammengefasst: Es werden parallele Reaktionsmuster in beiden Aufgaben erwartet, wenn die ImplikaturHypothese zutreffen sollte (= Wahl der .sicheren Geschichte' in der MA-Aufgabe und Wahl des ALL-Falls im Fall Nr. 1 der Implikatur-Aufgabe). Die Unentscheidbarkeits-Aufgabe Die Unentscheidbarkeits-Aufgabe (= U-Aufgabe) hatte zum Ziel, in einem nicht-sprachlichen Experiment zu überprüfen, ob 6- bis 8-Jährige epistemische Unentscheidbarkeit begreifen können, ob also die Ergebnisse der MA-Aufgabe (und von Exp. 1) durch die Unentscheidbarkeits-Hypothese zu erklären sind.

156

6. Die Unentscheidbarkeits-

und die

Implikatur-Hypothese

Π

v-TS

Abb. 4a: Entscheidbarer Fall

Ν η Π

Abb. 4b: Unentscheidbarer Fall mit negativer Evidenz

1

Ι η Π

(UNeg. Εν.)



Π •ÎΗ

Abb.4с: Unentscheidbarer Fall mit positiver Evidenz

(UPOS.

EV.)

Abbildung 4: Exp. 2: Bilder für die Unentscheidbarkeits-Aufgabe Die U-Aufgabe stellte eine modifizierte Version des Experiments von Somerville et al. (1979) dar (s. S.93). Den Teilnehmern wurden zwei Bilder gleichzeitig gezeigt (s. Abb. 4). Das erste Bild zeigte eine Figur (ein Kind) mit drei seiner Spielzeuge. Das zweite Bild zeigte zwei Häuser mit jeweils einem Spielzeug vor der Tür. Den Kindern wurde das Experiment als Ratespiel vorgestellt. Ihnen wurde erzählt, dass das Kind auf dem linken Bild in ei-

6.1 Experiment!: Die MA-, die Implikatur- und die U-Aufgabe

157

nem der zwei Häuser (rechtes Bild) wohnen und eines seiner drei Spielzeuge immer vor die Tür seines Hauses stellen würde, wenn es nach Hause gehe. Aufgabe des Spiels sei es also zu raten, in welchem Haus die Figur wohnen würde. Wie auf Abb. 4 dargestellt wird, können mit diesem Verfahren drei Fälle getestet werden: (i) Nur ein Spielzeug vor einer der Türen stimmt mit einem der Spielzeuge des Kindes überein (Abb. 4a); (ii) Keines der Spielzeuge vor den Türen stimmt mit einem Spielzeug des Kindes überein (Abb. 4b) und (iii) beide Spielzeuge vor den Türen stimmen mit denjenigen des Kindes überein (Abb. 4c). Es ist auch leicht zu erkennen, dass es nur im ersten Fall möglich ist, mit Sicherheit zu wissen, in welchem Haus die Figur wohnt. In den beiden anderen Fällen ist dies nicht möglich, weil man im Fall (ii) über keinerlei Information und im Fall (iii) letztlich über zu viele Informationen verfügt. Der Fall (ii) kann deswegen als „unentscheidbar mit negativer Evidenz" (= UNeg, EV.-Aufgabe) und der Fall (iii) als „unentscheidbar mit positiver Evidenz" (= Upos.Ev.-Aufgabe) bezeichnet werden. Beide Fälle wurden im Experiment berücksichtigt, weil es a priori nicht möglich ist einzuschätzen, wie die Kinder die ,unsichere Geschichte' in der MA-Aufgabe hinsichtlich der verfügbaren Informationen einstufen würden.^ Das Bild mit der Figur war links vom Teilnehmer platziert und das Bild mit den Häusern rechts von ihm. Die Aufgabe wurde mit folgenden Worten eingeführt: „Siehst Du da auf dieser Seite. Das Bild zeigt immer ein Kind mit seinen drei Spielzeugen. Es wohnt in einem der zwei Häuser hier. Und weißt du, wenn es nach Hause geht, vergisst es immer ein Spielzeug vor der Tür seines Hauses. Vor der Tür von jedem Haus liegt ein Spielzeug. Deine Aufgabe ist es zu raten, in welchem der zwei Häuser das Kind wohnt. Dabei musst Du immer auf die Spielzeuge gucken." Wie in allen anderen Aufgaben wurde dem Teilnehmer bei jedem Testversuch genügend Zeit gegeben, sich die Bilder genau anzuschauen. Nachdem er ein Zeichen gegeben hatte, dass er bereit war, wurde ihm folgende Frage gestellt: „Kannst Du mir sagen, in welchem der zwei Häuser der Junge (bzw. das Mädchen) wohnt? Oder brauchst Du Hilfe von mir?'. Mit der zweiten Frage wurde versucht, die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Tatsache zu lenken, dass sie ohne Weiteres zum Ausdruck bringen durften, wenn sie das Gefühl hatten, nicht entscheiden zu können. Die drei in Betracht gezogenen Fälle wurden jeweils dreimal getestet. Ziel dieser Aufgabe war also zu übeφrüfen, ob Kinder epistemische Unentscheidbarkeit erkennen können, d. h. ob sie erkennen, dass sie in den zwei unentscheibaren Fällen dieser Aufgabe über nicht genügend Evidenz verfügen, um eine sichere Inferenz über das Wohnhaus der Figur zu vollziehen. Beide Fälle sind so konstruiert, dass man nur vermuten kann, wo die Figur wohnt. Bei dieser Aufgabe wurde natürlich erwartet, dass die Teilnehmer, welche epistemische Unentscheidbarkeit erkennen, mindestens in einem der In der Vorbereitung der U-Aufgabe wurde auch der neutrale Fall berücksichtigt, dass gar keine Spielzeuge vor den Häusern standen. Diesen Fall kann man als „unentscheidbar ohne Evidenz" bezeichnen. Er wurde in das eigentliche Experiment jedoch nicht einbezogen, weil die Kinder, die an einem Vor-Test zur Vorbereitung der U-Aufgabe teilnahmen, diesen Fall sehr irritierend fanden: Sie gingen davon aus, dass das Ratespiel in diesem Fall gar keinen Sinn macht, weil die Suche des richtigen Hauses mit Hilfe der Spielzeuge vor den Türen nicht mehr möglich war. Sie betrachteten die Abwesenheit von Spielzeugen vor den Türen als Verletzung der Spielregeln.

158

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

unentscheidbaren Fälle klar zum Ausdruck bringen würden, dass sie keines der Häuser wählen konnten, und darum in diesen Fällen um Hilfe bitten würden. Die Unentscheidbarkeits-Hypothese besagt, dass das Verstehen von Ausdrücken der epistemischen Unsicherheit von der kognitiven Fähigkeit abhängt, epistemische Unentscheidbarkeit zu erkennen. M. a. W. diese Hypothese geht davon aus, dass schwache epistemische Ausdrücke erst dann korrekt verwendet werden können, wenn Kinder verstehen, wann sie über nicht genügend Evidenz verfügen, um eine definitive Entscheidung zu treffen. Sollte die Unentscheidbarkeits-Hypothese zutreffen, so würde eine hohe Korrelation zwischen den Ergebnissen der MA- und der U-Aufgabe erwartet werden: Dieser Hypothese folgend sollten die untersuchten Kinder erst dann die Modalausdrücke in der MA-Aufgabe korrekt verstehen können, wenn sie in der Lage sind, die epistemisch unentscheidbaren Fälle der U-Aufgabe zu erkennen. Vorgehen Aus Zeitgründen war es unmöglich, alle Aufgaben in einer einzigen Sitzung durchzuführen. Die Aufgaben wurden deswegen in folgender Reihenfolge durchgeführt: Die MAAufgabe fand zuerst statt in einer einzigen Sitzung à ca. 15 Minuten. Die Implikaturund die U-Aufgabe wurden in einer zweiten Sitzung à ca. 20 Minuten gestellt, etwa zehn Tage nach der MA-Aufgabe. In dieser zweiten Sitzung folgte die U- unmittelbar auf die Implikatur-Aufgabe. Die Kinder wurden einzeln in einem separaten Raum ihrer Schule bzw. ihres Kindergartens getestet. Ihre Antworten wurden auf Tonband zur späteren Auswertung aufgenommen.

6.1.2

Teilnehmer

Insgesamt beteiligten sich 74 Kinder von 5;7 bis 8;6 in drei Altersgruppen und 10 Erwachsene am Experiment: 1. 6-Jährige: 18 Kinder zwischen 5;7 und 6;6 (Altersdurchschnitt: 6;2) 2. 7-Jährige: 28 Kinder zwischen 6;7 und 7;6 (Altersdurchschnitt: 7;1) 3. 8-Jährige: 28 Kinder zwischen 7;7 und 8;6 (Altersdurchschnitt: 8;1) Alle Kinder besuchten Grundschulen bzw. Kindergärten in Stuttgart (Kindergarten) und Tübingen (Grundschule). Alle Kinder waren monolinguale Sprecher des Deutschen. Die Erwachsenen waren Studenten der Universität Tübingen.

6.1.3

Ergebnisse

In der MA-Aufgabe wurde eine Antwort als korrekt betrachtet, wenn der Teilnehmer die ,unsichere Geschichte' gewählt hatte, mit einer Begründung, die auf ein epistemisches Verständnis der Testsätze schließen ließ (für mehr Details dazu s. unter 5.2.3, S. 133).

6.1 Experiment!:

Die MA-, die Implikatur- und die U-Aufgabe

159

Die Ergebnisse für vielleicht und können wurden separat ausgewertet. In der ImplikaturAufgabe wurden nur die Ergebnisse des kritischen Fall Nr. 1 herangezogen (einige-Satz mit ALL- und EINIGE-Fall als Fortsetzungen).® In der UNEG. EV.- und UPOS. EV.-Aufgabe

wurde eine Antwort als korrekt gezählt, wenn der Teilnehmer gezeigt hatte, dass er nicht in der Lage war, sich für eines der Häuser zu entscheiden. Jede korrekte Antwort zählte 1/3-Punkte, so dass jedem Kind in jeder Aufgabe ein Wert zwischen 0 und 1 zugeordnet werden konnte. Tabelle 6.2 zeigt den Durchschnitt der von den Kindern erzielten Punkte für die jeweiligen Altersgruppen und Aufgaben. Tabelle 6.2: Exp. 2: Durchschnitt der erzielten Punkte Alter

können

6 Jahre 7 Jahre 8 Jahre Erw. Alter

(n= 18) (n=28) (n=28) (n=10)

6 Jahre 7 Jahre 8 Jahre Erw.

(n= 18) (n=28) (n=28) (n=10)

0,09 0,37 0,64 1,00

0,47 0,66 0,73 1,00

vielleicht

(sd=0,25) (sd=0,47) (sd=0,47) (sd=0,00)

0,12(sd=0,19) 0,40 (sd=0,47) 0,69 (sd=0,44) 1,00 (sd=0,00)

UNeg. Ev.

Upos. Ev.

(sd=0,43) (sd=0,45) (sd=0,42) (sd=0,00)

0,22 0,48 0,68 1,00

Implikatur 0,89 0,93 1,00 1,00

(sd=0,32) (sd=0,26) (sd=0,00) (sd=0,00)

(sd=0,35) (sd=0,50) (sd=0,46) (sd=0,00)

Die Ergebnisse wurden mit einer 4 (ALTER: 6 , 7 , 8 , Erw.) χ 2 (GESCHLECHT) MANO-

VA auf Signifikanz analysiert. In keiner Aufgabe wurde ein signifikanter Effekt vom Faktor G E S C H L E C H T beobachtet (F(l,82) = 0,29; p = .59 für können; F(l,82) = 0,09; p = .77 für vielleicht; F(l,82) = 3,55; p = .6 für Implikatur; F(l,82)= 1,33; p = .25 für UNeg.Ev,; und F(l,82) = 0,35; p = .56 für Upos.Ev.)· Im Gegensatz dazu wurde ein signifikanter Effekt von ALTER in der MA- (F(3,80) = 13,42; p = .000 für können; F(3,80)= 14,11; ρ = .000 für vielleicht) und in beiden U-Aufgaben festgestellt (F(3,80) = 3,42; ρ = .02 für UNEG. Ev.; F(3,80) = 8,27; p = .000 für UPOS. EV.)· Der Faktor ALTER spieh dagegen keine signifikante Rolle in der Implikatur-Aufgabe (F(3,80) = 1,5; ρ = .22). Für alle Aufgaben außer der Implikatur-Aufgabe wurde die Rolle des Faktors ALTER mittels Post-hoc Dunnett-C Tests ( a = .05, zweiseitig) weiter analysiert. Diese Tests zeigen Folgendes: Die Erwachsenen schnitten in allen Aufgabe signifikant besser ab als alle Gruppen der Kinder. In der MA-Aufgabe haben die 8-Jährigen beide epistemische Ausdrücke signifikant besser verstanden als die 6-Jährigen. Keine weiteren signifikanten Unterschiede wurden festgestellt. In der UNeg.Ev.-Aufgabe wurden keine signifikanten Der Fall Nr. 6 (einige-Satz mit ALL- und KEIN-Fall als Fortsetzungen) wurde separat ausgewertet (s. dazu hier unten auf S. 160). Alle weiteren herangezogenen Kombinationen stellten für die Teilnehmer keinerlei Schwierigkeit dar.

160

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

Unterschiede zwischen den Grappen der Kinder beobachtet. In der Upos. EV.-Aufgabe ergibt der Test das gleiche Ergebnis wie in der MA-Aufgabe: Die 8-Jährigen schnitten signifikant besser ab als die 6-Jährigen. Ansonsten gab es keine signifikanten Unterschiede. Innerhalb der jeweiligen Gruppen (außer den Erwachsenen) wurde mit einem Wilcoxon-Test (α = .05, zweiseitig) getestet, (i) ob vielleicht signifikant besser verstanden wurde als können und (ii) ob die Kinder signifikant bessere Ergebnisse in der MA- erzielten als in den U-Aufgaben. Es konnte nur ein einziger signifikanter Unterschied festgestellt werden: Die 6- und 7-Jährigen erzielten signifikant bessere Ergebnisse in der UNeg.Ev.als in der MA-Aufgabe (Für die 6-Jährigen: ζ = -2,85; ρ = .004 zwischen Uj^eg. ev. und können und ζ = -2,76; ρ = .006 zwischen UNeg.Ev. und vielleicht. Für die 7-Jährigen: z = -2,52; ρ = .012 zwischen UNeg.Ev. und können und ζ = -2.6; ρ = .009 zwischen UNeg.Ev. und vielleicht). Beim Fall Nr. 6 der Implikatur-Aufgabe (einige-Satz mit ALL- und KEIN-Fall zur Auswahl) reagierten die Teilnehmer wie folgt: 78% der Erwachsenen lehnten beide Bilder ab. Diese Reaktion ist typisch, wenn die von einige ausgelöste Implikatur beibehalten wird: Wegen der Implikatur muss der ALL-Fall abgelehnt werden, während der KEIN-Fall aus semantischen Gründen ausscheidet. 22% der Erwachsenen wählten dagegen den ALLFall: Diese Erwachsene haben einfach die Implikatur nicht mehr berücksichtigt mit dem Ergebnis, dass der einige-Satz mit dem ALL-Fall verträglich wurde. 78% der 6-Jährigen entschieden sich, den ALL-Fall zu wählen; 2 (= 11%) 6-Jährige lehnten beide Fortsetzungen der Geschichte ab; und 2 (= 11%) 6-Jährige wählten den KEIN-Fall. 71% der 7-Jährigen wählten den ALL-Fall, 19% lehnten beide Fortsetzungen ab und 10% der 7Jährigen bevorzugten den KEIN-Fall. 64% der 8-Jährigen wählten den ALL-Fall, 32% lehnten beide Fortsetzungen ab, und ein 8-Jähriger (=4%) hat den KEIN-Fall gewählt. Zu diesen Ergebnissen muss angemerkt werden, dass viele Kinder — vor allem in den zwei ältesten Gruppen — sowie fast alle Erwachsene ihre Auswahl erst nach einem langen Zögern getroffen haben, vor allem wenn sie sich entschieden hatten, den ALL-Fall zu wählen. Von diesen Teilnehmern kam auch oft die Bemerkung, der ALL-Fall sei zwar besser als der KEIN-Fall, ohne jedoch wirklich passend zu sein. Auch viele Teilnehmer, die beide Fortsetzungen abgelehnt haben, machten die Bemerkung, dass der ALL-Fall unter Umständen passabel sei. Diese kurze qualitative Analyse zeigt, dass diese Teilnehmer trotz ihrer Entscheidung zugunsten einer der Lesarten sich dessen bewusst sind, dass einige sowohl eine pragmatische als auch eine semantische Lesart hat. Sie legt femer die Vermutung nahe, dass die Teilnehmer, die den ALL-Fall gewählt haben, die Implikatur nur deswegen nicht berücksichtigt haben, weil das Problem ansonsten nicht mehr lösbar wäre, also weil sie sich durch die Versuchsanordnung quasi gezwungen fühlten, auf die Implikatur zu verzichten. Für die Übeφrüfung der Unentscheidbarkeits- und der Implikatur-Hypothese ist aber vor allem wichtig zu ermitteln, welche Korrelationen zwischen den verschiedenen Aufgaben dieses Experiments bestehen bzw. nicht bestehen. Tabelle 6.3 zeigt, wie hoch und signifikant die Korrelationen zwischen den verschiedenen Aufgaben sind. Dabei wurde der Faktor ALTER herauspartialisiert, um abzusichern, dass mögliche Korrelationen auch unabhängig vom Alter der Kinder signifikant bestehen. Wie aus Tabelle 6.3 zu entnehmen ist, gibt es keine Korrelation zwischen den Ergebnissen der MA- und der Implikatur-Aufgabe. Dies bedeutet, dass die Wahl der ,sicheren

6.1 Experiment!:

Die MA-, die Implilcatur- und die U-Aufgabe

161

Tabelle 6.3: Exp. 2: Höhe und Signifikanz der herauspartialisierten Korrelationen

können können vielleicht Implikatur U N e g . Ev. U p o s . Ev.

vielleicht 0,91*

0,9Г 0,03 0,43* 0,52*



0,00 0,43* 0,58*

Implikatur 0,03 0,00 —

-0,18 -0,01

U N e g . Ev.

U p o s . Ev.

0,43* 0,43* -0,18

0,52* 0,58* -0,01 0,59*



0,59*



* ρ = .000

Geschichte' in der MA-Aufgabe nicht auf einer Neigung der Kinder beruhte, eine rein semantische Interpretation schwacher skalarer Termini zu bevorzugen. Im Gegensatz dazu zeigt sich, dass die Ergebnisse der MA-Aufgabe stark und signifikant mit den zwei U-Aufgaben korrelieren, wobei die Korrelation zwischen der MA- und der U p o s . Ev.-Aufgabe etwas höher ausfállt als zwischen der MA- und U N e g . Ev.-Aufgabe. Diese Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass die Schwierigkeiten der Kinder mit der MA-Aufgabe damit zusammenhingen, dass sie den epistemisch unsicheren Charakter der ,unsicheren Geschichte' nicht erkannten.

6.1.4

Diskussion

Ziel dieses Experiments war es zu überprüfen, warum 6- bis 7-Jährige große Schwierigkeiten haben. Ausdrücke der epistemischen Unsicherheit korrekt zu inteφretieren. Dazu wurden zwei Hypothesen in Betracht gezogen: (i) 6- und 7-Jährige neigen dazu, schwache skalare Ausdrücke in Fällen semantisch zu interpretieren, in denen Erwachsene die von diesen Ausdrücken ausgelösten skalaren Implikaturen berücksichtigen (ImplikaturHypothese); (ii) 6- und 7-Jährige haben Schwierigkeiten, epistemische Unentscheidbarkeit zu erfassen, d.h. diese Kinder gingen bei der ,unsicheren Geschichte' von Exp. 1 entweder davon aus, dass der Junge die Handlung durchgeführt hatte, oder dass er sie nicht durchgeführt hatte, ohne in Betracht zu ziehen, dass eigentlich beide Inteφretationen mit dieser Geschichte verträglich sind (Unentscheidbarkeits-Hypothese). Um beide Hypothesen zu überprüfen, wurden den untersuchten Kindern in diesem Experiment drei Aufgaben gestellt: (i) Eine Aufgabe zum Verstehen epistemischer Ausdrücke, die methodisch dem Verfahren von Exp. 1 entspricht, (ii) eine Aufgabe zum Verstehen skalarer Implikaturen und (iii) eine Aufgabe zum Verstehen der epistemischen Unentscheidbarkeit. Die Ergebnisse des Experiments liefern eindeutige Evidenzen, die gegen die Implikatur-Hypothese sprechen. Sie sind dagegen mit den Voraussagen der UnentscheidbarkeitsHypothese verträglich. Die Ergebnisse dieses Experiments bestätigen zunächst die Beobachtungen von Exp. 1 : Während die 8-Jährigen in etwa 65% der Fälle in der Lage waren, beide epistemischen

162

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

Ausdrücke in der MA-Aufgabe mit der epistemisch unsicheren Situation zu assoziieren, waren die 7-Jährigen in nur etwa 40% der Fälle dazu fähig. Dieser Wert sinkt sogar auf etwa 10% bei den 6-Jährigen. Auch die von den Kindern gegebenen Begründungen ihrer jeweiligen Wahl bestätigen die Annahme, dass erst 8-Jährige epistemische Ausdrücke regelmäßig korrekt verstehen: Die typische Reaktion der 6-Jährigen war, die ,sichere Geschichte' zu wählen und ihre Wahl damit zu begründen, dass sie den Jungen am Zielort sehen konnten. Diese Reaktion der 6-Jährigen zeigt, dass schwache epistemische Äußerungen ihrer Ansicht nach durchaus mit Fällen verträglich sind, die normalerweise mit stärkeren epistemischen Ausdrücken oder sogar einer einfachen Assertion beschrieben werden. Die 8-Jährigen dagegen gaben zwei Typen von Begründungen: (i) Sie lehnten die ,sichere Geschichte' mit dem Hinweis ab, sie könnten den Jungen sehen; (ii) sie wählten die ,unsichere Geschichte' und gaben in diesem Fall als Begründung, dass der Junge plötzlich verschwunden war. Zusammenfassend kann man sagen, dass sowohl die falschen Begründungen der jüngeren Kinder als auch die korrekten der älteren zeigen, dass ihre jeweilige Auswahl nicht per Zufall erfolgte, sondern aufgrund ihrer Einschätzung des Standorts des Jungen. Die Ergebnisse der U-Aufgabe zeigen einen ähnlichen Entwicklungstrend wie bei der MA-Aufgabe. Im Allgemeinen waren die Kinder der zwei jüngsten Gruppen nicht in der Lage, eine Situation als epistemisch unentscheidbar zu erkennen, während die 8-Jährigen in etwa 70% der Fälle keinerlei Schwierigkeiten mit den unentscheidbaren Fällen der U-Aufgabe hatten. Der Vergleich der Ergebnisse der MA- und der U-Aufgaben deutet auch darauf hin, dass die Unfähigkeit von 6- bis 7-Jährigen, Ausdrücke der epistemischen Unsicherheit zu verstehen, mit ihrer Unfähigkeit zusammenhängt, epistemische Unentscheidbarkeit zu erkennen: Das Korrelationsniveau zwischen der MA- und der U-Aufgabe beträgt 0,43, wenn negative Evidenz in der U-Aufgabe vorliegt, und sogar 0,52 {können) bzw. 0,58 (vielleicht) bei positiver Evidenz. Dieser Zusammenhang deutet also darauf hin, dass eine wichtige Voraussetzung für die Lösung der MA-Aufgabe bei den jüngeren Kindern noch nicht erfüllt ist: Um in der MA-Aufgabe zu erkennen, dass sich die epistemischen Ausdrücke vielleicht und können auf die ,unsichere Geschichte' beziehen, ist es unabdingbar zu erkennen, dass es bei dieser Geschichte unmöglich ist, genau zu wissen, wo sich die dargestellte Figur befindet. Nimmt z. B. ein Kind bei der ,unsicheren Geschichte' in Abb. 2b (S. 151) irrtümlicherweise an, der Junge sei definitiv nicht im Haus, ist es mit demselben Problem konfrontiert wie in Novecks (2001) Experiment (s. S. 97ff.): Die ,unsichere Geschichte' fällt dann sowohl aus semantischen als auch aus pragmatischen Gründen als mögliche Antwort aus, weil ein Satz wie Es kann sein, dass der Junge im Haus ist unter keinen Umständen mit einem Fall verträglich sein kann, in dem man davon überzeugt ist, dass der Junge nicht im Haus ist. Das Kind steht in diesem Fall vor der Wahl, die ,sichere Geschichte' zu wählen und dabei die skalare Implikatur nicht zu berücksichtigen oder die Implikatur zu behalten und konsequenterweise beide Geschichten ablehnen zu müssen. Genau betrachtet, entspricht diese Situation exakt dem Fall Nr. 6 der Implikatur-Aufgabe, in dem das Kind einige entweder mit dem ALL- oder dem KEINFall verbinden musste.^ Die Ergebnisse des Falls Nr. 6 der Implikatur-Aufgabe zeigen 7 Wenn ein Kind davon ausgeht, dass der Junge bei der .unsicheren Geschichte' definitiv nicht im Haus

6.1 Experiment!: Die MA-, die Implikatur- und die U-Aufgabe

163

diesbezüglich eindeutig, dass die Kinder einige lieber mit dem ALL-Fall verbinden — wenn als zweite Alternative der KEIN-Fall angeboten wird —, als dass sie beide Optionen ablehnen. Sie entscheiden sich also in solchen Fällen mehrheitlich dafür, die Implikatur zu löschen bzw. nicht zu berücksichtigen und die ,semantische Lesart' schwacher skalarer Termini zu akzeptieren. Nimmt das getestete Kind im Gegensatz dazu an, der Junge sei am Ende der ,unsicheren Geschichte' in Abb. 2b auf jeden Fall im Haus, steht es vor dem Problem, dass nun beide Geschichten gleich gut zu den Testsätzen passen (natürlich ohne Berücksichtigung der skalaren Implikatur). In diesem Fall sollte die Auswahl eigentlich zufällig erfolgen. Da jedoch die Kinder so gut wie nie die ,unsichere Geschichte' gewählt haben, und zwar mit dem Hinweis, der Junge sei im Haus, liegt die Vermutung nahe, dass sie kaum von dieser zweiten Interpretation der ,unsicheren Geschichte' ausgegangen sind. Die Kinder haben entweder den unsicheren Charakter der ,unsicheren Geschichte' erkannt (also dass man nicht wissen kann, wo der Junge ist) und die Aufgabe bestanden oder sie sind davon ausgegangen, dass der Junge am Ende dieser Geschichte nicht im Haus war und haben deswegen konsequenterweise die ,sichere Geschichte' gewählt.^ Das Scheitern der zwei jüngsten Altersgruppen an der MA-Aufgabe lässt sich also auf deren Unfähigkeit zurückführen, epistemische Unentscheidbarkeit zu erkennen. Wie lässt sich aber ihr Umgang mit epistemischer Unentscheidbarkeit genauer charakterisieren? Zunächst zeigen die Ergebnisse der U-Aufgabe, dass die Kinder den Fall mit negativer Evidenz deutlich besser gelöst haben als den Fall mit positiver Evidenz. Dies ist als Hinweis darauf zu deuten, dass viele Kinder eine Art try and eliminate-Strategie in der U-Aufgabe angewendet haben könnten: Sie haben wahrscheinlich die zwei Häuser mit Spielzeugen vor der Tür auf ihre jeweilige Verträglichkeit mit den Spielzeugen der Figur hin untersucht und die unpassenden Möglichkeiten eliminiert. Wenn nur negative Evidenz vorlag, konnten mit diesem Verfahren beide Häuser ohne Weiteres eliminiert werden und das Kind konnte dadurch leichter zu dem Schluss kommen, dass kein Haus passend war. Im Fall mit positiver Evidenz versagt aber dieser Eliminierungsprozess völlig: Am Ende des try and e/ím/nató-Verfahrens konnte keine der zwei Möglichkeiten eliminiert werden, da sich vor beiden Häusern immer passende Spielzeuge befanden. Das Eliminierangsverfahren scheitert in diesem Fall also und bringt dem Kind keinerlei Entscheidungshilfe. Demzufolge konnten die Kinder nach dem Eliminierungsverfahren in der EV.Aufgabe zwei verschiedene Strategien verfolgen: Sie konnten eines der möglichen Häuser per Zufall auswählen, weil es sowieso als Antwort in Frage kam, oder sie begannen, beide Möglichkeiten gegeneinander abzuwägen. Natürlich konnte nur letztere Strategie zu U p o s .

ist, dann entspricht die .unsichere Geschichte' dem KEIN-Fall der Implikatur-Aufgabe. Im Gegensatz dazu entspricht die .sichere Geschichte' immer dem ALL-Fall. Die hohe Korrelation zwischen den Ergebnissen der MA- und der U-Aufgabe macht folgende Interpretation der Daten der MA-Aufgabe unwahrscheinlich: Die Kinder haben nur deswegen die .sichere Geschichte' gewählt, weil die Testsätze von Exp. 2 im Unterschied zu den Testsätzen in Exp. 1 eine zirkumstantielle Deutung erlauben, die von den (jüngeren) Kindern systematisch präferiert wurde (im Unterschied zu den Erwachsenen). Wäre das Verhalten der Kinder in der MA-Aufgabe ausschließlich auf eine .falsche" Interpretation der Testsätze zurückzuführen, dann wäre zu erwarten gewesen, dass die Ergebnisse der U-Aufgabe deutlich besser ausgefallen wären als diejenige der MA-Aufgabe (oder zumindest ohne Korrelation). Die Ergebnisse des Experiments zeigen jedoch genau das Gegenteil.

164

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

der Erkenntnis führen, dass es nicht möglich war zu wissen, wo die Figur wohnte. Im Unterschied zur UNeg.Ev.-Aufgabe verlangte also die Upos. ev.-Aufgabe vom Kind, beide Möglichkeiten gegeneinander abzuwägen, um die Undeterminiertheit des Problems zu erkennen. Wie u. a. die Untersuchung von Morris & Sloutsky (2002) belegt, haben junge Kinder erhebliche Schwierigkeiten, diese Art von Vergleichen durchzuführen. Ihre Daten zeigen, dass junge Kinder stark dazu neigen, die erste passende Lösung eines Problems auszuwählen, ohne zu überprüfen, ob das Problem weitere alternative Lösungen erlaubt. Diese kindliche Strategie, die Komplexität undeterminierter Probleme so zu reduzieren, dass diese dann als determiniert betrachtet werden können und dadurch leichter zu erfassen sind (Morris & Sloutsky 2002:923), kann einen entscheidenden Einfluss auf die Art und Weise gehabt haben, wie die Kinder versuchten, die Upos. EV.-Aufgabe zu lösen. Wie gerade erwähnt, führt das Prüfen des ersten Hauses in der Upos. EV.-Aufgabe gewissermaßen zum Erfolg, weil es auf jeden Fall als richtige Antwort in Frage kommt. Erst die Übeφrüfung des zweiten Hauses bringt die Evidenz hervor, dass eine Auswahl in Wahrheit nicht möglich ist. Es ist aber leicht vorstellbar, dass die Kinder ihre Überprüfung nach dem ersten Haus in der Upos.Ev.-Aufgabe einfach abgebrochen haben, ohne das zweite Haus auf ihre Verträglichkeit mit den vorhandenen Informationen hin zu übeφrüfen. M. a. W. wurde in der Upos. EV.-Aufgabe einfach das erstbeste Haus als richtige Antwort betrachtet. Ganz ähnlich in der MA-Aufgabe: Viele Kinder haben wahrscheinlich bereits vor der entscheidenden Frage des Experimentators entschieden, dass der Junge der ,unsicheren Geschichte' nicht im Haus ist, und haben lieber die Implikatur gestrichen, als ihre Meinung über den Standort des Jungen revidiert. Obwohl die Ergebnisse der U-Aufgabe mit den Erkenntnissen vorheriger Studien übereinstimmen, scheinen die untersuchten Kinder in diesem Experiment epistemische Unentscheidbarkeit erst in einem höheren Alter verstanden zu haben als in den Untersuchungen von Fabricius et al. (1987) und Sophian et al. (1988) (zu beiden Studien, s. S.94). Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Kinder in den Studien von Fabricius et al. (1987) und Sophian et al. (1988) eigentlich nicht dazu aufgefordert wurden, epistemische Unentscheidbarkeit als solche zu erkennen, sondern es wurde lediglich überprüft, ob sie erkennen, dass ein Problem mehrere Lösungen haben kann. In der U-Aufgabe hatten die Kinder nicht nur die Aufgabe, alle in Frage kommenden Häuser zu benennen (entspräche Sophians et al. 1988 Aufgabe) oder unpassende Häuser zu eliminieren bis nur noch eines in Frage kam (entspräche Fabricius' et al. 1987 Verfahren). Vielmehr wurden sie dazu aufgefordert, explizit zum Ausdruck zu bringen, dass sie nicht wissen können, in welchem Haus die Figur wohnt, d. h. in der U-Aufgabe mussten sie ein Urteil der Unwissenheit infolge ihrer Erkenntnis fällen, dass das Problem unlösbar war, weil mehrere Alternativen als Antwort in Betracht kamen. Dieses Urteil wurde in der U-Aufgabe explizit {Kannst Du mir sagen,... F) verlangt. In der MA-Aufgabe wurde dies dagegen nur implizit über die Testsätze mit können und vielleicht eingeführt: Sätze wie Der Junge ist vielleicht im Haus stellen im Grunde nichts anderes als Urteile der Unwissenheit dar. Das Verstehen solcher Sätze verlangt also vom Hörer, dass er erkennt, dass der Satz ein Urteil der Unwissenheit seitens des Sprechers ausdrückt. In diesem Sinne verlangten sowohl die MA- als auch die U-Aufgabe deutlich mehr kognitives und linguistisches Meta-Wissen von den untersuchten Kindern als die Aufgaben von Fabricius et al. (1987) und Sophi-

6.1 Experiment!: Die MA-, die Implikatur- und die U-Aufgabe

165

an & Somerville (1988).^ In diesem Zusammenhang wurde in mehreren Untersuchungen festgestellt, dass Vorschulkinder eine große Neigung dazu haben, ihren Wissensstand zu überschätzen, wenn sie ihre Unwissenheit über einen Sachverhalt explizit zum Ausdruck bringen müssen — d.h. wenn von ihnen ,äch weiß nicht"-Antworten verlangt werden (Somerville et al. 1979; Havell et al. 1981; Robinson & Robinson 1983). In diesem Zusammenhang schlagen Robinson & Mitchell (1990:469) als Erklärung für dieses Verhalten vor, dass das, was Kinder zu wissen glauben, nicht mit dem übereinstimmt, was sie tatsächlich wissen. In Folge dessen würden Kinder bis etwa acht Jahren ihren Wissensgrad systematisch überschätzen. Ihre eigenen empirischen Überprüfungen dieser Hypothese zeigen jedoch, dass ein solches Überschätzen nicht systematisch ist, sondern nur in Fällen der epistemischen Unentscheidbarkeit stattfindet (Robinson & Mitchell 1990; Mitchell & Robinson 1990). Vor allem Mitchell & Robinson (1990) zeigt zweierlei: (i) 5bis 7-Jährige sind durchaus in der Lage, ihre Unwissenheit zuzugeben, wenn sie einfach gefragt werden, ob sie wüssten, wer eine erfundene Figur (= Murkor) ist. Diese Aufgabe stellt aber keinen Fall der epistemischen Unentscheidbarkeit dar, sondern es wird lediglich gefragt, ob die Kinder eine Figur kennen, (ii) Wenn ihnen aber eine Reihe von Karten gezeigt wird, auf denen nur unbekannte Figuren dargestellt sind und ihnen in Bezug auf diese Karten dieselbe Frage gestellt wird (= Weißt Du, wer Murkor ist?), neigen sie plötzlich stark dazu, sie zu bejahen und eine der Karten als Antwort auszuwählen. Mitchell und Robinsons Studie legt also die Vermutung nahe, dass Kinder ihren Grad an Wissen erst dann überschätzen, wenn sie vor ein Problem gestellt werden, das mehrere Antworten erlaubt bzw. vor eine unbeantwortbare Frage (Mitchell & Robinson 1990:97), was im Rahmen der U-Aufgabe genau der Fall war. Speer (1984) schlägt als Erklärung dieses Phänomens vor, dass sich Kinder ihres Unwissens in unentscheidbaren Situationen zwar bewusst sind, wenn sie mit unlösbaren Problemen konfrontiert werden, sie jedoch versuchen, diese auf zwei Wegen zu lösen, bevor sie sie tatsächlich für unlösbar erklären: (i) Sie zählen fest mit der Kooperation des Experimentators. Dabei erwarten sie, dass die Aufgabe lösbar ist, und suchen daher nach zusätzlichen (aber oft irrelevanten) Informationen, (ii) Sie erwarten, korrigiert zu werden, wenn ihre Lösung falsch ist. Speers (1984) Vorschlag wirft also die Frage auf, inwieweit die in der MA- und UAufgabe (und in allen ähnlichen Experimenten) festgestellte Unfähigkeit 6- und 7-Jähriger, epistemische Unentscheidbarkeit zu erkennen, eng mit der Entwicklung ihrer Fähigkeit zusammenhängt, Probleme zu lösen {Problem solving ability). Es ist demnach möglich, dass sich die Kinder in der U-Aufgabe oftmals für eines der Häuser entschieden haben, auch wenn sie sich ihrer Unwissenheit irgendwie bewusst waren. Diese Kinder sind möglicherweise a priori davon ausgegangen, dass die Aufgabe irgendwie lösbar sein musste. Im Rahmen einer experimentellen Aufgabe — die für sie sehr ungewohnt ist — haben sich diese Kinder möglicherweise nicht getraut, ihre Unwissenheit offen zuzugeben. Ein ähnliches, durch den experimentellen Rahmen hervorgerufenes Unsicherheitsgefühl könnte auch einen Einfluss auf das Verhalten dieser Kinder in der MA-Aufgabe gehabt haben. Dieses Gefühl, nicht auf sicherem Boden zu sein, könnte sie dazu geführt haben, die schwach epistemischen Äußerungen in Verbindung mit einer Situation zu akzeptieren, die normalerweise einen stärkeren Ausdruck verlangen würde, auch wenn sie 9

Zu dieser Problematik s. auch Byrnes & Beilin (1991).

166

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

dies in ihrem Alltag nie tun würden. Der Einfluss des experimentellen Rahmens darf jedoch nicht übertrieben werden: Er scheint das Verhalten der Kinder in der ImplikaturAufgabe nicht besonders negativ beeinflusst zu haben. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Anscheinend fühlen sich 6- bis 8-Jährige im Umgang mit skalaren Implikaturen so sicher, dass ein mit dem experimentellen Rahmen verbundenes Unsicherheitsgefühl ihr Urteil nicht trüben kann. Dies zeigt eindeutig, dass dieses mögliche Unsicherheitsgefühl in der MA- und der U-Aufgabe nicht durch den experimentellen Rahmen per se verursacht wurde, sondern dass es in der Tatsache begründet ist, dass 6- bis 8-Jährige noch Schwierigkeiten im Umgang mit epistemischer Unentscheidbarkeit haben. Der experimentelle Rahmen mag dieses Unsicherheitsgefühl (leicht) verstärkt haben, hervorgerufen hat er es wahrscheinlich nicht. Wenn sich die Kinder nicht auf sicherem Boden gefühlt haben, dann deshalb, weil ihre Fähigkeit noch ungenügend entwickelt ist, die einer epistemischen Inferenz zugrunde liegenden Informationen richtig einzuschätzen. Es wäre aber auch falsch, die Ergebnisse dieses Experiments alleine auf die Tatsache zurückzuführen, dass Kinder im Grandschulalter noch eine defizitäre Kompetenz beim Erkennen von unlösbaren Problemen aufweisen, wie von Speers (1984) vorgeschlagen. Die U-Aufgabe stellte in der Tat den Fall eines unlösbaren Problems dar, die MA-Aufgabe jedoch nicht: Die MA-Aufgabe ergab ohne Weiteres eine Lösung, sobald die Unentscheidbarkeit der ,unsicheren Geschichte' erkannt wurde. Dies zeigt eindeutig, dass die jüngeren Kinder die MA-Aufgabe nicht deshalb nicht lösen konnten, weil sie unlösbar war, sondern lediglich, weil sie die ,unsichere Geschichte' falsch interpretiert haben. Zusammenfassend deuten die Ergebnisse dieses Experiments auf zwei wichtige Aspekte in der Entwicklung der Fähigkeit hin, epistemische Ausdrücke zu verstehen: Zum einen müssen Kinder lernen zu erkennen, wann eine Situation epistemisch unentscheidbar ist. Dabei müssen sie vor allem lernen, Probleme global zu erfassen und nicht nur nach der erstbesten Lösung zu suchen. Zum anderen müssen sie über das nötige Meta-Wissen verfügen, diese Erkenntnis operational anzuwenden, um Urteile der Unwissenheit formulieren zu können. Hinsichtlich der Implikatur-Hypothese zeigen die Ergebnisse des Experiments einerseits, dass die 6- Jährigen in 91% (können) bzw. 88% (vielleicht) der Fälle die epistemischen Sätze der MA-Aufgabe, die einen hohen Grad an epistemischer Unsicherheit ausdrücken, systematisch mit der ,sicheren Geschichte' verbinden, also mit dem Fall, der eigenüich nur eine rein semantische Inteφretation (d. h. ohne Berücksichtigung der skalaren Implikatur) der Testsätze voraussetzt. Mit zunehmendem Alter verschwindet dieses Verhalten zwar langsam, aber sogar die 8-Jährigen zeigen eine ähnliche Tendenz in noch 36% (können) bzw. 31% (vielleicht) der Fälle. Gleichzeitig zeigen aber die Ergebnisse der Implikatur-Aufgabe, dass 6- bis 8-Jährige die ,pragmatische Lesart' (= mit Implikatur) von mit einige quantifizierten Sätzen einer rein semantischen Interpretation der Sätze in mehr als 90% der Fälle (also quasi systematisch) präferieren. Dementsprechend konnte keine signifikante Korrelation zwischen den Ergebnissen beider Aufgaben festgestellt werden. Die mehrheitliche Auswahl der ,sicheren Geschichte' in der MA-Aufgabe durch die 6- und 7-Jährigen kann also nicht darauf zurückgeführt werden, dass Kinder in diesem Alter die,semantische Lesart' schwacher epistemischer Ausdrücke deren ,pragmatischer' Lesart vorziehen. Andernfalls hätten sie ein ähnliches Verhalten bei den einige-SätzQn zeigen müssen, was in diesem Experiment eindeutig nicht der Fall war.

6.1 Experiment 2: Die MA-, die Implikatur- und die U-Aufgabe

167

Die Widerlegung der Implikatur-Hypothese hängt aber entscheidend davon ab, ob der Wahl der ,unsicheren Geschichte' in der MA-Aufgabe eindeutig eine skalare Implikatur zugrunde liegt. Aus der Literatur ist bekannt (s. unter 2.3), dass eine Skala bilden, die eine entsprechende Implikatur auslöst. Es ist jedoch fraglich, ob genau diese Skala eine Rolle in der MA-Aufgabe gespielt hat: Der von müssen ausgedrückte Grad an epistemischer Sicherheit ist zwar mit der ,sicheren Geschichte' verträglich, aber die Bedeutung von müssen enthält auch einen expliziten Bezug auf den inferenziellen Charakter der ausgedrückten epistemischen Sicherheit. Dieser Bezug ist aber inkompatibel mit der ,sicheren Geschichte', weil hier die epistemische Sicherheit auf der Wahrnehmung beruht und nicht auf einer Inferenz (man kann sehen, dass der Junge im Haus ist). M. a. W. die ,sichere Geschichte' kann nicht durch einen epistemischen müssen-Satz beschrieben werden, sondern vielmehr durch eine einfache nicht-modalisierte Assertion {Der Junge ist im Haus). Bei der Ablehnung der ,sicheren Geschichte' in Verbindung mit einem kann-Satz geht es also nicht darum zu erkennen, dass der können-Satz per Implikatur den entsprechenden müssen-Satz ausschließt, sondern dass die Verwendung von können nicht mit einer Situation verträghch ist, die mittels einer einfachen nichtmodalisierten Feststellung beschrieben werden kann. Es geht also in der MA-Aufgabe nicht um den Kontrast müssen vs. können, sondern um den Kontrast sein vs. können. Geht man davon aus, dass die Ablehnung der ,sicheren Geschichte' aufgrund einer skalaren Implikatur erfolgt, so muss angenommen werden, dass es eine Skala gibt. Ansonsten kann nicht mehr ausgeschlossen werden, dass die Ablehnung der ,sicheren Geschichte' in der MA-Aufgabe nicht durch eine skalare Implikatur hervorgerufen wird, sondern durch eine andere Art von Imphkatur (mit der Folge, dass jedweder Vergleich zwischen den Ergebnissen der MA- und der Implikatur-Aufgabe hinfällig wäre).'® Es gibt jedoch gute Gründe anzunehmen, dass die Ablehnung der ,sicheren Geschichte' im Zusammenhang mit einem epistemischen können-Satz in der MA-Aufgabe das Ergebnis der Berechnung einer skalaren Implikatur ist. Im Rahmen eines psycholinguistischen Experiments wie der MA-Aufgabe kommen bei der Beurteilung der epistemischen können-Sätzt weitere Skalen in Frage als nur . Das Setting der Aufgabe war so aufgebaut, dass es dem Teilnehmer sofort klar wurde, dass es hier um die Einschätzung der verfügbaren Quantität an Information/Evidenz (,sichere' vs. ,unsichere Geschichte') ging, also um die Opposition zwischen starken und schwachen epistemischen Ausdrücken. Die ,sichere Geschichte' wurde abgelehnt, weil die dort dargestellte Situation nur mit einem starken und keinesfalls mit einem schwachen epistemischen Ausdruck verträglich war. Ob die .sichere Geschichte' besser mit wissen, dass p, müssen p, sicher dass, ρ oder sogar einfach ρ (da ρ nach Levinson 2000 wissen, dass ρ implikatiert) dargestellt werden konnte, trat im Kontext der MA-Aufgabe weitestgehend in den Hintergrund: Der Teilnehmer stellte lediglich fest, dass können (bzw. vielleicht) nicht dazu geeignet war, die ,sichere' Situation zu beschreiben, weil diese durch irgendeinen stärkeren epistemischen Ausdruck besser zu beschreiben war. Mit welchem genau war in der MA-Aufgabe kaum relevant."

10 Hier kommt z. B. eine Modalitätsimplikatur in Frage, weil die Modalisierung mit können zu einer deutlich komplexeren Ausdrucksweise führt als die Verwendung einer einfachen Feststellung. 11 Erst wenn man das Setting des Experiments so verändern würde, dass zwei Puppen die ,sichere Ge-

168

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

Zusammenfassend ging der Teilnehmer in der MA-Aufgabe von einer ziemlich allgemeinen Skala aus , wobei χ ein epistemisch stärkerer Ausdruck als kann sein muss, der darüber hinaus zur ,sicheren Geschichte' passt. Die hier beschriebene Art und Weise, wie der kann-Satz abgelehnt wird, entspricht genau der Berechnung einer skalaren Implikatur.'^ Die Ergebnisse der Implikatur-Aufgabe zeigen zwar, dass die untersuchten Kinder nicht dazu neigen, die ,semantische' Lesart skalarer Ausdrücke deren .pragmatischen Lesart' vorzuziehen, aber es darf auch nicht vergessen werden, dass diese Aufgabe nur dafür konzipiert wurde, einen guten Vergleich zwischen der Reaktion der Kinder beim Verstehen epistemischer Ausdrücke einerseits und dem schwachen Quantor einige andererseits zu ermöglichen. Mit diesem Vergleich konnte ermittelt werden, dass die Präferenz 6- und 7-Jähriger für die ,sichere Geschichte' bei der Inteφretation von vielleicht und können in der MA-Aufgabe nicht auf eine allgemeine Präferenz von Kindern dieses Alters zugunsten einer strikt ,semantischen Lesart' schwacher skalarer Ausdrücke zurückzuführen ist. So wurde die Implikatur-Aufgabe so aufgebaut, dass die präferierte Lesart schwacher skalarer Ausdrücke ermittelt wurde, und nicht, ob Kinder i. Allg. sowohl die ,pragmatische' als auch die ,semantische Lesart' solcher Ausdrücke akzeptieren (und unter welchen Bedingungen sie dies tun). In der Implikatur-Aufgabe wurde also nicht direkt die Fähigkeit der Kinder untersucht, skalare Implikaturen zu verstehen. M. a. W. die Ergebnisse der Implikatur-Aufgabe dürfen nicht so interpretiert werden, dass 6- bis 8-Jährige skalare Implikaturen korrekt erkennen. Die Aufgabe wurde dafür nicht konzipiert, sondern sie sollte vielmehr dazu dienen, einen möglichen Effekt einer NichtBerücksichtigung skalarer Implikaturen (= die Präferenz für die ,semantische Lesart') festzustellen. Kurz gesagt: Aus der Präferenz der untersuchten Kinder für die ,pragmatische Lesart' von einige lässt sich nicht der Schluss ziehen, dass sie die skalare Implikatur verstanden haben. Wie in Kap. 5 (S. 145ff.) erwähnt wurde, kann nicht ausgeschlossen werden, dass Kinder die ,pragmatische Lesart' von einige auch dann bevorzugen, wenn sie keine Implikatur verstehen, so z.B. weil diese Lesart besser mit der Mehrheit aller emige-Vorkommen in der Alltagssprache zusammenpasst. In den folgenden Abschnitten werden nun die Ergebnisse eines Experiments vorgestellt, das die Frage untersucht, ob die allgemeine Präferenz der .pragmatischen Lesart' schwacher skalarer Ausdrücke in Zusammenhang mit der Berechnung von Implikaturen steht oder auf andere Gründe zurückzuführen ist. schichte' mit unterschiedlichen aber gleich starken epistemischen Ausdrücken beschreiben, würden die Teilnehmer alle Bedeutungsnuancen dieser Ausdrücke in ihrem Urteil berücksichtigen. 12 Man könnte sich die Berechnung der Implikatur wie folgt vorstellen: (i) Der Sprecher hat kann verwendet. Können gehört zur Menge der epistemischen Ausdrücke. Diese Menge ist nach epistemischer Stärke geordnet, (ii) Die .sichere Geschichte' ist nur mit Ausdrücken verträglich, die einen sehr hohen Grad an epistemischer Sicherheit ausdrücken, (iii) Wenn der Sprecher diese Geschichte gemeint hätte, so hätte er einen stärkeren Ausdruck verwendet, (iv) Da er aber einen schwachen Ausdruck verwendet hat, verneint er, dass er einen stärkeren Ausdruck hätte verwenden können, um die Geschichte zu beschreiben, die er eigentlich meint, (v) Also: Er meint die .unsichere Geschichte'. Vor allem der Vergleich zwischen den Elementen einer Menge von Ausdrücken (i) und die Verneinung, dass ein anderer Ausdruck hätte verwendet werden können (iv), sind typische Merkmale von skalaren Implikaturen (bzw. von Q-Implikaturen i. Allg.) (s. dazu Levinson 2002:40f.).

6.2 Experiment 3: Die Implikatur-Hypothese — Ein Nachtrag

6.2

Experiment 3: Die Implikatur-Hypothese — Ein Nachtrag

6.2.1

Methode

169

In diesem Experiment wurden zwei Fragestellungen verfolgt: (i) Es sollte йЬефгйй werden, ob 6- bis 8-Jährige skalare Implikaturen verstehen und ob (ii) ein Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, Implikaturen zu berechnen, und der Präferenz für die ,pragmatische Lesart' schwacher skalarer Ausdrücke besteht. Das Experiment bestand aus zwei Aufgaben. In der ersten Aufgabe wurde die präferierte Lesart des Quantors einige ermittelt. In der zweiten Aufgabe wurde überprüft, welche Lesarten — die ,semantische' oder die,pragmatische' — von einige von den Teilnehmern als korrekt betrachtet werden.

Die Picture

Selection-Aüíg&bt

Die erste Aufgabe stellte eine exakte Wiederholung der Implikatur-Aufgabe des vorherigen Experiments dar mit dem einzigen Unterschied, dass nur die Fälle Nr. 1 und 2 {einige- bzw. alle-SdXz mit ALL- und EINIGE-Fall) berücksichtigt wurden (s. Tab. 6.1 auf S. 154). Sie wird im Folgenden als Picture Selection-Aaig^he. (= PS-Aufgabe) bezeichnet. Ansonsten wurde am Ablauf der Aufgabe nichts geändert.

Die Truth Value Judgement-Píuigítoe. Die zweite Aufgabe wurde als Truth Value /Mí/gemení-Verfahren nach dem Muster von Chierchia et al. (1998) durchgeführt (description mode)Ρ Sie wird im Folgenden als Truth Value Judgement-Auf gäbe. (= TVJ-Aufgabe) bezeichnet. Den Kindern wurde eine Gruppe von fünf Schlümpfen vorgestellt, die eine MusikKapelle bildeten, und ein Fotograf-Schlumpf, der nicht zur Kapelle gehörte. Den Kindern wurde erklärt, der Fotograf würde die Musik-Kapelle bei der Durchführung von verschiedenen Handlungen beobachten und anschließend einen Kommentar über das Geschehene abgeben. Die Kinder wurden nach jedem Kommentar aufgefordert zu beurteilen, ob der Kommentar zutreffend war bzw. ob die Szene korrekt beschrieben wurde. Die dargebotenen Handlungen der Musik-Kapelle verliefen immer nach demselben Muster: Drei der fünf Schlümpfe führten die Handlung ohne Weiteres durch (Straßen überqueren, sich hinlegen usw.), während sich die letzten zwei Mitglieder der Kapelle zunächst immer heftig weigerten nachzuziehen (z.B. mit dem Argument, man dürfe die Straße an dieser Stelle nicht überqueren). Je nach Testfall (s.u.) führten die zwei kritischen Schlümpfe die Handlung entweder letztendlich durch oder sie weigerten sich bis zuletzt mitzumachen. So ergaben sich zwei mögliche Ausgänge für die Szene: (i) Im ALL-Fall führten am Ende alle Schlümpfe die Handlung durch; (ii) im EINIGE-Fall 13 Zu dieser Untersuchung s. S. 99ff.

170

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

führten nur drei von fünf der Schlümpfe die Handlung durch und die restlichen zwei taten gar nichts. Dadurch war es möglich, das Verstehen verschiedener Kombinationen aus Testsätzen und Ausgängen der Szene zu testen (s. Tab. 6.4). Tabelle 6.4: Exp. 3: Testfälle in der TVJ-Aufgabe [mit korrekten Antworten] Fall Nr. 1 2 3 4

Testsatz mit Einige Alle Einige Alle

Handlung durchgeführt von Einige Alle Alle Einige

Stimmt der Kommentar? Ja Ja Nein Nein

Je nach Testsituation gab der Fotograf einen der beiden folgenden Kommentare ab: (4)

a. Oh! Ich weiß, was geschehen ist. Alle Schlümpfe... b. Oh! Ich weiß, was geschehen ist. Einige Schlümpfe...

Jede Kombination in Tab. 6.4 wurde jeweils dreimal getestet. Hinsichtlich der ersten Fragestellung des Experiments wurde erwartet, dass die Kinder, die keine skalaren Implikaturen berechnen, im Fall Nr. 3 mit ,Ja" antworten würden, weil der einige-Satz semantisch mit dem Fall verträglich ist, dass alle Schlümpfe die Handlung durchgeführt hatten. Die Kinder dagegen, die die Implikatur in diesem Kontext berücksichtigten, sollten in diesem Fall den Kommentar des Fotografen ablehnen, weil der einige-Satz in diesem Kontext pragmatisch mit der Tatsache unverträglich ist, dass alle Schlümpfe die Handlung durchgeführt hatten. Was die zweite Fragestellung betrifft, wurde Folgendes angenommen: (i) Wenn die Präferenz für die ,semantische Lesart' von einige durch eine Nicht-Berechnung der Implikatur bedingt ist, dann wurde eine hohe Korrelation zwischen den Ergebnissen beider Aufgaben erwartet. Die Kinder, welche die ,semantische Lesart' von einige in der PSAufgabe bevorzugen, sollten diese Lesart in der TVJ-Aufgabe auch ohne Weiteres akzeptieren. Die Kinder dagegen, die die ,pragmatische Lesart' von einige in der PS-Aufgabe präferieren, würden gleichzeitig die ,semantische Lesart' von einige in der TVJ-Aufgabe strikt ablehnen, wenn ihre Präferenz durch eine Implikatur motiviert ist. (ii) Wenn jedoch die Präferenz für die .pragmatische Lesart' von einige in der PS-Aufgabe nicht durch die Berechnung der Implikatur bedingt ist, so wurde eine relativ hohe Anzahl von Kindern erwartet, die zwar die .pragmatische Lesart' von einige in der PS-Aufgabe bevorzugen, die aber gleichzeitig die ,semantische Lesart' von einige in der TVJ-Aufgabe ohne Weiteres akzeptieren würden. Dies wäre die typische Reaktion eines Kindes, das die skalare Implikatur nicht berücksichtigt, jedoch die ,pragmatische Lesart' skalarer Ausdrücke aufgrund seiner Erfahrung in der Alltagssprache bevorzugt. 14 Dazu kamen noch acht Filier mit jeweils viermal einer ,J^ein"- bzw. einer ,Ja"-Antwort. Bei diesen Filler-Aufgaben beschrieben die Testsätze, das, was ein bestimmter Schlumpf (der TrompeterSchlumpf usw.) getan hatte (oder nicht). Die Sätze begannen immer mit: ,JDer XY-Schlumpf hat...".

6.2 Experiment 3: Die Implikatur-Hypothese

— Ein Nachtrag

171

Vorgehen Beide Aufgaben wurden in einer einzigen Sitzung à ca. 20 Minuten durchgeführt. Die TVJ-Aufgabe wurde immer unmittelbar nach der PS-Aufgabe gestellt. Jedes Kind wurde einzeln in einem separaten Raum seiner Schule bzw. seines Kindergarten getestet.

6.2.2

Teilnehmer

An diesem Experiment nahmen 12 Kinder von 5;7 bis 8;6 in drei Altersgruppen teil: 1. 6-Jährige: 4 Kinder zwischen 5;7 und 6;6 (Altersdurchschnitt: 6;2) 2. 7-Jährige: 4 Kinder zwischen 6;7 und 7;6 (Altersdurchschnitt: 7;2) 3. 8-Jährige: 4 Kinder zwischen 7;7 und 8;6 (Altersdurchschnitt: 8;3) Alle Kinder besuchten Grundschulen bzw. Kindergärten in Stuttgart (Kindergarten) und Tübingen (Grundschule). Alle Kinder waren monolinguale Sprecher des Deutschen.

6.2.3

Ergebnisse

Bei der Auswertung wurden nur die kritischen Fälle in den jeweiligen Aufgaben einbezogen, d.h. der Fall Nr. 1 (s. Tab.6.1 auf S. 154) der PS-Aufgabe (Testsatz mit einige und Bildauswahl: ALL- und EINIGE-Fall) und der Fall Nr. 3 (s. hier oben Tab. 6.4) der TVJ-Aufgabe (Testsatz mit einige in Verbindung mit dem ALL-Fall).'^ In der PS-Aufgabe wurde eine Antwort als korrekt bewertet, wenn der EINIGE-Fall dem ALL-Fall vorgezogen wurde. In der TVJ-Aufgabe wurde eine Antwort als korrekt bewertet, wenn das Kind die Behauptung des Schlumpfes als unkorrekt abgelehnt hatte. Da alle Kinder entweder 0/3 oder 3/3 korrekte Antworten gaben, wurden die Ergebnisse dichotomisch erfasst (¿bestanden). Tabelle 6.5 zeigt, wieviele Kinder die jeweilige Aufgabe richtig lösten und in welchem Verhältnis die Ergebnisse beider Aufgaben zueinander stehen: Tabelle 6.5: Exp. 3: Anzahl der Kinder, die die jeweilige Aufgabe gelöst haben (n=12) PS nicht-bestanden TVJ

nicht-bestanden bestanden

1 0

bestanden 0 11

Die Ergebnisse zeigen, dass 11/12 Kinder die Implikatur in der TVJ-Aufgabe ohne Weiteres berechnen konnten: Diese Kinder lehnten den einige-Satz ab, wenn aus dem 15 Alle anderen getesteten Fälle stellten bei beiden Aufgaben für die Kinder keinerlei Schwierigkeiten dar.

172

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

Kontext klar erkennbar war, dass der ALL-Fall zutraf. Gleichzeitigt bevorzugten diese Kinder deutlich den EINIGE-Fall vor dem ALL-Fall, wenn sie nach ihrer präferierten Lesart gefragt wurden (PS-Aufgabe). Bemerkenswert ist aber vor allem, dass das einzige Kind — ein 6-Jähriger —, das in der TVJ-Aufgabe den einige-SdXz ohne Weiteres als verträglich mit dem ALL-Fall betrachtet hatte, gleichzeitig den ALL-Fall dem eigentlich korrekten EINIGE-Fall in der PS-Aufgabe vorzog. Es bedarf an dieser Stelle keines großen statistischen Aufwands, um festzustellen, dass es eine signifikante Korrelation (r = 1,0, ρ = .000) zwischen den Ergebnissen beider Aufgaben gibt.

6.2.4

Diskussion

Die Ergebnisse dieses Experiments zeigen deutlich, dass der Grund, warum die ,pragmatische Lesart' skalarer Ausdrücke deren ,semantische' Lesart in Exp. 1 vorgezogen wurde, in der Berechnung einer skalaren Implikatur lag. Zum einen belegen die Ergebnisse der TVJ-Aufgabe eindeutig, dass 6- bis 8-Jährige die von einige ausgelöste Implikatur in einem geeigneten Kontext berücksichtigen. Dementsprechend lehnte eine große Mehrheit der Kinder — unabhängig von ihrem Alter — die Verbindung der einige-Sätze mit den Fällen systematisch ab, in denen alle Schlümpfe die Handlung vollzogen hatten. Zum anderen zeigt der Vergleich zwischen den jeweiligen Reaktionsmustem in beiden Aufgaben, dass die Kinder, die in der TVJ-Aufgabe die Implikatur berechnet haben, in der PS-Aufgabe stark dazu neigen, die ,pragmatische Lesart' von einige zu präferieren. Und umgekehrt: Der einzige 6-Jährige, der die Implikatur in der TVJ-Aufgabe offensichtlich nicht berücksichtigte, zeigte gleichzeitig eine deutliche Präferenz für die ,semantische Lesart' von einige in der PS-Aufgabe. Demzufolge liegt die Vermutung nahe, dass das Verhalten der Kinder in beiden Typen von Aufgaben (TVJ- und PS-Aufgabe) auf dieselbe Ursache zurückzuführen ist: nämlich die Berechnung einer skalaren Implikatur. Alternativ dazu könnte man natürlich argumentieren, dass die Kinder, die beide Aufgaben gelöst haben, einen strikt semantisch-lexikalischen Ansatz verfolgten. In diesem Fall hätten die Kinder einfach angenommen, dass die Bedeutung schwacher skalarer Termini unter keinen Umständen mit allen Sachverhalten verträglich sein können, die von stärkeren Termini der Skala ausgedrückt werden können (d. h. einige hätte nicht die semantische Bedeutung „ein Teil der und vielleicht die ganze Gruppe", sondern lediglich die Bedeutung ,д1иг ein Teil der Gruppe"). Diesem Ansatz nach wäre der Ausschluss des ALL-Falls in Verbindung mit den einige-S'éXzen nicht pragmatisch, sondern semantisch motiviert. Eine semantisch-lexikalische Erklärung der Ergebnisse ist aber insofern unwahrscheinlich, als sie einer wichtigen Beobachtung des vorherigen Experiments widersprechen würde: Eine große Mehrheit der Kinder hat bei der Untersuchung des Falls Nr. 6 der ImplikaturAufgabe im vorherigen Experiment nämlich gezeigt, dass sie durchaus bereit ist, einige mit dem ALL-Fall zu verknüpfen, wenn der KEIN-Fall als Alternative angeboten wird — eine Haltung, die den Erwartungen einer lexikalischen Erklärung klar widerspricht. Man hätte in diesem Fall zufällige Antworten erwartet, weil beide Fälle gleich unpassend gewesen wären. Darüber hinaus sprechen auch alle Befunde früherer Arbeiten gegen die-

6.2 Experiment 3: Die Implikatur-Hypothese — Ein Nachtrag

173

se Möglichkeit (s. Smith 1980; Braine & Rumain 1981; Noveck 2001): Die unter 4.2 besprochenen Studien belegen eindeutig, dass Kinder — wenn sie die Bedeutung schwacher skalarer Ausdrücke missdeuten — eher dazu neigen, die Bedeutung solcher Termini zu übergeneralisieren als diesbezüglich zu restriktiv zu sein, wie nach einem rein lexikalischen Ansatz zu erwarten wäre. In der Diskussion von Exp. 1 wurde auch die Möglichkeit erwogen, die Kinder würden die ,pragmatische Lesart' von einige bevorzugen, weil sie ihrer Alltagserfahrung besser entspricht (s. S. 168f.). Im alltäglichen Leben kommen Situationen deutlich häufiger vor, in denen Wörter wie einige oder die epistemische Lesart von können in ihrer pragmatischen Bedeutung verwendet werden als Kontexte, die eine Nicht-Berücksichtigung der Implikatur verlangen. Daher wäre es wenig erstaunlich, wenn Kinder ,pragmatische Kontexte' als Normalfälle betrachten würden und nicht die Kontexte, in denen die Implikatur normalerweise gelöscht wird. Letztere bleiben in der Alltagssprache eher Randerscheinungen. M. a. W. eine einfache Induktion über alle Vorkommen schwacher skalarer Ausdrücke führt mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, die ,pragmatische Lesart' solcher Ausdrücke in einem Kontext wie in der PS-Aufgabe zu präferieren.'^ Diese Interpretation wird aber von den Ergebnissen der TVJ-Aufgabe widerlegt: Diese Erklärung sagt voraus, dass die Kinder den ALL-Fall in der TVJ-Aufgabe eigentlich akzeptieren sollten, weil er nach dieser Erklärung eine zwar markierte jedoch durchaus mögliche Lesart von einige darstellen müsste. Es wäre in diesem Fall zu erwarten gewesen, dass viele Kinder, die zwar die ,pragmatische Lesart' in der PS-Aufgabe bevorzugten, die ,semantische' in der TVJ-Aufgabe nicht ablehnen würden (= PS-Aufgabe bestanden und TVJ-Aufgabe nicht bestanden). Diese Kombination kam aber nie vor. Zusammenfassend lassen sich die kombinierten Ergebnisse beider Aufgaben nur so sinnvoll inteφretieren, dass der deutliche Vorzug für die ,pragmatische Lesart' von einige durch die Berechnung der skalaren Implikatur motiviert wurde. Die Ergebnisse dieses Experiments scheinen zunächst denjenigen Novecks (2001) zu widersprechen. Noveck (2001) hatte in einer Art von Truth Value Judgement-E\^QÚm&nt festgestellt, dass Kinder unter 9;0 das epistemische MV might gleichermaßen mit epistemisch entscheidbaren und unentscheidbaren Situationen assoziieren. Parallel dazu stellte er fest, dass Kinder eine rein ,semantische Lesart' von certains ,einige' häufiger für korrekt halten als Erwachsene (s. dazu S. 97ff.). Er kam dabei zu dem Schluss, dass für dieses Verhalten eine Nicht-Berechnung der skalaren Implikatur verantwortlich ist. Die Ergebnisse der verschiedenen Aufgaben von Exp. 2 und 3 belegen im Gegensatz zu Noveck (2001), dass 6- bis 8-Jährige Implikaturen durchaus berechnen und dass das fehlerhafte Verstehen epistemischer Ausdrücke vielmehr auf die Entwicklung des Konzeptes der epistemischen Unentscheidbarkeit zurückzuführen ist (s. o.). Dieser scheinbare Widerspruch zwischen Novecks Daten und den hier vorliegenden lässt sich jedoch bei näherer Betrachtung der jeweiligen Testverfahren weitgehend auflösen. In Novecks Aufgaben wurde der pragmatische Kontext — also der Kontext, der der ,pragmatischen Lesart' der Testsätze entspricht — weitgehend gelöscht. So mussten 16 Damit ist natürlich nicht gemeint, dass Kinder Wortbedeutungen auf induktiver Basis erlernen, sondern lediglich, dass die Häufigkeit bestimmter Verwendungsweisen einen Einñuss daraufhaben kann, welche Verwendungsweise zum Normalfall wird und welche eine markierte Lesart darstellen.

174

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

z. B. die Kinder in Novecks dritter Aufgabe beurteilen, ob ein Satz wie (5) richtig oder falsch sei: (5)

Certains éléphants ont une trompe. Einige Elefanten haben einen Rüssel Einige Elefanten haben einen Rüssel.

Es ist leicht zu erkennen, dass es keinen denkbaren pragmatischen Kontext für diesen Satz gibt, da alle Elefanten in unserer Welt einen Rüssel haben. Mit solchen Sätzen konfrontiert, bestand für die von Noveck untersuchten Kinder die Möglichkeit, zwei verschiedene Strategien zur Lösung des Problems zu entwickeln: Zum einen konnten sie davon ausgehen, dass der Satz (5) pragmatisch falsch war, und ihn dementsprechend ablehnen. Zum anderen kann die Streichung des pragmatischen Kontextes auch dazu geführt haben, dass die Kinder davon ausgingen, in diesem Experiment sei das Verstehen der semantischen Eigenschaften von certains gefragt. Diese zweite Strategie führte zwangsläufig zu der Annahme, der Testsatz sei korrekt. Auch in Novecks Experiment zum Verstehen vom MV might wurde der pragmatische Kontext weitgehend gelöscht. Zur Erinnerung: Den Kindern wurde gesagt, der Inhalt der geschlossenen Kiste würde entweder demjenigen der Kiste mit dem Papagei entsprechen oder demjenigen der Kiste mit dem Papagei und dem Bären. Damit wurde der experimentelle Kontext auf den Inhalt der zwei offenen Kisten eingeschränkt: D. h. die geschlossene Kiste enthielt auf jeden Fall einen Papagei. Und innerhalb des so geschaffenen experimentellen Kontextes gab es demnach keinen möglichen pragmatischen Kontext mehr für einen Satz wie (6): (6)

There might be a parrot in the box.

Da es immer einen Papagei in der dritten Kiste gab, wurde jede pragmatische Interpretation von (6) unmöglich. In den Experimenten dieses Kapitels wurde im Gegensatz zu Novecks Untersuchung immer versucht, den Kindern sowohl einen pragmatischen als auch einen semantischen Kontext anzubieten mit dem Ziel, dass sie annähmen, es ginge in den Experimenten um die pragmatischen und nicht um die semantischen Eigenschaften der getesteten Ausdrücke. Dies war in der PS-Aufgabe offensichtlich der Fall: In dieser Aufgabe wurde ausschließlich überprüft, welche Lesart die präferierte war. Zu diesem Zweck mussten natürlich beide Kontexte angeboten werden. Aber auch in der TVJ-Aufgabe wurde versucht, einen pragmatischen Kontext als plausible Alternative zum tatsächlichen Ausgang der Szene aufrechtzuerhalten: Alle Versuche, in denen am Ende die ganze Gruppe der Schlümpfe die Handlung durchführte, wurden so eingeführt, dass am Anfang der Szene ein Teil der Gruppe sich weigerte mitzumachen. Dieses Zwischenstadium in der Durchführung der Handlung führte die Möglichkeit eines anderen Ausgangs der Szene ein. Dadurch war es möglich, den emige-Testsatz unter Berücksichtigung eines alternativen Ausgangs der Szene zu beurteilen, der zwar nicht stattfand, jedoch im Rahmen des experimentellen Kontextes prinzipiell möglich gewesen wäre. Das Zögern einiger Schlümpfe hatte aber einen weiteren Effekt: Es erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass die untersuchten Kinder annähmen, der Beobachter hätte vergessen, dass die zunächst reni-

6.2 Experiment 3: Die Implikatur-Hypothese — Ein Nachtrag

175

tenten Schlümpfe die Handlung letztendlich doch durchgeführt hatten, und dass er aus diesem Grund eine inadäquate егпг'^е-Aussage gemacht h a t t e . I n Novecks Studie wurde dagegen eine solche Alternative nicht nahegelegt, so dass es für die Kinder deutlich schwieriger war, sich beide Lesarten der Testsätze vorzustellen und die richtige Interpretation zu wählen bzw. die falsche abzulehnen. Die Abwesenheit eines vorstellbaren pragmatischen Kontextes für Sätze wie (5) in Novecks Studie kann die Kinder aber auch dazu geführt haben, certains ,einige' eine existenzielle Bedeutung zu verleihen. Es ist aus der Literatur bekannt, dass schwache Quantoren wie einige sowohl eine quantifizierende (7a) als auch eine existenzielle (7b) Bedeutung haben: (7)

Einige Kinder gingen ins Kino. a. Marc, Martha und Nina gingen ins Kino. [Susanna und Adam aber nicht.] b. Es gibt mindestens ein Kind, das ins Kino gegangen ist.

(quantifizierend) (existenziell)

Während die quantifizierende Lesart von (7) immer die skalare Implikatur in geeigneten Kontexten auslöst, sagt die existenzielle Lesart von (7) lediglich aus, dass mindestens ein Kind (und möglicherweise alle) ins Kino gegangen ist. Sie schließt lediglich den Fall aus, dass kein Kind ins Kino gegangen ist. Die existenzielle Lesart von einige löst also keine skalare Implikatur aus. Haben die Kinder in Novecks Studie certains eine existenzielle Bedeutung verliehen, so wäre wenig erstaunlich, dass sie (5) als korrekt eingestuft haben, weil nun die Angemessenheit von (5) trivial wird (es gibt in der Tat Elefanten, die einen Rüssel besitzen!). Dass das Vorhandensein (bzw. Nicht-Vorhandensein) eines plausiblen alternativen Kontextes in einem Truth Value Judgement-Exç&ûmeni von großer Bedeutung ist, wurde schon des Öfteren in der Literatur erwähnt. Vor allem stellen Crain et al. (1996) im Rahmen einer Untersuchung zum Quantoren-Erwerb fest, dass der Kontext eines Truth Value Judgement-Exçeûmsïits die Bedingung des plausible dissent ,plausibler Dissens' (wenn eine ,^iein"-Antwort erwartet wird) bzw. des plausible assent ,plausibles Einverständnis' (wenn eine ,ja"-Antwort erwartet wird) erfüllen muss.'^ Erst durch das Anbieten einer 17 Genauso wie in dieser Arbeit führen Guasti et al. (2003) in einer Truth Value Judgement-A\iïg&he. den Parameter ein, dass ein Teil der Gruppe der Puppen zuerst eine alternative Handlung durchführen will. Ihre Ergebnisse zeigen, dass 75% der getesteten Kinder (alle 7-Jährigen) in diesem Kontext die Implikatur ohne Weiteres berechnen. Sie erklären dieses bessere Abschneiden der Kinder in ihrem Experiment im Vergleich zu Novecks Studie dadurch, dass ihre Truth Value Judgement-PMÌg?ix, im Gegensatz zu Novecks einen Kontext anbietet, der einer normalen Gesprächsituation entspricht. 18 Mit plausible assent ist gemeint, dass der Kontext des Experiments so beschaffen sein muss, dass das tatsächliche Ende der Szene eine Annahme des Testsatzes nahelegt, und mit dem plausible dissent ist gemeint, dass das reale Ende der Geschichte eine Ablehnung des Testsatzes nahelegt. Dies wird dadurch erreicht, dass ein mögliches alternatives Ende der Szene angeboten wird, das in Opposition zum realen Ende der Geschichte steht. Im Falle einer erwarteten ,ja"-Antwort sorgt das AlternativEnde dafür, dass die Plausibilität des realen Endes betont wird. Im Falle einer erwarteten ,^)ein"Antwort zeigt das Altemativ-Ende, unter welchen Bedingungen der Satz akzeptiert werden sollte. Dadurch wird gezeigt, dass das reale Ende nicht zu dem Satz passt.

176

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

möglichen Alternative in der Form eines kontrastierenden Ausgangs zum realen Ende der Geschichte wird es den Kindern klar, unter welchem Aspekt sie den Testsatz zu beurteilen haben. M. a. W. es wird durch die Einführung dieses alternativen Endes der Geschichte den Kindern vermittelt, unter welchen Bedingungen ihre Antwort falsch sein könnte. Wie oben schon ausführlich dargestellt wurde, war die Bedingung des plausible dissent in Novecks Aufgaben nicht erfüllt, weil kein Kontext denkbar war, der eine Ablehnung der kritischen certains- (bzw. might-) Testsätze plausibel gemacht hätte (= ein Kontext, in dem nur einige Elefanten einen Rüssel haben bzw. in dem der Papagei möglicherweise nicht in der Kiste ist). Da kein Kontext des plausible dissents vorhanden war, haben die Kinder in Novecks Experiment lieber den Testsatz ohne Berücksichtigung der Implikatur als angemessen eingestuft als ihn unter Berücksichtigung der Implikatur abzulehnen. Dies legt die Vermutung nahe, dass Kinder — wie eigentlich auch zu erwarten ist — sehr empfindlich für den Äußerungskontext sind, wenn sie dazu aufgefordert werden, Urteile über die pragmatische Angemessenheit von Äußerungen zu fällen — wie z. B. bei skalaren Implikaturen. Obwohl die Daten der Experimente dieses Kapitels deutlich gemacht haben, dass die Auswahl eines geeigneten experimentellen Kontextes einen großen Einfluss auf die kindliche Bereitschaft hat, skalare Implikaturen zu berechnen, widersprechen sie Novecks wichtigster Annahme jedoch nicht völlig. Noveck zieht aus seinen Daten weniger den Schluss, dass 7- bis 9-Jährige nicht die Fähigkeit besäßen, skalare Implikaturen zu ziehen, sondern er nimmt vielmehr an, dass Kinder deutlich öfter bereit sind als Erwachsene, eine Implikatur nicht zu berücksichtigen.'^ Noveck (2001:185f.) interpretiert seine Ergebnisse im Rahmen von Carstons (1998) Analyse der pragmatischen Bedeutung skalarer Ausdrücke. Sperber & Wilsons (1995) Relevance Theory folgend, definiert Carston (1998) eine pragmatische Inferenz als eine Inferenz, die vom Hörer verstanden wird (und vom Sprecher intendiert wird), um der Äußerung des Sprechers einen angemessenen Grad an Relevanz in Bezug auf den konversationellen Kontext zu verleihen. Eine skalare Inferenz^" wird demzufolge vom Hörer in allen Kontexten verstanden, in denen sich die Verwendung eines schwachen skalaren Ausdrucks als zu wenig relevant ausweist. Dieses Hinzufügen der skalaren Inferenz folgt nach dem relevanztheoretischen Ansatz einem strikten Kosten/Nutzen-Verhältnis: Der Hörer erwartet von der Äußerung des Sprechers einen möglichst maximalen Effekt bei möglichst minimalen Kosten. Eine skalare Inferenz wird demzufolge dem semantischen Gehalt einer Äußerung erst dann vom Hörer hinzugefügt, wenn es der Kon19 In Novecks (2001:184) Worten: „The paper is only claiming that the competent use of a weak scalable term is linked initially to an explicit inteφretation and that this followed by a pragmatic one [... ] By no means do I want to suggest that children are incapable of pragmatic inferencing at younger age." 20 Im Rahmen der Relevanz-Theorie werden „skalare Implikaturen" nicht als Implikaturen betrachtet, sondern als Explikaturen. Aus diesem Grund vermeide ich die Bezeichnung „skalare Implikatui" zugunsten der neutraleren Bezeichnung „skalare Inferenz", wenn ich mich auf den relevanztheoretischen Ansatz beziehe. Mit beiden Bezeichnungen bezeichne ich aber weiterhin dasselbe sprachliche Phänomen.

6.2 Experiment 3: Die Implikatur-Hypothese — Ein Nachtrag

177

text nötig macht. Grice folgend gehen neo-Grice'sche Ansätze im Gegensatz dazu davon aus, dass solche Inferenzen generalisiert sind und daher von schwachen skalaren Ausdrücken per default ausgelöst werden (Gazdar 1979; Horn 1989; Levinson 1983,2000): Im Unterschied zu partikularisierten konversationeilen Implikaturen sind skalare Implikaturen generalisierte konversationeile Implikaturen. Während skalare Inferenzen in der Relevanz-Theorie dem semantischen Gehalt nur unter den entsprechenden Kontextbedingungen hinzugefügt werden, nimmt der neo-Grice'sche Ansatz an, dass sie von entsprechenden schwachen skalaren Ausdrücken immer ausgelöst werden, es sei denn, der konversationelle Kontext blockiert bzw. löscht sie. Im Sinne der Relevanz-Theorie führt Noveck (2001:186) die Tatsache, dass Kinder skalare Implikaturen weniger oft berechnen als Erwachsene, auf zwei mögliche Faktoren zurück: (i) Der kindliche Anspruch auf Relevanz ist im Rahmen seiner Experimente mit der logischen Bedeutung schon erfüllt. Eine Implikatur wird von ihnen demzufolge nicht hinzugefügt, (ii) Die kognitive Arbeit für das Hinzufügen der Implikatur könnte für Kinder zu groß sein. Sie wären dann eher dazu bereit, ihren Anspruch auf Relevanz zu reduzieren, als die Implikatur zu berechnen. Natürlich lassen sich Novecks (2001) Daten auch im Rahmen des Grice'schen Ansatzes interpretieren:^' In diesem Fall würden sie darauf hindeuten, dass Kinder den Automatismus (= die Generalisierung) skalarer Implikaturen nur langsam erieraen. Noveck (2004:1 If.) vertritt jedoch die Auffassung, dass beide theoretischen Ansätze unterschiedliche Voraussagen über den Einfluss des experimentellen Kontextes auf die Berechnung skalarer Implikaturen bei Kindern machen. Weil im neo-Grice'schen Ansatz die Implikatur automatisch vom Ausdruck ausgelöst wird und daher wenig vom jeweiligen experimentellen Kontext beeinflusst sein sollte, erwartet Noveck (2005), dass der Erwerb skalarer Implikaturen weitgehend an den jeweiligen Ausdruck geknüpft ist, wenn dieses Modell zutreffen sollte. Der relevanztheoretische Ansatz dagegen sagt Novecks Ansicht nach einen großen Einfluss durch den Kontext voraus, weil dieser für das Kosten/NutzenVerhältnis durch die (Nicht-)Berechnung skalarer Implikaturen entscheidend ist. In diesem Sinne spricht der Vergleich zwischen Novecks (2001) Daten einerseits und den Ergebnissen von Exp. 2 und 3 dieser Arbeit andererseits eher für den relevanztheoretischen Ansatz: Die allgemeine Beobachtung dieser verschiedenen Experimente ist weniger, dass Kinder skalare Implikaturen besser oder schlechter verstehen, je nachdem von welchem Ausdruck sie ausgelöst werden, sondern sie deuten vielmehr daraufhin, dass der jeweilige Äußerungskontext das Verhalten der Kinder entscheidend beeinflusst. Aus relevanztheoretischer Perspektive sind also die Daten der Exp. 2 und 3 durchaus mit Novecks (2001) Beobachtungen verträglich.^^ Es ist jedoch klar, dass die Datenlage noch zu dünn ist, um 21 Noveck (2001:186) selbst schließt diese Möglichkeit nicht aus. 22 Foppolo et al. (2004) 1п1ефге11егеп die Daten aus den hier vorliegenden Experimenten in einem neo-Grice'schen Rahmen. Sie plädieren für die Annahme, dass die unterschiedlichen Skalen, die einer Implikatur zugrunde liegen können, je nach Komplexität (Abhängigkeit vom Diskurs oder vom enzyklopädischen Wissen) früher oder später erworben werden. Aus diesem Grund wäre die Skala Kalle, einige> leichter zu erwerben als die Skala . Dies ist insofern zutreffend, als die zwei Experimente in der Tat zeigen, dass die MV-Skala später erworben wird als die Kalle, einige>Skà\&. Die hier vorliegenden Daten geben jedoch keinerlei Evidenz für Fopollos et al. Annahme. Die hier vorliegenden Daten belegen nicht, dass die Kinder die für die Bildung der MV-Skala unabdingbare semantische Beziehung müssen —» können nicht verstünden, sondern lediglich, dass

178

6. Die Unentscheidbarkeits-und die Implikatur-Hypothese

definitiv entscheiden zu können, zugunsten wessen Ansatz sie sprechen. Dazu werden weitere Untersuchungen benötigt, und zwar vor allem von jüngeren Kindem.^^

6.3

Zusammenfassung

Ziel der in diesem Kapitel vorgestellten Experimente war es, die Gültigkeit der Unentscheidbarkeits· und der Implikatur-Hypothese empirisch zu übeφrüfen. Exp. 2 stellte eine Kombination aus drei Aufgaben dar: Mit der MA-Aufgabe wurde überprüft, wie epistemische Ausdrücke verstanden werden. Mit der Implikatur-Aufgabe wurde die präferierte Lesart schwacher skalarer Ausdrücke ermittelt. Die U-Aufgabe diente schließlich dazu, die Fähigkeit der Kinder zu testen, epistemische Unentscheidbarkeit in einem nichtsprachlichen Kontext zu verstehen. Die Ergebnisse von Exp. 2 sprechen gegen die Implikatur-Hypothese und bestätigen die Voraussagen der Unentscheidbarkeits-Hypothese: Die Kinder, die nicht in der Lage waren, epistemische Unentscheidbarkeit kognitiv zu erfassen, hatten deuüich mehr Schwierigkeiten, die epistemischen Ausdrücke vielleicht und können zu verstehen. Die Ergebnisse der Implikatur-Aufgabe zeigen, dass die untersuchten Kinder eine deutliche Präferenz für die .pragmatische Lesart' von einige haben. Diese Beobachtung spricht also gegen die Voraussage der Implikatur-Hypothese, wonach die Vorliebe der jüngeren Kinder für die ,sichere Geschichte' in der MA-Aufgabe auf eine Präferenz der ,semantischen Lesart' schwacher skalarer Ausdrücke zurückzuführen wäre. In Exp. 3 wurde überprüft, ob die Vorliebe der Kinder für die,pragmatische Lesart' von einige in Exp. 2 auf der Berechnung einer skalaren Implikatur beruht. Mit zwei Aufgaben wurde ermittelt, (i) welche Lesart von einige die untersuchten Kinder bevorzugen und (ii) ob sie die ,semantische Lesart' von einige in einem Kontext ablehnen, der normalerweise eine skalare Implikatur auslöst. Die Ergebnisse des Experiments zeigen zweierlei: (i) Eine große Mehrheit der untersuchten Kinder war in der Lage, die ,semantische Lesart' von einige in einem Kontext abzulehnen, der die Berechnung der Implikatur nahelegt, und (ii) das einzige Kind, das dazu nicht in der Lage war, war auch das einzige Kind, das eine deutliche Präferenz für die ,semantische Lesart' von einige aufwies. Beide Beobachtungen legen die Vermutung nahe, dass die Präferenz der Kinder für die ,pragmatische Lesart' skalarer Ausdrücke vor der ,semantischen Lesart' aufgrund der Berechnung einer skalaren Implikatur motiviert ist und nicht durch andere Faktoren, wie z. B. die Erfahrung mit diesen Begriffen in der Alltagssprache.

Kinder in manchen Kontexten Schwierigkeiten haben, die vorhandenen Informationen epistemisch richtig einzustufen. Dies bedeutet, dass die Schwierigkeiten der Kinder mit epistemischem können nicht eindeutig auf deren Unfähigkeit zurückgeführt werden kann, aus müssen und können eine Skala zu bilden. 23 Noveck (2005) präsentiert die Ergebnisse weiterer ontogenetischer Untersuchungen, welche die Voraussagen der Relevanz-Theorie bestätigen.

Kapitel 7

Die Kontrast- und die Anhebungshypothese Nachdem die Exp. 2 und 3 gezeigt haben, dass die Entwicklung des Begriffs der epistemischen Unentscheidbarkeit eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb epistemischer Ausdrücke darstellt, widmet sich dieses Kapitel der zweiten Leitfrage dieser Arbeit, nämlich ob und gegebenfalls warum MV in epistemischer Lesart später erworben werden als ihre Systemkonkurrenten — wie die Daten aus Exp. 1 es nahelegen. Zur Юärung dieser Frage wurden zwei Hypothesen herangezogen. Die Kontrast-Hypothese besagt, dass die Polyfunktionalität der MV und Clark's Principle of Contrast ein Hindernis für den Erwerb der epistemischen MV-Lesart darstellen, und die Anhebungshypothese stellt den Erwerb der epistemischen MV-Lesart in eine enge Verbindung mit dem Erwerb der semantischen und syntaktischen Eigenschaften von Anhebung. Diese Frage wurde zwar im Rahmen von Exp. 1 schon angegangen, jedoch mit Testsätzen, die aufgrund ihrer komplexen temporalen Form für die Kinder möglicherweise zu schwierig waren. Aus diesem Grund stellt Exp. 4 eine teilweise Wiederholung von Exp. 1 dar, jedoch mit einfacheren Testsätzen.

7.1

Experiment 4: , 3 s kann sein, dass der Junge im Haus ist."

7Л.1

Methode

In diesem Experiment wird die Gültigkeit der Kontrast- und der Anhebungshypothese nach demselben Verfahren wie in Exp. 1 йЬефгйп. Testsätze Es wurden die gleichen können- und ví'e/Ze/c/zí-Konstruktionen wie in der MA-Aufgabe von Exp. 2 herangezogen:

180 (1)

7. Die Kontrast- und die Anhebungshypothese a. Es kann sein, dass der Junge im Haus ist. b. Der Junge ist vielleicht im Haus.

{es kann sein, dass+p^äs )

Nach demselben Verfahren wie in Exp. 1 sollte ein Vergleich des Verstehens beider Konstruktionen ermöglichen, die Voraussagen der Kontrast-Hypothese zu übeφrüfen. Nach dieser Hypothese sollten die Kinder weniger Schwierigkeiten haben, die vielleicht-Sätze (Ib) zu verstehen als die epistemischen können-Sätzen in (la), weil sie die Bedeutung von Wörtern nach dem Prinzip lernen, dass jede sprachliche Form nur eine einzige Bedeutung haben darf und dass jede Bedeutung nur durch eine einzige Form wiedergegeben werden darf. Nach diesem Prinzip sollte können nur eine zirkumstantielle Lesart haben, während schwach epistemische Möglichkeit durch vielleicht ausgedrückt wird. Um die Gültigkeit der Anhebungshypothese zu überprüfen, wurde eine fcön«en-Konstruktion herangezogen, die (i) von ihrer Oberflächenstruktur her sowohl als Anhebung als auch als Kontrolle interpretierbar ist und (ii) normalerweise eine starke Präferenz für die epistemische Lesart auslöst.' Aus diesen zwei Gründen wurde die Konstruktion in (2) herangezogen: (2)

Der Junge kann im Haus sein.

{der Junge kann+sem)

(2) ist eigentlich eine Anhebungskonstruktion. Diese Eigenschaft ist jedoch nur indirekt belegbar (Möglichkeit von unpersönlichen Subjekten, Passivierbarkeit ohne Verlust ihrer Wahrheitswerte usw.^). Von ihrer Oberflächenstruktur her könnte (2) jedoch ohne Weiteres auch als Kontrollkonstruktion analysiert werden. In diesem Fall wäre ,JDer Junge" das thematische Subjekt von kann und sein hätte ein PRO-Subjekt, das von der Junge kontrolliert wird. Nach der Anhebungshypothese ist es jedoch eine Bedingung für eine epistemische Inteφretation von MV-Sätzen, dass erkannt wird, dass das grammatische Subjekt des MV nicht sein logisches ist, sondern aus seiner Θ-Stelle im eingebetteten Satz in den Matrixsatz angehoben wurde. Eine Analyse von (2), wonach ,J)er Junge" seine ΘRolle von kann bekommen hätte, hätte nach der Anhebungshypothese zur Folge, dass (2) nicht mehr epistemisch deutbar wäre. Die Kinder also, die nicht über Anhebung verfügen oder Schwierigkeiten mit dieser Konstruktion haben, werden dazu neigen, der Junge in (2) als das thematische Subjekt von kann zu interpretieren, mit der Konsequenz, dass für sie (2) nicht mehr epistemisch gedeutet werden kann. Es wurde also in diesem Experiment erwartet, dass Kinder (la) besser verstehen sollten als (2), wenn die Anhebungshypothese zutrifft — weil (la) in Bezug auf die Unterscheidung Anhebung/Kontrolle viel leichter zu verstehen ist: Die es kann sein-Vorm ist wahrscheinlich die transparenteste MV-Anhebungskonstruktion, die man sich vorstellen kann. Darüber hinaus erfüllt sie alle Bedingungen für eine epistemische Deutung: Das Subjekt von kann ist unpersönlich; es kann also ausgeschlossen werden, dass der Junge als Subjekt von kann fehlinteφretiert wird; kann hat eine einfache iew-Ergänzung; und die Skopusverhältnisse sind auch sehr transparent. 1 Leider gibt es im Deutschen keine tónnen-Form im Präsens, die ausschließlich eine epistemische Lesart zulässt und gleichzeitig von ihrer Oberflächenstruktur her sowohl als Anhebung als auch als Kontrolle analysierbar wäre. 2 S. dazu unter 2.2.2, S.22ff.

7.1 Experiment 4: „Es kann sein, dass der Junge im Haus ist. "

181

Natürlich schließen sich beide Hypothesen gegenseitig nicht aus. Sollte nur die Kontrast-Hypothese zutreffen, dann sollten die vielleicht-Sätze (Ib) leichter zu verstehen sein als die es kann sein, dass+p,.äs,- und die der Junge /:ann+sein-Sätze ((la) und (2)), die es kann sein, da^i+präs.-Form sollte jedoch nicht leichter zu verstehen sein als die der Junge ^ann+sein-Form. Trifft nur die Anhebungshypothese zu, so ist zu erwarten, dass die vielleicht- und die es kann sein, dass+p^âs -Satze gleich gut verstanden werden, während die der Junge /:ann+sein-Sätze signifikant schlechter verstanden werden sollten. Im Falle, dass beide Hypothesen zutreffen, dann sollten die vielleicht-Sätze leichter zu verstehen sein als die können-Sätze und die es kann sein, daii+pi-äs.-Sätze leichter zu verstehen sein als die der Junge tenw+sein-Sätze. Vorgehen Im Vergleich zu Exp. 1 und zur MA-Aufgabe von Exp. 2 wurde am Ablauf dieses Experiments nichts verändert. Die Kinder mussten weiterhin eine der zwei Bildergeschichten anhand der Testätze aussuchen und ihre Wahl begründen. Jede Konstruktion wurde viermal getestet. Das Experiment wurde in zwei Sitzungen à etwa 15 Minuten durchgeführt. Die zweite Sitzung fand etwa eine Woche nach der ersten statt. Die Kinder wurden einzeln in einem separaten Raum ihrer Schule bzw. ihres Kindergartens getestet. Ihre Antworten wurden zur späteren Auswertung auf Tonband aufgenommen.

7.1.2

Teilnehmer

121 Kinder von 5;7 bis 9;6 in vier Altersgruppen und 10 Erwachsene nahmen am Experiment teil: 1. 6-Jährige: 31 Kinder zwischen 5;7 und 6;6 (Altersdurchschnitt: 6;2) 2. 7-Jährige: 31 Kinder zwischen 6;7 und 7;6 (Altersdurchschnitt: 7;2) 3. 8-Jährige: 29 Kinder zwischen 7;7 und 8;6 (Altersdurchschnitt: 8;2) 4. 9-Jährige: 30 Kinder zwischen 8;7 und 9;6 (Altersdurchschnitt: 9;1) Alle Kinder besuchten Grundschulen bzw. Kindergärten in Reutlingen (Grundschulen) und Stuttgart (Kindergärten). Die Kinder waren alle monolinguale Sprecher des Deutschen. Die Erwachsenen waren alle Studenten der Universität Tübingen.

7.1.3

Ergebnisse

Die Antworten wurden nach demselben Verfahren wie in Exp. 1 ausgewertet (s. unter 5.2.3, S. 133f.). Eine Antwort auf die vielleicht-, es kann sein, dassp^as.- und der Junge fcßnn+sein-Sätze wurde nur dann als korrekt gewertet, wenn das Kind die ,unsichere Geschichte' gewählt hatte und eine Begründung gab, die auf ein epistemisches Verstehen

182

7. Die Kontrast-und die Anhebungshypothese

des Satzes schließen ließ (,4ch kann den Jungen nicht sehen" ; ,Auf der anderen Seite ist der Junge im Haus" usw.). Jede Antwort wurde mit 0,25 Pkt. gewertet, so dass jedem Kind ein Wert zwischen 0 und 1,0 zugeordnet werden konnte. Tabelle 7.1 zeigt den Durchschnitt der von den Kindern erzielten Punkte für die jeweiligen Altersgruppen und Satztypen. Tabelle 7.1: Exp. 4: Durchschnitt der erzielten Punkte (Mit Standardabweichung (=sd))

6Jahre(n=31) 7Jahre(n=31) 8Jahre(n=29) 9Jahre(n=30) Erw. (n=10)

es kann sein, dass

der Junge kann+sem

0,24 (sd=0,34) 0,40 (sd=0,41) 0,55 (sd=0,44) 0,64 (sd=0,41) l,00(sd=0,00)

0,18 (sd=0,33) 0,35 (sd=0,44) 0,52 (sd=0,43) 0,64 (sd=0,40) 1,00 (sd=0,00)

vielleicht 0,28 0,50 0,65 0,76 1,00

(sd=0,35) (sd=0,43) (sd=0,39) (sd=0,32) (sd=0,00)

Die Ergebnisse wurden in einer 5(ALTER: 6, 7, 8, 9, Erw.) χ 2 (GESCHLECHT) MANOVA auf Varianz analysiert. Dabei konnte kein signifikanter Einfluss des Faktors GES C H L E C H T festgestellt werden (F(l,129) = 1,44; ρ > . 2 für es kann sein, dass+p^^s/, F{1,129)= l,9; ρ > .17 ÍÜT der Junge kann+seiu undF(l,129) = 2,43;p > .12fürv¿e/tóc/i0. Der Faktor A L T E R erwies sich in allen Aufgaben als signifikant (F(4,126) = 8,14; ρ ;

Die .sichere Geschichte' r·-

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Die,unsichere Geschichte' Exp. 4: Es kann sein, dass der Junge auf dem Baum ist

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SäSeuu Die .unsichere Geschichte' Exp. 4: Es kann sein, dass der Junge im Feld ist

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Die .unsichere Geschichte' Exp. 4: Der Junge ist vielleicht in der Garage

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