BAND 2 Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte 9783050047997, 9783050026152

Die Beiträge dieses Bandes decken ein breites Spektrum möglicher Varianten von Ego-Dokumenten ab. Es sollen darunter all

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BAND 2 Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte
 9783050047997, 9783050026152

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Ego-Dokumente

SELBST« ZEUGNISSE» DERB NEUZEIT

Quellen

und Darstellungen zur Sozial-und

Erfahrungsgeschichte Herausgegeben von

Hartmut Lehmann, Alf Lüdtke, Hans Medick, Jan Peters

und Rudolf Vierhaus

Band 2

Ego-Dokumente Annäherung an den Menschen in der Geschichte

Herausgegeben von

Winfried Schulze

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek

CIP-Einheitsaufnahme Ego-Dokumente : Annäherung an den Menschen in der Geschichte / hrsg. von Winfried Schulze. Berlin : Akad. Verl., 1996 (Selbstzeugnisse der Neuzeit ; Bd. 2) -

-

ISBN 3-05-002615-4 Schulze, Winfried [Hrsg.]; GT

NE:

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1996 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe.

Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. -

Alle Rechte der deutschen Ausgabe vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

-

Dörlemann-Satz, Lemförde Druck: GAM Media GmbH, Berlin Satz:

Bindung: Verlagsbuchbinderei D. Mikolai, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhait

Geleitwort zur Reihe

„Selbstzeugnisse der Neuzeit". Vorbemerkung. Winfried Schulze (München) Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente" .

I.

Autobiographische Texte

-

9

11

Nationale und systematische Aspekte

Rudolf Dekker (Rotterdam) Ego-Dokumente in den Niederlanden vom 16. bis zum 17. Jahrhundert

.

James S. Amelang (Madrid)

Spanish Autobiography in the Early Modern Era. Gabriele Jancke (Dresden) Autobiographische Texte Handlungen in einem Beziehungsnetz. Überlegungen zu Gattungsfragen und Machtaspekten im deutschen Sprachraum von 1400 bis 1620 Anette Völker-Rasor (München) „Arbeitsam, obgleich etwas verschlafen ..." Die Autobiographie des 16. Jahrhunderts als Ego-Dokument Irina Modrow (Berlin) Religiöse Erweckung und Selbstreflexion.

33

59

-

.

73

-

.

107

Überlegungen zu den Lebensläufen Herrnhuter Schwestern

als einem Beispiel pietistischer Selbstdarstellungen.

121

Kaspar von Greyerz (Zürich) Spuren eines vormodernen Individualismus in englischen Selbstzeugnissen des 16. und 17. Jahrhunderts

131

.

II. Administrativ

bedingte Selbstbefragung

Otto Ulbicht (Kiel) Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel

.

Jan Peters (Potsdam) Zur Auskunftsfähigkeit von Selbstsichtzeugnissen schreibender Bauern. Sigrid Jahns (München) Das Generalexamen der Kammergerichtsassessoren als „Ego-Dokument"? .

149 175

191

Claudia Ulbrich (Berlin) Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts.

207

Thomas Sokoll (Hagen) Selbstverständliche Armut. Armenbriefe in England 1750-1834.

227

ILL

Verhörprotokolle als Ego-Dokumente

Wolfgang Behringer (Bonn) Gegenreformation als Generationenkonflikt oder: Verhörsprotokolle und andere aclministrative Quellen zur Mentalitätsgeschichte Helga Schnabel-Schüle (Tübingen) Ego-Dokumente im frühneuzeitlichen Strafprozeß. Winfried Schulze (München) Zur Ergiebigkeit von Zeugenbefragungen und Verhören. Gudrun Gersmann (Bochum) „De Profundis ..." Selbstzeugnisse des literarischen Untergrundes aus dem Bastille-Archiv. .

275 295 319

327

IV. Schluß

Winfried Schulze

(München) Schlußbemerkungen zur Konferenz über „Ego-Dokumente".

343

Autorenverzeichnis

347

.

Geleitwort zur Reihe „Selbstzeugnisse der Neuzeit. Quellen und Darstellungen zur Sozial- und

Erfahrungsgeschichte"

Seit Jahren wächst das Interesse an historischer Autobiographik. Zeugnisse der Selbstwahrnehmung erweisen sich als zentrale Quellen der Geschichte. „Selbstzeugnisse" sind Aufzeichnungen, die individuelle und auf das „Selbst" bezogene Beobachtungen und Erfahrungen zusammenhängend zum Ausdruck bringen. In größerer Zahl gibt es sie seit dem 16. Jahrhundert. Sie sind keineswegs nur in den gebildeten Oberschichten entstanden. Zu den Selbstzeugnissen gehören auch das nüchterne „Schreibebuch" eines Schäfers über volksmedizinische Flilfsmittel gegen Krankheiten von Mensch und Tier, Erlebnis- und Erfahrungsberichte von Bauern, Handwerkern oder Soldaten, z. B. im Dreißigjährigen Krieg. Autobiographische Selbstsichten eines Kaufmanns oder eines Studenten zählen ebenso dazu wie die Aufzeichnungen eines bildungshungrigen Handwerksgesellen, eines diensteifrigen Polizisten oder die eines ebenso sozialkritischen wie industrieversessenen Arbeiters. Zahlreicher als bisher bekannt, sind die Selbstzeugnisse schreibender Frauen, zum Beispiel von Nonnen, von Adeligen und von Frauen aus dem Bürgertum, aber auch von

überlebenden NS-Zwangsarbeiterinnen.

Vielerorts wird diese Quellengattung zur Zeit neu entdeckt. Besonderes Interesse in der internationalen Forschung wie beim interessierten Publikum findet die populare Autobiographik, also die Selbstzeugnisse aus Unter- und Mittelschichten. Die Existenz dieser Texte war bisher kaum bekannt. Gerade sie aber erweisen sich als unverzichtbar für alle Versuche, soziale Praxis, Erfahrungszusammenhänge und Lebenswelten zu rekonstruieren. Selbstzeugnisse eröffnen neue Zugänge, um die historischen Akteure als empfindende und wahrnehmende, leidende und handelnde Personen zu zeigen. „Selbstzeugnisse der Neuzeit" wollen bisher noch nicht publizierte Individualquellen, die historische Zeitgenossenschaft einprägsam reflektieren, zugänglich machen. Die Reihe will zugleich zu Unrecht vergessene oder vergriffene Selbstzeugnisse in Gestalt kommentierter Nachdrucke wieder verfügbar machen. Darüber hinaus sollen exemplarische Analysen sowie beschreibende Verzeichnisse und Übersichten veröffentlicht werden. Wir hoffen aber auch, daß mit diesem Vorhaben Schätze gehoben werden können, von denen wir bisher nichts wissen. Die Reihe „Selbstzeugnisse der Neuzeit" versteht sich als Beitrag zur Neuorientierung historischer Forschung und zugleich als Angebot an die historisch interessierte Öffentlichkeit. Hartmut Lehmann, Alf Lüdtke, Hans

Medick, Jan Peters, Rudolf Vierhaus

Vorbemerkung

Ich freue mich, in diesem Band die Beiträge einer Konferenz über „Ego-Dokumente" veröffentlichen zu können, die vom 4.-6. Juni 1992 in der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg stattfand. Unvermeidlich wird die erste kritische Frage lauten: Was sind überhaupt „Ego-Dokumente" ? Unter Ego-Dokumenten versteht die neuere, vorwiegend westeuropäische Frühneuzeitforschung in Anlehnung an einen Beitrag des niederländischen Historikers Rudolf Dekker (Rotterdam) solche Quellen, die Auskunft über die Selbstsicht eines Menschen geben, vorwiegend und zunächst einmal also autobiographische Texte. Ziel eines größeren Arbeitsvorhabens von Dekker war deshalb eine möglichst vollständige Sammlung aller niederländischen autobiographischen Texte zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. Über diese engere Bedeutung hinaus schien der Begriff Ego-Dokument ein weiterführender Begriff zu sein, der nicht nur auf das autobiographische Material angewendet werden sollte. Nach einem Gastvortrag von Rudolf Dekker an der Ruhr-Universität Bochum und nach einem einschlägigen Seminar glaubte ich, daß es von Nutzen sein könnte, in Anlehnung an die ursprüngliche Definition des Konzepts durch den niederländischen Historiker Jacob Presser einen weiteren Begriff von Ego-Dokument zu verwenden. Darunter sollten alle jene Quellen verstanden werden, die uns über die Art und Weise informieren, in der ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig also etwa in einem Brief oder in einem autobiographischen Text oder durch andere Umstände bedingt geschieht. Solche Umstände können z. B. Befragungen im Rahmen administrativer Vorgänge (Zeugen-

-

befragung, Steuererhebung, Visitation, Untertanenbefragung, gerichtliche Aussagen zur Person, gerichtliches Verhör etc.) sein. Insgesamt schien mir ein solcher von den Quellen ausgehender Zugriff auf mentalitätshistorische Fragestellungen ein vielversprechender und ergiebiger Ansatz zu sein. Dies zeigt nicht zuletzt die Fülle von laufenden Forschungsvorhaben in verschiedenen Ländern und an verschiedenen deutschen Universitäten, die für diese Fragen z. Z. nutzbar gemacht werden konnten. Die hier publizierten Beiträge können die Reichhaltigkeit dieser Vorhaben nur ansatzweise belegen. Sie wurden von den Autoren überarbeitet und i. a. mit einem besonders aussagelträftigen Quellenbeispiel versehen, um den Band auch für die Seminararbeit nutzen zu können. Die Veröffentlichung des Bandes in der neuen Reihe „Selbstzeugnisse" des Akademie Verlages gibt mir die willkommene Möglichkeit, der Reimers-Stiftung zum wiederholten Male für ihre bewährte Gastfreundschaft, den Herausgebern der Reihe für die Aufnahme des Bandes in diese Reihe und den Autoren und Diskutanten für die Mühe ihrer Mitarbeit zu danken.

München, im Oktober 1995

Winfried Schulze

Winfried Schulze

Ego-Dokumente: Annäherung

in der Geschichte?1 Vorüberlegungen für die

„EGO-DOKUMENTE"

an

den Menschen

Tagung „Die Texte, gewiß

aber es sind menschliche Texte".

-

Lucien Febvre, 19332 am historischen Menschen, seinem Denken, Wissen und Verhalten wächst. Menschenfresser werden wir Historiker nach einem treffenden Wort Marc Blochs genannt: „Wo er Menschenfleisch riecht, da wittert er seine Beute."3 Gerade neuere Publikationen bestätigen dies: Die Jäger vom Stamme der Historiker sind unersättlich, keine Variante menschlichen Verhaltens, die verborgen bliebe, keine Quellengattung, die nicht nach möglicher Beute durchsucht würde. Die „Geschichte des privaten Lebens" scheint der vorläufige Endpunkt dieser Entwicklung zu sein, der private Raum wird vermessen, die Intimsphäre ausgespäht, Konsum und Besitz gezählt, ja die Verfehlungen des historischen Menschen werden unerbittlich ausgebreitet,4 wissenschaftliche Tagungen fragen nach der „Privatisierung der Triebe" in der Frühen Neuzeit.5 Damit hat sich doch eine entscheidende Verände-

Unser Interesse

1 Diese Überlegungen entstanden im Zusammenhang der inhaltlichen Vorbereitung der Arbeitstagung über „Ego-Dokumente" in der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg im Juni 1992. Der Text

wurde vor der Konferenz allen Teilnehmern zugeschickt. Ich danke vor allem Gabriele Jancke-Leutzsch und Claudia Ulbrich für ihre kritische Diskussion einer früheren Fassung. Eine um exemplarische Untersuchungen erweiterte Fassung erschien in: Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Für und mit Ferdinand Seibt aus Anlaß seines 65. Geburtstages, Köln-Wien-Weimar 1992, S. 417-450. Um den Arbeitszusammenhang der Konferenz zu dokumentieren, erscheint mir ein neuerlich überarbeiteter Abdruck vertretbar zu sein. 2 Lucien Febvre: Ein Historiker prüft sein Gewissen, in: ders.: Das Gewissen des Historikers, Berlin 1988, S. 9-22, hier S. 18. 3 Marc Bloch, hier zitiert nach Jacques LeGoff: Der Historiker als Menschenfresser, in : Freibeuter 41, 1989, S. 21-28, erneut unter dem Titel: Wie schreibt man eine Biographie?, in: Fernand Braudel u.a.: Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers, Berlin 1990, S. 103-112, hier S. 103. 4 Roger Chartier (Hg.): Histoire de la vie privée, Bd. 3: De la Renaissance aux Lumières, Paris 1986 (dt. Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung, Frankfurt am Main 1991). Vgl. auch Daniel Roche: Le peuple de Paris, Paris 1981 und zuletzt Annik Pardailhé-Galabrun: La naissance de l'intime: 3000 foyers parisiens, XVIL-XVIIIe siècles, Paris 1988. 5 Vgl. Tagungsprogramm des Instituts für die Erforschung der Frühen Neuzeit (Wien), 28.-30. 11. 1991. Die Ergebnisse der Konferenz jetzt angekündigt: Daniela Erlach Markus Riesenleitner Karl Vocelka (Hgg.): Privatisierung der Triebe? Sexualität in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1993. -

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Winfried Schulze

12

gegenüber dem klassischen Historismus ergeben, dessen Individualitätssyndrom in einem merkwürdigen Widerspruch zu seiner Zurückhaltung steht, das Innerste des Menschen vollends ergründen zu wollen. Für einen am Problem menschlicher Individualität („Individuum est ineffabile") so stark orientierten Historiker wie Friedrich Meinecke sollte bei der Erforschung des Menschen ein unauflösbarer Rest bestehen bleiben, der Historiker sollte sich hier in der ars ignorandi üben: Der Dignität des Individuums entsprach die Scheu vor seiner totalen Offenlegung. Demgegenüber plädierte schon sein Altersgenosse Otto Hintze für einen tieferreichenden Zugriff auf die historische Persönlichkeit. „Das berühmte X Droysens", so sagte er, „bleibt also bestehen, nur muß meiner Ansicht nach die Forschung

rung

bemüht sein, es auf ein Minimum zu reduzieren. Sonst täte man am besten daran, die wissenschaftliche Forschungsarbeit in der Historie ganz aufzugeben."6 Man wird leicht feststellen können, daß sich die historische Forschung des späteren 20. Jahrhunderts eher an der offensiven Empfehlung Hintzes denn an der Zurückhaltung Meineckes orientiert hat. Die thematische Erweiterung der historischen Forschung und der Fortschritt der historischen Methoden zumal in den letzten drei Jahrzehnten haben sich besonders in jenem Bereich ausgewirkt, den wir mit dem vagen Begriff der Mentalitätsgeschichte umschreiben, der aber eindeutig auf jene Haltungen, Vorstellungen und Verhaltensweisen der Menschen zielt, die sich eher unbewußt artikulieren: „Geschichte als Wissenschaft vom Menschen, Wissenschaft von der menschlichen Vergangenheit," so hat es Luden Febvre, dessen Zitat an den Beginn dieses Beitrags gestellt wurde, 1933 programmatisch formuliert.7 Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie der Geschichte, wenn gerade die Sozialgeschichte, die zunächst mit einer deutlichen antiindividualistischen, ja von Gegnern zuweilen kollektivistisch genannten Tendenz auftrat, in den letzten Jahren den Weg für einen intensiveren methodischen Zugriff auf das bewußte und unbewußte menschliche Handeln freigemacht hat. Der jetzt erkennbare Weg von der Makrohistorie zur Mikrohistorie wurde vor allem dann beschritten, wenn makrohistorische Fragestellungen und Methoden sich als nicht fähig erwiesen, bestimmte inhaltliche Probleme einer Lösung zuzuführen.8 In der quantitativen Demographiegeschichte etwa hat sich ein bemerkenswert rascher Themen- und Metho6 Otto Hintze: Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, 2., erw. Aufl. Göttingen 1964, S. 352. 7 Vgl. Anm. 2, S. 17. Als anschauliches Beispiel: Arthur E. Imhof: Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren und warum wir uns heute so schwer damit tun München 1984. 8 Der Begriff „Mikrohistorie" wurde im wissenschaftlichen Kontext wohl zuerst durch Siegfried Kracauer verwendet, der um 1965 im Rückgriff auf Tolstoi und Namier Mikro- und Makrohistorie gegenüberstellte, freilich in einem Kontext, der eigentlich nur die alte Diskusssion von Individuellem und Allgemeinem wiederaufnahm, vgl. S. Kracauer: Geschichte Vor den letzten Dingen, Frankfurt am Main 1971, Kap. V, S. 125ff. Die neuere Bedeutung zuerst bei C. Ginzburg C. Poni: Was ist Mikrogeschichte?, in: Geschichtswerkstatt 6, 1985, S. 48-52 (ital. Erstveröffentlichung 1979). Vgl. Winfried Schulze: Mikrohistorie vs. Makrohistorie? Anmerkungen zu einem aktuellen Thema, in: Christian Meier -Jörn Rüsen (Hgg.): Historische Methode (Theorie der Geschichte, Bd. 5), München 1988, S. 319-341. Eine Bilanz der deutschen Diskussion zieht jetzt Richard van Dülmen: Historische Anthropologie in der deutschen Sozialgeschichtsschreibung, in: GWU 42, 1991, S. 692-709. Zuletzt dazu Hans Medick: Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte im Blickpunkt der Kulturanthropologie, in: Geschichtswissenschaft vor 2000. Festschrift für Georg G. Iggers zum 65. Geburtstag, Hagen 1991, S. 360-369 und sein Beitrag über Mikrohistorie in: Winfried Schulze (Hg.) : Sozialgeschichte, Alltagsge...,

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schichte, Mikro-Historie, Göttingen 1994, S. 40-53.

Ego-Dokumente: Annäherung

an

den Menschen in der Geschichte?

13

denwechsel hin zu qualitativen Fragestellungen ergeben, die den Rückgriff auf den einzelnen Menschen erforderlich machten.9 Doch dieser eher forschungsimmanente Vorgang wurde überlagert von einem mächtigen neuen Interesse am Verhalten des einzelnen Menschen in der Geschichte, einer Gegenbewegung zu den großen Strukturfragen, die auch ihre methodische Entsprechung fand. Lawrence Stone hat diesen Vorgang als „revival of narrative" bezeichnet, ohne damit ganz der Komplexität dieses Vorgangs gerecht zu werden.10 Die Dynamik intensiver mentalitätshistorischer Fragestellungen hat den zunächst im Mittelpunkt stehenden Bereich des kollektiven Unbewußten überschritten und ein neues Interesse an einzelnen Personen, ihrer typischen oder singulären Vorstellungswelt, ihrer Weltsicht insgesamt hervorgerufen. Dies gilt besonders für jene sozialen Schichten in der Geschichte, die üblicherweise nicht zu denen gehörten, die sich häufig artikulierten, sondern die schweigende Masse bildeten. Hier hat die historische Forschung nicht nur das schwer umzusetzende und umstrittene Konzept der „Volkskultur" zumindest als Leitfrage übernommen, sondern auch besondere Fragestellungen und Methoden entwickelt, mit denen kulturelle Praktiken, Wertvorstellungen und soziale Wissensbestände ermittelt werden konnten.11 Alle diese Fragen reichen über die älteren kulturgeschichtlichen Fragestellungen weit hinaus; sie gewinnen ihr eigenes Gewicht vor dem Hintergrund der Tatsache, daß wir heute mehr denn je wissen wollen, wie elementare historische Veränderungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft vom einzelnen Menschen verstanden und verarbeitet wurden. In diesem Zusammenhang ist die moderne Geschichtsforschung vor allem an jenen Typen von Quellen interessiert, die einen möglichst direkten Zugriff auf individuelle und kollektive Deutungen, Wertungen oder soziales Wissen ermöglichen. Dieses Interesse ist heute so stark ausgeprägt, daß es an der Zeit scheint, die sich hier bietenden Möglichkeiten der historischen Quellenbestände einmal systematisch zu ordnen und so zu genaueren Auskünften zu gelangen. In diesem Kontext möchte ich dafür plädieren, sich näher mit dem Begriff des Ego-Dokuments zu befassen, dessen Hauptinteresse im Unterschied zur traditionellen Volkskulturforschung stärker auf die individuelle Wahrnehmung gesellschaftlichen Lebens abzielt.12 Zunächst einige Überlegungen zum Begriff des Ego-Dokuments, der sich deutlich von dem im französischen Raum zuweilen gebrauchten Konzept der „Ego-Historie" unterscheidet. Während etwa Pierre Nora unter „égo-histoire" die biographische „Selbstbeschreibung" von Historikern versteht,13 bezieht sich der Begriff des Ego-Dokuments auf das historische 9 Vgl. dazu etwa Philippe Ariès: L'histoire des mentalités, in: Jacques LeGoff Roger Chartier Jaques Revel (Hgg.): La Nouvelle Histoire, Paris 1978, S. 402-423. Die thematische Entwicklung der -

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Arbeiten des Demographiehistorikers Arthur E. Imhof kann diesen Vorgang exemplarisch belegen. 10 Lawrence Stone: The Revival of Narrative, in: PaP 85, 1980, S. 3-24. 11 Ich verweise nur auf Peter Burke: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981 ; Steven L. Kaplan (Hg.) : Understanding Popular Culture. Europe from the Mddle Ages to the Nineteenth Century, New York-Berlin 1984 und Bob Scribner: Is a History of Popular Culture possible?, in: History of European Ideas 10, 1989, S. 175-191. 12 Dies wird auch durch die Aufzählung der Quellengruppen dieser Forschungsrichtung deudich. Scribner erwähnt z.B. Sprichwörter, Volksliteratur und -Heder, Flugblätter, Überreste kirchlichen Brauchtums, aber auch rechtliche und kirchliche Aktenbestände (ebd., S. 174 ff.). 13 Vgl. Pierre Chaunu Georges Duby -Jacques LeGoff Michel Perrot: Leben mit der Geschichte. Vier Selbstbeschreibungen, hg. und mit einem Vorwort versehen von Pierre Nora, Frankfurt am Main 1989 und die Beiträge in: Autour de l'égo-histoire, in: Le Débat 49, 1988, S. 122-140. -

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Winfried Schulze

14

Quellenmaterial selbst. Eine Nähe besteht eher zu den in den anglo-amerikanischen Sozialwissenschaften üblichen Begriffen „personal document", „human document" oder „document of life", ohne doch mit letzterem völlig identisch zu sein. Als „document of life" werden in der psychoanalytischen, anthropologischen und soziologischen Forschung vor allen Dingen jene Quellen verstanden, die Einblick in die Biographie einer Person geben können, die lediglich „in some sense" als Autor zu verstehen ist.14 Neben den auch dem Historiker vertrauten Quellen wie Tagebuch, Brief oder oral history-Befragungen werden hier auch literarische und photographische Quellen, schließlich auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs einbezogen. Die bisherige Diskussion über Ego-Dokumente hat freilich diese sozialwissenschaftliche Methodendebatte noch nicht angemessen berücksichtigt. Dies gilt in gleicher Weise für die Überlegungen, die im Kontext der volkskundlichen Biographieforschung entwickelt worden sind. Hier hat Rolf Wilhelm Brednich von „human documents" gesprochen und damit vor allem Testamente, Stamm- und Anschreibebücher, Briefe und Tagebücher, Familienchroniken und Tagebücher von den Quellensorten abgrenzen wollen, die im Verlauf volkskundlicher Feldforschung durch Befragung gewonnen werden können.15 Zwischen diesen „akzidentalen Dokumenten" im Sinne Brednichs und den i. f. definierten Ego-Dokumenten ergeben sich Überschneidungen, ohne daß beide Konzepte identisch wären. Unter Ego-Dokumenten versteht die neuere, vorwiegend westeuropäische Frühneuzeitforschung in Anlehnung an die niederländische Diskussion der 70er Jahre und einige Beiträge des niederländischen Historikers Rudolf Dekker solche Quellen, die Auskunft über die Selbstsicht eines Menschen geben, vorwiegend und zunächst einmal also autobiographische Texte. Dekker griff bei dieser Definition auf den weitgehend unbeachtet gebliebenen Vorschlag seines Landsmannes Jacob Presser zurück, der schon 1958 als „egodocumente" jene Texte bezeichnete, in denen „der Autor uns etwas über sein persönliches Leben und seine Gefühle erzählt,16 oder, noch allgemeiner formuliert,

in denen „ein ego sich absichtlich oder unabsichtlich

enthüllt oder

ver-

14 Vgl. dazu die älteren Arbeiten von Louis Gottschalk: The Historian and the Historical Document, in: ders. C. Kluckhohn R. Angelí: The use of personal documents in history, anthropology and sociology, New York 1947, S. 3-78; G. W. Allport: The Use of Personal Documents in Psychological Science, New York 1942; C. Pitt: Using Historical Sources in Anthropology and Sociology, New York 1972 und E. de Dampierre: Le sociologue et l'analyse des documents personnels, in: Annales ESC 14, 1959, S. 442-454. Zum Begriff „document of life" zuletzt Ken Plummer: Documents of Life: An Introduction to the Problems and Literature of a Humanistic Method, London 1983. Dieses Buch bietet -

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einen guten Einblick in den Stand der sozialwissenschaftlichen Forschungsdebatte zu den sog. „documents of life" (bes. S. 13ff.). Das letzte Zitat bezieht sich auf eine Formulierung von Robert Redfield (ebd., S. 14). 15 Rolf Wilhelm Brednich: Zum Stellenwert erzählter Lebensgeschichten in komplexen volkskundlichen Feldprojekten, in: ders. u.a. (Hgg.): Lebenslaufund Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der volkskundlichen Forschung, Freiburg i. Br. 1982, S. 46-70. 16 So deutet Dekker den Vorschlag Pressers von 1958 (Mémoires als geschiedsbron). Vgl. Rudolf M. Dekker: Ego-Documents in the Netherlands 1500-1814, in: Dutch Crossing 39,1989, S. 61-72, hier S. 61, der sich auf Jacob Presser (Uit het werk van dr. J. Presser, Amsterdam 1969, S. 277) bezieht. Zum Gesamtprojekt vgl. auch Rudolf M. Dekker: Egodocumenten: Een literatuuroverzicht, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 101, 1988, S. 161-189 und ders. R. Lindeman Y Scherf: Verstopte bronnen: -

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Ego-Dokumente: Annäherung

an

den Menschen in der

Geschichte?_15

birgt".17 Herman van den Dunk sprach von Quellen,

in denen ein „Autor nicht ohne Umstände und sehr indirekt etwas über sich selbst zu erkennen gibt, worin er aber etwas ausdrückt, das ihn persönlich beschäftigt, erregt oder betroffen macht."18 Diese offenen und hier weiter zu nutzenden Definitionen hat die neuere niederländische Sozialgeschichtsforschung angeregt, sich vor allem den autobiographischen Texten der Frühen Neuzeit zu widmen. Ziel eines größeren Arbeitsvorhabens von Dekker war es deshalb, eine möglichst vollständige Sammlung aller niederländischen autobiographischen Texte zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert zu erarbeiten, wobei Autobiographien, Memoiren, Tagebücher und persönliche Reiseberichte miteinbezogen wurden. Persönliche Briefe wurden aus praktischen Gründen so ist zu vermuten nicht in die Sammlung einbezogen, die schließlich ca. 1200 Stücke umfaßte.19 Diese Arbeit niederländischer Historiker läßt sich durchaus in eine in den letzten Jahren erheblich aufblühende Erforschung autobiographischer Textsorten einordnen, die vielerorts zu beobachten ist und die inzwischen als Beleg jener umfassenden anthropologischen Neuorientierung der Geschichtswissenschaft verstanden wird.20 In einigen Ländern sind autobio-

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egodocumenten van Noord-Nederlanders uit de 16de tot 18de eeuw, in: Nederlands Archieven Blad 86, 1982, S. 226-235, ebd., S. 226f. auch einige Bemerkungen zur Genese des Begriffs. 17 So die Formulierung Pressers in: ders.: Uit het werk van dr J. Presser, Amsterdam 1969, S. 286. 18 Vgl. H. W. van den Dunk: Over de betekenis van ego-dokumenten, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 83, 1970, S. 147-161. Diese Nummer der „Tijdschrift" erschien unter dem Titel: „Egodokumenten, een bijzonder genre van historische bronnen". 19 Vgl. dazu den Beitrag Dekkers in diesem Band, S. 33-57 und die jetzt vorliegende Übersicht der (nur nordholländischen) Quellen R. Lindemann Y. Scherf R. Dekker (Hgg.): Egodocumenten van Noord-Nederlanders uit de zestiende tot begin negentiende eeuw. Een chronologische lijst, Rotterdam -

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1993, die ca. 630 Texte umfaßt. 20 Als vorzüglicher Literaturüberblick eignet sich: Rudolf M. Dekker: Egodocumenten: Een literatuuroverzicht, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 101, 1988, S. 161-189, während Kenneth Barkin: Autobiography and History, in: Societas 6, 1976, S. 83-108 stärker auf das neue, vertiefte historische Interesse an der Autobiographie abhebt und dies mit dem allgemein veränderten Interesse der Geschichtsschreibung verbindet, während die ältere Geschichtsforschung eher vor der Autobiographie gewarnt habe. Vgl. auch Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989; J. M. Osborn: The beginnings of Autobiography in England, Los Angeles 1960; John N. Morris: Versions of the Self. Studies in English Autobiography from John Bunyan to John Stuart Mill, New York 1966; Paul Delany: British Autobiography in the Seventeenth Century, London 1969; Dean Ebner: Autobiography in Seventeenth-Century England, Den HaagParis 1971 ; A. Stauffer: The Art of Autobiography in 18th-Century England, Princeton, N.J. 1965; Roy Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt, Stuttgart u.a. 1965; Pierre Lejeune: L'histoire de l'autobiographie en France, Paris 1971; Jan Szczepanski: The Use of Autobiographies in Historical Social Psychology, in: Daniel Bertaux (Hg.): Biography and society. The life history approach in the social sciences, Beverly Hills, Ca. London 1981, S. 225-234; Robert Elbaz: From Confessions to Antimemoires: A Study of Autobiography, Phil. Diss. Montreal 1980; Harvey J. Graff: Literacy and Social Development in the West: A reader, Cambridge 1981; E. Graham u.a. (Hgg.): Her own Life. Autobiographical Writings by Seventeenth-Century Englishwomen, London-New York 1989; Hans Glagau: Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle, Marburg 1903; Hans W. Gruhle: Die Selbstbiographie als Quelle historischer Erkenntnis, in: M. Palyi (Hg.): Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 1, München-Leipzig 1923, S. 157-177; Theodor Klaiber: Die deutsche Selbstbiographie. Beschreibungen des eigenen Lebens, Memoiren, Tagebücher, Stuttgart 1921 ; -

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Winfried Schulze

16

graphische Quellen unter durchaus verschiedenen Ordnungskriterien bereits gesammelt und verzeichnet worden.21 Waren früher autobiographische Texte eher ein Objekt kulturgeschichtlicher oder literaturhistorisch-literaturwissenschaftlicher Forschung, so geraten diese

Quellen zunehmend in den engeren Interessenbereich der Historiker,22 der sich freilich mit J. Kronsbein: Autobiographisches Erzählen. Die narrativen Strukturen der Autobiographie, München 1984; Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie der Mystik bis zum Pietismus, Berlin 1919; Georg Misch: Geschichte der Autobiographie, Bd. IV,2:

von

zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts, 3. Aufl., Bernd Neumann, Frankfurt am Main 1969; Horst Wenzel (Hg.): Die Autobiographie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, 2 Bde., München 1980; ders.: Zu den Anfängen der volkssprachigen Autobiographie im späten Mittelalter, in: Daphnis 13,1984, S. 59-75; H. Winter: Der Aussagewert von Selbstbiographien. Zum Status autobiographischer Urteile, Heidelberg 1985; Urs M. Zahrnd: Die autobiographischen Aufzeichnungen Ludwig von Diesbachs. Studien zur spätmittelalterlichen Selbstdarstellung im oberdeutschen und schweizerischen Räume, Bern 1986; Karl Joachim Wemtraub: The Value of the Individual: Seifand Circumstance in Autobiography, Chicago 1978; ders.: Autobiography and Historical Consciousness, in: Critical Inquiry 1, 1975, S. 821-842; Heidi I. Stull: The Evolution of the autobiography from 1770-1850. A comparative study and analysis, New York

Von der Renaissance

bearb.

von

1985. 21 Für Großbritannien vgl. William Matthews (Hg.): British Autobiographies. An annotated Bibliography of British Autobiographies published or written before 1951, Berkeley 1984 und ders.: British Diaries. An Annotated Bibliography of British Diaries written between 1442 and 1942, Berkeley 1984. Für die USA ders.: American diaries in manuscript 1580-1954. A descriptive bibliography, 1975. Für die Niederlande vgl. Rudolf M. Dekker R. Lindeman, R. Y Scherf: Verstopte bronnen: egodocu-

Noord-Nederlanders uit de 16de tot 18de eeuw, in: Nederlands Archieven Blad 86, 1982, jetzt vorliegende Übersicht der Quellen: dies. (Hgg.): Egodocumenten uit de zestiende to begin negentiende eeuw. Een chronologische lijst, Rotterdam 1993. Für Italien vgl. M. GugHelminetti: Memoria e scrittura: l'autobiografia da Dante a Cellini, Turin 1977 und ders.: L'autobiographie en Italie, XIVe-XVIIe siècles, in: Revue de l'institut de Sociologie (Bruxelles) 55, 1982, S. 101-114. Für Spanien: L'autobiographie dans le monde hispanique. Actes d'un colloque internationale de la Baume-lès-Aix, 11-13 mai 1979, Paris 1980. Für Deutschland vgl. Jens Jessen (Hg.): Bibliographie der Autobiographien, insgesamt 6 Bde., München-London-New York u.a. 1983-1989, der das Material nach Berufsgruppen (Schriftsteller, Geisteswissenschaftler, Naturwissenschaftler, Mediziner) ordnet. Breite Erfassung der Autobiographien des 17. Jahrhunderts bei Inge Bernheiden: Individualität im 17. Jahrhundert. Studien zum autobiographischen Schrifttum, Frankfurt am Main 1988, die damit natürlich kein vollständiges Verzeichnis bietet, das bislang noch aussteht. Wünschenswert erscheint vor allem eine wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werdende Bibliographie für den strategischen Zeitraum vom späten Mittelalter bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Kürzlich ist sogar die chinesische Autobiographik näher untersucht worden von Wolfgang Bauer: Das Antlitz Chinas. Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute, München 1991. 22 Als Beispiele der älteren Forschung vgl. die Beiträge von Ermentrude von Ranke: Der Interessenkreis des deutschen Bürgers im 16. Jahrhundert (aufgrund von Selbstbiographien und Briefen), in: VSWG 20, 1928, S. 474-490 und Fritz Redlich: Autobiographies as sources for social history. A research program, in: VSWG 62,1975, S. 380-390. Wichtig vor allem die Beobachtungen bei Kenneth D. Barkin: Autobiography and History, in: Societas 6,1976, S. 82-108 und als früher deutscher Beitrag zur Debatte um Autobiographie und Selbstzeugnisse angeregt durch E. W. Zeedens kulturgeschichtliche Interessen vor allem Heide Stratenwerth: Selbstzeugnisse als Quellen zur Sozialgeschichte des 16. Jahrhunderts, in: Festgabe für E. W. Zeeden zum 60. Geburtstag, hg. von Horst Rabe u. a., Münster -

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menten van

S. 226-235 und die

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1976, S. 21-35.

Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen

in der Geschichte?

17

dem der Literaturhistoriker, der Volkskundler und der Psychologen überschneidet.23 Autobiographische Texte sind ohne Zweifel die Quellengattung, die geradezu im Mittelpunkt des Interesses der Geschlechtergeschichte, aber auch der psychohistorischen und medizinhistori-

schen Forschung steht. Dabei sind bislang verschiedene Fragerichtungen deutlich geworden. Zum einen konzentriert sich die Forschung immer wieder auf die Frage nach den Gründen der Entstehung dieser Gattung, ihren Vorbildern etwa in den spätmittelalterlichen Haushalts- und Kaufmannsbüchern,24 ihren Regeln und Formen.25 Flier scheint ein enger Zusammenhang mit der Entstehung moderner Subjektivität und Individualität gegeben,26 zumal wenn diese wie bei Werner Mahrholz als herausragendes Produkt der Verbindung von städtischer Welt und Bürgertum gesehen wurde.27 Diese vermutete Genese der autobiographischen Texte aus dem städtischen Raum wird in ihrer Eindeutigkeit gewiß nicht zu halten sein, eher empfiehlt sich ein Verweis auf die je unterschiedliche soziale Position und Intention des Schreibers, die zur Reflexion anregt: Das autobiographische Genre des 16. Jahrhunderts weist „eine große Vielfalt von Situationen des Schreibens, Formen und Argumentationsstrategien auf", wie Gabriele Jancke in ihrem Beitrag resümiert.28 Philippe Lejeune hat auch deshalb auf die „opposition fondamentale" zwischen der Gattung der Memoiren und der Autobiographie hingewiesen. Während Erinnerungen das Individuum in seinen sozialen Kontext stellten, werde das Individuum erst in der Autobiographie zum Gegenstand des Diskurses.29 Zum anderen hat sich die Forschung pragmatisch auf jene Felder hin orientiert, die die Entwicklung autobiographischer Texte und ihrer Vorformen gefördert, ja geradezu herausgefordert haben: religiöse Bewegungen wie Puritanismus30 und Pietismus stehen hier an -

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23 Die originäre Kompetenz der Volkskunde für diese Quellengattung und eine gewisse Betriebsblindheit der Historiker bei der (Wieder-)Entdeckung der Volkskultur hat zuletzt mehrfach Ruth-E. Mohrmann betont. Vgl. etwa dies. : Volkskunde und Geschichte, in: Rhein.-Westfäl. Zs. für Volkskunde

34/35, 1989/90, S. 9-23.

24 Dazu jetzt die neue Untersuchung von Christof Weiand: „Libri di famiglia" und Autobiographie in Italien zwischen Tre- und Cinquecento. Studien zur Entwicklung des Schreibens über sich selbst, Tübingen 1993. 25 Vgl. speziell dazu William C. Spengemann: The Forms of Autobiography. Episodes in the History of a literary genre, New Haven-London 1980. 26 Vgl. James Olney: Metaphors of Self: The meaning of autobiography, Princeton 1972, (Kap. 1, Theory of Autobiography). 27 So Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus, Berlin 1919, S. Iff. 28 Vgl. S. 106. 29 Pierre Lejeune: L'histoire de l'autobiographie en France, Paris 1971, S. 15. 30 Hierzu vor allem Owen C. Watkins: The puritan experience. Studies in spiritual autobiography, London 1972; L. D. Lerner: Puritanism and the spiritual Autobiography, in: HibJ 55,1956/57, S. 373386; Margaret Spufford: First steps in literacy: the reading and writing experiences of the humblest seventeenth-century spiritual autobiographers, in: Social History 4, 1979, S. 407-435; Kaspar von Greyerz: Religion in the life of German and Swiss autobiographers (sixteenth and early seventeenth centuries), in: ders. (Hg.): Religion and Society in Early Modern Europe 1500-1800, London 1986, S. 223-241.

18

Winfried Schulze

vorderster Stelle,31 aber auch die Ordensgeschichte, weil hier ebenfalls autobiographische Reflexionen vorgeschrieben sein konnten.32 Nicht zuletzt haben aber auch die Verfahren des Sündenbekenntnisses (Beichte) und die Vorschriften religiöser Prozesse zur Ausformung der Autobiographie beigetragen.33 So war etwa im Rahmen des spanischen Inquisitionsprozesses seit den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts eine „geneologia" und ein „discurso de la vida" vorgeschrieben, die das Gericht über den familiären Hintergrund und die religiöse Erziehung des Angeklagten informieren sollten.34 Auch der Tatbestand gelungener Konversion bildete oft genug den Anlaß einer ausführlichen und gerne publizierten Selbstreflexion.35 Für den religiös bedingten Typ von Autobiographie stehen etwa das Tagebuch Ralph Josselins, eines englischen Pfarrers des 17. Jahrhunderts, dem Alan Macfarlane eine vorzügliche historisch-anthropologische Studie und eine Edition gewidmet hat,36 Paul Seavers Rekonstruktion von „Wallington's 31

Ingo Bertolini: Studien zur Autobiographie des deutschen Pietismus, 2 Teile, Phil. Diss.

1968; Gerd Birkner: Heilsgewißheit und literarische

Puritanismus, München Pietismus, Berlin 1921.

1972 und die ältere Arbeit

Wien im

Methapher, Allegorie und Autobiographie von

Werner Mahrholz

(Hg.):

Der deutsche

32 Als Beispiel vgl. Jacques Le Brun: Rêves de religieuses. Le désir, la mort et le temps, in: Revue des sciences humaines 82, 1988, S. 27-47 und ders., Das Geständnis in den Nonnenbiographien des 17. Jahrhunderts, in: A. Hahn V. Kapp (Hgg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt am Main 1987, S. 248-264. Aus dem deutschen Bereich ist zu verweisen auf die Autobiographie des Ordensgeistlichen Johannes Butzbach: Odeporicon. Eine Autobiographie aus dem Jahre 1506. Zweisprachige Ausgabe, Übersetzung und Kommentar von Andreas Beringer, Weinheim 1991, die als „Markstein" in der Entwicklung der deutschen Autobiographie bezeichnet worden ist. 33 Vgl. etwa T. C. Price Zimmermann: Bekenntnis und Autobiographie in der frühen Renaissance, in: Günther Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 343-366. Auf den engen Zusammenhang von religiös bedingter Selbsterforschung und autobiographischem Interesse weist Alois Hahn: Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34, 1982, S. 407-437, bes. S. 418 ff. hin. 34 Vgl. dazu Richard L. Kagan: Lucretia's Dreams. Politics and Prophecy in Sixteenth-Century Spain, Berkeley, Cal. 1990, S. 13, der exemplarisch auf einen mehr als 30seitigen autobiographischen Bericht in einer Prozeßakte verweist. Speziell zur anthropologischen Aussagefähigkeit der Inquisitionsprozesse Jean-Pierre Dedieu: The archives of the Holy Office of Toledo as a source for historical anthropology, in: Gustav Henningsen -John A. Tedeschi (Hgg.): The Inquisition in Early Modern Europe. Dekalb, 111. 1986, S. 158-189 sowie spezieller Antonio Gómez Moriana: Autobiografía y discurso ritual. Problemática de la confesión autobiográfica al tribunal ¡nquisitiorial, in: L'autobiographie dans le monde hispanique. Aix-en-Provence 1980, S. 69-94 und Adrienne Schizzano Mandel: Le procès inquisitorial comme acte autobiographique. Le cas de Sor Maria de San Jerónimo, in: ebd., -

S. 155-169.

35 Speziell zum Problem der Konversion Louis Desgraves: Un aspect des controverses entre catholiques et protestants: les récits de conversion (1598-1628), in: La conversion au XVIIe siècle. Actes du XIIe colloque du C.M.R. (janvier 1982), S. 89-110. Als Beispiel: Heiko Wulfen: Der nassauische Pfarrer Wilhelm Köllner (1760-1835) und seine autobiographische „Bekehrungs- und Rettungsgeschichte", in: Jahrbuch der hessischen kirchengesch. Vereinigung 38, 1987, S. 41-68. 36 Alan Macfarlane: The Family Life of Ralph Josselin. A Seventeenth-Century Clergyman. An Essay in Historical Anthropology, Cambrige 1970 und ders. (Hg.): The Diary of Ralph Josselin 1616-

1683, London 1976.

Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte?_19

World", dem Lebenszusammenhang eines puritanischen Londoner Handwerkers, oder das

Tagebuch des Michael Wigglesworth aus dem gleichen Jahrhundert, um einige englische Beispiele zu zitieren.37 Doch sind dies nur wenige Exempel für eine bemerkenswert große Zahl von Autobiographien in diesem Jahrhundert.38 Schließlich fragt die Forschung intensiv nach der Bedeutung epochaler historischer oder besonders bewegender Ereignisse (wie z. B. Revolutionen, Kriege, Erdbeben, Pestepidemien) für die Produktion autobiographischer Texte.39 Hier finden sich am ehesten Anstöße zur Schilderung des eigenen Lebens auch für die Angehörigen jener Schichten, die sonst kaum schriftliche Zeugnisse zu produzieren gewohnt sind.40 Damit wird insgesamt deutlich, daß die Autobiographie eine lange und komplexe hier nicht zu klärende Vorgeschichte hat, in der das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit gewiß eine hervorragende Rolle spielen.41 Immer deutlicher stellt sich heraus, daß neben den klassischen literarischen Vorlagen eine Fülle von Anregungen durch konkrete gesellschaftliche Bedingungen, Anstöße und Nachfragen gegeben waren; Sie reichen von der Zunahme von Schreibfähigkeit und pragmatischer Schriftlichkeit in Handel und Verwaltung,42 der leichteren Verfügbarkeit von Papier über die intensivierte Bildung, fortschreitende berufliche Differenzierung und neue soziale Mobilität bis hin zur Entstehung eines privaten Binnenraumes des Individuums als notwendiges Gegenstück zum System des absolutistischen Staates, der den Gehorsam seiner Untertanen einforderte.43 Schließlich ist auf die beginnende wissenschaftliche Erforschung der menschlichen Seele und der Affekte ebenso wie auf die Entstehung eines -

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37 Paul S. Seaver: Wallington's World: A Puritan Artisan in Seventeenth-Century London, Stanford 1985 und E. S. Morgan (Hg.): The Diary of Michael Wigglesworth, 1653-1657: The Conscience of a Puritan, New York 1965. 38 Darüber ein erster Überblick bei Kaspar von Greyerz: Der alltägliche Gott im 17. Jahrhundert. Zur religiös-konfessionellen Identität der englischen Puritaner, in: Pietismus und Neuzeit 16, 1990, S. 11-30. 39 Vgl. etwa David Bryant: Revolution and Introspection: The Appearance of the Private Diary in France, in: Europ. Studies Rev. 8,1978, S. 259-272; Georges Benrekassa: Die Französische Revolution und das Autobiographische: Überlegungen und Forschungsvorschläge, in: R. Koselleck R. Reichardt (Hgg.): Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins, München 1988, S. 398-408 oder Edith Zehm: Der Frankreichfeldzug von 1792: Formen seiner Literarisierung im Tagebuch Johann Konrad Wagners und in Goethes „Campagne in Frankreich" Frankfurt am MainBern 1985. Besonders Pestwellen haben Menschen bewogen, Aufzeichnungen über ihr Leben und Überleben anzulegen. Dazu jetzt James S. Amelang (Hg.): A Journal of the Plague Year. The Diary of the Barcelona Tanner Mquel Parets 1651, New York-Oxford 1991, bes. S. 5ff. und Appendix II, S. 103 ff. Über die Memoirensucht der französischen Restaurationsepoche vgl. Pierre Nora: Zwischen Gedächtnis und Geschichte, Berlin 1990, S. 74 ff. 40 Dazu jetzt James S. Amelang: „Vox populi": Popular Autobiographies in Early Modern Urban History, in: Urban History Yearbook 20, 1993, S. 30-42. 41 Vgl. dazu Jean Marie Goulemot, in: R. Chartier (Hg.): Histoire de la vie privée, Bd. 3: De la Renaissance aux Lumières, Paris 1986, S. 380 (hier zitiert nach der engl. Ausg. Cambridge, Mass. 1989). 42 Vgl. dazu Hagen Keller Klaus Grubmüller Nikolaus Staubach (Hgg.): Pragmatische Schrifflichkeit im Mttelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, München 1992 und Hagen Keller: Vom .heiligen Buch' zur ,Buchführung'. Lebensfunktionen der Schrift im Mittelalter, in: Frühmittelalter-Studien 26, 1992, S. 1-31. 43 So bekanntlich die These von Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg-München 1959, S. 41 (der Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 1973). -

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literarischen Marktes zu verweisen.44 Damit öffnet sich ein weiter Raum im historischen Vorfeld der „fertigen" Autobiographie als literarischer Typus sui generis, wenn man überhaupt bereit ist, eine solche Charakterisierung zu akzeptieren; andere, prototypische Quellenarten wie Rechnungs- und Kaufmannsbücher geraten damit in den Umkreis dieser Gattung.45 Die Bedeutung dieser Bedingungen und Vorformen gilt es zu klären, auch dazu könnte der Begriff „Ego-Dokument" einen Beitrag leisten. Mir scheint „Ego-Dokument" ein ergiebiger Begriff zu sein, der aOerdings nicht nur auf das autobiographische Material im engeren Sinne wie ihn Presser wohl auch vor allem verstanden hat angewendet werden sollte. Es sollte nicht übersehen werden, daß Presser in seinem Vortrag von 1969 bewußt eine offene Formulierung gewählt hat, die keineswegs allein auf autobiographisches Material im engeren Sinne wie Tagebuch, Autobiographie, Reisebericht, Brief, Memoiren oder Interview abzielte.46 Er betonte vielmehr, daß Ego-Dokumente Quellen seien, in denen „ein ego sich absichtlich oder unabsichtlich enthüllt oder verbirgt."47 Diese Formulierung könnte einen Ansatzpunkt für weiterführende Überlegungen bieten. -

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Die intensive Forschung an einzelnen personenbezogenen Quellengattungen, wie sie vor allem in der Mentalitätsgeschichte und Erfahrungsgeschichte geleistet worden ist, legt die Vermutung nahe, daß es von Nutzen sein kann, einen umfassenderen Begriff von EgoDokument zu verwenden. Gegenüber Jacques LeGoffs allzu großzügiger Versicherung, daß jede Quelle eine mentalitätshistorische Quelle sei,48 soll hier eine genauere Eingrenzung des Quellenmaterials vorgenommen werden. Lucien Febvre hat 1941 unter dem Stichwort „Sensibilität und Geschichte" über „Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen" reflektiert und dabei vom Nutzen sog. „moralischer Dokumente" gesprochen, die den Gerichtsarchiven und der Kasuistik zu entnehmen seien. Zusammen mit künstlerischen und literarischen Dokumenten schienen sie ihm die Basis einer „emphatischen Geschichte" zu bilden, die er für wünschenswert hielt.49 Dieses Konzept scheint mir eine gute Verbindung zu den hier untersuchten Ego-Dokumenten herzustellen, die natürlich ebenfalls auf dieses Gebiet zielen. 44

Grundlegend Wilhelm Dilthey: Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhun-

dert, in: ders.: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation (Ges. Schriften, Bd. 2), 9. Aufl. Göttingen 1970, S. 1-89 und ders.: Die Funktion der Anthropologie in der

Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts, in: ders.: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, ebd., S. 416-492. Als vorzüglicher neuerer Überblick hierzu W. Spam: Art. „Mensch", in: TRE 3,1992, Sp. 458-577, und als bibliographische Grundlage Hermann Schüling: Bibliographie der psychologischen Literatur des 16. Jahrhunderts, Hildesheim 1967, S. 7. 45 Dazu etwa Wolfgang Frhr. Stromer von Reichenbach: Das Schriftwesen der Nürnberger Wirtschaft vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Zur Geschichte oberdeutscher Handelsbücher, in: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs 11/2, Nürnberg, 1967, S. 751-799 und die präzise Zusammenfassung des Forschungsstandes bei Urs Martin Zahrnd: Die autobiographischen Aufzeichnungen Ludwig von Diesbachs. Studien zur spätmittelalterlichen Selbstdarstellung im oberdeutschen und schweizerischen Räume, Bern 1986, S. 279 ff. 46 Diese Varianten verwenden die Herausgeber des Sonderheftes der Tijdschrift voor Geschiedenis 83, 1970, Vorwort S. 145. 47 48

Vgl. Anm.

17!

Jacques LeGoff: Les mentalités, une histoire ambiguë, in: ders. Pierre Nora (Hgg.): Faire de l'histoire, Bd. III: Nouveaux objets, Paris 1974, S. 76-94, hier S. 85. -

49 Lucien Febvre: Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen, in: Claudia Honegger (Hg.): Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt am Main 1977, S. 313-334, hier S. 330.

Ego-Dokumente: Annäherung

an

den Menschen in der

Geschichte?_21

Es sollen darunter alle jene Quellen verstanden werden, in denen ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig also etwa in einem persönlichen Brief, einem Tagebuch,50 einer Traumniederschrift oder einem autobiographischen Versuch oder durch andere Umstände bedingt geschieht. Es braucht hier nicht betont zu werden, daß Quellen dieser Art zu herausragenden historischen Persönlichkeiten immer schon das Interesse der Historiker gefunden haben; Dürers nächtlicher Albtraum einer Sintflut, Luthers Lebensbericht von 1545,51 die Träume von Descartes oder Erzbischof Laud,52 das Tagebuch der Liselotte von der Pfalz können hier als Beispiele genannt werden. Unser Interesse gilt darüber hinaus den „normalen" Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten, die durch -

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besondere „Umstände" zu Aussagen über sich selbst veranlaßt wurden. Solche Umstände können Befragungen oder Willensäußerungen im Rahmen administrativer, jurisdiktioneller oder wirtschaftlicher Vorgänge (Steuererhebung, Visitation, Untertanenbefragung, Zeugen-

befragung, gerichtliche Aussagen zur Person, gerichtliches Verhör, Einstellungsbefragungen, Gnadengesuche, Urgichten, Kaufmanns-, Rechnungs- und Anschreibebücher, Testamente etc.) sein.53 Damit soll eine deutliche Differenz zur klassischen und relativ eng begrenzten Quellengruppe der sog. Selbstzeugnisse festgestellt werden, die in allen Quellenkunden abgehandelt wird.54 Zugleich muß aber auch bedacht werden, daß man einer isolierten Untersuchung der Testamente den Vorwurf gemacht hat, die Personen der Testamentslasser zu vernachlässigen. Die Einordnung der Testamente in eine größere Gruppe von EgoDokumenten könnte eine solche Trennung vermeiden helfen. Der Archivar Hans-Joachim Behr hat zu Recht festgestellt, daß sich „die ganze Breite des alltäglichen Lebens in dem Schriftgut der Gerichte niedergeschlagen hat."55 Robert Muchembled hat in diesem Zusammenhang von „juridiko-literarischem" Material gesprochen, dessen -

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50 Dazu Magdalena Buchholz: Die Anfänge der deutschen Tagebuchschreibung: Beiträge zu ihrer Geschichte und Charakteristik, Münster 1983. 51 Dazu Ernst Stracke: Luthers großes Selbstzeugnis 1545 über seine Entwicklung zum Reformator historisch-kritisch untersucht, Leipzig 1926. 52 Vgl. Alice Brown: Descartes' Dreams, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 40, 1977, S. 256-273. und Charles Carlton: The Dream Life of Archbishop Laud, in: History Today 36,

1986, S. 9-14.

53 Justin Stagl: Vom Dialog zum Fragebogen. Mszellen zur Geschichte der Umfrage, in: KZSS 31, 1979, S. 611-638 und Hermann Woldemar Bohne: Das Informationswerk Ernst des Frommen von

Gotha, Phil. Diss. Leipzig 1885 und Friedrich Waas: Die Generalvisitation Ernsts des Frommen im Herzogtum Sachsen-Gotha 1641-1645, in: Zs. Ver.f. Thür. Geschichte u. Altertumskunde 27, 1909,

S. 83-128 und S. 395-422; 28, 1911, S. 81-130; W. Diehl: Die Aussagen der Protokolle der großen hessischen Kirchenvisitation von 1628 über den im Volk vorhandenen Aberglauben, in: Zs. f. Kulturgeschichte 8, 1901, S. 287-324. 54 Dazu die hilfreichen Bemerkungen bei Heide Stratenwerth: Selbstzeugnisse als Quellen, S. 22, mit Verweis auf die ältere Literatur. Der Begriff wird schon sehr früh in der Forschung verwendet, z. B. von Ernst Stracke: Luthers großes Selbstzeugnis 1545 über seine Entwicklung zum Reformator historisch-kritisch untersucht, Leipzig 1926. Zum Begriff Selbstzeugnis zuletzt Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2, 1994, S. 462-471, die für ein Festhalten an diesem Beispiel plädiert. 55 H. J. Behr: Archivalische Quellen zur bäuerlichen und bürgerlichen Alltagskultur vom 15. bis 17. Jahrhundert in Deutschland und ihre Auswertungsprobleme, in: GWU 36,1985, S. 415-425, hier S. 419.

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22

Reichtum in seiner Ergiebigkeit für das Studium mentaler Strukturen liege.56 Die Mediävistin Juliane Kümmell hat kürzlich „das große und kaum ausgeschöpfte Reservoir" dieser Quellengattung unterstrichen,57 Frauenhistorikerinnen haben auf die immense Bedeutung von individuellen Klagen und Bittschriften, aber auch von „Gerichtsquellen" für die Geschichte weiblicher Arbeit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit verwiesen,58 und die französische Historikern Ariette Farge hat in den Archiven von Polizei und Gerichten des Ancien Régime „le peuple en mots" wiedergefunden. Hinter den Worten der Verhörprotokolle könne man die Wirklichkeit des Lebens wiederfinden, hier erschließe sich die Stellung des Individuums gegenüber seiner sozialen Schicht und gegenüber der Obrigkeit.59 Schon 1956 sprach Pierre Chaunu von den „glücklichen Indiskretionen" der Richter der Inquisition und gab sich überzeugt von der so gebotenen Möglichkeit einer „Tiefengeschichte menschlichen Verhaltens."60 Vor wenigen Jahren erst haben verschiedene Historiker die methodischen Möglichkeiten der Inquisitionsprotokolle untersucht, deren inhaltlicher Reichtum jetzt Stück für Stück ausgebreitet wird. Hier findet sich am ehesten das Quellenmaterial, das uns auf dem schwierigen Weg zum Inneren des Menschen voranhelfen kann. Welchen Beitrag etwa die Erforschung der Testamente für die Erforschung des Todes und der Dechristianisierung gespielt hat, braucht hier nur angedeutet zu werden.61 Ihre Erforschung ist geradezu zum Paradebeispiel einer wenn auch nicht unkritisiert gebliebenen seriellen Mentalitätsgeschichte geworden,62 und erst kürzlich ist gezeigt worden, welcher Aussagewert den Testa-

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56 Vgl. Robert Muchembled: La violence au village. Sociabilité et comportements populaires en Artois du XVe au XVIIe siècle, Turnhout 1989, S. 17f. 57 Juliane Kümmell-Hartfelder: Städtische Verwaltung und Landbevölkerung im Spätmittelalter ein Personenrödel als Quelle zur Sozial- und Mentalitätengeschichte, in: ZGO 136,1988, S. 129-142, hierS. 141 f. 58 So etwa Dorothée Rippmann Katharina Simon-Muscheid: Weibliche Lebensformen und Arbeitszusammenhänge im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: M. Othenin-Girard u.a. (Hgg.): Frauen und Öffentlichkeit. Beitr. der 6. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich 1991, S. 63-98, hier S. 75f. Vgl. auch den Beitrag von Claudia Ulbrich in diesem Band! 59 Ariette Farge: Le goût de l'archive, Paris 1989, S. 36ff. 60 Gustav Henningsen -John Tedeschi (Hgg.): The Inquisition in Early Modern Europe: Studies on Sources and Methods, Dekalb, 111. 1986; Pierre Chaunu: Inquisition et vie quotidienne dans l'Amérique espagnole au XVIIe siècle, in: Annales ESC 11, 1956, S. 228-236, hier S. 230. 61 Hinzuweisen ist vor allem auf Michel Vovelle: Piété baroque et déchristianisation. Attitudes provençales devant la mort au siècle des Lumières, Paris 1973. Vovelle verteidigt die serielle Mentalitätengeschichte gegen „individualistische" Vorwürfe in: ders.: Serielle Geschichte oder „case studies": ein wirkliches oder nur ein Schein-Dilemma?, in: Ulrich Raulff (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1989, S. 114-126. 62 Zum Stand der Forschung vgl. Urs Martin Zahrnd: Spätmittelalterliche Bürgertestamente als Quelle zur Realienkunde und Sozialgeschichte, in: MIÖG 96, 1988, S. 55-78 und zuletzt Thomas Maisei: Testamente und Nachlaßinventare Wiener Universitätsangehöriger in der Frühen Neuzeit. Beispiele und Möglichkeiten ihrer Auswertung, in: Frühneuzeit-Info 2, 1991, S. 61-75. Dazu Ahasver von Brandt: Mittelalterliche Bürgertestamente. Neuerschlossene Quellen zur Geschichte der materiellen und geistigen Kultur, Heidelberg 1973; Paul Baur: Testament und Bürgerschaft. Alltagsleben und Sachkultur im spätmittelalterlichen Konstanz, Sigmaringen 1989; S. Briffaud: La famille, le notaire et le mourant: testament et mentalités dans la région de Luchon (1650-1790), in: Annales du Midi 97, 1985, S. 389-410; Richard Matt: Die Wiener protestantischen Bürgertestamente von 1578-1627, in: Mitt, des -

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Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte?_23 menten für eine Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit zukommt.63 Daß darüber hinaus die Realisierung einer Frauen- und Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit in hohem Maße von der Existenz autobiographischer Texte, Briefe und Verhörprotokolle abhängig ist, ist schon mehrfach konstatiert worden.64 Ein erster Einwand gegen die hier vorgeschlagene Definition von Ego-Dokumenten wird sich natürlich gegen die intendierte Gleichrangigkeit von „freiwilligen" autobiographischen Texten und „unfreiwilligen" Aussagen zur Person richten. Es ist nicht zu bestreiten, daß sich sich solche uneigentlichen Aussagen „zur Person" erheblich von einem mehr oder weniger reflektierten autobiographischen Text unterscheiden, der bei aller zeittypischen Bindung im Kern immer ein Versuch ist, das eigene Ich auszuleuchten, es in seiner Differenz zu anderen zu erkennen, seine Besonderheit im Strom der Zeit erkennbar zu machen. Jeder Kenner wird zu Recht auf die Zwangssituation der Befragung, des Verhörs, einer Urfehde oder gar eines Gnadengesuchs hinweisen, bei dem das Leben oder die bürgerliche Existenz des Delinquenten auf dem Spiel stehen kann. Hier finden sich sowohl Belege für Typisches wie für Individuelles,65 und immer wird die in diesen Quellen ermittelte und von einem Dritten niedergeschriebene und damit „übersetzte" Aussage mit der Möglichkeit der bewußten Verweigerung, der Verstellung, dem historischen „Eigensinn" der befragten Person zu konfrontieren sein.66 Schon manche Antworten in Prozessen gegen Wiedertäufer veranlaßten die Befrager zu der Bemerkung, der Angeklagte habe „sophistice" geantwortet.67 Es kommt hinzu, daß das juristische Dokument zwar in einer abstrahierenden, scheinbar präzisen Sprache abgefaßt ist, die gleichwohl höchst unterschiedliche Bedeutungen aufweisen kann, die zuweilen auch die Aussage verfälscht. Je größer die soziale Diskrepanz zwischen dem Vorbringer einer Beschwerde, einem Petenten, einem Kläger und dem jeweiligen

Vereins für die Geschichte der Stadt Wien 17, 1938, S. 1-51 und Philippe Goujard: Échec d'une sensibilité baroque: Les testaments rouennais aux XVIIIe siècle, in: Annales ESC 36, 1981, S. 26-43. Friedrich Bothe: Das Testament des Frankfurter Großkaufmanns Jakob Heller vom Jahre 1599. Ein Beitrag zur Charakteristik der bürgerlichen Vermögen und der bürgerlichen Kultur am Ausgang des Mittelalters, in: Arch.f. Frankfurts Geschichte u. Kunst, 3. Folge, Bd. 9, 1907, S. 339-401; Lothar Kolmer: Spätmittelalterliche Testamente. Forschungsergebnisse und Forschungsziele. Regensburger Testamente im Vergleich, in: ZBLG 52,1989, S. 475-500. Ein berühmtes Beispiel bildet natürlich die Untersuchung des discours testamentaires der Pariser Testamente durch Pierre Chaunu: La mort à Paris: XVIe, XVIIe, XVIIIe siècles, Paris 1978. 63 Heide Wunder: Vermögen und Vermächtnis, Gedenken und Gedächtnis. Frauen in Testamenten und Leichenpredigten am Beispiel Hamburgs, in: B. Vogel U. Weckel (Hgg.), Frauen in der Ständegesellschaft, Hamburg 1991, S. 227-240. 64 Vgl. dazu B. Vogel U Weckel (Hgg.): Frauen in der Ständegesellschaft, Hamburg 1991. 65 Vgl. etwa Hans Sebald: Hexen-Geständnisse. Stereotype Struktur und lokale Farbe. Der Fall des Fürstbistums Bamberg, in: Spirita. Zs. f. Religionswissenschaft 4,1990, S. 27-38. Zur Aussagefähigkeit der Urfehden vgl. G. Richer: Urfehden als rechts-, orts- und landesgeschichtliche Quellen, in: Zs.f. Hohenzollernsche Geschichte 14, 1978, S. 63-76. 66 Vgl. etwa Jan Peters: Eigensinn und Widerstand im Alltag. Abwehrverhalten ostelbischer Bauern unter Refeudalisierungsdruck, in: Jb.f. Wirtschaftsgeschichte 1991/2, S. 85-103 und sein Beitrag in diesem Band. 67 E. Bernhofer-Pippert: Täuferische Denkweisen und Lebensformen im Spiegel oberdeutscher Täuferverhöre, Münster 1967, hier S. 150. -

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Adressaten ist, desto größer muß der Verdacht der Manipulation des jeweiligen Textes sein.68 Die historische Analyse von Ketzerverhören oder Wiedertäuferverhören hat freilich inzwischen hinreichend Erfahrungen in der Nutzung dieser Texte gesammelt.69 Ungeachtet dieser Bedenken müssen die Aussagen dieser Dokumente unser Interesse erregen, weil sie wenn auch verhüllt und durch administrative Formelsprache verfremdet Menschen die Gelegenheit geben, sich überhaupt in einem historisch konstatierbaren Sinne zu äußern. Der Schweizer Volkskundler David Meili hat deshalb sogar fruchtbar übertreibend davon gesprochen, daß Prozeßakten mit Interviews vergleichbar seien.70 Etwas zurückhaltender sprach Michel Vövelle davon, daß der Historiker „mit List und Tücke" versuche, „seinen Archiven wenn schon nicht das Äquivalent, so zumindest einen Ersatz für das echte, unmittelbare Zeugnis zu entreißen.71 Eine Erweiterung des Ego-Dokument-Begriffs über den autobiographischen Text hinaus erscheint auch dann vertretbar, ja notwendig zu sein, wenn man bedenkt, daß zum einen gerade in der Frühen Neuzeit auch die Abfassung autobiographischer Texte erheblichen Konventionen unterworfen war und sich stark an Regeln und literarischen Vorbildern orientierte,72 also niemals ohne Vorgaben erfolgte,73 ganz zu schweigen von jenen Berichten, die geschrieben werden mußten, wie etwa die Reiseberichte junger Adeliger über ihre Bildungsreisen, die Humanistenautobiographien74 oder die pflichtgemäßen autobiographischen Berichte von französischen Ordensfrauen,75 um nur einige, gut bekannte Beispiele zu -

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68 In der Geschichte bäuerlicher Revolten und Prozesse ist dies immer wieder zu beobachten. Zuletzt dazu etwa Claudia Ulbrich: Rheingrenze, Revolten und Französische Revolution, in: Volker Rodel (Hg.): Die Französische Revolution und die Oberrheinlande (1789-1798), Sigmaringen 1991, S. 223-244, die zeigt, wie die Beschwerde von Bauern der Herrschaft St. Blasien durch ihren Advokaten verfälscht wurde. 69 Vgl. etwa Herbert Grundmann: Ketzerverhöre des Spätmittelalters als quellenkritisches Problem, in: DA 21, 1965, S. 519-575, hier S. 559 und speziell zu den Wiedertäufern E. Bernhofer-Pippert: Täuferische Denkweisen und Lebensformen im Spiegel oberdeutscher Täuferverhöre, Münster 1967, hierS. 146 f. 70 David Meili: Hexen in Wasterkingen. Magie und Lebensform in einem Dorf des frühen 18. Jahrhunderts, Basel 1980, S. 12. 71 Michel Vovelle: Serielle Geschichte oder „case studies": ein wirkliches oder nur ein ScheinDilemma?, in: Ulrich Raulff (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1989, S. 114-126, hier S. 121. 72 So zum Beispiel an den Confessiones Augustins. Vgl. Pierre Gourcelle: Les „Confessions" de saint Augustin dans la tradition littéraire. Antécédants et postérité, Paris 1963. 73 Dies betont Jean Marie Goulemot in: Chartier (Hg.): La vie privée, Bd. 3, S. 381 und an einem anderen Fall Jonathan Goldberg: Cellini's vita and the conventions of early autobiography, in: Modern Language Notes 89, 1974, S. 71-83. Vgl. auch allgemein Stephen Greenblatt: Renaissance SelfFashioning: From More to Shakespeare, Chicago 1980. 74 Vgl. etwa Jozef Ijsewijn: Humanistic autobiography, in: E. Hora E. Kessler (Hgg.): Studia humanitatis. Ernesto Grassi zum 70. Geburtstag, München 1980, S. 209-219. Zum gesamten Renaissancekontext beider Gattungen vgl. auch August Buck (Hg.): Biographie und Autobiographie in der Renaissance. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 1. bis 3. November 1982. Wiesbaden 1983. 75 Jacques Le Brun: Das Geständnis in den Nonnenbiographien des 17. Jahrhunderts, in: A. Hahn V. Kapp (Hgg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt am -

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Main 1987, S. 248-264.

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Zu bedenken wäre auch, in wie starkem Maße autobiographische Texte in Zusammenhängen entstanden sind, die durch die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe und deren kollektives, damit normierendes Verständnis von Lebensführung und Heilserwartung bestimmt war.76 Aus der Verfolgung der Wiedertäufer ist bekannt, daß sie sich geradezu dazu drängten, schriftlich Auskunft über sich und ihre Überzeugungen zu geben: Konrad Grebel z.B. wollte, daß man „im dinten und vedren gebe, so wolte er schriben."77 Der konstruktive Charakter von Lebensläufen in autobiographischen Texten ist vielfach zu beobachten und kann ihren Quellen wert mindern oder doch relativieren.78 In der jakobinischen Phase der Französischen Revolution wurden Lebensläufe konstruiert, die die Begeisterung für die Sache der Revolution in das späte Ancien Régime und in den Beginn der Revolution zurückzuverlegen gehalten waren. Hier mußte die Frage nach dem persönlichen Verhalten am 14. Juli 1789 in eindeutiger, d.h. patriotischer Weise ausfallen: Man sei dort gewesen, wo sich an diesem Tag jeder patriotische Bürger aufgehalten habe.79 Es lassen sich also viele Momente der Relativierung ausmachen, die einen prima vista autobiographischen Text im Nachhinein auch zur Antwort auf eine Befragungssituation machen. Jean Marie Goulemot hat aus solchen Beobachtungen die Vermutung abgeleitet, daß die Autobiographie der Frühen Neuzeit nicht wirklich dem privaten Denken und Fühlen gewidmet sei, sondern sich zunächst für die Rolle des Individuums im öffentlichen Leben interessiere: „Die Autobiographie endet da, wo das private Leben beginnt."80 Gerade deshalb wird Montaignes Bekenntnis zur radikalen Introspektion als revolutionär empfunden: „Ainsi, lecteur, je suis moy-mesmes la matière de mon livre"; er will sich in seiner „façon simple, naturelle et ordinaire" sehen, „car c'est moy que je peins".81 Bedenkt man diese impliziten Relativierungen der zunächst immer vermuteten Originalität einer Autobiographie, dann mildert sich auch der signifikante Unterschied, daß der autobiographische Text mit eigener Hand, in eigener Sprache, das Verhör aber von einem Dritten niedergeschrieben wurde. Ein anderes Argument wiegt schließlich noch schwerer: Eine Begrenzung auf autobiographische Texte strictu sensu würde illiterate Schichten praktisch ausschließen, wir würden Aussagen „zur Person" aus diesen Schichten kaum zu erwarten haben, von sehr wenigen, meist bekannten und oft überinterpretierten Ausnahmen abgesehen.82 Wenn man die „Schwelle der nennen.

76 Vgl. z. B. Paul S. Seaver: Wallington's World: A Puritan Artisan in Seventeenth-Century London, Stanford 1985. Vgl. dazu auch den Beitrag von Irina Modrow in diesem Band! 77 Nach E. Bernhofer-Pippert (wie Anm. 67), S. 146. 78 H. Winter: Der Aussagewert von Selbstbiographien. Zum Status autobiographischer Urteile, -

Heidelberg 1985. 79 Dazu die Untersuchung der revolutionären Lebensläufe bei Jacques Guühaumou: Sprache und Politik in der Französischen Revolution. Vom Ereignis zur Sprache des Volkes (1789 bis 1794), Frankfurt

Main 1989, hier S. 178 ff. 80 Jean Marie Goulemot, in: Chartier (Hg.): La vie privé, Bd. 3, S. 381. 81 Michel de Montaigne: Essays, Bd. 1, Edition conforme au texte de l'exemplaire de Bordeaux... par Maurice Rat, Paris 1962, S. 1 (Au lecteur). Zu Montaignes Aussagen vgl. Richard Regosin: The Matter of My Book: Montaigne's Essais as the Book of the Self, Berkeley 1977 und George Craig Margaret McGowan (Hgg.): Moy qui me voy. The Writer and the Self from Montaigne to Leiris, Oxford 1989. 82 Immer wieder zitiert wird z.B. G. Zillhardt (Hg.): Der Dreißigjährige Krieg in zeitgenössicher am

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Darstellung. Hans Heberies „Zeytregister" (1618-1672). Aufzeichnungen aus dem Ulmer Territorium. Ein Beitrag zu Geschichtsschreibung und Geschichtsverständnis der Unterschichten, Ulm 1975. Dane-

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Geschichtsfähigen" tatsächlich weiter nach „unten" absenken will,83 dann führt kein Weg an einer möglichst weitausgreifenden Quellensuche vorbei. Selbst wenn die frühneuzeitliche Biographie gewiß kein „aristokratisches Genre" ist, wie Goulemot vorschnell meinte,84 so ist doch richtig, daß sich literate Schichten eher in der Lage sahen, das eigene Leben zu reflektieren, als der einfache Handwerker oder Bauer, der vielleicht gerade seine Unterschrift leisten konnte. Auch die schon erwähnte Tatsache, daß eine wichtige Quelle der modernen Autobiographie ohne Zweifel in den religiösen Bekenntnistexten des Pietismus zu sehen ist,85 die ihrerseits noch in einem Zusammenhang mit dem Kanon der Visitationsfragen des 16. Jahrhunderts oder gar Religionsprozessen stehen, legt die parallele Betrachtung beider Gruppen von Texten nahe. Schließlich ist darauf zu verweisen, daß die im Rahmen von juristisch-administrativen Befragungen entstandenen Quellen immer nach dem Motto „Zwischen den Zeilen und gegen den Strich",86 d. h. gegen ihren unmittelbaren Sinn gelesen werden müssen.87 Daß sie dem großen „Archiv der Unterdrückung", den „Speichern der hegemonialen Kultur" entstammen, wie es Carlo Ginzburg genannt hat, verpflichtet den Historiker zur besonderen

Vorsicht.88 Dabei wird auch die Kritik zu bedenken sein, die in letzter Zeit vermehrt am mikrohistorischen Zugriff auf das juristische Quellenmaterial geäußert wurde. So sehr dieser Kritik zuzustimmen ist, wenn grundlegende Kontextfragen übersehen werden oder wenn der Historiker die Entstehungssituation einer prozessualen Quelle außer Acht läßt, so muß doch

ben wurde meist übersehen Ruhl: Stausenbacher Chronik des Kaspar Preis. 1637-1667, in: Fuldaer Geschichtsblätter 1,1902, S.113-186 (Frdl. Hinweis von Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin). Vgl. aber auch Jan Peters: Aus dem Tagebuch eines Söldners des Dreißigjährigen Krieges, in: SOWI19,1990, S. 71-77; ders. (Hg.): Ein Söldnerleben im Dreißigjährigen Krieg. Eine Quelle zur Sozialgeschichte, Berlin 1993 und ders. Hartmut Harnisch Liselott Enders (Hgg.): Märkische Bauerntagebücher des 18. und 19. Jahrhunderts. Selbstzeugnisse von Milchviehbauern aus Neuholland, Wien-Köln 1989; Manfred Schober: Das Schreibebuch des Bauern Johann Georg Leuner (1731-1813), in: Neue Museumskunde 1, 1987, S. 62-64. In diesem Zusammenhang ist auch auf das Projekt „Bäuerliche Schreibbücher" zu verweisen, das am ehemaligen Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR unter Leitung von Jan Peters begonnen wurde. Ein Newsletter informiert über die bislang geleistete Arbeit. Bislang dazu u. a. Björn Poulsen: Die ältesten Bauemanschreibbücher: Schleswigsche Anschreibebücher des 16. und 17. Jahrhunderts, in: ders. Klaus J. Lorenzen-Schmidt (Hgg.): Bäuerliche Anschreibebücher als Quellen zur Wirtschaftsgeschichte, Neumünster 1992, S. 89-105. Für das Ende der Frühen Neuzeit vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: „Repräsentanten der Natur". Autobiographies plébéiennes en Allemagne autour de 1800, in: Romantisme. Revue du 19ième siècle 56,1987, S. 69-78. 83 So eine Formulierung von Ulrich Raulff in: ders. (Hg.): Mentalitäten-Geschichte. Zur Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1989, S. 15 (Vorwort). 84 Jean Marie Goulemot, in: Chartier (Hg.): La vie privée, Bd. 3, S. 381. 85 Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung, Stuttgart 1977 und ders. (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 367ff. Vgl auch Ingo Bertolini: Studien zur Autobiographie des deutschen Pietismus, Phil. Diss. Wien 1968. 86 Nach Ruth-E. Mohrmann: Zwischen den Zeilen und gegen den Strich Alltagskultur im Spiegel archivalischer Quellen, in: Der Archivar 44, 1991, S. 233-246. 87 Zu den methodischen Problemen der Nutzung von Steuerbeschreibungen des 17. Jahrhunderts vgl. Rudolf Schlögl: Bauern, Krieg und Staat. Oberbayerische Bauernwirtschaft und frühmoderner Staat im 17. Jahrhundert, Göttingen 1988, vor allem S. 36 ff. und S. 256 ff. 88 Dazu Dominick LaCapra: Geschichte und Kritik, Frankfurt am Main 1987, S. 55f. mit den Nachweisen bei Ginzburg. -

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auf die unverzichtbare Bedeutung dieses Quellentyps verwiesen werden.89 Die Tatsache, daß die bekanntesten mikrohistorischen Arbeiten auf Prozeßmaterialien gründen,90 legt dies nahe, erzwingt aber auch eine adäquate methodische Reflexion dieser Ausgangslage. Zudem läßt sich kaum übersehen, daß die hier beschriebenen Dokumente eine Bedeutung gewinnen, die weit über ihren aktuellen administrativ-judikativen Zweck hinausreicht, in dem sie entstanden: Sie transzendieren die Ohnmacht der Befragten. Der großangelegte Disziplinierungsversuch im Namen des Staates und der Konfession wird zum Geburtshelfer eines neuen Blicks auf den Menschen und die Beweggründe seines Handelns.91 Man wird darin einen weiteren Beweis der immer wieder beobachtbaren Nähe der großen zivilisatorischen Prozesse von Rationalisierung und Individualisierung sehen müssen. Man wird sogar von ihrer

gegenseitigen Bedingtheit sprechen müssen.

Natürlich bietet das Verhör eines Angeklagten zunächst immer Informationen über einen Tathergang, eine Zeugenbefragung gibt zunächst Auskunft über den Stand der strittigen Rechtsfrage, eine Steuerbeschreibung informiert über wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und dient vor allem fiskalischen Zwecken, eine Musterung findet unser intéresse zunächst im Rahmen des jeweiligen Militärsystems, eine Visitation im Zusammenhang von Frömmigkeitsgeschichte oder Kirchenorganisation. Alle diese Situationen provozieren natürlich Verstellung, Verschleierung der Wahrheit, Gegenstrategien also, die entschlüsselt werden müssen.92 Natalie Z. Davis hat aus der Fülle dieser „Geschichten" gar die Grundlage für ihre „fiction in the archives" gewonnen.93 Darüber hinaus aber und dies ist hier der entscheidende Punkt enthalten solche Befragungen immer wertvolle Aussagen zur Person, ihrer Erfahrung und zu ihrer Sicht der Welt, in der sie lebt, nicht zuletzt auch zu den Spielregeln des sozialen Systems, in dem eine solche Befragung durchgeführt wird, und zu den Überlebensstrategien der Betroffenen.94 Aus diesen Überlegungen mag sich die folgende vorläufige Definition des Ego-Dokuments ergeben: -

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89 E. Bernhofer-Pippert (wie Anm. 67, S. 5) sieht zu Recht ein Ende aller Täuferforschung, wenn man den Verhörtexten keinen Glauben würde schenken wollen. 90 Ich verweise hier u. a. auf Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt am Main 1979; ders. Carlo Poni: Was ist Mikrogeschichte?, in: Geschichtswerkstatt 6, 1985, 48-52; Judith C. Brown: Schändliche Leidenschaften. Das Leben einer lesbischen Nonne in Italien zur Zeit der Renaissance, Stuttgart 1988; Gene Bruker: Giovanni and Lusanna: Love and Marriage in Renaissance Florence, Berkeley-Los Angeles 1986; Richard L. Kagan: Lucretia's Dreams. Politics and Prophecy in Sixteenth-Century Spain, Berkeley, Cal. 1990; Natalie Zemon Davis: Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Berlin 1989. 91 Diese Perspektive ist auch in der jüngeren Forschung zum Begriff der Sozialdisziplinierung oft übersehen worden. Als Überblick dazu Winfried Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit", in: ZHF 14, 1987, S. 265-302. 92 Die methodischen Probleme diskutiert auch aus der Sicht der Volkskunde Ruth E. Mohrmann: Zwischen den Zeilen, S. 237 ff. Vgl. auch Dominick LaCapra: Geschichte und Kritik, S. 55 f. im Anschluß an Ginzburg und die intensive Auseinandersetzung mit der Verwendung von juristischem Material für einen mikrohistorischen Zugriff bei Thomas Kuehn: Reading Microhistory: The Example of Giovanni and Lusanna, in: JMH 61, 1989, S. 512-534. 93 Natalie Zemon Davis: Fiction in the Archives. Pardon tales and their Tellers in 16th Century France, Stanford 1987 (dt. Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Berlin 1989). 94 Dazu jetzt auf Grund eigener Quellenforschungen Silke Göttsch: Zur Konstruktion schichtenspezifischer Wirklichkeit. Strategien und Taktiken ländlicher Unterschichten vor Gericht, in: Brigitte Bönisch-Brednich u.a. (Hgg.): Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekon-

gresses

Göttingen 1989, Göttingen 1989, S. 443-452.

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Gemeinsames Kriterium aller Texte, die als Ego-Dokumente bezeichnet werden können, sollte es sein, daß Aussagen oder Aussagenpartikel vorliegen, die wenn auch in rudimentärer und verdeckter Form über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren. Sie sollten individuellmenschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln. Die leicht beobachtbare Tatsache, daß sich die Nachfrage der Forschung vor allem auf den „strategischen" Zeitraum zwischen dem späten Mittelalter und dem Ende des 18. Jahrhunderts konzentriert, scheint im wesentlichen mit der Annahme zusammenzuhängen, daß in diesem Zeitraum der Individualisierungsprozeß durch soziale Mobilität, konfessionelle Konfliktlagen und die wachsende Stärke administrativer Apparate und der von ihnen ausgehenden Disziplinierungsversuche erheblich gefördert wurde.95 In der Gemengelage dieser „großen" historischen Prozesse gewinnen Ego-Dokumente neue Bedeutung; sie zielen auf die Erfahrung und Verarbeitung dieser das Leben der Menschen umwälzenden Vorgänge, die makrohistorisch zu betrachten und zu nennen wir uns angewöhnt haben. Mit dieser Begrenzung soll zugleich sichergestellt werden, daß der Begriff des Ego-Dokuments nicht überdehnt wird. Er zielt auf die individuelle Wahrnehmung in einer Welt, in der sich Äußerungen der Individualität erst ihren legitimen Platz erkämpfen mußten. In einer solchen historischen Konstellation bedarf es besonderer Bemühungen, die unscheinbarsten Äußerungen individueller Wahrnehmungen festzuhalten. Damit sollte klar geworden sein, daß diese Überlegungen eine quellenkritische und methodische Fundierung der frühneuzeitlichen Mentalitätsgeschichte beabsichtigen, jenes Forschungszweigs also, der in der internationalen modernen Frühneuzeitforschung gegenwärtig stark, wenn auch keineswegs unwidersprochen, präferiert wird. Die genauere Nachfrage zur Mentalitätsgeschichte, die hier am „Ego-Dokument" festgemacht wird, soll jedoch nicht wie dies meistens geschieht auf die Mentalitätsgeschichte eines bestimmten gesellschaftlichen Teilphänomens (also etwa der Religion, der Volkskultur, des Geschlechts, von Ehe oder Familie, Eltern-Kind-Beziehungen z. B.) orientiert werden,96 sondern es soll bewußt die Quellenfrage in den Vordergrund gestellt werden. Dies geschieht freilich nicht alleine, um eine neue Systematik der Quellen und eine Methodik ihrer Interpretation zu entwickeln, es können zugleich einige wichtige inhaltliche Fragestellungen angegangen werden: -

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95 Vgl. Urs Martin Zahrnd: Die autobiographischen Aufzeichnungen Ludwig von Diesbachs (wie Anm. 45), der Diesbach gut in die spätmittelalterliche Autobiographik einordnet und vor allem

aufschlußreiche Untersuchungen zur Gemengelage von „Typus" und „Individualität", über „bürgerliches" und „adeliges" Verhalten anstellt. 96 Vgl. z. B. Richard van Dülmen: Heirat und Eheleben in der Frühen Neuzeit. Autobiographische Zeugnisse, in: AKG 72, 1990, S. 153-171 und Irene Hardach-Pinke: Kinderalltag. Aspekte um Kontinuität und Wandel in autobiographischen Zeugnissen 1700 bis 1900, Frankfurt am Main-New York 1981; Linda Pollock: Forgotten children. Parent-child relations from 1500 to 1900, Cambridge 1983 oder Mathias Beer: „Wenn ich eynen naren hett zu eynem man, da fragen dye freund nyt vyl danach". Private Briefe als Quelle für die Eheschließung bei den stadtbürgerlichen Familien des 15. u. 16. Jhs., in: Hans-Jürgen Bachorski (Hg.): Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Trier 1991, S. 71-94, um zwei neuere Beispiele zu nennen.

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Fragen nach der Reichweite „sozialen Wissens" in frühneuzeitlichen Gesellschaften,97 Fragen nach der Wahrnehmung realer sozialer Positionsveränderungen, die ein Charakte-

ristikum einer Epoche ausmachen, die legitime soziale Mobilität vertikaler Art eigentlich nicht kennt,98 Fragen nach dem neuen Zugriff administrativer Apparate auf Gewissen und Denken des Menschen, vor allem seit der Reformation,99 Fragen nach den Bedingungen und Formen der Konstituierung individualistischen Denkens in der Frühen Neuzeit,100 schließlich Fragen nach der Aussagekraft, aber auch den Grenzen mentalitätshistorischer Fragestellungen selbst, jener „verführerischen, aber auch abschreckend schwierigen" Methode historischen Fragens, wie es einmal Lucien Febvre warnend gesagt hat.101

97 Zu diesem Konzept vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht Rolf Reichardt Thomas Schleich: Für eine Sozialgeschichte der französischen Aufklärung, in: dies. (Hgg.): Sozialgeschichte der Aufklärung in -

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Frankreich, 2 Teile, München-Wien 1981, Teil I, S. 3-51, hier S. 37 ff. 98 Vgl. dazu meinen Beitrag in Winfried Schulze (Hg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988, S. 1-17.

99 Dies ist bislang am eindrucksvollsten in der neueren Visitationsforschung gezeigt worden. Vgl. dazu etwa verschiedene Beiträge in E. W. Zeeden P. T. Lang (Hgg.): Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa, Stuttgart 1984, bei Umberto Mazzone Angelo Turchini (Hgg.): Le visite pastorali. Analisi di una fonte, Bologna 1985, und bei Richard Steinmetz: Das Religionsverhör in der Herrschaft Aschau-Wildenwart im Jahre 1601, in: ZBLG 38, 1975, S. 570-597. Zu den Befragungen calvinistischer Landesherren vgl. Karl August Eckhardt (Hg.): Eschweger Vernehmungsprotokolle von 1608 zur Reformatio des Landgrafen Moritz, Witzenhausen 1968 und jetzt die Hinweise bei Gerhard Menk: Absolutistisches Wollen und verfremdete Wirklichkeit der calvinistische Sonderweg Hessen-Kassels, in: Meinrad Schaab (Hg.) : Territorialstaat und Calvinismus, Stuttgart 1993, S. 164-238, hier S. 208ff. 100 Vgl. dazu Natalie Z. Davis: Bindung und Freiheit. Die Grenzen des Selbst im Frankreich des sechzehnten Jahrhunderts, in: dies.: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit, Berlin 1986, S. 718 und verschiedene Beiträge in Thomas Cramer (Hg.): Wege in die Neuzeit, München 1988. Weitere Literatur in Auswahl: Inge Bernheiden: Individualität im 17. Jahrhundert. Studien zum autobiographischen Schrifttum, Frankfurt am Main u.a. 1988; Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig-Berlin 1927; Wilhelm Dilthey: Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, in: ders.: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation (Ges. Schriften, Bd. 2), 9. Aufl. Göttingen 1970, S. 1-89; Eugenio Garin (Hg.): Der Mensch der Renaissance, Frankfurt am Main 1990; Claudette Delhez-Sarlet Maurizio Catani (Hgg.): Individualisme et autobiographie en occident, Bruxelles 1983; Niklas Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie: Theorietechnische Lösungen fur ein Evolutionsproblem der Gesellschaft, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Frankfurt am Main 1980, S. 164-234; ders.: Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt am Main 1989; Karl Macha: Individuum und Gesellschaft. Zur Geschichte des Individualismus, Berlin 1964; Alan Macfarlane: The origins of English Individualism. The Family, Property and Social Transition, Oxford 1978; Norman Nelson: Individualism as a Criterion of the Renaissance, in: The Journal of English and Germanic Philology 32, 1932, S. 316-333; H. M. Robertson: Aspects of the Rise of Economic Individualism, Cambridge 1935; Roman Schnur: Individualismus und Absolutismus. Zur politischen Theorie vor Thomas Hobbes (1600-1640), Berlin 1963; Karl Joachim Weintraub: The Value of the Individual (wie Anm. 20). 101 Frantisek Graus: Mentalität Versuch einer Begriffsbestimmung, in: ders.: Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, Sigmaringen 1987, S. 9-48; Hagen Schulze: Menta-

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Die Beiträge dieses Bandes versuchen, ein möglichst breites

Spektrum möglicher Varianten

Ego-Dokumenten abzudecken. An den Beginn waren natürlich die klassischen autobiographischen Texte zu stellen, die z.Z. besonders intensiv für mentalitäts-, familien- und geschlechterhistorische Studien genutzt werden. Die Einbindung der jeweiligen Verfasser in Ehe und Familie, in Sippe und Gemeinde, in Land und Staat, die Sicht des eigenen Körpers, die Erfahrung von Krankheit und Angst, all dies sind Fragen, die durch den autobiographischen Text zuerst, wenn auch nicht alleine beantwortet werden können. Zu einem zweiten Teil wurden jene Beiträge zusammengestellt, die nach den schriftlichen Äußerungsmöglichkeiten einfacher Menschen fragen. Diese reichen von den bäuerlichen Anschreibebüchern und den vereinzelten Chroniken über die Supplikationen und die englischen Armenbriefe bis hin zu jenen Quellen, die das Leben der Frauen im Dorf belegen können. Hier kam es vor allem darauf an, neue Möglichkeiten zu erkunden, um die Existenz, das Glauben und Wissen einfacher Menschen erschließen zu können, die nicht nur als „namenlose Zahl" in der Statistik einer seriellen Mentalitätsgeschichte,102 sondern als Individuen erfaßt werden sollten. Eine dritte Gruppe von Studien ist schließlich jenem Aspekt gewidmet, der Äußerungen einzelner Menschen aus dem juristisch-administrativen Prozeß herauszieht und sich damit am weitesten von der klassischen Form des autobiographischen Textes entfernt. Gleichwohl kann hier gezeigt werden, daß es gerade die oben angedeutete Parallelität von Diszplinierung und Individualisierung ist, die uns diese Quellen so wertvoll macht.

von

litätsgeschichte

Chancen und Grenzen eines Paradigmas der französischen Geschichtswissenschaft, in: GWU 34, 1984, S. 247-266; Volker Sellin: Mentalität und Mentalitätsgeschichte, in: HZ 241, 1985, S. 555-598; Dominick LaCapra: Ist jedermann ein Fall für die Mentalitätsgeschichte?, in: ders.: Geschichte und Kritik, Frankfurt am Main 1987, S. 64-84. Zur umfassenden Perspektivierung der Mentalitätsgeschichte vgl. William J. Bouwsma: From Flistory of Ideas to History of Meaning, in: Journ. of Interdise. Hist. 2, 1981, S. 279-291; Lawrence Stone: The Revival of Narrative, in: PaP 85, 1980, S. 3-24 und Thomas Kuehn: Reading Microhistory: The Example of Giovanni and Lasanna, in: JMH 61,1989, S. 512-534. Das letzte Zitat L. Febvres nach ders.: Combats pour l'histoire, Paris 1953, S. 229. 102 Vgl. dazu François Furet: Pour une définition des classes inférieures à l'époque moderne, in: Annales ESC 18, 1963, S. 459-474, der damals nur den Weg über die „namenlose Zahl" sah, um an das Denken der kleinen Leute heranzukommen. -

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I.

Autobiographische Texte Nationale und systematische Aspekte -

Rudolf Dekker

in den Niederlanden 16. bis zum 17. Jahrhundert

Ego-Dokumente vom

ungefähr dreißig Jahren bereicherte der Historiker Jacob Presser die niederländische Sprache mit einem neuen Wort: Ego-Dokument. Er gebrauchte dieses Wort als einen Sammelbegriff für Autobiographien, Memoiren, Tagebücher, persönliche Briefe und ähnliche Texte, kurzum, für alle Texte, in denen der Autor explizit über eigenes Handeln und Fühlen schreibt1. Pressers Ermutigung zum Studium von Ego-Dokumenten fand in den Niederlanden leider wenig Widerhall. Zu lange bestand das Vorurteil, daß Niederländer nun einmal wenig über sich selbst geschrieben haben. Der Vater der modernen niederländischen Geschichtsschreibung, Robert Fruin, beklagte sich 1879 hierüber in der Einleitung zu seiner Textausgabe der Autobiographie Coenraet Drostes: „Das Bessere wo ist es zu finden?"2. Und der Kritiker Dirk Coster klagte 1914, daß das ,Ich' in der niederländischen Literatur „verbrecherisch vernachlässigt und unbearbeitet geblieben" sei3. Kürzlich konstatierte Hans Warren, derzeit der bekannteste literarische Tagebuchschreiber der Niederlande, daß es in den Niederlanden auf dem Gebiet der Tagebuchliteratur keine Tradition gibt4. Dieses Bild

Vor

...,

findet man auch im Ausland. In einer Studie über das niederländische Volk schrieb Adriaan J. Barnouw: „This dislike to survive himself"5. Vor noch nicht so langer Zeit sind sich Literaturhistoriker und Historiker der geringen Aufmerksamkeit für Ego-Dokumente bewußt geworden. K. Porteman, Professor für Niederländisch an der Universität Löwen, publizierte 1986 einen Artikel den ersten über die Autobiographie von Jacob Cats und begann mit der folgenden Feststellung: „Im Fachgebiet ,Historische Literatur' findet ein Studium der Textsorte ,Autobiographie' praktisch nicht statt."6 Von dem bis vor kurzem ...

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1 J. Presser, ,Memoires als geschiedbron' in: Winkler Prins Encyclopédie VIII (Amsterdam-Brüssel 1958) p. 208-210; J. Presser, Uit het werk van J. Presser (Amsterdam 1969) p. 277-282. Abkürzungen: ARA=Algemeen Rijksarchief, Den Haag; CBG=Centraal Bureau voor Genealogie, Den Haag; HA=Huisarchief; GA=Gemeentearchief; RA=Rijksarchief; UB=Universiteitsbibliotheek 2 R. Fruin, ed., Overblijfels van geheughenis der bisondere voorvallen in het leeven van den beer Coenraad Droste 2 Teile (Leiden 1879). 3 Zitiert in: G. Kalff, Hetdietsche dagboek (Groningen: Wolters, 1935), p. 211, aus De Gids (1914) II,

p. 321-322. 4 Hans Warren, Het dagboek als kunstvorm (Amsterdam 1987). 5 Adriaan J. Barnouw, The Dutch. A portrait study of the people of Holland (New York: Columbia U. P., 1940), p. 24. 6 K. Poorteman, Jacob Cats Twee-en-tachtigjarig leven als autobiografie', in: H. Duits u. a., red., Eer is het lof des deuchts. Opstellen over Renaissance en Classicisme aangeboden aan dr. Fokke Veenstra (Amsterdam 1986) p. 154-161 ; Vgl. die Bemerkungen von M. van Faassen, ,Het dagboek: een bron als alle andere?', Theoretische Geschiedenis 18 (1991) p. 3-19.

34

Rudolf Dekker

bestehenden Mangel an Interesse zeugt auch der Artikel: ,Tagebuch' im Große Winkler Prins (1980): „Im niederländischen Sprachgebiet ist die Anzahl publizierter Tagebücher verhältnis-

mäßig gering". Abgesehen von dem Mangel an Interesse für Ego-Dokumente im allgemeinen gibt es in den Niederlanden ein großes praktisches Problem, das das Studium behindert. Ego-Dokumente sind schwer aufzuspüren, vor allem im Manuskript. Niemand wußte, wieviele davon in Handschriftensammlungen von Bibliotheken und in Familienarchiven gefunden werden können; dies wegen der Tatsache, daß diese Kollektionen oft schwer zugänglich sind, mitunter wie z.B. in der Königlichen Bibliothek nur mittels schlecht lesbarer Katalogkärtchen aus dem vorigen Jahrhundert. Überdies sind Ego-Dokumente nirgends als solche katalogisiert. Um diese Situation zu ändern, begann die Erasmus-Universität vor zehn Jahren ein Inventarisierungsprojekt, wobei alle niederländischen Archive, Bibliotheken und Museen besucht wurden, um Ego-Dokumente zu suchen und zu beschreiben7. Dabei gingen wir folgenderweise vor: Wir beschränkten uns zeitlich auf die Periode ungefähr 1500-1814. Wir -

-

suchten nur in öffentlichen Archiven und Bibliotheken. Wir suchten sowohl nach im Druck, als auch im Manuskript erschienenen Texten. Wir nahmen die folgenden Textsorten auf: Autobiographien, Memoiren, Tagebücher persönlicher Art und Reisetagebücher. Eine weitere Kategorie nannten wir persönliche Eintragungen'. Diese betrifft Notizen, die nur kurze Zeit regelmäßig gemacht wurden, oft anläßlich einer bestimmten Angelegenheit, beispielsweise der Wiedergabe eines Familienstreites. Kleine Familienbücher und genealogische Notizen (vergleichbar mit den italienischen libri de ricordanze, oder den französischen livres de raison) nahmen wir nur dann auf, wenn sie auch persönliche Betrachtungen einigen Umfangs enthielten. Wir nahmen keine persönlichen Briefe auf- dies würde das Werk zu umfangreich gemacht haben. Überdies läuft auch ein gesondertes Projekt, das sich der zentralen Katalogisierung von Briefe angenommen hat. Im allgemeinen haben wir unsere Begriffe großzügig

gehandhabt.

Ein Grund mehr, den Begriff ,Ego-Dokument' nicht zu eng zu definieren, ist die Tatsache, daß die Autobiographie und das persönliche Tagebuch als Textform ziemlich jungen Datums sind. Erst im Laufe der Untersuchungsperiode nahmen diese Genres ihre moderne Form an. Das Wort ,Autobiographie' fand erst im neunzehnten Jahrhundert Eingang in das Niederländische. Vor dieser Zeit sprach man, wie aus der im achtzehnten Jahrhundert herausgegebenen Autobiographie des Predigers Passchier de Fyne zu ersehen ist, vom ,Leben des ..., von ihm selbst beschrieben'. Der Hochschullehrer J. W. te Water aus Leiden sprach in der Einleitung zu seiner Autobiographie (geschrieben zwischen 1817 und 1822) von ,meinem Lebensbericht'. Moses Salomon Asser (1754-1826) schrieb seine Autobiographie im Februar 1823. Als Titel schrieb er darüber: ,Meine Biographie'8. Der Herausgeber der Autobiographie von C. R. T. Krayenhoff spricht 1844 von ,eigenen Gedenkschriften' und von einer ,eigenen Lebensskizze'. In anderen europäischen Sprachen erscheint das Wort „Autobiographie" um 7 R. M. Dekker, R. Lindeman und Y Scherf, ,Verstopte bronnen: egodocumenten van NoordNederlanders uit de 16de tot 18de eeuw', Nederlands Archieven BladS6 (1982) p. 226-235. Siehe auch Rudolf M. Dekker, .Verzeichnen und Edieren niederländischer Ego-Dokumente vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert', Editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 30 (1995), p. 80-95. 8 I. H. van Eeghen ed., ,De autobiografie van Moses Salomon Asser':, Jaarboek Amstelodamum 55

(1963) p. 130-165, p. 133.

Ego-Dokumente in den Niederlanden vom 16.

bis

zum

17.

Jahrhundert_35

1800, in den Niederlanden anscheinend

etwas später9. Zum erstenmal finden wir den in einem Gebrauch davon historischen Kontext bei C. A. Rethaan Macare, der 1856 in der ,Kronyk ...', die nicht viel mehr ist als ein selbstverfaßtes curriculum vitae des P. A. van der Parra, als Titel „Autobiographie" verwendet. Von dieser Zeit an wird das Wort des öfteren gebraucht. Der Lutherische Pfarrer J. Decker Zimmerman (1785-1867) spricht 1863 über seine „Autobiographie"10. In den Erinnerungen von Mr. Maurits Cornelis van Hall (17681858) aus dem Jahr 1867 spricht der Bearbeiter von einer ,Autobiographie'n. L. van Toulon (1767-1840) schrieb seine Autobiographie 1838. Er sprach selbst von ,Erinnerungen', aber sie wurde um 1875, nach seinem Tode, als ,Autobiographie' herausgegeben. Die Autobiographie des Hochschullehrers G. W. Vreede wurde 1883 von seinem Sohn mit dem unbeholfenen Titel ,Lebensskizze des G. W. Vreede, nach seiner eigenen Handschrift herausgegeben' publiziert. In der Einleitung sprach der Bearbeiter des Textes sehr wohl von einer ,Autobiographie'. Im Niederländischen verläuft diese Geschichte des Wortes,Autobiographie' parallel zu der sich stets eindeutiger herauskristallisierenden Textart, die sich dadurch anzeigt. Im zwanzigsten Jahrhundert bürgerte sich der Ausdruck „Autobiographie" allgemein ein.

Entwicklung Im ganzen wurden im Lauf von mehr als drei Jahrhunderten 1121

Ego-Dokumente gefun-

den, wobei sich deren Anzahl nicht gleichmäßig über diesen Zeitraum verteilt. Die Zahl

überlieferter Ego-Dokumente nimmt im Lauf der Zeit zu, und zwar in rasant steigendem Maße. Die Anzahl bewahrt gebliebener Texte aus dem ganzen sechzehnten Jahrhundert ist ebenso groß wie die aus dem Jahrzehnt 1800-1810. Nach 1780 entstand ungefähr ein Drittel aller Texte (siehe Abb. 1 Seite 53). Welche Ursachen lassen sich für diese Zunahme anführen? Natürlich ist da eine materielle Seite: Jüngere Texte haben gewöhnlich mehr Überlebenschancen. Wichtiger sind aber andere Faktoren. Erstens nahm in der Bevölkerung die Gewandtheit im Schreiben zu. Die Alphabethisierung war in den Niederlanden bereits im sechzehnten Jahrhundert relativ hoch, und zwischen 1630 und 1780 verminderte sich das Analphabetentum um beinahe zwei Drittel, zumindest bei den Männern; die Schreibgewandtheit der Frauen war, so wie überall in Europa, weit geringer12. Stets mehr Menschen waren demnach auf Grund ihrer Ausbildung imstande, die Geschichte ihres Lebens zu Papier zu bringen. Dazu kommt als zweiter Faktor überdies die Tatsache, daß das Verfassen von Ego-Dokumenten stets mehr in Mode kam. Vor allem seit Mitte des achtzehnten Jahrhundertes gibt es mehr Hinweise darauf, daß Menschen einander zum Schreiben von Tagebüchern und Autobiographien anspornten. Auch in gedruckten moralisierenden Schriften konnte man Ermutigungen dazu finden, während auch stets mehr gedruckte Vorbilder erschienen. 9 Jacques Voisine, ,Naissance et évolution du terme littéraire „autobiographie"' in: La littérature comparée en Europe Orientale (Budapest: Akademiai Kiado, 1963), p. 278-286. Woordenboek der Nederlandse 72m/Supplement I (Den Haag: M. Nijhoff, Leiden: Sijthoff, 1956), p. 2102-2103. 10 Eene kostschool, Vorbericht. 11 Herinneringen van Mr. Maurits Cornells van Hall (Amsterdam 1867), Vorbericht. 12 A. M.

van

der Woude, ,De

alfabetisering'

in:

(Haarlem: Fibula/Van Dishoeck, 1980), p. 257-264.

Algemene

Geschiedenis der Nederlanden VII

36

Rudolf Dekker

Das Anwachsen der Anzahl von Ego-Dokumenten scheint keineswegs gradlinig gewesen zu sein. Namentlich die Entwicklung der Anzahl von Tagebüchern läßt einige Zeiträume besonders hervorstechen (siehe Abb. 2 Seite 54). Diese fallen mit Perioden von politischen Krisen und Kriegen zusammen. So finden wir um das Jahr 1570 herum viele Tagebücher, die von Bürgern geführt wurden, welche in vom spanischen Heer belagerten Städten wohnten. Auch das Katastrophenjahr 1672, als ein Krieg mit England und Frankreich ausbrach, zeigt solch einen Höhepunkt an, und um 1813 herum gibt es viele Tagebücher von Soldaten, die im französischen Dienst den Feldzug nach Rußland mitmachten. Bei Autobiographien ist die Entwicklung weniger sprunghaft. Es gibt einen herausstechenden Punkt in der Periode 15701590. Darin drückt sich aus, daß die Generation, die damals geboren wurde, und die den Achtzigjährigen Krieg miterlebt hat und im „Goldenen Zeitalter" lebte, relativ viel geschrieben hat. Danach sehen wir im achtzehnten Jahrhundert eine allmähliche Zunahme. Die Abnahme nach 1800 ist eine Verzeichnung, da keine Manuskripte von Autoren aufgenommen wurden, deren Geburtsdatum in die Zeit nach 1800 fiel. Zweifellos hat sich der Anstieg, der bis 1800 sichtbar ist, im neunzehnten Jahrhundert fortgesetzt. Es ist schwer zu sagen, ob die totale Anzahl von mehr als 1100 Ego-Dokumenten viel oder wenig ist, verglichen mit anderen Ländern, weil es keine vergleichbaren Nachschlagewerke gibt13. Madeleine Foisil ist in ihrem Beitrag über Ego-Dokumente im frühmodernen Europa in der Histoire de la vie privée der Meinung, daß in Frankreich weniger geschrieben wurde als in England14. Überdies haben französische Texte weniger privaten Charakter. Die Niederlande waren ein viel kleineres Land als diese zwei Großmächte. Sie zählten in diesen Jahrhunderten ungefähr zwei Millionen Einwohner gegen 19 Millionen in Frankreich und 9 Millionen in England. Bezogen auf diese Verhältnisse fällt die Ernte für die Niederlande vermutlich nicht gering aus. Wir können das Land eher mit England als mit Frankreich vergleichen. Doch haben schließlich Zahlen nur eine eingeschränkte Bedeutung. Wichtiger ist, daß in den Niederlanden eine Anzahl individueller Texte von außerordentlicher Bedeutung überliefert ist. Es gibt beispielsweise im Europa des siebzehnten Jahrhunderts kein Tagebuch, in dem so ausführlich über die Erziehung von Kindern Bericht erstattet wird wie das von Constantijn Huygens (1596-1687)15.

Geographie So wie sich in Europa anscheinend die Produktion von Ego-Dokumenten von Land zu Land unterschied, so unterschied sich diese auch innerhalb der Niederlande von Region zu Region. Die geographische Ausbreitung der Ego-Dokumente ist nicht gleichmäßig, wie aus der beiliegenden kleinen Karte hervorgeht (siehe Abb. 3 Seite 55). Weitaus die meisten wurden von Autoren geschrieben, im ganzen 226 an der Zahl, die in den westlichen Küstenprovinzen Holland und Seeland geboren waren. Von Autoren aus dem Rest des Landes liegen 13

Philippe Lejeune bereitet ein Bibliographie von Bibliographien von autobiografischen Schriften

vor.

14 Madeleine Foisil, ,L'écriture du for privée' in: Philippe Ariès Georges Duby, ed., Histoire de la vie privée. Ill, De la Renaissance aux Lumières (Paris: Seuil, 1986), p. 331-369. 15 Arthur Eyffinger, ed., Huygens herdacht. Catalogus bij de tentoonstelling in de Koninklijke Bibliotheek ter gelegenheid van de 300ste sterfdag van Constantijn Huygens (Den Haag 1987), p. 79-165. -

Ego-Dokumente

in den Niederlanden

vom

16. bis

zum

17. Jahrhundert

37

140 Dokumente vor. Diese Ziffern liegen niedriger als die gesamte Anzahl der Dokumente, erstens, weil bei dieser Berechnung die Reisetagebücher nicht in Betracht gezogen wurden,

zweitens, weil manche Autoren mehrere Texte geschrieben haben, und drittens, weil wir nicht von allen Autoren den Geburtsort kennen. Doch geben sie einen deutlichen Hinweis. In der Küstengegend wohnten ebensoviel Menschen wie im Rest des Landes, nämlich eine Million Einwohner. Die Erklärung für den Unterschied müssen wir deshalb auch irgendwo anders suchen, nämlich im höheren Bildungsniveau und dem höheren Urbanisierungsgrad in Holland und Seeland. Abgesehen davon fällt auf, daß auch das nördliche Friesland eine relativ hohe Produktion aufweist, ganz gewiß im Vergleich mit dem benachbarten Groningen. In Friesland bestand bereits im sechzehnten Jahrhundert ein hoher Grad von Bildung, sogar bei den Bauern16. Der friesische Edelmann und Rebell gegen die Macht der Habsburger, Jancko Douwama, schrieb eine der ältesten Autobiographien, nachdem er um 1523 von Kaiser Karl V gefangengenommen worden war17. Der friesische Bauer Dirck Jansz schrieb kurz nach 1600 eine Art Tagebuch, in dem er uns viel über seine Eheschließungen, Kinder, Krankheiten und Lektüre erzählt. Es ist das älteste autobiographische Zeugnis eines einfachen Bauern in den Niederlanden18. In den östlichen und südlichen Provinzen finden wir viel weniger Autoren. Es sind vor allem auf Landgütern residierende Edelleute. Namentlich der katholische Süden ist arm an Ego-Dokumenten. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Es war ein dünnbevölkertes und zurückgebliebenes Gebiet mit agrarischem Charakter, das von der zentralen Regierung in Den Haag geleitet wurde. Es gab also keine belangreiche ökonomische und politische Elite, während anderswo gerade diese Gruppen einen großen Teil der Verfasser von Ego-Dokumenten stellten. Die meisten Ego-Dokumente entstanden in einer städtischen Umgebung. Es gibt wohl einige schreibende Bauern, aber sie bilden die Ausnahme. Die meisten auf dem Land wohnenden Autoren sind Edelleute und Regenten, Prediger und andere Leute, die nicht unmittelbar mit dem agrarischen Betrieb zu tun hatten. Form Die materielle Form der im Manuskript überlieferten Ego-Dokumente ist sehr unterschiedlich. Mitunter handelt es sich um kaum mehr als eine Sammlung kleiner Notizblätter. Der Utrechter Apotheker Hendrik Keettell (1761-1845) zum Beispiel führte sein Tagebuch über die Periode 1793-1816 auf fast zweitausend Pulverpapierchen19. Andere Tagebücher sind zwar in Reinschrift überliefert, aber wohl auf Grund von Konzeptnotizen entstanden. David Beck (1594- vor 1641) notierte in seinem Tagebuch über das Jahr 1624, daß er den Text für jedes seiner drei Kinder kopiere. Er war ein wegen seiner schönen Handschrift berühmter Schulmeister. Die Kopien schrieb er in einer prachtvollen Miniaturschrift, die ohne Vergrößerungsglas unleserlich ist. Constantijn Huygens jr. (1628-1697) 16 Wiebe Bergsma, De wereld volgens Abel Eppens Een ommelander boer uit de zestiende eeuw (Groningen: Wolters-Noordhoff, 1988). 17 Jancko Douwama's geschriften (Leeu warden 1849). 18 P. Gerbenzon u.a., ed., Het aantekeningenboek van Dirck Jans (Hilversum: Verloren, 1993). 19 ÜB Utrecht, coll. hss. 1298 (1981 p.): .Dagverhaal der voomaamste gebeurtenissen binnen

Utrecht...'.

38

Rudolf Dekker

notierte in sein Tagebuch ebenfalls regelmäßig das ins Reine schreiben seiner Konzeptnotizen20. Dies ist eine Genauigkeit, die den wahren Tagebuchschreiber charakterisiert. Im Laufe der Zeit gab es mehr Autoren, die ihr Tagebuch in Almanachen führten, eine neue Form von Drucksache, die das Tagebuchschreiben begünstigte. Die ältesten dieser Autoren sind der Geldersche Edelmann Otto van Wijhe, der von einem Deventer Almanach für das Jahr 1574 Gebrauch machte, sowie der Edelmann Jan Maartensz. van Sypesteyn aus Haarlem (1564-1625), der in den Jahren 1595 und 1599 schrieb. Aus späteren Jahren gibt es mitunter ganze Serien, so wie beispielsweise von dem Amsterdamer Bürgermeister Pieter de Graeff, der zwischen 1664 und 1706 vierzig Almanache, im ganzen ungefähr 1600 Seiten, vollschrieb21. Auch sind Autobiographien in verschiedenen Stadien überliefert. Manche Autoren kamen nicht weiter als bis zum Anlegen einer Konzeption. Hugo van Zuylen van Nyevelt (17811853) sortierte seine persönlichen Papiere und beschrieb auf den Umschlägen in zehn „époques" seinen Lebenslauf22. Auch Gijsbert Karel van Hogendorp (1762-1834) kam nicht weiter als zum Ordnen der großen Masse Papier, die er während seiner politischen Karriere gesammelt hatte, wobei er zwischendurch kurze Notizen machte23. Er kam nicht mehr dazu, seine Memoiren zu schreiben, nur der Entwurf des Buches ist bewahrt geblieben. Demgegenüber gibt es auch ausführliche Autobiographien, die tadellos ins Reine geschrieben wurden. Die Lebensgeschichte mancher Autoren erschien in kostbaren Lederbänden so wie die des im Militärdienst stehenden Willem de Vaynes van Brakell (1763-1843)24. Manche Manuskripte zirkulierten in Kopien. Dies gilt namentlich für einige religiöse Autobiographien und Tagebücher, die in pietistischen Kreisen populär waren. Diese Ego-Dokumente hatten eine Vorbildfunktion für andere Gläubige. Dergleichen Texte erschienen manchmal auch schnell im Druck, gewöhnlich kurz nach dem Ableben des Autors25. Darüberhinaus verfaßten einige Gelehrte ihre Autobiographie auf Grund einer Aufforderung ihrer Verleger. Von Gerard Vossius (1577-1649) ist die Handschrift in verschiedenen Stadien bewahrt geblieben. Wir haben eine erste Version in der ersten Person und eine definitive Version in der dritten Person. Diese letzte wurde 1625 in einem Werk über die Universitätsstadt Leiden, Athenae Batavae, publiziert, in dem auch andere Autobiographien von Hochschullehrern aufgenommen wurden26. Hierbei muß auch die Autobiographie des Dichters Jacob Cats (1577-1660) erwähnt werden, die in seine gesammelten Werke aufgenommen wurde27. Dies muß die meistverbreitete Autobiographie gewesen sein, denn das Werk von Cats hatte schon 20 Constantijn Huygens de Zoon, Journalen 2 Teile (Utrecht 1876-1877). 21 Otto van Wijhe: RA Gelderland, HA Echteid 4; Pieter de Graeff: GA Amsterdam, FA De Graeff 186-226 (40 almanakken); Johan Maartensz. van Sypesteyn: GA Haarlem, FA Van Sypesteyn 244 (almanakken von 1595 und 1599). 22 ARA II coll. Van Zuylen van Nyevelt inv.nr. 0 [sic]. 23 ARA II coll. Van Hogendorp aanw. 1913 inv.nrs. 36 (2), 40-61. 24 CBG KNGGW FA De Vaynes van Brakell doos 2, port. 2. 25 F. van Lieburg, Levens van vromen. Gereformeerdpiëtisme in de achttiende eeuw (Kampen 1991). 26 UB Amsterdam, coll.hss. III A 34 b. Vgl. coll.hss. III A 34 c; Coll.hss. Ill A 34 a. Publiziert in: Joannes Meursius, Athenae Batavae (Leiden 1625). Siehe C.S.M. Rademaker, ed., ,Gerardi Joannis Vossii de vita sua usque ad annum MDCXVII delineado', Lias 1 (1974) p. 243-265. 27 Jacob Cats, ,Twee en tachtig-jarig leven van zijn geboorte af tot zijn dood toe' in Alle de werken van den beere Jacob Cats (2 Teile, Amsterdam 1726) II, p. 289-319.

Ego-Dokumente in den

Niederlanden

vom

16. bis

zum

17.

Jahrhundert_39

Jahrhunderts eine Auflage von 300000 Exemplaren28. Eine sehr außergewöhnliche Entstehungsgeschichte hat die Autobiographie der Maria van Antwerpen Mitte des siebzehnten

(1719-1781), die

1751 im Druck erschien. Diese Frau hatte sich als Mann verkleidet und

jahrelang als Soldat gedient, bis sie ertappt und arrestiert wurde. Eine Mitgefangene hörte ihre Geschichten an und schrieb sie auf. Das Resultat macht im ersten Augenblick den Eindruck eines erdichteten Schelmenromans, aber Archivuntersuchungen erwiesen, daß die Frau und ihr „ghostwriter" in der Tat im gleichen Gefängnis saßen, und Vergleiche mit ausführlichen gerichtlichen Verhören bestätigen die Authentizität29. Manche Autoren schrieben nicht lang vor ihrem Tod eine kurze Autobiographie zum Behuf der Nekrologen, die ihrer Meinung nach schon darauf brannten, ihren Lebensbericht in Zeitung oder Zeitschrift zu publizieren. Hendrik Collot d'Escury (1773-1845) schrieb im Kopf seiner Autobiographie: „Wenn nach meinem Ableben das eine oder andere mich betreffende zu wissen begehrt wird, kann man Nebenstehendes mitteilen"30. Einen Schritt weiter ging der General Cornelis Rudolfus Theodoras Krayenhoff (1758-1840). Er schrieb seine Memoiren, nachdem er 1826 aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war. Er wollte, daß sie nach seinem Tod publiziert würden und wies in seinem Testament H. W. Tydeman die Textbearbeitung an31. Da Krayenhoff überzeugt war, daß sein Text veröffentlicht und einem anonymen Publikum unter die Augen kommen würde, beschrieb er vermutlich sein Leben in

der dritten Person. Daß jemand seine Autobiographie schon zu Lebzeiten drucken ließ, blieb ungebräuchlich. Im achtzehnten Jahrhundert erschienen einige literarisch-religiöse Tagebücher nach dem Vorbild des Schweizer Pfarrers Lavater. Dessen „Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst" aus dem Jahr 1773 hatten in der Republik großen Einfluß und erschienen in niederländischer Übersetzung. Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erscheinen literarische, für den Druck bestimmte Tagebücher und Autobiographien. Die erste ausführliche Autobiographie wurde von dem Hochschullehrer Willem Jona te Water aus Leiden ( 1740-1822) verfaßt32. Das Buch erschien übrigens erst nach seinem Tod, und doch war dies ein ungewohnter Schritt, sodaß sich der Autor genötigt sah, sich zu verantworten. Er ersucht den Leser, seine Autobiographie nicht als „einen Beweis schändlichen Dünkels" zu betrachten; schließlich hätte er ja einige Vorgänger, denen man ebensowenig diesen Vorwurf machen könnte, etwa Vigilius und Cats. Er betont seine Bescheidenheit, indem er bemerkt, daß er sein Buch „in freien Augenblicken und mit Unterbrechungen" geschrieben habe. Und falls jemand an der Wahrheit zweifeln sollte, dann könne er beim van Seim, ,„Almanacken, lietjes, en somwijl wat wonder, wat nieus". Volkslectuur in de Noordelijke Nederlanden (1480-1800): een onbekende grootheid', Leidschriftb (1989) p. 33-69, p. 48. 29 F. L. Kersteman, De Bredasche heldinne, ed. R. Dekker, G. J. Johannes und L. C. van de Pol (Hilversum: Verloren, 1988); Diese Autobiographie kommt auch zur Sprache in: Rudolf Dekker en Lotte van de Pol, Frauen in Männerkleidem. Weibliche Transvestiten und ihre Geschichte (Berlin: Klaus Wagenbach, 1990). 30 ARA I, FA Collot d'Escury 165. 31 H. W. Tydeman, ed., Levensbijzonderheden van den luitenant-generaal baron C. R. T. Krayenhoff; door bem zelven in schrift gesteld, en op zijn verlangen in het licht gegeven door Mr. H. W. Tydeman (Nijmegen 1844), p. XII. Die handschrift beruht auf ARA II, coll. Krayenhoff 83. 32 Jona Willem te Water, Levensberigt van Jan Willem te Water (...) door hemzelven vervaardigt

28 B.

(1825).

40

Rudolf Dekker

„ursprünglichen Beweise" nachprüfen. Der Pfarrer Willem Antony Ockerse (1760-1826) publizierte noch zu Lebzeiten eine Art Autobiographie: Früchte und Resultate eines sechzigjährigen Lebens (Amsterdam 1823-1826). Doch sind dies mehr Betrachtungen als das, was wir gegenwärtig unter einer Autobiographie verstehen würden; man kann es kaum die Geschichte des eigenen Lebens nennen33. Eine Ausnahme bilden drei „Brotschriftsteller", die ihre Lebensgeschichte bereits zu Lebzeiten publizierten. Sie schrieben aber in der Tradition der Schelmenromane34. Der Autor, der seine Autobiographie für ein Leserpublikum bestimmte, hatte es nicht leicht. Dies geht aus dem Fall des Utrechter Hochschullehrers G. J. Mulder (1802-1880) hervor35. Seine in zwei Bänden herausgegebenen Memoiren bestehen aus einer Aneinanderreihung essayartiger Schriftstücke. Er schrieb regelmäßig autobiographische Skizzen „als ob sie für die Presse nach meinem Tod bestimmt wären", aber auch „in der gewissen Absicht, sie zu vernichten". Den letzten Plan brachte er zur Ausführung, nachdem er vorher noch die Stücke korrigiert hatte. Ein merkwürdiges Verfahren, welches Zeugnis für die Spannung ablegt, die das Schreiben von Autobiographien noch im neunzehnten Jahrhundert bei einem breiten Publikum hervorAutor oder dessen Erben die

rief. Zwischen 1861 und 1877 überließ Mulder Freunden Schriftstücke von seiner Hand zum Zwecke der Veröffentlichung nach seinem Tode. Das Lesen anderer Lebensberichte bildete für Mulder ein Vorbild, „wie ein solcher Bericht nicht geschrieben werden müsse". Ihm ging es darum, die „Genesis" des Mannes darzubieten, „dessen Bild man zeichnen wollte". Das Resultat ist auch da wieder ein Text, der mehr Betrachtungen als Tatsachen enthält. Die Publikation einer Autobiographie zu Lebzeiten blieb in den Niederlanden ungebräuchlich. Kurzum, obwohl stets mehr Ego-Dokumente nach dem Tod und mitunter auch zu Lebzeiten des Autors gedruckt wurden, ist die Mehrzahl von ihnen in Manuskriptform überliefert. Auch eine andere materielle Seite ist näherer Betrachtung wert: der Umfang. Die Länge der Ego-Dokumente variiert stark. Manche fallen durch ihre extreme Länge auf. Dies gilt naturgemäß vor allem für Tagebücher. Das von Lieu we van Aitzema (1600-1669), einem Historiker, Diplomaten und vor allem Spion, zählt ungefähr 5000 Seiten, darunter dann aber auch viele Abschriften von Briefen36. Ein anderes Beispiel ist das Tagebuch von Rijklof Michael van Goens (1748-1810), Hochschullehrer zu Utrecht, der später aus politischen Gründen in der Schweiz und in Deutschland lebte, das ungefähr 4300 Seiten zählt37. Es enthält Notizen über seine täglichen Beschäftigungen, über Lektüre, Gesundheitszustand, Mahlzeiten, medizinische Rezepte und Verrichtungen sowie Haushaltsangelegenheiten betreffend. Auch das Tagebuch der Amsterdamer Romanschriftstellerin Margaretha Jacoba de Neufville (1775-1856) war umfangreich; es zählte nicht weniger als 1700 Seiten über die Periode 1803-1807. Leider ist das Manuskript, das sich in privaten Händen befand, kürzlich

verlorengegangen38.

33 Vgl. J. Stouten, Willem Anthonie Ockerse (1760-1826) (Amsterdam 1982). 34 Siehe Anmerkung 85. 35 Gerrit Jan Mulder, Levensschets van G. J. Mulder door hem zelven geschreven en door drie zijner vrienden uitgegeven, 2 Teile (Utrecht 1881). 36 ARA I, coll. Aitzema 1-8. Siehe auch Verslagen Omtrend's Rijks Oude Archieven 39 (1916)-I. 37 Koninklijke Bibliotheek, Den Haag, 130 G 3-11. 38 A. M. Lubberhuizen-van Gelder, ,Het dagboek van Margaretha Jacoba de Neufville', Maandblad Amstelodamum 53 (1966) p. 85-94.

Ego-Dokumente in den

Niederlanden

vom

16. bis

zum

17.

Jahrhundert_41

Beispiel ist das Tagebuch des Willem de Clercq (1795-1844), das ungefähr Clercq war der Sohn eines Amsterdamer Kaufmanns und wurde Direktor der Niederländischen Handelsgesellschaft. Er war ein Vorkämpfer der ReveilDas

extremste

13 000 Seiten zählt39. De

Bewegung, die eine Erneuerung des christlichen Glaubens anstrebte, in der Kombination romantischer Ideen mit einem Zurückgreifen auf die Orthodoxie des siebzehnten Jahrhunderts. Die Niederschrift war ein Lebenswerk; der Autor hatte mit acht Jahren begonnen und führte sein Tagebuch bis kurz vor seinem Tod. Diese außergewöhnlich langen Texte scheinen das Produkt des romantischen Zeitalters gewesen zu sein. Hier kann De Clercq mit jenem verglichen werden, der als Musterbeispiel des kompulsiven Tagebuchschreibers gilt: HenriFrederic Amiel. Die meisten Texte sind von viel geringerem Umfang. Dies gilt gewiß für die meisten Autobiographien. Viele grenzen an das Genre des sachlichen curriculum vitae und sind nur einige Seiten lang. Doch bestand eine Mindestlänge von gewöhnlich zehn Seiten als Regel, um einen Text in unsere Übersicht aufzunehmen. Es gibt aber auch einige ausführliche Autobiographien wie beispielsweise die des Pfarrers Caspar Sibelius (1590-1658), die fast 1300 Seiten zählt, wobei noch vermerkt werden muß, daß das Manuskript anfangs noch länger war, denn ein Teil davon ist verlorengegangen40.

Genre und Stil

Ego-Dokumente gehören nicht zu einem festumrissenen Genre. Im Gegenteil, es scheint da eine geradezu völlige Formfreiheit zu bestehen, etwas, worüber sich viele Literaturhistoriker den Kopf zerbrochen haben. Aus praktischen Gründen haben wir folgende Einteilung gewählt: Memoiren, Autobiographien, Tagebücher, Reiseberichte, Familienalben. Über den Unterschied zwischen diesen verschiedenen Genres läßt sich lange diskutieren, aber eines ist sicher: die Grenzen sind vage. Es gibt enorme Variationen im Stil, aber doch lassen sich gewisse wiederkehrende Kennzeichen ausmachen. Die 490 Reisetagebücher bilden die größte Gruppe und sind noch relativ einheitlich. Stets wiederholen sich Informationen über Trajekte, Herbergen, Sehenswürdigkeiten und die Reisegesellschaft. Es gibt verschiedene ausgedehnte Journale von „grand tours", edukativen Reisen für junge Leute aus der gesellschaftlichen Elite. Diese Reisen konnten mitunter mehr als ein Jahr dauern41. Im achtzehnten Jahrhundert nahm das Phänomen der „grand tour" an 39 ÜB Amsterdam, Reveil-archief F I-XXXI. Teilweise publiziert in: A. Pierson A. E. Kluit-de Clerq, ed., Willem de Clercq naarzijn dagboek, 2 din., (Haarlem 1870-1873; 2e ed. Haarlem 1888); Siehe auch: M. E. Kluit, ed., Per karos naarSt. Petersburg. Reisdagboek van de Amsterdamse graanhandelaar Willem de Clercq uit het jaar 1816 (Lochern 1962); Willem de Clercq, Woelige weken. Novemberdecember 1813, W. A. de Clercq, ed. (Amsterdam 1988). 40 Stads- en Athenaeum Bibliotheek Deventer, Hs II, 10 (101 H 16, 17 en 18 KL). Vgl. Ludwig Scheibe, ed., ,Zeittafel der Geschichte der lateinischen Schule ...', in Festschrift zur Feier des dreihundertjährigen Bestehens der zum Gymnasium ausgebildeten Lateinischen Schule (Elberfeld 1893) p. 53-86; H. W. Tydeman, ,Caspar Sybelius, in leven predikant te Deventer, volgens zijne onuitgegeven eigen levensbeschrijving', Godgeleerde Bijdragen 23 (1849) p. 481-533. 41 Anna Frank-van Westrienen, De Groóte Tour. Tekeningen van de educatiereis derNederlanders in de zeventiende eeuw (Amsterdam: Noord-Hollandsche Uitgeversmaatschappij, 1983). -

Rudolf Dekker

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Bedeutung ab. In diesem Jahrhundert nimmt wohl die Anzahl kurzer Reiseberichte zu, von Reisen von ein bis drei Wochen, off nach Kurorten wie Spa und Kleve, eben außerhalb des Grundgebietes der Republik gelegen. In diesen kurzen Reiseberichten erkennen wir das Entstehen des modernen Tourismus42. Autobiographien und Memoiren bilden mit mehr als 200 Texten ungefähr ein Fünftel des gesamten Bestandes. In diesen Texten sehen wir noch eine gewisse Einförmigkeit; das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte ist selbst gewissen Regeln unterworfen. Man kann verschiedene feststehende Modelle erkennen. In manchen Gelehrten-Autobiographien erkennen wir mitunter den Aufbau, der in humanistischen Kreisen als Ideal galt. Auch die religiösen Autobiographien, die vor allem Bekehrungsgeschichten sind, folgen feststehenden Vorbildern, in denen die ,nähere Bekehrung' in den

Memoiren den Kern bildet. Manche Autobiographien wurden in einem gepflegten Stil geschrieben; dies gilt vor allem für die zur Veröffentlichung bestimmten. Einen besonderen Platz nimmt die gereimte Autobiographie ein. Die bekannteste ist die des Dichters und Staatsmannes Jacob Cats aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Später folgten unter anderen der Rentner Coenraad Droste (1642-1734) im siebzehnten43, Gerardus de Jong im achtzehnten44 und Egbert Koning (1792-?) im neunzehnten Jahrhundert45. Der Gebrauch des Reimes geriet bei der Elite in Mißkredit, behielt aber seine Popularität beim einfachen Volk. Droste kam aus dem Regentenstand, de Jong war ein Schulmeister und Koning gehörte nur dem Arbeiterstand an. Auch Reiseberichte wurden hin und wieder in Reimen verfaßt; in einem Fall haben wir zwei Versionen, eine gewöhnliche und eine gereimte Fassung46. Tagebücher nehmen mit einer Anzahl von ebenfalls mehr als 200 Exemplaren einen ebenso großen Platz ein wie Autobiographien. Bei Tagebüchern kann man viel weniger von einem eleganten Stil sprechen. Tagebücher wurden oft zum eigenen Gebrauch geführt, Lesern wurde keine Rechnung getragen. Oft ist die Aufzeichnung so kurz, daß sie die Interpretation erschwert. Constantijn Huygens jr. ließ zum Beispiel in seinem Tagebuch systematisch essentielle syntaktische Informationen weg, so daß wir off nicht wissen, wer was zu wem sagt oder wer was tat. Das bereits genannte Tagebuch des Rijklof Michael van Goens macht, mit all seinen Abkürzungen, den Eindruck eines stenographierten Schriftstücks. Eine Ausnahme bilden einige religiös-literarische Tagebücher, die in einer gepflegten, pietistischen Sprache geschrieben sind, so wie das im achtzehnten Jahrhundert publizierte des Schriftstellers

Hieronymus van Alphen (1746-1803)47.

Lindeman, Ego in Clivia (Amstelveen 1990). Fruin, ed., Overblijfels van geheughenis der bisondere voorvallen in het leeven van den beer Coenraad Droste, 2 dln. (Leiden 1879). 44 Gerardus de Jong, ,Een historisch verhaal der voornaamste lotgevallen en bijzondere ontmoetingen raakende de persoon Gerardus de Jong', Universiteitsbibliotheek Leiden, Ltk 414. 45 Egbert Koning, Ware beschrijving wegens den levensloop van mij Egbert Koning, door wie dit boek zelfis gemaakt en uitgegeven in den ouderdom van 68 jaar (1860). 46 Pieter de la Rue (1695-1770), ÜB Amsterdam coll. hss. XVII E 32, Berichte über eine Reise nach Flandern im Jahre 1724. 47 [Hieronymus van Alphen], ,Fragmenten uit het dagboek van E.V.C, in Mengelingen inproza en poëzie (Utrecht 1793). Siehe auch P. J. Buijnsters, ,Het geheime dagboek van Hieronymus van Alphen', De Nieuwe Taalgidskt (1968) p. 73-83. 42 R. 43 R.

Ego-Dokumente

in den Niederlanden

vom

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17. Jahrhundert

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Die übrigen Ego-Dokumente sind ein sehr vielfältiges Ganzes, vor allem, was wir „persönliche Aufzeichnungen" genannt haben und kleine Familienalben, von denen wir nur wenige aufgenommen haben. Wie bereits bemerkt wurde, sind Familienalben meistens nach einem Standardmuster angelegt, gewöhnlich mit Angabe einer Art privaten bürgerlichen Standes, einer Buchführung von Geburten, Eheschließungen und Sterbefällen.

Sprache Sprache erzählt uns viel über Ego-Dokumente, und Ego-Dokumente erzählen uns umgekehrt viel über Sprache. Erstens ist das Niederländische reich an Varianten. Dialekte und Soziolekte waren vor dem 19. Jahrhundert von größerer Bedeutung als heute. Selbst Texte aus der Elite können gebraucht werden, um lokale Dialekte zu rekonstruieren48. Außerdem kann man auch von religiösen Dialekten sprechen. Namentlich Pietisten gebrauchten ihr eigenes Vokabularium, um ihre Beziehung zu Gott zu beschreiben. Spezialisten studieren derzeit ihren Sprachgebrauch und haben dazu sogar ganze Wörterbücher zusammengestellt. Darüberhinaus wurden nicht alle Ego-Dokumente auf niederländisch geschrieben, 10 bis 20 Prozent sind in einer anderen Sprache abgefaßt (siehe Abb. 4 Seite 56). Innerhalb des Gebietes der Republik wurde noch eine andere Sprache gesprochen: das Friesische. Doch sind nur einige friesische Ego-Dokumente bewahrt geblieben. Friesisch wurde nur von den untersten Schichten der Gesellschaft gesprochen, im Bürgertum und bei der Elite war das Niederländische bereits im 16. Jahrhundert Schriftsprache geworden. Die Bedeutung des Friesischen nahm erst im 19. Jahrhundert zu. Von dem größten Vorkämpfer der Sprache, Justus Hiddes Halbertsma (1789-1869), besitzen wir eine kurze, auf friesisch geschriebene

Autobiographie49. Wichtiger ist, daß manche Einwanderer ihre eigene Sprache weiter gebrauchten, so sephardische Juden das Portugiesische, askenasische Juden das Jiddisch, der eine oder andere Deutsche das Deutsch, französische Hugenotten das Französisch. Hierbei geht es nur um eine kleine Zahl. Auch bedienten sich geborene Niederländer öfters anderer Sprachen. In erster Linie des Latein. Erasmus und andere Humanisten schrieben ihre Autobiographie in dieser Sprache und gebrauchten diese auch beim Führen ihrer Tagebücher und Reiseberichte. Der bereits genannte Pfarrer Sybelius schrieb um 1630 eine 1300 Seiten lange lateinische Autobiographie. Im achtzehnten Jahrhundert wurde das Latein weniger gebräuchlich, abgesehen von der römisch-katholischen Geistlichkeit. Die letzte lateinische Autobiographie wurde von einem Lateinlehrer geschrieben. Der Verfall des Latein spiegelte sich im Aufkommen des Französisch wider50. Diese Sprache wurde im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert sehr wichtig. Coenraet Droste erzählt in

48 J. W. van Same, ed., DagverhaalvanAafje Gijsen (Wormerveer 1986);Jo Daan, ,De taal van Aafje Gijsen als bron van het achttiende-eeuws', Anno 1961. Zaans Cultureel-historisch Tijdschriftm. 106 (Mai 1988). Die hervor genannte Ausgabe des Tagebuchs von Dirck Jansz enthalt ebenfalls eine ausführliche

sprachkundige Studie.

49 Justus Hiddes Halbertsma, Provinciale Bibliotheek van Friesland, Hs. 1371 (9 p.). 50 W. Frijhoff, ,„Bastertspraek en dártele manieren": de Franse taal in Nederlandse mond', Jaarboek van de Maatschappijder Nederlandse Letterkunde (1989/90), p. 13-26. Id., ,L'usage du français en Hollande, XVIIe-XIXe siècles: propositions pour un modèle d'interprétation', Etudes de linguistique

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seiner Autobiographie, daß er eine „Spielreise" nach Frankreich unternahm, „um die Wohlerzogenheit und die französische Sprache zu lernen. Die kann ein Edelmann in Holland nicht entbehren". In manchen Fallen wurde, solange die Kinder jung waren, nur französisch gesprochen, im Hinblick auf ihre Erziehung. Dies wissen wir auf Grund von Ego-Dokumenten, in denen diese Tatsache erwähnt wird. Für viele war das Französisch vor allem die Sprache, um persönliche Gefühle auszudrücken innerhalb der Elite war es schließlich die Sprache, in der man Romane las (oft auch englische Romane in französischer Übersetzung). Eine der bedeutendsten niederländischen Schriftstellerinnen des achtzehnten Jahrhunderts, Belle van Zuijlen (Madame de Charriere), publizierte ihre gesamten Werke auf französisch. Umgekehrt schrieb die bereits genannte Frau De Neufville ihre Romane auf niederländisch, doch ihr Tagebuch auf französisch. Wie tief der Gebrauch des Französischen verwurzelt war, geht aus dem Fall des Politikers Gijsbert-Karel van Hogendorp aus der Zeit um 1800 hervor. Er verfaßte Tagebücher und Memoiren auf französisch, während er in politischer Hinsicht sehr antifranzösisch und nach 1813 einer der Gründer des neuen nationalen niederländischen Staates war. Ein anderes Vorbild aus dieser Zeit ist das französische Tagebuch der Magdalena van Schinne, ein einzigartiges persönliches Dokument. Sie schrieb weiter französisch, obwohl sie königstreu war, obwohl ihr Bruder nach dem französischen Einfall im Jahre 1795 seine Stelle als Amtmann verlor, und sogar trotz der Tatsache, daß ihr anderer Bruder, der im englischen Heer Dienst versah, gegen die Franzosen kämpfend starb. Magdalena van Schinne sah sich selbst weniger der nationalen niederländischen Kultur zugehörig als einer international europäischen, innerhalb derer das Französisch nun einmal die dominierende Sprache war. Der englischen Sprache begegnen wir kaum, es sei denn bei einem exzentrischen Gelehrten, R. M. van Goens, der eine englische Mutter hatte. Möglicherweise war das Englische für ihn auch eine Sprache des Protests, obwohl in seinem Fall vielleicht entscheidend war, daß er sein Leben für englische Leser erzählte. Während der ,Patrioten-Revolution' in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts hatte er das Land verlassen, um nie mehr zurückzukehren. Ein hervorragendes Detail: seine englischen Bücher wollte er der Utrechter Universität hinterlassen, weil er Hochschullehrer gewesen war das Geschenk wurde aber nicht angenommen: beinahe niemand konnte Englisch lesen. Eine andere englische Autobiographie schrieb der nach Amerika geflohene Patriot und Revolutionär F. A. van der Kemp (1752-1829) für seinen Sohn51. Es ist bemerkenswert, daß gerade in diesen zwei Autobiographien Platz für Humor und einen gewissen Selbstspott ist. Zum Beispiel in einer Passage, in der van Goens von einer Krankheit berichtet, bei der er so viel Pillen schluckte, daß er „smelled like an apothecary shop". Sollte die englische Sprache hierfür geeigneter gewesen sein als das Niederländisch? Ein Fall für sich sind die Ego-Dokumente, in denen mehrere Sprachen gebraucht werden. Vor allem um 1600 gab es einige gelehrte Schriftsteller, die gerne ihre Sprachenkenntnis zur Schau trugen. Der Stadtsekretär aus Groningen Johannes Julsing (P-1604) schrieb sein Tagebuch auf niederländisch, lateinisch, deutsch, französisch, spanisch und griechisch, während er ab und -

-

appliquée (Paris) n.s. nr. 78 (avril-juin 1990), p. 17-26; Id., ,Verfransing? Franse taal en Nederlandse cultuur tot in de Revolutietijd', Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden 104

(1989), p. 592-609. 51 Franciscus Adriaan

extracts

van der Kemp. H. Linklaen Fairchild, ed., An autobiography together with from correspondance (New York-London 1903). Erste Ausgabe: The Christian Reformer (Lon-

don) no. 16, vol. IV (Mai 1837).

Ego-Dokumente in den Niederlanden vom 16.

bis

zum

17.

Jahrhundert_45

auch das hebräische Alphabet gebrauchte, dies alles oft in einem Satz52. So gut wie sicher ist es mehr als ein gelehrter Spaß; er schrieb sein Tagebuch während der unsicheren Zeiten des Achtzigjährigen Krieges und hielt seine politischen Beobachtungen dem Zugang am liebsten fern. Lieuwe van Aitzema verwendete in seinem Tagebuch Niederländisch, Spanisch, Latein, Französisch und Englisch ebenfalls aus politischen Gründen. Andere Autoren gingen aus persönlicheren Gründen von einer Sprache zur anderen über. Der Utrechter Professor Aernout van Buchell schrieb über Liebesangelegenheiten nur auf französisch und italienisch, vielleicht auch, weil solche Passagen in diesen Sprachen nun einmal besser klingen53. Ein kleiner Schritt weiter war der Gebrauch einer Geheimschrift, der wir auch mehrmals begegnet sind. Constantijn Huygens jr. machte dies zum Beispiel. Er war Sekretär des Prinzen von Oranje und König Wilhelms III. von England und daher daran gewöhnt, beinahe täglich von Chiffren Gebrauch zu machen. Die in seinem Tagebuch verwendete Schrift wurde erst entziffert, als durch Zufall vor einigenJahren der Schlüssel zum Vorschein kam, und schien äußerst einfach zu sein. Huygens wurde wohl der niederländische Pepys genannt. Doch mit einem Unterschied: Pepys schrieb über seine eigenen sexuellen Aktivitäten, Huygens vor allem über die anderer54. Ein Zeitgenosse, Lodewijk van der Saan (1655-?), Schreiber bei der Holländischen Botschaft in London, machte es einfacher. Er schrieb ab und zu gewöhnliches Niederländisch mit griechischen Buchstaben. Unter anderem eine Passage, in der er die Qualitäten von Prostituierten aus diversen Ländern miteinander verglich. Die italienischen waren weitaus die besten55! Ein interessanter Fall ist das zweisprachige Tagebuch einer irischen Frau, die mit einem niederländischen Soldaten verheiratet war56. Ihr Tagebuch ist auf englisch abgefaßt offenkundig die Sprache, in der sie weiterhin dachte aber Dialoge sind oft auf französisch wiedergegeben, offenkundig die Sprache, in der man in ihren Kreisen miteinander umging. zu

-

-

Niederländisch kommt darin kaum vor. Schließlich konnte auch ein erzieherischer Aspekt mit der Verwendung von Fremdsprachen verbunden sein. Es ist beispielsweise ein französisches Kindertagebuch überliefert, in dem wir Korrekturen von einem der Eltern oder einem Lehrer finden57. Auch gibt es ein dreisprachiges Tagebuch des jugendlichen Bürgers Adrianus van Overschie aus Delft (ca. 1650-1724) von einer „grand tour" : in Italien schrieb er Italienisch, in Spanien Spanisch, an allen anderen Orten Französisch58. Gerade auf Reisen konnte man sich gut in seinen Sprachen üben, und es war praktisch, mehrere zu beherrschen. 52 Johannes Julsing, GA Groningen, Feith hs. in folio 256. Siehe W. B. S. Boeles, ed., .Groningen en de Ommelanden, tijdens het stadhouderschap van Francisco Verdugo. Volgens de berigten van den stadssecretaris Joh. Julsing, uit de jaren 1589-1594', Bijdragen tot de Geschiedenis en Oudheidkunde inzonderheid van de Provincie Groningen 3 (1866) p. 1-43. 53 G. Brom and L. A. van Langeraad, ed., Diarium van Aernout van Buchell (Utrecht 1907). 54 Siehe R. M. Dekker, .Sexuality, Elites, and Court Life in the Seventeenth Century: The Diary of

Constantijn Huygens Jr', Eighteenth-Century Life, (forthcoming). 55 Lodewijck van der Saan, UB Leiden, BPL 1325, (236 f.) .Verscheyde concepten en invallen aengaende mijne verbeeteringe te soecken Ao. 1696.' Ausgabe in Vorbereitung von Donald Haks. 56 Dagboek van Elizabeth Richards (Ausgabe in Vorbereitung von Ingrid Bruiting und Kevin Whelan, Verloren, Hilversum). 57 CBG KNGGW FA Van der Hoop doos 20, port 7. 58

Koninklijke Biblotheek 71

H 5.

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Wahrscheinlich wurden verhältnismäßig viele niederländische Ego-Dokumente in fremden Sprachen geschrieben. Niederländer fanden seit jeher das Erlernen fremder Sprachen von großer Wichtigkeit. Dies ist nicht verwunderlich innerhalb eines kleinen Sprachgebietes, in dem Handel und Seefahrt wichtige Quellen für die Ökonomie waren. Das Sprechen fremder Sprachen war eine Überlebensfrage. Niederländer waren auch stolz auf ihre sprachliche Gewandtheit. Einen hübschen Beweis hierfür finden wir in dem Reisetagebuch des Pfarrers und bekannten Bekämpfers des Hexenglaubens Balthasar Bekker (1634-1698), der in einem Bericht über eine Reise durch Frankreich und England beschreibt, wie er von seiner Reisegesellschaft den Titel „Meister der Sprachen" erhält; das will sagen, derjenige, der bestimmt, in welcher Sprache man sich unterhalten soll59. Der Gebrauch von Fremdsprachen in Ego-Dokumenten erstaunt den modernen Leser, und im 19. und 20. Jahrhundert ist er auch so gut wie verschwunden. Dies ist gewiß auch eine Frage der Identität. Damals war der Gebrauch des Niederländischen noch nicht so sehr ein fester Bestandteil der eigenen Identität wie im modernen nationalen Einheitsstaat, in dem der Sprachunterricht und sogar die Rechtschreibung gesetzlich bestimmt werden. Schriftsteller

Entwicklung der Autobiographie wurde oft mit dem Aufkommen des Bürgertums in Zusammenhang gebracht. Gerade die Bürger sollen, nachdem sie sich hinaufgearbeitet hatten, das Verlangen nach Selbstbetrachtung gehabt haben, was unter anderem auf ihren unsicheren Status zurückzuführen sei: zu wem gehörten sie? In den Niederlanden nahm das Bürgertum schon bald eine wichtige Stellung ein, sicher seit dem Aufstand gegen Spanien. Hatte dies Einfluß auf die Produktion von Ego-Dokumenten? Es ist gebräuchlich, die Niederländische Gesellschaft aus der Zeit zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert in sechs soziale Schichten einzuteilen.60 Die erste ist die des Adels und der Regenten, obwohl innerhalb dieser Elite das Adelige noch stets für einen wichtigen Standesunterschied gehalten wurde. Darauf folgt eine zweite Gruppe von Großkaufleuten und Unternehmern, hohen Beamten und hohen Militärs. Darunter liegt die numerisch viel größere Gruppe von Leuten mit universitärer Ausbildung wie Hochschullehrer, Arzt, Advokat und die Mittelschicht der Beamtenschaft. Unterhalb dieser folgt die vierte Gruppe der selbständigen Handwerker, Geschäftsinhaber, Schulmeister, und auf dem Land die Bauern. Die fünfte Gruppe wird von den im festen Dienst stehenden Knechten gebildet sowie von Soldaten und Matrosen. Die sechste und letzte Gruppe setzt sich aus Hilfsarbeitern zusammen und Leuten, die eine Unterstützung genossen. Wie aus der beiliegenden graphischen Darstellung zu ersehen ist (siehe Abb. 5 Seite 57), gehören die meisten Autoren zum Die

Mittelstand und

zu

höheren Schichten der Gesellschaft. Wohl sehen wir im Laufe der Zeit

59 Koninklijke Bibliotheek 71 H 5 (494 60 Willem Frijhoff, ,Non satis dignitatis

p.) ,Le voyage de Rome par l'Allemagne faite l'an

1674'.

Over de maatschappelijke status van geneeskundigen tijdens de Republiek', Tijdschrift voor Geschiedenis 96 (1983), p. 379-407, p. 390. Das Modell stammt von: G.J. Renier, De Noordnederlandse natie (Utrecht 1948); Siehe auch: D. J. Roorda, Parti; en factie. De oproeren van 1672 in de steden van Holland en Zeeland, een krachtmeting tussen partijen en facties (2e dr., Groningen 1978), p. 37-59; G. Groenhuis, De predikanten. De sociale positie van de gereformeerdepredikanten in de Republiek der Verenigde Nederlanden voor +/- 1700 (Groningen 1977). ...

Ego-Dokumente

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1 7. Jahrhundert

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Entwicklung, nämlich eine Zunahme der Anzahl von Autoren aus den niedrigeren Ständen. Nur die unterste Gesellschaftsschicht hat keinen einzigen Autor aufzuweisen. Innerhalb der Elite ist das Oranje-Haus gut vertreten. So gibt es die Memoiren, die Johan Lodewijk van Nassau (1590-1653) für seine Kinder schrieb61, und die Memoiren des eine

Statthalters Fredereik Hendrik (1584-1647), die 1733 im Druck erschienen62, sowie die Memoiren von Prinzessin Wühelmine von Preußen (1751-1820)63. Auffallend viele Militärs, sowohl zu Land als zur See, vorwiegend aus den höheren Rängen, haben ihre Erlebnisse beschrieben. Eine bemerkenswerte Autobiographie eines einfachen Soldaten ist die Lebensgeschichte der bereits genannten Maria van Antwerpen. Viel wurde vor allem von Leuten geschrieben, die auch berufsmäßig die Feder führten: Pfarrer, Hochschullehrer, Juristen, Menschen mit universitärer Ausbildung, aber auch einfache Schulmeister. Die anspruchsloseren Autoren gehören oft zu den interessantesten. Unter ihnen gibt es Handwerksleute, zum Beispiel einen Zimmermann, einen Schnürleibmacher, einen Kürschner, einen Wagenmacher und einen Schiffszimmermann. Es gibt Geschäftsinhaber sowie einen Apotheker, einen Spezereienhändler, einen Buchhändler. Es gibt Fischer und Bauern. Und aus der beinahe niedrigsten Schicht gibt es einen Hausierer und ein Dienstmädchen. Beim Bestimmen des sozialen Standes der Autoren haben wir vor allem auf Reichtum, öffentliche Ämter und Beruf geachtet. Ziemlich viele der Autoren haben im Laufe ihres Lebens ihre Position verbessert; es gibt unter ihnen relativ viele, die auf der sozialen Leiter emporgekommen waren, zum Beispiel auf dem Wege eines Universitätsstudiums. Ein frühes Beispiel ist Sigle van Aytta van Zwichem, bekannter unter dem Namen Viglius (1507-1577). Die intellektuellen Gaben dieses Friesischen Bauernsohns fielen bereits auf, als er beim Hüten der Kühe Bücher las. Er ging studieren und brachte es bis zum Hochschullehrer in Padua. Später wurde er unter anderem Vorsitzender des Staatsrates unter König Philipp II.64. Ein anderes Beispiel ist der Pfarrer Paschier de Fijne (1588-1667), Sohn eines einfachen Tuchmachers, der aus den südlichen Niederlanden geflohen war. In seiner Autobiographie beschreibt er, wie er im Alter von sechs Jahren seinem Vater bei der Arbeit helfen mußte. Auch er fiel durch seinen Lerneifer auf und konnte dank der Hilfe besserbemittelter Flüchtlinge studieren65. Ein Vorbild aus späterer Zeit ist Willem van den Hull (1778-1858), der Sohn eines Postboten aus Haarlem, der es bis zum Leiter eines ansehnlichen Pensionates brachte, und dessen lange Autobiographie davon zeugt, wie sehr sein Bück auf soziale Positionen ausgerichtet war66.

61 Koninklijk Huisarchief, Archief Nassau-Siegen en Nassau-Hadamar (A 4) no. 1618: .Entwurf den 14/24 Januarii. Spezialer Beschreibung grave Johann Ludwigs zu Nassau, Katzenelenbogen, Vianden und Dietz, herre zu Beilstein. Lebenverrichtunge zeiner Kindern zu Nachrichtung'. 62 Koninklijk Huisarchief, Archief Frederik Hendrik (A 14) XID 2.; in Druck: Mémoires de Frédéric Henri, Prince d'Orange, depuis 1621 jusqu'à 1646 (Amsterdam 1738). 63 C.B. Volz, ed., Die Erinnnerungen der Prinzessin Wilhelmine von Oranien an den Hof Friedrichs des

Grosen

(1751-1767) (Berlin 1903). ,Vita Viglii ab Aytta Zuichemi ab ipso Viglio scripta', in Analecta Bélgica, C. P. Hoynck van Papendrecht ed., (Den Haag 1743) I, 1, 3-54. 65 ,Het leeven en eenige bysondere voorvallen ...', in P. de Fyne, Eenige tractaetjes (Amsterdam 1721) p. 1-108. 66 Willem van den Hull, Autobiografte, Ausgabe in Vorbereitung von R. Padmos und B. Sliggers 64

(Hilversum: Verloren).

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48

Frauen haben

nur einen geringen Anteil, höchstens 10 °/o. Doch finden wir bei ihnen wohl einige der interessantesten Texte, zum Beispiel die Autobiographie von Elisabeth Strouven (1600-1661), Tochter eines Schuhmachers in Maastricht, die eine Gemeinschaft von religiösen Frauen gründete und unter anderem Pestkranke pflegte67. Außergewöhnlich ist auch das bereits genannte Tagebuch, das erste echte ,journal intime' in den Niederlanden, das Magdalena van Schinne Ende des achtzehnten Jahrhunderts führte68. Besondere Erwähnung verdienen schließlich die Kindertagebücher. Wir kennen ein Dutzend von Kindern unter elf Jahren. Solche, von Kindern geführten Tagebücher sind selten und informieren uns auf spezielle Weise über Erziehung und Unterricht. Am ausführlichsten ist

das

von

Otto

van

Eck

Lebensjahr ungefähr

(1780-1798), der

1600

(kleine)

von seinem elften bis Seiten vollschrieb69.

zu

seinem sechzehnten

Motive Warum wollte man schreiben? Das ist eine der Fragen, die sich viele Autoren über diese Art von Quellen gestellt haben. Wir können zwischen den Motiven unterscheiden, deren sich der Autor bewußt war, und den tiefer liegenden, oft unbewußten. Das Schreiben kann einem inneren Drang entspringen. Cornelius Vollenhoven (1778-1849), Advokat und später Beamter, begann seine Autobiographie mit den Worten: „Hin und wieder wandelt mich die Lust an, eine Selbstbiographie zu schreiben, obwohl ich eigentlich nicht weiß, wozu dies dienen soll"70. Er kam nicht weiter als bis zu Seite neun. Pieter Harting (1812-1885) legte im Vorwort zu seiner Autobiographie, datiert mit Juli 1873, Zweck und Motive dar. Er schreibe

für seine Kinder und Enkel, aber auch aus „einem von mir selbst gefühlten Bedürfnis, einen Rückblick auf meinen eigenen Lebensweg zu schlagen" und „meinem eigenen Entwicklungsgang nachzuspüren"71. Einblick in sich selbst als ausdrücklich genanntes Motiv finden wir nur in Ego-Dokumenten aus dieser späteren Zeit. Oft ist es eine persönliche Krise, die Menschen zum Schreiben veranlaßt. Dies gilt für viele „persönliche Aufzeichnungen", die von Inzidenzfällen handeln, wie etwa Streitereien, Todesfällen, mitunter der Bericht von einer fmpfung im 18. Jahrhundert eine außergewöhnliche und riskante Angelegenheit oder etwas derartiges. Auch auswärtige Ereignisse dienten oft als Anlaß zum Führen eines Tagebuchs; wir erwähnten bereits als hervorstechende Zeiten -

-

67 Elizabeth Strouven (1600-1661), Autobiografie. Ausgabe in Vorbereitung von F. W. J. Koorn (Hilversum: Verloren). Siehe auch: Florence Koorn, ,Elizabeth Strouven', in: Guilia Calvi, ed., Barocco alfemminile (Rome/Bari: Laterza, 1992), p. 127-153. 68 Journal de Magdalena van Schinne (1786-1805) (ed. Rudolf Dekker und Anje Dik) (Parijs: Cotéfemmes, 1994). Übers, in Holländisch. (Hilversum: Verloren, 1990). 69 RA Gelderland, FA Van Eck 82 (ca. 1560 p.). Arianne Baggerman, ,Lezen tot de laatste snik. Otto van Eck en zijn dagelijkse literatuur (1780-1798)', in Jaarboek voor Nederlandse Boekgeschiedenis 1 (1994) p. 57-89. Auch: Rudolf Dekker, ,Uit de schaduw in 't grate licht'. Kinderen in egodocumenten van de Gouden Eeuw tot de Romantiek (Amsterdam: Wereldbibliotheek, 1995). Ausgabe in Vorbereitung von Arianne Baggerman und Rudolf Dekker. 70 ARA II, coll. Vollenhoven 83. 71 Pieter Harting, Mijne herinneringen.

maatschppij, 1961).

Autobiografie (Amsterdam: Noord-Hollandsche Uitgevers-

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hierfür politische Krisenjahre. Hendrik Fagel de Jonge (1765-1838), Gerichtsschreiber der Generalstaaten, führte in der bewegten Periode 1785-1795 ein Tagebuch, denn, so schreibt er, „Die Geschichte dieser Zeiten ist so bemerkenswert und interessant, daß ich mir vorgenommen habe, wenn es nur irgendwie möglich ist, keinen Tag vorbeigehen zu lassen, ohne etwas von dem aufzuzeichnen, was ich höre und sehe"72. Jedenfalls geht es oft darum, etwas festzulegen, um es nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So wurden gewöhnlich Reisetagebücher geschrieben, um später Erinnerungen an das Erlebte zu bewahren. Der Rotterdamer Maler Gerard van Nijmegen notierte zu Beginn seines Berichtes über eine Reise nach Deutschland folgendes: „Ich schreibe für mich selbst und für meine werte Ehe- und Reisegenossin, um, wenn wir alt geworden sein werden und zusammen nur noch in den Himmel reisen können, um dann in einer Ofenecke, in unserem Lehnstuhl, in Zwischenpausen geplagt von Husten, Gicht, rheumatischen Schmerzen oder von allen zugleich dann noch einmal lesen zu können oder lesen zu hören, was wir auf unseren Reisen gesehen, gehört und gemacht haben, und deshalb will ich sogar von unbedeutenden Kleinigkeiten berichten"73. Jugendliche Reisende, die eine „grand tour" machten, schrieben ihren Bericht vermutlich oft für ihre Eltern, die die Reise schließlich bezahlt hatten. Viele brachten ihre Erinnerungen nur zu Papier, um ihr eigenes Gedächtnis aufzufrischen. Als Coenraet Droste um 1720 beschloß, seine Memoiren aufzuzeichnen, gab er als Grund an, „damit so etwas nicht aus meinem Gedächtnis verschwinden möge". Der Hochschullehrer G. W. Vreede (1809-1880) begann seine Autobiographie folgendermaßen: „Seit einigen Wochen ohne Amt und als Folge sowohl einer ernsten Krankheit als von Gebrechen, die mit meinem fortgeschrittenen Alter zusammenhängen, nicht selten müde und matt, will ich trachten, meinen Geist wach zu halten, indem ich das Andenken an das auffrische, was mir von meiner Jugend an bis heute widerfahren ist"74. Viele Ego-Dokumente wurden für die eigenen Nachkommen geschrieben. Sie stellten das Band für zwei Generationen dar. Besonders Autobiographien und, in geringerem Maße, Tagebücher wurden von Eltern für ihre Kinder geführt. Das gilt vielleicht für ungefähr die Hälfte der hier angeführten Texte. In vielen Fällen scheint implizite, daß die Nachkommen das beabsichtigte Leserpublikum sind. Aber andere Autoren haben es explizite genannt. Der Pfarrer Gerardus Schepens (1556-1609) schrieb seine Autobiographie 1609, drei Wochen vor seinem Tod, „damit meine lieben Kinder wissen sollen, wieviel Gnade mir der Herr bewiesen hat"75. Ein anderer Pfarrer, Willem Baudartius (1565-1640), beschrieb sein Leben in der Hoffnung, daß dies seinem Sohn „in irgendeiner Weise zum Vorteil gereichen könne"76. Der Schulmeister und Dichter David Beck aus Den Haag führte 1624 ein Tagebuch, „zu bewahren als ein süßes Andenken für meine lieben Kinder"77. Der Militär Caspar Christiaan van der Leithen (1720-1798) nannte ...

72 ARA I, FA Fagel 263. 73 Atlas van Stolk, Rotterdam.

74 George Willem Vreede, Levensschets van G. W. Vreede. Naar zijn eigen hs. uitgegeven door A. C. Vreede (Leiden 1883), p. 1. 75 GA Dordrecht, coll. Balen 20. 76 P. C. Molhuisen, ed., ,Leven van Willem Baudaert door hemzelven beschreven', Kronijk van het Historisch Genootschap 5 (1849) p. 225-249. 77 David Beck, Spiegel van mijn leven. Een Haags dagboek uit 1624 ed. Sv. E. Veldhuijzen (Hilversum:

Verloren, 1993).

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seine Autobiographie eine „Ansprache an meine sehr geliebten Kinder"78. Joachim Ferdinand de Beaufort (1719-1807), Rat des Prinzen von Oranje, verfaßte seine Autobiographie 1779 nach dem Tode seiner Frau für seine Kinder und vor allem, um ihnen ein Bild der verschiedenen Mutter im Gedächtnis zu erhalten79. Ebenso rührend ist der Beginn der Autobiographie dem Rektor G. lateinischen Bretone de der Schule zu Venlo. Diese war für vonj. J. (1711-?), seine drei Kinder bestimmt, und namentlich auch für seinen Sohn Johannes, „welch letzterem der Allmächtige Gott seinen Verstand wiedergeben möge, der nach der Kinderkrankheit verlorengegangen ist, und ihm hierdurch gnädig vergönnen möge, diese Aufzeichnungen mit Verständnis lesen zu dürfen"80. Der Fischer Maarten Baak (1779-1847) begann seine Autobiographie mit einer etwas allgemeineren Einleitung: „Mein teures Kind! Geliebte Gattin Oder wer auch immer dieses Schriftstück in die Hände bekommen sollte"81. Der Käsehändler Jan Pet (1799-1862) schrieb gleichfalls für die Kinder; seine Autobiographie war eine Entschädigung für die Tatsache, daß er ihnen in materieller Hinsicht nur wenig hinterlassen konnte82. Daniel Jacob Rudolph Jordens (1775-1860) schrieb seine Autobiographie 1839. Anlaß hierfür war die Abreise seines Sohnes nach Indien. Die Überschrift lautete: „Aufzeichnungen für meine Kinder", und er begann mit der folgenden Erklärung, „daß die Ideen Bejahrter für junge Leute oft nützlich sein können, und wäre es auch nur, um sie mit der wesentlichen Seelenbeschaffenheit verstorbener Nahestehender bekannt zu machen"83. Der Politiker Ocker Repelaer (1759-1832), der 1798 wegen kontrarevolutionärer Aktivitäten arrestiert wurde, fürchtete zum Tod verurteilt zu werden und schrieb eine Autobiographie sozusagen als Abschied von seinen Angehörigen. Er führte auch ein Gefängnistagebuch, und dient hiermit als Beispiel für den Zusammenhang zwischen dem Aufkommen von Gefängnissen und dem Schreiben von Ego-Dokumenten es gibt namlich mehrere Vorbilder für in der Gefangenschaft entstandene Texte84. Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Aufkommen des Gefängnisses und dem Aufkommen des Ego-Dokuments85. Einwanderer hatten oft besondere Gründe, um ihre eigene Geschichte ihren Kindern zu überliefern. Dies gilt zum Beispiel für einige jüdische Schriftsteller und für französische Hugenotten. Oft ging es auch darum, bei ihren Kindern darauf zu dringen, an ihrem Glauben festzuhalten. Damit zu vergleichen ist der deutsche Einwanderer E. H. Krelage, der, im frühen neunzehnten Jahrhundert, für seinen Sohn Heinrich eine Autobiographie auf deutsch schrieb, „daß derselbe wissen soll, wo seins Vaters Stammhaus und sein Stamm herkommen"86. Ende des achtzehnten Jahrhunderts hielt ein modernes Phänomen seinen Einzug, die Autobiographie als Quelle geldlichen Gewinns. Die Brotschriftsteller F. L. Kersteman, Gerrit -

78 79 80 81 82 83 84 85

RA RA

Gelderland, HA De Cloese 237. Utrecht, FA De Beaufort 330.

Königliche Bibliothek 129 F 7. GA Den Haag, Ov.Verz. H s. 53. Archiefdienst Westfriese Gemeenten, Hoorn. G A Deventer, FA Jordens 163. ARA FA Repelaer 117 und 120. Rudolf Dekker, ,Gevangeniservaringen in Nederlandse egodocumenten uit de 17e en 18e eeuw', in C. Fijnaut P. Spierenburg, ed., Scherp toezicht. Van Boeventucht tot Samenleving en Criminaliteit (Arnhem: Gouda Quint, 1990), p. -

86 Gemeente Archief Haarlem.

145-165.

Ausgabe in Vorbereitung von Jochen Geyer.

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Paape und Jakob Haafner publizierten nebst vielen anderen erfolgreichen Werken auch ihre Autobiographie87. Der pensionierte Schulmeister Lieuwes van Albada (1793-1876) schrieb seine Erinnerungen auch, um damit etwas zu verdienen. Er gab, nicht ohne Ironie, zu: „Ich will Brotschriftsteller werden und der Bemängel- und Kritisiersucht gestrenger Rezensenten Widerstand bieten". Seine Lebensgeschichte erschien zuerst in Form einer Reihe von Artikeln und wurde danach gesondert publiziert. Der Herausgeber pries das Werk an „als Leckerbis-

sen beim Frühstück und beim Teetisch"88. Und C. J. Inkrott (1792-1862), pensionierter Rektor des Gymnasiums zu Veendam, ließ, noch bevor er seine Erinnerungen niederschrieb, seine Käufer auf das Buch, das noch erscheinen mußte, subskribieren. Er wollte erst mit dem Schreiben beginnen, „bis er mit dem geachteten Publikum, für das er schreiben wollte, Bekanntschaft gemacht habe". Als er die Liste der Subskribenten zu Gesicht bekam, faßte er den Entschluß, von seiner „Lebensgeschichte" keine „einfache Erzählung" zu machen, sondern sich einige literarische und philosophische Abschweifungen zu gestatten89. Ob das seine Memoiren interessanter gemacht hat, kann bezweifelt werden, aber er konnte es ruhigen Herzens tun, da sich unter den Subskribenten eine Reihe von Hochschullehrern, Bürgermeistern und Pastoren befanden. Viele Ego-Dokumente wurden demnach für andere geschrieben. Das ausschließlich für sich selbst bestimmte introspektive Ego-Dokument war eigentlich eine Ausnahme, vermutlich wurde dieses erst Ende des achtzehnten Jahrhundertes einigermaßen verbreitet. Schriftsteller, die ausdrücklich erwähnen, daß der Text nur für sie selbst bestimmt ist, sind eine Ausnahme. Es gibt Ausnahmefälle wie das bereits genannte Tagebuch der Magdalena van Schinne. Daneben gibt es das des Alexander van Goltstein (1784-1813). Dieser war ein junger Mann aus einer Gelderschen Adelsfamilie, der ein Tagebuch begann, als er siebzehn Jahre alt war. Es beschreibt die Zeit von 1801 bis 1808. Der junge Adlige dachte wiederholt über seine Beweggründe nach, um ein Tagebuch zu führen, oder, wie er es nannte, „mit der Feder zu denken". Er nennt rationelle Motive wie Gedächtnisstütze oder Stilübung, doch der erste Anlaß war eine mehr gefühlsmäßige Erwägung, wie aus dem ersten Satz hervorgeht, in dem er von dem Vorhaben spricht, „ein Tagebuch von meinem Herzen zu machen". Der bereits genannte Lavater war anfangs eine Queüe der Inspiration. Alexander las sein Tagebuch regelmäßig aufs neue, aber das stimmte ihn selten fröhlich: „Ach! Wann werde ich doch einigen Fortschritt bemerken? Während ich dies schreibe, schlage ich die vorherige Seite auf und finde denselben Ausruf". Zwei Jahre später war sein Urteil positiver: „Gestern abend unterhielt ich mich damit, etwas in meinem Tagebuch nachzulesen Dieses Nachlesen in meinem Tagebuch machte mir viel Vergnügen und bestärkte mich, es fortzusetzen". Alexander gebrauchte sein Tagebuch also tatsächlich, um seiner eigenen geistigen Entwick...

...

87 Franciscus Lievens Kersteman (1728- na 1792), Het leven van F. L. Kersteman 2 dln. (Amsterdam 1792). Siehe auch A. H. Huussen, ,Het leven van F. L. Kersteman (1792) een autobiografie', in Feit en fictie in misdaadliteratuur (Amsterdam 1985) p. 57-69; Jacob Godfried Haafner (1755-1809), C. M. Haafner, ed., Lotgevallen en vroegere zeereizen (Amsterdam 1820); Gerrit Paape (1752-1798?), Mijne vrolijke wijsgeerte in mijne ballingschap (Dordrecht 1792). Ausgabe in Vorbereitung von P. Altena. 88 Bruno Lieuwes van Albada, Uit de oude en nieuwe doos. Herinneringen uit den school en het leven van een 80-jarige oud-hoofdonderwijzer. Ernst en luim (Groningen 1875) (Sammlung von Aufsätze aus 't -

Scboolblad).

89 Clemens

Joseph Maria Inkrott, Herinneringen uit het leven van eenen kandidaat in de letteren

(Wildervank 1858).

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lung nachzugehen. Im Laufe der Zeit erhielt das Tagebuch einen eher reflektiven Charakter. Ja es wurde ein echtes „journal intime", dessen sich Alexander auch bewußt war. Er konstatierte: „Mein Tagebuch ist derzeit der Vertraute meines Herzens"90. Schlußfolgerung Obwohl niederländische Historiker Ego-Dokumente als Quellenmaterial ablehnen, und obwohl man allgemein der Meinung war, daß Niederländer kaum offenherzig über sich selbst geschrieben haben, brachte eine Bestandsaufnahme über die Periode bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts überraschend viel Material zutage. Auf Grund einer genaueren Analyse dieses Materials ist es möglich, die großen Linien der Entwicklung dieses Genres in den Niederlanden aufzuzeigen. Einzelne Texte können große Bedeutung für die Sozial- und Mentalitätsgeschichte haben, während andere Texte auch literaturhistorischen Wert besitzen. Ego-Dokumente bleiben aber als Folge ihrer Vielförmigkeit und ihres persönlichen Charakters ein eigenständiger Quellentypus, mit dem sich off schwer arbeiten läßt. Und nicht alle Schriftsteller sind so mitteilungsbegierig, wie man erwarten würde. Diesbezüglich ist die deutlichste Feststellung von dem großen Dichter Willem Bilderdijk (1756-1831) gemacht worden, der seine kurze Autobiographie mit den unvergeßlichen Worten beginnt: „Das Leben war für mich, so lange ich mich erinnern kann, schmerzlich, unangenehm und leer. Ich habe schon früh getrachtet, die meisten Einzelheiten zu vergessen, und dies ist mir auch größtenteils, obwohl in geringerem Maße, als ich wünschte, gelungen"91.

90 J. Limonard, ed., De vertrouwde van mijn hart. Het dagboek van Alexander van Goltstein (18011808) (Hilversum: Verloren, 1994). 91 Willem Bilderdijk, H. W. Tydeman, ed., Geschiedenis der Vaderlands, door Mr. W. Bilderdijk, XI, (Amsterdam 1837) p. 165-195 en XIII (Amsterdam 1853) p. 29-31.

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