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German Pages 286 [288] Year 2005
Paula Diehl Macht - Mythos - Utopie Die Körperbilder der SS-Männer
POLITISCHE IDEEN
B a n d 17
Herausgegeben von Herfried Münkler
Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.
Paula Diehl
Macht - Mythos - Utopie Die Körperbilder der S S - M ä n n e r
Akademie Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Axel Springer Stiftung, Berlin, und Fondation pour la Memoire de la Shoah
der Fondation pour la Memoire de la Shoah, Paris.
ISBN 3-05-004076-9
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2005 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Veit Friemert, Berlin Druck: MB Medienhaus, Berlin Bindung: L & B, Berlin Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Für Harry
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
13
1. Einleitung 1.1. Die Körperbilder der SS-Männer - eine Annäherung 1.2. Medien, Politik und Körperbilder
17 17 19
1.3. Die nationalsozialistische Utopie des „Neuen Menschen" 1.4. Der „arische" Körper: Mythos und Bindung an die NS-Macht
. . . .
1.5. Der „Arier" nach der „Machtergreifung" und die Körperbilder der SS-Männer 1.6. Theoretische Konzepte 1.6.1. Das soziale Imaginäre 1.6.2. Mythos und Recycling 1.6.3. Bildkonstruktion und Bilddecodierung 1.7. Ein schwieriger Gegenstand 1.8. Materialgrundlage 1.9. Aufbau der Arbeit
21 22 24 26 26 28 30 32 35 37
Teil I: Prologe 2. Prolog 1: Die Suche nach dem „Neuen Menschen" 2.1. 2.2. 2.3. 2.4.
Krisen und Utopien „Degeneration" und „Auslese" Der Raum der „Degeneration" Die Lebensreform- und Jugendbewegung
2.5. Der reformierte Körper und sein Recycling im Nationalsozialismus. Eine Annäherung an die Körperkonzeption des „Neuen Menschen" . . 2.6. Die Ikonographie des „Neuen Menschen" und der nackte Körper . . . 2.7. Die Siedlungsbewegung und die rassisch-eugenischen Projekte . . . 2.8. Der Bund der Artamanen und sein Einfluss auf die SS 2.9. Zusammenfassung und Ausblick
41 41 43 46 47 49 51 56 58 60
8
INHALTSVERZEICHNIS
3. Prolog II: Kriegserfahrungen und Körperbilder 3.1. Kriegserfahrung, Körperbilder und kollektives Gedächtnis 3.2. Körper und Uniformen 3.2.1. Leitbilder des Kaiserreiches 3.2.2. Der moderne Krieg verlangt funktionale Uniformen 3.3. Krieg und Erneuerung 3.3.1. Die Erneuerungskraft des Krieges und die Bedeutung des Weltgerichts 3.3.2. Eugeniker und Militaristen 3.3.3. „Neuer Mann", „Neuer Mensch" und „nationale Erneuerung" 3.4. Kriegserfahrungen und Kontingenz 3.4.1. Der moderne Krieg 3.4.2. Körperliche Unversehrtheit und Kontingenz 3.5. Kriegssinn und Kriegsdeutung 3.5.1. Der Mythos des Kriegserlebnisses 3.5.2. Tod und Held 3.6. Kontingente Körper: Die Rückkehr der Verstümmelten 3.7. Zusammenfassung und Ausblick
62 62 64 64 65 66 66 66 67 68 68 70 72 72 73 74 76
Teil II: Mythos 4. Entstehung: Von der Machtübernahme zur „Machtergreifung" 4.1. Die „Eroberung" der Macht 4.2. Szenische Raumbesetzung 4.3. Übergangsritus 4.4. Das Brandenburger Tor 4.5. Historische Orte 4.6. Feuer als symbolisches Element 4.7. Das „Dritte Reich" 4.8. Die Zwischenwelt 4.9. Die Geometrie: Ordnung und Ästhetik 4.10. Zusammenfassung und Ausblick 5. Fixierung: Die Konstruktion des NS-„Ariers" 5.1. 5.2. 5.3. 5.4.
Ursprungsmythos Mythosrecycling als Identitätsgestalt Die Lichthelden Der populäre Rassentheoretiker Chamberlain
80 80 82 83 84 85 85 88 91 93 94 96 96 97 98 103
INHALTSVERZEICHNIS
9
5.5. Hans F. Κ. Günther und die Visualisierug der „nordischen Rassen"
105
5.6. Der nationalsozialistische „Arier" und der Ursprung seiner Körperbilder
112
5.7. Zucht als Rettung
114
5.8. Recycling und Bildgestaltung in der NS-Propaganda
115
5.9. Fremd-und Feindbilder
117
5.10.NS-Feindbilder und „Entartung"
119
5.11. Der „Arier" und die Kunst
123
5.12. „Schrumpfgermanen" und Bildersuperposition
124
5.13. Zusammenfassung
129
6. Verbreitung: Inszenierte Realität und filmische Verbreitung
130
6.1. Okkupierung des sozialen Imaginären: Verbreitungsstrategien
130
6.2. Mediale Bilder und Wirklichkeit
130
6.3. Triumph des Willens·. NS-Propaganda und Etablierung des Mythos nach 1933
132
6.4. Schwierige Bilder
135
6.5. Feindbilder
137
6.5.1. Anderssein im fremden Körper: Das Bild des „Erbkranken" am Beispiel des Films Opfer der Vergangenheit
137
6.5.2. Der gefährliche Körper des „Ewigen Juden"
142
6.5.3. Der Typus des getarnten Juden im Spielfilm JudSüß
144
6.6. Der vollendete „Arier" in Riefenstahls „Olympia"
146
6.7. Im Mythos gefangen oder die Angst, dem Ideal nicht gerecht zu werden
148
6.8. Zusammenfassung
149
Teil III: SS-Körperbilder und Machtrepräsentation 7. Die Entstehung des SS-Mythos und das Konkurrenzbild zur SA
.
.
.
.
151
7.1. Erste Schwierigkeiten
151
7.2. SA und SS: zwei Bildkonstruktionen
153
7.3. Himmler und das SS-Elitebewusstsein
159
7.4. „Auslesekörper"
160
7.5. ,Adelshaltung"
162
7.6. Zusammenfassung
164
10
INHALTSVERZEICHNIS
8. Uniformen I: Körpercodierung und politische Repräsentation
166
8.1. Uniformen und Homogenisierung
166
8.2. Politisch-soziale Funktionen der Uniformen
167
8.2.1. Nationalsozialistische Uniformen und die politische Codierung des Körpers
167
8.2.2. SS-Uniformen, Macht-und Gewaltrepräsentation
168
8.2.3. Hierarchische Unterschiede
170
8.2.4. Machtvisualisierung
172
8.3. Körper und Uniformen
173
8.3.1. Uniformen und Anpassung des Körpers
173
8.3.2. Körperwahrnehmung und sozialer Sinn
174
8.3.3. SS-Uniformen, Identifizierung und politische Repräsentation
.
.
.
8.3.4. SS-Uniform und „arisches" Körperbild
176 178
8.4. Zusammenfassung und Ausblick
180
9. Uniformen II: Macht-und Todessymbolik der SS
181
9.1. Entwicklung und Symbolrecycling
181
9.2. Vielfalt der SS-Uniformen
182
9.3. Kleine Missstände
185
9.4. Macht-und Todessymbole der SS
186
9.4.1. Schwarze Mehrdeutigkeit
186
9.4.2. Schwarze Farbe und Inszenierung
188
9.4.3. Der Totenkopf 9.4.4. Der Totenkopf und seine Verwendung in der SS-Ideologie
191 .
.
.
.
193
9.4.5. Lederstiefel
195
9.4.6. Stahlhelm
197
9.5. Propagandistische Verwendung der SS-Uniformen am Beispiel von Riefenstahls Filmaufnahmen
198
9.6. Zusammenfassung
199
10. SS-Männerkörper und die Bilder der Macht
200
10.1. SS-Körperbilder
200
10.2. Macht und Visualisierung
202
10.2.1. Filmischer Körper und theatralischer Körper
202
10.2.2. Kontrolle, Inszenierung und das Verhältnis zwischen Sehen und Gesehenwerden
204
10.2.3. Visuelle Wahrnehmung und Macht: Versuch einer Kategorisierung
206
INHALTSVERZEICHNIS
11
10.2.4. Machtinszenierung, politisches Ritual und symbolische Politik im Nationalsozialismus
207
10.2.5. SS-Männerkörper und die symbolische Markierung des Raumes 10.3. Bilder der Machtinszenierung: „Leibstandarte-SS Adolf Hitler"
.
.
.
209
.
.
211
10.3.1. Die repräsentative Funktion der LSSAH
211
10.3.2. Disziplin, körperliche Präsenz und Machtinszenierung
212
10.4. Demonstrative Kontrolle: „Allgemeine SS" und SS als Hilfspolizei
.
.
10.5. Implizite Überwachung: Gestapo und SD
220 222
10.5.1. Gestapo-Mythos, SD-Präsenz, Vorstellung und Überwachung
.
.
.
222
10.5.2. Ikonographisches Vakuum
224
10.5.3. Vernetzung ohne Überblick
228
10.5.4. Macht und Sonderrechte
230
10.6. SS-Männer als Machtdarstellung und Visualisierung der „Arier"-Utopie
232
10.7. Zusammenfassung
323
11. Schlusswort
235
11.1. Körperbilder und ihre Wirkung
235
11.2. Reflexionsebenen der Studie
237
11.3. Was ist der „Arier"? Mythoskonstruktion und Visualisierung
. . . .
239
11.4. Körperpolitik, Körperbilder und Macht
244
11.5. Der vollkommene Körper des „Neuen Menschen", eine alte Geschichte
248
Bibliographie und andere Quellennachweise
250
Personenverzeichnis
282
Vorwort
Bildarchäologisch muss man vorgehen, will man die politische Entwicklung des sozialen Imaginären im Nationalsozialismus erforschen. Man muss sammeln, Bilder sammeln. Und dabei wissen, dass bei jedem Akt des Grabens sich auch die Ebene des Forschers verschiebt. Der Forscher braucht Strategien der Zurücknahme. Bilder sind trügerisch, weil sie nicht eindeutig sind. Sie sind polysemisch, assoziativ und lassen sich aneignen. Sie mischen sich mit der eigenen Erinnerung, verändern die aktuelle Wahrnehmung und widerstehen kaum beliebigen Gedächtnisrekonstruktionen. Für die Politikwissenschaft ist die Arbeit mit Bildern eine heikle und subtile. Sie verlangt, dass man seine eigene Wahrnehmung und seine eigenen Selbstverständlichkeiten hinterfragt und dabei das soziale Imaginäre, in dem man lebt, wegrückt ohne den Boden unter den Füssen zu verlieren. Wie kann man aus Bildern einen Gegenstand der politikwissenschaftlichen Analyse machen, wenn sie sich der Fixierung widersetzen? Politische Bilder, besser gesagt, Bilder des politischen Diskurses entstehen im sozialen Imaginären und wirken auf das soziale Imaginäre. Sie werden von politischen Zeichenproduzenten mit bestimmten Intentionen verwendet und verbreitet, aber oft ist ihre Wirkung vielfältiger als die ursprüngliche Intention. Die Bilder tragen mehr als eine politische Botschaft, sie transportieren immer erwünschte und unerwünschte Elemente des sozialen Imaginären. Sie sind ambivalent und mehrdeutig. Durch ihre massenmediale Verbreitung gehen sie in den Prozess der Zirkulation ein, werden von Rezipienten angeeignet und können dabei verändert werden. All dies stellt für die politischen Akteure, die sich um die Kontrolle der Bildproduktion und -rezeption bemühen, sowohl ein Risiko als auch ein großes Anknüpfungs- und Mobilisationspotenzial ihrer Botschaften dar. Bilder lassen kollektive Wünsche, Sehnsüchte und Ängste durchscheinen. Und ihre Verwendung in der symbolischen Politik zeigt oft, wie ihr Potenzial an Gefühls- und Gedankenassoziationen für den Gewinn und den Erhalt von Macht eingesetzt werden kann. Politische Bilder zu analysieren heißt auch, ihre historisch-kulturelle Kontextualisierung zu erforschen und ihre Entstehungs-, Veränderungs- und Reproduktionsdynamiken offen zu legen. Die Analyse von politischen Bildern ist mehr als eine Bildanalyse. Sie ist vielmehr das Erforschen des politischen und sozialen Denkens, Vorstellens und Fühlens durch Bilder. Die Körperbilder der SS-Männer waren Bestandteile des sozialen Imaginären während des Nationalsozialismus, aber sie sind in unterschiedlichen Tradierungen in unser heutiges kollektives Gedächtnis eingegangen und gehören somit zum aktuellen Imaginären. Und sie entstanden nicht erst 1933. Ihre Entwicklungslinien reichen ins 19. Jahr-
14
VORWORT
hundert zurück: Sie sind in den Rassentheorien, in der Eugenik, in der künstlerischen Produktion und in den soziokulturellen Bewegungen der Jahrhundertwende zu finden und verarbeiten antike, mittelalterliche und christliche Topoi, die angesichts der Moderne in neuen Formen des sozialen Imaginären erscheinen und von der NS-Ideologie reinterpretiert wurden. Die hier analysierten Bilder sind Produkte der NS-Propaganda mit bestimmten politischen Intentionen, Selbstverständnissen und Weltbildern. Sie sind an politische Projekte, kollektive Phantasien und soziale Utopien gekoppelt und dienen als deren Visualisierung. Dass es sich um Körperbilder handelt, ist kein Zufall. Körperbilder eignen sich besonders zur Vermittlung politischer Botschaften, weil sie den Vorteil haben, einen Indentifizierungsmechanismus in Gang setzen zu können. Die Körperbilder der SS-Männer sind Vorbilder, Idealbilder, Utopie- und Machtbilder zugleich. Sie widersprechen, oder besser gesagt, sie „korrigieren" oft die Realität der SS-Männerkörper und des Nationalsozialismus, indem sie eine Visualisierungsfolie für die „Arier"-Utopie und für die Wahrnehmung der SS-Männer liefern. Dies konnte nicht ohne den Kontrast zu den „hässlichen" und beschädigten Körpern der „Minderwertigen" geschehen. Wie die NS-Propaganda das Problem der „mangelhaften" Realität angesichts ihres utopischen Entwurfs bildlich zu lösen versuchte, wie die Körperbilder der SS-Männer die NS-Macht darstellten, den „Arier-Mythos" visualisierten und die nationalsozialistische Utopie des „Neuen Menschen" verkörperten, ist das Hauptanliegen des folgenden Buches. Dafür wurde ein interdisziplinärer Zugang gewählt, der eine Brücke zwischen Politik- und Kulturwissenschaft herstellen soll. Die Körperbilder der SS-Männer sind zwar im Nationalsozialismus verortet und behalten dadurch ihre Spezifizität, doch ihre Untersuchung zeigt Mechanismen auf, die nicht nur auf die nationalsozialistische symbolische Politik beschränkt sind. Die Untersuchung beansprucht beides zugleich, das spezifisch Nationalsozialistische aufzudecken und allgemeine Techniken des politischen Diskurses für die Konstruktion, Produktion und Verbreitung von Körperbildern zu erkennen. Das vorliegende Buch ist die bearbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Jahr 2002 am Fachbereich für Politikwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin vorgelegt wurde. Der Weg bis zum vorliegenden Buch wurde von vielen Personen begleitet und unterstützt. Sie alle haben an das Projekt geglaubt und mich ermutigt. An erster Stelle möchte ich Herfried Münkler danken, der die Arbeit betreut und dieses Buch in die Reihe Politische Ideen aufgenommen hat. Die Gespräche und Kritiken waren eine Bereicherung für die Untersuchung und Anlaß zur Freude am Denken. Viel Zeit und Unterstützung bekam ich von meinem Zweitbetreuer Peter Becker, der unermüdlich und mit scharfer Genauigkeit meine Manuskripte immer wieder las und kommentierte. Gerhard Baader wurde zum dritten, inoffiziellen Betreuer und weckte mein Interesse an der Medizingeschichte. Mit Geduld und Offenheit setzte er sich mit meinen Gedanken auseinander und half mir, den Weg beizubehalten, der zu dem vorliegenden Buch führte. Auch Peter Steinbach sei gedankt, er nahm mich in seinem Kolloquium auf und bot mir die Gelegenheit, das Thema mit Politik- und Geschichtswissenschaftlern zu diskutieren. Johannes Tuchel sah meine Anfange auf historische Richtigkeit durch, widmete mir zahlreiche Gespräche und stellte mir sein Privatarchiv zur Verfügung. Moritz Foellmer, Armin Nolzen, Kiran Klaus Patel, Steffen Prauser und Sven Reichardt haben sich Zeit
VORWORT
15
für inhaltliche und sprachliche Korrekturen genommen. Claudia Schmölders danke ich für sinnvolle Kritiken, die beim Aufbau der Gliederung und der Lesbarkeit des Textes geholfen haben. Teresa Orozco hat Teile des Manuskripts kritisch gelesen. Ina Kerner, Robert Jungwirth und Britta Ohm danke ich fur Formulierungsvorschläge und sprachliche Verbesserungen. Stefanie Eue und Lydia Herweh erstellten das Personenregister. Stefanie Marggraf und Henning Küppers haben große Teile der Arbeit gelesen, meine Launen ausgehalten und mir freundschaftlich beigestanden. Gedankt sei auch Herrn Veit Friemert fur sein Engagement bei der Bearbeitung des Manuskripts. Schließlich wäre dieses Buch ohne institutionelle Unterstützung nicht möglich gewesen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung förderte das Projekt mit einem vierjährigen Stipendium in ihrem Ausländerprogramm. Das European University Institute in Florenz nahm mich für ein Jahr auf. Die Fondation Shoah in Paris und die Springer-Stiftung in Berlin stellten die Druckkostenzuschüsse zur Verfugung. Gedankt sei auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarchivs und Filmarchivs in Berlin, des Bayrischen Staatsarchivs in München, des Militärarchivs in Freiburg und Potsdam sowie der Stiftung Topographie des Terrors und des Hauses der Wannsee-Konferenz.
ιρ
Zeichnung. Wolf Willrich
Ho« 6ciit(d)c «ifidit Abb. 1: „Das deutsche Gesicht", Das Schwarze Korps, 9. Juni 1938.
„Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. [...] So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene andern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren." (Walter Benjamin: „Ausgraben und Erinnern")
„Jeder Gedanke, was immer er enthalten mag, was immer sein ,Gegenstand' sei, ist nur ein Modus und eine Form des gesellschaftlich-geschichtlichen Tuns. Als solches kann sich das Denken verkennen - und das geschieht meistens, sozusagen aus innerer Notwendigkeit. Aber auch wenn es sich als Tun erkennt, bleibt es doch, was es ist: eine Dimension des gesellschaftlich-geschichtlichen Tuns. [...] Strenge Theorie gibt es strenggenommen nicht einmal in der Mathematik; wie sollte sie dann in der Politik möglich sein? Und von besonderen Umständen abgesehen ist niemand wirklich Wortführer einer bestimmten sozialen Kategorie - und selbst wenn es wäre, müßte er noch beweisen, daß der Blickwinkel dieser Kategorie für alle Gültigkeit hat" (Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution).
1.
Einleitung
1.1. Die Körperbilder der SS-Männer - eine Annäherung Körperbilder gehören zu den wichtigsten „visuellen Strategien" 1 der Politik. Sie geben Ereignissen, Mythen und Persönlichkeiten eine sinnliche Erfahrbarkeit, ermöglichen dadurch einen empathischen Zugang zu politischen Botschaften und können Stimmungen erzeugen, die den politischen Diskurs unterstützen. Als Bild lassen sie Assoziationen von Gedanken und Gefühlen zu, und als Körperbilder sind sie in der Lage, Identifizierungsmechanismen des Betrachters in Gang zu setzen. Bei den Körperbildern der SSMänner treten diese Vorgänge besonders deutlich hervor. Als Produkt der NSPropaganda stellten die SS-Männerbilder politisches Engagement, Macht und Gewalt dar und dienten als Projektionsfläche für die „arische" Utopie des „Neuen Menschen". Sie vermittelten ideologische Werte, rassistische Ideale und Männlichkeitsmodelle und fungierten als Identifikationsangebot der NS-Propaganda. All dies macht aus den Körperbildern der SS-Männer einen besonders geeigneten Forschungsgegenstand für die Untersuchung von Konstruktion und Nutzung von Körperbildern in der Politik. Das vorliegende Buch widmet sich der Bildproduktion, Mythoskonstruktion und politischen Inszenierung im Nationalsozialismus und richtet seinen Fokus auf die Körperbilder der SS-Männer. Die Untersuchung verbindet die Politik- mit der Kulturwissenschaft, um die Körperbilder der SS-Männer in ihrer doppelten Zugehörigkeit zu belassen: als Element der Politikvermittlung und als kulturelle Produktion. Dafür greift die Arbeit auf die Semiotik und auf Konzepte der Kultur- und Wissenssoziologie zurück, die die notwendigen Verbindungen zwischen Politik- und Kulturwissenschaft leisten. Die semiotischen Strukturen der SS-Körperbilder werden in dem sozialen Imaginären 2 ihrer Zeit verortet, und der Gegenstand bleibt seinem politisch-historischen Hintergrund verpflichtet. Die politikwissenschaftliche Analyse wird dadurch erweitert und kann die Mythosproduktion, die propagandistische Verwendung der SS-Bilder und die symbolische Funktion der SS-Männer im politischen Diskurs berücksichtigen. Mit der kulturwissenschaftlichen Perspektive eröffnet sich ein interdisziplinärer Zugang für
1
2
Vgl.: Horst Bredekamp: Thomas Hobbes visuelle Strategien: Der Leviathan: Urbild des modernen Staates, Berlin 1999. Auf den Begriff des sozialen Imaginären wird im Abschnitt 1.6.1. Das soziale Imaginäre ausfuhrlicher eingegangen.
18
EINLEITUNG
die politikwissenschaftliche Analyse, der die kulturelle Dimension der Politik und die politische Relevanz von Kulturproduktionen zeigt. Das Verhältnis zwischen Körperbildern und politischer Symbolik durchzieht die gesamte Untersuchung. Die Verortung im sozialen Imaginären ist dabei grundlegend, denn dort entstehen Körperbilder, Mythen und Sinndeutungen. Auf solche konnte die NSPropaganda zurückgreifen, um die Körperbilder des ,,Ariers" und die des SS-Mannes zu konstruieren. Ebenfalls im sozialen Imaginären konnten die Projektionen des „ArierMythos" und seiner idealisierten Körperbilder auf die SS-Männerbilder geschehen. Ohne den „Arier"-Mythos wäre die Brisanz der SS-Körperbilder fur den politischen Diskurs des Nationalsozialismus nicht gegeben. Die Übertragung der „arischen" Eigenschaften auf die ästhetische Darstellung der SS-Männerkörper verlieh den rassistischen Vorstellungen des „Neuen Menschen" einen Evidenzcharakter. Deswegen widmet sich die folgende Untersuchung nicht bloß der Analyse der SS-Körperbilder, sondern schließt den gesamten Prozess mit ein: die Mythoskonstruktion des „Ariers", ihre Verbreitung und die Projektion auf die SS-Männerbilder. Körper, Bild und soziales Imaginäres bilden ein Dreieck, auf dem sich nationalsozialistische Ideologie, Propaganda und symbolische Politik 3 aufbauten. Dieses Dreieck liefert die Struktur für die Mythoskonstruktionen und Utopieentwürfe des Nationalsozialismus und dient seiner Machtdarstellung, -ausübung und -ausdehnung. Das vorliegende Buch will die Mechanismen aufspüren, mit denen die NS-Körperbilder produziert wurden, und erforschen, welche Elemente des sozialen Imaginären im politischen Diskurs verwendet werden konnten. Das Interesse richtet sich in erster Linie auf die Idealkörperbilder, die den vom Nationalsozialismus propagierten , Arier" visualisierten, und nicht auf die Fremd- und Feindbilder. In der Beschäftigung mit den „Arierbildern" - seien sie im Diskurs oder gemalt, gezeichnet, fotografiert oder filmisch inszeniert - erschließen sich strukturelle Linien der NS-Ideologie und -Propaganda 4 , nach denen die Körperbilder der SS-Männer funktionieren. Die Erforschung der SS-Körperbilder ist weder eine Analyse der reinästhetischen Aspekte der Körperdarstellungen, noch ist sie kunsthistorisch. Vielmehr beabsichtigt die Untersuchung, anhand von Körperbildern die NS-Ideologie und -Propaganda zu ergründen.
3
Die Publikationen zum Bereich der symbolischen Politik und politische Repräsentation sind zahlreich. Siehe u. a.: Marc Abeles/Werner Rossade (Hrsg.): Politique Symbolique en Europe. Symbolische Politik in Europa, Berlin 1993; Murray Edelman: The symbolic uses of polities', Urbana/Chicago/London 1970; Gerhard Göhler u. a. (Hrsg.): Institution - Macht Repräsentation, Baden-Baden 1997; Harry Pross: Politische Symbolik. Theorie und Praxis der öffentlichen Kommunikation, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1974; Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hrsg.): Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002.
4
Die Grenzen zwischen Propaganda und Ideologie sind im Nationalsozialismus nicht nur fließend, sie sind ζ. T. sogar inexistent. Deswegen wird meistens der Ausdruck „NS-Ideologie und -Propaganda" verwendet. Wo dies nicht der Fall ist, ist ein Unterschied zwischen Strukturellem (Ideologie) und Praktischem (Propaganda) gemeint. Das Wort „NS-Ideologie" unterstellt in dieser Arbeit eine gewisse Denkstruktur, auch wenn sie prekär und widersprüchlich ist, während „NSPropaganda" das Gewicht auf die Verwendung von ideologischen Elementen in der Okkupation des sozialen Imaginären verlagert.
M E D I E N , POLITIK UND KÖRPERBILDER
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In den Auseinandersetzungen mit Körperbildern und Gesellschaftsvorstellungen überschneiden sich oft Rassen- und Geschlechterkonzeptionen. Es ist deshalb nicht möglich, auf die Frage nach Rassendiskriminierung und Rassenutopie bei den Körperbildern der SS-Männer einzugehen, ohne das soziale Geschlecht zu berücksichtigen. Die Verbindungen zwischen sozialem Geschlecht, Rassenvorstellung, Normierung und Macht im Nationalsozialismus sind zahlreich und aufschlussreich.5 Die vorliegende Untersuchung bezieht den Bereich des sozialen Geschlechts mit ein, fokussiert aber nicht darauf, denn sie widmet sich hauptsächlich der Rolle der Körperbilder der SS-Männer als Träger der NS-Utopie des „Neuen Menschen" sowie als Element der Machtdarstellung. Obwohl der Bereich Gender nicht ausgeschlossen wird, ist die tragende Kategorie der Untersuchung Race. Die Entscheidung für das Schwergewicht in Race ist durch die Betonung von „Rassentheorie" und Eugenik in der Konzeption des „Ariers" begründet. Dass die normative Funktion von Körperbildern und insbesondere die Rolle der SS-Männer in der Machtdarstellung an das männliche Geschlecht gekoppelt waren, gehört zu den Voraussetzungen dieser Untersuchung. Das vorliegende Buch sieht sich im Dialog mit der Geschlechterforschung.
1.2. Medien, Politik und Körperbilder In der Analyse der SS-Körperbilder im politischen Kontext des Nationalsozialismus zeigt sich die Dynamik eines Kampfes um die Besetzung von Bildern und Vorstellungen im sozialen Imaginären, das die nationalsozialistische Propaganda zu einer „Volksgemeinschaft" zu organisieren versuchte. Es handelt sich erster Linie um politische Strategien, die sich im Bereich des Symbolischen artikulieren und sich der Körperbilder bedienen mit dem Ziel, eine nationalsozialistische symbolische Ordnung durchzusetzen. Das vorliegende Buch geht bewusst nicht von einer NS-Gesellschaft aus, sondern betrachtet die Rezeptoren von politischen Botschaften als Publikum und Konsumenten der nationalsozialistischen „Bildpolitik", die wiederum ein soziales Imaginäres miteinander teilen. Grundlegend für die Kontextualisierung der SS-Männerbilder ist die seit der Jahrhundertwende medial entstandene und immer weiter entwickelte Visualisierungskultur. Die Popularisierung der Fotografie,6 die Nutzung von Bildern als Kommunikationsmit-
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Immer noch wegweisend sind: Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Dokumente und Zeugnisse, München 1993, Christina von Braun: Die schamlose Schönheit des Vergangenen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Geschichte, Frankfurt am Main 1989; Sander Gilman: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotypen aus der Innenwelt der westlichen Kultur, Reinbek bei Hamburg 1992.
6
Mit der Popularisierung der Fotografie wurde auch das Porträt zum populären Erinnerungsstück des Privatlebens. Eine Fülle an Körperbildern, sei es als privates Portrait, sei es als Postkarte, gehörte von da an zum Alltag. Siehe Madeleine Foisil: „Die Sprache der Dokumente und die Wahrnehmung des privaten Lebens", in: Philippe Aries/Roger Chartier (Hrsg): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3, Augsburg 1999, 3 3 3 - 3 7 0 . Zur Popularisierung des Porträts durch die Fo-
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EINLEITUNG
tel in der Werbung und in der Politik und die Tendenz zur Ästhetisierung aller Lebensbereiche 7 veränderten den Zugang zu Bildern. Die neuen Medien ermöglichten nicht nur eine Massenteilnahme an den politischen Geschehnissen, sie boten zugleich einen neuen Zugang zur Realität und veränderten die Wahrnehmung von politischen Ereignissen. In zweierlei Hinsicht vermengen sich die Wege von Politik und Medialisierung: Erstens amplifizieren die Medien die Ereignisse und begünstigen die politische Inszenierung. Zweitens wird die Wahrnehmung des Publikums selbst von medialen Bildern beeinflusst. Dieser Prozess war keineswegs eine Besonderheit des Nationalsozialismus, sondern ist der Moderne und ihren technischen Kommunikationsmöglichkeiten inhärent. Die technische Verbreitung - vor allem durch Kino, Pressefoto und Plakatillustration radikalisierte das Verhältnis von Medialisierung und Politik und verstärkte die Betonung des Visuellen. Die NS-Propaganda versuchte, das Potenzial der neuen technischen Möglichkeiten mit ihrer technischen Reproduzierbarkeit 8 und ihrer Massenwirkung als politische Strategie auszuschöpfen. Durch die mediale Verbreitung entsteht eine technische „Zwischenstufe" zwischen Sender und Empfänger, die immer ein Refraktionspotenzial in sich trägt. Dieses Phänomen kann als Störung, aber auch als künstlerische und kreative Möglichkeit vom Sender betrachtet und genutzt werden. Die NS-Propaganda hat diese Möglichkeit im Sinne einer „Bildpolitik" eingesetzt und die Inszenierungs- und Verbreitungswirkung der neuen Medien genutzt. Außerdem konnten die unterschiedlichen Medien durch die totalitären Strukturen zentralisiert und integriert werden - die zum größten Teil gelungene „Gleichschaltung" der Massenmedien ist hierfür grundlegend - und somit für eine mediale Verweislogik sorgen, die die NS-Ideologie als Hauptreferenz hatte. Im Zentrum dieser „Bildpolitik" stand der Körper, der als Projektionsfläche für ideologische Vorstellungen dienen konnte. Körperbilder berühren einen wichtigen Bereich der sozialen Identität, sie regen Identifikationsmechanismen an und bieten eine Projektionsfläche für Wünsche und Ängste. Wenn die Körperbilder an soziale Sehnsüchte und Phobien anknüpfen, treffen sie eine zentrale Stelle des sozialen Imaginären und können daraus politische Wirkung ziehen. Am deutlichsten wird dieser Prozess am Beispiel der Stereotypen, auf die die eigenen Ängste vor Kontrollverlust projiziert und dadurch externalisiert werden können. 9 So ist es nicht verwunderlich, dass die NS-Propaganda Bilder von Idealkörpern und von Feindkörpern als Teil der Rechtfertigungsstrategie und Begründung der NS-Politik einsetzte. Die Visualisierung von rassentheoretischen Vorstellungen und die mediale Verbreitung trafen sich an einem Punkt, in dem der politische Diskurs des Nationalsozialismus und seine „Neuer-Mensch"-Utopie konstruiert werden konnten, nämlich im
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tografie siehe: Claudia Schmölders: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, München 2000, 17-24. Zur Ästhetisierung des Alltags siehe: Franz Dröge/Michael Müller: Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder Die Geburt der Massenkultur, Berlin 1995. Dazu ist Walter Benjamins Standardwerk noch immer aktuell. Siehe: Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1977. Dazu siehe: Sander Gilman: Rasse, Sexualität und Seuche.
D I E NATIONALSOZIALISTISCHE UTOPIE DES „ N E U E N M E N S C H E N "
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Bild des Idealkörpers des „Ariers". Diese zum Teil normativ, zum Teil mythisch konstruierten Körperbilder wuchsen zu essentiellen Elementen der nationalsozialistischen Bildpolitik, gingen aber mit der zeitgenössischen Tendenz zur Visualisierung und mit einer Neigung zur Projektion von Utopien auf den Körper einher. 10
1.3. Die nationalsozialistische Utopie des „Neuen Menschen" Das Bild des „Ariers" stand in Verbindung mit dem sozialen Imaginären seiner Zeit. Seit der Jahrhundertwende wurden Zukunftsvisionen entworfen, die im menschlichen Körper den Gestaltungsraum fur Vollkommenheit und Bewältigung von Kontingenz sahen, und die sich in unterschiedlichen Ästhetisierungsformen des Körpers visualisieren ließen. Mit dem Ersten Weltkrieg bekamen diese utopischen Körperentwürfe einen neuen politischen Elan und wurden zu attraktiven Elementen für verschiedene politische Diskurse. Das rassistische Projekt eines „arischen Neuen Menschen" und die Körperbilder der NS-Propaganda müssen vor diesem Hintergrund betrachtet werden, denn damit werden sowohl die Elemente deutlich, die die NS-Ideologie und -Propaganda beeinflussten, als auch diejenigen, die ihnen den Anschluss an das soziale Imaginäre ermöglichten. Die „arische Rasse" und der „arische" Körper fungierten als „Neuer Mensch"-Utopie und als politisches Projekt des Nationalsozialismus. Der „Arier" diente als Ziel, Zweck und Rechtfertigung der NS-Politik, und die idealisierten „arischen" Körperbilder stellten eine Visualisierungsfolie für die NS-Propaganda dar. Immer wieder verwendeten die Nationalsozialisten das Projekt des „Ariers" als Grund und Ziel ihrer Politik: sei es in der Ausgrenzung von „minderwertigen Rassen", „Asozialen" und Behinderten; sei es bei der NS-Reproduktions- und Erziehungspolitik oder bei der Motivation für den Krieg. Die utopische Seite des Nationalsozialismus und der Drang nach Bewältigung von Kontingenz des Körpers standen in enger Verbindung mit der radikalen zerstörerischen Kraft der NS-Rassenpolitik. 11 10
Den Aspekt der Körpervisualisierung in den kollektiven Vorstellungen in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat Claudia Schmölders ausführlich behandelt. Die Autorin sieht in diesem Zeitraum eine Epoche, die sich wie keine andere „so ausgiebig mit Fragen der physischen Erscheinung und Wirkung befaßt hat". Siehe: Claudia Schmölder: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, München 2000; Sander Gilman/Claudia Schmölders (Hrsg.): Die Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000.
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Gudrun Brockhaus verfolgt die Annahme Saul Friedländers, die NS-Ideologie sei insbesondere vom Kontrast zwischen apokalyptischen Vorstellungen einerseits und Dynamismus und Unterhaltung andererseits gekennzeichnet. Siehe: Gudrun Brockhaus: Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot, München 1996; Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nationalsozialismus, München 1986. Zur nationalsozialistischen Utopie siehe: Frank-Lothar Kroll: Utopie als Ideologie: Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich: Hitler - Rosenberg - Darre - Himmler - Goebbels, Paderborn/München/Wien/Zürich 1992; Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Weinheim 1995.
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EINLEITUNG
Utopien haben in Hinblick auf ihre Repräsentationsstrukturen immer eine selbstreferenzielle Dimension. Sie entsprechen einer „hybriden Imagination", die weder nur poetisch noch ausschließlich wissenschaftlich-philosophisch sein kann. Es ist deswegen nicht widersprüchlich zu behaupten, schreibt Jean-Jacques Wunenburger, „que la meme Utopie peut apparaitre comme un avatar religieux traditionnel, comme une audace fictionelle et comme un exercice regle de deduction scientifique" (Wunenburger: 1993, 17). Die Utopie konstruiert ihren Raum und ihre Vergangenheit und richtet sich auf eine Zukunft, die kontingenzbefreit dargestellt wird. Wie die Mythen geht sie dem Verfahren einer Bricolage nach, sie speist sich aus dem sozialen Imaginären und trägt dazu bei. Im Fall des Nationalsozialismus gewinnt die Utopie des „Neuen Menschen" eine phantasmatische Seite, sie widersetzte sich der Realität und, um mit den Worten von Wunenberger zu sprechen, arbeitete sie mit „une regression vers l'ordre primaire de l'affect et du desir", indem sie ihre Generierungsquelle in einer „deception profonde devant la realite socio-politique" hatte (ebd., 20). Anstatt der verstümmelten Körper der Kriegsveteranen bot die NS-Propaganda Idealbilder des männlichen Körpers und transportierte damit ihre utopischen Vorstellungen einer kontingenzbefreiten Gesellschaft. Die Körperbilder des „Ariers" dienten somit der visuellen Etablierung der NS-Utopie im sozialen Imaginären. Indem die NS-Propaganda die SS-Männer als „rassische Auslese" darstellte, projizierte sie die rassistischen Ideale des „Ariers" auf die SS-Männerkörper und lieferte eine Konkretionsebene für ihre Utopie. Die Utopie, schreibt Wunenburger, „est un non-lieu qui devient lieu" (ebd., 25), und man könnte sagen, dass der utopische Körper des „Ariers" in der Idealisierung des SS-Mannes ein utopischer Ort wird. Das folgende Buch soll zeigen, wie dieses Verfahren in Form von Bildern geschieht.
1.4. Der „arische" Körper: Mythos und Bindung an die NS-Macht Parallel zur der Utopie des „Neuen Menschen" ist ein zweiter Diskurs in der NSPropaganda zu beobachten: der Diskurs der Macht. Die Verschmelzung von Terror und Propaganda und die Tendenz, ständig neue Mythen zu konstruieren und zu „recyclen", potenzierten die propagandistische Wirkung und begünstigten die politische Nutzung der damit produzierten Körperbilder. Gewalt ist eine der wichtigsten Komponenten der NS-Propaganda und des SS-Männerbildes. Sie ist sowohl in der paramilitärischen Struktur der SS als auch in der NS-Machtinszenierung präsent. Bei den Massenveranstaltungen dienten die Männerkörper in den SS-Formationen als Ornament, als Dekoration der Macht. Das spannende Moment findet sich in der Projektion der Gewalt- und Machtinhalte auf die idealisierten körperlichen Gestalten der NS-Utopie. Die SSMännerbilder erscheinen als Kristallisationspunkte für diese Überkreuzung. Hier sollen die Zeichen und Symbole aufgespürt werden, mit denen es der nationalsozialistischen Propaganda gelang, Macht- und Gewalt-Eigenschaften einerseits und die Vorstellungen des „Neuen Menschen" andererseits mit den SS-Männerkörpern zu assoziieren und zu vermitteln und dabei ein „rassistisch-politisches" Identifikationsangebot in Form von Körperbildern im politischen Diskurs zu schaffen.
DER „ARISCHE" KÖRPER: MYTHOS UND BINDUNG AN DIE NS-MACHT
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Die „Arier"-Vorstellungen waren im Nationalsozialismus in einem mythischen Diskurs begründet, der eine Geschichte vom Ende der Geschichte erzählte. Die absolute Durchsetzung der „arischen Rasse" - nicht nur als hegemoniales Volk, sondern vor allem als Vollendung eines idealen Zustandes der Menschheit - stand in einer Zeitperspektive, die sich nur in der Ewigkeit realisieren ließ. Der „Arier" in seinem vollkommenen Körper lebte deswegen nur im Mythos und konnte daher niemals als materiell existierender Mensch gefunden werden. Zugleich wurden die Körperbilder des „Ariers" als physiognomisches und ästhetisches Kriterium für die Zugehörigkeit zum „deutschen Volke" und zur „Volksgemeinschaft" verwendet. Daraus ergab sich eine Zwangslage, in der die „arischen" Maßstäbe einmal für unerreichbar erklärt wurden, aber weiterhin als Zugehörigkeitskriterium gelten sollten. Diese Situation ist ein Produkt der Denkradikalisierung der NS-Ideologie und setzt sich ebenso in der NS-Propaganda fest. Das Wechselspiel zwischen Zugehörigkeitsversprechungen und simultaner Drohung, dem „arischen" Ideal nicht gerecht zu werden, sind in den verbalen und bildlichen Appellen des NS-Diskurses präsent und bestimmen die Bindung an die Macht im politischen Diskurs des Nationalsozialismus. In diesem Kontext muss nicht nur die NS-Rassenpolitik, sondern vor allem die propagandistische Einsetzung und Verbreitung von Körperbildern im Nationalsozialismus verstanden werden. Die NS-Propaganda rezipierte den eugenischen Diskurs, den sie politisch konnotierte, und machte aus dem Körper den Ort der Unterscheidung zwischen Norm und Abnorm, zwischen Gut und Böse und schließlich zwischen Freund und Feind. Ausgrenzung und Bestrafung drohten den Körpern, die den Mindestanforderungen des NSEigenschaftskatalogs nicht gerecht wurden. Doch die Definition des „Ariers" blieb trotz aller „wissenschaftlichen" Begründungen der Nationalsozialisten inkohärent. Außerdem versprach die Vererbungslehre, auf die sich die Nationalsozialisten stützten, keine absolute Sicherheit für den Einzelnen. Da die „Erbanlage" nur teilweise an dem Phänotyp abgelesen werden könne, drohte selbst dem Körper, der dem Ideal entsprach, der Ausschluss aus der „Volksgemeinschaft". Dieses „Defizit" diente der Propaganda als nützliche Drohung und eine zusätzliche Bindung an die Macht. Nach Gudrun Brockhaus entwickelt die „Kombination von hochgespanntem Ideal und tief nach innen verbannter Überzeugung des eigenen Ungenügens" im Nationalsozialismus eine „erhebliche Bindungskraft", die in der Angst begründet war, „dem Ideal nicht gerecht zu werden".12 Für die vorliegende Arbeit ist dieser Mechanismus von Bedeutung, weil er in den Körper-
12
Vgl.: Gudrun Brockhaus: ebd., S. 41. Im Bereich des Leistungssports untersucht der Philosoph und Sportwissenschaftler Gunter Gebauer ähnliche Bindungsmechanismen, wonach der Sportler immer nach einem nicht erreichbaren Ideal eifert. Der Athlet wird zwar von seinem Trainer ermutigt, doch niemals wird er von dieser Bezugsperson hören, dass er den Anforderungen gerecht geworden sei. Siehe: Gunter Gebauer: „Auf der Suche nach der verlorenen Natur. Oder: Die unsichtbare Hand des Lehrers", in: ders. (Hrsg.): Körper und Einbildungskraft. Inszenierungen des Helden im Sport, Berlin 1988, 167-180; Gunter Gebauer: „Ausdruck und Einbildung. Zur symbolischen Funktion des Körpers", in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt am Main 1982, 313-329. Dieser Aspekt wird in der Analyse des „Aufklärungsfilms" Opfer der Vergangenheit im Kapitel Verbreitung: Inszenierte Realität und filmische Verbreitung behandelt werden.
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EINLEITUNG
bildern des „Ariers" und der SS-Männer impliziert ist. Diese idealen Körperbilder zu analysieren, setzt den Bezug zu den Bildern des „kranken", „minderwertigen" und „feindlichen" Körpers voraus, die in der NS-Propaganda im ständigen Dialog mit dem „Arierkörper" stehen. Dafür wird die Theorie von Jacques Lacan zum „Spiegelstadium" herangezogen.' 3 Insbesondere seine Abhandlungen über das „Spiegelstadium" und über die Angst vor der Zerstückelung des Körpers bieten Entschlüsselungsmöglichkeiten für die Analyse von Körperbildern im politisch-rassistischen Diskurs.
1.5. Der „Arier" nach der „Machtergreifung" und die Körperbilder der SS-Männer Die Machtübernahme von 1933 ist von den Nationalsozialisten als „Nationale Erhebung", „Revolution" und als „Eintritt in die Neue Ära" 14 gefeiert worden. Die Inszenierung der „Machtergreifung" markierte nicht nur die Übernahme der Regierung durch Hitler, sondern stellte ein Ritual dar, das mit der herkömmlichen Auffassung von Vergangenheit und Geschichte zu brechen versucht. Ein neuer Beginn für die Menschheit sei einzuweihen, der die bekannte Zeitdimension sprengen würde und nur noch von der Ewigkeitsperspektive des „Tausendjährigen Reiches" bestimmt werden sollte.15 Damit änderte sich auch die NS-Propaganda. 16 Jetzt wurden Bilder verbreitet, die den „Neubeginn" und den „Neuen Menschen" darstellten. Die Widersprüche bei der doppelten Auffassung des „Arierkörpers" - als Ideal und Maßstab - verschärften sich mit dem Versuch, den Beginn der utopischen Zeit zu propagieren. 17 Einerseits musste der „Arier" nach dem Beginn der „Neuen Ära" als realisierbar präsentiert werden, anderseits sollte er unerreichbar bleiben. Jede Konfrontation mit den real existierenden Körpern könnte die Idee der „Neugeburt des Volkes" stören. Es liegt gerade im Hiatus zwischen Realität und Wunschvorstellung - zwischen Legitimierung und Beweisbarkeit der NS-Utopie als politisches Projekt einerseits und Unerreichbarkeit des „Ariers" als Mythos andererseits - , dass die SS-Männerbilder an
13
Die Theorie von Jacques Lacan ist komplexer und sein Verständnis von Körperbildern weiter gefasst, als es hier vorgeführt wird. Die vorliegende Arbeit versteht sich nicht als psychoanalytisch, bezieht jedoch Bausteine aus der Psychoanalyse als Hilfsmittel für die Untersuchung der Körperbilder im politischen Diskurs mit ein. Jacques Lacan: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion", in: Norbert Haas (Hrsg.): Das Seminar von Lacan Buch I, Schriften I, Freiburg im Breisgau 1973 [1949]; Jacques Lacan: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, Paris 1973 [1964],
14
So begrüßten die NSDAP-nahen Zeitungen Der Angriff und Völkischer Beobachter die N S Machtübernahme. Diese Deutung entsprach Hitlers prophetischer Vision in Mein Kampf und der religiösen Sprache Alfred Rosenbergs im Mythos des 20. Jahrhunderts. Zum religiösen Charakter des Nationalsozialismus siehe: Claus-Ekkehard Bärsch Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 1998. Dazu: Gerhard Paul: Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 1992. Dafür siehe das Kapitel Entstehung: Von der Machtübernahme zur „Machtergreifung" im zweiten Teil der Arbeit.
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25
D E R „ A R I E R " NACH DER MACHTERGREIFUNG
Bedeutung im politischen Diskurs gewannen. Die Selbststilisierung der SS als Organisation der „rassischen Auslese" kam der NS-Propaganda nach 1933 entgegen. Seit seiner Führungsübernahme 1929 bemühte sich Himmler um körperliche „Auslese"- Kriterien für die Auswahl seiner Männer: Gewünscht waren große, blauäugige Männer, die einen Stammbaum frei von „minderwertiger rassischer Herkunft" vorweisen konnten. Himmler arbeitete an der Konstruktion eines SS-Mythos, der mit der Vision einer radikalen „Zucht-Utopie" gekoppelt war. Zentrum seiner Anstrengungen war die Bewahrung und Optimierung des „arischen" Blutes. Besonders pathetisch stellt Himmler diese Idee am 19.01.1935 zum Anlass der Führertagung des SS-Oberabschnitts Süd-Ost in Breslau dar: „wir sind ein Volk, Stamm, Sippe, Gemeinschaft, eine Ritterschaft, aus der man nicht austreten kann, in die man blutsmäßig aufgenommen wird und in der man drin bleibt mit Leib und Seele, solange man auf dieser Erde lebt." 18 Den „Arier" sah Himmler als Synonym für die „SS-Auslese" und projizierte das „ A r i e r - K ö r p e r b i l d " auf die Bilder der SSMänner. Diese Projektion griffen die NS-Propaganda und insbesondere die Reden von Himmler auf, und die Körperbilder der SS-Männer konnten den Platz eines Nachweises für den „arischen Neuen Menschen" einnehmen. Die Bedeutungszunahme der SS-Körperbilder nach 1933 war auch mit einem zweiten Aspekt der symbolischen Politik des Nationalsozialismus verknüpft: der Machtdarstellung. Die SS gewann nach 1933 immer mehr an Macht. Himmlers Kontrolle über die Polizei und der Ausbau des SS-Apparates ermöglichten die Vervielfältigung und Erweiterung der Kompetenzen der SS. Auch die physische Präsenz der SS-Männer wuchs im städtischen Raum, unter anderem weil in der unmittelbaren Zeit nach der Machtübernahme die „Allgemeine SS" als Hilfspolizei eingesetzt wurde. Allmählich etablierte sich das Bild des SS-Mannes als NS-Kontrollinstanz in der Öffentlichkeit. Außerdem avancierten die SS-Männer mit der Institutionalisierung der NSDAP als Staatspartei und mit der zunehmenden Rolle in der Staatsrepräsentation zu zentralen Elementen der NS-Machtinszenierung. Vor allem die Angehörigen der SS-Repräsentations- und Eliteeinheit, der „Leibstandarte-SS Adolf Hitler" sind hier zu nennen. Sie sind für die vorliegende Untersuchung von großer Bedeutung, weil sie zusätzlich die „rassische Auslese" innerhalb der SS repräsentierten und somit beide Ebenen der NSPropaganda - die „rassischen" Idealvorstellungen und die Macht- und Gewaltdemonstration - verkörperten. Schließlich gewinnen die Körperbilder der SS-Männer einen emblematischen Charakter und eine Wiedererkennungsfunktion innerhalb der NS-Propaganda. Hierbei spielten die SS-Uniformen eine entscheidende Rolle. Sie fassten das Bild des SS-Mannes zusammen und schrieben den Uniformträgern Bedeutungen zu, die durch die Verwendung von schon bekannten Symbolen aktiviert wurden. Sie reglementierten und homogenisierten nicht nur das Aussehen der SS-Männer, sondern auch ihre Körperhaltung und Körpersprache. Wichtig für das vorliegende Buch ist die Konstruktion und Verwendung der SSKörperbilder als Idealbilder. Im Zeitraum zwischen 1933 und 1938 versuchte sich die 18
Zitiert nach Bernd Wegner: Hitlers
Politische
Soldaten:
Die
Waffen-SS
1933-1945,
Paderborn/
München/Wien/Zürich 1997, 45; dazu siehe auch Gudrun Schwarz: Eine Frau an seiner Ehefrauen
der „SS-Sippengemeinschaft",
Hamburg 1997, 19.
Seite.
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EINLEITUNG
NS-Macht zu etablieren, Institutionen zu kontrollieren und das soziale Imaginäre mit ihren Bildern zu besetzen. Die Körperbilder des „Ariers" als Visualisierung der NSUtopie des „Neuen Menschen" und die Darstellung der SS-Männer als ihre Konkretion wurden als pseudoreligiöse Begründung der NS-Macht als wichtiger Teil der NSsymbolischen Politik eingesetzt. Der damit verbundene emblematische Charakter der SS-Körperbilder als „arisches" Ideal wurde mit dem Beginn des Krieges vom immer soldatischer werdenden Bild der „Waffen-SS" verdrängt. Dies bedeutet nicht, dass die Projektion des „Ariers" auf die SS-Männerbilder verschwinden würde, auch der soldatische Charakter gehörte schon vorher zum Bild des SS-Mannes, beide symbolische Bedeutungen der SS-Körperbilder koexistieren im sozialen Imaginären. Das, was sich mit dem Krieg änderte, war vielmehr die rhetorische Platzierung der SS-Bilder im politischen Diskurs. Es gehört zu den visuellen Strategien in der Politik, dass sie sich an die Bedürfnisse der neuen politischen Lage anpassen. Mit der Kriegsvorbereitung und der Kriegsführung veränderte die NS-Propaganda den Akzent und die Verwendung der SSKörperbilder. Galt es im Kontext der Machtetablierung, die Utopie des „Neuen Menschen" als wünschenswert und realisierbar zu begründen, stand im Krieg das Bild des Kämpfers als Versprechen des Sieges des „deutschen Volkes" im Vordergrund. Ein zweiter wichtiger Faktor für die symbolische Verlagerung des SS-Bildes war mit der Ausbreitung der Waffen-SS als Maßnahme zur Kriegsvorbereitung verbunden. Durch Hitlers Erlass vom 17. August 1938 konnte sie zu einer Massenorganisation werden. Die SS selbst wurde dadurch militärischer und entwickelte sich nach dem Wunsch Himmlers zu einer Armee mit europäischen Soldaten unter deutscher Führung. 19 Während des Krieges dominierte zunehmend die „Waffen-SS" in der Wochenschau und in 20
der Presse. Auch aus diesem Grund war es sinnvoll, den Zeitraum der Untersuchung auf die fünf Jahre nach der sog. „Machtergreifung" zu beschränken.
1.6. Theoretische Konzepte 1.6.1. Das soziale
Imaginäre
Das Konzept des sozialen Imaginären wird hier als sozial geteiltes Repertoire und zugleich soziales System der Konstruktion und Kombination von Bildern und Vorstellungen verstanden. Dieses System prägt als kollektiv geteiltes die sozialen Institutionen und wird von ihnen geprägt. Das soziale Imaginäre ist hier auf der Basis von Cornelius Castoriadis' Gesellschaft als imaginärer Institution begründet und wird mit den Ansät-
19
20
Vgl.: Zur Entwicklung der „ W a f f e n - S S " siehe: Bernd Wegner: Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933-1945, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997. Z u m Erlass v o m 17. August 1938 siehe S.112 f. Die mit der kriegerischen Expansion der SS verbundene Vielfalt der SS-Uniformen und das heterogene Aussehen der „ W a f f e n - S S " - die SS-Musterungskriterien konnten auf Grund der militärischen Notwendigkeit in der W a f f e n - S S kaum beachtet werden - müssen für die Verbreitung von Idealbildern nicht unbedingt von Relevanz sein, sie zeigen j e d o c h , wie die utopischen Vorstellungen Himmlers, die SS als „arische Auslese" zu etablieren, eingeschränkt werden mussten.
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THEORETISCHE KONZEPTE
zen der französischen Anthropologie ergänzt. 21 Hierfür sind die Studien des anthropologischen „Centre de Recherche sur l'Imaginaire" in Grenoble eine wichtige Referenz. Vor allem die Arbeiten des Kulturanthropologen Gilbert Durand beeinflussten in den siebziger Jahren die französische Forschung in unterschiedlichen Disziplinen. Er formulierte aus der Psychoanalyse, Anthropologie und Soziologie ein verwendbares Konzept des Imaginären für Kultur-, Geschichtswissenschaft und im weitesten Sinne Politikwissenschaft. 22 Die anthropologische Perspektive ermöglicht vor allem die Hervorhebung der Rolle der Bilder in der Konstruktion des sozialen Imaginären. Das soziale Imaginäre stützt sich auf das kollektive Gedächtnis und ist ein Produkt seiner Zeit, es entsteht aus sozialen Vorstellungsbildern und erzeugt soziale Bilder. Schon Maurice Halbwachs erwähnte in seinem Werk über das kollektive Gedächtnis aus dem Jahr 1923 das Konzept des Imaginären, ohne jedoch darauf tiefer einzugehen. 23 Als Repertoire von Bildern und als Struktur zur Erzeugung von Bildern befindet sich das soziale Imaginäre in der Spalte zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Doch das soziale Imaginäre stellt keinen Gegensatz zur Realität dar, vielmehr stehen soziales Imaginäres und Realität in einem Interdependenzverhältnis: Das Imaginäre ist in der Realität verankert und bedarf der Realität, um Bilder zu erzeugen. Es liefert zugleich Strukturen für die Interpretation der Realität und macht sie erst zugänglich. Ohne das Imaginäre würde die Wahrnehmung der Realität verschwinden. Das soziale Imaginäre könnte ebenso als Raum dargestellt werden, denn es beinhaltet Bilder, Mythen, Lebens· und Todesvorstellungen und auch Wirklichkeitskonzepte. Es ist, wie Cornelius Castoriadis zutreffend formulierte, eine „unaufhörliche und (gesellschaftlich-geschichtlich und physisch) wesentlich indeterminierte Schöpfung von Gestalt/Formen/Bildern, die jeder Rede von ,etwas' zugrunde liegen" (Castoriadis: 1990, 12). Als kollektiv geteiltes Repertoire stellt das soziale Imaginäre einen Fundus an Bildern, Mythen und Symbolen, Träumen, Lüsten, Phobien und Wünschen dar. Aber es ist auch eine Art Strukturierung, welche die Welt zu interpretieren hilft, und die zusammen mit der Praxis den alltäglichen Umgang mit der Welt erfahrbar macht. Die Strukturen des sozialen Imaginären werden stets von sozialen Gruppen verhandelt, von der Politik umkämpft und von der kulturellen Produktion modifiziert. In dieser Perspektive sind politische Propaganda und politische Diskurse immer Produkte und Gestaltungselemente des 21
In Deutschland kamen wichtige Impulse aus der Wissenssoziologie, die die Konstruktion der Wirklichkeit ergründete, und neuerdings aus der Literaturwissenschaft. Siehe: Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt am Main 1990; Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 2001 [1977]; Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt am Main 1993.
22
Durand leitete das „Centre de Recherche sur l'Imaginaire" in Grenoble. Sein Buch Les structures anthropologiques de l'imaginaire bietet eine Basis für das Verständnis des Imaginären und der Wirkung von Bildern. Siehe: Gilbert Durand: Les structures athropologiques de l'imaginaire, Paris/Brüssel/Montreal 1969; Lucian Boia: Pour une histoire de l'imaginaire, Paris 1990; Evelyne Patlagean: „L'histoire de l'imaginaire", in: Jacques le Goff/Roger Chartier/Jacques Revel (Hrsg.): La nouvelle histoire, Paris 1978, 248-269. Über die Auswirkung der neuen theoretischen Impulse auf die Geschichtswissenschaft siehe: Jacques le Goff/Pierre Nora (Hrsg.): Faire de l'histoire. IIINouveaux objets, Paris 1974.
23
Vgl.: Maurice Halbwachs: Das kollektive
Gedächtnis,
Franfurt am Main 1991 [1923] 156.
28
EINLEITUNG
sozialen Imaginären. Sowohl NS-Propagandisten als auch ihr Publikum teilten ein gemeinsames Imaginäres mit bestimmten Erfahrungen, Bildern und Mythen. Das vorliegende Buch liefert keine Rezeptionsgeschichte der SS-Körperbilder, sondern widmet sich ihrer Produktion und Verwendung in der NS-Propaganda in Hinblick auf das soziale Imaginäre. Um seine politische Ordnung zu etablieren, bemühte sich der Nationalsozialismus um die Kontrolle der kulturellen Produktion und um die Besetzung des sozialen Imaginären mit seinen Deutungsmustern. Die NS-Ideologie und -Propaganda versuchten, das soziale Imaginäre zu prägen; sie waren aber selbst ein Erzeugnis des sozialen Imaginären, da sie aus seinen Strukturen entstanden. Als politische Strategie setzte die NS-Propaganda eine Bildpolitik in Gang, die Mythen und Bilder aus dem kollektiven Repertoire aufgriff, andere modifizierte und neue hinzufügte. Die Impulse für die NS-Propaganda waren eklektizistisch, sie wurden aus dem kollektiven Repertoire geholt und stammen sowohl aus der Gegenwart als auch aus der Vergangenheit. Die NS-Mythen und -Bilder waren Erklärungsversuche der Realität in kondensierter Form, sie strukturierten die Realität nach den ideologischen Mustern des Nationalsozialismus, präsentieren sie als soziale Wirklichkeit und füllten das soziale Imaginäre mit nationalsozialistischen Deutungen. 24 1.6.2. Mythos und Recycling Mythen sind wichtige Bestandteile des sozialen Imaginären. Als politische Mythen artikuliert, können sie dem politischen Diskurs einen transzendenten Sinn verleihen. Politische Mythen sind, wie Andreas Dörner schreibt, „im Spannungsfeld von symbolischer Politik und politischer Kultur" angesiedelt. Dörner analysiert politische Prozesse als Zeichenprozesse und nimmt dabei eine semiotische Perspektive ein. 25 Für Roland Barthes bilden Mythen eine Metasprache. Barthes betrachtet die Mythen und somit die politischen Mythen als ein Sprachsystem, das sich auf die Objektsprache, sei sie bildlich, verbal, akustisch etc., aufbaut und sich dieser Objektsprache bedient, um ein zweites semiologisches System aufzubauen. 26 Die semiologische Analyse Barthes' verlangt nach der Untersuchung der Verhältnisse zwischen Signifikant, Signifikat und Zeichen. Wobei mit Zeichen jegliche Einheit gemeint ist, die den Signifikant mit dem Signifikat, d. h. Sinn, ausstattet. Im Mythos sind diese Einheiten verschoben. Das, was als Zeichen in der Objektsprache gilt, wird im Mythos zum Signifikant. Das System verschiebt sich und fangt dort an, wo das Zeichen in der ersten semiologischen Kette der Objektsprache aufgehört hat. Gerade dieser Prozess der Verschiebung der Bezugssysteme ist im Hinblick auf die Konstruktion von politischen Mythen von Bedeutung, denn die Analyse der politischen Mythen beruht auf der Untersuchung der Verhältnisse zwischen der Sprache, derer sich der Mythos bedient, und der Metasprache des My24
W i e stark die NS-Propaganda die Individuen prägte und wie wichtig die kollektive Einbettung im NS-Imaginären für individuelle Entscheidungen im Persönlichen und Politischen wurde, hängt immer von sozialen und individuellen Erfahrungen ab.
25
Vgl.: Andreas Dörner: „Inszenierung politischer Mythen. Ein Beitrag zur Funktion der symbolischen Formen in der Politik am Beispiel des Hermannsmythos in Deutschland", in: Politische teljahresschrift
26
1993, H. 34.
Vgl.: Roland Barthes: Mythen des Alltags,
Frankfurt am Main 1996.
Vier-
THEORETISCHE KONZEPTE
29
thos. Dazwischen entsteht eine Differenz, die für die semiologische und semiotische Betrachtung des Mythos zwar nicht mehr von Relevanz ist, die aber für die Politikwissenschaft von größter Bedeutung ist. Denn dort kann man die Strategien im Kampf um die semantische Besetzung von Begriffen erkennen. Es geht dabei um die Bemächtigung von Aussagen und die Verwendung dieser Aussagen in einem neuen Bezugssystem. Deswegen kann eine rein semiotische Analyse der Zeichenverhältnisse in den politischen Mythen für die Untersuchung von Machtstrategien nicht ausreichend sein. Die Verschiebung von der Objektsprache zur Metasprache hinterlässt Lücken, die nur in der historisch-kulturellen Kontextualisierung erschlossen werden können. Politische Mythen sind kein starres System. Ihre Aussage kann flexibel sein und immer mit neuen Inhalten gestiftet werden. Politische Mythen werden produziert, wieder aufgenommen oder neu kombiniert. In Bezug auf die Mythosproduktion werden hier zwei Begriffe verwendet: einerseits Levi-Strauss' Begriff der „bricolage" - Claude Levi-Strauss entwickelt in seinem Buch La pensäe sauvage den Gedanken, dass die Mythen einer Gesellschaft das Produkt einer Zusammenstellung von schon bekannten Symbolen und mythischen „Teilen" sind. Der zweite Begriff, der auf die Mythoskonstruktion in dieser Arbeit angewendet wird, ist der des Recycling. Damit ist nicht unbedingt der postmoderne Akzent auf der Wiederverwendung von Abfall gemeint, sondern die symbolische Wiederverwendung als Prinzip der Mythoskonstruktion. Betont LeviStrauss das „Basteln", das Kombinieren von symbolischen Bausteinen in neuen mythischen Einheiten als Prinzip der Mythoskonstruktion, verlagert sich das Gewicht beim Recycling auf die Bausteine selbst und stellt einen historischen Bezug zu den Bedeutungen der verwendeten Symbole für die analysierte soziale Gruppe her. Dies ermöglicht den Vergleich zwischen den mythischen „Quellen", die sogar aus verschiedenen Mythen bestehen können, und den neu zugeschriebenen Konnotationen des Mythos. Da das kollektive Gedächtnis ζ. T. kumulativ arbeitet, tragen Mythen, selbst wenn sie neu rezipiert werden, „Reste" von alten kulturellen Bedeutungen mit sich. Diese Reste können die in politischen Mythen intendierte Übernahme, aber auch kontingente „Belastung" in die neue Bedeutung bringen. Die Spannung zwischen alten und neuen Bedeutungen gewinnt dabei an Gewicht. Der Versuch, die schon bekannten Inhalte zu tilgen oder sie mit anderen zu überdecken, aber auch die Übernahme von alten Sinninhalten verdeutlichen die Intentionen und ihre Abweichungen im politischen Diskurs, und dafür bietet die NS-Propaganda einen hervorragenden Stoff. Die Mythoskonstraktion und symbolische Verwendung in der politischen Propaganda implizieren einerseits Komplexitätsreduktion und andererseits Polysemie. Die Komplexitätsreduktion bezieht sich auf die erste Bedeutungsebene und ist dabei Zeichenreduktion. Die expliziten Aussagen sind verkürzt, und die verwendeten Bilder haben einen emblematischen Charakter. Die Polysemie dagegen betrifft die nicht expliziten Botschaften, die gerade aus der Komplexitätsreduktion in der Zeichenebene entstehen und mehrdeutig wirken. Durch die Mehrdeutigkeit der „unterschwelligen" Bedeutungsebene ermöglicht der Mythos die Anknüpfung an ein heterogenes Repertoire, während die Komplexitätsreduktion der expliziten Aussage Eindeutigkeit und Sicherheit vermittelt. Dieser Doppelmechanismus war in der NS-Propaganda besonders ausgeprägt. Dadurch konnte das Publikum unterschiedlich auf die NS-Mythen und
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EINLEITUNG
auf ihre Bilder reagieren und je nach sozialer Schicht, kulturellem Umfeld, Geschlecht und Körpererfahrungen die Körperbilder der SS-Männer und des „Arier"-Mythos wahrnehmen. Wie in jeder mythischen Konstruktion ging es in der Gestaltung des „Ariers" und in seiner Projektion auf die SS-Körperbilder um einen Fundus an Bildern, die mehrdeutig und symbolisch geladen waren. Die NS-Propaganda schöpfte aus vielen heterogenen Quellen für die Bildproduktion des „arischen" Körpers, was eine vielfältige Verwendung der Bilder im politischen Diskurs ermöglichte. Hier fällt der Akzent auf die Recycling-Mechanismen der NS-Propaganda und auf die Nutzung von alten und neuen Mythen in der Politik. Alte Mythen wurden wieder belebt, neu gestaltet oder mit anderen Mythen kombiniert. Dieser Fundus an Bildern und Symbolen wurde von der NSPropaganda je nach Intention und Kontext unterschiedlich aktiviert, um die SSMännerkörper zu konnotieren. Dadurch wurde die Visualisierung des „Arier"-Mythos und der SS-Männer flexibler gestaltet, was sowohl an ein breiteres Repertoire des Publikums anknüpfen ließ als auch die unterschiedliche Gewichtung der Körperbilder im NS-Diskurs ermöglichte. 1.6.3. Bildkonstruktion
und
Bilddecodierung
Bilder sind dauerhaft. Wie Ernst H. Gombrich sagt: „Man kann [sie] nicht vergessen". Nach seiner Ansicht sind die Augen nicht mehr unschuldig (Gombrich: 1993, 82). Bilder überlagern und beeinflussen das persönliche und das kollektive Gedächtnis und prägen die visuelle Wahrnehmung. Der Neurologe Antonio Damasio hat sich ausführlich mit der menschlichen Wahrnehmung und mit dem Prozess der bildlichen Auffassung beschäftigt. Für ihn sind unser Denken und Fühlen von Vorstellungsbildern geprägt, wobei Bilder sich nicht nur auf das Visuelle beschränken, sondern all unsere Sinne einschließen. Bei jedem Akt der Wahrnehmung konstruiere der Mensch sog. Vorstellungsbilder der Wirklichkeit, die nach schon im Gedächtnis gespeicherten „Wahrnehmungsmodellen" und Erinnerungsbildern aufgebaut werden, und die als neue Vorstellungsbilder im Gedächtnis gespeichert werden. Das Interessante ist, dass es „keine Speicherung von konkreten Abbildern in irgendeiner Form zu geben [scheint]" (Damasio: 1996, 145), vielmehr wird eine Art Schema gespeichert, das immer wieder abgerufen werden muss, wenn der Mensch sich erinnert. Es handelt sich also nicht um die Reproduktion im Ge27
hirn, sondern um eine Rekonstruktion, eine Interpretation des Originals. Dieser Mechanismus ist für die Untersuchung von Bildern im politischen Diskurs von Bedeutung, weil er zeigt, wie Bilder übereinander und miteinander schon im Akt der Wahrnehmung kombiniert werden. Dadurch werden Assoziationspotenziale mobilisiert, die zur Inter27
Einen ersten Versuch, den Wahrnehmungsprozess und die kognitive Einordnung zu verstehen, liefert Aristoteles. Die Linguistik griff das Thema in Bezug auf die Sprache auf, und die Semiotik bemühte sich, den Prozess der Wahrnehmung zu generalisieren. Zum Verständnis von Wahrnehmungsprozessen und zu ihrer triadischen Aufteilung, wie sie oben beschrieben wurde, hat der Semiotiker Charles Sander Peirce besonders beigetragen. Dazu ist vor allem seine Beschäftigung mit Semiotik und Philosophie von Bedeutung. Siehe: Aristoteles: Die Kategorien, Stuttgart 1998; Charles S. Pierce: Collected Papers 1931-1935, Cambridge 1958; Antonio Damasio: Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 1996.
THEORETISCHE KONZEPTE
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pretation der Welt verhelfen. Der Umgang mit Bildern ist daher schwierig. Bilder lassen einen hohen Grad an Kontingenz zu, sind komplex und vieldeutig. Sie erklären sich nicht von selbst. Isoliert können Bilder weder Wahrheit noch Lüge vermitteln. 28 Was die Bilder können, ist Andeuten und Assoziationen wecken. Gerade diese Eigenschaft ist für den politischen Diskurs und für die politische Symbolik nützlich, denn sie bietet eine semantische Lücke, die mit politischem Sinn gefüllt werden kann. Ein analytischer Umgang mit den nationalsozialistischen Bildern ist möglich, wenn sie in Bezug zum sozialen Imaginären gesetzt werden, in dem sie zirkulieren. Die ideologischen Hintergründe ihrer Produktion und Verbreitung, das Bildrepertoire des Publikums und der historisch-politische Kontext des politischen Diskurses müssen dabei berücksichtigt werden. Erst dann erschließen sich die Decodierung der semantischen Strukturen der SS-Körperbilder und ihre Funktion in der NS-Mythoskonstruktion. Um etwas über die Rolle der SS-Körperbilder in der nationalsozialistischen politischen Symbolik zu erfahren, ist es notwendig, die Kontextualisierung auf das Medium der Bilder zu erweitern. Kinobilder ζ. B. werden ganz anders wahrgenommen als Bühnenbilder im Theater, und dieselbe Inszenierung wirkt im Theater anders als im Freien. Die marschierenden Körper der SS-Männer wirkten auf der Straße anders als auf der Leinwand, und das alles wirkte auf die Zuschauer anders als die Metapher oder die literarischen Schilderungen von SS-Körpern. Die Beschäftigung mit so heterogenen Bildergattungen verlangt nach einer phänomenologischen Differenzierung. Das vorliegende Buch arbeitet mit drei verschiedenen Gattungen von SS-Körperbildern: 1) die im Diskurs erzeugten Körperbilder - sowohl verbal als auch schriftlich - , die auf dem Vorstellungsvermögen der Rezipienten beruhten; 2) die Bilder, die aus der visuellen Wahrnehmung erfolgten: a) unbewegte Bilder wie Fotos, gemalte Bilder und Zeichnungen, b) die bewegten Bilder im Film und 3) die Bilder, die aus der Ko-Präsenz des Publikums und der SS-Männer im Alltag oder bei NS-Inszenierungen entstehen konnten. Diese Kategorisierung der Bilder ist selbstverständlich eine analytische Hilfskonstruktion, um Eindeutigkeit zu gewinnen. Denn phänomenologisch betrachtet wirkten die unterschiedlichen Bildergattungen auf einander, und diese Wechselwirkung prägte die Wahrnehmung der SS-Körperbilder. Diese Verwobenheit der unterschiedlichen SS-Bilder im sozialen Imaginären garantierte die Anschlussfähigkeit der idealisierten Körperbilder der SS-Männer, denn dadurch wurde die Überdeckung der SS-Körper mit den idealisierten Körperbildern möglich. Selten stimmten die Idealbilder mit den lebenden Körpern der SS-Mitglieder überein. Die Versuche Heinrich Himmlers, die SS-Männer nach den „arischen" Kriterien zu mustern, scheiterten schon 1929. Der „Reichsführer SS" musste früh feststellen, dass die Anforderungen für eine „Aufzucht" von seinen Männern nicht erfüllt werden
28
Das Thema der Wahrheit der Bilder behandelte Winfried Nöth in seinem Vortrag von 1995 beim Internationalen Kongress fur Semiotik „Semiotics of the Media. State of the Art, Projects, and Perspectives" in Kassel. Siehe: Winfried Nöth: „Can pictures lie?"; Vortrag in „Semiotics of the Media. State of the Art, Projects, and Perspectives", International Conference under the Auspices of the International Association for Semiotics Studies and the Deutsche Gesellschaft fur Semiotik at the University of Kassel, 20.-23. März 1995.
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EINLEITUNG
konnten. 29 Nicht einmal die erwünschte Mindestkörpergröße konnte Himmler von den SS-Kandidaten erwarten und senkte das angestrebte Maß für die Körpergröße von ursprünglich 1,80 m auf 1,70 m, nur die Eliteeinheit „Leibstandarte-SS Adolf Hitler" konnte sich leisten, ausschließlich Männer über 1,78 m zu akzeptieren. Das ideale Körperbild der SS-Männer bedurfte somit der Inszenierung und der medialen Verbreitung, um sich im sozialen Imaginären durchsetzen zu können. Da die SS-Führer selten den „nordischen Idealen" entsprachen, musste eine propagandistische Korrekturarbeit geleistet werden, die die Realität an das NS-Wunschbild anpasste und Mythos bildend funktionieren konnte.
1.7. Ein schwieriger Gegenstand Die SS war keine homogene Organisation. 30 Sie hatte unterschiedliche Aufgabenbereiche und erlebte vor allem nach der NS-Machtübernahme einen Prozess der Ausweitung und Vervielfältigung, der sich in der Erstellung von verschiedenen Einheiten mit unterschiedlichen Kompetenzschweipunkten niederschlug. Auch die Interdependenzen zwischen den verschiedenen SS-Organisationen und der Gestapo und ihren immer wieder veränderten Strukturen stellen einen schwierigen Gegenstand selbst für Spezialisten der NS-Geschichte dar. In den letzten Jahren sind viele neue Arbeiten in der Geschichtswissenschaft entstanden, die dieses Defizit in Bezug auf die Rassenutopie und Rassenpolitik der SS auszugleichen versuchen. Insbesondere die Arbeit der Historikerin Isabel Heinemann „Rasse, Siedlung, deutsches Blut" ist im Kontext des vorliegenden Buches zu nennen. In ihrer Untersuchung des „Rasse- und Siedlungshauptamtes" zeigt die Autorin, wie das Konzept der „rassischen Auslese" in die Rassenpolitik der SS eingeht und welche Konsequenzen es für die Bevölkerung in nationalsozialistisch besetzten Gebieten mit sich zog. Widmet sich Heinemanns Studie der praktischen Umsetzung der SSRassenpolitik, konzentriert sich das vorliegende Buch auf die imaginäre und bildliche Seite der Rassenutopie. Diese neuen Impulse aus der Geschichtswissenschaft sind für das Verständnis der SS-Körperbilder wichtig, weil sie den körperutopischen Aspekt in den Vordergrund stellen. 31 29
30
31
Sein „Zucht"-Projekt der „Auslese" versuchte Himmler in der SS umzusetzen. Die SS führte eine zusätzliche „rassische" Musterung ein, verlangte von ihren Kadidaten den Stammbaum bis zur vierten Generation, und ab dem 31. Dezember 1931 galt der Verlobungs- und Heiratsbefehl für alle SSMitglieder, wonach auch ihre Braut verpflichtet war, ihre genealogischen Ursprünge und eine ärztliche Untersuchung vorzuzeigen. Nach der „Machtergreifung" konnte das dafür zuständige „Rassenamt der SS" erweitert werden. Zum „Rasse- und Siedlungshauptamt" (RuSHA) umbenannt, führte dieses SSOrgan die Rassen- und Zuchtpolitik der SS durch und war für das bürokratische Konvolut verantwortlich, das durch die Verlobungs- und Heiratserlaubnisanträge entstand. Vgl.: Bernd Wegner: Hitlers politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933-1945, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997; Josef Ackermann: Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen/Zürich/Frankfurt 1970. Dazu auch: Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, München 1996. Siehe: Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut". Das Rasse- & Siedlungshauptamt der SS und die rassenutopische Neuordung Europas, Göttingen 2003; Diana Schulle: Das Reichssippenamt.
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EIN SCHWIERIGER GEGENSTAND
Trotzdem standen bislang die Körperbilder der SS-Männer noch nie im Mittelpunkt einer wissenschaftlichen Untersuchung. Eine mögliche Orientierung für die Analyse der SS-Körperbilder kann in der Forschung zur Männlichkeit, zu Männerbildern, Kunst und Sport gefunden werden. Im Bereich der Geschichtswissenschaft und Kunstgeschichte sind insbesondere die Arbeiten von Peter Reichel und Klaus Wolbert hervorzuheben. Beide untersuchen die Ästhetisierung vor allem des männlichen Körpers und stellen die Verbindung zwischen Körperbild und Politik her. Klaus Wolbert behandelt die nationalsozialistischen Inhalte in der Darstellung des Körpers in der Kunst und verdeutlicht die Verbindungen zwischen Ästhetik und Politik. Dabei betont er die Kontinuitätslinien des klassischen Ideals in der NS-Kunst, die Erneuerungskräfte der sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts für die sozialen Vorstellungen des Körpers und die innovativen Momente der Kunst unter dem Nationalsozialismus. Auch Peter Reichel interessiert sich für die Ästhetisierungsmechanismen, mit denen der Nationalsozialismus die Überzeugungskraft seiner Politik zu vermitteln versucht. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht die „Faszination" der „geschönten Seite der Wirklichkeit" des Nationalsozialismus, die, so der Autor, das Publikum anzieht. Bei Reichel durchziehen die Körperbilder die ganze Exkursion in die Bilderwelt des Nationalsozialismus, doch sie werden nicht zum spezifischen Untersuchungsgegenstand gemacht. Unter den Historikern ist George L. Mosse hervorzuheben. Mosse prägt mit zahlreichen Büchern und Aufsätzen die Forschung über Männlichkeit, Körper, Macht und Gewalt im Nationalsozialismus. In seinem Buch Das Bild des Mannes expliziert der amerikanische Historiker die Verbindungen zwischen Macht und Männlichkeit in den Idealbildern des männlichen Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen das nationalsozialistische und das faschistische Männlichkeitsideal. Auch der Sportwissenschaftler Thomas Alkemeyer behandelt den Aspekt der Machtdarstellung und Männlichkeit in den Körperbildern und in der Körpersprache des Nationalsozialismus. Alkemeyer konzentriert sich auf die Olympischen Spiele von 1936 und zeigt, wie der Körper als Inszenierungsmittel der Politik benutzt wurde. Seine Arbeit behandelt die NS-Körperbilder und -Körperkonzeptionen nicht nur vielschichtig und differenziert, sondern zeigt auch, wo die Kontinuitätslinien in Sport, Erziehung und Kunstvorstellungen verlaufen. 32 Eine Institution
nationalsozialistischer
Rassenpolitik,
Berlin 2001. Für die Körpertrennung und -
reglementierung in der NS-Rassenpolitik siehe: Alexandra Przyrembel: ,Rassenschande'. mythos und Vernichtungslegitimation 32
im Nationalsozialismus,
Reinheits-
Göttingen 2003.
Eine der w e n i g e n Publikationen über Körper und Körperbilder im Nationalsozialismus wurde ebenfalls v o n Sportwissenschaftlern verfasst. Es handelt sich um das v o n d e m Amerikaner James Anthony Mangan herausgegebene Buch Shaping
the Superman.
Das Buch untersucht die Ver-
bindung von M y t h e n und Bildern und das Verhältnis z w i s c h e n Körperbildern und „Neuer Mensch"-Utopie im Nationalsozialismus. Leider bleiben die zutreffenden Ansätze der verschiedenen Autoren allgemein, und dem Leser fehlt es an konkreten Analysepunkten. A m interessantesten sind die Aufsätze v o n Graham M c F e e und Alan Tomlinson über „Riefenstahl's Olympia" und v o n Peter Reichel über „Männlichkeit und Militarismus". Vgl.: James A. Mangan (Hrsg.): Shaping
the Superman.
Fascist
Body as Political
Icon - Aryan Fascism,
lich fundierter ist die Arbeit v o n Thomas Alkemeyer: Körper, kelreligion
" Pierre
de Coubertins
zur Inszenierung
von Macht
London 1999. Wesent-
Kult und Politik.
Von der
in den Olympischen
Spielen
„Musvon
1936, Frankfurt/New York 1996. Zu Männlichkeit und Männerbildern siehe: George L. M o s s e :
34
EINLEITUNG
Die Geschichtswissenschaft hat die Rolle der SS im NS-Machtapparat betont, schon die ersten Untersuchungen zur SS hoben durch den Ausdruck „SS-Staat" den Aspekt der parallelen Macht der SS hervor.33 Doch die symbolische Dimension der SS-Männer in der NS-Propaganda wurde kaum betrachtet. Der Einsatz ihrer Körper, die Produktion und die Verwendung ihrer Körperbilder im Herrschaftsdiskurs des Nationalsozialismus blieben vernachlässigt. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man die Vehemenz berücksichtigt, mit der das Bild des „Bösen" auf die SS-Männer noch heute projiziert wird. Zwar wird die SS seit dem Erscheinen von Gerald Reitlingers Buch The SS. Alibi of Nation 1922-1945 (1956) 34 in der Wissenschaft nicht mehr als Quelle des Bösen dargestellt. Kinoindustrie und Popkultur zeigen jedoch, dass der Umgang mit den SSMännerbildern von einem Faszinosum des Bösen beherrscht wird.35 Der zweite Grund für den schwierigen Umgang mit dem Thema liegt im Gegenstand selbst. Körperbilder und ihre Nutzung in der Politik verlangen eine interdisziplinäre Herangehensweise. Außer der kulturwissenschaftlichen Verortung des politischen Diskurses und der semiotischen Analyse verlangen politische Bilder die Berücksichtigung ihrer phänomenologischen Dimension. Umberto Eco macht auf die Funktionen von Phänomenologie und Semiotik aufmerksam: „Die Phänomenologie würde es übernehmen, die Bedingungen der Bildung von kulturellen Einheiten wieder von Anbeginn an zu begründen, welche die Semiotik als gegeben akzeptiert, weil auf Grund dieser Bedingungen die Kommunikation funktioniert" (Eco: 1991, 85). Die Gesellschaft bestätigt Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der Männlichkeit, Frankfurt am Main/Wien 1997; Mosse: Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World War, New York/Oxford 1990; Im Bereich der Kunst siehe: Klaus Wolbert: Die Nackten und die Toten des „Dritten Reiches ". Folgen einer politischen Geschichte des Körpers in der Plastik des deutschen Faschismus, Gießen 1982. Für die NS-Bildpolitik siehe: Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, Frankfurt am Main 1994. 33
34
35
Vgl.: Buchheim/Broszat/Jacobsen/Krausnick (Hrsg.): Anatomie des SS-Staates, Bd. I. und II, 01ten/Freiburg im Breisgau 1965; Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf, München 1996. Koehl nahm den Titel von Reitlingers Buch wieder auf und denunzierte die Verschiebung des Bösen in der Politik aber auch in der Wissenschaft ausschließlich auf die SS, die als einzige die Schuld für die deutsche Vernichtungspolitik während des Nationalsozialismus tragen sollte. Der Autor entlastet keineswegs Himmlers Organisation, vielmehr plädiert er für die Betrachtung des Nationalsozialismus als gesellschaftliches Phänomen. Siehe Robert L. Koehl: The Black Corps. Structure and Power Struggles of the Nazi SS, London 1983; Gerald Reitlinger: The SS. Alibi of a Nation 1922-1945, Melbourne/London/Toronto 1956. Die Ausstellung des polnischen Künstlers Piotr Uklanski „The Nazis" thematisierte den Umgang mit Bildern des Nationalsozialismus in der Kinoindustrie. Der junge Künstler fotografierte Filmeszenen ab, in denen Nationalsozialisten dargestellt worden sind und machte mit 164 „Nazi"Porträts eine Kunstausstellung. Ab 1998 ging „The Nazis" durch verschiedene Länder. 1998 war die Ausstellung in der Photographer's Gallery in London, im Jahr 2000 in den „Kunst-Werken Berlin" und 2001 im Jüdischen Museum in New York zu sehen. Anfang 2001 waren „The Nazis" in der Warschauer Kunstgalerie Zacheta ausgestellt, wo sie für heftige Reaktionen des Publikums sorgten. Auch in London gab es Proteste vom Publikum gegen die Ausstellung. Die Angst vor der Faszination oder vor dem Unverständnis bei jüngeren Besuchern zeugt vom schwierigen Umgang mit NS-Bildern und mit ihrer Zirkulation in der Populärkultur. Dazu: Marek Trenker: „Säbelhiebe auf Film-Nazi", in: Morgenwelt, 11.12.2000.
MATERIALGRUNDLAGE
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und/oder verändert immer wieder den kollektiven Zeichengebrauch - darunter auch Bilder. Neue Zeichen werden benutzt, alte neu verwendet, andere entleert oder mit neuen Inhalten überdeckt. Die Zeichenproduktion ist selbst ein Prozess im Werden. Hinzu kommen Veränderungen der Wahrnehmung, die an Gesellschaftsentwicklungen und technische Innovationen gekoppelt sind. Damit ist die vorliegende Untersuchung ebenso an die Soziologie und an die Kulturwissenschaft gebunden. Der historisch-kulturelle Kontext ist nicht nur für die Situierung des Objekts wichtig, sondern seine erste Voraussetzung. Die politischen Akteure mussten sich mit dem kollektiven Gedächtnis ihres Publikums und mit den sozialen Transformationen auseinandersetzen und sich an diesen Veränderungsprozessen beteiligen, um eine erfolgreiche politische Kommunikation herzustellen, und um Macht ausüben zu können. Auch da berührten sie den Bereich der Bilder und der Wahrnehmung. Um die Konstruktion, politische Verwendung und Verbreitung von Körperbildern im sozialen Imaginären zu analysieren, wird auf ein interdisziplinäres Instrumentarium zurück gegriffen, das ebenso Techniken der Diskursund Filmanalyse wie den Rekurs auf einen semiotischen und kommunikationswissenschaftlichen Hintergrund beinhaltet. Das verwendete theoretische Handwerkszeug wird im Laufe der Arbeit immer wieder, wenn es um konkrete Gegenstände geht, expliziert.
1.8. Materialgrundlage Die Materialgrundlage für die vorliegende Untersuchung ist heterogen. Sie schließt Reden und Publikationen von NS- und SS-Führer und -Ideologen wie Himmler, Hitler, Rosenberg, Darre, sog. „Aufklärungsfilme" 36 , Spielfilme, Filmaufnahmen in der Wochenschau sowie propagandistische Plakate ein. Die nationalsozialistische Presse ist hier grundlegend, vor allem die SS-Zeitung Das Schwarze Korps liefert eine notwendige und wertvolle Basis für die Untersuchung der „Arier"- und SS-Körperbilder. Das Schwarze Korps wurde als SS-Zeitung konzipiert und als ideologisches und propagandistisches Organ von Gunter d'Alquen geführt. Die Zeitung wurde auf Wunsch von Himmler 1935 gegründet, dessen Einfluss auf Das Schwarze Korps unverkennbar war. Am 6. März 1935 erschien das erste Exemplar der SS-Wochenzeitung, und bis März 1945 wurde sie noch gedruckt. Mit einer kleinen Redaktion ausgestattet - d'Alquen hatte nur zwei feste Mitarbeiter - verfolgte Das Schwarze Korps ein innovatives Konzept. Die Zeitung verwendete zahlreiche Illustrationen, oft als Einschaltbild, und richtete sich an ein Publikum, das mit den ideologischen Selbstverständnissen der SS und ihrer radikalen Version des Rassengedankens vertraut war. Vielleicht konnte sich Das Schwarze Korps deswegen manche Kritiken an der NS-Spitze - selbstverständlich Hitler ausgenommen - leisten. Trotzdem erreichte das SS-Presseorgan bedeutende Auflagen: Angefangen 1935 mit circa 70.000 Exemplaren, erreichte Das Schwarze Korps 1937 eine Höhe von 500.000. Im März 1944 wurde Das Schwarze Korps mit einer Auf36
Unter „Aufklärungsfilmen" verstanden die NS-Propagandisten Filme, die nicht explizit Spielfilme waren, die oft nicht gespielte Aufnahmen verwendeten, die aber einen pädagogischen Anspruch hatten. Es handelt sich um propagandistische Produktionen, die für sich einen Wahrheitsgehalt beanspruchten.
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EINLEITUNG
läge von 750.000 Exemplaren die zweitgrößte politische Wochenzeitung Deutschlands.37 Das Schwarze Korps war ein Medium für die Stiftung einer SS-Identität, aber auch für die Verbreitung der SS-Gedanken und ihrer Imagekonstruktion. Sie wurde ausgehängt und konnte dadurch gelesen werden, ohne gekauft zu werden. „Clearly, the ,reader' was more important to the publishers than was the ,buyer'", schreibt der Historiker William Combs (Combs: 1986,20). Neben Das Schwarze Korps waren auch die SS-Leithefte - eine Mischung aus Informationsblatt und Schulungsheft - , die internen Unterlagen der SS und insbesondere des „Rasse- und Siedlungshauptamtes" für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung. Die Archivbestände zum „Rasse- und Siedlungshauptamt", zur „Leibstandarte-SS Adolf Hitler" sowie die „Allgemeinen Richtlinien für die SS" bieten wichtige Informationen über die Körperkonzeptionen und -Vorstellungen innerhalb der SS und über die in der Öffentlichkeit verbreiteten Bilder des SS-Mannes. Diese internen Unterlagen der SS befinden sich im Bundesarchiv Berlin, im Militärarchiv Freiburg und in Potsdam. Das vorliegende Buch ist mit einer Auswahl von Bildern illustriert. Meistens handelt es sich um medial verbreitete Bilder aus Das Schwarze Korps und aus dem Völkischen Beobachter. Außerdem wurden zwei Kunstbilder herangezogen: Die Skatspieler von Otto Dix, wegen seines zusammenfassenden Charakters des Kriegstraumas in der Körperdarstellung, und ebenso verdichtend Fidus' Lichtgebet, das die utopischen Projektionen auf den Körper um die Jahrhundertwende visualisiert und wegen seiner populären Verbreitung als Abbild in der Weimarer Republik von Bedeutung ist. Viele der Bilder aus der NS-Presse waren sog. Einschaltbilder. Sie wurden oft als Illustration für eine Zeitungsseite verwendet und erschienen ohne einen direkten Bezug auf die nebenstehenden Texte, die sie begleiteten. Meistens verweisen die Einschaltbilder auf andere Bilder, ihre Wirkung liegt vor allem in den assoziativen Mechanismen, die sie wecken können.
1.9. Aufbau der Arbeit Die vorliegende Untersuchung nimmt einen ständigen Perspektivwechsel in der Betrachtung von „Arier"- und SS-Männerbildern vor. Damit wird ein facettenreicher Blick auf das Objekt angestrebt, der den Anspruch hat, das Assoziationspotenzial dieser Bilder im sozialen Imaginären aufzudecken, um ihre Funktionen im NS-Diskurs zu verstehen. Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Jeder dieser Abschnitte wirft ein unterschiedliches Licht auf die Körperbilder der SS-Männer. Der erste Teil Prologe stellt den Hintergrund der „Arierbilder" und der NS-Utopie dar, der zweite Mythos zeigt die Mechanismen der Mythoskonstruktion und Bilderproduktion im Nationalsozialismus, und 37
„Unter den politischen Wochenzeitungen folgte dem SS-Organ auf dem dritten Platz erst Julius Streichers Hetzblatt Der Stürmer mit einer Auflage von 398.500 Exemplaren wöchentlich im März 1944." Siehe: Mario Zeck: Das Schwarze Korps. Geschichte und Gestalt des Organs der Reichsführung SS, Tübingen 2002; William L. Combs: The Voice of the SS. A History of the SS Journal ,Das Schwarze Korps', New York/Bern/Frankfurt am Main 1986; Helmut Heiber/Hildegard von Kotze (Hrsg.): Facsimile Querschnitt durch das Schwarze Korps, München/Bern/Wien 1968.
AUFBAU DER A R B E I T
37
schließlich untersucht der dritte Abschnitt der Arbeit SS-Körperbilder und Machtrepräsentation die Umsetzung der SS-Männerbilder im politischen Diskurs und in den Strategien der Machtdarstellung und Gewaltausübung. Der Text kann auf unterschiedlichen Ebenen gelesen werden. Die Kapitel haben jeweils ihre spezifischen Aussagen, die auf das direkt betitelte Thema bezogen sind. Sie sind aber auch vor dem Hintergrund des Prologs I: Die Suche nach dem „Neuen Menschen" und des Prologs II: Kriegserfahrungen und Körperbilder zu lesen, und schließlich geben sie immer Auskunft über die Körperbilder der SS-Männer in Bezug auf die jeweils gewählte Perspektive. Im Prolog I: Die Suche nach dem „Neuen Menschen" und im Prolog II: Kriegserfahrungen und Körperbilder lassen sich Kontinuitäten und Brüche in den Körperbildern vor dem und während des Nationalsozialismus erkennen. Diese sollen einen Hintergrund für die Betrachtung der SS-Männerbilder bieten. Auf der Ebene des politischen Diskurses liefert der erste Prolog eine panoramatische Darstellung von Bildern und Vorstellungen, die für die Konstitution der NS-Ideologie und somit für den Aufbau der nationalsozialistischen Propaganda und für das angesprochene Repertoire ihres Publikums von Bedeutung waren. Parallel dazu geht es um den Drang nach der Bewältigung von Kontingenz, der in der Moderne als phantasmagorische Wiederkehr des vollkommenen Körpers Konjunktur hatte. Das Kapitel zeigt, wie seit dem Anfang des Jahrhunderts die unterschiedlichsten Utopien des „Neuen Menschen" aus dem sozialen Imaginären entstanden und das Repertoire des Publikums prägten. Für die SS-Körperbilder waren vor allem die damit verbundenen Vollkommenheitsphantasien, Zuchtvorstellungen, Disziplinierungs- und Formierungsambitionen eines „neuen" Körpers relevant. Sie boten einen Fundus an Körperbildern und Mythen für die NS-Konstruktion des „Ariers" und für das SS-Rassenideal und stellten ein bekanntes Repertoire dar, das die NSPropaganda anzusprechen versuchte. Obwohl schon am Anfang des Ersten Weltkrieges sowohl die Figur des „Neuen Menschen" als auch die männlichen Körperbilder im politischen Kontext erschienen, gewannen die Bilder des vollkommenen Körpers nach der deutschen Niederlage stärkere politische Konturen. In diesem Kontext entwickelte und erweiterte der Nationalsozialismus seine rassistischen Vorstellungen einer neuen Menschheit. Die NSIdeologie und -Propaganda knüpften an die Vollkommenheitsphantasien und an die Sehnsüchte nach Ordnung und Schutz ihrer Zeit an und gaben dafür eine Richtung vor, die sich als ein effektiver politischer Diskurs für die NS-Herrschaftsstrategien erwies. Wie die direkten und indirekten Erfahrungen des Krieges das soziale Imaginäre mit heroischen und zerstörten Körperbildern prägten, und wie diese Bilder vom Diskurs der politischen Rechten instrumentalisiert wurden, ist das Thema des Prologs II: Kriegserfahrungen und Körperbilder. Dabei werden ebenso die Wirkung von Bildern des Versehrten Körpers und die Mobilisierung der Ängste vor Zerstückelung im rechten politischen Spektrum erörtert. Die Erfahrungen im Krieg und die Bilder des Versehrten Körpers, die daraus entstanden, machen die Lacansche These über den zerstückelten Körper nicht nur plausibel, sondern motivieren ebenso das Nachdenken über die Bedeutung von Bildern der Ganzheit des Körpers für das soziale Imaginäre. 38 Die Geschehnis38
Die Abhandlung über das „Spiegelstadium" hat Jacques Lacan schon 1949, also unmittelbar nach den Erfahrungen des Krieges, veröffentlichen können. Zur „Zerstückelung des Körpers" siehe:
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EINLEITUNG
se, die kollektiven Vorstellungen, die Sehnsüchte und die Ängste, die in der Weimarer Republik mit dem Krieg verbunden waren, sind für das soziale Imaginäre und fur die NS-Propaganda so prägend, dass sie die ganze Arbeit durchziehen.39 Sie bilden den Hintergrund, vor dem die NS-Propaganda ihre Bühne aufbaut und liefern wichtige Elemente für die Bild- und Mythoskonstruktion des „Ariers". Der zweite Teil widmet sich der NS-Mythoskonstruktion, ihrer Fixierung auf die Figur des „Ariers" und ihrer propagandistischen Verbreitung. Er gliedert sich in drei Kapitel, die die propagandistischen Strategien zur Durchsetzung des NS-Imaginären als hegemoniale Wirklichkeit schematisch darstellen. Zuerst wird im Kapitel Entstehung: Von der Machtübernahme zur „Machtergreifung" die Konstruktion der Machtübernahme als „Machtergreifung" analysiert. Das Kapitel expliziert die Bedeutung der Inszenierung eines Übergangsritus für die Etablierung der NS-Macht und für die Logik der NS-Utopie. Daneben werden bei der Analyse der politischen Inszenierung die daran gekoppelte Bildproduktion und das damit verbundene Assoziationspotenzial der NSPropaganda dargestellt. Das Kapitel Fixierung: Die Konstruktion des NS-„Ariers" bietet eine Untersuchung der Mythoskonstruktion und der Produktion von Körperbildern. Dabei werden das Defizit eines Ursprungsmythos und die NS-Recyclingmechanismen bei der NS-Mythoskonstruktion des „Ariers" deutlich. Wichtig erscheint dabei die rassistische Konnotation, die die NS-Propaganda den zum Teil bekannten Körperbildern verlieh. Dazu bietet das Kapitel eine kurze Abhandlung über die Körperbilder, die auf Grund der ihnen zugesprochenen Fremdheit in die „Volksgemeinschaft" nicht integrierbar waren. „Kranke" und „Juden" dienten dabei nicht nur als Projektionsfläche für negative Eigenschaften, sie verkörperten ebenso die Ängste vor Körperversehrtheit und Kontingenz, die von der NS-Propaganda mobilisiert wurden. In Verbreitung: Inszenierte Realität und filmische Verbreitung werden mediale Inszenierung und Verbreitung der NS-Mythen untersucht. Das Kapitel konzentriert sich auf drei Typen von Bildern, die für die Überzeugungsstrategien des NS-Diskurses zentral waren: die Bilder, die das „Dritte Reich" feierten, die Feindbilder und die Idealbilder des „Ariers" und der SS-Männer. Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens lieferte das Paradebeispiel für politische Inszenierung und Ästhetisierung der Politik. Die medialen Bilder des Nürnberger Parteitags in Triumph des Willens multiplizierten die Wirkung des NS-Mythos eines geschichtlichen Bruches und wurden als propagandisti-
Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, in: Norbert Haas (Hrsg.): Lacan Schriften /, Weinheim/Berlin 1986 [1949], 61-70. Zu Lacans Theorie siehe: Peter Widmer: Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Revolution der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1990. 39
Die Liste der Publikationen, die sich den kollektiven Vorstellungen und der kulturellen Produktion in der Weimarer Republik widmen, ist unerschöpflich. Hier können nur einige von ihnen hervorgehoben werden, die fur die vorliegende Arbeit besonders bedeutsam sind. Siehe: Peter Gay: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur der Weimarer Zeit, Frankfurt am Main 1970; Wolfgang Mühl-Benninghaus: Das Ringen um den Tonfilm. Strategien der Elektro- und der Filmindustrie in den 20er und 30er Jahren, Düsseldorf 1999; Detlev Peukert: Die Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1987; Schmölders/Gilman (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik.
AUFBAU DER A R B E I T
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sehe Strategie eingesetzt. Für die mediale Konstruktion des „Ariers" wird eine zweite Produktion Riefenstahls herangezogen. Der erste Teil ihres Olympia-Films Fest der Völker zeigt sowohl eine Wunschverbindung zu den vermuteten griechischen Ursprüngen des „Ariers", also zu einem Ursprungsmythos, als auch die Ästhetisierung des männlichen Athletenkörpers, die das Bild des „Neuen Menschen" darstellte. Damit verband die Regisseurin die antike Tradition der Olympischen Spiele mit den Vorstellungen des „arischen" „Neuen Menschen" der NS-Ideologie. Den Bildern des vollkommenen Körpers waren die Bilder der körperlich Versehrten „Erbkranken" entgegengesetzt. Eine Analyse des „Aufklärungsfilms" Opfer der Vergangenheit soll zeigen, wie die NS-Propaganda die Feindbilder des „erblich Belasteten" filmisch aufbaute und Techniken der Delegitimierung und der Entmenschlichung in ihrer Filmrhetorik verwendete. Auch für die Konstruktion des Jüdischen" Körpers ist die Filmrhetorik von Bedeutung; zwei antisemitische NS-Produktionen werden daraufhin analysiert: der „Aufklärungsfilm" Der ewige Jude und der Spielfilm Jud Süß. Teil III: SS-Körperbilder und Machtrepräsentation widmet sich dem Einsatz der SSMänner in der NS-Machtinszenierung sowie im NS-Machtapparat und der Produktion ihrer Körperbilder. Das Kapitel Die Entstehung des SS-Mythos und das Konkurrenzbild zur SA untersucht die eigene Mythoskonstruktion der SS als Elite und „rassische Auslese" des Nationalsozialismus. Diese ist vor allem dort festzustellen, wo die SS ihre Männerbilder von der SA zu unterscheiden versuchte. Nach 1933 und vor allem nach der Ermordung Röhms 1934 lösen sich die Abhängigkeiten der SS von der SA-Führung. Himmler konnte seine „Arier-Konstruktion" des SS-Mannes im Vergleich zur SA deutlicher machen. Die SA-Männer boten eine negative Folie, von der sich das SSMännerbild abgrenzen konnte. Im Kontrast zu den oft rabaukenhaft und proletarisch wirkenden SA-Männern konnte das SS-Bild als Elite mit asketischem Ethos und „arischem" Ursprung an Konturen gewinnen. Dabei überkreuzten sich in Himmlers SSKonstruktion schichtspezifische Attribute und rassistische Ideale. In Uniformen I: Körpercodierung und in Uniformen II: Macht- und Todessymbolik der SS werden die symbolischen und die sozialen Funktionen der Uniformen analysiert und in Verbindung zur Körperwahrnehmung gebracht. Es geht dabei um eine Annäherung sowohl an die Fremdwahrnehmung als auch an die eigene Wahrnehmung der SSMänner. Die SS-Uniformierten werden in Hinblick auf ihren sozial-codierten Kontext dargestellt. Der phänomenologische Aspekt ist dann in Betracht zu ziehen, wenn es um die Reglementierung des Körpers durch die Uniform geht. Außerdem hingen Fremdwie auch Eigenwahrnehmungen von der symbolischen Wirkung der SS-Uniform ab. In Macht und Todessymbolik der SS-Uniformen wird die Tradition und der Symbolgehalt der drei Hauptzeichen der SS-Uniformen analysiert, die emblematische Wirkung hatten: der Totenkopf, die Lederstiefel und die schwarze Farbe. Schließlich werden in Die Bilder der Macht die SS-Körperbilder nach ihrer Gattung und Funktion in den Machtstrategien differenziert. In Hinblick auf die Funktion als Elemente der Macht- und Gewaltverkörperung werden die SS-Männer in drei Kategorien aufgeteilt, die das Verhältnis zur Visibilität bzw. Invisibilität der Macht berücksichtigen: Machtinszenierung, demonstrative Kontrolle und implizite Überwachung. Die Aufteilung orientiert sich an Michel Foucaults Panoptikumsschema und an Herfried
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EINLEITUNG
Münklers Konzeption der Machtvisualisierung.40 Die Überwachung der Macht wird von ihrer darstellerischen Seite ergänzt und in Bezug auf drei Funktionen der SSKörperbilder analysiert: Machtinszenierung, demonstrative Kontrolle und Machtüberwachung. Die vorliegende Studie stellt die Verbindung zwischen Mythosproduktion, Macht und Utopie am Körperbild des SS-Mannes her. Sie zielt auf eine Forschungslücke, die sowohl die Interdisziplinarität als methodologischen Zugang zum politischen Diskurs des Nationalsozialismus als auch den Gegenstand selbst, d. h. die Körperbilder der SSMänner, betrifft.
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Siehe: Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1976; Herfried Münkler: „Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung", in: Gerhard Göhler (Hrsg.): Macht der Öffentlichkeit - Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden 1995, 213-230.
2. Prolog 1: Die Suche nach dem „Neuen Menschen"
Die Idee wird Gestalt „Daß die nationalsozialistische Revolution zu großen Entscheidungen auf geistigweltanschaulichem Gebiet führen mußte, war allen klar, die überhaupt einmal versuchten, das Wesen dieser Revolution zu erfassen. [...] Die nationalsozialistische Weltanschauung als tiefster Ausdruck deutschen Wesens fordert mit Recht alleinigen Anspruch auf die innere Gestaltung des deutschen Menschen. Ein [sie] Kompromiß gibt es im Kampf um die deutsche Seele nicht. Dies ist ein blutbedingtes Gesetz: und es gibt hier nur ein ehrliches Anerkennen von seiten unserer Gegner oder rücksichtslosen Kampf bis zu ihrer Vernichtung. [...] Erzieher des Volkes für eine neue und bessere Zukunft können nur Menschen sein, die diese Zukunft in sich tragen. Alle deutschen Eigenschaften müssen in einem deutschen Erzieher vereint sein. [...] Wir bauen im Gegensatz zu jenen Mächten der Vergangenheit auf dem Boden der Gemeinschaft auf. Wir streben diese Gemeinschaft, die gleichen Blutes ist, zu gleicher Geisteshaltung zu erziehen. Die Gemeinschaft, soweit sie blutbedingt ist, wird aber stets von den Vertretern einer untergehenden Zeit als Todfeind betrachtet." (Das Schwarze Korps; 19.06.1935) „Die Folgen dieser deutschen Rassenpolitik werden entscheidender sein für die Zukunft unseres Volkes als die Auswirkung aller anderen Gesetze. Denn sie schaffen den Neuen Menschen." (Adolf Hitler: 07.09.1937, in: Domarus: 1965, Bd. 2, 717)
2.1. Krisen und Utopien Die Weimarer Republik ist nicht nur von Desorientierung und Krisen, sondern auch von vielen Utopien geprägt worden. Nach Karl Mannheim hat die Utopie eine ,„wirklichkeitstranszendente' Orientierung [...] die in das Handeln übergehend, die jeweils bestehende Seinsordnung zugleich teilweise oder ganz sprengt" (Mannheim: 1995,169). Utopien sind aber auch Visionen von kontingenzfreien Zuständen. Kontingenz bedeutet „das Nicht-Notwendige und Nicht-Unmögliche bzw. das Zufällige und Mögliche, das
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PROLOG 1: DIE SUCHE NACH DEM „NEUEN MENSCHEN"
eintreten kann, aber nicht muß" (Hillmann: 1994, 442 f.). 1 Der Versuch, Kontingenz zu bewältigen, ist auch ein Versuch, Sicherheit und Orientierung zu gewinnen. Da Kontingenz immer einen Raum für Neugestaltungen und sozialen Wandel in sich birgt, ist die Entstehung von Utopien ein Produkt der Kontingenz gegen die Kontingenz selbst. Dadurch wird nachvollziehbar, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Suche nach einer vollkommenen Umgestaltung der Lebensverhältnisse an Intensität und politischer Bedeutung gewann. Es ging um die Möglichkeit eines radikalen Neubeginns, der nach der Zerstörung der gegebenen Sozialordnung folgen sollte. Der Versuch, Kontingenz zu bewältigen, ist immer der Versuch, das, was anders sein kann, zu begrenzen und zu kontrollieren (Makropoulos: 1997, 29), und er richtete sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert verstärkt auf den Körper. Der „Neue Mensch" erschien dem utopischen Denken von progressiven wie von reaktionären Bewegungen vor und nach dem Krieg als zentrales Leitbild für den Neubeginn, und er wurde als ein Mensch artikuliert, der „von der Last seiner Unsicherheitslagen, in die ihn sein Handeln immer wieder hineinführt, entlastet und von dem Geschick seiner prinzipiellen Daseinsohnmächtigkeit befreit ist" (Küenzlen: 1995, 39). So ist die Suche nach dem „Neuen Menschen" auch die Suche nach einer Antwort auf die „Daseinskontingenz", die zwar nach 1918 bedrohlicher erschien, jedoch für die gesamte Moderne charakteristisch ist. Im 19. Jahrhundert veränderten die wissenschaftlichen und technischen Entdeckungen die Beschäftigung mit dem menschlichen Körper und motivierten die Versuche, das Anders-mögliche im Körper zu beschränken. Der Körper wurde zum Hauptobjekt der Wissenschaft, er wurde untersucht und gemessen, analysiert und korrigiert. Seine Reglementierung und Pathologisierung begünstigten den Normalisierungsdiskurs und beeinflussten auch die Politik. Damit verbunden waren die Ambitionen der ständigen Verbesserung und Optimierung der körperlichen Leistungen, die mit dem modernen Denken korrespondierten. Für Christina von Braun entstand dadurch ein „Phantasma der Unversehrtheit", „das die Neugestaltung der sichtbaren Wirklichkeit nach berechenbaren (von Menschen geschriebenen) Gesetzen beinhaltete" (Braun: 1993, 433). Dies hatte einen paradoxen Effekt: Einerseits wurde die Bewältigung von Kontingenz voran getrieben, und andererseits verstärkte sich die Wahrnehmung von Kontingenz selbst. Zygmunt Bauman erfasst die Haupttendenz der Moderne als „den Drang, Grenzen zu überschreiten, die Dinge zu verändern, und das Interesse, dies zu tun. [...] Die Linie zwischen dem Wünschenswerten und dem Unmöglichen wird nun ausschließlich von den verfügbaren Ressourcen und dem Know-how gezogen. [...] Es spielt keine Rolle, was wir tun, vorausgesetzt, wir können es: Etwas tun können, ist Grund genug, es auch zu tun" (Bauman: 1993, 3/5). Durch den Drang zur Grenzüberschreitung wurden Gesundheit und Körperleistung unter dem Steigerungs- und Optimierungsaspekt gesehen, und der Wunsch nach Kontingenzbewältigung wurde lauter. Industrialisierung, technische und wissenschaftliche Entdeckungen prägten viele Modelle des Körpers und verstärkten die Vorstellungen eines von Kontingenz befreiten Körpers. Die Physiologie, die sich als wissenschaftliche Disziplin im 19. Jahrhundert etablierte, übertrug das MaZu Kontingenz in der Moderne siehe: Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch, Frankfurt am Main 1995; Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992; Michael Makropoulos: Modernität und Kontingenz, München 1997
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schinenschema auf das Funktionieren des menschlichen Körpers. Die Biologie entdeckte die Zellen und versuchte, die neue organische Einheit mechanisch mit Fabrikanalogien zu verstehen. Die Zellen wurden unter dem Leistungsaspekt betrachtet, da sie Energie selbst produzieren und verbreiten. Das Optimierungs- und Rationalisierungsprinzip prägte darüber hinaus die menschlichen Beziehungen und die Vorstellungen über Politik und Gesellschaft. In dieser geistigen Atmosphäre wurde der „Neue Mensch" unterschiedlich gedeutet. Sein Körper stand zum Teil als Synonym fur Vollkommenheit, wurde technischherstellbar vorgestellt oder als natürlich entworfen. Zwei wichtige Zukunftsvisionen fanden im sozialen Imaginären Verankerung und prägten die Vorstellungen des „Neuen Menschen" im sozialen Imaginären: Die eine konstruierte ein Ideal des „Neuen Menschen" als Eroberung der verlorenen Eigenschaften, die andere koppelte das Bild des „Neuen Menschen" an die technischen Fortschritte. Die nationalsozialistischen Körperbilder und die NS-Utopie des „Neuen Menschen" speisten sich sowohl aus den antimodernen als auch aus den modernen Körpervorstellungen. Sie verknüpften die Ziele nach Kontingenzverbannung mit Leistungsoptimierung und Disziplinierung des industriellen Maschinenmodells, mit den Träumen der Wissenschaft nach Vervollkommnung, aber auch mit den Sehnsüchten nach Ganzheit und Vollkommenheit als „natürlichem Zustand", die vor allem in der Lebensreformbewegung präsent waren. Der von Zygmunt Bauman beschriebene Drang nach Grenzüberschreitung findet im Streben nach der „noch-nicht-gewordenen, unerfüllten Natur" des „Neuer-Mensch"Projektes seinen wichtigsten Ausdruck. Der existierende Mensch sei danach nur ein Potenzial von dem, was er sein kann. Ein Gedanke, der in unterschiedlichen Auslegungen ebenso in beiden - modernen und antimodernen - Utopien des „Neuen Menschen" zu finden war, 2 und in der NS-Ideologie bei der „Hervorbringung des Ariers" artikuliert wurde.
2.2. „Degeneration" und „Auslese" Die Leistungsoptimierung des Körpers und das Bedürfnis nach Kontingenzbewältigung wurden von einem Normalisierungs- und Pathologisierungsdiskurs begleitet, der von der Degenerationstheorie und von der Evolutionstheorie beeinflusst war. 1859 erschien Charles Darwins Original On the Origins of Species by Means of Natural Selection und 1860 die deutsche Übersetzung. Die Rezeption der darwinistischen Theorie zog eine ganze Reihe von Interpretationen und Übertragungen der Evolutionstheorie auf andere Bereiche nach sich und wurde nicht nur popularisiert, sondern auch vom politischen Diskurs aufgegriffen. Doch das, was die Körperkonzepte von vielen eugenischen, rassis2
Die Optimierungsgedanken waren auch im Leistungssport zu finden. Die Olympischen Spiele 1936 zeigten, dass nicht nur die NS-Propaganda, sondern auch das Olympische Komitee und Baron de Coubertin davon beeinflusst waren. Siehe: Thomas Alkemeyer: Körper, Kult und Politik. Von der „ Muskelreligion " Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936, Frankfurt am Main/New York 1996; Zygmunt Bauman: „Biologie als Projekt der Moderne", in: Mittelweg 36, 1993, H. 4, 3 - 1 6 .
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tischen und vor allem von der nationalsozialistischen Vorstellung des „Neuen Menschen" grundlegend markierte, waren die Begriffe „Degeneration" und „Auslese". Sie dienten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Klassifizierung des menschlichen Körpers in einem hierarchischen Schema, das zum Teil rassistisch, zum Teil biologistisch definiert wurde, und ermöglichten die Vorstellung eines, wenn nicht von Kontingenz befreiten, so doch zumindest „wissenschaftlich" klassifizierbaren Körpers. Es war der französische Arzt Benedicte Auguste Morel, der 1857 in seinem Traite des degenerescences physiques, intellectuelles et morales diese Begriffe im Bezug auf die Normierung des Körpers produktiv gemacht hat. Wie Darwin war Morel von einem einzigen menschlichen Ursprung für alle Rassen überzeugt. Doch der Arzt konzentrierte sich weniger auf die Entwicklung der menschlichen Spezies, sondern vielmehr auf ihre Anomalien. Er untersuchte die „Folgen von schlechter Ernährung und schlechten Wohnverhältnissen", beobachtete Kinder von Alkoholikern und Prostituierten, analysierte sonstiges „abnormes Verhalten" und stellte dieses in Bezug zur Körperverfasstheit. Vor allem in der Schädelform glaubte Morel die „Degenerationen" ablesen zu können. Selbst wenn sein Traite nicht immer erwähnt wurde, überschritten seine Begriffe die Grenzen des wissenschaftlichen Diskurses und gingen in populärwissenschaftliche Vorstellungen und sogar in volkstümliche Redensarten ein. Eine Panik vor dem „Abnormen" breitete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus und zirkulierte parallel zu den utopischen Konstruktionen des vollkommenen Körpers im sozialen Imaginären. Seit der Jahrhundertwende entfaltete sich im sozialen Imaginären der Normalisierungsdiskurs des Körpers in der Übertragung von Körpervorstellungen auf die Gesellschaft. Der Normalisierungsdiskurs schlug sich vor allem in der Thematisierung von Krankheit und in der Verwendung der Krankheitsmetapher als Beschreibungsmuster des politischen Diskurses nieder. Krankheitsmetaphern sind Diskurselemente, die meistens verwendet werden, um eine regulativ-repressive Wirkung zu erzielen. Die Krankheitsmetaphern im politischen Diskurs zeigten das Bedürfnis nach der Grenzziehung zwischen Pathologie und Gesundheit, Norm und Abnorm. 3 Sie drückten die gegenwärtigen Normalisierungs- und Optimierungsambitionen aus und ermöglichten vor allem hierarchische Vorstellungen von menschlichem Fortschritt und von positiver wie negativer Entwicklung. In diesen diskursiven Aneignungen des Körpers ging die Angst vor „Degenerationen" zusammen mit dem Glauben an den Fortschritt. Insbesondere die Eugenik trat für die Optimierung des menschlichen Körpers und für die Vorbeugung vor physischen und psychischen „Degenerationen" ein, die vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Sozialprogramm formuliert werden konnten. Die Eugeniker verstanden ihre „Lehre" als eine Weltverbesserungstechnologie, und es ist dabei nicht verwunderlich, dass schon 1932 der Dritte Internationale Eugenik-Kongress in New York unter dem Leitwort „Eugenik ist die Selbststeuerung der Evolution" stand. 4 In 3 4
Vgl.: Susan Sonntag: Krankheit als Metapher, Frankfurt am Main 1996. Vgl.: Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene, Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1996, 162. Zum Eugenik-Kongress von 1939 siehe auch: Ludger Weß: „Der ,neue Mensch' als Ware. Von Zwangseugenik zur Konsumeugenik", in: Christian Mürner/Adelhaid Schmitz/Udo Sierck (Hrsg.): Schöne, heile Welt? Biomedizin und Normierung des Menschen, Berlin 2000, 11-18.
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derselben Tradition plädierte die internationale Genetikergemeinschaft auf dem VII. Internationalen Kongress für Genetik von 1939 in Edinburgh für eine Erweiterung ihrer Interventionsmöglichkeiten im Sinne einer biologisch befriedeten Weltgesellschaft (Roth: 1986, in: Kaupen-Haas, 14). Auch hier trafen sich Verbesserungsambitionen und die Angst vor „progressiven Entartungen". Die Kehrseite der Angst vor Krankheiten und „Degeneration" zeigte sich in der Utopie. Nicht nur Eugenik, auch Rassenhygiene und Rassentheorie projizierten die Degenerationsängste ihrer Epoche auf eine biologische Zukunft und versuchten, eine „Sozialtechnologie" zur Verbesserung des „Menschenmaterials" aufzubauen. Sie bekämpften das Problem an seinen „Wurzeln", das hieß, am „Erbgut" der Bevölkerung. Im politischen Bereich wuchs das Verständnis für die Verstaatlichung der Kontrolle der individuellen Körpergesundheit und menschlichen Reproduktion: Indem Krankheiten eine Bedrohung für den „Volkskörper" und auch eine Bedrohung für die Produktivität der Gesellschaft bedeuteten, waren körperliche Gesundheit und körperliche Aktivität keine Privatsache mehr, sie wurden zum Staatsinteresse deklariert. Diese Vorstellung biologisierte das Soziale und dehnte den Rahmen der Medizin auf das Politische aus. Damit ist die Tendenz zur gesellschaftlichen Bemächtigung des Körpers zu kennzeichnen, die Michel Foucault vor allem in Sexualität und Wahrheit beschreibt. Zu dieser Bemächtigung des Körpers gehören nicht nur seine physische Reglementierung, sondern auch die Produktion von Körperdiskursen und Körperbildern. Auf diese Weise wurde die Brücke zu den rassistischen und rassen-eugenischen Zuchtphantasien und Plänen vom Ausschluss der „Minderwertigen" und „Unerwünschten" gewährleistet. Der Kranke wurde, weil unproduktiv, als gesellschaftsschädlich betrachtet, denn er konsumiere Energie des „Volkskörpers". Darüber hinaus sah man in den Trägern von „Erbkrankheiten" eine explizite Gefahr für die Gesellschaft, da sie ihre Krankheiten anderen Generationen weitergeben und damit den „Volkskörper infizieren" könnten. In diesem Fall geht es nicht nur um ein Leistungsdefizit, sondern auch um eine vermutete zunehmende „Degeneration" des kollektiven „Erbgutes". Dies zwang zum Paradigmenwechsel in der Medizin: Die Krankheit wurde auf die Kranken verschoben. Bedrohlich seien nicht mehr die Krankheiten selbst, sondern ihre Träger, die immer mehr zu Feindbildern erklärt wurden. Außerdem wurde Krankheit nicht nur physisch, sondern auch psychisch und als soziale Verhaltensstörung aufgefasst. Der Begriff der Krankheit schrieb vor, was sozial gesund und was „asozial" sei. Danach galten in drei Stufen die Krankheit Syphilis, das Verhalten Prostitution und die Prostituierte selbst als Ursprung von „Degenerationen". Bei den rassentheoretischen Interpretationen schloss der Begriff der „Minderwertigkeit" ebenso die Kategorie des „Asozialen" wie die der „rassischen Minderwertigkeit" ein. Da Krankheit ein „Eindringling" des individuellen Körpers und des „Volkskörpers" sei, wurde eine Verteidigung erforderlich. Der Krieg gegen die „Degenerierten" und „Minderwertigen" sei deswegen ein „Selbstverteidigungskrieg" auf politischer Ebene. In letzter Instanz führte diese Gesundheitspolitik zur Eliminierung des Krankheitsfokus, d. h. zum Unschädlichmachen und sogar zur Vernichtung der vermutlichen Träger von „Erbkrankheiten". „Biologisch determiniert" zu sein, schreibt Bauman, „bedeutete einen Mangel, der seinen Träger daran hindert, in die gesunde und normale Gesellschaft in-
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tegriert zu werden. Ist eine Behebung dieses Defekts nicht bekannt, bleibt als einzige ,Lösung' die strikte Trennung der Kranken von den Gesunden" (Bauman: 1993, 6). Diese Vorstellungen breiteten sich auch in der Politik aus. Im Laufe der zwanziger Jahre entwickelten sich Eugenik und Rassenhygiene zu „einer weit verbreiteten Bewegung mit immer stärkerem Rückhalt in Regierungskreisen". Trotz eines stärkeren Pluralismus trugen sie in der Weimarer Republik „ganz entscheidend zum Entstehen eines geistigen Klimas bei, das einer faschistischen Doktrin mit all ihren Grausamkeiten Vorschub leistete" (Usborne: 1994, 144/169). Wie später gezeigt wird, wurde der „Neue Mensch" von manchen Wissenschaftsströmungen und Sozialutopien sogar als züchtbar gedacht. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass die Zwangssterilisierung von geistig Behinderten und die „Euthanasie"-Kampagne im Nationalsozialismus bis zum Kriegsausbruch von der internationalen Eugenikbewegung begrüßt worden sind.5
2.3. Der Raum der „Degeneration" Die Bekämpfung von „Degeneration" fand zwar im Körper statt, widmete sich aber allen Faktoren, die den Körper beeinflussen könnten. Lebensbedingungen, Gewohnheiten und Ernährung gehörten zu den Gestaltungsbereichen, die von den Utopien des „Neuen Menschen" beansprucht wurden. Sehr schnell, auch als Reaktion gegen die modernen Lebensformen, wurde die Großstadt als Ort der „Degeneration" designiert. 6 Dort häuften sich für Wissenschaftler und Eugeniker, aber auch für die Anhänger der Reformbewegung die prädisponierenden Lebensbedingungen, die zu einer „Verschlechterung der Volksgesundheit" führten. Durch den Mangel an Licht, Luft und sauberem Wasser sei die Entstehung von „Degenerationen" sowohl als Krankheit des individuellen Körpers als auch als Beschädigung des kollektiven „Erbguts" durch die Begünstigung der Reproduktion von „Minderwertigen" zu befürchten. Für den politischen Diskurs ist hauptsächlich von Interesse, dass die Gesundheitsmetaphern sowie die degenerationstheoretische Färbung der Hell/Dunkel-Opposition als rhetorisches Mittel verwendet wurden und Orientierung suggerierten. Ein zweiter negativer Zugang zur Großstadt charakterisiert sie als Ort der psychischen Überforderung. Nervosität erschien seit Ende des 19. Jahrhunderts sowohl als individuelles als auch als sozial-politisches Symptom. Sie zeigte sich als körperliches Leiden der
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Vgl.: Stephan Kühl: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 1997; siehe auch Karl Heinz Roth, „Schöner neuer Mensch", in: Heidrun Kaupen-Haas (Hrsg.): Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, Nördlingen 1986,11-63.
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Die Großstadt war nicht nur negativ konnotiert. Technikbegeisterte und Avantgardisten waren von neuen Sinneseindrücken, schnellem Tempo und Aktivität begeistert, sie sahen darin den Ort der Vernetzung und Mobilität. Aus den divergenten Reaktionen auf die Moderne entwickelten sich unterschiedliche Vorstellungen vom Körper und von seiner Umwelt, die sich in der Debatte über die Großstadt niederschlugen.
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Patienten: Magen- und Darmbeschwerden, Impotenz, Herzflattern, Schlaflosigkeit, Angst- und Schwächezustände; aber sie gehörte auch zur sozial-politischen Stimmung. 7 Häufig war die Angst vor der „degenerativen" Wirkung der Großstadt mit der Befürchtung einer Auflösungstendenz der Gemeinschaft verbunden. Die Großstadt erschien als „Platz des abnormen, unnatürlichen Wachstums" und sogar als Krebs.Ä Die Diskurse über „Nervosität" und „Degeneration" fokussierten primär auf den Körper, der als kontingenter Ort die utopischen Entwürfe störte. Diese Ängste gehörten zwar zum sozialen Imaginären schon vor 1914, doch mit den Erfahrungen des verlorenen Krieges und der Nachkriegzeit wurden sie politisch artikuliert. Sie beeinflussten die Vorstellungen von Krankheit, Gesundheit und Normalität und prägten die Körperauffassung der „NeuerMensch-Utopien" allgemein und insbesondere die des NS-„Ariers".
2.4. Die Lebensreform- und Jugendbewegung Eine der wichtigsten Reaktionen auf die „Degeneration" und auf die „Bedrohung des modernen Lebens in der Großstadt" lieferten die Lebensreform- und Jugendbewegungen. Sie entwickelten alternative Lebenskonzepte mit neuen Körperpraxen, die den „natürlichen" Zustand des Körpers wieder herstellen sollten. Wanderungen, Sonnenkuren und das, was man für besonders natürlich hielt, sollten zurück zur Gemeinschaft und zum „natürlichen" Körper führen. Die Natur stand für Ordnung und im weitesten Sinne für eine quasi theologische Vernunft. Die Ansicht, dass der Körper nicht natürlich sein kann, weil er schon immer gesellschaftlich geprägt wurde, wie es bei Nietzsche zu lesen war (Nietzsche: 1998, 377), interessierte die Lebensreformer nicht. Ihre Inspirationsquelle holten sie aus antiken Körper-Auffassungen. Sie sahen Piaton mit den Augen von Winckelmann und ließen sich von der Sehnsucht nach einem vollkommenen und harmonischen Zustand leiten. In Piatons Lehre stand das Ziel, „so weit wie möglich Gott ähnlich" zu werden. Damit war die Harmonie zwischen Körper und Seele in einem Korrespondenzverhältnis gemeint. „Tugend, Güte und Schönheit der Seele" seien nach Piaton „direkt proportional der Gesundheit und Ebenmäßigkeit des Körpers, während seine Krankheit und Häßlichkeit mit seelischer Schlechtigkeit in Verbindung gebracht werden" (König: 1989, 41). War die vollkommen harmonische Körper-Seele-Einheit fur Piaton und in gewisser Weise auch für die von Piaton inspirierten humanistischen Ideale als Leitbild gedacht, kehrte die Figur des vollkommenen Menschen an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert als Gesellschaftsprojekt, als Zukunftsprojektion zurück. Der „Neue Mensch" der Lebensreform bedeutete mehr als die platonische Urform; in Anlehnung an Winckelmanns Idee des idealen Körpers kehrte er als programmatisches Ziel für Individuum und Gesellschaft zurück und bekam ein stärkeres Gestaltungsmoment. Johann Joachim Winckelmanns Interpretation der Antike wurde revitalisiert, und sein Griechenlandmy7
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Zur Nervosität im 19. Jahrhundert siehe: Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien 1998. Vgl.: Ulrich Linse: „Zeitbild Jahrhundertwende", in: Michael Andritzky/Thomas Rautenberg (Hrsg.): „ Wir sind nackt und nennen uns Du ". Eine Geschichte der Freikörperkultur, Gießen 1989, 10-49.
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thos gewann mit der Idealisierung eines „Neuen Menschen" an körperlicher Gestalt. Winckelmann, der nicht wusste, dass die antiken Statuen ursprünglich bemalt waren, sah in der griechischen Kunst den Ausdruck einer vollkommenen reinen Natur und setzte in seinem 1755 veröffentlichten Buch Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und in Bildhauerkunst das Natürliche mit dem Schönen widerspruchsfrei zusammen. Dies taten auch die Lebensreformer im 20. Jahrhundert, sie identifizierten die Natürlichkeit, Schönheit und Gesundheit des Körpers als Zeichen seiner Vollkommenheit und hatten eine holistische Sichtweise auf Leben und Körper. Programmatisch galt es, besonders die Spaltung zwischen Leib und Seele zu überwinden, um den harmonischen „Neuen Menschen" zu ermöglichen. Den verschiedenen Lebensreformbewegungen erschien die Perspektive einer Lebensart, in der sich Körper und Seele durch die Natur wieder versöhnen könnten, als Idealzustand. Ihre Kritik richtete sich weniger an die kapitalistische Industrialisierung als vielmehr an die Begleiterscheinungen der Verstädterung. Lebensreform- und Jugendbewegung waren bürgerlich-antibürgerliche Bewegungen, sie appellierten mit suggestiven Bildern an das Verlangen nach Glück, Frieden, Natur und idyllischem Leben, die den Schutz einer festen Ordnung versprachen. Diese Wünsche und Sehnsüchte traten angesichts des verlorenen Krieges, der wirtschaftlichen Depression und der sozialen Desorientierung in der Weimarer Republik verstärkt auf und konnten vom Projekt des „Neuen Menschen" aufgefangen werden. Eine bunte Palette an Naturkult, Wandergruppen, Makrobiotikerbewegung, Vegetarismus, Heilmedizin, Esoterik, Freikörperkultur, Ausdruckstanz, Jugendbewegung, Turnvereinen usw. bot einen Weg, der „kalten" Moderne zu entfliehen, und gab den einzelnen Menschen ein Versöhnungs- und Ordnungsprinzip fur Körper und Geist. In diesem breiten Spektrum vermischten sich unter anderem Agrarromantik, volkstümliche Vorstellungen, heterogene Interpretationen von Piatons Vorstellung von Vollkommenheit, Rassentheorien und Esoterik. Eines der kuriosesten Beispiele bildete die so genannte Runengymnastik, sie entstand in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts und war von ariosophischen Gedanken inspiriert und von Rassentheorien und Antisemitismus geprägt. 9 Durch transzendente Körperübungen glaubten die Anhänger dieser Körperpraxis den Kontakt mit Gott und den „Urgermanen" herstellen zu können. Der Körper diente hier als Medium und Raum der Transzendenz und erreichte diese durch das Erleben. Das Erlebnis war der Schlüssel fur die gesamte Lebensreform und auch für die Jugendbewegung, es war ein körperlicher Vorgang, der das „Fühlen" und „Erfahren" ermöglichte und an die Natur bzw. an einen „natürlichen" Zustand gekoppelt war. Die ideellen Vorstellungen von „Einfachheit, Natürlichkeit, Gemeinsamkeit und Volksverbundenheit" der Lebensreform- und Jugendbewegung trugen romantische, antibürgerliche und antimoderne Gesellschaftsbilder mit sich, die später die Erziehungs- und Körperpolitik der Nationalsozialisten beeinflussen sollten. Die Idealisierung des Bauerntums, die oft die anti-großstädtischen Empfindungen begleitete, versprach die Regeneration der Gesellschaft in der „Volksgemeinschaft". Bei der Jugendbewegung waren die Bemühun9
Vgl.: Bernd Wedemeyer: „Runengymnastik: Zur Religiosität völkischer Körperkultur", in: Stefanie von Schnurbein/Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener" Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, 367-385.
DER REFORMIERTE KÖRPER UND SEIN RECYCLING IM NATIONALSOZIALISMUS
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gen, das Jugendleben neu zu gestalten, mit Traumbildern eines „Neuen Menschen" verbunden, die das Gewicht auf das Gemeinschaftsleben in der Gruppe verlagerten, die aber politisch diffus blieben. Konzentrierte sich die Jugendbewegung auf die Körpererfahrung, um eine eigene Identität der Jugendlichen gegenüber der Elterngeneration zu behaupten, entfalteten sich innerhalb der Lebensreformbewegung programmatische Richtlinien für den Körper als Möglichkeit einer grundsätzlichen Veränderung des Wesens. Der „Neue Mensch" sollte nicht nur anders, sonder auch in und mit einem „neuen Körper" leben. Jugendbewegung und Lebensreformbewegung waren simultane Gesellschaftserscheinungen. Sie griffen Bilder und Vorstellungen des sozialen Imaginären auf und trugen mit neuen Bildern dazu bei. Die Rückkehr des Körpers als vordergründiger Erfahrungs-, Erkenntnis- und Veränderungsraum prägte das Imaginäre der Weimarer Republik und war nicht weniger beeinflusst von den wissenschaftlichen und technischen Entdeckungen als von der gegenläufigen Tendenz zu antimodernen Mustern. Hinzu kamen die Brüche des Krieges, die Versehrten Körper der Heimkehrer, die Wirtschaftskrise sowie politische und soziale Desorientierung, die die Erfahrung von Kontingenz brisant und den Körper zum privilegierten Ort der Auseinandersetzungen um neue utopische Entwürfe machten.10 Die NS-Ideologie stützte sich auf diese Bilder und Diskurselemente des sozialen Imaginären, die wiederum in die Konstruktion der nationalsozialistischen Mythen und Bilder eingingen." Dies lag an der „Recyclingstruktur" der NS-Propaganda und -Ideologie, aber auch an den Strukturen des sozialen Imaginären, die eine Repertoirebasis für die Ausbreitung der unterschiedlichsten Ideologien boten.
2.5. Der reformierte Körper und sein Recycling im Nationalsozialismus. Eine Annäherung an die Körperkonzeption des „Neuen Menschen" In erster Linie hieß Lebensreform Selbstreform, d.h. Selbstarbeit am eigenen Körper und an der Lebensweise. Freilich enthüllte die Selbstreform etwas mehr als das Bedürfnis nach Ordnung und überschaubaren Verhältnissen. Sie bezog sich direkt auf die Angst vor der Versehrtheit des Körpers, vor Tod und vor Krankheit. Es ging vor allem um die Bewältigung von Kontingenz am eigenen Leib. Die Veränderungen der Lebensweise sollten dem Leib - also Körper und Seele - Harmonie und Schutz gegen Krankheit und Schwäche garantieren. Dieser Aspekt der Selbstreform wurde vom Nationalsozialismus rezipiert und mit dem rassentheoretischen Ansatz kombiniert. Er zeigte sich im Vegetarismus und in der Ablehnung von Alkohol und Tabak durch Hitler und Himmler und manifestierte sich in Form von Zeitungsartikeln und Ratgeberbroschüren, 10 1
Zu Körper, Kontingenz- und Kriegserfahrung siehe den Prolog II. ' Zum Einfluss der Jugendbewegung auf den NS-Gedanken siehe: Jürgen Reulecke: „Hat die Jugendbewegung den Nationalsozialismus vorbereitet? Zum Umgang mit der falschen Frage", in: Wolfgang R. Krabbe (Hrsg.): Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, 222-243.
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PROLOG 1: DIE SUCHE NACH DEM „NEUEN MENSCHEN"
die vor allem in der SS-Presse erschienen. Das Schwarze Korps widmete immer wieder ganze Seiten den Themen Ernährung und Körperpflege, oft mit rassentheoretischem Akzent, wie etwa in dem Artikel „Ursache - nicht Wirkung!" vom 10. Juni 1937: „Die Vegetarier und vor allem die Rohkostler sind im Durchschnitt idealistischer, fanatischer und glaubensstärker als die Fleischesser. Aber das dürfte keine Folge des Vegetarismus sein, sondern dessen Ursache". Die NS-Ideologie gab der Selbstreform eine rassentheoretische Pointierung und leitete daraus das Prinzip der „Veredelung", d. h. der Hervorbringung und Optimierung schon vorhandener Eigenschaften der Rasse ab. Was der Anspruch an Selbstreform für die Auffassung vom Körper bedeutet, zeigt vor allem die Beschäftigung mit der Ernährungsreform. Diese Körperpraxis stellt die Angst vor Körperversehrtheit, aber auch den Wunsch nach Körperoptimierung deutlich zur Schau. Mittels der Einfuhrung von Heilsubstanzen und Lebensmitteln (Energiequellen) in den Leib zielte die Ernährungsreform auf Gesundheit, Heilung und sogar Veränderung des seelischen und psychologischen Befindens, eigentlich des ganzen Menschen. Die Kontrolle über das Essverhalten, d. h. über das, was vom Körper aufgenommen wird, folgt der Annahme, es könnten prophylaktisch Krankheiten und Störungen verhindert werden, indem der Kontakt zu „giftigen" Substanzen unterbrochen und verboten wird. Wie der Psychoanalytiker Claus-Dieter Rath schreibt, ist Gift psychisch höchst bedrohlich, es „ist eine unsichtbare Macht, die Zugang hat, wirken kann, ohne einer Legitimation zu bedürfen", deswegen sei das Gift „nicht als Subjekt dingfest zu machen" (Rath: 1984, 198). Damit mache Gift die Kontingenz zur brisanten Erfahrung und zerstöre das Bild des harmonischen Körpers. Allerdings sind der Schutz des Körpers vor giftigen Substanzen und die Verbesserung seiner Konstitution ohne Affektdisziplin nicht möglich. Die Affekte, die mit dem Mund verbunden sind - lustvolle und aggressive/destruktive - gewinnen dabei eine zusätzliche symbolische Bedeutung, indem die Gefahr der Öffnung nach außen artikuliert wird. Die Vergiftung, die durch den Mund erfolgt, ist, im Gegensatz zur unfreiwilligen Erkrankung wegen „Lichtmangels" oder „Luftverpestung", eine selbst gewählte. Essregulierung ist in diesem Kontext nicht nur als Gesundheitsmaßnahme zu verstehen, sondern funktioniert zusätzlich als Körperdisziplinierung und Affektkontrolle. Die Kontrolle des Körperverhaltens als Weg zur Gesundheit und Vervollkommnung führt eine Dimension der Schuldzuweisung ein. Das undisziplinierte Subjekt wird für schuldig an seiner Krankheit erklärt. Da Krankheit durch ein „bewusstes" und diszipliniertes Leben verhindert werden kann, erscheint sie als Ergebnis von individuellem Fehlverhalten. Die Konsequenzen der Diät: „Indem die neuen diätetischen Auffassungen den Menschen immer wieder an die gesundheitlichen Folgen des Fehlverhaltens erinnern, werden damit sehr frühe Ängste vor der Zerstörung körperlicher Integrität reaktualisiert, welche nicht ohne weiteres durch anderes Verhalten relativiert werden können" (Kleinspehn: 1987, 235-236). Diese Koppelung von Gesundheit an Disziplin ermöglichte die Illusion, alle organischen Störungen und Mechanismen könnten gesteuert werden, und mobilisierte dafür die Ängste vor Kontamination, die auch in Bezug auf das unkontrollierte sexuelle Verhalten geschürt wurden. Die individuelle Körperdisziplinierung im Sinne der Lebensreform richtete sich nicht nur auf das Individuum, sondern zielte auf eine soziale Verän-
DIE IKONOGRAPHIE DES „NEUEN MENSCHEN" UND DER NACKTE KÖRPER
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derung. Die Angst vor giftigen Substanzen in individuellen Körpern hatte ihr Pendant in der Angst vor der Kontamination des „Volkskörpers". Hier erschien die Kontamination durch sexuellen Kontakt noch bedrohlicher und drückte sich unter anderem in den Krankheitsmetaphern des politischen Diskurses aus. Die Furcht vor Kontamination prägte die Körperutopien seit der Jahrhundertwende und wurde auch von der NSPropaganda rezipiert. Der Nationalsozialismus war von der Angst vor Vergiftung des „Volkskörpers" vor allem durch „minderwertiges Erbgut" und „minderwertige Rassen" geprägt. Durch die Kriminalisierung des Geschlechtsakts mit nicht-Zugehörigen der „Volksgemeinschaft" - „Rassenschandegesetz" - wurde versucht, die sexuelle Aktivität der individuellen Körper zu kontrollieren.12 Die individuellen Körperöffnungen wurden damit zu bedrohlichen Schwachstellen des „Volkskörpers", die es durch Affektkontrolle und Kriminalisierung des Sexualverhaltens zu verschließen galt. In Mein Kampf formulierte Hitler ein siebenseitiges Plädoyer für die Kontrolle der menschlichen Reproduktion: „Ein völkischer Staat wird damit in erster Linie die Ehe aus dem Niveau einer dauernden Rassenschande herauszuheben haben, um ihr die Weihe jener Institution zu geben, die berufen ist, Ebenbilder des Herrn zu zeugen und nicht Mißgeburten zwischen Mensch und Affe" (Hitler: 1933,445 ff.).
2.6. Die Ikonographie des „Neuen Menschen" und der nackte Körper Die Suche nach einem von Kontingenz befreiten Körper, der gleichzeitig als natürlich und vollkommen galt, verlangte nach ikonographischen Vorlagen. Gewiss hat kein anderer mehr zur Gestaltung von Körperbildern des „Neuen Menschen" beigetragen als der Maler Hugo Höppener, genannt Fidus. Fidus malte seit der Jahrhundertwende für zahlreiche Zeitschriften für Lebensreform und FKK vorwiegend Akte und war einer der wichtigsten Illustrateure des Lebensreformer-Verlags Eugen Diederichs. Seine Bilder gehörten zum Bilderrepertoire des sozialen Imaginären vor und nach dem Krieg und prägen noch heute die kollektiven Erinnerungsbilder der Lebensreformbewegung. Das Lichtgebet, Fidus' berühmtestes Bild (Abb.4), gehörte zur häufigen Dekoration von Schüler- und Studentenzimmern, aber auch von Gauleiterbüros.13 Fidus' zentraler Typus war der Jünglingsakt, er bot die Visualisierung eines „Neuen Menschen", der die Jugend verkörperte und eine „Regeneration des Menschengeschlechts" repräsentierte. Sein „Neuer Mensch" folgte den apokalyptischen Utopien und versprach einen Bruch mit der alten Kultur, an deren Stelle das vollkommene Neue geschaffen werden sollte. Nach Gert Mattenklott zeigt Fidus' „Mythologie und Ikonenkunst" eine Tendenz zu „einer präreligiösen Bildwelt", denn der „Neue Mensch" erscheint in Fidus' Malerei als Heilsziel und als Versprechen einer Wiedergeburt. 12
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Zur „Rassenschande" im Nationalsozialismus siehe: Alexandra Przyrembel: „Rassenschande". Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003. Vgl.: Gert Mattenklott: „Körperkult, Ökosophie und Religion. Ein kritisches Vorwort zur Neuauflage des Fidus-Buches von Janos Frecot, Johann Friedrich Geist und Diethart Krebs", in: Janos Frecot/Johann Geist/Diethart Krebs: Fidus 1868-1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegung, Hamburg 1997, VII-XXVIII.
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PROLOG 1: D I E SUCHE NACH DEM „ N E U E N M E N S C H E N "
Hier, wie bei den meisten Gruppen der Lebensreformbewegung, spielte die Sonne eine wichtige Rolle. Das Licht erhielt eine kultische Bedeutung und symbolisierte den Sieg über die Finsternis und damit die Überwindung der modernen Zivilisation.14 Meistens trat das in Sonne gebadete blonde und athletische „nordische Menschenideal" als Hauptmotiv in Fidus' Bildern auf. Diese phänotypische Darstellung des „Neuen Menschen" war mit Wunschinhalten wie Reinheit, Gesundheit und Schönheit verknüpft, die einen Schutz vor Kontingenz versprachen und zum Körperdiskurs des „Lichtmenschen" gehörten. Schon Heinrich Pudor beschrieb um die Jahrhundertwende den idealen Körper mit „goldenem Haar, blauen Augen, rothen Lippen, weißen Zähnen und einem sammetrothbrauner Leib - das ist die Farbskala des Körpers der zukünftigen Menschen in Europa".15 Fidus' Bilder visualisierten die Vorstellungen einer Korrespondenz zwischen Körpererscheinung und inneren Eigenschaften und gaben dem Utopieemblem der Lebensreformbewegung und vor allem der FKK ikonographischen Ausdruck. Die Bilder des blonden, oft als vollkommen und „nordisch" konnotierten Menschen, zirkulierten in den Massenmedien und gehörten zum sozialen Imaginären seit der Jahrhundertwende. Es überrascht daher nicht, dass sie auch das rassistische Körperideal des „Ariers" prägten. Die unterschiedlichen Postulate der Rassentheorien waren populär und wurden von der Lebensreformbewegung zum Teil rezipiert. Der Begriff „Rasse" wurde in den Zeitschriften für Lebensreform und FKK oft erwähnt, jedoch selten definiert und blieb meistens unbestimmt. Dies bot Raum für verschiedene Interpretationen und Projektionen von unterschiedlichen Körperkonzepten. Bei manchen Autoren, wie etwa Richard Ungewitter, bekam der „nordische Mensch" eine antisemitische und rassistisch-germanischverehrende Konnotation. In seinem Buch Kultur und Nacktheit, das schon vor dem Ersten Weltkrieg erschien, plädierte Ungewitter für eine planmäßige Rassenzüchtung, die mittels der Praxis der Nacktheit gewährleistet werden sollte. Nach dem Krieg verschärfte sich sein Ton, er sah als Priorität die „Reinigung des Volkskörpers" von „minderwertigen Elementen" wie „Juden und Negern".16
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Die Tendenz zur Lichtmetaphorik war schon 1876 bei Richard Wagners Uraufführung von Der Ring des Nibelungen festzustellen, in dem Siegfried als erlösende Lichtgestalt erscheint. In diesem Kontext erhielt „die germanische Götterlehre" eine neue Erlöserqualität angesichts der modernen Welt. Zu „nordischen Gedanken" und „Germanenutopien" im Kaiserreich siehe: Julia Zernack: „Nordenschwärmerei und Germanenbegeisterung im Kaisereich", in: Henningsen/Klein/Müssener/ Söderlind (Hrsg.): Katalog zur Ausstellung Wahlverwandtschaft, Skandinavien und Deutschland 1800-1914, Berlin/Stockholm/Oslo 1997, 71-78. Der Katalog bietet auch andere Beiträge zu völkischen Utopien von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg ebenso wie zur Mythoskonstruktion des „nordischen Menschen" und über den Einfluss der völkisch-nordischen Utopien auf die NS-Ideologie. Zur Siegfried-Figur bei Wagner und nach Wagner siehe Herfried Münkler/Wolfgang Storch: Siegfrieden. Politik mit dem Deutschen Mythos, Berlin 1988.
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Hans Pudor: Nackende Menschen. Jauchzen der Zukunft, 1906; Zitat nach: Frecot/Geist/Krebs: Fidus 1868-1948,49. Zu Richard Ungewitter siehe: Andritzky/Rautenberg (Hrsg.): „Wir sind nackt und nennen uns Du ". Zu Fidus und FKK siehe: Frecot/Geist/Krebs, Fidus 1868-1948; zu dem Einfluss von Heinrich Pudor und Richard Ungewitter auf die FKK und Lebensreformbewegung siehe im selben Band: „Abriß der Lebensreform", 13-58.
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DIE IKONOGRAPHIE DES „NEUEN MENSCHEN" UND DER NACKTE KÖRPER
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Die meisten Anhänger der FKK waren jedoch nicht so radikal wie Ungewitter. Für sie war die Praxis der Nacktheit ein Versuch, den natürlichen Körper wieder zu finden. Sie sahen die Freikörperkultur als einen Widerstand gegen Mode und städtischen Lebensstil, die nicht nur den Körper, sondern auch die Sitten verdürben. Die FKK koppelte moralische an Gesundheitsansprüche und konstruierte ihren Körperdiskurs auf eine sehr ambivalente Weise. Nacktsein habe nichts mit Geschlechtstrieb oder Schamlosigkeit zu tun, im Gegenteil, in der Freikörperkultur lerne das Individuum, sich selbst zu beherrschen und Nacktheit von sexuellen Reizen zu dissoziieren. Die Kontrolle über den Körper und seine Körperöffnungen erschien wie in der Ernährungsreform als Schlüssel zur Gestaltung des „Neuen Menschen". Doch auf der anderen Seite blieb die Sexualität, obwohl unterdrückt, in den FKK-Disziplinpostulaten latent. Sie wurde nicht verbannt, sondern kanalisiert: Die Praxis der Nacktheit bekam bei vielen FKK-Gruppen eugenische und sogar rassistische Züge. Dies war vor allem der Fall, wenn Sexualität als Brücke für Zuchtträume des „Neuen Menschen" funktionalisiert wurde. Dabei diente die Praxis der Nacktheit einer „besseren" Gattenwahl, da der exponierte nackte Körper Gesundheit und Vitalität „nachweise" und Hässlichkeit „verrate" und zu einer rassenhygienisch positiv orientierten „Fortpflanzung" beitrage. Nicht nur die Arbeit am Körper, Fleiß, Leistung und Disziplin würden in der Nacktheit sichtbar, auch der „physische Ausdruck biologischer Anlagen" zeige sich im nackten Körper. Selbstverständlich sei dabei ästhetische Erziehung notwendig, denn die „künstlichen" Korsettformen verdürben nicht nur den Körper, sondern auch die Schönheitsempfindung. Dies implizierte einen physiognomischen Blick, der die Beurteilung des Körpers, sei es nach rein ästhetischen, eugenischen oder „rassischen" Kriterien, verschärfte. In der Zeitschrift Körperkultur vom September 1908 kritisierte C. Konschitzky den Mangel an ästhetischer Erziehung der deutschen Männer bei der Betrachtung der Frau: „Sucht doch der Mann stets nur das Echt-Weibliche: die bestimmten Geschlechtsmerkmale, welche das weibliche Schönheitsideal charakterisieren; erst in zweiter Linie fesselt ihn der Rassentypus und leitet ihn sein individueller Geschmack. [...] Es naht die Epoche einer neuen sozialästhetischen Entwicklung; denn das Bedürfnis nach einer ausgeprägten Art der Lebenskunst erheischt ein neues Daseinsideal im Sinne der beherrschten Freiheit von Leib und Seele, des erhabenen Ausgleichs von Natur und Sitte zum Zwecke der Höchstwertung des allgemeinen menschlichen Werdegangs." 17 Nach diesem Argument würde die Nacktheit den „Körperbewussten" ermöglichen, gesunde potentielle Partner(innen) von denen mit „mangelhaften" Körpern, und deswegen „paarungsunwürdigen", zu unterscheiden. Das Postulat zeigt sowohl, dass dieser FKKDiskurs die eugenischen Vorstellungen rezipierte, als auch, dass er im eugenischen und rassentheoretischen Rahmen geführt werden konnte. Die physiognomische Beurteilung des Körpers wurde auch vom Nationalsozialismus rezipiert und galt als Erkennungsmethode des „Ariers". Hitler selbst verteidigte in Mein Kampf die ästhetische Schulung im Umgang mit dem Körper als Maßnahmen der „Rassenzucht" (Hitler: 1933, 458). In der SS, wo die „Rassenphysiognomik" zu den Musterungskriterien ihrer Mitgliedern gehörte, versuchten SS-Funktionäre des Rassen- und Siedlungshauptamtes, deutliche Kriterien für rassen-eugenische Beurteilung nicht nur 17
Vgl.: C. Konschitzky: „Sexuale Ästhetik", in: Körperkultur,
September 1908, 253 f.
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PROLOG 1: DIE SUCHE NACH DEM „NEUEN MENSCHEN"
der Körper der SS-Männer, sondern auch ihrer künftigen Ehefrauen zu etablieren.18 Unter anderem war das Amt mit Musterung, Stammbaum, Verlobungs- und Heiratsbefehl der SS-Mitglieder, aber auch mit der „rassischen Aufklärung" von SS-Männern und -Frauen beschäftigt. Bemüht um die Zucht der „Arier", veranstaltete das Amt Vorträge, oft mit Diapositiven, und gab Broschüren zur Aufklärung der SS-Männer bei der Partnerwahl heraus.19 Mit der Beurteilung des nackten Körpers verstärkten sich auch die Phantasien der Körpervervollkommnung, die auf die Körperpraxis der FKK wirkten. Training und Körpererziehung wurden immer mehr als Methode für die Kräftigung und ästhetische Formung des Körpers eingesetzt. Was ursprünglich als Erholung vom Alltag in der Großstadt und Suche nach seelischer Harmonie ersehnt wurde, bekam bei vielen der Lebensreformer einen Leistungscharakter. Es galt, Muskeln zu straffen, Haut zu verschönern und die Triebaffekte unter Kontrolle zu halten. Engagierte Lebensreformer und FKK-Anhänger wie Eugen Sandow (1867-1925) entwickelten ganze Techniken, nach denen der Körper formiert und modelliert werden konnte. Sandow beeindruckte mit seinem wohlproportionierten und akribisch trainierten Körper nicht nur das deutsche, sondern auch das englische Publikum und errichtete in London das, was man für einen Vorgänger des Fitness-Studios halten kann. Im Vordergrund stand die Schulung der ästhetischen Wahrnehmung zur „Körperschönheit" im Sinne Winckelmanns. Das platonische Ideal wurde in der Körperformierung der Freikörperkultur nicht vollkommen umgedreht, sondern in einer bestimmten Richtung weiterentwickelt und zugespitzt. Seine Rezeption war unter anderem von der Philanthropie beeinflusst. 20 Während Piaton von der innen-gesteuerten Bewegung sprach, d. h. von einer natürlichen Steuerung der Körperbewegungen von der Seele, verlagerten die FKKler den Akzent auf die Selbstdisziplinierung als erforderlichen Weg für gesunde und schöne Körper. Der vollkommene Körper stand nicht nur für den Ausdruck des harmonischen Verhältnisses zur Seele, sondern bildete an erster Stelle das Ziel der Reform. Nicht alle FKKler gingen so weit, und es gab auch Gruppen, die sich von den Leistungsgedanken distanzierten. Für die NS-Körperkonzeptionen jedoch waren diese Gruppen nicht relevant, denn die nationalsozialistischen Körpervorstellungen orientierten sich vielmehr an den disziplin- und leistungsfixierten Postulaten, die sie rassistisch und eugenisch stärker pointierten.
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Das Rassen- und Siedlungshauptamt (RuSHA) war der SS unterstellt, bestimmte die interne Rassen- und Zuchtpolitik der SS und führte sie durch. In deutsch besetzten Gebieten regelte das Amt die Rassenfragen und stellte die Kriterien für die „Arisierung" bei der lokalen Bevölkerung auf. Zum Rassen- und Siedlungshauptamt vor allem nach 1939 siehe: Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut". Das Rasse- & Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003 Vgl.: BA-Berlin, Dok.: NS 2/179. Zum Verlobungs- und Heiratsbefehl siehe: Gudrun Schwarz, Eine Frau an seiner Seite. Ehefrauen in der „SS-Sippengemeinschaft", Hamburg 1997. Zu philanthropischen Bewegungen im 19. Jahrhundert siehe: Eugen König: „Körperbewegung bei Piaton und den Philanthropen", in: Gunter Gebauer (Hrsg.): Körper- und Einbildungskraft. Inszenierung des Helden im Sport, Berlin 1988, 181-190.
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Der Werdegang des berühmtesten Vertreters der Freikörperkultur in Deutschland, Hans Suren, verdeutlicht die Verbindungen der Körpervorstellungen der FKK zu NSKörperkonzeptionen und SS-Männerbildern. Hans Suren wurde 1885 in Berlin geboren und war preußischer Leutnant. 1907/1908 wurde er als Sportlehrer bei der MilitärTurnanstalt verpflichtet. Da er sich 1912 in die Schutztruppe für Kamerun versetzen ließ und später von den britischen Truppen in Nigeria verhaftet wurde, erlebte Suren den Ersten Weltkrieg nicht auf europäischem Boden. Nach dem Krieg kehrte Suren nach Deutschland zurück und arbeitete wieder als Militärsportlehrer, diesmal als Kommandant der Heeresschule für Leibesübungen in Berlin. Dort unternahm Suren Reformen, wie die Einführung von Gymnastik mit Medizinbällen, Sportlehmbädern und Geländeläufen mit nacktem Körper. 21 Anfang der zwanziger Jahre veröffentlichte er sein Buch Der Mensch und die Sonne und verabschiedete sich von der Reichswehr. Er lehnte sich gegen Leistungssport und Drill auf, vertrat aber eine Leibeserziehung, die Körperleistung und -Schönheit steigern sollte. Die Körperschönheit sah Suren als „Befreiung". Der Mensch und die Sonne machte nicht nur auf die Bedeutung der Sonne für den menschlichen Körper aufmerksam, sondern brachte eine Fülle an Aktphotos, auf denen vor allem Männergruppen bei Gymnastik, Luft- und Lichtkuren, aber auch beim Lehmbad dargestellt wurden. Dabei plädierte Suren für eine Freikörperkultur, die sehr stark auf Arbeit, Leistung und Disziplin basierte: „[...] Wille und Energie meistern das Leben! Gepaart mit Vernunft erstreben sie kraftvolle Schönheit! [...] Nur ständige Arbeit am Körper erzielt Schönheit." (Suren: 1924, 85). Und genau dieser Punkt in Surens Überzeugung korrespondierte mit der NS-Leibeserziehung: die pädagogische Nutzung des Körperideals für die Charakterprägung und Körperformierung. Zwar sah die rassistische Körperkonzeption des Nationalsozialismus keine Möglichkeit der Verbesserung eines „rassisch minderwertigen" Körpers vor, doch die „Veredlung" der „vollwertigen biologischen Anlage" durch eine gezielte Ernährung und Körperpraxis war ein Ziel der nationalsozialistischen Körperpolitik. „Und so wie im allgemeinen die Voraussetzung geistiger Leistungsfähigkeit in der rassischen Qualität des gegebenen Menschenmaterials liegt, so muß auch im einzelnen die Erziehung zuallererst die körperliche Gesundheit ins Auge fassen und fördern [...]" (Hitler: 1933, 451), verlangte Hitler in Mein Kampf. Dieses Ziel durfte Suren im Nationalsozialismus weiter verfolgen. Nach 1933 arbeitete er als Inspektor fur Leibeserziehung in der Reichsleitung des Deutschen Arbeitsdienstes und danach als Sonderbevollmächtiger des Reichsbauernführers für Leibeserziehung in der Landesbevölkerung. 22 Trotzdem ist hier eine Zäsur festzustellen; nach der Machtergreifung verlor die FKK immer mehr an Freiraum, bis die verschiedenen Gruppen verboten oder gleichgeschaltet wurden. Vor allem das Prinzip der Aufhebung von Rang oder sozialer Hierarchie durch die Nacktheit ging bei den Nationalsozialisten verloren. Übrig blieben die Ambitionen einer Leistungssteigerung des Körpers in Form von Schönheit, Reinheit und Gesundheit und die bei manchen Gruppen vertretene Idee einer Menschenzüchtung. Nacktheit jedoch wurde der Kunst und der ausgewählten 21
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Vgl.: Dietger Pforte: „Hans Suren - eine deutsche FKK-Karriere", in: Michael Andritzky/Thomas Rautenberg (Hrsg.): „ Wir sind nackt und nennen uns Du", 130-135. Vgl.: Dietger Pforte: „Hans Suren - eine deutsche FKK-Karriere".
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PROLOG 1: DIE SUCHE NACH DEM „NEUEN MENSCHEN"
Gruppe um Hans Suren überlassen. Dass die Selbstarbeit an den Körpern bei Lebensreformern und FKKlern als Erneuerung von Volk, Gemeinschaft und sogar Rasse artikuliert werden konnte, liegt vor allem an den von innen gesteuerten „Reinigungs- und Veredelungsambitionen". Die Utopie des „Neuen Menschen" wurde sowohl in Bezug auf den einzelnen Körper als auch auf das Kollektiv artikuliert. Damit wurde eine Basis für völkische und sogar für rassistische Projekte geschaffen, die die nationalsozialistischen und SS-Körperkonzeptionen aufgriffen.
2.7. Die Siedlungsbewegung und die rassisch-eugenischen Projekte Die Utopie des „Neuen Menschen" versuchte, die Siedlungsbewegung in Gesellschaftsexperimenten zu verwirklichen. Die Siedlungs- und Bodenreformbewegung konzentrierte sich auf die Gründung agrarischer Gemeinschaften, deren geschützte Räume als Gegensatz zur krankmachenden Großstadt fungieren sollten. In den mehr oder minder geschlossenen Siedlungen wurde der Schritt von der Selbstreform zur Gesellschaftsreform gewagt. Allgemein richteten sich Siedlungsexperimente gegen die kapitalistische Wirtschaft und versuchten, ihren eigenen Lebensmittelbedarf selbst abzudecken. Es gab unterschiedliche politische und soziale Richtungen der Siedlungsbewegung. Je nach Gruppe überwogen eher völkisch-nationale, sozialistische oder auch eugenische Tendenzen von links und rechts. Für die nationalsozialistischen und für die Körperkonzeptionen der SS sind vor allem die rassisch-eugenischen Siedlungsprojekte von Interesse. Die Rasseneugeniker engagierten sich mit unterschiedlich ausgeprägten wissenschaftlichen Ansprüchen in der Siedlungs- und Bodenreformbewegung. Schließlich ließen sich Hygiene- und Rassegedanken mit den von den Siedlungsreformern vertretenen Vorstellungen vereinbaren, wenn diese den Körper als Raum für „Veredlung" und Optimierung von Leistung, Schönheit und Gesundheit sahen. Aus dem Nichts eine vollkommen neue Siedlung zu schaffen, dabei die Mitglieder nach „erblichen Qualitätskriterien" auszusuchen, um dort ein neues politisches System zu gründen, erschien als absoluter Neubeginn für die Utopie. In der Siedlung konnte der Wunsch nach Qualität und Kontrolle des „Neuen Menschen" umgesetzt werden. Ansichten, die später in den NS-Körperauffassungen, in der NS-Politik und insbesondere in der SS-Kolonisationspolitik im Osten wieder lebendig wurden. Das Siedlungsbestreben des Eugenikers Alfred Ploetz aus dem 19. Jahrhundert in der Schweiz ist in diesem Kontext von Bedeutung. Der antisemitische Arzt war besorgt um die „Qualität des Menschen" und spekulierte auf die Entstehung von Kolonien, in der „hochwertiges Menschenmaterial" angesiedelt werden sollte. Ploetz war Herausgeber des „Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie" und eines der prominentesten Mitglieder der „Gesellschaft für Rassenhygiene". Er konzentrierte sich auf die Verbesserung des Körpers und meinte, wie viele Anhänger der FKK, den gesundheitlichen und biologischen Zustand des Menschen an seinem Körperaussehen ablesen zu können. Die idealen Orte für die passende Partnerwahl seien daher die Seebäder. In seinem Buch Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen schlug Ploetz 1895 vor, im Fall eines trotz gesunder Abstammung „schwächlichen und missratenen" Neugeborenen
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D I E SIEDLUNGSBEWEGUNG UND DIE RASSISCH-EUGENISCHEN PROJEKTE
solle „vom Ärzte-Kollegium, über das der Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet [werden], sagen wir durch eine kleine Dosis Morphium". 23 Eine Idee, die schon vor der NS-„Kindereuthanasie" von 1939-1940 unter den Eugenikern nicht unbekannt war. Die Gedanken von Ploetz wurden von seinem Zeitgenossen Willibald Hentschel beeinflusst. Hentschel war der Gründer des Siedlungsprojektes „Mittgart-Bund zur Erneuerung der germanischen Rasse" von 1906. 1902 veröffentlichte er seinen utopischen Entwurf in Form eines Buches, Varuna24 Im Gegensatz zu Ploetz vertrat Hentschel seinen Antisemitismus öffentlich, denn für ihn war der „Neue Mensch" ein „germanischer" bzw. „arischer". Er träumte von der Gründung einer Sippe, die Schutz vor „rassischer Vermischung" und vor dem „korrupten" Einfluss der modernen Welt bot, und in der nur ausgewählte Menschen leben dürften. Deswegen waren die Körper der künftigen Mitgliedskandidaten nach den biologischen Grundlagen und dem Gesundheitszustand zu beurteilen. „Mittgart" 25 sollte eine Siedlung werden, in der der germanische „Stamm" isoliert gezüchtet werden konnte. Dort galten die „rassischen Ausleseprinzipien", die die Richtung der späteren SS-Zuchtutopie Heinrich Himmlers aufzeigen würden. Die Vorstellung einer „arischen" Rassenzucht war in diesem Kontext nicht fremd, sie konnte schon Ende des 18. Jahrhunderts in völkisch-esoterischen Kreisen in Österreich und Deutschland gefunden werden und drückte sich in verschie7 ft
denen spezialisierten Büchern, Zeitungen und Zeitschriften aus. Nach Auffassung vieler Gruppierungen in der Siedlungsbewegung waren schon die ursprünglichen historisch verstandenen - „Germanen" und „Arier" um eine rassische Auswahl der Paare als Modus für den Erhalt der „Sippe" bemüht gewesen. Lanz von Liebenfels, einer der prominentesten Autoren dieses völkisch-rassistisch-esoterischen Spektrums und Mitwirkender der Zeitschrift Ostara, schlug sogar die Errichtung von „Reinzuchtkolonien" vor, wofür er die Veranstaltung von „Rasseschönheitspreisen" als Auswahlkriterium ihrer Mitglieder vorsah. Er empfahl außerdem „die Anwendung der Euthanasie, die klösterliche Abschließung bestimmter nordischer Zuchtmütter, das Zeugungsvorrecht des ario-germanischen Helden sowie die radikale Liquidierung der Juden" (Hermand: 1995, 78). Ganz im Sinne Liebenfels' sah auch Hentschel die Kontrolle über die Paarungen mit absoluter Verfügungsgewalt über den Leib der Siedlungsmitglieder als wichtige Voraussetzung für den Erfolg eines Zuchtprogramms des „Neuen Menschen". 23
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Zitiert von Gerhard Baader: „Zur Ideologie des Sozialdarwinismus", in: Gerhard Baader/Ulrich Schultz (Hrsg.): Medizin und Nationalsozialismus: tabuisierte Vergangenheit - ungebrochene Tradition?, Frankfurt am Main 1989, 46. Das Veröffentlichungsjahr von Varuna ist hier von Jost Hermand übernommen, George L. Mosse datierte das Buch auf das Jahr 1907 - vermutlich eine spätere Edition. Vgl.: Jost Hermand: Der Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Weinheim 1995, 141; George L. Mosse: Die völkische Revolution, Frankfurt am Main 1991, 125. Das Wort „Mittgart" weist auf „Midgar" zurück, in den nordischen Mythen „die mächtige mittlere Welt, in der die Menschen leben". Vgl.: Raymond I. Page: Nordische Mythen, Stuttgart 1993, 102. Eines der berühmtesten Beispiele für diese Art Publikationen war die Zeitschrift Ostara, die sich dem „nordischen Menschen" widmete. Fokus ihrer Sorgen war die Reinhaltung der „arischen Rasse" und die Gesundheit und Schönheit des „arischen Körpers". 1905 gegründet, erreichte Ostara eine Auflage von 100.000 Exemplaren.
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PROLOG 1: DIE SUCHE NACH DEM „NEUEN MENSCHEN"
Als Methode zur Erhöhung der menschlichen (Re)Produktion schlug Hentschel die Polygamie vor: Männer und Frauen sollten sich paaren und sich nach der Geburt des Kindes trennen. Der Frau blieb eine Periode von zwei Jahren ohne Gatten, in denen sie sich ausschließlich um das Kind kümmerte, während der Mann schon andere „Paarungen" einging. Das ideale Verhältnis der „Männchen- und Weibchenzahl" glaubte er bei 100 Männern zu 1.000 Frauen zu finden. 27 Kein Wunder, dass das Mittgart-Experiment in der bürgerlich-konservativen Gesellschaft trotz aller Bemühungen um eine Rückkehr zu den „germanischen Wurzeln" nicht Fuß fassen konnte. Die Idee einer fast industriellen Menschenzüchtung kollidierte mit den sozialen Vorstellungen von Familie. Auch Himmler sollte später neue Modelle gegen die bürgerliche Familie vorschlagen. Er gründete den Verein Lebensborn e. V. als Ort für uneheliche Geburten, wo ausschließlich als „arisch" klassifizierte Mütter ihre Kinder gebären konnten. Voraussetzung dafür war die „arische" Herkunft des Vaters. Himmler hatte sogar über die männliche Bigamie für „arische" Soldaten spekuliert, in der Hoffnung, die Reproduktion des „Ariers" in Kriegszeiten dadurch zu begünstigen, ohne sie jedoch in der Praxis konsequent umzusetzen. Was ihn allerdings nicht hinderte, die SS-Führer zu einer zweiten inoffiziellen Familiegründung zu ermutigen. Er selbst war mit zwei Frauen liiert, mit Ehefrau Margarete hatte Himmler ein Kind und mit seiner Sekretärin Hedwig Potthast noch zwei uneheliche Kinder. 28
2.8. Der Bund der Artamanen und sein Einfluss auf die SS Nach dem Ersten Weltkrieg engagierte sich Willibald Hentschel für ein neues Experiment. Mit Hilfe Bruno Tanzmanns (Deutsche Bauernhochschule Heilau) und Wilhelm Kotzes, des Führers der rechts-orientierten Organisation der Jugendbewegung Adler u. Falken, bildete er 1924 die erste Bauernsiedlung der Artamanenschaft auf dem Rittergut Limbach. Im selben Jahr folgten noch zehn weitere Gruppen in Sachsen, Mecklenburg und Hessen. 29 Anders als in Mittgart waren die Artamanen nicht an einem einzigen Ort angesiedelt, sondern auf viele Gutshöfe verteilt. Auch das züchterische Programm Hentschels wurde nicht so radikal angewendet. Ein Bruch mit den sittlichen Konventionen der Zeit lag den Siedlern fern, dort bildete die Familienstruktur die Basis für die Gemeinschaft. 30 Nach Werner Kindt arbeiteten im Jahr 1929 über 2.300 Artamanen auf etwa 270 Gütern und Höfen (Kindt: 1974, 912). Doch das Ziel eines „arischen Neuen Menschen" in einer agrarischen Gesellschaft wurde deswegen nicht aufgegeben. Wie bei Mittgart nahmen sie nur eine „Auslese" auf. Die artamanische Utopie wurde in den Osten, vor allem nach Ostpreußen verlegt, wo sie den „Lebensraum des Deutschen Volkes" sa-
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Vgl.: George L. Mosse: Die völkische Revolution. Besonders das Kapitel Germanische Utopien ist hier von Interesse. Vgl.: Gudrun Schwarz: Eine Frau an seiner Seite, Hamburg 1997, 82/92 ff. Vgl.: Werner Kindt: Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf/Köln 1974, 907-930. Vgl.: George L. Mosse: Die völkische Revolution, 129.
DER BUND DER ARTAMANEN UND SEIN EINFLUSS AUF DIE S S
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hen. Schon vor der Siedlungsgründung klagte Hentschel über die nicht-deutsche Bevölkerung in diesem Gebiet und veröffentlichte 1923 sein Manifest Dr. W. Hentschels Aufruf zum „Artam", in dem er sich über die „ostbaltischen Rittergüter" beklagte. Polnische Arbeitskräfte sollten seiner Meinung nach von jungen Deutschen aus der Stadt ersetzt werden.31 Außerdem war das Weltbild der Artamanen von esoterischen Vorstellungen, ariosophischen und theosophischen Ideen geprägt, die später in das rassenideologische Konzept Heinrich Himmlers einflossen. Die Ariosophie konsolidierte sich in Deutschland um die Jahrhundertwende als eine rassistisch-esoterische Bewegung. Ihre bekanntesten Anhänger waren Lanz von Liebenfels (1874-1954) und Guido von List (1848-1919). Beide glaubten an eine „arische Herrenrasse", die gegen eine „Anti-Arier-Konspiration" von Juden, „Nicht-Ariern" und der früheren Kirche verteidigt werden musste. Außerdem glaubten sie an Reinkarnation und gründeten pseudoreligiöse Orden, die sich der Wiederbelebung verlorener esoterischer Kenntnisse und rassischer Eigenschaften der „Urgermanen" widmeten.32 Den „Arier" sahen sie als das höchste Entwicklungsstadium des Menschenlebens, als Erlösungsträger der Menschheit, was sie schon im Wort „Arier" aus dem Altindischen zu lesen glaubten, denn „Arya" bedeutete „der Edle". Die Überzeugung, die Deutschen seien Nachkommen der „arischen" Kaste, d. h. der höchst entwickelten Kaste im alten Persien, lieferte die religiöse Prämisse für den Glauben an die Bewahrung und Erneuerung eines „arischen Menschen". Die Artamanen waren ebenso von dieser Überzeugung geprägt. Schon den Namen des Bundes leitete Hentschel von dem persischen „Sonnengott" Artam ab. Das Hakenkreuz erschien in diesem Zusammenhang als wichtiges Sonnensymbol. Die Kombination von Esoterik mit rasseneugenischen, degenerationstheoretischen und sozial-darwinistischen Ansätzen, wie sie im Bund der Artamanen zu finden war, ermöglichte sowohl „wissenschaftliche" als auch religiöse Körperdiskurse und Legitimationsdiskurse der „arischen" Herrschaft und bereitete das Terrain für die Politisierung der Utopie des „Neuen Menschen" im Nationalsozialismus und insbesondere innerhalb der SS. Schon die Zahl der Doppelmitglieder des Artamanen-Bundes und der NSDAP lässt eine starke ideologische Nähe zur NS-Ideologie vermuten. Im Jahr 1927 waren 80 Prozent der Artamanen Mitglieder der NSDAP, 33 ferner waren wichtige NSFührer und zentrale Figuren der SS im Artamanen-Bund. Das war unter anderem der Fall bei Heinrich Himmler, bei dem Artamanen-Vereinsvertreter Friedrich Schmidt, bei Walter Darre, dem späteren NS-Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und Mitdenker der SS-Heiratsgenehmigung, bei Rudolf Höß, dem Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz, und bei Hans Hilfelder, der Himmler in die NSDAP brachte. Denn Himmler war zuerst Mitglied der Artamanen, wo er sogar zwischen 1928 und
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Dr. W. Hentschels Aufruf zum „Artam" wurde 1923 in Deutsche Bauern-Hochschule 1923, 3. Jahrgang, 3. Folge veröffentlich. Zitiert nach Werner Kindt: Artamanenbewegung, 914 f. Zur Ariosophie und Esoterik im 19. Jahrhundert und ihrem Einfluss auf den Nationalsozialismus siehe: Nicholas Goodrick-Clarke: The Occult Roots of Nazism. Secret Aryan Cults and their Influence on Nazi Ideology, Washington Square/New York 1992. Vgl.: Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich, 141.
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PROLOG 1: DIE SUCHE NACH DEM „NEUEN MENSCHEN"
1929 die Funktion eines „Artamgauführers" in Bayern erfüllt hat, 34 und trat dann der NSDAP bei. Mit seiner Ernennung zum Hauptführer-SS verließ Himmler den Bund der Artamanen.35
2.9. Zusammenfassung und Ausblick Im vorhergegangenen Abschnitt wurden verschiedene Utopien dargestellt, die zum sozialen Imaginären der Weimarer Zeit gehörten und die Körperkonzeptionen des Nationalsozialismus beeinflussten. Sie waren sozial und manchmal politisch ausgerichtet und suchten ihre Entfaltung in der Figur eines vollkommenen „Neuen Menschen". Der Fokus fiel auf das Bedürfnis nach Kontingenzbewältigung, das vor allem nach dem Ersten Weltkrieg politisch artikuliert wurde. Dabei wurde die Aufmerksamkeit auf jene sozialen Bewegungen und Strömungen gerichtet, die die Vision des nationalsozialistischen „Neuen Menschen" direkt oder indirekt beeinflussten. Diese blickten auf den Körper, den sie als Verwirklichungsraum für die Erneuerung des ganzen Menschen sahen. Dies erfolgte sowohl individuell als Selbstreform - mit der Konnotation der Selbstentfaltung mittels Selbstdisziplin (Wille) und mit dem Anspruch auf „Vervollkommnung" des Leibes als auch im Sozialen, unter anderem in der politischen Kontrolle über die Körperpraxis in ihren intimsten Momenten, wie der Reglementierung der Reproduktion und Sexualität. Es ging nicht nur darum, den Körper vor Kontingenz und Versehrtheit zu bewahren. Diese utopischen Entwürfe offenbaren auch den modernen Drang zur Grenzüberschreitung, der sich in der Vorstellung von Optimierung und Vervollkommnung des Körpers festsetzte. Die SS entwickelte sich - durch Heinrich Himmlers Engagement - zu der NSOrganisation, die die „NS-Träume" vom „Neuen Menschen" am radikalsten formuliert hat. Nicht nur in der ideologischen, sondern auch auf der bürokratischen und Organisationsebene der SS wirkten die ästhetischen, elitären und rassistischen Idealbilder des vollkommenen „Ariers". Die Idee, mittels der Begutachtung des Körpers einen Zugang zur Gesundheit und Seele zu erkennen, fand dabei eine direkte Anwendung als Auswahlkriterium für die Zugehörigkeit zur „arischen Rasse" und diente als Motor für die Utopien der Rassenzucht. Die SS machte aus diesen Vorstellungen restriktive interne Regelungen. Seit Himmlers Ernennung zum Hauptführer-SS 1929 gehörte die Musterung der SS-Kandidaten unter rassisch-ästhetischen Aspekten zum Hauptkriterium für ihre Aufnahme, und schon 1931 wurde die Gattenwahl unter rasseneugenischen Kriterien zum zentralen Aspekt ihrer Körperkonzeption. Mit der Einführung des „Verlobungs- und Heiratsbefehls" am 31. Dezember 1931 wurde eine körperliche Untersuchung der Braut nach „rassisch-biologischen" Merkmalen die Hauptbedingung für die SS-Heiratserlaubnis. Allerdings wurden die künftigen SS-Frauen nicht in FKK-Veranstaltungen oder in Schönheitswettbewerben ä la Liebenfels ausgewählt, sondern von einem SS-Arzt beurteilt. 34 35
Vgl.: Werner Kindt: Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933, 909 f. Über den Weg Himmlers in die NSDAP siehe: Mosse: Die völkische Revolution; über das Ausscheiden aus dem Bund der Artamanen siehe: Kindt: Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933.
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
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Mit ihrer besonderen Nähe zu den rassistischen Entwürfen des „Neuen Menschen" und ihrer Selbststilisierung als „rassische Auslese" befriedigte die SS nicht nur den Bedarf der NS-Propaganda, lebende „Arier" zu präsentieren, sie etablierte sich auf Grund der aufgestellten NS-Rassenskala auch als Organisation der „Herrschenden" und beanspruchte dadurch eine privilegierte Rolle in der Machtrepräsentation. Die SSMänner konnten daher die „Herrenrasse" in der NS-Ideologie und -Propaganda vertreten und sie zugleich als Elemente der Machtdarstellung einsetzten.
3.
Prolog II: Kriegserfahrungen und Körperbilder
„Ich hatte auf dem Tische die Dinge aufgebaut, die mir den Halt geben sollten. Das Bild meines Vaters, in Uniform, bei Kriegsausbruch aufgenommen, die Bilder von Freunden und Verwandten, die im Kriege gefallen waren, die Feldbinde, den krummen Husarensäbel, die Achselstücke, den französischen Stahlhelm, die durchschossene Brieftasche meines Bruders - das Blut war schon ganz dunkel und fleckig geworden - die Epauletten meines Großvaters mit den schweren, nun schwärzlichen Silbertroddeln, ein Bündel Briefe aus dem Felde auf stockigem Papier - aber ich konnte es nicht mehr sehen, all das. Nein, ich konnte es nicht mehr sehen. Dies alles gehörte zum Bestandteil jener Siege, da aus allen Fenstern die Fahnen hingen. Nun kamen keine Siege mehr, nun hatten die Fahnen ihren leuchtenden Sinn verloren. Nun, in diesem verworrenen Augenblick, da alles in Trümmer ging, war der Krieg verschüttet, der mir vorgezeichnet war, stand ich unfaßlich vor dem Neuen, vor dem, was sich herandrängte, ohne Gestalt angenommen zu haben, ohne einen eindeutigen Anruf klingen zu lassen, ohne eine Gewißheit zwingend ins Hirn zu hämmern außer der, dass jene Welt, der ich verhaftet war, zu der ich mich nicht zu bekennen brauchte, da ich ein Teil davon war, nun endgültig und unwiderruflich in den Staub sank und nie mehr, niemals wieder erstehen würde." (Ernst von Salomon: [1930] 1962, Die Geächteten, 12)
3.1. Kriegserfahrung, Körperbilder und kollektives Gedächtnis Ernst von Salomon beschreibt in seinem 1930 veröffentlichten Buch Die Geächteten die Fassungslosigkeit und die Leere, mit denen ein großer Teil seiner Generation dem verlorenen Krieg begegnete. Ganz gleich ob, die Kriegserlebnisse positiv oder negativ gedeutet wurden, die Republik als Chance oder Krise wahrgenommen wurde: der Erste Weltkrieg prägte das Imaginäre der Weimarer Republik. Die Kriegserfahrungen wirkten direkt oder indirekt auf zumindest zwei Generationen ein. Sie übten Einfluss auf kollektive Ängste, Sehnsüchte und Wünsche aus und natürlich auch auf die Männerbilder der Zeit. Unter anderem brach mit dem modernen Weltkrieg das Bild des Offiziers zusammen, mit dem Stabilität, Ordnung, Virilität und nationale Souveränität des Kaiserreichs verknüpft waren. Während des Krieges veränderten sich die Leitbilder der Soldaten ebenso wie ihre Uniformen. Neu war die Betonung des Bildes des Kriegers und Kämpfers, die durch den Mythos der Kriegserfahrung entstand.
KRIEGSERFAHRUNG, KÖRPERBILDER UND KOLLEKTIVES GEDÄCHTNIS
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Mit der Niederlage kehrten die Kriegsversehrten, Neurotiker und Traumatisierten zurück. Körperliche Versehrtheit und Kontingenz wurden durch die Rückkehrer aus dem Schlachtfeld angesichts des Zusammenbruchs und der Wirtschaftskrise intensiver erlebt als zuvor. Ein Erlebnis, das von der medialen Verbreitung von Kriegsbildern in Film und Photographie sowie in der Kunst und im literarischen Diskurs intensiviert wurde. 1 Vor diesem Hintergrund bekamen die „Neuer-Mensch"-Entwürfe andere Qualitäten. Jetzt konnten sie der unmittelbaren Überwindung des Kriegstraumas und dem Umgang mit den politischen Umbrüchen dienen. Dazu setzten sich die Rezeption von Kriegsereignissen und die daraus entstandenen Soldaten- und Männerbilder im kollektiven Gedächtnis fest. Sie lieferten wichtige symbolische Elemente und Assoziationsmotive für die Konstruktion des NS-„Ariers" und beeinflussten auch die Rezeption und Produktion der Körperbilder des SS-Mannes, denn die Heroisierung des Kriegers wurde zu einer der wichtigsten Deutungen des „Ariers". Die Überhöhung des Kriegshelden verschleierte die Niederlage. Der Kriegsheld versprach Souveränität sowohl für das Individuum als auch für die Nation. Seine Bilder wurden deswegen für viele politische Zwecke verwendet - vor allem im rechten Spektrum - und ermöglichten die Anknüpfung an ein nationalistisches Ideal. In der Gegenüberstellung zu den „verkrüppelten" Heimkehrern jedoch erwies sich die Heroisierung des Soldaten als labile Konstruktion. Die Spannung zwischen idealisierten, von Ganzheit und Stärke geprägten Heldenkörpern einerseits und zerstückelten „Kriegskrüppeln" andererseits war ein fruchtbares Feld für die Produktion von Männerbildern und regte unterschiedliche Darstellungen des männlichen Körpers in der Kunst, in der Literatur oder auch im politischen Diskurs an. Die Heroisierung des Soldaten, Kriegers oder Kämpfers konnte die Bedürfnisse nach Stärke, Stabilität und Ordnung kanalisieren, ohne die Ängste vor Zerstörung und Versehrtheit des Körpers, die im Alltag präsent waren, direkt anzusprechen. NS-Propagandisten werden sich später auf das Potenzial der Soldatenbilder stützen, um ihre idealen Männerkörper zu konstruieren. Unterschiedliche Antworten auf die Kontingenzerfahrung im und nach dem Krieg wurden in Form von Körperbildern - insbesondere von Männerkörpern - formuliert. Das folgende Kapitel widmet sich den Auswirkungen des Kriegsgeschehens auf das soziale Imaginäre der Weimarer Republik aber nur insofern, als sie eine konstitutive Rolle in der NS-Ideologie und Mythosbildung spielten. Im Zentrum des Interesses stehen der Umgang mit den Kriegserfahrungen an der Front und in der Heimat sowie die daraus produzierten Sinndeutungen, in denen der Bezug zum Körper im Mittelpunkt steht. Schon für das militärische Kaiserreich lieferten die Soldaten- und Offizierkörper wichtige Leitbilder. In einem Vorspann über die Uniform im Kaiserreich 1
Zur Wahrnehmung von Körperversehrtheit im Ersten Weltkrieg und über die künstlerische und literarische Produktion siehe unter anderem: Claudia Schmölders/Sander Gilman (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000; dort vor allem: Michael Hagner: „Verwundete Gesichter, verletzte Gehirne. Zur Deformation des Kopfes im Ersten Weltkrieg", 78-95 und Maria Tartar: „Entstellung im Vollzug. Das Gesicht des Krieges in der Malerei", 113-130. Siehe auch: Regina Schulte: Der verkehrte Welt des Krieges: Studien zu Geschlecht, Religion und Tod, Frankfurt am Main/New York 1998; Trudi Tate: Modernism, History and the First World War, New York 1998.
64
PROLOG I I : KRIEGSERFAHRUNGEN UND KÖRPERBILDER
werden die Kontinuitäten und Brüche in den Körperbildern des Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg deutlich gemacht.
3.2. Körper und Uniformen 3.2.1. Leitbilder des
Kaiserreiches
Der Militarismus und die damit verbundenen Vorbilder spielten eine zentrale Rolle im sozialen Imaginären vor und nach dem Ersten Weltkrieg, sie kanalisierten die Wünsche nach Disziplin und Hierarchie und lieferten Idealbilder für Männlichkeit und soziale Ordnung, die in der Uniform ihre Visualisierung fanden. Die Uniform verhüllt den Körper und gibt ihm symbolische Attribute, die Gruppenzugehörigkeit, Hierarchie, Ordnung, Macht und Gewalt darstellen. Vor allem die uniformierten Offiziere verkörperten um die Jahrhundertwende Strammheit und Disziplin und boten sich als soziale Leitfiguren und Ich-Ideale für kollektive Projektionen an.2 Der Offizier versinnbildlichte nicht nur das militärische Ethos, seine Funktion als Träger der Staatsrepräsentation und der Staatsgewalt verlieh ihm auch Prestige und zeichnete das Offiziersmilieu als eine soziale „Kaste" aus, deren Uniformträger als Elite der Nation anerkannt wurden. Uniformierte Männer waren im Kaiserreich eine alltägliche Selbstverständlichkeit und repräsentierten eine gewisse Normalität. Was den Offizier betrifft, gehörte der Erwerb eines Reserveoffizierspatents zu den wichtigsten gesellschaftlichen Übergängen eines bürgerlichen Mannes.3 Es markierte die Übergangsriten und die Zugehörigkeit zu gehobenen Kreisen und der „vollständigen" männlichen Welt.4 Die Offiziersuniformen versinnbildlichten in diesem Zusammenhang eine dreifache Botschaft: Sie drückten Männlichkeit, militärische Gesinnung und den sozialen Rang ihrer Träger aus. Dafür veränderten die Uniformen die Körper ihrer Träger optisch. Epauletten,5 Pickelhaube und Korsett vergrößerten und modellierten die körperliche Erscheinung der kaiserlichen
2
3
4
5
Vgl.: Sabina Brändli: „Von ,schneidigen Offizieren' und ,Militärcrinolinen': Aspekte symbolischer Männlichkeit am Beispiel preußischer und schweizerischer Uniformen des 19. Jahrhunderts", in: Ute Frevert (Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, 201-228. Für jüdische Angehörige des Bürgertums gewann das Reserveoffizierspatent eine wichtige Bedeutung, denn es versprach die Assimilation in die deutsche Gesellschaft. Dazu siehe: Ursula Breymayer, „,Mein K a m p f : Das Phantom des Offiziers. Zur Autobiographie eines jüdischen Wilhelminers", in: Ursula Breymayer/Bernd Ulrich/Karin Wieland (Hrsg.): Willensmenschen. Über deutsche Offiziere, Frankfurt am Main 1999, 79-93. Zu Männlichkeitsvorbildern und Prestige des Offiziers im Kaiserreich siehe denselben Sammelband; dazu: Hans-Adolf Jacobsen: „Militär, Staat und Gesellschaft in der Weimarer Republik", in: Karl Dietrich Bracher/ Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.): Die Weimarer Republik 1918-1933, Bonn 1998, 343-368; Ulrich Bröckling: Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München 1997, 177. Vgl.: Thomas Rohkrämer: Der Militarismus der „kleinen Leute". Die Kriegsvereine im deutschen Kaiserreich (1871-1914), München 1990, 173. Die Epauletten waren ein persönlicher Vorschlag vom Kaiser, damit die Rangordnung zum Vorschein kommen konnte. Siehe Sabina Brändli: ebd.
65
KÖRPER UND UNIFORMEN
Offiziere und verliehen dem Uniformträger „männlichere" Körperproportionen, die mit Macht assoziiert wurden und die geschlechtlich codierte Verbindung männlich/mächtig reifizierten. Wilhelms II. Neigung zu militärischem Stil und militärischen Symbolen trug zur feierlichen Darstellung der Staatsmacht bei und verlieh der politischen Repräsentation stark dekorative Züge. Militaristische Gesinnung, militärische Vorbilder und militärische Inszenierung bildeten ein Interdependenzfeld, in dem sie sich gleichzeitig verstärkten. Sie gehörten zu einer politischen Mobilisierungsstrategie, die mit dem Unterhaltungswert von Machtdemonstration und Machtsymbolik rechnete. Die uniformierten Körper spielten in diesem Kontext eine wichtige Rolle für die politische Inszenierung. Sie visualisierten und verdichteten Männlichkeit, Patriotismus, Disziplin, Macht und Gewalt. 3.2.2. Der moderne Krieg verlangt funktionale Uniformen Diese Körperinszenierung des wilhelminischen Offiziers erschien angesichts der zeitgenössischen Männermode anachronistisch.6 Seit der Jahrhundertwende war die Männerbekleidung legerer geworden und von schlichten Schnitten und unauffälligen Farben, insbesondere grauen Tönen, gekennzeichnet. Vor allem im Krieg ließ sich der pompöse Repräsentationsstil des Kaisers nicht halten. Die Erfahrungen mit der modernen Kriegfuhrung, die neuen Waffen und die Mobilisierung auf dem Schlachtfeld verlangten praktische und unauffällige Uniformen. Pickelhaube, Tschako und andere traditionelle Kopfbedeckungen hatten im modernen Schlachtfeld keinen Platz mehr und wurden 1916 durch Stahlhelme bei allen Einheiten ersetzt. Zweckmäßige, strapazierfähige, bequeme und vor allem billigere Uniformen wurden für den Feldgebrauch entworfen.7 Die Tendenz zur Vereinfachung und Vereinheitlichung betraf Soldaten- ebenso wie Offiziersuniformen, und zwar bei allen Armeen des Ersten Weltkriegs. Sie trugen anstatt bunter und prunkvoller Uniformen meistens grau und grün, also Farben, die sich der Umwelt anpassten und eine bessere Tarnung vor dem Feind ermöglichten. Die Darstellungsfunktion des Militärs verlor die ästhetische Überladung und wurde schlichter. Unter diesem Aspekt erschien der Kult der wilhelminischen militärischen Inszenierung mit Prunk und Schmuck als gegenläufig zur Tendenz im europäischen Panorama. Die Veränderung der Uniformen gehörte zur Wandlung des männlichen Körperbildes während des Ersten Weltkriegs und prägte den neuen Typus des Kriegers, der später von Ernst Jünger stilisiert wurde. Mit den antiquierten Uniformen ging auch ein großer Teil des Offiziersbildes des 19. Jahrhunderts verloren.
6
Dazu: Erika Thiel: Geschichte genwart,
7
des Kostüms.
Die europäische
Mode von den Anfängen bis zur Ge-
Berlin 1997.
Vgl.: Guido Rosignoli: „Erster Weltkrieg und unruhiger Friede 1914-1939", in: Das der Uniformen.
Von 1700 bis zur Gegenwart,
München 1978, 203.
Bilderlexikon
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PROLOG II: KRIEGSERFAHRUNGEN UND KÖRPERBILDER
3.3. Krieg und Erneuerung 3.3.1. Die Erneuerungskraft des Krieges und die Bedeutung des Weltgerichts Der Erste Weltkrieg wurde von vielen vor allem im Bürgertum als Umkehrung der Weltgeschichte wahrgenommen und als die erforderliche Erneuerungskraft für Politik und Gemeinschaftsleben sowie als Möglichkeit für die Entwicklung des „Neuen Menschen" interpretiert. Der Krieg bot sich als Gelegenheit für soziale Erneuerung und individuelle wie kollektive Reinigung und wurde sogar als Erlösung des Volkes gedeutet.8 Klaus Vondung entdeckt an diesem Umgang mit dem Kriegsgeschehen eine „religiöse Prägung", die besonders in ihrem Vokabular eine „sakrale Atmosphäre" entfalte. Vondung beobachtet, wie die Verbindung von Patriotismus und Religion dem Krieg am Anfang einen Sinn verlieh. Der Krieg erschien als Weltgericht, dessen Durchführung „nicht mehr Gott allein überlassen" sei, sondern durch Deutschland als „Handwerk Gottes" vollstreckt werden solle (Vondung: 1980, 65). Diese apokalyptische Deutung war weder ein Privileg des Ersten Weltkrieges noch eine exklusive deutsche Erscheinung. Im Gegenteil, sie gehörte dem jüdisch-christlichen Erbe an und war in der Periode vor und während des Ersten Weltkrieges zum europäischen Phänomen avanciert. Mit dem Weltgericht war auch eine Rückkehr der Ordnung zu erwarten, denn das apokalyptische Schema ist dichotomisch und teilt die Welt in „gut" und „böse", „schön" und „hässlich" auf. Der Feind wird dabei zum Teufel und zum Antichristen, seine Bekämpfung erscheint daher religiös legitimiert. „Die apokalyptische Geschichtsspekulation mündet mit ihren Derivaten - Sendungsbewusstsein, Überlegenheitsgefühl, Selbstgerechtigkeit in einen aggressiven Willen zur Macht", schreibt Vondung weiter (Vondung: 1980, 78). Diese Deutungen versprachen die Lösung aller politisch-sozialen Probleme und das Ende der seit der Jahrhundertwende stärker wahrgenommenen gesellschaftlichen Desintegration. Dies ermöglichte die Vereinnahmung kollektiver Ängste vor Kontingenz durch die nationalen Ambitionen.
3.3.2. Eugeniker und Militaristen Die „Erneuerungskraft" des Krieges gehörte nicht nur zu den rhetorischen Elementen des nationalistischen Diskurses. Für Rassentheoretiker in Deutschland, Frankreich und Großbritannien bot der Krieg eine Gelegenheit, die Bevölkerung physisch zu regenerieren. Schon im Londoner Internationalen Eugenik Kongress vom 24. bis zum 30. Juli 1912 wurde die Frage nach den eugenischen Vorteilen eines Krieges heftig diskutiert.9 Die Meinungen über den Krieg waren in zwei Lager gespalten: In einer vereinfachten Anlehnung an Darwins Konzept des „Kampfes ums Dasein" versprachen sich die Befürworter des Krieges positive Wirkungen auf den menschlichen Selektionsprozess. Sie waren davon überzeugt, dass die „Schwachen" den Kampf nicht durchstehen würden, und auf diese Weise die Gesellschaft von „minderwertigen" Elementen „gereinigt" 8
9
Vgl.: Klaus Vondung: Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980, 11 —41. Dazu siehe: Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten, Frankfurt am Main/New York 1997.
KRIEG UND ERNEUERUNG
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werden könne. Die Gegner des Unternehmens lehnten den Krieg nicht aus pazifistischen Gründen ab, vielmehr fürchteten sie seine dysgenischen Wirkungen. Für die zweite Gruppe hatte der moderne Krieg nicht denselben Effekt wie der darwinistische Selektionsprozess, sondern opfere eher die gesündesten als die „schwächeren" Mitglieder der Gesellschaft. So argumentierten vor allem nordamerikanische Wissenschaftler, wie Prof. Vernon Kellogg (Stanford University): Schon bei der Musterung blieben den „Militär-Untauglichen", d. h. den „Schwächeren", die Gefahren des Krieges erspart. Das Resultat sei nach dem Krieg eine Begünstigung der „Minderwertigen" gegenüber der „Auslese".10 Diese Position löste heftige Proteste unter Eugenikern und Militaristen auf dem internationalen Kongress in London aus. Unter den deutschen Eugenikern, die den Krieg ablehnten, befand sich Alfred Ploetz." Doch die Mehrheit der deutschen Eugeniker war noch von der positiven Wirkung des Krieges auf die „Volksgesundheit" überzeugt. Diese Position wird sich einige Jahre später, noch während des Krieges, verändern. Grund dafür waren auch die hohen Verluste durch die technisierte Kriegsfiihrung. Der bekannte Rassenhygieniker Ernst Haenckel war einer derjenigen, die ihre Meinung nach den ersten großen Schlachten änderten.12 Nach 1918 herrschte Konsens unter den deutschen Eugenikern, dass der moderne Krieg eher dysgenische als eugenische Wirkungen ausübt. Bei Ausbruch des Krieges jedoch vertraten seine Befürworter unter den Eugenikern nicht nur die Ansicht, der Krieg würde eine eugenische Selektion ermöglichen. Der Lamarckismus fand auch in Deutschland viele Anhänger, die glaubten, die Umwelt würde auf die erbliche Struktur des Menschen einwirken. Durch körperliches Training, militärische Disziplin, Gehorsam und Willen würden die Soldaten neue positive Eigenschaften erwerben und sie mit ihrem „Erbgut" an künftige Generationen weitergeben. In diesem Punkt trafen sich Militaristen und neo-Lamarckistische Eugeniker. Beide betrachteten die Kriegserfahrungen als „stählenden" Faktor für Körper und Geist der Soldaten. 3.3.3. „Neuer Mann", „Neuer Mensch" und „nationale Erneuerung" Die Wünsche und Projekte vom „Neuen Menschen" und die Vorstellung eines „Neuen Mannes" vermischten sich bei Kriegsausbruch und bekamen politische Implikationen. Virilität wurde zur nationalen Eigenschaft erhoben, und der männliche Soldatentypus avancierte zum Symbol für die Erneuerung des gesamten Volkes. Das Bild des starken Soldaten diente in diesem Kontext als Abwehr von sozialen Ängsten wie die Ängste vor biologischer Degeneration oder wie die Männlichkeitskrise13 und bot eine Projektionsfläche für Sehnsüchte nach nationaler wie individueller Stärke und Schutz vor Kontingenz. Im soldatischen Typus kristallisierten sich geschlechtsspezifische, eugenische und politische Ambitionen. In Körperbildern gehen diese drei Felder ineinander und können 10
Vgl.: Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten, 4 2 ^ 5 . ' 1 Siehe Abschnitt über die Siedlungsbewegung, Prolog I: Die Suche nach dem „Neuen Menschen ". 12 Vgl.: Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten, ebd. 13 Nach George L. Mosse erlebte das 19. Jahrhundert eine Krise der Maskulinität, eine Krise, die zuerst mit einer Verhärtung des Männlichkeitsstereotyps beantwortet wurde. Dazu: George L. Mosse: Das Bild des Mannes, Frankfurt am Main 1997, 132; Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, München/Wien 1998, 373.
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PROLOG II: KRIEGSERFAHRUNGEN UND KÖRPERBILDER
die Wirkung der Botschaft verstärken. Für die Politik ist die Entfaltung von Männerund Männlichkeitsbildern von Bedeutung, wenn sie in Verbindung zu nationalen Projekten, Macht und Gewalt gebracht werden. Auch soziale Projekte und Utopien nutzen Bilder für die Symbolisierung ihrer Ambitionen. In beiden Fällen können männliche Körperbilder auf Grund der geschlechtsspezifischen Tradierung die Verknüpfung mit einem Normalisierungsdiskurs und mit Machtattributen herstellen. Für die Männlichkeitsideale versprach der Erste Weltkrieg ebenfalls Erneuerungsimpulse und bestätigte zumindest am Anfang die Geschlechterrollen. 14 Obwohl die männlichen Stereotype des Kaiserreiches ihre Gültigkeit nicht verloren, bekamen die Männerbilder neue Pointierungen. Der „Neue Mann" wurde aggressiver und brutaler, schreibt George L. Mosse (Mosse: 1997,). Anders als der Offizier des Kaiserreichs sei der „Kämpfer" im Ersten Weltkrieg von seinen „Urinstinkten" geleitet, die seine „wahre männliche Natur" verkörperten. Diese „antizivilisatorische Verhärtung" des Mannesbildes kann als Folge der Übertragung darwinistischer Interpretationen auf das soldatische Männlichkeitsideal verstanden werden. Die neue Aggressivität dieses Männertypus war nicht als negative Eigenschaft zu betrachten, sondern wurde zusammen mit Kaltblütigkeit als notwendige Voraussetzung fur die Behauptung im „Kampf gesehen. Vor allem im rechten Spektrum war der soldatische Nationalismus populär. Der „Kampf ums Dasein" schien auf dem Schlachtfeld eine nationale und individuelle Bedeutung gefunden zu haben. Der Krieg wurde als Gelegenheit begriffen, sowohl die männlichen Charaktereigenschaften zu prüfen als auch die physische Stärke und Zähigkeit des Mannes und seines Erbgutes zu testen und zu optimieren. Der Soldatenkörper gewann im Ersten Weltkrieg eine Bedeutung, die über die Ästhetik und die Disziplinierung hinausging. Ein neuer Mann sollte von der Front zurückkehren. Der Krieg sollte als Einweihungsritual ins Mannesalter dienen und eine Bewährungsprobe für die Männlichkeit sein. Zugleich war von den Kriegserlebnissen eine transformatorische Wirkung auf die Soldatenkörper zu erwarten, die die „Verweichlichung" der Zivilisation durch „Stählung" im Kampf korrigieren sollte.15 Diese Ansprüche an die Männlichkeit ließen sich mit den Vorsätzen von Lamarckismus und Eugenik verbinden und konnten vom nationalistischen Diskurs instrumentalisiert werden. Schlüsselbegriff dafür war die Kriegserfahrung. Sie sollte eine transformatorische Wirkung auf Körper und Erbgut, auf Charakter und nationale Gesinnung ausüben.
3.4. Kriegserfahrungen und Kontingenz 3.4.1. Der moderne
Krieg
Für diejenigen, die den Krieg positiv deuteten, bot er die Gelegenheit, patriotische Gefühle in Taten umzusetzen, und sie mit Vorstellungen, die ζ. T. mit dem individuellen Wunsch nach Selbstverwirklichung einhergingen, zu verbinden. Insbesondere junge 14
15
Vgl.: Regina Schulte: Die verkehrte Welt des Krieges: Frankfurt am Main/New York 1998, 20. Vgl.: Ernst Jünger: In Stahlgewittern, Stuttgart 1996.
Studien zu Geschlecht,
Religion
und
Tod,
KRIEGSERFAHRUNGEN UND KONTINGENZ
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bürgerliche Männer erhofften vom Krieg Abenteuer und Befreiung vom Alltag, Aggressions· und Gewaltentladung, aber sie erwarteten zugleich Disziplin und Halt von der militärischen Struktur. Nicht zu vernachlässigen war die psychologische Wirkung von Bildern und Phantasien über Heldentum und Aufopferung, die als Heldentod inszeniert wurde. Aber das romantisierte Bild des Krieges stand bald dem Kriegsalltag gegenüber. Denn der Erste Weltkrieg konfrontierte seine direkten und indirekten Protagonisten mit neuen Tötungs- und Todeserfahrungen. Er forderte mehr als doppelt so viele Opfer wie alle europäischen Kriege zwischen 1790 und 1914 zusammen. Der Tod bekam dabei eine neue individuelle und soziale Erfahrungsdimension. Folgt man Mosse, wurde Gewalt eher als Ergebnis der Waffentechnik als von individuellem Handeln wahrgenommen. Dies zwang zur Veränderung der Wahrnehmungsstrukturen von Ordnung und Normalität und lockerte die Bindung zwischen Gewaltausübung und Moral. 16 Die technische Entwicklung der Kriegsmaschinerie und, nicht zu vergessen, der Kommunikationsmedien verlieh der Kriegsführung einen neuen Charakter. 1 Ihre Logik wurde abstrakter und entfernte sich vom direkten Einsatz an der Front. Die Befehlsgeber befanden sich nicht mehr am Kriegsschauplatz, sondern erteilten von der Machtzentrale aus die Kommandos an die Offiziere vor Ort. Die neuen Regeln für Kriegseinsätze konnten von den Soldaten noch schwerer als zuvor nachvollzogen werden und verschärften die Kontingenzerfahrung. Die Männer an der Front bekamen eine Dimension des Krieges zu spüren, bei der sie im Gegensatz zu den romantischen Vorstellungen des Krieges nur einer austauschbaren und verschiebbaren Masse anzugehören schienen. Die Aufgaben, die sie zu erledigen hatten, erschienen beliebig und abgekoppelt von ihrem eigenen Einsatz. Auch die Bereitschaft der Militärführung, eine große Opferzahl in Kauf zu nehmen, unterstrich die Ersetzbarkeit der Soldaten. „Ob Zehntausende in eine Materialschlacht geworfen wurden oder einige Dutzend irgendein Waldstück verteidigen sollten, der einzelne zählte, nicht anders als Waffe und Munition, nur nach Maßgabe seiner Ersetzbarkeit" (Bröckling: 1997, 205). Die Abstraktion der modernen Militärbefehlsstruktur und die Industrialisierung des Tötens standen der romantisierten Erwartung vor allem der bürgerlichen Soldaten und dem Mythos der Kriegserfahrung gegenüber. Kriegsteilnahme impliziert immer einen psychischen Bruch im Umgang mit dem Körper, denn sie verlangt nach Handlungen wechselseitigen Verletzens und Tötens. Die Teilnehmer befinden sich in einer Situation, die doppelt konnotiert ist. Für seine eigene Armee zählt der Soldatenkörper zu den „lebenden Kriegern", während er für den Feind zu den potenziellen und wünschenswerten Toten gehört. 18 Dabei muss der Akt des Tötens erlernt und die kulturelle Hemmschwelle dagegen überwunden werden. Im modernen Krieg sind zwar Töten und Verletzen noch an die Aufopferung für das Kollektiv 16
17
18
Vgl.: George L. Mosse: Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars, N e w York/Oxford 1990. Schon im Krieg 1870/71 waren die wesentlichen Merkmale des modernen Krieges vorhanden. Diese wurden jedoch ab der ersten Hälfte des Ersten Weltkrieges optimiert und verwandelten den Krieg in einen Massenkrieg. Vgl.: Michael Stürmer: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918, Berlin 1994, 3 6 6 ^ 1 0 ; Thomas Rohkrämer: Der Militarismus der „kleinen Leute", München 1990. Vgl.: Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt am Main 1996, 81.
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PROLOG II: KRIEGSERFAHRUNGEN UND KÖRPERBILDER
gebunden, doch sie verwandeln sich in Tätigkeiten, die an Arbeit und Leistung gekoppelt erscheinen und einen abstrakten, entpersonalisierten Feind zum Ziel haben. Indem Fremde als Feinde wahrgenommen und zugleich als Angriffsziele erkannt werden, wird die Bereitschaft zum Töten geübt und konditioniert. 19 3.4.2. Körperliche
Unversehrtheit
und Kontingenz
Im Krieg wurde der Körper in seiner tiefsten Labilität empfunden: Schmerz, Kälte, Übermüdung und Hunger. Dort war die Gefahr eines Verlustes von körperlicher Unversehrtheit radikalisiert und permanent. Das, was im Ersten Weltkrieg den Umgang des Soldaten mit seinem Körper so sehr zu prägen schien, war neben der Todespräsenz die zusätzliche Kategorie der Verstümmelung. Flammenwerfer, Handgranaten und Bomben waren nicht unbedingt neue Waffen, aber sie dominierten erstmals das Kriegsgeschehen. Sie bedeuteten nicht nur die unberechenbare Gefahr des Todes, sondern machten die Drohung einer Körperverstümmelung evident. Außerdem wurden zum ersten Mal Gasangriffe verübt. Gasangriffe sind unberechenbar und wecken die Angst vor Kontamination. Die psychologische Wirkung des Gases war so stark, dass sie sich in den Kinderspielzeugen der Nachkriegszeit widerspiegelte. Nach 1918 gab es sogar Zinnsoldaten als Gasmaskenträger. 20 Obwohl der Kampf von Mann zu Mann keine Ausnahme im Ersten Weltkrieg darstellte und in der Kriegsliteratur einen großen Platz zugewiesen bekam, war Artillerieund Maschinengewehrfeuer nicht auf Personen, sondern auf bestimmte Raumsegmente gerichtet. 21 Erst nach dichten Feuerbeschüssen, Gas- und Granatenexplosionen konnten die Angreifer das Ergebnis ihres Einsatzes betrachten: eine „Todeszone", in der der Geruch von Gas, Blut, Brand und verdorbenem Fleisch herrschte. Was übrig blieb, waren Leichen, verstümmelte Körper und sterbende Feinde. „Und immer dieser süßliche Geruch!" (Jünger: 1996, 110). Die Kontingenzerfahrung wurde angesichts der Präsenz von deformierten und zerstückelten Leichen auf dem Schlachtfeld zu Phantasmen nicht nur für die Soldaten, sondern auch im sozialen Imaginären. Künstler wie Otto Dix und George Grosz sind in diesem Kontext erwähnenswert, nicht nur weil sie künstlerische Sensibilität erwiesen, sondern vor allem, weil es ihnen gelungen ist, den Ängsten und Phantasmen im Umgang mit dem Krieg und seinen Hinterlassenschaften Plastizität zu verleihen. Ein wichtiger Effekt des industriellen „Menschenschlachtens" war die Trivialisierung und Entpersonalisierung des Todes und des körperlichen Leidens an der Front. Die neue Art der Kriegsführung, der Stellungskrieg, „blockierte" die Soldaten an den Orten, an denen ihre Opfer lagen und behinderte den Durchmarsch der Truppe. Die klaustrophobische Perspektive der Schützengräben verengte sowohl den Blick als auch die Bewegungsentfaltung des Körpers und zwang die Soldaten zu einer gebückten Körperhaltung, die genau das Gegenteil von der erlernten militärischen Disziplin war. „Statt der
19
20 21
Zum Lernprozess des Tötens siehe das Interview mit dem US-amerikanischen Militärpsychologen Dave Grossman in: Die Zeit, 23.09.1999. Vgl.: Henry Harris/Alice Leray: Soldats de Plomb et Figurines, Paris 1963, 7-28. Vgl.: Ulrich Bröckling: Disziplin, 202.
KRIEGSERFAHRUNGEN UND KONTINGENZ
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auf den Exerzierplätzen eingedrillten militärisch ,strammen' Haltung wurde der gebückte Gang zum Signum des Frontsoldaten" (Bröckling: 1997, 202). Häufig waren die Soldaten gezwungen, die Folgen ihrer Zerstörungsakte - die verwüstete Landschaft, die Leichen und die zerstückelten Körper des Feindes - tagelang zu betrachten und zu riechen. Dieses Erlebnis motivierte nicht nur Abwehraffekte, Alpträume und Traumata, es bewirkte ebenso einen entsakralisierten und enttabuisierten Umgang mit dem Tod und mit menschlichen Überresten. Wie Mosse beschreibt, wurden die Leichen in manchen Situationen sogar als Gegenstände betrachtet und verwendet. „Soldiers used unburied corpses as support for their guns and as markers to find their way in the tranches" (Mosse: 1990, 5), und natürlich wurden die Verstorbenen auch geplündert. Die massive Opferzahl und die starke Technisierung des Krieges markierten einen Wendepunkt in der Wahrnehmung von Gewalt und Gewaltdarstellung, fur die sich in der Kriegsliteratur eine Fülle von Beispielen findet. Die Konsequenzen dieses Bruchs zeigen sich im Umgang mit dem eigenen Körper und mit dem Körper des anderen, die vor allem in der Bildproduktion während der Weimarer Republik anschaulich wurden. Der Kontrast zwischen den Körperbildern der Kriegsversehrten und der Kriegshelden verschärfte sich in den Schatten der Wirtschaftskrise der zwanziger und dreißiger Jahre. Die Körpererfahrungen im Ersten Weltkrieg fixierten einen Punkt in der Geschichte der Überlebenden und fugten neue Deutungsmuster in individuelle und kollektive Sinneswahrnehmung ein. Die Erlebnisse des Krieges wurden in Presse, Film, Literatur und Kunst rezipiert und verbreitet.22 Sie sorgten für die Prägung des sozialen Imaginären durch Körperbilder, die sowohl Zerstörung als auch den Wunsch nach Ganzheit vermittelten. Für die Konstruktion der NS-Idealbilder erschienen insbesondere die Stilisierung und die Überhöhung der Kriegserfahrungen als wichtige Komponenten. Sie sind insbesondere bei rechtsgesinnten Autoren zu finden. In ihren literarischen Darstellungen gewann der Krieg einen mythischen Gehalt, der sowohl individuell als transformatorische Kraft einer in sich gekehrten Erfahrung als auch kollektiv als Bindemittel zum Nationalismus wirken konnte. Diese Rezeption des Kriegsgeschehens und die damit verbundene Idealisierung des Kriegshelden war eine der vielen Antworten auf die Kontingenzerfahrungen während und nach dem Ersten Weltkrieg. Wenn sie hier privilegiert betrachtet werden, dann weil sie Mythen und Vorstellungsbilder lancierten, die die Nationalsozialisten prägten und die in die NS-Propaganda und -Ideologie integriert werden konnten.
22
Dazu siehe: Susanne Brandt: „Der Erste Weltkrieg und die Medien des Gedächtnisses. Filme, Soldatenfriedhöfe und Kriegsfotos nach 1918", in: SOW! 1999, H.4; Claudia Schmölders/Sander Gilman, Gesichter der Weimarer Republik.
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PROLOG II: KRIEGSERFAHRUNGEN UND KÖRPERBILDER
3.5. Kriegssinn und Kriegsdeutung 3.5.1. Der Mythos des
Kriegserlebnisses
Die Verehrung des Krieges und der Opferkult, aber auch das Umschlagen in die pazifistische Bewegung zeigen die unterschiedlichen Verarbeitungsmöglichkeiten der Erfahrungen in und nach dem modernen Krieg. In beiden Interpretationen fungiert der Körper als Referenzpunkt für die kulturelle und politische Verbreitung der Gewaltgeschehnisse.23 Für die NS-Mythoskonstruktion des Krieges und für die Männerbilder im Nationalsozialismus ist die verherrlichende Rezeption des Krieges von zentraler Bedeutung. Die Verarbeitung der Kriegserlebnisse in der Kunst und insbesondere in der Literatur war von der Schilderung körperlicher Empfindungen, die die Erfahrung von Tod und Verstümmelung an der Front begleiteten, gekennzeichnet. Nicht selten waren Erzählung und Dichtung von lustvoller Ästhetisierung von Leiden und Schmerz geprägt. Die enge Verbindung zwischen Gewalt, körperlichen Leiden und Männlichkeit war nicht nur in Deutschland signifikant, sondern erschien auch in der literarischen Produktion anderer europäischer Länder. Die Historikerin Trudi Täte entdeckt in französischen und britischen Kriegserzählungen die Präsenz des Körpers als Phantomort. „More than this: the war writings describe the fantasy relationship between living and the dead, understood through the troubling figure of the corpse - inert matter which looks uncannily like a person" (Tate: 1998, 69). In Deutschland lieferten Autoren wie Ernst Jünger, Ernst von Salomon und Walter Flex literarische Überhöhungen, in denen der Krieg „einverleibt" erschien. Der Krieg wird im Körper gespürt, und das Durchstehen von Schmerzen gehört zum Verhärtungsprozess der Manneswerdung. Immer wieder zeigt sich seine Materialität in den Körpern der lebenden und der toten Kämpfer: „Aus den Böschungen starrten Arme, Beine und Köpfe; vor unseren Erdlöchern lagen abgerissene Gliedmaßen und Tote, über die man zum Teil, um dem steten Anblick der entstellten Gesichter zu entgehen, Mäntel oder Zeltbahnen geworfen hatte" (Jünger: 1996, 111). Der Anblick der verwundeten und zerfetzten Körper erschütterte die Soldaten. Doch der Krieg verlangte einen kühldistanzierten Umgang mit Tod und physischer Zerstörung und wurde zur Nervenprobe eines Männlichkeitsrituals. Die Bagatellisierung des Lebens und die Entsakralisierung des Todes ist ebenfalls bei Jünger festzustellen: „Trotz aller Hitze dachte niemand daran, die Körper mit Erde zu bedecken" (ebd.). Zudem verlieh Jünger dem Gewaltakt des Tötens und Verletzens eine genussvolle Qualität: „Bald kamen wir an der Stelle vorbei, wo es eingeschlagen hatte. Die Getroffenen waren schon fortgeschafft. Blutige Zeugund Fleischfetzen hingen rings um den Einschlag an den Gebüschen - ein sonderbarer, beklemmender Anblick, der mich an den rotrückigen Würger denken ließ, der seine Beute auf Dornensträucher spießt" (Jünger: ebd., 26). Diese Evozierung von Gewalt und körperlichem Leiden als stählendes Mittel und insbesondere als „Erlebnis" setzte sich bei einigen Strömungen der Jugendbewegung durch und trug entscheidend zur Männlichkeitskonstruktion in jugendlichen Milieus bei. 23
Zur Literatur und Rezeption des ersten Weltkrieges siehe: Trudi Tate: Modernism, First World War.
History
and the
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KRIEGSSINN UND KRIEGSDEUTUNG
1932 schildert ein Artikel von einem so genannten Herrn Hebs in der Zeitschrift Das Lagerfeuer dessen Erlebnisse im Krieg und in Kriegsspielen. Spiel und Krieg werden mit demselben Pathos beschrieben und sind kaum zu unterscheiden. „Wie ich seine Muskeln fühle, wie meine dagegen leben, wie ich sie in Gewalt bekomme, wie ich sie leite. Kraft spüre ich in mir und brülle vor Lust an meiner Stärke. ,Tod' brülle ich, lasse den Feind fahren, um mich auf einen anderen zu stürzen. Von hinten haut mir einer einen Prügel über den Schädel, dass ich Sterne vor den Augen habe. Ich fahre mit den Handrücken durch die Haare: Blut! Mein Blut! Und wahnsinnige Wut lebt in mir auf, weil ich erkenne: wir tragen die blaue Kluft, deshalb hauen sie so auf mich, auf uns, und ich rase los und schlage mit einem Prügel um mich, und eine Welle der Freude ist in mir, als ich beim Feind das erste Blut sehe. Strömendes Blut, weil wir die blaue Kluft tragen. Sieg!" (Hebs: 1932, in: Pross: 181). Das „Fühlen" ist dabei Synonym für Vitalität und Männlichkeit, es gehört zu den Urinstinkten, zum Animalischen im Mann - es liegt im Körper, und zwar im Blut. Immer wieder rast das Blut und bewegt den Körper zur Aktion und Gewalt. Die Erzählungen von Ernst Jünger sind von einer Dichotomie geprägt, die ein wesentliches Merkmal im Umgang mit den Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg darstellt. Bei Jünger dominiert das sinnliche Empfinden von Tod und Verletzung: Sie werden primär im Körper wahrgenommen - akustisch, visuell und durch den Geruchssinn. Andererseits bewegt sich der Soldat mitten in der Materialschlacht, in der es keine Zeit gibt, die gefallenen Kameraden zu betrauern, die Bilder von zerstückelten Körpern und Leichen zu verarbeiten oder die Toten zu begraben. Um überleben zu können, muss er kaltblütig sein und das Erlebte verdrängen. Umso interessanter erscheint Jüngers maskulines Ideal, das gleichzeitig Kaltblütigkeit verkörpert und sinnlichgenussvoll auf die traumatischen Erlebnisse reagiert. Jünger beschreibt den Krieg als ein konstitutives und notwendiges Ereignis für die männliche Selbstdefinition. Die männlichen Eigenschaften erschienen mit einem physischen Ideal gekoppelt, das eine „Rasse von Männern" - hier wird Rasse eher als Charakter denn als Erbgut verstanden - kennzeichnet, die muskulöse und schlanke Körper „mit in Stein gemeißelten Gesichtern" besitzen. 24 Die Männlichkeit, die in Jüngers Krieg entsteht, verleiht dem Mann seine „Ganzheit" als Mensch, eine Deutung, die ebenso bei Flex und von Salomon festgestellt werden kann. Diese „Wahrnehmung des Typus' als Inbegriff von ,Gestalt'" (Schmölders: 2000, 135) und „Ganzheitskörper" kehrte in der NS-Propaganda als Homogenisierung und Eingliederung der Einzelnen in den „Volkskörper" wieder. 3.5.2. Tod und Held Die Brücke zur Heroisierung des Kriegsopfers wird gerade durch die Anknüpfung an die Trivialisierung des Todes ermöglicht. Tod wird im Krieg als individuelle Zäsur dekonstruiert und als entpersonalisierter Akt in den Kriegsalltag integriert. Die kriegsverehrenden Postkarten der zwanziger Jahre verdeutlichen diese Verbindung. Sie liefern einen ikonographischen Ausdruck der Überhöhung des Krieges und des Todes 24
Vgl.: George L. Mosse: Nationalismus München/Wien 1985, 84-111.
und Sexualität. Bürgerliche
Moral und sexuelle
Normen,
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PROLOG II: KRIEGSERFAHRUNGEN UND KÖRPERBILDER
bzw. der Todessehnsüchte der Zeit. Die anonymisierten gefallenen Soldaten erscheinen als Symbolgestalten der Unsterblichkeit und des Kriegstodes im Nationalkult. Theodor Heuss erinnerte sich in seiner Ansprache vom 30. November 1952 an die Opfer des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, an diesen neuen Blick auf den Tod, der ihn seit dem Ersten Weltkrieg beschäftigte. „Das war mein schlimmstes Erkennen und Erschrecken, dass die Ehrfurcht vor dem Tode, dem einfachen Kriegstode, untergegangen war, während man schon an neue Kriege dachte" (Heuss: 1953, in: Der Monat, Januar 1953, Heft 52).
3.6. Kontingente Körper: Die Rückkehr der Verstümmelten Nicht alle Kriegsteilnehmer konnten den Krieg „heldenhaft" verkraften. Viele empfanden sich nicht mehr als Subjekt, sondern eher als Objekt des Geschehens. Die von Regina Schulte analysierten Briefe von der Front zeigen Sprachlosigkeit und Angst als Reaktionen auf die Kriegeserlebnisse. „Die unerträglichen Belastungen des Kampfes, des Eingesperrtseins und die Berge von Toten ließen die Männer verrückt werden und schreiend davonlaufen" (Schulte: 1998, 20). Der Männlichkeitskult im Krieg akzentuierte das Ohnmachtgefiihl, das angesichts des Geschlechterklischees und der Kriegspropaganda mit Schwäche, Hysterie, Feigheit und weibischem Verhalten assoziiert war. Neben der Angst vor Tod und Verkrüppelung fürchteten die Soldaten, „nach Hause zurückzukommen und von Frauen oder Liebsten zurückgewiesen zu werden" (Schulte: 1998, 19). Hier ist einer der Punkte aufgedeckt, in dem die Geschlechterbeziehung schmerzvoll und gleichzeitig konstitutiv für die männliche Identität erlebt wird. Die Angst vor Verkrüppelung geht in die Angst vor Versagen und vor einer grundsätzlichen Veränderung des Selbst ein. Der Körper des Soldaten wird zum Ort, in dem unverarbeitete Erlebnisse stocken. In ihm äußerten sich die Kriegstraumata: Erblindung nach Gasangriffen, Ertaubung nach längerem Trommelfeuer, Verstummen nach dem Anblick der zerstückelten Leichen. Das Brisante dabei war, dass oft die Symptome trotz der Abwesenheit einer physischen Ursache festgestellt werden konnten. Die „Kriegszitterer" waren die auffalligsten Beispiele, sie hatten Schwierigkeiten beim Gehen, litten an motorischen Störungen und Krämpfen. Diese Art psychischer Belastung wurde meistens in Verbindung mit Granatexplosionen gebracht. Allein bis Dezember 1914 zählt der Historiker Joachim Radkau um 200.000 deutsche Soldaten mit diesen Symptomen.25 Ende September 1918 waren die Erkrankten so zahlreich, dass die „Kriegsneurose" zur „psychischen Epidemie" zu werden drohte.26 Überdies zeigte sich der ärztliche Umgang mit den „Kriegsneurotikern" von der Annahme geprägt, diese Art Neurose sei „ansteckend".27 Die Kriegstrau-
25 26
27
Zahlen aus Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, 430. Vgl.: Karl Heinz Roth: „Die Modernisierung der Folter in den beiden Weltkriegen: Der Konflikt der Psychotherapeuten und Schulpsychiater um die deutschen ,Kriegsneurotiker' 1915-1945", in: 1999, 1987 H. 3, 8-75. Vgl.: Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, 434.
KONTINGENTE KÖRPER: DIE RÜCKKEHR DER VERSTÜMMELTEN
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matisierten wurden dann im Lazarett isoliert und mussten die neuen Therapien erproben, die von der Hypnose bis hin zur physischen Folter mit Elektroschocks gingen. Die psychologischen Folgen der Kriegserfahrungen erreichten auch die zivile Bevölkerung. Die mediale Verbreitung der Kriegsgeschehnisse, Feldpostbriefe von Verwandten und Geliebten, eigene und kollektive Phantasien über die Fronterlebnisse konnten manchmal die Zivilisten destabilisieren. „Soldiers - men - are seen to have a symbolic function; their bodies form a grotesque ,picture' whose meaning trancends and redeems its own horror" (Tate: 1998, 11). Wie Trudi Tate bemerkt, sahen die Zivilisten diese furchtbaren Bilder nicht, aber sie stellten sie sich vor, und das machte sie für die Neurose anfällig. 1916 räumte die britische medizinische Zeitschrift The Lancet die Möglichkeit ein, eine Variante der Kriegsneurose innerhalb der zivilen Bevölkerung zu finden. Schlafstörung, Kriegsalpträume, Schwankung der Körpertemperatur waren einige der festgestellten Symptome. Nach Hause kehrten die Verwundeten, Verstümmelten und Traumatisierten zurück. Der verstümmelte Soldat wurde zum ambivalenten Schauobjekt unter den Zivilisten. „He was paradox: as a soldier, he represented a powerful social ideal of manhood, yet the act of soldiering had damaged the bodily basis of masculinity, leaving him scarred, mutilated, paralysed, or blinded" (Träte: 1998, 97). Allerdings wirkten die unterschiedlichen Arten der Verstümmelung keineswegs gleich. Die Historikerin Sabine Kienitz macht darauf aufmerksam, dass manche Arten der Verletzung besonders tabuisiert waren. Das Tabu traf vor allem Gesichts- und Kieferverletzte, „deren Körper-Fragmente nicht repräsentativ" für die Würdigung des Kriegshelden waren. Ebenso war Impotenz als Folge von Verstümmelung der Geschlechtsorgane oder auf Grund von Hirn- und Rückenmarksverletzungen ein seltenes Thema der Erinnerungsliteratur, sie zeigt die Brüche im Verhältnis zur Männlichkeit auf und wurde, wenn überhaupt, dann in der Schilderung der Figur eines Dritten erwähnt. 29 Die von der Front zurückgekehrten „Krüppel" und „Kriegsneurotiker" wurden zur permanenten Erinnerung an den Krieg. Sie wurden zur doppelten Belastung - einer finanziellen als unproduktive Kraft und einer psychologischen als physische Erinnerung an den verlorenen Krieg. Ihre Körper waren von sozialer Diskontinuität gekennzeichnet - sie trugen Elemente des Bruches sozialer Ordnung mit sich, die auf die Erosionsprozesse der Kriegserlebnisse hinwiesen. Darüber hinaus zwangen sie die Betrachter zur Auseinandersetzung mit den Vorstellungen von Zerstückelung und Labilität des IchIdeals. Auf diese Weise erschienen die beschädigten Heimgekehrten als Phantom des Nachkriegsimaginären. Ihre Körper markierten den Ort, wo die Realität des Krieges sichtbar wurde, sie verblieben als materialisierte Überreste des Krieges und fungierten als Referenz fur Tod und Labilität der physischen Vollkommenheit.
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Siehe: Bröckling: Disziplin-, Roth: „Die Modernisierung der Folter in beiden Weltkriegen"; Radkau: Das Zeitalter der Nervosität.
29
Vgl.: Sabine Kienitz: „Die Kastrierten des Krieges. Körperbilder und Männlichkeitskonstruktionen im und nach dem Ersten Weltkrieg", in: Zeitschrift für Volkskunde, 1999 H. 95, 6 3 - 8 2 .
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PROLOG I I : KRIEGSERFAHRUNGEN U N D KÖRPERBILDER
Der Anblick der verstümmelten und „nervösen" Körper stellte eine Kontingenzerfahrung dar, die auf das Lacansche Vor-Spiegelstadium zurückzuführen ist.30 Damit belastete der Versehrte Soldat die „Neuer-Mensch"-Vorstellungen des schönen, harmonischen und vollkommenen Körpers und störte zudem ihre Instrumentalisierung in der politischen Propaganda. In der Gegenüberstellung von Otto Dix' „Die Skatspieler" (Abb. 1) und Heinz Räebigers Bildstudie „Uns ruft der Kampf!" aus Das schwarze Korps (Abb. 2) wird die Konfrontation der beiden Gegensätze deutlich: Dix' Versehrte Körperbilder stellen den Gegensatz zu den nackten und heroischen Körpern der NSUtopie dar. Die verkrüppelten Körper konnten von den Vollkommenheitsphantasien nur verdrängt oder externalisiert, d. h. auf andere, auf Feinde, projiziert werden. Vor dem Hintergrund des Phantoms des zerstückelten Körpers wird verständlich, dass nach dem verlorenen Krieg die „Neuer-Mensch"-Utopien einen großen Elan bekommen. Diese Utopien und Projekte reichten von den Rassentheorien 3 bis zum Kult des „nordischen Menschen". Einige davon idealisierten den Krieg, andere verabscheuten ihn.
3.7. Zusammenfassung und Ausblick Die Sinndeutungen nach dem Krieg sind für die Verarbeitung der Kriegserfahrungen von Soldaten und Zivilbevölkerung determinierend. Die Körperbilder und die Vorstellungen, die daraus entstanden, bildeten einen Fundus, auf den die NS-Propaganda zurückgreifen konnte, um ihre „Arie'r-Bilder" zu basteln. 32 Die unterschiedlichen Utopien des „Neuen Menschen" konnten von politischen Projekten beansprucht werden. Die Degenerationsängste, die um die Jahrhundertwende im Imaginären des Kaiserreichs vorhanden waren, wurden angesichts der beschädigten Körper und der Kriegsniederlage drängender. 33 Eugenische Projekte gewannen nach dem Krieg an sozialer Akzeptanz und politischer Unterstützung. Durch eine eugenische Politik hofften sie die dysgenischen Effekte des Krieges rückgängig zu machen. Auch der Kult des „nordischen Menschen" bekam nach 1918 eine zusätzliche Bedeutung, denn er verband den antibürgerlichen Charakter der Germanen-Skandinavien-Verwandtschaft
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In Jacques Lacans Konzept des Vor-Spiegelstadiums nimmt der Säugling seinen Körper nur als Stücke wahr, erst durch das Sich-Erkennen im Spiegelbild kommt es zu einer Einheit, die als Selbstbild fungieren kann. Für Lacan ist ein stabiles Körperbild immer vom Phantom des zerstückelten Körpers bedroht. Siehe: Jacques Lacan: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion", in: Norbert Haas (Hrsg.): Schriften I, Weinheim/Berlin 1986, 61-70. Die Rassentheorien prognostizierten eine „allgemeine Schwächung des deutschen Erbgutes" und versuchten Pläne der „rassischen Aufwertung" zu entwerfen. „Basteln" entnehme ich Claude Levi-Strauss' Konzept der „bricolage". In seinem Buch La pensee sauvage entwickelt Levi-Strauss den Prozess der Mythos-Konstruktion als einen „Bastei-Prozess", in dem schon existierende symbolische Elemente kombiniert werden, um den neuen Mythos zu ermöglichen. Ich werde daneben den Begriff „Recycling" verwenden, da mir die Betonung eher auf dem schon Existierenden als auf dem Neuen zu liegen scheint. Vgl.: Claude Levi-Strauss: La pensee sauvage, Paris 1962; Levi-Strauss: Mythos und Bedeutung, Frankfurt am Main 1996. Vgl. Stephan Kühl: Die Internationale der Rassisten, 42—45.
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
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mit den Kriegerbildern im Sinne Ernst Jüngers. Neben dem einfachen friedlichen Germanen der Lebensreformer sah man die Erscheinung eines „ekstatischen Kriegers". Aus der Verbindung beider entstand der germanische Kriegertypus, der zum wichtigen Bestandteil der Freikorps- und der NS-Ideologie wurde. Diese symbolische Überlagerung konnte, wenn auch in schwächerer Form, in der Sportbewegung, wie bei Turnvater Jahn, und beim Wandervogel gefunden werden. Nacktheit und Naturverbundenheit ließen sich dabei in einen Regenerationsdiskurs integrieren und als Moral- und Wahrheitsvermittler verwenden. Tod, Zerstörung und Körperverstümmelung konnten von „schönen, gesunden und unschuldigen" Körperbildern symbolisch gereinigt werden. Schon während des Krieges ließ sich die „Wiederentdeckung des Körpers" mit dem „Klischee des nationalen Idealbildes" verknüpfen. „Die Geburt der nationalen Leitbilder stützte sich auf eine Mischung aus griechischen Vorbildern und der Anbetung der Sonne und des Himmels; blondes Haar, blaue Augen und weiße Haut galten in England wie in Deutschland als Kennzeichen einer überlegenen Rasse" (Mosse: 1985, 67). Das nationalsozialistische „Arier"-Bild stellt einen Körper dar, der Unversehrtheit, Unzerstörbarkeit und Macht vermittelt. Die Sozialpsychologin Gudrun Brockhaus sieht in dem nationalsozialistischen Drang zur Ästhetisierung einen Versuch, dem Trauma von Tod und Vergänglichkeit zu entfliehen, denn: „Jede Konfrontation mit der alltäglichen Wirklichkeit birgt die Gefahr des Absturzes" (Brockhaus: 1997, 251). Die NSPropaganda antwortete auf dieses Bedürfnis mit einer ästhetischen Idealwelt, mit Germanien- und Arierbildern. Ebenfalls ästhetisch präsentierte sie Krieg und Tod und platzierte den Mythos der Kriegserfahrungen an zentraler Stelle für den Aufbau ihrer idealen Welt. Auch die apokalyptische Komponente der Kriegsdeutung, die sowohl vor 1914 als auch nach der Niederlage dem Krieg einen Sinn verlieh, trug ebenfalls zur NSMythoskonstruktion des „Dritten Reiches" bei. Sie gab der nationalsozialistischen Machtübernahme einen Prädestinationscharakter und verhalf zu einer pseudoreligiösen Rechtfertigung. Der nationalsozialistische ideale Menschentypus ist einer, „der sich in Zeiten der Bedrohung und des Untergangs durch die ,heroische Tat' bewährt" (See: 1994, 22). Eine symbolische Haltung, die im Imaginären des 19. Jahrhunderts schon vorhanden war und bei Wagners Held Siegfried überhöhte Form annahm. Sie erschien beim männlichen Akt in Fidus' Malerei und wurde sowohl von neu-romantischen Dichtern als auch vom Kriegskult der paramilitärischen Gruppen in der Weimarer Republik aufgegriffen. Der Mythos der Kriegserfahrung verlieh dem NS-„Arier" die „kämpferischen" und „stählenden" semantischen Elemente wie Kaltblütigkeit, physische Kraft und psychische Härte. Das Führerprinzip, nach dem absoluter Gehorsam verlangt wurde, die Verehrung des Kampfes und des Todes, der Opferkult, der Drang zur Aktion und zur Mobilisierung als politischer Ausdruck stellten die wichtigsten Merkmale des nationalsozialistischen „Neuen Menschen" und eine Haltung dar, die von der NS-Ideologie verlangt wurde. Das Kämpferbild im Sinne Ernst Jüngers bekam in der NS-Propaganda einen sakralen Akzent - der „Arier" sollte für die „Mission des Volkes" kämpfen, er wurde ästhetisiert und „rassisch" konnotiert. Zudem wurde das Bild des „Ariers" zum Synonym für Schönheit, Reinheit und Gesundheit. Die NS-Propaganda knüpfte an diese aggressiv-
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PROLOG II: KRIEGSERFAHRUNGEN UND KÖRPERBILDER
heroische Haltung an und verstärkte damit ihr „Arierbild", das auf das SS-Männerbild projiziert wurde. Die „Arier"- und SS-Männerbilder markieren die Schnittstelle, an der sich Männlichkeitsideale, eugenisch-rassistische Ambitionen, sakral-politische Wünsche und „Neuer-Mensch"-Utopien kristallisieren und als wirksames Propagandamittel verwendet werden konnten.
Abb. 2: Otto Dix, Die Skatspieler, 1920, © VG Bild-Kunst, Bonn 2005. Drei überlebende Krüppel des Ersten Weltkriegs spielen Skat. Das Bild gehörte zu einer Reihe mit vier Bildern zur Kriegskrüppelthematik.
ZUSAMMENFASSUNO UND AUSBLICK
UNS RUFT DER KÄMPF! Abb. 3: „Uns ruft der Kampfl", Bildstudie von Heinz Räebiger, Das Schwarze Korps, 30. Dezember 1937.
4.
Entstehung: Von der Machtübernahme zur „Machtergreifung"
4.1. Die „Eroberung" der Macht Am 30. Januar 1933 ernannte der Reichspräsident Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. 1 Diese Ernennung war gemäß der Weimarer Verfassung ein legaler Schritt im Einklang mit den gesetzlichen Möglichkeiten und alles andere als eine Revolution. Es war die NS-Propaganda, die von „Machtergreifung", „nationaler Erhebung" und sogar „Revolution" sprach. Die Kanzlerschaft hatte Hitler nicht ergriffen oder erobert, sie war ihm übertragen worden. Außerdem folgte die Machtübergabe an den neuen Kanzler in einem sehr begrenzten Umfang, und Hitlers Einfluss auf die Zusammenstellung des neuen Kabinetts war gering. Fast alle Posten, außer das Kanzleramt, waren mit Konservativen und nicht mit Nationalsozialisten besetzt. 2 Die NSDAP begnügte sich mit Wilhelm Frick als Reichsinnenminister und mit Hermann Göring als „Minister ohne Portefeuille". Doch die NS-Propagandisten bemühten sich um eine symbolische Umdeutung des offiziellen Geschehens durch rituelle Inszenierung. Die Ernennung Hitlers zum Kanzler mit einem revolutionären Jargon zu umrahmen, sollte die Machtübernahme umdeuten und hatte die Funktion, die Betrachtung unter einer bestimmten Perspektive zu forcieren, um dadurch ihre ideale Interpretation glaubwürdig zu machen. Die NS-Publikationen unmittelbar nach der Machtübernahme betonten diese Konnotation. Die nationalsozialistische Inszenierung und ihre literarische Fixierung folgten der Struktur des politischen Mythos. Es sind deshalb nicht die Ereignisse selbst, die die Basis fur die Interpretation der Geschichte lieferten, sondern ihre symbolische Deutung. Schon das Wort „Machtergreifung" trug zur Heroisierung und Überhöhung eines vorgesehenen gesetzlichen Vorgangs bei. Die Übertragung der Kanzlerschaft an Adolf Hitler bekam die Konnotation von „nationaler Erhebung" und „nationalsozialistischer
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Der „Diktaturparagraph" (Art.48) der Weimarer Verfassung ermächtigte den Präsidenten ohne Beteiligung des Reichstages zur Ernennung und Entlassung von Reichskanzler und Reichsministern. Darüber hinaus erlaubte derselbe Paragraph dem Präsidenten Notverordnungen und die Durchführung der Reichsexekution gegen den Willen der Länderregierungen zu erzwingen. Vgl.: KarlDieter Bracher: „Demokratie und Machtergreifung: Der Weg zum 30. Januar 1933", in: Bracher/Funke/Jacobsen: Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945, Bonn 1986, 17-36. Vgl.: Heinz Höhne: Machtergreifung, Hamburg 1983, 261 f.
DIE „EROBERUNG" DER MACHT
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Revolution". Zur Ergreifung der Macht kam es eigentlich erst nach dem 30. Januar. Sie zeigte sich als ein umfassender Machteroberungsprozess, der sich über rund achtzehn Monate erstreckte, um sich mit Notverordnungen und mit dem „Ermächtigungsgesetz" zu etablieren. Dadurch konnte sich die NS-Machtgrenze ausdehnen und der Weg für die diktatorische Macht frei gemacht werden.3 Die Feier der „Machtergreifung" begünstigte die Akzeptanz der NS-Machtausdehnung. Sie antizipierte den nationalsozialistischen Wunsch nach dem „neuen Beginn" und lieferte einen Legitimierungsdiskurs für die späteren diktatorischen Maßnahmen. Dabei bediente sich die „Machtergreifungsfeier" eines starken rituellen Ablaufes und zahlreicher Symbole, um den NS-Mythos vom Beginn des „Dritten Reiches" zu konstruieren. Für die Nationalsozialisten schienen mit der Inszenierung der „Machtergreifung" alle ihre Sehnsüchte und Zukunftswünsche plötzlich in Erfüllung zu gehen. Allein die Äußerungen von prominenten Nationalsozialisten brachten schon Erlösungsbilder im politischen Diskurs hervor. „Nun ist das Morgen zum Heute geworden", rief der hoch angesehene Germanist Julius Petersen damals begeistert aus, „Weltuntergangsstimmung hat sich in Aufbruch verwandelt. Das neue Reich ist gepflanzt. Der ersehnte und geweissagte Führer ist erschienen" (in: Hermand: 1995, 205). Als „die geistige und willensmäßige Erneuerung des gesamten deutschen Volkes", als Beginn des „großen Werkes" verstand der Reichsinnenminister Frick in einem Interview des Völkischen Beobachters am 31. Januar die „Machtergreifung". Auch Alfred Rosenberg schrieb einen Tag zuvor in derselben Zeitung über eine erste große „Etappe des deutschen Freiheitskampfes" zum „Neubau Deutschlands" (in: Günsche: 1970, 15/16). Zwei Ausgaben widmete die NSDAP-Zeitung Der Angriff am 30. Januar dem „nationalsozialistischen Triumph". Die Sprache war mit religiösen und revolutionären Parolen besetzt. „Wir grüßen den Führer!", titelte die zweite Ausgabe des Tages und erklärte, „durch den Sieg, der mit reinen Händen errungen wurde und der mit gleichen Händen nun zum wahren Dienst am Volke werden soll" (in: Eschenhagen: 1982, 94/101). Hier steht die Übernahme der Kanzlerschaft von Hitler für den Abschluss eines „Kampfes", „der Sieg" ist Ziel und Belohnung für den »jahrelangen, heißen und opfervollen Kampf1. In diesen Äußerungen verschmolzen religiöse Prophezeiung, revolutionäre Deutung und politisches Programm zu einem Gründungsmythos des Nationalsozialismus. Im Radio kündigte Goebbels „den Sieg des Nationalsozialismus" an (Höhne: 1983, 264). Der britische Botschafter in Berlin notierte: „Die Hörer von Radio Berlin wurden so um ihre normale Abendunterhaltung gebracht und mit der absurd sentimentalen Schilderung des Fackelzuges und des endgültigen Triumphs der nationalsozialistischen Bewegung eingedeckt" (Rumbold, in: Becker: 1992, 39). Die mediale Verbreitung spielte eine entscheidende Rolle, denn die Rundfunkübertragung erweiterte das Publikum der Veranstaltung. In ihrer aktuellen Sendung „Stimme zum Tag" von 19.00 Uhr brachte die Ber3
Die notwendige 2/3-Zustimmung des Reichstags für das „Ermächtigungsgesetz" erreichten die Nationalsozialisten vor allem mit Hilfe von Gewaltdrohung und Terrorakten der SA und SS. Dazu der Aufsatz von Albrecht Tyrell: „Auf dem Weg zur Diktatur: Deutschland 1930 bis 1934", in: Bracher/Funke/Jacobsen (Hrsg.), Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, 15-31; Kurt Pätzold: „Reichspräsident", in: Benz/Graml/Weiß (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997, 687 f.
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ENTSTEHUNG: VON DER MACHTÜBERNAHME ZUR „MACHTERGREIFUNG"
liner Funk-Stunde eine Reportage von der Reichskanzlei. „Ein Plan für einen abendlichen Fackelzug und dessen Übertragung im Rundfunk lag zweifellos bereits längere Zeit in den Schubladen der Reichspropagandaleitung" (Diller: 1980, 60). Durch eine Anweisung des bereits nominierten Reichsinnenminister Frick konnte Goebbels die Übertragung des Fackelzuges im Rundfunk anordnen. Zwar gab es Proteste von Rundfunkseite, doch Goebbels hatte die Übertragung der Kundgebung erzwingen können. „Nur der Sender München blieb, wie Hitler mißgestimmt vermerkte, bei seiner Weigerung" (Fest: 1996, 507), „da er [der Bayerische Rundfunk] die Ernennung der Regierung und keine Parteikundgebung habe übertragen wollen" (Diller: 1980, 60). Der ehemalige Gaufunkwart von Berlin, Eugen Hadamovsky, sprach ein Jahr später in seinem Buch Dein Funk über eine „Funkrevolution", die Goebbels gerne propagierte und in seiner Rede auf der Funkausstellung 1935 ansprach. 4 Zur Verfestigung des Mythos 5 erschien in den nächsten Monaten nach dem 30. Januar eine Flut von völkischgesinnten Schriften, die die nationalsozialistische Machtübernahme als eine Revolution, eine welthistorische Stunde Null oder ein „österliches Auferstehen" feierten. 6 Nicht nur Schriften und Rundfunk stellten die Machtübernahme als Revolution dar, darüber hinaus wurde am 10. Februar der Film „Hitlers Aufruf an das deutsche Volk" fertig gestellt. Damit konnte die NSDAP mit den Wahlkampfaufhahmen von 1932 ihren „Weg" zur Macht in Bildern präsentieren, der durch Riefenstahls Triumph des Willens medial konsolidiert wurde. Ohne diese politische Inszenierung und ihre mediale Verbreitung wäre der NS-Mythos der „Machtergreifung" nicht möglich gewesen.
4.2. Szenische Raumbesetzung Nach der Ernennung Hitlers zum Kanzler zogen die Straßen Berlins die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich. Von 19.00 Uhr bis 1.00 Uhr nachts konnten die Berliner Zeugen eines „Übergangsrituals" sein, das den „Sieg" über die Weimarer Republik inszenieren sollte. SA- und SS-Männer, Hitlerjugend, NS-Sympathisanten und neugierige Zivilisten okkupierten mehrere strategische Punkte Berlins. Durch das Brandenburger Tor marschierten ca. 25.000 uniformierte Hitleranhänger und Mitglieder von Stahlhelm-Einheiten; sie alle defilierten an der Reichskanzlei vorbei und bewirkten mit ihrem Fackelzug ein „pathetisches Feuerband, das unruhige Schatten auf Gesichter und Häuserwände w a r f (Fest: 1996, 507).
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Vgl.: Ansgar Diller: Rundfunkpolitik im Dritten Reich, München 1980, 56. Auch die Erstellung eines NS-Kalenders verhalf zur mythischen Verfestigung der „Machtergreifung" und ihrer rituellen Erinnerung. Der NS-Kalender wurde mit einem dichten Netz von Kulten und Feiern überzogen, das mit dem „Tag der Machtergreifung" am 30. Januar anfing und mit der Wintersonnwendfeier als Ersatz für Weihnachten endete. Dazu: Till Bastian: „Kalendarische Verwirrungen", in: Universitas, Juli 1998, 582-587. Vgl.: Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich, Weinheim 1995, 200.
ÜBERGANGSRITUS
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Die Besetzung des Raumes repräsentiert Macht und Machtansprüche. „Immer geht es darum, das Feld zu ,behaupten', das heißt, die Anwesenheit in diesem abgegrenzten Raum gegenüber anderen zu bekunden", schreibt der Soziologe Harry Pross (Pross: 1981, 41). Mit ihrer Präsenz bemächtigten sich die Nationalsozialisten des städtischen Raumes und kündigten dadurch ihre Machtansprüche gegenüber den politischen Gegnern an. Dies hatte darüber hinaus die Funktion einer Verstärkung der eigenen Gruppenidentität. 7 Die pompöse NS-Inszenierung mit ihrer Liturgie, ihren Uniformen und ihrer Dekoration bot zusätzlich eine assoziative Anknüpfung an die Rituale der Kaiserzeit. Denn während der Weimarer Republik wurde diese Art prunkvoller Veranstaltungen, obwohl nicht vollkommen aus der politischen Praxis verbannt, wesentlich sparsamer eingesetzt. In den Erinnerungen von Harry Graf Kessler heißt es: „Berlin ist heute nacht in einer reinen Faschingsstimmung. SA- und SS-Trupps sowie uniformierter Stahlhelm durchziehen die Straßen, auf den Bürgersteigen stauen sich die Zuschauer. Im und um den ,Kaiserhof tobte ein wahrer Karneval; uniformierte SS bildete vor dem Haupteingang und in der Halle Spalier, auf den Gängen patrouillierten SA- und SS-Leute; als wir nach dem Vortrag herauskamen, defilierte ein endloser SA-Zug im Stechschritt an irgendwelchen Prominenten (zweite Garnitur, Hitler selbst war in der Reichskanzlei) vorbei, die sich vor dem Hauptportal aufgebaut hatten und ihn mit dem Faschistengruß grüßten; eine richtige Parade. Der ganze Platz gepfropft voll von Gaffern" (Kessler: 1996, 747).
4.3. Übergangsritus Die nationalsozialistische Feier der „Machtergreifung" sprach unterschiedliche Konnotationsebenen an. Neben der Machtdemonstration, der revolutionären Deutung und der pseudoreligiösen Konnotation versuchte die NS-Propaganda den rituellen Übergang zu einem „neuen" Zustand zu markieren. Wie Frangois-Poncet, der damalige französische Botschafter in Deutschland, beschreibt, wurde der Stadt eine magische Atmosphäre verliehen: „In dichten Kolonnen, zwischen denen Musikkapellen marschieren, die militärische Weisen spielen und mit dem dumpfen Wirbel ihrer großen Trommeln dem Marsch den Rhythmus geben, tauchen sie aus den Tiefen des Tiergartens auf, ziehen sie unter der Siegesgöttin des Brandenburger Tors hindurch. Die Fackeln, die sie tragen, bilden einen einzigen Feuerstrom, einen Strom, dessen Wellen ununterbrochen aufeinander folgen, einen schwellenden Strom, der mit herrischer Macht in das Herz der Hauptstadt vorstößt. Und von den Männern in braunen Hemden 8 und den hohen Stiefeln, die diszipliniert und in festen Reihen marschieren und mit gleichmäßigen Stimmen
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Vgl.: Sabine Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Vierow bei Greifswald 1996, 55. Bei der „Machtergreifung" waren die SS-Männer in sehr kleiner Zahl vertreten. Der Grund dafür liegt sowohl in den Massenveranstaltungsregien der NSDAP als auch an der Machtstellung der SA in der Partei während dieser Phase der „Bewegung". Die SS musste bis zur „Röhm-Affare" warten, um ihre Machtansprüche demonstrieren zu können.
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ENTSTEHUNG: VON DER MACHTÜBERNAHME ZUR „MACHTERGREIFUNG"
aus voller Kehle kriegerische Lieder singen, geht eine unerhörte Begeisterung, eine dynamische Kraft aus."9 In seiner Studie über die Übergangsriten (Rites de passage) beobachtete van Gennep, dass das generelle Ziel der Übergangsriten sei, eine Veränderung des Zustandes oder einen Übergang von einer magisch-religiösen bzw. säkularen Gruppe zu einer anderen zu gewährleisten.10 „Der Übergang von einem zum anderen Zustand ist buchstäblich gleichbedeutend mit dem Abstreifen des alten und dem Beginn eines neuen Lebens", schreibt van Gennep (Gennep: 1986, 176). Hält man am Aspekt des Hineingehens in ein neues Leben fest, entdeckt man nicht nur die feierliche Machtübergabe, sondern vor allem die gewünschte Überhöhung der NS-Propaganda fur das Geschehen am 30. Januar 1933. Für die Nationalsozialisten bedeutete die Machtübernahme nicht nur den Regierungswechsel, sondern den „Anfang einer neuen Ära", den leibhaftigen Eintritt in eine neue Welt. An diesem Abend sollten alle nationalsozialistischen Versprechen eines neuen „Beginns" erfüllt und eine Zäsur der Zeit konstruiert werden.
4.4. Das Brandenburger Tor Räumliche Grenzüberschreitungen spielen eine entscheidende Rolle in der Einweihung eines neuen Zustandes oder einer „neuen Wirklichkeit". Nach dem Ethnologen Arnold van Gennep dienen räumliche Übergänge oft dem Wechsel einer Gruppe zu einer anderen (Gennep: 1986; 184). Das Übertreten der Grenze steht für eine Veränderung des Status des Individuums oder der Gruppe. Die Grenze wird häufig durch einen Gegenstand markiert - einen Pfahl, ein Tor, einen aufgerichteten Stein usw. Wie eine Tür legt diese Markierung „den Gedanken des Übergangs, der Schwelle zwischen zwei Bereichen nahe: zwei Welten, zwischen Bekanntem und Unbekanntem, Diesseits und Jenseits, Licht und Finsternis, Entbehrung und Schatz. Sie öffnet sich in ein Geheimnis; gleichzeitig führt sie psychologisch zur Aktion: Eine Tür lädt immer dazu ein, sie zu durchschreiten" (Heinz-Mohr: 1971, 292). Das Brandenburger Tor erfüllte die Funktion einer Grenzmarkierung. Ursprünglich Mitte der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts als westliche Grenze der Stadt erbaut, diente das damals noch schmucklose Tor vor allem der Sicherheit vor Eindringlingen und als Binnenzollerhebungsposten und beinhaltete damit ein Grenzüberschreitungsverbot. Mit der Neuerbauung und der Einführung der bronzenen Quadriga des Königlichen Bildhauers Johann Gottfried Schadow am Ende desselben Jahrhunderts wurde das Brandenburger Tor zu einer Art porta triumphalis und einer der beliebtesten Kulissen für historische Ereignisse und Machtinszenierungen. Preußische Sieger hatten ihre obligatorischen Züge durch das Brandenburger Tor zu feiern wie 1815, 1864 oder 1866. Zwei weitere historische Ereignisse wurden ebenso mit der Torpassage symbolisch 9
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Das hier verwendete Zitat ist eine etwas freie Übersetzung ohne Inhaltsveränderung aus Karlheinz Schmeer: Die Regie des Öffentlichen Lebens im Dritten Reich, München 1956, 98. Für das Original siehe: Andre Fran^ois-Poncet: Souvenirs d'une Ambassade ä Berlin. Septembre 1931 - Octobre 1938, Paris 1977, 70. Vgl.: Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt/New York 1986.
HISTORISCHE O R T E
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gefeiert: die Schlacht von Sedan am 2. September 1870 und die Gründung des Deutschen Reiches in Versailles am 18. Januar 1871. Auch die Weimarer Republik demonstrierte ihre Triumphe und ehrte ihre Toten mit der Passage durch das Brandenburger Tor. Zu den wichtigsten Trauerzügen, die entweder am Tor vorbei oder durch dieses hindurch gingen, zählen die Ehrungen des Reichspräsidenten Ebert, des Reichskanzlers Stresemann und des ermordeten Reichsaußenministers Rathenau - seine Familie hatte auf die Passage durch das Tor zugunsten der Variante des Vorbeigehens verzichtet. Außerdem wurde das Tor am 17. Januar 1919 als Kulisse für den Marsch der Feldtruppen genutzt. Dies war ein eindeutiges Machtzeichen gegenüber den Revolutionären des Spartakusbundes, doch es verhinderte nicht, dass eine Woche später der Trauerzug für Karl Liebknecht das Tor durchschritt. Auch während des Kapp-Putsches 1920 wurde um das Brandenburger Tor geschossen. Dass Kämpfe und Feierlichkeiten immer um das Tor herum stattfanden, hatte auch mit seiner Lage zu tun. Das Brandenburger Tor liegt am Pariser Platz - „die gute Stube Berlins". Die Prachtstraße Unter den Linden bildete eine der wichtigsten Verkehrsachsen der Stadt und führte direkt zum Tor. Der gesamte Verkehr des Tiergartens hatte sich also zwischen den Säulen des Brandenburger Tors hindurchzuzwängen. Das Fahren durch den mittleren Bogen blieb jedoch bis zu Republikzeiten dem Kaiser reserviert. „Das Tor, das das Verbot des Eintritts symbolisiert, wird zum Tor in der Wallmauer, zum Tor in der Umgrenzung eines Stadtteils, zur Tür eines Hauses" (Gennep, ebd., 28). Nicht nur seine Bodenschwelle hat einen sakralen Charakter, auch die Oberschwelle und der Tragbalken stehen für das Heilige. Dies bestätigt auch die Anekdote, bei der die Mutter des Reichsaußenministers, Mathilde Rathenau, sich dieser sakralen Konnotation widersetzte. „Ihr Auto fuhr durch die Linden. Vor dem Brandenburger Tor mußte es halten. Da beugte sich die Greisin nach vorne und rief dem Chauffeur zu: ,Fahren Sie durch den mittelsten Bogen!' Der Chauffeur drehte sich um, als hätte er nicht recht gehört. Durch den Bogen fahren, der dem Kaiser reserviert war und eigentlich noch ist! ,Aber Frau Geheimrat, das ist ja verboten!' Da wurde die alte Dame böse: ,Sie fahren durch den mittelsten Bogen!' Noch zögerte der Chauffeur: ,Frau Geheimrat, wir werden bestraft werden.' Frau Mathilde bekam ein böses Gesicht: ,Kein Wort mehr, Sie fahren oder [...]' Ihr Gesicht war eine Kündigungsdrohung [...] Der Chauffeur fuhr durch den Kaiserbogen, mitten durch das Brandenburger Tor. Unter den Linden sagte die alte Dame: Jetzt wissen Sie, dass wir in einer Republik sind!' Sie hatte ihre Genugtuung, sie atmete a u f (Das Tage-Buch, 21.08.1926). Schenkt man der Anekdote Glauben, wird verständlich, dass Frau Rathenau bei der Beerdigung ihres Sohnes auf das symbolische Durchqueren des Brandenburger Tors verzichtete.
4.5. Historische Orte Bei dem Marsch durch das Brandenburger Tor arbeitete die NS-Propaganda mit schon besetzten Symbolen. Die Tatsache, dass das Brandenburger Tor eine lange Geschichte besaß, unterstützte das NS-Ritual. Für NS-Feiern wurden Orte bevorzugt, die mit einem historischen Pathos aufgeladen waren, wie ζ. B. Nürnberg für die „Reichsparteitage". Es
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ENTSTEHUNG: VON DER MACHTÜBERNAHME ZUR „MACHTERGREIFUNG"
war Hitler, der die Bedeutung des historischen Ortes für politische Rituale schon in Mein Kampf erwähnte: „Es gibt Räume, die auch kalt lassen aus Gründen, die man nur schwer erkennt, die jeder Erzeugung von Stimmung irgendwie heftigsten Widerstand entgegensetzen. Auch traditionelle Erinnerungen und Vorstellungen, die in Menschen vorhanden sind, vermögen einen Eindruck maßgebend zu bestimmen" (Hitler: 1933, 531). Was Hitler unter „traditionellen Erinnerungen und Vorstellungen" sehr allgemein und diffus auffasst, nährte die spätere Idee des Neurologen Antonio Damasio von Vorstellungsbildern. Nach Damasio werden jedesmal, wenn ein Phänomen wahrgenommen wird, „Bilder verschiedener Sinnesmodalitäten" konstruiert. Diese Wahrnehmungsbilder werden mit unseren Erinnerungsbildern - in der Vergangenheit erlebt oder vorgestellt - als Vorstellungsbilder der Wirklichkeit artikuliert und gespeichert. „Diese Vorstellungsbilder [sind] momentane Konstruktionen, Versuche, Muster zu kopieren, die wir erlebt haben" (Damasio: 1996, 145), sie sind für unsere Weltauffassung und Wahrnehmungsmechanismen konstitutiv. 11 Für das soziale Imaginäre und für das kollektive Gedächtnis sind die Wahrnehmungsprädispositionen und Erinnerungsassoziationen, die am historischen Ort entstehen, von zentraler Bedeutung. Der französische Philosoph Maurice Halbwachs war in den zwanziger Jahren der Meinung, dass physische Orte Bezugspunkte für das individuelle und für das kollektive Gedächtnis erstellen. 12 „Der Raum indessen ist eine Realität, die andauert: Unsere Eindrücke jagen einander, nichts bleibt in unserem Geist haften, und es wäre unverständlich, dass wir die Vergangenheit wiedererfassen können, wenn sie nicht tatsächlich durch das materielle Milieu aufbewahrt würde, das uns umgibt" (Halbwachs: 1991, 142). An historischen Orten haftet eine feste Ordnung und, im gewissen Sinne, eine sakrale Qualität. „Es gibt geheiligte Stätten, andere, die religiöse Erinnerungen heraufbeschwören, es gibt profane Orte - manche sind von Feinden Gottes bevölkert, an ihnen muß man die Augen und Ohren verschließen, auf manchen lastet ein Fluch. [...] die Kirche selbst erlegt den Mitgliedern der Gruppe eine Anordnung und Verhaltensweisen auf und prägt ihnen eine Gesamtheit von Bildern ein, die ebenso unveränderlich sind wie die Riten, die Gebete und die Artikel des Dogmas" (Halbwachs: 1991, 141-158). Wenn die historischen und sakralen Orte als solche erkannt werden, d. h. wenn ihre historisch-sakrale Bedeutung zum Repertoire des Betrachters gehört, funktionieren diese Räume als Strukturierung nicht nur von Erinnerungen, sondern auch von Wahrnehmung. Ähnlich vermutete Hitler in historisch besetzten Räumen eine vertraute Wahrnehmungsstruktur, die potenzielle Assoziationen wecken kann. „So wird eine Parsifal-Aufführung in Bayreuth stets anders wirken als an irgendeiner anderen Stelle der Welt. Der geheimnisvolle Zauber des Hauses auf dem Festspielhügel der alten Markgrafenstadt kann nicht durch Äußeres ersetzt oder auch nur eingeholt werden" (Hitler: 1933,531). Der historische Ort dient als Kulisse für die Machtinszenierung und bietet dabei zahlreiche Anknüpfungspunkte und Assoziationsmöglichkeiten für die Vermittlung politischer Botschaften. So auch bei der „Machtergreifung": Selbst wenn das Brandenburger 11
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Vgl.: Antonio Damasio: Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche 1996. Vgl.: Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main 1991.
Gehirn, München
FEUER ALS SYMBOLISCHES ELEMENT
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Tor in der Weimarer Republik nicht mehr die Funktion einer räumlichen Grenzüberschreitung erfüllte und schon etwas von seiner Bedeutung als „heiliges Tor" verloren hatte, hafteten ihm Reminiszenzen an diese Rolle an. Seine Nutzung als sakrale Kulisse für politische Inszenierungen zeigte diese Bedeutung. Das rituale Portal, schreibt van Gennep, „kann auch Sitz einer speziellen Gottheit sein. [...] Aus einem räumlichen Übergangsritus ist so ein spiritueller Übergangsritus geworden. Denn nicht mehr der Akt des Hindurchgehens gewährleistet den Übergang, sondern eine personifizierte Macht sichert ihn auf spirituelle Weise" (Gennep: ebd, 30). Maurice Halbwachs war der Meinung, dass „ein wirklich schwerwiegendes Ereignis" immer eine Wandlung des kollektiven Gedächtnisses bewirkt. Die Wandlung kann auch durch einen neuen rituellen Gebrauch von Raum verursacht werden. „Von diesem Augenblick an wird es nicht mehr genau dieselbe Gruppe geben, auch nicht mehr dasselbe kollektive Gedächtnis; aber gleichzeitig wird auch die materielle Umgebung nicht mehr dieselbe sein" (Halbwachs: 1991, 130). Die rituelle Verwendung des historischen Ortes bewirkte keine vollständige Bedeutungsveränderung des Brandenburger Tors, sondern seine symbolische Überlagerung. Die nächtliche Inszenierung vom 30. Januar 1933 verlieh dem Brandenburger Tor eine neue symbolische Schicht und beanspruchte seine historische Tradition für die Einweihung des nationalsozialistischen „Dritten Reiches". Seit der „Machtergreifungsfeier" ist das Brandenburger Tor im kollektiven Gedächtnis mit Bildern des Nationalsozialismus verknüpft. Diese Prägung des historischen Ortes ist nicht zuletzt auch ein Ergebnis der NS-Propaganda, die vor allem in der jährlichen rituellen Wiederholung der „Machtergreifungsfeier" eine symbolische Besetzung des Brandenburger Tors bewirkte.
4.6. Feuer als symbolisches Element Die NS-Propaganda versinnbildlichte den „Eintritt in die neue Ära" mit der Verwendung bestimmter symbolischer Elemente, worunter das Feuer eine besondere Rolle spielte. Das Feuer hat eine reiche symbolische Tradition. Sei es als Bedrohung oder als Rettung, Lebensspender oder Vernichter, als Gotteserscheinung oder Dämonendarstellung, es begleitet die menschliche Vorstellungswelt und bekommt oft eine heilige Bedeutung zugesprochen. Auch für Erkenntnis und Wahrheit steht das Feuer - daher auch seine symbolische Verwendung als Reinigungselement in vielen Übergangsriten. Im Alten Testament und in den Evangelien steht das Feuer im Zusammenhang mit dem Jüngsten Gericht, aber auch mit der göttlichen Erkenntnis. „Das Feuer steht sowohl für das Göttliche in seinem dynamischen Aspekt, für die Ehrfurcht gebietende Heiligkeit des Ineffabile wie auch fur die innere Bewegung einer ,brennenden' Seele" (Stepheson: 1995, 131) und wird zum Garanten der Heiligkeit des Ortes. Die Friedhofskerzen am Allerseelentag und das „ewige Licht" in katholischen Kirchen, die die Gegenwart Gottes symbolisieren, zeigen noch heute Spuren dieser Bedeutung. Die Verwendung des Feuers als propagandistisches Hilfsmittel für die „Redekunst" hatte Hitler, der nie aus der Kirche ausgetreten ist, bei den Ritualen der katholischen Kirche beobachtet: Diesem „Zwecke dient ja auch der künstlich gemachte und doch geheimnisvolle Dämmerschein
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ENTSTEHUNG: V O N DER MACHTÜBERNAHME ZUR „ M A C H T E R G R E I F U N G "
katholischer Kirchen, die brennenden Lichter, Weihrauch, Räucherpfanne usw." (Hitler: 1933, 532). Die politischen Massenversammlungen sah Hitler als eine Art „Ringkampf zwischen Führer und Masse, in dem die katholische Theatralik dem Politiker zum Sieg verhelfen sollte. Die NS-Propaganda lehnte sich auch an das Christentum an verwendete in der Feier der „Machtergreifung" Elemente der Katholischen Liturgie wie das Feuer. Wie eine Prozession zog der SA/SS-Fackelzug durch das Brandenburger Tor. Speer beschreibt die Wirkung dieser Lichtarrangements in der Dunkelheit als eine „diffuse Stimmung", die Raum- und Zeitwahrnehmung außer Kraft setzt. 13
4.7. Das „Dritte Reich" Der Marsch durch das Brandenburger Tor lieferte die rituelle Übersetzung für die semantische Konsolidierung der neuen Macht und für den grundlegenden symbolischen Wechsel zu einem nicht nur politischen, sondern auch mythischen Zustand - man hatte die Weimarer Republik verlassen wollen und ging in das „Dritte Reich", in das „tausendjährige Reich", hinein. „Das ,Reich' ist ein Symbol von geradezu metaphysischem Rang", schreibt Klaus Vondung, „und seine Bedeutung erhellt auch, worin für die Nationalsozialisten die .Revolution' des Jahres 1933 als eine fundamentale Umwälzung aller Verhältnisse bestand" (Vondung: 1992, 213). Auf einer ersten Bedeutungsebene folgt das „Dritte Reich" dem „ersten Reich", dem sacrum imperium, „dem 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation" (Sieferle: 1992, 184), und dem „zweiten Reich", dem 1871 gegründeten preußisch-deutschen Reich. Parallel zu dieser Deutungsstufe verläuft eine zweite, die utopisch-religiöse Interpretationsstufe des politischen Diskurses. Das „Dritte Reich" erschien nicht nur als ein dem zweiten folgendes, es bekam zusätzlich die Konnotation der Erlösung und Verwirklichung einer Utopie. Das dritte sei deswegen das letzte Reich, das Reich der Versöhnung und Vollendung eines Werkes. 14 Die Bezeichnung „Drittes Reich" knüpft an diese aufgeladene mythisch-religiöse Tradition an, die vielfältige Bilder mit sich transportiert. Prägende Wirkung hatten vornehmlich die Bilder der Erlösung, die mit dem Begriff assoziiert werden konnten und bei der NS-Inszenierung durch die Verwendung von Feuer, durch die rituelle Passage durch das Tor und durch den religiösen Jargon unterstrichen wurden. Damit konnte das nationalsozialistische „Dritte Reich" oder das „tausendjährige Reich" an apokalyptische Vorstellungen von der Endphase der Geschichte anknüpfen. Rolf Peter Sieferle erkennt in der Formel vom „Dritten Reich" sogar „die Urform der geschichtsphilosophischen Triade" wieder, „die in tiefere Schichten der christlichabendländischen Tradition zurückweist" (Sieferle: 1992, 185).15 Diese geschichtsphilo13
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15
Vgl.: Franz Dröge/Michael Müller: Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder Die Geburt der Massenkultur, Hamburg 1995, 324. Vgl.: Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 1998. Sie auch den Aufsatz von Rolf Peter Sieferle: „Die konservative Revolution und das ,Dritte Reich'", in Dietrich Harth/Jan Assmann (Hrsg.): Revolution und Mythos, Frankfurt am Main 1992, 178-206. Damit wies das „Dritte Reich" auf eine chiliastische Geschichtsperspektive hin, die sich in das Konzept einer dreiteiligen Menschheitsgeschichte fügt. Die triadische Strukturierung der Geschieh-
DAS „DRITTE REICH"
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sophische Bedeutung des „Dritten Reiches" bei der „Machtergreifung" ist im politischen Diskurs potenziell möglich, sie knüpft an ein kulturelles Repertoire an, das schon vorhanden war, das aber je nach Gruppenzugehörigkeit, Religion, Geschlecht, politischer Auffassung etc. unterschiedlich aktiviert werden konnte. Im Hinblick auf die politische Bedeutung des Begriffes wurde die Vorstellung eines „Dritten Reiches" erst 1919 als politische Utopie konkret funktionalisiert, als der Antisemit und spätere Nationalsozialist Dietrich Eckart den Ausdruck „Drittes Reich" in seinem Blatt Auf gut Deutsch erwähnte. 16 Bis in die zwanziger Jahre hinein war das „Dritte Reich" kein fester Begriff, sondern motivierte unterschiedliche Bilder- und Gedankenassoziationen, die die NS-Propaganda aktivieren konnte - unter anderem waren vor dem Ersten Weltkrieg „Krist", „Widerkrist", „Hakenkreuz" und „Reinheit der Blonden" mit der Idee eines „Dritten Reiches" assoziiert. 1923 stellte der Schriftsteller Arthur Moeller van den Bruck in dem Buch Das Dritte Reich seinen Entwurf eines radikalen Neubeginns dar. Der biblische Begriff des „Tausendjährigen Reiches" bei van den Bruck bezog sich auf „den Anbruch eines deitschen Zeitalters [...], in dem das deutsche Volk erst seine Bestimmung auf Erde erfüllen werde" (in: Hermand: 1995, 113). Das Buch sollte zu einer zentralen Programmschrift der konservativen Revolution werden und verwendete den Begriff im Kontext von politisch-religiöser Erneuerung. „Die ,Drei' als mythische Chiffre der Aufhebung und Versöhnung sollte aus den aktuellen Gegensätzen von links und rechts, von Revolution und Konservativismus, von Bolschewismus und Entente hinausweisen" (Sierferle: 1992, 182) und einen „dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus bezeichnen. In der nationalsozialistischen Verwendung des Begriffs „Drittes Reich" wird die Vielschichtigkeit des Mythos deutlich: Die Signifikatsebenen (Bedeutungen) überlagerten sich auf dem Signifikanten (Bezeichnung „Drittes Reich") und ermöglichten zahlreiche Schwerpunkte für die Interpretation des Mythos. Der Ausdruck „Drittes Reich" bot unterschiedliche ideologische Bezüge an, die von pazifistisch-aufklärerischen Vorstellungen bis hin zu völkischen, rassistischen und religiösen Weltanschauungen reichten. 17 Seine Verwendung war ein Beispiel des Recyclingmechanismus in der NSPropaganda.
te bildet eine wichtige Komponente der abendländischen Kultur. A m Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhundert erscheint sie bei Joachim di Fiore auf das Dogma der Trinität übertragen. Di Fiore periodisierte die Geschichte in drei Reiche: Das erste war das des Vaters, das zweite das des Sohnes und das dritte das Reich des Geistes. Im „Dritten Reich" sah di Fiore die Vollendung der Geschichte, in dem die Menschheit zurück in einen paradiesischen Zustand kehrte. Vor allem am Ende des 18. Jahrhundert kehrten di Fiores Vorstellungen als Zukunftsbilder zurück. Sie mischten sich in den verschiedenen utopischen Entwürfen des 19. Jahrhunderts und wirkten im Imaginären nach dem Ersten Weltkrieg weiter. Vgl.: Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus, 45-135. 16
Eckarts engster Mitarbeiter bei Auf gut deutsch war Alfred Rosenberg, unter seiner Leitung wurde Rosenberg 1921 Redakteur der Zeitung Völkischer Beobachter. Vgl.: Hermann Weiß (Hrsg.): Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 1998, 384—386.
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Recycling und Bricolage gehören zur Mythoskonstruktion. Vgl.: Claude Levi-Strauss: La sauvage, Paris 1962; Sabine Behrenbeck: Der Kult um die Totenhelden.
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ENTSTEHUNG: V O N DER MACHTÜBERNAHME ZUR „MACHTERGREIFUNG"
Zwei wichtige Veränderungen in Bezug auf die „Machtergreifung" sind bei der nationalsozialistischen Mythoskonstruktion zu betonen. Erstens wurde in der Deutung der Machtübernahme als „Eintritt in die neue Ära" die Gesetzmäßigkeit von Zeit und Geschichte als aufgehoben dargestellt. Die Nationalsozialisten standen vor einem Bruch mit der historischen und vor dem Anfang einer mythischen Zeit. Vergangenheit und Zukunft schienen von der historischen Zeit dissoziiert zu sein. Beide waren in der NSPropaganda im Unendlichen lokalisiert. Ihre Geschichte wurde als eine mythische erzählt, die auf die „germanische" Vergangenheit ohne ein spezifisches historisches Ereignis zurück griff und diffus im NS-Wunschtraum blieb. Dabei erschien die nationalsozialistische Perspektive als auf die Zukunft gerichtet, und aus der Zukunft wurde die Gegenwart betrachtet. „Das tausendjährige Reich' sollte bekanntlich nicht tausend Jahre dauern, sondern ewig. Insofern repräsentiert das ,Reich' einen völlig neuen, fundamental gewandelten Zustand individueller wie kollektiver Existenz" (Vondung: ebd., 214). Die Benennung des gewünschten neuen Zustandes mit einer zeiträumlichen Charakterisierung - „tausendjähriges Reich" - hatte politische Folgen, sie projizierte die NSMachtambitionen auf die Zukunft, die in der historischen Vergangenheit nicht erfüllt wurden. 18 Nach Elias Canetti lässt sich daran „die Größenvorstellung entnehmen, die eine Macht von sich hat", und um sich behaupten zu können, müsse die neu entstandene Macht „an eine Neuordnung der Zeit gehen" (Canetti: 1996, 471). Es sei, als beginne eine neue Zeit mit der neuen Herrschaft. Die apokalyptischen Bilder der NSPropaganda wurden als Ausweg aus dem diskreditierten parlamentarischen System artikuliert, und dienten damit als mythisch-religiöse Begründung für die neue politische Macht. 19 Die zweite wichtige Wirkungsdimension der Proklamation des „Dritten Reiches" implizierte eine verstärkte sakrale Legitimierung der Macht und damit eine deutliche Abgrenzung vom Weimarer System. Nach Herfried Münkler behauptet sich die Legitimierung des Staates vor den Bürgern durch seine Funktionstüchtigkeit und sein rationales Prinzip. Dagegen findet sich die Legitimierung des Reiches in seinem Alter, in seiner Tradition und vor allem in seiner sakralen Qualität, die die Gesellschaftsordnung als von Gott-gewollte anerkennt. Denn „das Reich hat, im Unterschied zu den Staaten, einen zentralen Platz inne in Gottes Heilsgeschichte" (Münkler: 1989, 340). Die ungeliebte Weimarer Republik konnte als Versagen des bürokratischen Apparates und 18
In Hinblick auf die in naher Zukunft liegenden Kriegspläne schien die Nähe des Begriffes zur alttestamentarischen Bedeutung - Reich der Apokalypse, d. h. das letzte Reich - eher störend. Am 13. Juni 1939 verbot Hitler per Runderlass der Reichskanzlei den Ausdruck „Drittes Reich" zugunsten von „tausendjähriges Reich". „Diese Sprachregelung konnte sich jedoch in der Öffentlichkeit nicht durchsetzen. Der Begriff war in einer Weise sedimentiert und auch inhaltsleer geworden, daß er einer gezielten Sprachpolitik nicht mehr zugänglich war" (Sieferle: 1992, 201). Siehe auch Herfried Münkler: „Das Reich als politische Vision", in: Peter Kemper, Macht des Mythos. Ohnmacht der Vernunft?, Frankfurt am Main 1898, 354.
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Dieses Geschichtsbild der NS-Ideologie bereitete den NS-Propagandisten Schwierigkeiten, denn der „Neue Beginn", obwohl schon angetreten, wurde noch als künftiger präsentiert, was die Gegenwart zugunsten der antizipierten Zukunft entkräftete. Daraus ergab sich für die NS-Propaganda eine Zwangslage: Das utopische Ziel sollte als erreicht präsentiert und zugleich in die Zukunft geschoben werden.
D I E ZWISCHENWELT
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der menschlichen Ordnung konnotiert werden und als überwunden gelten. An ihre Stelle trat das „Reich", bei dem die politische Verantwortung auf eine Spitze - Führer oder Kaiser - übertragen wurde.20 Die Bindung eines Führers zu Gott, der Schicksalscharakter des Geschichtsverlaufs und die Konnotation des Transformationsprozesses als Vorsehung „garantierten" die Richtigkeit der neuen nationalsozialistischen Ordnung und knüpften an schon bekannte Mythen, die die politische Entwicklung als schicksalhaft darstellten, an. Der Mythos hatte in der Weimarer Zeit Konjunktur. Er kam dem „Verlangen nach Flucht vor den Folgen der Industrialisierung" und des verlorenen Krieges entgegen und drückte sich in der kulturellen und insbesondere literarischen Produktion der zwanziger Jahre aus. „Die Mythen [...] sollten die Welt wieder heil machen und der zersplitterten Nation den Sinn für Gemeinsamkeit zurückgeben" (Mosse: 1993, 16). Es ist dabei nicht überraschend, dass auch der Mythos des „Dritten Reiches" um die Jahrhundertwende verstärkt auftrat und nach dem verlorenen Krieg politisch reaktiviert wurde. Die Mythen gehörten ebenso zur pathosgeladenen Atmosphäre der zwanziger Jahre, die vor allem in Ästhetisierungsprozessen Ausdruck fand. Peter Reichel sieht in der Weimarer Zeit einen Nährboden für das Ästhetische und Theatralische. „Die Zeit war erfüllt von Pathos, Protest und Proklamationen, von Rausch und Radikalität, Überhöhung und Überschwang, Klage und Sehnsucht, Untergangsstimmung und Zukunftsvision" (Reichel: 1993, 49) und lieferte die Atmosphäre und ein Repertoire, auf das sich die NSMythoskonstruktion stützen konnte.
4.8. Die Zwischenwelt Während die NS-Propaganda sich darum bemühte, die „Machtergreifung" als einen Mythos zu konstruieren, wirkten andere Faktoren, erwünscht oder unerwünscht, intendiert oder nicht, auf die Entfaltung ihrer Inszenierung. Der Nationalsozialismus entstand in einer Zeit, die von einer Ästhetisierungs- und Visualisierungskultur, von neuen Techniken und Massenmedien wie Plakate, Fotografie, Film, Funk, Telefon und Schallplatte belebt wurde. Einerseits begünstigten diese neuen technischen und ästhetischen Möglichkeiten die Überhöhung und das Pathos der politischen Inszenierung. Dafür sprechen die ästhetische Vereinnahmung des städtischen Raumes, die direkte Rundfunkübertragung und die spätere Massenverbreitung von Bildern der „Machtergreifung". Da Inszenierungen in der Welt der auditiven und visuellen Medien zum Unterhaltungsangebot gehörten, musste andererseits die Feier der „Machtergreifung" sich von anderen Kon20
Staat und Reich weisen Hauptunterschiede aus, die in unzähligen Mischformen ihrer Diskurse erscheinen können. Während der Staat als kalt und berechnend erscheint und sich durch das Funktionieren seiner Institutionen legitimiert, verspricht das Reich Wärme, die vom Kaiser oder Führer ausgeht. Der Führer ist nicht nur der Repräsentant des Volkes, sondern die Bindung zwischen Volk und Gott - daher auch die sakrale Qualität des Reiches. Herfried Münkler weist auf die apokalyptischen Dimensionen im Mythos des „schlafenden Kaisers", dessen Reminiszenzen im Imaginären der Jahrhundertwende zu finden waren. Vgl.: Herfried Münkler: „Das Reich als politische Vision", in: Peter Kemper: Macht des Mythos. Ohnmacht der Vernunft?, Frankfurt am Main 1989, 336-357.
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ENTSTEHUNG: VON DER MACHTÜBERNAHME ZUR „MACHTERGREIFUNG"
sumangeboten differenzieren, um ihre mythisch-religiöse Deutung hervorzuheben, und sie gleichzeitig überbieten, um an das sinnästhetische Wahrnehmungsrepertoire vor allem des Großstadtpublikums anzuknüpfen. Es liegt der Verdacht nahe, dass die Bilder der NS-Inszenierung nicht unbedingt als Wiedergabe der Realität, sondern als eine Mischung aus politischen Ereignissen, bekannten mythischen Strukturen und medialtheatralischer Unterhaltung wirkten. Die neuen Medien begünstigten Systeme, die einen selbstreferenziellen Charakter hatten und das Publikum in eine eigene Welt einluden. Die moderne Werbung, die sich um die Jahrhundertwende etablierte, setzte zwischen Subjekt und Umwelt eine hauptsächlich visuelle „Zwischenwelt" ein, die sich schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verselbständigte. Sie kreierte „ein textualisiertes und visualisiertes Bild der Wirklichkeit und [setzte] dies an die Stelle dessen, was in der traditionellen Wahrnehmung als ,eigentliche Realität' gegolten hatte" (Haas: 1995, 75). Liegt für die so genannten „traditionellen Gesellschaften" die Produktion der ,„Wir-Verfaßtheit' des sozialen Raumes den ideellen, normativen und psychischen Integrationsleistungen der einzelnen" zugrunde, wie Ulrike Haß schreibt, begannen sich in der modernen Gesellschaft die medial-technischen Leistungen an die Stelle des „Ganzen" zu setzen. „Verbundnetze und Apparate übernehmen die Verbindlichkeiten des traditionalen WirRaumes im Sinn effizienter Realität" (Haß: 1993, 11-12). Der Vorschlag von Stephan Haas, diese mediale Selbstreferenzialität als Herstellung einer „Zwischenwelt" zu betrachten, soll bei der Analyse der NS-Inszenierung weiter verfolgt werden. 21 In der „Zwischenwelt" haben die Beziehungen zwischen Signifikant und Signifikat eine gewisse Autonomie. In der Werbungswelt, die im Zentrum von Haas Untersuchung steht, können Konnotationen verschoben und Freiassoziationen erweckt werden. Am Ende der zwanziger Jahre zielten die Werbetechniken auf noch größere Assoziationspotenziale und stimulierten den sinnästhetischen Charakter der Wahrnehmung. Auch die Dinge begannen, „die Sprache der immateriellen Werbung zu übernehmen. Verpackungen, Verkaufsstände und sogar Verkäufer werden dem Visualisierungsprozeß der Werbung untergeordnet und nach seinen Maßgaben gestaltet" (Haas: ebd. 74). All dies, damit die Werbung als Bindeglied zwischen Konsument und Produkt funktionieren konnte. Ästhetik wird als Produkt konsumiert. Den Überfluss an dekorativen Elementen und die Rauminszenierung wurden dem Großstadtpublikum von unterschiedlichen Freizeit- und Konsumangeboten präsentiert und dienten immer mehr zur Ästhetisierung des Alltags. Die Grenzen zwischen Ästhetik und Alltag verwischten, ein Phänomen, das sich nicht auf die Werbung beschränkte, sondern vor allem einer Tendenz der Moderne entsprach. Im kulturellen Leben nahm diese Tendenz eine eigene Form an. „Als das eigentliche Neue dieser Jahre gilt zum einen eine Hinwendung zum Öffentlichen und Visuellen, zum Imaginären und Inszenatorischen, zur Theatralik und zum Tanz" (Reichel: 1993, 48). Unter diesem Aspekt ist es kein Zufall, dass das Kino zum Ort der Unterhaltung
21
Vgl.: Stefan Haas: „Die neue Welt der Bilder: Werbung und visuelle Kultur der Moderne", in: Hans Teutenberg/Peter Borscheid/Clemens Wischermann (Hrsg.): Bilderwelt des Alltags, Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, 64-77.
D I E GEOMETRIE: ORDNUNG UND ÄSTHETIK
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schlechthin wurde. Dort bekam das Publikum Bilder zu sehen, die von einer anderen Qualität als die Fotografie waren. Die laufenden Kinobilder simulierten eine Realität, ohne den Traumcharakter zu verlieren, was Entspannung und Erholung versprach. 22 Ebenfalls zur Zerstreuung trugen die Konsumorte bei: Der Prunk der Warenhäuser sorgte für ständige ästhetische Erlebnisse und bot sich als Unterhaltungsquelle an. Bezeichnend für die Unterhaltungsangebote der Zeit war, dass neben traditionellen Bildungsveranstaltungen die Massenspektakel populär wurden: Kinopaläste, Varietes, Tanzsäle, Sport wie Boxkämpfe und Sechstagerennen bildeten neue Optionen für die Freizeitgestaltung, daneben gewannen die vielfältigen Printmedien, Kino und Radio immer mehr Raum im Alltag. Sie prägten das kulturelle Leben und blieben nicht ohne Wirkung auf Lebensweisen und Lebensgefühl, denn sie konnten viel schneller und viel größere Teile der Bevölkerung erreichen als Bücher und teure Zeitschriften. Die Nationalsozialisten blieben diesen neuen Wahrnehmungs- und Stimmungsveränderungen gegenüber nicht gleichgültig und verstanden es, ihre rituellen Masseninszenierungen an die neuen Bedürfnisse anzupassen, um ihre Mythen zu gründen. Vieles, was in der Unterhaltungsbranche verwendet wurde, gehörte zu den szenischen Elementen der NS-Feiern. Sie wurden mit Symbolen und ästhetischen Komponenten aus anderen sozialen Sphären, wie ζ. B. aus religiösen oder militärischen Kontexten kombiniert, und konnten neben dem rituellen Charakter und den politisch-revolutionären Ambitionen als Unterhaltungsveranstaltungen konsumiert werden.
4.9. Die Geometrie: Ordnung und Ästhetik Die verwendete Geometrie der SA- und SS-Formationen ist ein Beispiel für diese propagandistische Symbol- und Ästhetikmischung in der „Machtergreifung". Dadurch konnte die NS-Inszenierung sowohl an das traditionelle Militärbild der Staatsparaden als auch an das Bild des Revuetheaters anknüpfen. Eine der wichtigsten Anknüpfungsmöglichkeiten boten die Revuegirls, die in der Weimarer Republik populär waren. Das Revuetheater war vom Reichtum der Kostüme und Kulissen geprägt und zielte auf die optische Überwältigung der Zuschauer. Wie die uniformierten Militärs fielen die Revuegirls nicht als einzelne, sondern als gesamte Gruppe auf. Es war ihr Ensemble, die zahlreichen Arme und Beine, die dem Publikum immer wieder neue Figuren boten. Was beide, Revuetheater und Militärparade, gemeinsam haben, ist die Aufforderung zu einem Blick auf die Einheit. Es geht um eine Ästhetik der Ordnung, die Disziplin und Homogenität als Hauptmotiv darstellt. Obwohl das Revuetheater sich von der militärischen Ordnung inspirieren ließ, ist seine Dynamik von einer etwas anderen Qualität, denn bei den Revuegirls kam es besonders auf die pompöse Dekoration und Ausstattung an. Sie ziehen ihre Faszinationskraft vor allem aus einer verschwenderischen Bühnenausstattung und aus den luxuriösen Kostümen, die zum Träumen einladen. Der Zuschauer bekommt die Illusion, selber in das Spektakel einzudringen. 23 Dieser Aspekt 22
23
Vgl.: Wolfgang Mühl-Benninghaus: Das Ringen um den Tonfilm. Strategien der Elektro- und der Filmindustrie in den 20er und 30er Jahren, Düsseldorf 1999. Vgl.: Dieter Bartetzko: Zwischen Zucht und Ekstase, Berlin 1985.
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ENTSTEHUNG: VON DER MACHTÜBERNAHME ZUR „MACHTERGREIFUNG"
tauchte ebenso bei den NS-Masseninszenierungen auf. Der exzessive Gebrauch von dekorativen Elementen wie Uniformen, Fahnen, Standarten, Fackeln und der Einsatz des Lichtspiels entsprach dem des Revuetheaters. Diese Elemente ergänzten die Disziplin der Marschierenden und appellierten „an kollektive Bedürfnisse nach Verschwendung" (Bartetzko: 1985b, 40). Im Vergleich zu den Revuegirls wirkten die Militärparaden viel starrer, da sich hier die geometrischen Körperformationen viel seltener zu neuen Bildern formierten. Die NS-Parade am 30. Januar kombinierte den aggressiven militärischen Auftritt mit der Ästhetik der Revue, sie kompensierte die wenigen Abwechslungsmöglichkeiten der militärischen Formationen mit Dekoration und Bildkulisse, in der das Brandenburger Tor das Hauptmotiv darstellte.
4.10. Zusammenfassung und Ausblick Während der „Machtergreifung" versuchte die NS-Propaganda sowohl ein Ritual als auch durch die Werbetechnik, eine „Zwischenwelt" zwischen Subjekt und Umwelt, Publikum und Realität, zu erstellen. Damit beabsichtigte die NS-Propaganda nicht nur die politischen Geschehnisse vom 30. Januar 1933 als „Machtergreifung" und „Revolution" umzudeuten, sondern eine mythische Basis für die NS-Utopie, d. h. den Beginn der „neuen Ära", rituell zu gründen. Dies geschah, wie schon beschrieben wurde, durch die Anlehnung an ein sowohl sakrales als auch profanes Repertoire. Die Inszenierung der „Machtergreifung" nutzte nicht nur religiöse und politische Assoziationen, sondern auch die moderne Technik und Ästhetik, um weitere Vorstellungsmuster zu aktivieren. Indem die NS-Propaganda traditionelle sakrale Symbole in einem profanen Raum einsetzte - wie die Form einer katholischen Prozession mit der Verwendung von Feuer und Standarten - , verwendete sie deren Hüllen, ohne ihre Inhalte vollständig wiederzugeben. Um mit einem Wort Roland Barthes' zu sprechen, praktiziert der hier konstruierte NS-Mythos einen „Diebstahl durch Kolonisierung". Nach Barthes schleicht sich der Mythos in die Sprache ein und bläst sich in ihr auf. 4 Auf diesen Mechanismus stützt sich die NS-Propaganda, um sich als Projektionsfläche für verschiedene Wünsche anzubieten. Die rituelle Inszenierung des 30. Januars 1933 versuchte nicht nur auf der diskursiven und symbolischen Ebene die Wirklichkeit mit der Aura eines sakralen Übergangsrituals zu überlagern, sie wollte dadurch eine neue mythische Qualität erreichen. Dies zeigt der Versuch, „den Schritt von der Inszenierung des Auftretens im öffentlichen Leben zur Regie des öffentlichen Lebens zu unternehmen" (Schmeer: 1956, 26). Dieser Prozess hat mit Sinnentleerung zu tun, denn dabei wird der Sinn in Form umgewandelt. „Im kritischen, wenn auch häufigen Grenzfall stellt symbolische Politik ein Handeln zur Schau, das nichts Wirkliches verdichtet und auf nichts Wirkliches verweist. Ein Handeln also, das das, worauf es zu verweisen scheint, durch den Verweis nur inszeniert. Scheinhandeln. Aber nicht die Handlung ist der Schein, sondern das, worauf sie verweist. Im Grenzfall, eine Grenze allerdings, die mehr und mehr zur Landschaft wird, ist symbolische Politik Placebo-Politik, Politik der leerlaufenden Symbolik ohne Realbe24
Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags,
Frankfurt a m Main 1996.
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
95
zug" (Meyer, Thomas: 1992, 62). Eine Symbolik, die als ästhetisches Produkt konsumiert wird, die aber auch mythisch konnotiert werden kann. An diesem Punkt beginnen die Verhältnisse zwischen Imaginärem und Realität zu bröckeln. Die Inszenierung „korrigiert" das Geschehen und beeinflusst die Wahrnehmung ihres Publikums, indem sie der Wirklichkeit neue Farben verleiht und den gewünschten Aspekt des Imaginären hervorhebt. Es ist nicht mehr die Realität, die als Bezugsbasis für das Imaginäre dient, sondern die ζ. T. selbstreferenzielle „Zwischenwelt" der NS-Propaganda. Damit versuchen die NS-Propagandisten, die Realität und die Heterogenität des sozialen Imaginären abzulösen, um sie durch das NS-Imaginäre, das durch die propagandistische Zwischenwelt bestimmt wird, zu ersetzen. Die von der NS-Propaganda ausgeübte „Realitätskorrektur" ist für die spätere Analyse der SS-Körper von Bedeutung, da es sich um analoge Mechanismen bei der Konstruktion von NS-„Ariern"- und SS-Männerbildern handelt. Wie beim Mythos der „Machtergreifung" inszenierte die NS-Propaganda einen „Arier-Mythos", der die Realität überlagern sollte. Im Fall der SS-Männer wurden die Körper der SS-Mitglieder von Bildern des idealisierten NS-Ariers überdeckt. Für die politische Durchsetzung des Nationalsozialismus ist dieser Prozess von Bedeutung, weil der Mythos des „Dritten Reiches" bzw. der „Entstehung einer neuen Ära" seine Fixierung in dem Mythos des NS-„Ariers" findet. Beide mythischen Einheiten sind voneinander abhängig und komplementär. Der „Arier" erschien als Grund und Ziel der NS-Utopie, während die neue Ordnung des „Dritten Reiches" als Mittel und Ort der Verwirklichung des Projekts des „Neuen Menschen" dargestellt wurde.
5.
Fixierung: Die Konstruktion des NS-„Ariers"
Im Folgenden wird die Figur des „Neuen-Menschen" in der NS-Propaganda und -Ideologie skizziert und ihre Verwendung sowie ihre Defizite erläutert. Der Weg, der hier eingeschlagen wird, ist der der Bildanalyse. Die Bilder des „Neuen Menschen" manifestierten sich sowohl als Vorstellungsbilder im Diskurs als auch als ikonographische Muster. Die Nationalsozialisten konnten sich auf das Bildpanorama und auf das Mythosrepertoire der Weimarer Republik stützen, um ihre „Arierbilder" zu gestalten.
5.1. Ursprungsmythos In seinem Buch Le Mythe Aryen konstatierte der französische Soziologe Leon Poliakov eine „identite imprecise des Allemands" und sah in der deutschen Geschichte einen Mangel an einem Ursprungsmythos, d. h. an einem Mythos, der auf eine Herkunft zurückverweist und auf den eine Gesellschaft für die Selbstbehauptung ihrer Identität immer wieder zurückgreifen kann. 1 „Le sentiment d'une identite collective germanique [...] nait, comme le montre l'etymologie des termes memes de deutsch, Deutsche, non de l'idee d'une ascendance commune, mais de la prise de conscience d'une communaute linguistique entre les divers Stämme" (Poliakov: 1971, 87). Poliakovs Annahme, der Mangel an einem Ursprungsmythos sei vor allem für Deutschland typisch, lässt sich in Frage stellen. Dennoch ist die These eines Mythosdefizits für die NS-Mythoskonstruktion des „Ariers" von Interesse. Denn ein solches Defizit erschwert nicht nur die Definition einer eigenen Identität, sondern auch ihre Behauptung gegenüber Fremden. Wie Poliakov darstellt, ist die Konstitution eines Germanen- oder Deutschenbildes immer auf extraterritoriale Auseinandersetzungen und Ursprünge angewiesen. Daher kann sich eine „deutsche Identität" nur im Wechselspiel mit den „Anderen" konstituieren und konstruiert werden. Diese Instabilität einer Selbstdefinition ist in Nietzsches Jenseits von Gut und Böse besonders scharf formuliert. Nietzsche glaubt nicht an eine einheitliche deutsche Herkunft und leitet davon die „Eigenartigkeit der deutschen Seele" ab. „Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht des vor-arischen Elements, als ,Volk der Mitte' in jedem Verstände, sind die
Vgl.: Leon Poliakov: Le Mythe Aryen. Essai sur les sources du racisme et des Bruxelles 1971.
nationalismes,
MYTHOSRECYCLING ALS IDENTITÄTSGESTALT
97
Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher als es andere Völker sich selber sind: - sie entschlüpfen der Definition und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen. Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage ,was ist deutsch?' niemals ausstirbt" (Nietzsche: 1993, Bd. 5, 184). In der zitierten Passage aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse wird die Idee einer „reinen Rasse" verworfen. Allerdings hinterlässt Nietzsche mit der Formulierung „vielleicht sogar mit einem Übergewicht des vor-arischen Elements" einen Raum fiir Projektionen, der fur die Konstruktion des NS-Ariers eine nicht unerhebliche Rolle spielte. Es ist bemerkenswert, dass gerade diese Formulierung in Poliakovs Nietzsche-Zitat - zumindest in der französischen Fassung - nicht erscheint.2
5.2. Mythosrecycling als Identitätsgestalt So oft die Frage nach der deutschen Identität aufgenommen wurde, so zahlreich waren die Traditionen, die für die Konstruktion des Germanentums herangezogen wurden. Es scheint, dass die Bildung einer Identität - um Poliakov zu folgen - ohne Rückgriffe auf „fremde" Vergangenheiten nicht möglich gewesen wäre. Recycling war der vorwiegende Mechanismus für die Mythosbildung: Die Vorfahren der „Germanen" wurden in unterschiedlichen Völkern gesucht, sie waren manchmal Kelten, manchmal Schotten, vorzugsweise Griechen oder eben Skandinavier, wie Klaus von See schreibt. 3 Die NSPropaganda arbeitete vor allem mit der griechisch-skandinavisch-germanischen Kombination, die je nach der Positionierung des politischen Diskurses unterschiedlich pointiert wurde. Das älteste Leitmotiv für einen germanischen Mythos lieferte Tacitus. Für Tacitus waren die Germanen im Gegensatz zu den gemischten Römern ein Volk, das „ein reiner, nur sich selbst gleicher Menschenschlag von eigener Art geblieben ist" (Tacitus: 1997, 5) - diese Eigenschaft fasste der Autor nicht unbedingt als positiv auf: Das UnvermischtSein sei ein Hindernis der zivilisatorischen Entwicklung. Daher auch das homogene Aussehen der Germanen: „wild blickende blaue Augen, rötliches Haar und große Gestalten, die allerdings nur zum Angriff taugen" (ebd.). Das Germanenbild des Tacitus wurde in verschiedenen Epochen wieder verwendet, „korrigiert" oder zugunsten anderer Modelle verdrängt. Bei dem NS-Arierbild können einige dieser „Germanen-Eigenschaften" wieder gefunden werden, wie zum Beispiel die Prädisposition zu aggressivem Verhalten, die in der NS-Propaganda als Kampfbereitschaft positiv gedeutet wurde, oder die Bindung an den Boden und der „sittliche" Lebensstil, die schon als Motor der völkischen Bewegungen gedient hatten. 2
Die betreffende Passage wird wie folgt zitiert: „Les allemands sont un peuple issu du plus considerable melange et brassage des races qui soit, ,un peuple du milieu' dans toutes les acceptions du terme. Aussi sont ils plus insaisissables, plus riches, plus contradictoires, plus inconnus, plus imprevisibles, plus surprenants, plus terribles meme que ne le sont ä leurs propres yeux les autres peuples, ils echapent ä la definition et font pour cette raison le desespoir des Fran9ais" (Poliakov: 1971, 86, Fn. 1).
3
Vgl.: Klaus von See: „Germanenbilder" [1987], in: ders., Barbar, Germane, Arier: Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, 9-30.
98
FIXIERUNG: D I E KONSTRUKTION DES N S - „ A R I E R S "
Was Tacitus als „Roheit der Germanen" beschrieb, wurde bei den Humanisten und vor allem bei den Romantikern zu Ehrlichkeit, Unvermischtheit und schließlich zur Reinheit. Die Vorstellung eines zeitlosen Charakters der Deutschen wurde von Zeit zu Zeit im politischen Diskurs verwendet, wie bei Herder, der 1791 an „Germanien" als Identitätsstifter und Verteidiger gegen Frankreich appellierte: „Wirf die lähmende Deutschheit weg, und sey ein Germanien!" (Herder: 1879, 195, B. III). Im selben Zusammenhang erlebte auch das Nibelungenlied eine Wiederkehr. Dabei bekam die Idee einer Überlegenheit der Germanen auf Grund ihrer „Unvermischtheit" immer stärkere Konturen. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren das Germanentum und das Nibelungenlied vor allem durch Richard Wagner als nordisch-germanischer Mythos reaktiviert. Die „Skandinavienverwandtschaft" hatte Hochkonjunktur, und Kaiser Wilhelm II. selbst zählte zu den prominentesten „Norden"-Begeisterten. Die Anlehnung an den „Norden" ermöglichte den Zugriff auf eine Geschichtsüberlieferung und auf eine Mythologie, die den defizitären Ursprung der deutschen Geschichte zu kompensieren versuchten. Die skandinavischen Länder boten die Symbol- und Beweiskraft echter Wikingerburgen, Runensteine und Feldzeichnungen, die für die Konstruktion einer „nordischen" imaginären Welt mit vorchristlicher Vergangenheit unentbehrlich waren und als Identitätsangebot fungierten. Das „Nordische" avancierte sogar zum Modewort, obwohl oder gerade weil der Begriff sehr unpräzise definiert war. Der „nordische Mensch" bot Raum für unterschiedliche Wunschvorstellungen heterogener Gruppen. Dieser Mangel an Genauigkeit erlaubte eine Überlagerung des „Nordens" mit Bildern einer paradiesischen Welt, der Urheimat der deutschen Ahnen, die sich besonders in religiös-philosophischen Spekulationen über eddische Mythen und Sagen ausdrückten. Um die Jahrhundertwende bildete die altnordische Literatur einen Gegenentwurf zur Moderne, und es überrascht nicht, dass der Lebensreformverleger Eugen Diederichs 1911 die 24-bändige Sammlung Thüle mit Edda- und Saga-Übersetzungen herausbrachte. In diesem Prozess lassen sich Sehnsüchte und Wünsche auf die skizzierten Skandinavienidealbilder projizieren und die Sinnesinhalte der angesprochenen Mythen verschieben. „Die Realität verschwimmt, sie bleibt außerhalb der Bilder" (Henningsen: 1997, 22).
5.3. Die Lichthelden Ein wichtiges Motiv für den nationalsozialistischen Entwurf des „Ariers" war die Figur des Lichthelden, welche Bestandteil des Bildrepertoires der Weimarer Republik war. Schon im 18. Jahrhundert verlieh der Lichtheld dem Nibelungenlied Ausdruck. Es ist aber Richard Wagners Ring der Nibelungen, der, 1876 uraufgeführt, das Bild des „nordischen" Helden Siegfried als göttliche Lichtgestalt prägte. Auch bei Wagner ist man Zeuge einer „Recycling"-Arbeit mit dem Mythos. Wagner gab die mittelalterliche Überlieferung nicht wieder, sondern kombinierte in seiner Siegfried-Gestalt Elemente von verschiedenen Erzählungen in einer Form, die sich erheblich von der Nibelungensaga unterschied und politisch instrumentalisiert werden konnte. 4 Durch ihre Verbreitungser4
Vgl.: Richard Wagner: Siegfried, Stuttgart 1998; interessante Hinweise auf die Recycling- und Dichtungsarbeit Richard Wagners bringt das Nachwort von Egon Voss, 129-144. Siehe auch die Nacher-
99
D I E LICHTHELDEN
folge in der Oper und ihren Einfluss auf die Literatur konnten sich Wagners Nibelungen gegenüber anderen Überlieferungen der Sage durchsetzen. Sein Siegfried trat in einer Mischung aus christlicher Tradition und antiken und germanischen Heldenvorstellungen auf. Er bot einen Raum für zeitgenössische und spätere Wunschprojektionen von Erlösung, Neubeginn und politischer Erneuerung. Wagners Siegfried trug entscheidend zur NS-Konstruktion des „Ariers" bei, denn er bot nicht nur Bilder, sondern auch eine Folie für Wunschvorstellungen an, auf die viele Elemente der NS-Ideologie projiziert werden konnten. Hartmut Zelinsky erkennt im Ring des Nibelungen und im Parsifal sogar eine „vorgebildete Blutideologie", in der vom „blonden deutschen Blut" und „gesunden Blut" die Rede sei (Zelinsky: 1997, 86). Die Aussage Zelinskys verlagert das Gewicht auf ein prä-nationalsozialistisches Modell und zieht daraus eine ungebrochene Kontinuitätslinie. Man muss sich diese Sichtweise nicht vollständig zu eigen machen, um darin den Anschluss an ein „rassisches" Verständnis von „Germanentum" durch den Wagnerschen Helden zu erkennen. Und dieses Heldenmodell schlug sich in der Konzeption von NS-Arierbildern und in den Welterlösungsversprechungen der NS-Propaganda nieder. Schon das Fidus-Bild Das Lichtgebet (Abb. 4) von 1922 bündelte viele der Elemente von Siegfrieds Gestalt und verstärkte die Konnotation des Lichthelden und des „Neuen Menschen". 5 Die Bewegung der Haare deutet auf Wind und Naturkraft, die Sonne als Lichtquelle illuminiert die starke und nackte männliche Gestalt. Natur, Kraft und Mystik sind Hauptbestandteile von Fidus' Darstellung. Die Festausgabe der SS-Zeitung Das schwarze Korps vom 28. Dezember 1939 (Abb. 5) präsentiert eine ähnliche nackte Männergestalt mit langen blonden Haaren und starkem Körperbau, die jedoch in einem Szenarium mit apokalyptischen Elementen erscheint. Die Anlehnung an die Siegfried-Figur wird in Das Schwarze Korps durch das weiße Pferd und das Schwert fast zum Zitat. Das Schwert Siegfrieds ebenso wie Siegfried selbst wurden von der SS-Symbolik vereinnahmt. Das Hakenkreuz kennzeichnet das Schwert als nationalsozialistisch, und der einzige Lichtpunkt außer dem nackten Ritter ist die Rune der SS. Ebenso wie in Fidus' Lichtgebet fungiert das Licht hier als Lebensquelle. Im Gegensatz zu Fidus' „Neuem Menschen", der das Licht aufnimmt, ist die illuminierte SS-Gestalt Lichtträger. Viele SSMännerdarstellungen spielten mit dem heroischen Bild des Lichthelden, um ihre Rolle als „Arier", „rassische Auslese" und Erlöser der „arischen Rasse" zu vermitteln. Das folgende Gedicht Nordmänner von Otto Bangert, am 20. August 1936 in Das Schwarze Korps veröffentlicht, bietet ein Beispiel für die Verwendung des Lichthelden bzw. „Nordmanns" als Identifikationsfigur und Anschluss an die mythische Vergangenheit. Noch recken eure Berge die starren Häupter auf, dort wo ihr einst begonnen den stolzen
Heldenlauf.
Die wilden Karsten stürzen noch immer steil ins Meer, und Islands Firnen schimmern wie eine Sage her.
5
zählung von Gretel und Wolfgang Hecht. Sie ist zwar vereinfacht, stellt aber dafür das Drama in sehr deutlichen Zügen dar: Gretel Hecht/Wolfgang Hecht, „Deutsche Heldensagen", Frankfurt am Main/Leipzig 1980, 99-199. Über die politische Instrumentalisierung des Nibelungenliedes siehe: Herfried Münkler/Wolfgang Stoch: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos, Berlin 1988. Zu Fidus' Das Lichtgebet Siehe: Prolog I. Die Suche nach dem „Neuen Menschen"·, 2.6. Die Ikonographie des „Neuen Menschen " und der nackte Körper.
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FIXIERUNG: D I E KONSTRUKTION DES N S - , , A R I E R S "
Dort seid ihr ausgezogen,
hart wie Granit und Gneis,
und schön wie eure Götter und kühl wie
Gletschereis.
Blau blitzen eure Augen wie eurer Schwerter
Schein,
in eure Feuerhaare griff hell der Sturm hinein. Da hobt ihr in die Sonne die Hände und den Speer, und eure Drachenschiffe
durchpflügten
und über fernste Länder ging euer in riesigen Geschwadern,
wie wilder Schwäne
Ihr führtet an den Speeren des Nordlands Das heilige Sonnenzeichen
weit das Meer,
Wanderzug Flug.
Gleißen mit.
beschirmte euren Schritt.
Und unter dunklen Völkern habt Reiche ihr erbaut so licht wie eure Haare, so hell wir eure Haut.
[...] Schon ist das fromme Zeichen geheimnisvoll und brennt auf jungen Bannern in tiefer Und sind auch eure Reiche versunken ihr toten Nordlandmänner,
erwacht
Völkernacht. schattengleich,
es wächst ein neues Reich!
Das Gedicht Nordmänner verdeutlicht den Recyclingmechanismus in der Mythos- und Bildkonstruktion des SS-,,Ariers". In Himmlers Vorstellungen des „arischen Neuen Menschen" bekamen die Spuren der imaginierten „Ahnen" eine fast kultische Bedeutung, sie lieferten die Verbindung zwischen SS-Zukunftsutopien und idealisierter Vergangenheit. Himmlers Bestrebungen, darauf eine mythisch-religiöse Bindungskraft und Tradition für die SS zu gründen, werden in der Umgestaltung der Wewelsburg deutlich. Dort versuchte Himmler eine „nordische" Tradition mit historischen, rassistischen und ζ. T. pseudoreligiösen Hintergründen aufzubauen.6 Zugleich bemühte sich die anthropologisch-archäologische SS-Abteilung „Das Ahnenerbe" um rassenanthropologische und archäologische Nachweise einer „nordisch-germanischen" Vergangenheit, die dem SSAhnenkult eine wissenschaftliche Legitimierung liefern sollte. Die Vorstellungen einer völkischen Unvermischtheit aus dem Germanenmythos und die Anknüpfung an eine „nordische" Tradition wurden in der NS-Propaganda rassistisch gedeutet und biologisch erklärt. „Germanen", „nordische Menschen" und „Deutsche" wurden zu Synonymen; sie trugen zur nationalsozialistischen Konstruktion des „Ariers" bei. Der „Arier" - phänotypisch als groß, blond und hellhäutig imaginiert - galt als rein und biologisch hochwertig und stand an der Spitze einer „Rassenhierarchie". In der ideologischen Ausprägung der SS wurde die Idealisierung des „Nordens" mit den Kategorien von Blut-und-Boden, Brauchtum-und-Sitten rassistisch verknüpft. Dadurch fungierten die „Germanen- und Nordlandbilder" als Stoff fiir die Konstruktion von,/trier"- und SSMännerbildern. Sie stellten sowohl eine symbolische Transformation als auch eine Kon6
Zum „Ahnenerbe" siehe: Michael Kater: Das „Ahnenerbe" der SS 1935-1945, Stuttgart 1974. Zur Wewelsburg siehe: Karl Hüser: Wewelsburg 1933 bis 1945. Kult- und Terrorstätte der SS: Eine Dokumentation, Paderborn 1993; nicht so vollständig: Stuart Russell/Jost W. Schneider: Heinrich Himmlers Burg. Das weltanschauliche Zentrum der SS. Bildchronik der SS-Schule Haus Wewelsburg 1934-1945, Landshut 1989.
D I E LICHTHELDEN
101
tinuität dar und verliehen der neuen Mythoskonstruktion eine Ambivalenz, die propagandistisch produktiv gemacht wurde. Die Konnotation des „Ariers" als „Erlöser" (Abb. 5) gewann mit den Rassentheorien an Intensität und Schärfe. Die Kombination eines „wissenschaftlichen" Diskurses mit pseudo-religiösen Prämissen verlieh der Figur des „Ariers" Faktizität und Schicksalscharakter. Der Mythos einer überlegenen und ausgewählten „Rasse" wurde rassentheoretisch begründet und diente vor allem in der Form von Körperbildern als Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte in der propagandistischen Verbreitung des Nationalsozialismus. Die populären Rassentheoretiker des 19. Jahrhunderts wie Houston Stewart Chamberlain stellten die Basis für die rassistische Konstruktion des „Ariers" dar.
Abb. 4: Fidus, Lichtgebet, 1922, © VG Bild-Kunst, Bonn 2005.
102
FIXIERUNG: D I E KONSTRUKTION DES N S - „ A R I E R S "
Abb. 5: Kalenderbild des Jahres 1940 (ohne Titel), Das Schwarze Korps, 28. Dezember 1939.
DER POPULÄRE RASSENTHEORETIKER CHAMBERLAIN
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5.4. Der populäre Rassentheoretiker Chamberlain Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) war einer der berühmtesten Rassenphilosophen der Jahrhundertwende. In seinen Grundlagen des 19. Jahrhunderts - 1899 auf Deutsch erschienen - vertrat Chamberlain den Antisemitismus und eine seelische Überlegenheit der „arischen Rasse". Sein Buch erwies sich gleich als Bestseller. 100.000 Exemplare wurde bis zum Jahr 1915 verkauft. Es prägte dadurch sowohl das soziale Imaginäre als auch das nationalsozialistische „Arierbild". 7 Besonders die phänotypische Schilderung, die Bewertung der Rassen und natürlich auch der Antisemitismus eigneten sich als Vorlage für die NS-Propaganda. Chamberlain war Richard Wagners Schwiegersohn. Er gehörte zum Bayreuther Kreis und stand Kaiser Wilhelm II. nah. Vom Kaiser wurde er als „Streitkumpan und Bundesgenosse im Kampf um Germanien" bezeichnet. 8 Der Einfluss des Bayreuther Kreises auf Chamberlain ist vor allem auf Graf Arthur von Gobineau 9 und Richard Wagner zurückzufuhren. Seine Thesen zeigten so viele Bezugspunkte zu Wagners Denken, dass der Autor sich 1901 genötigt sah, den Plagiatsvorwurf in der deutschen Ausgabe auszuräumen: „In Wirklichkeit ist die Behauptung ebenso irrig als injuriös, und indem sie mir das Meine raubt, raubt sie auch dem großen Wort- und Tondichter das Seine, dasjenige, meine ich, was er mir in der That gegeben hat, wofür ich ihm mit jedem Atemzuge meines Lebens danke" (Chamberlain: 1901, Bd. I, XIV). 10 Es ist aber wichtig festzustellen, dass der Begriff der „Rasse" in Wagners Nachlass nicht explizit erwähnt wird. Es war Chamberlain, der, sich auf Gobineau stützend, den „rassischen" Hintergrund zum Hauptmotiv erhob. Als aufmerksamer Leser Gobineaus übernahm Chamberlain den Begriff der „arischen Rasse", die er wie Gobineau als ursprüngliche und überlegene ansah. Chamberlain stellte die „Arier" den „Semiten" gegenüber und fasste letztere als Feinde auf. Für ihn und für den französischen Rassentheoretiker sei die „Mischung mit den unterlegenen Rassen" eine Bedrohung für den „Arier", da sie zur „Degeneration" und „rassischen Minderwertigkeit" führe. Er bemühte sich trotz eklatanter Widersprüche um einen wissenschaftlichen Rahmen für seine Rassentheorie. Das 19. Jahrhundert „[...] ist aber auch ein J a h r h u n d e r t der R a s s e n geworden, und zwar ist das zu-
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Vgl.: Peter Pulzer: „Die Wiederkehr des alten Hasses", in: Lowenstein/Mendes-Flohr/Pulzer/Richarz (Hrsg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. III, München 1997, 242-248. Zitiert von Gerhard Baader. Siehe: Gerhard Baader, „Zur Ideologie des Sozialdarwinismus", in: Gerhard Baader/Ulrich Schultz (Hrsg.): Medizin im Dritten Reich, Köln 198, S 42. Vgl.: Graf von Gobineau: Der Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen, Stuttgart 1902. Wagners antisemitische Einstellung ist schon 1850 durch „Das Judentum in der Musik" bekannt geworden. Den Artikel veröffentlichte Wagner in der Neuen Zeitschrift fiir Musik unter dem Pseudonym K. Freigedank. Wagner schrieb: „Der Jude, der bekanntlich einen Gott ganz fur sich hat, fällt uns im gemeinen Leben zunächst durch seine äußere Erscheinung auf, die, gleichviel welcher europäischen Nationalität wir angehören, etwas dieser Nationalität unangenehm Fremdartiges hat: wir wünschen unwillkürlich mit einem so aussehenden Mensch nichts gemein zu haben" (Wagner: 1850, in: Kohn: 1964, 162). Vgl.: Richard Wagner (unter Pseudonym K. Freigedank): „Das Judentum in der Musik" [1850], in: Kohn, Von Machiavelli zu Nehru. Zur Problematik des Nationalismus, Freiburg/Basel/Wien 1964.
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FIXIERUNG: D I E KONSTRUKTION DES N S - „ A R I E R S "
nächst eine notwendige und unmittelbare Folge der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Denkens", schreibt der Biologe (Chamberlain: ebd., 29). Da wiederum die Wissenschaft nicht im Stande sei, die Existenz der Rassen zu beweisen, wurde sie gleich übergangen: „Was sollen uns die weitläufigen wissenschaftlichen Untersuchungen, ob es unterschiedliche Rassen gebe? ob Rasse einen Wert habe? wie das möglich sei und so weiter? Wir kehren den Spiess um und sagen: dass es welche giebt, ist evident; dass die Qualität der Rasse entscheidende Wichtigkeit besitzt, ist eine Thatsache der unmittelbaren Erfahrung" (ebd., 274). Chamberlain stellte die „Unterscheidung zwischen Mensch und Mensch" in einer Rangordnung der „Rassen" auf. Für den Engländer Chamberlain, der sich 1917 als Deutscher einbürgern ließ, stellten die Germanen die „reine Rasse" Europas dar, wobei er unter Germanen auch Kelten und Slawen einordnete. Der Rückgriff auf Tacitus blieb auch hier nicht aus, und Chamberlain entfaltete den gesamten Germanen-Tugendkatalog des 18. und 19. Jahrhunderts: „die Kriegstüchtigkeit, die bedingungslose Treue (siehe Calderon!), das hohe religiöse Ideal, die organisatorische Befähigung, die reiche schöpferische Künstlerkraft [...]" (ebd., 484-485), dazu zählte „[...] körperliche Gesundheit und Kraft, grosse Intelligenz, blühende Phantasie, unermüdlicher Schaffensdrang", außerdem Freiheit und „die spezifisch germanische Treue" (ebd., 528). Aber auch die äußerlichen Merkmale des Körpers wurden als Zeichen der Rassenzugehörigkeit gelesen. Chamberlain sah darin die Indizien fur „Rasseneigenschaften", an Physiognomie, Knochenbau, Hautfarbe, Muskulatur und vor allem Schädelproportionen 11 sei die Rasse abzulesen. „Man weiss ja, selbst die Nase [,..]steht von der Wiege bis zum Grabe im Mittelpunkte unseres Antlitzes als Zeugin unserer Rasse!" (Chamberlain: 1901, 482). Der Einfluss der Physiognomik ist hier unverkennbar. Interessant ist, wie sie dem Rassendiskurs angebunden wird, und wie Körperbilder als Evidenz umfunktioniert werden. Im 19. Jahrhundert gehörten Schädel- und physiognomische Messungen zu den praktizierten Methoden der Anthropologie. Die Ariosophen bedienten sich dieser Technik, um die vermutete Zugehörigkeit ihrer künftigen Mitglieder zur „arischen Rasse" zu überprüfen. Später sollte das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt auf dieselbe Methode zur Klassifikation der Völker und „germanisierbaren" Individuen in besetzten Gebieten zurückgreifen. 12 '1 Die Schädelform war schon dem Physiognomiker und Kriminalanthropologen Cesare Lombroso im 19. Jahrhundert für die Charakterentschlüsselung von Bedeutung. Gemessen wurde die Schädelkapazität, indem der Schädel mit Sand gefüllt wurde, Schädelumfang, Proportionen zwischen Vorderund Hinterkopf und selbstverständlich physiognomische Daten wie Kurven und Bogen der Nase und Stirn. Lombroso konzentrierte sich weniger auf „Rassentypen", die er als ein Ergebnis der Wirkung von Landschaft sah, sondern richtete seine Untersuchungen eher nach „Anomalien" aus, die auf das „Kriminalitätspotential" hinweisen könnten. Siehe: Cesare Lombroso: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, Hamburg 1887, 137-203; dazu: Peter Becker: „Physiognomie des Bösen", in: Claudia Schmölders (Hrsg.): Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, Berlin 1996, 163-186. 12
Zur Messung bei den Ariosophen siehe: Nicholas Goodrick-Clarke: The occult roots of Nazism. Secret aryan cults and their influence on nazi ideology, N e w York 1992, 123-134. Zum Rassenund Siedlungshauptamt siehe: Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut". Das Rasse- & Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003.
HANS F. Κ . GÜNTHER UND DIE VISUALISIERUG DER „NORDISCHEN RASSEN"
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Chamberlain beschrieb in zwei Bänden die Geschichte der „Arier" und die verschiedenen „Germanentypen", die übrigens auch dunkelhaarig sein konnten. Ein großer Körper und ein „langer Schädel" dienten als Kriterien für Klassifikation und Inklusion: „Der lange Schädel und darunter das lange Gesicht sind so sichere Merkmale der Rasse, dass man sich wohl fragen darf, ob, wer sie nicht besitzt, zu ihr gezählt werden dürfe". Vor allem im Norden, in Skandinavien, im nördlichsten Deutschland (mit Ausschluss der Städte) und in England sei die Dolichocephalic vertreten. In Dänemark sei dieses Körpermerkmal „noch ausgesprochener als bei den Germanen der Völkerwanderungszeit: sechzig vom hundert zählen dort die echten Langköpfe und nur sechs vom hundert die Kurzköpfe" (Chamberlain: ebd., 4 8 9 ^ 9 0 ) . Diese Beschreibungen reduzierten nicht nur den Blick auf bestimmte Körpermerkmale, sie setzten darüber hinaus Bilder frei, die die Vorstellungen des „Ariers" prägten. Obwohl Chamberlain „den Fehler der Gelehrten", den „Arier" ausschließlich als blond zu sehen, kritisierte, erkannte er den „Arier" in Skandinavien als besonders unvermischt. Damit rief der Rassentheoretiker die Assoziation mit den blonden Haaren der „Nordländer" hervor und verfestigte die emblematische Komponente der blonden Haare.
5.5. Hans F. K. Günther und die Visualisierug der „nordischen Rassen" Auch der Rassentheoretiker und Professor für Rassenkunde Hans F. K. Günther teilte mit Chamberlain die Vorliebe für den „Norden". 13 Ebenso wie Walter Darre, Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler gehörte Günther der „Nordischen Gesellschaft" an, die sich für die Verbreitung des „nordischen Gedanken" in Deutschland und anderen „nordischen Ländern" einsetzte. Er selbst hatte eine Norwegerin geheiratet und lebte eine Zeit lang in Norwegen. Günther wurde in den zwanziger und dreißiger Jahren zum populärsten Rassentheoretiker Deutschlands und beeinflusste mit seiner PhänotypenKlassifikation die NS-Ideologie und -Propaganda. Besonders in seinen früheren Werken vertrat er eine politische Rassenlehre, die das utopische Ziel des „vollkommenen Neuen Menschen" verfolgte. 14 1922 erschien Rassenkunde des deutschen Volkes. Das Buch wurde ein großer Verkaufserfolg und erreichte im Sommer 1933 seine sechzehnte Auflage. Bis 1 9 4 2 verkaufte der Verlag 1 2 4 . 0 0 0 Exemplare. 15 Günther ging weiter als Chamberlain und entwickelte eine Klassifikation der „nordischen Rasse" innerhalb des „deutschen Sprachgebiets", die sechs verschiedene „rassische Einschläge" zählte. Dies sollte das „Rassenbewusstsein" der Deutschen sensibilisieren und zugleich die Maßstäbe für Zugehörigkeit und für „Verbesserung" der Rasse 13
Vgl.: Hans-Jürgen Lutzhöft: „Die wichtigste Vertreter der Nordischen Gedanken", in: ders.: Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920-1940, Stuttgart 1971, 28-69. Lutzhöft bietet kaum kritische Analysen, aber reichliche biographische Details über die Person Günthers und sein Werk.
14
Vgl.: Lutzhöft: ebd., 78. Der Verlag druckte ab 1929 auch eine verkürzte Fassung der Rassenkunde des deutschen Volkes, die Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes. Diese erreichtete 1942 sogar 295.000 Exemplare. Beide Fassungen des Buches erreichten 1944 zusammen die Verkaufszahl von 420.000. Zahlen aus Lutzhöft: Ebd.
15
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FIXIERUNG: DIE KONSTRUKTION DES NS-„ARIERS"
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Abb. 7: „Rassenköpfe aus Deutschland", aus: Schmeil und Eichler: Grundriß der Menschenkunde, Leipzig 1937.
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FIXIERUNG: D I E KONSTRUKTION DES N S - „ A R I E R S "
setzen. Günther träumte von rassischer Züchtung als Rettung der „ewigen Werte" der „auserwählten Rasse". Der Rassentheoretiker bedauerte die „Vermischtheit" der Deutschen. Aufgrund der von ihm konstatierten „Einschläge" sei die reine „nordische Rasse" kaum im deutschen Sprachterritorium zu finden. Immerhin mache die „nordische Rasse" „45-50% des deutschen Blutes" aus, was auf eine mögliche „Entmischung" hoffen ließ (Günther: 1933, 99) und vor allem als Identifikationsangebot für seine Leser fungierte. „Rein nordische" Prototypen waren rar, galten aber als erreichbare Ideale. Mit physiognomischen Porträts versuchte Günther dies plausibel zu machen (Abb. 6). Auch die unterschiedlichen „Rasseneinschläge" illustrierte Günther mit reichlichem Fotomaterial. Das Ergebnis waren so zahlreiche und unterschiedlich abgebildete Phänotypen, dass es sich zumindest auf der Bildebene eher als Einschlussangebot denn als Ausschlusskriterium verstehen lässt. Die Phänotypen waren zwar nach den unterschiedlich bewerteten „Einschlägen" klassifiziert, doch sie wurden in Verbindung mit den deutschen Regionen gebracht und boten damit eine zusätzliche kulturelle Identifikation an. Durch ihre Vielfalt stellten die Phänotypen von Hans F. K. Günthers „Rassenlehre" ein wichtiges visuelles Integrationsangebot dar. Ihre sechs verschiedenen „Rasseneinschläge" im „deutschen Volke" und die damit verbundenen Physiognomien bieten unterschiedliche Körpererscheinungen, die schwarzes, braunes und blondes Haar, großen, mittelgroßen, schlanken und fülligen Körperbau sowie drei verschiedene „Schädelformen" aufweisen. Sicherlich ist bei Günther nicht jede „Mischung" unter den „germanischen Rassen" erwünscht, denn das Ziel war die „Reinigung" und Optimierung der „Rasse". Doch selbst wenn es gilt, durch „Kreuzung" die „Rassenqualität" zu verbessern, zeigt seine „Rassenklassifikation" eine Breite des Aussehens, die die Wiedererkennung des Betrachters möglich macht. Sie erfüllt insofern eine integrative Funktion und visualisiert das Zugehörigkeitsangebot zur „Volksgemeinschaft". Was in Günthers positiver Klassifikation nicht vertreten war, waren die aus der „Volksgemeinschaft" ausgeschlossenen Körper. Diese gehörten zu den Feindbildern, die zur Ablage der gefürchteten Eigenschaften und somit als negative Integrationsfaktoren funktionieren konnten. Indem Günther den Rassengedanken mit reichlichem Bildmaterial - vor allem fotografisch - präsentiert, stellte er auch ikonographische Modelle fur die „rassische" Beurteilung des Körpers dar. Der Rekurs auf die Bilder hatte zur Folge, dass das Buch als ein Bilderbuch gelesen werden konnte. Die Bilder funktionierten als Beispiel und Beweismaterial für seine Thesen und konnten sich als ikonographische Erinnerungen der verschiedenen „Rassentypen" ins Gedächtnis des Betrachters einprägen. Günthers Rassenkunde des deutschen Volkes ist für das soziale Imaginäre zusätzlich von Bedeutung, weil sie die präsentierten Phänotypen mit charakterlichen Eigenschaften verknüpfte und sie hierarchisch einordnete. Der physiognomische Zugriff als Hierarchisierung der Körper sprach die verbreitete Überzeugung an, „daß Körperlichkeit und geistige Wesenheit durch den intuitiven Blick des geschulten Beobachters erfaßt werden könnten" (Hau/Ash: 2000, 19). Die Günthersche Klassifikation der Menschen implizierte eine Beurteilung der Personen nach ihrem Körperaussehen und lieferte zugleich ein Arsenal von stereotypen Körperbildern für rassistische Gedanken, auf die die nationalsozialistische „Aufklärungspropaganda" mit Zustimmung und Unterstützung des Autors rekurrierte.
HANS F . K . GÜNTHER UND DIE VISUALISIERUG DER „NORDISCHEN RASSEN"
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Die rassenphysiognomische Beurteilung des Körpers wurde im Nationalsozialismus sogar zum Thema des Schulunterrichts gemacht. Publikationen wie das Buch Grundriss der Menschenkunde von O. Schmeil und Paul Eichler brachten eine Mischung aus Biologie und Rassenkunde, mit Fotomaterial illustriert. Das Buch wurde mit sechs fotografischen Porträts - „Rassenköpfe aus Deutschland" - eröffnet, die die sechs „Rasseeinschläge" nach Günthers Klassifikation darstellten (Abb. 7). Zudem kondensierte und visualisierte der Grundriss der Menschenkunde die wesentlichen Informationen zu den „Rassentypen" in Form einer Tabelle (Abb. 8).16 Auch in der Schulung der SS wurden die von Günther entworfenen Phänotypen zu wichtigen Kriterien der Inklusion und Exklusion. 17 Die SS-Führung bemühte sich durch das „Rasse- und Siedlungshauptamt" nicht nur um die eugenischen und „rassentheoretischen" Kenntnisse der SS-Männer, sondern bot darüber hinaus Bildvorträge, die gezielt auf die „rassische" Klassifikation künftiger SS-Ehefrauen eingingen und einen physiognomischen Blick zu schulen versuchten. Schon 1935 konnte der Chef des „Rassenamtes" mitteilen, dass „Lichtbildstreifen" für die SS-Schulung in Bearbeitung waren. Dabei handelte es sich erstens um „Darstellungen rassisch hochwertiger Mädel und Frauen, die im besonderen aus den SSVerlobungsgesuchen ausgelesen sind; zweitens einen besonderen Lichtbildstreifen mit Bildern von SS-Familien und SS-Kindern; ferner wird drittens zusammengestellt ein Lichtbildstreifen mit Mädel- und Frauentypen, deren Wahl wir für unsere SSKameraden nicht wünschen". 18
16 17 18
Vgl.: O. Schmeil/Paul Eichler: Grundriß der Menschenkunde, Vgl.: Dok. BA-Berlin, NS2/162. Dok. BA-Berlin, NS2/169 RuSHA, Folie 271/272.
Leipzig 1937.
FIXIERUNG: D I E KONSTRUKTION DES N S - „ A R J E R S "
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Gute (üirkung bei fortgesetzter Anwendung
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SBaljrenb bei ben fdjwarjen Saaten Xüpfers neues Sd}»eiö«!Berfei)ten offenbar gefruchtet Ijat. finbet biefe Itodenlegung bei ben Staunen ber SJemegung fdjeiubat nedj rcrfjt mäfeig Jtatt.
®ie|em Übel »irb gefteueit, »enn man üri) bie Steigen Idjeuert unb Rdj anfjerbem entfAlie&t, läpfere Iropfett einjufiiijten, bie man por bem Slbmatldjiercn auf bie grofje 3*1« β ' Φ ·
SBir Derjidjien auf bie Sfjre (Siner befj'ren Wimofpljätc! Carldjen Xöpfet irrt fidj ba, benn auf unfern Sauetmärfdjen pflegt bicfelbe ßuft ju ijctefcfjcn nie auf benen bet €91.! Μ. Mumm.
Abb. 11: Anzeige, veröffentlicht in Das Schwarze Korps, 20. Mai 1937. 12
13
Obwohl das SS-Sportabzeichen schwerere Bedingungen als das SA-Sportabzeichen verlangte, war die SS erst später an dem sportlichen Image interessiert. Während die Führungsposition im Bereich Sport schon im April 1933 vom SA-Gruppenfuhrer Hans von Tschammer als Reichssportführer besetzt wurde, etablierte sich die SS erst 1937 mit der Einrichtung des Amtes für Leibesübung im SSHauptamt im Bereich Sport. BA-Militärarchiv Freiburg, Dok.: NS 17 LSSAH/ 102 .
HIMMLER UND DAS SS-ELITEBEWUSSTSEIN
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7.3. Himmler und das SS-Elitebewusstsein Heinrich Himmler war sich der Notwendigkeit einer Differenzierung des SS-Bildes bewusst und bemühte sich, die Öffentlichkeit mit positiv besetzten Bildern der SSMänner zu beliefern. Nach 1934 hatten seine Anstrengungen, die SS als Elitetruppe zu präsentieren, Erfolg. Er dehnte nicht nur seine und die SS-Macht aus, sondern das Bild der SS-Männer nahm auch immer mehr Platz in der Staatsrepräsentation und in der NSMachtdarstellung ein. Seit seiner Führungsübernahme bestand Himmlers Reaktion auf die erzwungene Unterordnung der SS unter die SA darin, ein elitäres und asketisches Idealbild der SS-Männer zu konstruieren. Aus der Not wurde eine Tugend: Die Quote für die Aufnahme in die SS von 10 % der gesamten Zahl der SA-Mitglieder war zwar ein Nachteil für das politische Gewicht der SS in der Partei, ermöglichte aber strengere Auswahlkriterien der SS-Mitglieder. Im Gegensatz zur SA, die nach einer großen Mitgliederzahl strebte und die Parteizugehörigkeit zwar forderte, aber in der Praxis nicht verlangte, erschienen die Anforderungen der SS als deutlicher Distinktionsversuch. In der SS sollten nur die „aktivsten und zuverlässigsten Parteimitglieder" einer Ortsgruppe zusammengefasst werden. Sie standen, nach Buchheim, nicht in der Tradition der Wehrverbände, sondern waren Parteikader (Buchheim: 1965, 32), was die Anforderung von ausfuhrlichen Lebensläufen für die Aufnahme in die SS erklärte. Schon 1926, d. h. vor Himmlers Führung, bemühte sich die SS-Führung um strengere Kriterien für die Auswahl ihrer Mitglieder und nahm nur Bewerber im Alter zwischen 23 und 35 Jahren auf. Die Kandidaten mussten zwei Bürgen nennen, fünf Jahre an einem Ort polizeilich gemeldet sein und „gesund und kräftig gebaut" sein. Dies stand zumindest in den Richtlinien zur Aufstellung von ,Schutzstaffeln' der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (undatiert), danach kämen „chronische Säufer, Waschweiber und mit anderen Lastern Behaftete" nicht in Betracht. 14 Himmlers Konzept knüpfte soziale und Disziplinierungskriterien an eine „rassische" Auffassung vom Körper, in der physische Gegebenheiten mit Charaktereigenschaften korrespondierten. Sein Projekt war die Verwirklichung einer „rassischen Auslese", die durch die SS-Musterung sortiert und in der eine „SS-Sippe" „hochgezüchtet" werden sollte. Zusammen mit Walter Darre entwickelte er die Kriterien für die SS-Musterung. Im Gegensatz zu SA-Männern, für die es keine rassischen Kriterien gab und von denen nur in der Stabwache der SA ab 1930 eine Mindestgröße von 1,65 m verlangt wurde, 15 hatten künftige SS-Männer mit der Ausnahme von Kriegsveteranen mindestens 1,70 m groß zu sein. Ursprünglich waren es 1,80 m, doch so viele große Männer fand Himmler nicht und sah sich gezwungen, seine Ansprüche zu „senken". Er versuchte trotzdem, die Mindestgröße wenigstens für besondere Einheiten zu steigern, wie in dem Münchner
14
Zitiert nach Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf, 28. Die von Höhne angegebene Passage konnte von der Autorin in den Akten nicht gefunden werden. Leider sind heute die von Heinz Höhne zitierten Quellen im Bestand des Berlin Document Centers des Bundesarchivs Berlin nur teilweise auffindbar, deswegen stützt sich die Argumentation an dieser Stelle auf Hohnes Zitat und ergänzt damit die Richtlinien für die Aufstellung der SS vom September 1927 und vom Juni 1931.
15
Vgl.: Michael Kater: „Zum gegenseitigen Verhältnis von SA und SS", 350.
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DIE ENTSTEHUNG DES SS-MYTHOS UND DAS KONKURRENZBILD ZUR SA
„Sturm 1", der ab Oktober 1929 seine Mindestkörpergröße auf 1,72 m setzte, und in Schleswig-Holstein, wo diese auf 1,76 m festgesetzt wurde.16 Die Elite-Einheit „Leibstandarte Adolf Hitler"17, die erst 1934 aufgestellt wurde, kam dem „Arierideal" am nächsten und nahm nur Männer auf, die mindestens 1,78 m groß waren. Außer der Körpergröße waren blonde Haare und blaue Augen sowie „tadellose" Körperproportionen und -haltung die Hauptkriterien für die SS-Aufnahme zwischen 1929 und 1938.
7.4. „Auslesekörper" Der Körper bildete den primären Identifikationszugang für die SS. Er war der Ort, an dem sich die Zugehörigkeit zur „arischen Rasse" „verifizieren" ließ. Damit diente der Körper als Projektionsfläche für die Wünsche nach Kontingenzbewältigung, Leistungssteigerung und Vervollkommnung und bot den Raum für die Verwirklichung einer Zuchtutopie. Himmlers Körperkonzeption beschränkte sich nicht auf die physischen Eigenschaften. In einer Mischung aus Rassentheorien des 19. Jahrhunderts, eugenischen Gedanken, lebensreformerischen Ambitionen, ariosophen und esoterischen Elementen verstand Himmler den „arischen Körper", den er fur die SS zu rekrutieren wünschte, als seelische und materielle Hervorbringung einer „rassischen Auslese" innerhalb der „Volksgemeinschaft". Der „Arier" gehörte fur Himmler zu einer Herrscherkaste mit politischen Führungsaufgaben und bekam - wie bei Rosenberg - eine transzendente Bedeutung im Nationalsozialismus.18 Moderne Gestaltungsambitionen und mythisches Denken führten zu einem paradoxen, um nicht zu sagen widersprüchlichen Ideologiekonstrukt, das Himmler, anders als Rosenberg, in der Praxis umzusetzen versuchte. Die SS-Männer sollten an den idealen „Ahnen" nicht nur genealogisch anknüpfen, sondern sie auch überwinden. Und dies sollte durch und im Körper geschehen. Aber Himmler war auch pragmatisch und konnte auf seine Erfahrungen als Tierzüchter und als Mitglied der Artamanen zurückgreifen. Zusammen mit Walther Darre entwickelte Himmler 1931 Auswahlkriterien, nach denen sich SS-Männer rekrutieren ließen, und bündelte in der Form von bürokratischen und disziplinaren Vorgängen die Reglungen für die Formierung einer „SS-Sippe" mit rassisch-eugenischer Auswahl der SS-Partnerinnen. Seine Auffassung von „rassischer Auslese" radikalisierte die nationalsozialistische Utopie des „Neuen Menschen" sowohl auf der Vorstellungsebene als auch in der Praxis. Während Hitler in Mein Kampf über „eine Rasse" sprach, „die, zunächst wenigstens, die Keime unseres heutigen körperlichen und damit auch geistigen Verfalls wieder ausgeschieden haben wird" (Hitler: 1933, 448), wollte Himmler schon mit dem Projekt einer „arischen" Zucht in der SS beginnen. 16 17
18
Vgl.: Michael Kater: „Zum gegenseitigen Verhältnis von SA und SS", 351. Die Leibstandarte „Adolf Hitler" wurde im Frühjahr 1935 in „Leibstandarte-SS Adolf Hitler" umbenannt. Um Verwirrungen zu vermeiden, wird im Folgenden die Bezeichnung „Leibstandarte-SS Adolf Hitler", LSSAH, verwendet. Vgl.: Bernd Wegner: Hitlers politische Soldaten, 83, Fußnote 24. Siehe Prolog 1. Die Utopie des Neuen Menschen und Kapitel 5 Fixierung: Die Konstruktion des NS-„ Ariers ".
„AUSLESEKÖRPER"
161
Erwünscht waren große, blonde und blauäugige Männer, die einen Stammbaum frei von „minderwertigen Rassen" und Krankheiten vorweisen konnten. „Die Art der Auslese", schrieb Himmler, „konzentrierte sich auf die Auswahl derjenigen, die körperlich dem Wunschbild, dem nordisch-bestimmten Menschen, am meisten nahe kommen. Äußere Merkmale wie Größe und rassisch entsprechendes Aussehen spielten und spielen dabei eine Rolle" (Himmler: 1936, 21). Dieses Prinzip wollte Himmler immer „besser und schärfer" ausbauen. Die Praxis der Musterung war im Militär und besonders in den Leib- und Repräsentationsgarden geläufig, doch in der SS bekam sie eine neue Bedeutung und wurde durch rassenanthropologische und physiognomische Methoden ergänzt. Die SS-Musterung basierte auf drei Kriterien: 1) „Körperbaubeurteilung", 2) „Rassischer Anteil"; 3) „Soldatischer und persönlicher Allgemeineindruck im Stehen, Haltung und Bewegung." 19 Der Körper wurde physiognomisch im Detail analysiert: Körperhöhe, Wuchsform, Haltung, Beinlänge, Kopfform, Hinterhaupt, Gesichtsform, Nasenrücken, Nasenhöhe, Nasenbreite, Backenknochen, Augenlage, Lidspalte, Augenfaltenbildung, Lippen, Kinn, Haarform, Körperbehaarung, Haarfarbe, Augenfarbe und Hautfarbe bildeten die wichtigsten Beurteilungselemente des Körpers in der „Rassenkarte" der SS-Mitgliedskandidaten. Zudem war ein „Ariernachweis" erforderlich, um die „biologische Auslese" zu bestätigten. Diese Kriterien wurden bis zum Kriegsbeginn nur für die SS-Musterung verwendet. Mit der Okkupation des „Ostgebiets" erweiterte die SS ihre Nutzung auf die Kategorisierung und Auswahl der lokalen Bevölkerung. Isabel Heinemann hat diese Praxis untersucht und die SS-Methode zusammengefasst: „Zunächst erfassten sie die erscheinungsbildlichen Merkmale des Bewerbers in den Kategorien ,Körperbau' (von ,Idealgestalt' bis ,Mißgestalt' in neun Abstufungen) und ,Rassische Bewertung' (in fünf Gruppen von ,rein nordisch' bis ,Vermutung außereuropäischen Blutseinschlages'), die dann im Urteil ,Auftreten' zu einer Gesamtbewertung ergänzt wurden (in sechs Kategorien von ,fur SS besonders geeignet' bis ,als deutscher Soldat ungeeignet')". Zum Schlussurteil gehörten außerdem die Berücksichtigung von Intelligenztests und eine Sportprüfung (Heinemann: 2003, 60). Im Dezember 1931 erstellte Himmler zusammen mit Walther Darre die Richtlinien für die Heiratsgenehmigung der SS-Mitglieder. Damit war der Weg für eine „Sippe der rassischen Auslese" eröffnet. Die Bräute der SS-Männer wurden einer rassischeugenischen Untersuchung unterzogen, mussten ihren „Ariernachweis" vorzeigen und einen Stammbaum frei von „Erbkrankheiten" und „minderwertigen Rassen" präsentieren. Um die SS-Mitglieder physiognomisch zu sensibilisieren, und damit sie die richtige Partnerwahl treffen konnten, veranstaltete das „Rasse- und Siedlungshauptamt" Diavorträge, die über die Rassenkunde und die rassischen Richtlinien der SS-Musterung aufklären sollten. 20 Himmler sah das „Menschenzüchterische" als eine der Hauptaufgaben der SS sowie die „rassische" Beurteilung und Integration der SS-Frauen in die SSSippe als Notwendigkeit an. Sein Projekt des „arischen" „Neuen-Menschen" drückte sich unter anderem in seiner Anstrengung aus, alles „arische Blut" für den Nationalsozialismus zu sichern. Die Gründung des Lebensborn e. V., der ledigen „arischen" Müttern eine Alternative zur Abtreibung bieten sollte, war einer dieser Versuche. Aber auch der 19
Siehe: BA-Berlin, D o k . : N S 2/152.
20
Siehe: BA-Berlin: D o k . N S 31/279.
162
DIE ENTSTEHUNG DES SS-MYTHOS UND DAS KONKURRENZBILD ZUR S A
„Zugriff auf das „arische Blut" in anderen Ländern gehörte für Himmler zu den Maßnahmen zur „rassischen Hochzucht". In seiner Rede vor den SS-Gruppenfuhrern vom 8. November 1938 kündigt er an: „Ich habe wirklich die Absicht, germanisches Blut in der ganzen Welt zu holen, zu rauben und zu stehlen, wo ich kann. Dies führte Himmler später im besetzten „Ostgebiet" systematisch durch.22 Der Körper wurde zum konkreten Ort der „Neugestaltung des Volkes", und die Kontrolle über die menschliche Reproduktion zur Methode der Verwirklichung eines politischen Projektes.
7.5. „Adelshaltung" Himmlers Konzept der „rassischen Auslese" stützte sich auf Walther Darres Idee eines „Neuadels". 1930 präsentierte Darre in seinem Buch Neuadel aus Blut und Boden einen „Plan zur Neugestaltung eines deutschen Adels", der sowohl die „blutsmäßige Erneuerungsquelle des Volkes" als auch die „Volksernährung" sicherstellen sollte (Darre: 1930, 6). Die Quelle des „Neuadels" sah er vor allem im „germanischen Bauerntum", wo die „gesündesten und stärksten Exemplare" der „arischen Rasse" zu finden seien. An die physische Grundlage des „Neuadels" sei auch eine besondere „Adelshaltung" gekoppelt, die bei den SS-Männern zum Ausdruck kommen sollte. Dabei sei „die Rasse" „nur der selbstverständliche Rohstoff, aus dem erst in schärfster Leistungszucht und Führerbewährung der Adel herausgearbeitet wird" (Darre: Zucht und Sitte, undatiert, unnummeriert). Die „rassischen" Qualitäten und die „Adelshaltung" seien durch körperliche Erziehung hervorzubringen. Deswegen musste an einem Habitus gearbeitet werden, der die SS-Zugehörigkeit zur „Auslese" durch den Körper ausdrückte. Die „Haltung" des „Neuadels" konstruierte Darre sowohl in Anlehnung an die OffiziersTradition des Kaiserreiches als auch an den rasseneugenischen Gedanken der Rassenzucht. Sie sollte den Verhaltenskodex der SS-Männer bestimmen und in ihrer Körpersprache- und Körperhaltung erkennbar sein. Obwohl Himmler und Darre sich um ein Gegenkonzept zur bürgerlichen Gesellschaft bemühten, knüpften Himmlers Versuche, einen SS-Habitus zu konstruieren, immer wieder an großbürgerliche oder adlige Vorbilder an. Die SS-Führung eiferte dem Status der Oberschicht nach, versuchte Studenten und Wissenschaftler zu rekrutieren, gründete Forschungsstellen wie das „SS-Ahnenerbe" und förderte intensiv das Reiten innerhalb der SS. Die SS-Zeitung Das Schwarze Korps widmete dem Reitsport und der Leistung ihrer Reiter einen großen Raum.23 Das hatte einen Doppeleffekt: Einerseits zog die Förderung des Reitsports Mitglieder an, die sich Ausrüstung und Pferd leisten konnten, anderseits verknüpfte die Darstellung des Reitsports das Bild der Oberschicht mit dem 21
22
23
Zitiert nach Bradley F. Smith/Agnes S. Peterson: Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 und andere Ansprachen, Frankfurt am Main/Berlin 1971, 38. Zur ethnischen Neuordnung im „Siedlungsgebiet" siehe: Isabel Heinemann, „Rasse, deutsches Blut". Die Berichte und Artikel über Reiter erschienen mindestens in jeder zweiten Ausgabe schwarze Korps. Dies betrifft den Zeitraum dieser Untersuchung und bezieht sich auf 1935 - das Gründungsjahr des Blattes - bis 1939.
bis 1945 Siedlung, von Das die Jahre
ADELSHALTUNG"
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Bild der SS-Männer. Interessant an der Bewunderung des Reitsports ist außerdem die Assoziation des sozialen Status des Adels mit der Vorstellung der „Rassenzucht" in der Pferdezucht. Das SS-Männerbild integrierte bürgerliche, aristokratische, kriegerische, asketische und rassentheoretische Elemente und übernahm ebenso allgemein bekannte Leitbilder des Kaiserreiches und der Weimarer Republik wie das Offiziersideal. Die geforderte „Adelshaltung" der SS-Männer wurde als ein Verhaltenskodex aufgefasst, der das distinguierte Bild ihrer Männer prägen sollte. Die Richtlinien für die Aufstellung der Schutzstaffeln von 1931 verpflichteten die SS-Männer zur „Sittlichkeit" nach außen und forderten die Kultivierung einer Eliteidentität nach innen. „Auffallige Distinktion", Geschlossenheit nach außen und ein nach innen gekehrter disziplinierter Auftritt sollten das Bild der SS-Männer gegenüber vermeintlich lauten und auffälligen SA-Angehörigen hervorheben. Nach dem Motto „der Adel schweigt" versuchte die SS, sich als selbstbewusst und souverän gegenüber der SA zu inszenieren. In den Richtlinien VI νon Juni 1931 fand diese Konstruktion in Form einer Reglementierung der Körper ihren Ausdruck: „1. Hier gilt der Grundsatz: Der SS-Mann und SS-Führer schweigt und mischt sich niemals in einen Bereich (politische Ortsgruppenfiihrung und SA), der ihn nichts angeht."24
Dieser Grundsatz war sicherlich keine Option der SS-Führung, sondern eher ein Machtwort der SA. Doch schon in den folgenden Richtlinien wurde deutlich, auf welches Bild Himmler baute: „2. Die SS hält sich von jedem Streit fern. SS-Führer und SS-Leute, die diesen Befehl nicht befolgen, werden unnachsichtig aus der SS entfernt."
Dabei ging es nicht nur um eine Vermeidung von Konfrontation mit der SA, sondern vor allem um die Konsolidierung eines Ordnungsbildes, das sich diametral gegen das SA-Agitationsbild setzten sollte und vor 1934 nur bedingt eingehalten wurde. „3. Der SS-Mann ist das vorbildlichste Parteimitglied, das sich denken läßt." „III.9: Die SS tritt in der Öffentlichkeit so auf, daß die Bewegung immer mit Stolz auf die SS blicken kann."25
Hinzu kam das Verbot, während NS-Veranstaltungen zu rauchen oder den Raum zu verlassen. In der Zeit des Weimarer Waffenverbots - bis 1933 - wurde das Waffentragen eines SS-Mannes mit einer rigiden Strafe zumindest auf der offiziellen Diskursebene bedroht. Den SS-Männern drohten der Ausschluss aus der SS sowie eine eventuelle Übergabe an die Polizei. Das Streben nach Disziplin wurde nach Heinz Höhne sogar von der Münchner Polizeidirektion in einem geheimen Lagebericht vom 7. Mai 1929 registriert, „welch straffe Disziplin von den SS-Leuten gefordert wird. Schon bei der kleinsten Verfehlung der Anordnungen, die in den laufenden SS-Befehlen ergehen, sind Geldstrafen oder Einzug der Armbinde auf eine bestimmte Zeit oder Dienstenthebung
24 25
Diese Anweisung verlautete schon in den Richtlinien von 1927. Schutzstaffel Oberleitung: Vorläufige Dienstordnung fiir die Arbeit der SS, 1931. Vgl.: BA-Berlin, Dok.:NS 19/1934.
164
D I E ENTSTEHUNG DES S S - M Y T H O S UND DAS KONKURRENZBILD ZUR S A
angedroht. Besonderes Gewicht wird auf das Verhalten des einzelnen Mannes und auf dessen Kleidung gelegt." 26 Während die SA ihre Wirkung stark aus der kollektiven Erscheinung zog, war außerdem für die SS der einzelne Mann ein wichtiger öffentlicher Repräsentant und Verkörperung der Organisation. Auch die Aufgabenbereiche der SS berücksichtigten den Einsatz des Einzelnen. „Die SS wird im Unterschied zur SA besonders da eingesetzt, wo einzelne Männer verwendet werden müssen" schrieb die Dienstvorschrift der SA vor. 27 Uniform, Körperhaltung und kontrolliertes Verhalten in der Öffentlichkeit sollten zu einem disziplinierten Idealbild des SS-Mannes beitragen und die SS- von den SA-Männern unterscheiden.
7.6. Zusammenfassung Als selbst definierte Elite im Nationalsozialismus beanspruchte die SS eine vorbildliche Rolle, die sowohl auf die „rassische Überlegenheit" der SS-Männer als auch auf einen bestimmten Verhaltenskodex zurückzufuhren war. Hitler selbst förderte die Projektion des Bildes einer „arischen Auslese" auf die SS-Männer. Er bestätigte den besonderen Status der SS mit symbolischen Akten, wie etwa der Übertragung der Aufbewahrung der „Blutfahne" oder der Verleihung des Leitwortes „Unsere Ehre heißt Treue". Es war sowohl für die Konstruktion einer SS-Identität als auch für die propagandistische „Arier"Konstruktion von Bedeutung, dass der „Führer" persönlich den Elitestatus der SS symbolisch festlegte. Himmler bemühte sich um die Abgrenzung der SS von der SA: Er führte die körperlichen Kriterien in die SS-Musterung ein, setzte ein Verlobungs- und Heiratsbefehl mit „rassischen Kriterien" für die SS-Männer durch und entwarf ein asketisches SS-Ethos. Diese Maßnahmen und die SS-Imagepolitik nach außen trugen zum SSMythos bei. Die NS-Auslesewünsche und die idealtypischen Körper- und Charaktereigenschaften konnten mittels der semantischen und symbolischen Übertragung auf die Körperbilder der SS-Männer projiziert werden. Nach dem Sieg im Machtkampf gegen die SA und der Ermordung Röhms konnte die SS die beanspruchte Elitefunktion zur Geltung bringen und dieses Bild in die politische Macht einfließen lassen. Dadurch wurden die Körper und Körperbilder der SS-Männer zu wichtigen Elementen der politischen Inszenierung. Die SS-Porträts des Künstlers Wolf Willrich zeigen die Projektion des „Ariers" auf die SS-Männerbilder. Die Bildermappe gehörte zu den zahlreichen Publikationen des Künstlers, die physiognomische Porträts unter „rassischen" Aspekten darstellten. 28 Sie erschien mit einem Vorwort von Heinrich Himmler, in dem es hieß: 26 27
28
In: Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf, 31. Siehe auch Hans Buchheim: „Die SS - Das Herrschaftsinstrument", in: Buchheim/Broszat/Jacobsen/Krausnick (Hrsg.): Anatomie des SS-Staates, 33. Willrich war auf physiognomische Zeichenporträts spezialisiert, die ein idealisiertes Panorama des „deutschen Volkes" unter „rassischen" Aspekten darstellte. Neben den SS-Porträts veröffentlichte der Künstler die Porträtmappen Adel aus Blut und Boden, Frauenspiegel und Das deutsche Antlitz jeweils mit 12 Porträts und im selben Verlag. Außerdem arbeitete Willrich als Maler und war in der Planung und Organisation der Parallelausstellungen Entartete Kunst und Große Deutsche Kunst-
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ZUSAMMENFASSUNG
„Die Bildermappe Willrichs zeigt uns Köpfe von SS-Männern aus allen Gegenden Deutschlands. Sie soll dem Beschauer vor Augen fuhren, daß dieses nordische Blut, das diese Gesichter geformt und geprägt hat, dem ganzen deutschen Volk eigen ist [...] Mögen die Arbeiten Willrichs [...] dazu beitragen, das ewige Gesicht germanischdeutschen Blutes ins Gedächtnis zu rufen und damit die große Verpflichtung, dieses Blut rein zu erhalten und zu mehren."29 Himmlers Vorwort zu Willrichs Mappe mit 12 SS-Porträts im Blut und Boden Verlag und die Abbildung der SS-Porträts in Das Schwarze Korps sind ein Beispiel fur den semantischen Zusammenschluss von SS- und „Arier"-Bild und trugen zur Plausibilität der „Arier"-Utopie in der NS-Propaganda bei.
Abb. 12: SS-Porträts aus Wolf Willrichs Mappe, abgebildet in Das Schwarze
29
Korps, 16. Dezember 1937.
ausstellung. Dazu siehe: Peter-Klaus Schuster: „München - das Verhängnis einer Kunststadt", in: ders. (Hrsg.): Nationalsozialismus und .Entartete Kunst', München 1988, 12-36. Das folgende Zitat wurde zusammen mit den vier SS-Porträts in Das Schwarze Korps vom 16. Dezember 1937 abgebildet.
8.
Uniformen I: Körpercodierung und politische Repräsentation
8.1. Uniformen und Homogenisierung Der Einsatz der SS-Körperbilder in der politischen Inszenierung des Nationalsozialismus wird in drei phänomenologische Bildergattungen unterschieden: 1) die im Diskurs erzeugten Körperbilder - sowohl verbal als auch schriftlich - , die auf dem Vorstellungsvermögen der Rezeptoren beruhend; 2) die Bilder, die aus der visuellen Wahrnehmung erfolgten: a) unbewegte Bilder wie Fotos, gemalte Bilder, Zeichnungen etc., b) die bewegten Bilder des Films und 3) die Bilder, die aus der Ko-Präsenz von Publikum und SS-Männern im alltäglichen Umgang oder bei NS-Inszenierungen entstanden. Für all diese Gattungen spielt die Uniform eine wichtige Rolle, denn sie ermöglicht eine emblematische Konzentration der SS-Körperbilder und ihre Fixierung im sozialen Imaginären. Für die politische Repräsentation sind Uniformen wichtige symbolische Elemente. Sie liefern fest codierte Identifikationsmerkmale und können unmittelbarer wahrgenommen werden als andere Körpermerkmale. Die Uniformen haben eine ähnliche Homogenisierungswirkung wie die Porträtmalerei. Wie der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich schreibt, übt die Porträtmalerei die Wirkung einer Ablenkung von den individuellen Zügen der Porträtierten aus. Die Geste, die vertraute Perspektive, die eingesetzte Beleuchtung etc. bilden eine Art Maske, die die Wahrnehmung des Gesichts des Porträtierten erschwert: „Wir müssen uns anstrengen, von der Perücke abzusehen, um zu erkennen, wie weit diese Gesichter sich unterscheiden, und überdies erschweren es uns die veränderten Vorstellungen über Etikette und Haltung, die Person als Individuum wahrzunehmen. Kunsthistoriker sagen in bezug auf bestimmte Perioden und Stile oft, daß die Porträts damals eher auf Typen beschränkt waren als auf das individuelle Bildnis" (Gombrich: 1977, 24). Ein ähnlicher Effekt entfaltet sich bei der Wahrnehmung von Uniformierten. Die Uniformen homogenisieren das Aussehen ihrer Träger durch die gleiche Umhüllung des Körpers, aber auch durch die damit verbundene Körperbewegung und -haltung, die analog zum Porträt als eine Art Etikette funktionieren. Für die Körperbilder der SS-Männer heißt das, dass die SSUniformen wie die Porträtmalerei die Aufmerksamkeit des Betrachters von den individuellen Körpermerkmalen und Gesichtszügen der SS-Männer „ablenken" können und sie stattdessen in ein „Stilbild" des SS-Mannes mit emblematischer Wirkung fügen. Dahingehend wird das Auge des Betrachters auf das Einheitliche, auf die Ähnlichkeit der SS-Erscheinungen fixiert.
POLITISCH-SOZIALE FUNKTIONEN DER UNIFORMEN
167
8.2. Politisch-soziale Funktionen der Uniformen 8.2.1. Nationalsozialistische
Uniformen und die politische Codierung des Körpers
Der Blick, der das Homogene sucht, hat eine lange Tradition in der abendländischen Kultur und in der Machtinszenierung. Vor allem beim Einsatz von uniformierten Truppen visualisiert die Homogenität der Körper politische Kohäsion, Ordnung und Macht. Die Herrschaft Wilhelms II. war von der militärischen Machtvisualisierung gekennzeichnet, sie förderte die Gewöhnung an den Blick auf homogene Einheiten und traf die Gesellschaftsakzeptanz von Militarismus bzw. militärischem Stil. In der Weimarer Republik rekurrierte die Staatsrepräsentation weniger auf die Uniformen als Symbole der Macht ihrer autoritären Vorgänger, doch die paramilitärischen Truppen, die ihren Anspruch auf eigene Ordnung signalisieren wollten, setzten auf die Homogenisierung der Körper ihrer Mitglieder als Visualisierungselemente ihrer politischen Ambitionen. Die NS-Propaganda knüpfte insbesondere nach 1933 sowohl an die Wilhelminische Tradition als auch an die paramilitärische Symbolik an und stimulierte die Sehnsüchte nach Ordnung und Disziplin. Dabei gewannen die nationalsozialistischen Uniformen nach der Machtübertragung an Hitler eine zusätzliche Bedeutung, die für die SS grundlegend war. Waren die SS-Uniformen während der Weimarer Republik Ausdruck einer nationalsozialistischen Gruppenidentität, gehörten sie nach der „Machtergreifung" zusätzlich zu den wichtigsten Zeichen der Staatsmacht. Auch andere NS-Uniformen, die vor 1933 eine Abgrenzung zum gesellschaftlichen Konsens signalisierten, wurden nach der NS-Machtübernahme zu Elementen der Zwangsidentifikation. Das war besonders bei den HJ-Uniformen der Fall, die schon vor der Machtübernahme existierten und zunehmend von der männlichen Jugend getragen wurden. 1936 wurde die HJ-Uniform zusammen mit der weiblichen Uniform des BDM zur Pflicht. Der totalitäre Charakter wurde bei der Zwangserfassung und Uniformierungspflicht der Jugend deutlich, die am 1. Dezember 1936 per Gesetz verordnet wurde.1 Die Homogenisierung der Gesellschaft durch die Uniformierung der Körper betraf auch die zivilen Erwachsenen, die in verschiedenen NS-Organisationen wie dem NSKK („Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps"), „Glaube und Schönheit" oder dem RAD („Reichsarbeitsdienst") erfasst wurden. Was Uniformen von Zivilkleidern unterscheidet, ist der Zwang zum einheitlichen Bild der Gruppe. Sie markieren die Erscheinung ihrer Mitglieder und trennen dabei Zugehörige von Fremden. Eine imaginäre Linie zwischen innen und außen wird jedes Mal gezogen, sobald Uniformierte mit Andersaussehenden konfrontiert werden, sei diese Konfrontation eine räumliche oder nur eine vorgestellte.2 Mit der Durchsetzung der Uniformen für die Zivilbevölkerung, und vor allem für Kinder und 1
2
Zu „Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936" siehe: Heinz Boberach: Jugend unter Hitler, Düsseldorf 1990, 28. Dieses Phänomen kann auch bei der Alltagskleidung beobachtet werden. Sie kann stark oder etwas weniger stark codiert sein, doch meistens verrät sie das soziale Milieu ihrer Träger. Wie Pierre Bourdieu gut beobachtet, sind diese „feinen Unterschiede" sogar bei dem Habitus und somit in der Körperhaltung und Körpersprache festzustellen. Vgl.: Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1999.
168
UNIFORMEN I: KÖRPERCODIERUNG UND POLITISCHE REPRÄSENTATION
Jugendliche, markierten die Nationalsozialisten die Präsenz der „neuen Gesinnung". Mit Hilfe der visuellen Prägung der Körper durch die nationalsozialistischen Uniformen wurde eine sichtbare, aber auch eine imaginäre Trennlinie zwischen Zugehörigen und Ausgeschlossenen eingeführt. SA- und vor allem die SS-Uniformierten betonten diese Trennung und markierten sie zusätzlich mit Gewaltzeichen, die durch ihre Uniformen und den paramilitärischen Auftritt visualisiert wurden. Die NS-Macht wurde dadurch im Alltag präsent, und das totalitäre Projekt des Nationalsozialismus zur Schau gestellt. 8.2.2. SS-Uniformen, Macht- und
Gewaltrepräsentation
Die gleich aussehenden Körper vermitteln in Uniform das Bild einer in sich geschlossenen Gruppe. Der Uniformträger fungiert als Repräsentationsorgan des Kollektivs und besitzt symbolischen Charakter. Im Fall der militärischen und polizeilichen Uniformen ist dieser symbolische Charakter von Zeichen geprägt, die mit Gewalt assoziiert sind. Ihre Träger unterscheiden sich von anderen Uniformierten im Wesentlichen durch ihre Waffen. Militärs und Polizisten sind nicht nur Repräsentanten der Staatsmacht, sondern verkörpern und üben Gewalt im Namen des Staates aus. Wie die militärischen dienen auch die paramilitärischen Uniformen zur Überwindung des zivilen Charakters des Körpers. Sie verleihen dem Körper eine politisch-symbolische Dimension. Es geht vor allem um einen doppelten Mechanismus, der die uniformierten Körper für die politische Symbolik nutzbar macht: Zum einem werden Körper und Uniform als Einheit betrachtet. Zum anderem verschmelzen Uniform und symbolischer Gehalt und werden zum politischen Symbol. Dies gilt sowohl für die visuelle Wahrnehmung des Publikums als auch für die Körperwahrnehmung der Uniformierten, die beim Tragen der Uniform die ihr zugesprochene Körperhaltung annehmen müssen. Für den Träger der Uniform kann es zu einer Identifikation mit der verkörperten Institution kommen.3 Ernst Kantorowicz beschriebt den Mechanismus der politischen Repräsentation durch den Körper wie folgt: „Die Grenze zwischen dem sichtbaren Kultobjekt und der unsichtbaren Idee" wird dabei „unscharf (Kantorowicz: 1990, 341).4 Je stärker die Verschwommenheit von Signifikant und Signifikat ist, desto effektiver wirkt das Symbol. Deswegen bedingen sich homogenes Aussehen der Uniformträger und Glaubwürdigkeit der Gruppe gegenseitig. Je strikter und präziser die Uniformierung und je disziplinierter das Auftreten des Einzelnen, desto glaubwürdiger wirkt die Truppe insgesamt. Die SS war sich der repräsentativen Bedeutung der Uniform bewusst. Im SS-Leitheft vom 30.1.1937 machte die SS-Leitung ihre Mitglieder auf ihre Verantwortung für das Bild der SS aufmerksam und betonte die Verantwortung beim Tragen der Uniform: 3
4
Diese Identifikation mit der Uniform und mit ihrem symbolischen Gehalt ist selbstverständlich von den unterschiedlichen psychischen Strukturen ihrer Träger und von der sozialen Konstitution der Gruppe abhängig. Diese Formulierung verwendet Ernst H. Kantorowicz in seiner Analyse des Verhältnissen von „symbolischer" und „materieller" Krone des Königs: „Es scheint aber, daß hier die materielle und die immaterielle Krone vermengt wurden. [...] Die Unbestimmtheit des Symbols machte es vielleicht besonders wertvoll; die Verschwommenheit war die wahre Stärke der symbolischen Abstraktion", in: Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, 341.
POLITISCH-SOZIALE FUNKTIONEN DER UNIFORMEN
169
„Jedes Tun von uns wird daraufhin beobachtet, verglichen, abgewogen. An dem Verhalten des Uniformträgers ermißt man den Wert der von ihm vertretenen Idee" (Schußter, in: SS-Leitheft, 30. 01.1937, 33). Schon seit der Gründung der SS waren die Uniformen ein wichtiges Medium für die Konstruktion eines disziplinierten, asketischen und distinguierten Bildes der SS-Männer. Als homogenisierende Zeichen verdrängten die SS-Uniformen die individuellen Unterschiede zugunsten einer kollektiven Einheit und erlaubten keine persönlichen Merkmale. Im Juni 1931 legte die SS-Führung in München genau fest, wie die SS-Uniform auszusehen hatte:5 „1. Der Dienstanzug der SS besteht aus: a) b) c) d) e) f) g) h) i) k) 1)
braunes Hemd mit schwarzen Lederknöpfen an den Brusttaschen SS-Armbinde am linken Oberarm schwarzer Selbstbinder (der mit seinem unteren Ende unter den Gürtel gesteckt wird) Parteiabzeichen (in der Höhe der Brusttaschenknöpfe) schwarze Mütze mit Totenkopf und schwarzen Kinnriemen schwarze Hose schwarze Wickel- oder schwarze Ledergamaschen schwarze Schnürschuhe (statt g u. h auch schwarze Reitstiefel) schwarzer Leibriemen mit Adler-Koppelschloß schwarzer Schulterriemen (von der rechten zur linken Schulter getragen) mit 2 Karabinerhaken. (Schulterriemen wird [...] nicht über die Krawatte getragen) auf besonderen Befehl Orden und Ehrenzeichen
2.
Zum Dienstanzug gehört außerdem:
a) Schutzstaffel-Ausweis b) Mitgliedsbuch oder prov. Mitgliedskarte c) offizielles Parteiliederbuch d) Zeitungs-Werbehefte, Parteiaufnahmescheine 3.
Verboten sind:
a) irgendwelche Abzeichen, als da sind: Edelweiß, Festtagesabzeichen u. a. b) das Heraushängen von Uhrketten, Bierzipfeln und sonstigem"
Jedes unreglementierte Schmuckstück oder individuelle Zeichen störte das homogene Bild der SS-Uniform. Diese Verbannung des Heterogenen unterschied sich kaum von den Uniformgeboten vergleichbarer Organisationen. Was aber die SS-Verbote verraten, ist mehr als der bloße Ausschluss vom persönlichen Geschmack bei der Kleidung. Die Reglementierung des „Dienstanzuges" bezog sich vielmehr auf sozial codierte Ornamente, die etwas über den sozialen Status und über die sozialen Ansprüche aussagten. Das Verbot des „Heraushängens von Uhrketten" bei der SS-Uniform verdeutlicht deswegen nicht nur das Streben nach der Disziplinierung des äußeren Bildes, sondern kann außerdem als Ausdruck einer antibürgerlichen Haltung gelesen werden. Denn Uhrketten waren ein Symbol bürgerlichen Wohlstands,6 „die goldene Uhr, die in der Brusttasche 5 6
Siehe: „Vorläufige Dienstordnung fur die Arbeit der SS"; BA-Berlin, Dok.: N S 19/1934. Vgl.: Erika Thiel: Geschichte des Kostüms, Berlin 1997.
170
UNIFORMEN I: KÖRPERCODIERUNG U N D POLITISCHE REPRÄSENTATION
aufbewahrt wurde, und die schweren goldenen Uhrketten, die sich quer über die Weste spannten und die Wölbung des Bauches, jenes Sinnbild der ,Solidität' und ,Gesetztheit' des ,satten Bürgertums', zierten, erinnerten an den Materialaufwand früherer Zeiten" (Thiel: 1997, 338). Die Assoziation mit dem „satten Bürgertum" konnte mit dem von Himmler entworfenen asketischen Elitenbild des SS-Mannes nicht vereinbart werden, vor allem nicht, weil die Uhrkette als ostentatives Zeichen des Wohlstandes und sozialer Differenzierung galt. Himmler achtete selbst auf das einheitliche Aussehen der SS-Männer. Am 21. Juni 1933 ließ er einen Verteiler an sämtliche SS-Einheiten gehen, in dem alle Bekleidungsstücke verboten wurden, die den vorgeschriebenen Uniformregelungen nicht entsprachen. „Es wird auf das nachdrücklichste verboten, dass Angehörige der SS, gleichgültig in welchem Dienstgrad und in welcher Dienststellung sie sich befinden, (auch Führer z. b. V., z. D., ä la suite und solche, denen das Recht zum Tragen des SS-Dienstanzuges verliehen ist) Bekleidungs- oder Ausrüstungsgegenstände tragen, die nicht von [sie] RFSS durch Verfügung zugelassen sind." 7 Damit bekräftigte Himmler das Visualisierungsprinzip der Uniform in der politischen Repräsentation: die Homogenität des Aussehens, die die Aufmerksamkeit der Betrachter auf das Einheitliche lenkt und von den individuellen Gesichtszügen bzw. Körpermerkmalen ablenkt. Daraus entsteht ein abstrakter Körper, der eher für die Institution bzw. politische Botschaft steht als ein Subjekt darstellt. 8.2.3. Hierarchische
Unterschiede
Während Uniformen allgemein dazu dienen, Individualität zu unterdrücken, und homogene Bilder gegenüber den nicht oder anders Uniformierten zu vermitteln, haben sie andere Differenzierungszeichen, nämlich die hierarchischen. In der Tat kann hier nicht von Gleichheit die Rede sein. Die verschiedenen „Schmuckstücke" der Uniformen wie Rangabzeichen, Ehrenzeichen und Orden fuhren Differenzierungen und Abstufungen herbei und geben wichtige Informationen zu Herkunft, Status und hierarchischer Platzierung sowie zu besonderen Verdiensten der Uniformträger. Da die SS wie das Militär auf Hierarchie angewiesen war, mussten die SS-Ränge durch das Tragen von Abzeichen und Symbolen an der Uniform erkennbar gemacht werden. Das literarische Beispiel von Carl Zuckmayers Karikatur der militärischen Hierarchie verdeutlicht die visuelle Erkennungsfunktion der Uniformen, die hier in Bezug auf den sozialen Status ironisiert wird: „Ich [bin] kein ,Wachmeester', sondern Oberwachtmeister und Reviervorsteher, das erkennt man an den Knöpfen und am Portepee", empört sich der Oberwachtmeister im ersten Akt des Hauptmann von Köpenick (Zuckmayer: 1998, 13). Womit sich der karikierte Oberwachtmeister identifiziert, ist ein soziales Bild innerhalb des Militärs, ein Posten. Die Symbole und Abzeichen der Uniformen veranschaulichen keine persönlichen Charakteristika, sondern ordnen die Individuen als Mitglieder in das Bild- und Definitionsschema der Organisation ein, indem sie den Uniformierten innerhalb einer
7
Siehe: „Schriftwechsel vorwiegend mit dem Reichsfuhrer SS und den ihm unterstellten zentralen Dienststellen"; MA-Freiburg, Dok: NS/17-44.
POLITISCH-SOZIALE FUNKTIONEN DER UNIFORMEN
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internen Hierarchie platzieren. Erst in der Uniform und mit Hilfe ihrer Abzeichen kann sich der Träger mit seiner Rolle identifizieren und identifiziert werden. Die SS bemühte sich um die Hierarchisierung ihrer Mitglieder und um die entsprechende Differenzierung ihrer Uniformen. Von Mai 1933 bis September 1934 zählte die SS 18 verschiedene Dienstgrade, ab dem 15. Oktober 1934 waren es 19. 1939 hatte die SS 22 und die Wehrmacht 24 Dienstgrade.8 All diese Abstufungen schlugen sich in der Uniform nieder und verliehen dem Uniformträger einen festen Platz mit deutlicher Rollenzuschreibung. Es war bei den SS-Männern, wie bei jeder militärischen Einheit, nicht nur möglich, ihre Einheiten zu erkennen, sondern auch, den erreichten Dienstgrad festzustellen. Heinz Höhne beschreibt die Symboldifferenzierung von Hierarchie und Einheit am Beispiel des „Sicherheitsdienstes": „Ein Winkel in Aluminiumstickerei verriet am rechten Oberarm den ,alten Kämpfer', eine Raute mit den Buchstaben ,SD' wies den Besitzer als Mitglied des gerüchteumwitterten Sicherheitsdienstes aus.9 Die Schulterstücke entblößten feinste Abstufungen. Dienstgrade bis zum Hauptsturmführer trugen Achselstücke mit sechsfach nebeneinander gelegter Aluminiumschnur, Führer bis zum Standartenführer zierte eine dreifach geflochtene, ab Oberführer trug man eine dreifach doppel-geflochtene Schnur. Auf den Kragenspiegeln setzte sich die Hierarchie noch verästelter fort: Höhere Chargen führten die Signen ihres Ranges auf beiden Kragenspiegeln, und zwar der Standartenführer je ein Eichenblatt, der Oberführer zwei Eichenblätter, der Obergruppenführer drei Eichenblätter und einen Stern und schließlich der Reichsführer einen Eichenkranz mit drei Eichenblättern" (Höhne: 1996, 126). Das, was für Nichteingeweihte in der Symbolsprache der SS-Uniformen als Schmuck erscheint, stellt für Kenner der SS-Organisation und -Hierarchie fest codierte Zeichen mit präzisen Bedeutungen dar. Jedoch war die Visualisierung der internen Hierarchie nicht nur von der SSOrganisation abhängig. Auch die Schichtzugehörigkeit konnte an den Uniformen sichtbar gemacht werden. Dem Historiker Andrew Mollo zufolge war der Schnitt der Uniformen für alle SS-Männer zwar der gleiche, doch die Stoffqualität war keineswegs dieselbe.10 Dies lag vor allem daran, dass sich die höheren SS-Führer oft auf private Kosten die Uniform schneidern ließen und dafür unterschiedliche Materialien benutzen durften. Einerseits wurde der Körper von der SS-Uniform homogenisiert und innerhalb des Zeichensystems der SS-Uniformhierarchie platziert, andererseits blieb der Rekurs auf die soziale Markierung außerhalb der SS für die SS-Führer erhalten. Als emblematisches Bild avancierte aber der uniformierte Körper des SS-Mannes zum Prestigeträger der Organisation und funktionierte als „Schild" der SS und des NS-Staates. 8
9
10
Für die Zahlen der SS-Dienstgrade siehe: Andrew Mollo: Uniforms of the SS, Yorkshire 1997, Bd. 1 und Bd. 6. Für den Vergleich mit der Wehrmacht, allerdings ohne Zeitangabe siehe: Wolfgang Benz/Hermann Graml/ Hermann Weiß (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997, 585. Der Sicherheitsdienst trug bis zum Jahr 1938 keine Uniform, erst mit dem Beginn des Krieges bekamen die SD-Männer eine eigene graue SS-Uniform, bei der die SD-Raute auf dem linken Arm zu sehen war. Vgl.: Heinz Artzt: Mörder in Uniform, München 1979. Vgl.: Andrew Mollo: Uniforms of the SS, Bd. 1, 8.
172 8.2.4.
UNIFORMEN I: KÖRPERCODIERUNG UND POLITISCHE REPRÄSENTATION
Machtvisualisierung
Die Uniform verändert das Körperbild ihres Trägers: Elemente der Vergrößerung und Verpanzerung des Körpers wie Schnitt, Farbe, Stiefel, Mützen oder Helme haben eine optische Wirkung auf die Körperproportionen ihrer Träger - etwa die Taille verengen, die Schultern „vergrößern" oder die Körpergröße erhöhen - und lassen sie mächtiger und attraktiver aussehen. 11 Ebenso ermöglicht die Verwendung von Symbolen und Ornamenten Konnotationen von Macht, Gewalt, die in einem geschlossenen gesellschaftlichen Kontext entstehen, wie der Fall der Totenköpfe bei den Preußischen Husarenregimenter 12 zeigt. Da die nonverbale Kommunikation ein Ausdrucksrepertoire von teils individuell-psychologisch bedingter, teils kulturell kodifizierter und teils universeller Signifikanz umfasst, 3 können Uniformen als fest codierte Elemente der Machtrepräsentation emotionale Mechanismen wie Einschüchterung und Bewunderung, Angst vor der Macht und Bindung an die Macht anregen. Der Militärhistoriker Alun Chalfont betont die Funktion der Einschüchterung der Militäruniformen und vergleicht sie mit dem Fellsträuben einer angegriffenen Katze, die ihr Aussehen größer und gefährlicher macht. „Wenn man daher in der Vergangenheit der Uniform des Soldaten oftmals einen Zuschnitt und eine Ausstattung gab, die ihn größer und stärker erscheinen ließ - hohe Bärenfellmützen, breite Schulterstücke und schwere Lederstiefel, so geschah dies durchaus in der Absicht, ihm ein wehrhafteres und furchterregenderes Äußeres zu verleihen" (Chalfont: 1975, 6). Sei die Furchtreaktion eine universalistische Konstante, wie Chalfont behauptet, oder sei sie kulturell erlernt, in jedem Fall ist sie durch die Ausstattung der Uniformen oft intendiert. Die Ritterrüstung im Mittelalter war durch die Verpanzerung des Körpers und ein gefahrliches Aussehen gekennzeichnet. Im alten Japan gehörten zur Samuraitracht sogar Masken, die das Böse symbolisierten. Diese Ausstattung sollte dazu verhelfen, den Gegner einzuschüchtern und ihre Träger in eine psychisch vorteilhafte Position zu bringen. Diesen Effekt erreichen die Uniformen, indem sie Botschaften der Macht, Gewalt und Gefahr vermitteln; damit verknüpft sind Attribute von Männlichkeit und Virilität, die oft auch eine erotische Konnotation erhalten. 14 Dies gilt allerdings nicht für die funktionalen Kampfanzüge ab dem Ersten Weltkrieg, die eher für die Tarnung im Grabenkrieg als für das Imponieren konzipiert wurden. 15 Die Uniformen der SS sowie die Repräsentationsuniformen des Militärs verleihen ihren Trägern nicht nur den symbolischen Schutz der Institution, sondern auch kulturell codierte Männlichkeitsattribute und Anziehungskraft. Ihre einschüchternde Wirkung und die Männlichkeitsinszenierung prägen die Machtdemonstration des Staates als 11
12 13 14
15
Dasselbe tut die SS-Uniform, wie es später noch erläutert wird. Ihre Farbe und Symbole sind keineswegs bedeutungslos, sie umhüllen den SS-Mann mit einer Semantik, die die Nähe zum Tod und zur Macht zur Schau stellt. Auf diese Symbolik wird im nächsten Kapitel näher eingegangen. Dazu: Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, Stuttgart 1985, 339. Allerdings erklärt die universalistische Annahme Chalfonts die Wirkung der Uniform nur unzureichend. Zu Chalfonts unterstellter Betonung der erotischen Anziehung des männlichen Körpers durch die Uniform mischen sich auch der soziale Status und die Hierarchie des Uniformträgers. Siehe in: Prolog II: Kriegserfahrungen und Körperbilder·, 3.2. Körper und Uniformen.
KÖRPER UND UNIFORMEN
173
männlich. Damit werden das optische „Vergrößern" des Körpers und die aggressive Haltung zu Gender-Komponenten der politischen Performance und zur Machtsymbolisierung. Sie stehen in einer langen Tradition der Staatsrepräsentation und sind kulturell strukturiert. Für die Analyse der SS-Körperbilder in der NS-Machtinszenierung ist vor allem der ambivalente Effekt von Drohung und Anziehungskraft von Interesse, denn dadurch kann eine doppelte Bindung zur NS-Macht ermöglicht werden.
8.3. Körper und Uniformen Bisher blieb die Beobachtung der Wirkung der SS-Uniformen auf den äußeren Bereich des Körpers beschränkt und konzentrierte sich hauptsächlich auf ihre Visualisierungsmechanismen. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, den Einfluss der Uniformen auf die Körperhaltung und Körperbewegung sowie die motivierten Identifikationsmöglichkeiten der Uniform in der damit verbundenen Körperpraxis und codierten Symbolik zu untersuchen. Dabei wird auf die Phänomenologie, Semiotik und auf den soziologischen Begriff des „Habitus" von Pierre Bourdieu zurückgegriffen. Eine solche Analyse am historischen Gegenstand arbeitet selbstverständlich nicht mit Wahrheiten, sondern mit Interpretationsmöglichkeiten. Diesen „weichen" Gegenstand zu ignorieren, wäre jedoch eine Beschränkung für die vorliegende Arbeit sowohl aus der kulturwissenschaftlichen als auch aus der politikwissenschaftlichen Perspektive. 8.3.1. Uniformen und Anpassung des Körpers Die Uniformen verändern nicht nur die Erscheinung des Körpers, sie beeinflussen ebenfalls die Körpersprache und Körperhaltung ihrer Träger. Sie tragen einerseits soziale Bedeutungen und transportieren Vorstellungen, die durch soziale Werte und individuelle Assoziationen hervorgerufen werden, und wirken auf diese Weise auf die Haltung und Sprache des Körpers ein. Andererseits zwingt die Kleidung durch ihre materiellen Gegebenheiten zu bestimmten Körperhaltungen und Bewegungen. Schnitt und Stoff können den Körper begrenzen oder auch Bewegung ermöglichen: Enge Hose oder Rock können, solange sie nicht aus einem elastischen Stoff bestehen, die Bewegungen einschränken, dagegen werden großzügige Schnitte und legere Stoffe oft als komfortabel empfunden und lassen größere Bewegungsfreiheit zu. Die Uniformen von Militär, Polizei und Paramilitär verlangen auch eine physische Anpassung des Körpers. Diese Anpassung geht mit einer Körpererziehung einher, die die Individuen in einem zweiten Sozialisationsprozess in der paramilitärischen Institution lernen und die sich in deren Körper einschreibt. Besonders das Exerzieren reglementiert die Bewegungen und prägt eine Körperhaltung, die zum Habitus der Uniformierten gehört. Die intendierte Körpersprache und -haltung werden vom Uniformschnitt unterstützt, indem bestimmte Stellen des Körpers eingeschnürt werden. Die Taille gilt als Hauptstelle der Reglementierung. Wie beim Frauenkorsett wird sie von den Uniformen enger gehalten. Vor dem Ersten Weltkrieg trugen sogar preußische Offiziere ein Männerkorsett, das die SchulterTailleproportionen akzentuierte, und das, obwohl das männliche Korsett schon eine
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UNIFORMEN I: KÖRPERCODIERUNG UND POLITISCHE REPRÄSENTATION
Rarität bei der Zivilkleidung darstellte.16 Der Grund für die Sorgen um die Taille liegt vor allem in der Bedeutung der Bauchmuskeln für die gerade Körperhaltung, sie gehören zu den entscheidenden Tragkräften für Wirbelsäule und Brust und helfen, wenn sie eingezogen oder trainiert werden, den gesamten Körper in eine Position zu bringen, die ihn „wachsen" lässt. Einen zweiten wichtigen Ort des Körpers stellt die Brust dar. Damit Brust und Schulter mächtiger aussehen können, wird sowohl an der Körperhaltung des Uniformträgers als auch an bestimmten „ästhetischen Prothesen" gearbeitet. Der Schnitt der Militärjacke muss dafür die Brustmuskeln zu einer „offenen" und geraden Haltung zwingen, was auch mittels gezielter Enge und Weite erreicht wird.17 Als ästhetische Körperprothese werden die innere Polsterung der Schulterpartie und/oder der Epauletten eingesetzt. Anders als der Schnitt, der den Körper physisch reglementiert, motivieren die Epauletten eher durch das Bild der breiten Schulter die gerade Körperhaltung, denn sie suggerieren eine Haltung, die vom Körper nachgeahmt wird. 8.3.2. Körperwahrnehmung und sozialer Sinn Der Körper verweist immer auf die Grenzen zwischen dem Physischen und dem Symbolischen, zwischen dem Individuellen und dem Sozialen. Die Körperwahrnehmung ist sowohl ein kognitiver als auch ein sinnlicher Vorgang, der per Assoziation - d. h. durch die Ähnlichkeit des bereits Wahrgenommenen mit dem schon Bekannten - Reaktionen und Gefühle auslösen kann. Dank der doppelten - der symbolischen und der physischen - Natur der körperlichen Erfahrungen können die Verknüpfungen an das „schon Erlebte" sowohl psychisch als auch körperlich erfolgen. Und hier hilft die Phänomenologie bzw. die Neurophysiologie weiter. Für den Neurologen Antonio Damasio nimmt der Mensch seine Umwelt nicht nur rational wahr, sondern empfindet sie mittels aller Sinnesorgane des Körpers. Nach der vielfältigen Wahrnehmung der Umwelt produziere das Gehirn Vorstellungsbilder, die die Realität abbilden. Jedes Mal, wenn ein neues Objekt wahrgenommen wird, so Damasio, werden die vom Hirn komponierten Vorstellungsbilder erneut von der Erinnerung aufgerufen. Daraus entstehen Sinneskomplexe, d. h. feste Assoziationen von schon bekannten Situationen und Empfindungen, die kulturell und/oder auch individuell eine Bedeutung tragen. Ein Beispiel für die produktive Nutzung dieser Art Sinneskomplex mit sozialer Deutung in der politischen Kommunikation bietet eine Aussage des früheren türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir (B 90 Grüne). In einem Fernsehinterview von 1997 wurde er gefragt, was ihm Heimat bedeute. Der in Schwaben geborene Politiker antwortete, Heimat sei für ihn der Geruch von Apfelkuchen. Damit hat Özdemir eine emotional-sinnliche Assoziation angesprochen, die wahrscheinlich vielen Deutschen bekannt ist. Diese Assoziation stellt genau die Verbindung sinnlich (der Geruch von Apfelkuchen) - emotional (das damit assoziierte Gefühl der Geborgenheit der Heimat) -
16 17
Vgl.: Thiel, Geschichte des Kostüms, 338. Es ist interessant festzustellen, dass die Modeproduktion, die sich Manageranzügen und Repräsentationskleidung widmet, trotz aller legerer Trends immer noch eine gerade Körperhaltung von Kleidungsträgern- und trägerinnen voraussetzt. Sie ist bis heute mit Eleganz konnotiert und suggeriert Vertrautheit im Umgang mit der Oberschicht.
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kognitiv (die Zugehörigkeit zu Deutschland - da das Zeichen Apfelkuchen kulturell codiert ist und einen symbolischen Charakter für die deutsche Gemütlichkeit bekommt) dar. Mit diesem Deutungskomplex vermittelte Özdemir eine politische Botschaft, die Mitglieder eines bestimmten Kulturkreises anspricht. Durch seine Assoziation von Gedanken und Gefühlen evozierte er die Integration von in Deutschland geborenen Ausländern in die allgemeine Kulturtradition dieses Landes. Im Fall Özdemirs ist das Ansprechen der sinnlich-emotional-kognitiven Assoziationen durch die Vorstellung provoziert worden. Doch derselbe Vorgang kann ebenfalls in Form physischer Impulse erfolgen. Um den Übergang vom Körperlich-Individuellen zum Kognitiv-Sozialen zu analysieren, wird auf die Theorie Pierre Bourdieus zurückgriffen. Für Bourdieu arbeitet der Körper als „Speicher für Gedanken und Gefühle". 1 Der französische Soziologe verdeutlicht diesen Prozess mit dem Beispiel des Besuchs einer Kirche. Dort empfindet der sozialisierte Körper physische Stimuli: den geschlossenen, oft feuchten und dunklen Raum der Kirche. Er kennt diese Situation durch Kirchenbesuche und ist in der Lage, die Ähnlichkeiten wiederzuerkennen. In Damasios neurophysiologischer Terminologie heißt das, dass der Körper in diesem Moment die Vorstellungsbilder ähnlicher Situationen hervorruft, um die neue Realität - mit der momentanen Erfahrung in der Kirche einordnen zu können. Bei Bourdieu heißt das, dass die soziale Prägung und die erlernte Bedeutung der Kirche als sakraler Raum den Körper in eine Haltung bringen, die er in sakralen Räumen normalerweise annimmt. Und dies kann für Damasio sowohl in der momentanen Körperwahrnehmung als auch in der gedanklichen Assoziation geschehen. Bourdieu konzentriert sich auf den Begriff des Habitus und untersucht vorzugsweise die sozial-symbolische Ebene des Körpers. Doch er geht weiter: „In allen Gesellschaftsordnungen wird systematisch ausgenutzt, daß Leib und Sprache wie Speicher für bereitgehaltene Gedanken fungieren können, die aus der Entfernung und mit Verzögerung schon dadurch abgerufen werden können, daß der Leib wieder in eine Gesamthaltung gebracht wird, welche die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken heraufbeschwören kann, also in einen jener Induktorzustände des Leibes, der Gemütszustände herbeiführen kann, wie Schauspielern bekannt ist" (Bourdieu: 1993, 127). Bourdieus Auffassung des Körpers als „Speicher für Gedanken und Gefühle" wird von den Erkenntnissen Damasios bestätigt. Konzentriert sich der Neurologe auf die individuellen Prozesse der Erinnerung, sucht der Soziologe die sozialen Gemeinsamkeiten im Habitus. Für die Untersuchung der Uniformen und ihrer Wirkung auf Körpersprache und Körperwahrnehmung des Trägers müssen beide o. g. Ebenen miteinander verknüpft werden. Nur so kann das dichte Geflecht von sozialer Bedeutung der Kleidung, internalisiertem Habitus und individueller Körperwahrnehmung verstanden und mit der visuellen Wirkung der Uniformierten in Beziehung gebracht werden. Dieses verwobene Beziehungsnetz von Körperwahrnehmung, individuellen Erfahrungen und sozialer Bedeutung macht sich im Verhältnis zwischen Innenüberzeugung des Kleiderträgers und Außenwirkung seiner Erscheinung bemerkbar. Theatralische und literarische Produktionen haben schon häufig diese Beziehungen dargestellt. Moliere, 18
Dazu: Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn, Frankfurt am Main 1993; Ders.: „Avant-Propos dialogue", in: Maitre, Jacques: L'autobiographie d'un parano'iaque. L'abbe Berry (1878-1974) et le Roman de Billy Introibo, Paris 1994, V-XXII.
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ein hervorragender Gesellschaftsbeobachter, verdeutlicht in seinen Theaterstücken die soziale Codierung von Kleidung, Körper und Sprache. Im Stück Don Juan zeigt er die Auswirkung codierter Kleidung auf die Stimmung, auf das Verhalten und auf den Habitus des Menschen. Der französische Autor stellt die Fähigkeit der Kleidung dar, ihren Trägern Rollen zuzuschreiben, auf den Habitus assoziativ zu wirken und dabei das Verhalten mimetisch zu beeinflussen. Im III. Akt führt Moliere eine Kapriole ein, er ermöglicht einen Tausch der Klassenrollen von Don Juan und Sganarelle mittels Kleidung. Don Juan und Sganarelle müssen fliehen und dürfen nicht erkannt werden, daher schlägt Don Juan vor, selbst Bauernkleider anzuziehen, während Sganarelle einen Arzt-Rock anziehen darf. Durch die neuen Kleider befinden sich beide Protagonisten plötzlich in vertauschten sozialen Rollen. Sganarelle wird übermutig und sucht die Konfrontation mit seinem Herrn. Den Veränderungsprozess des momentanen Bewusstseins durch die Identifikation mit den neuen Kleidern macht Moliere in den Worten Sganarelles deutlich: „L'habit met en consideration [...] car cet habit me donne de Γ esprit, et je me sens en humeur de disputer contre vous." Die neue soziale Rolle, die durch die vertauschten Kleider eingenommen wird, ist eine Farce, denn Sganarelle wird deshalb nicht zum Arzt. Dennoch, durch die Resonanz auf seine Körpererscheinung - und damit ist nicht nur die Bekleidung, sondern auch die entsprechende Körperhaltung gemeint - überzeugt sich der Protagonist immer mehr von seiner neuen Identität. Eine wichtige Rolle in dem Prozess spielt daher die Außenwahrnehmung, die Sganarelles „neue Identität" bestätigt. „C'est l'habit d'un vieux medecin, qui a ete laisse en gage au lieu oü je l'ai pris, et il m'en a coüte de l'argent pour l'avoir. Mais savez-vous, Monsieur, que cet habit me met dejä en consideration, que je suis salue des gens que je rencontre, et que Ton me vient consulter ainsi qu'un habile homme?" (Moliere: Don Juan, Acte III) Molieres Szene verdeutlicht die implizite Roilenzuschreibung der codierten Kleidung, ihre sozial-psychologische Wirkung auf das Selbstbild und ihren Ausdruck in der mimetischen Körperhaltung und Körpersprache. Uniformen können daher als Motivation für Identifizierungsprozesse fungieren. Sie reglementieren den Körper auf mehreren Ebenen: psychologisch, phänomenologisch, sozial und sogar politisch. Im Fall der SS-Männer reglementieren sie nicht nur die Bewegungsfreiheiten des Körpers und sprechen die Körpererziehung der SS an, sondern sie sind mit der sozialen Wirkung der SS nach außen verbunden und von der NS-Ideologie abhängig. Denn die SS-Uniformen sind mit der Identifizierung mit dem Idealbild des „Ariers" verbunden. 8.3.3. SS-Uniformen, Identifizierung19
und politische
Repräsentation
Die SS-Uniformen erfüllten eine politische Funktion nach außen, indem sie ihre Träger als Repräsentanten der SS und des staatlichen Gewaltmonopols kenntlich machten, sowie eine ideologisch-identifikatorische Funktion nach innen, indem sie als wichtiges 19
Hier wird der Freudsche Begriff „Identifizierung" statt „Identifikation" verwendet. Darunter wird die Nachahmung des Ideals mit dem Wunsch nach seiner Einverleibung verstanden. Vgl.: Sigmund Freud: „Massenpsychologie und Ich-Analyse", in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke Bd. XIII, Frankfurt am Main 1994, 71-161.
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Mittel der Identifizierung mit einer Rolle fungierten. Innen- und Außenwirkungen sind sehr eng aneinander gebunden und beeinflussen sich gegenseitig. Die SS-Uniform erschien als Sinnbild für Identität und für Gruppenzugehörigkeit. Die innere Wirkung der Uniform liegt also in der bildlichen Verknüpfung von Person und ihrer politischrepräsentativen Rolle und ist im Prozess der Identifizierung unentbehrlich. In der Identifizierung, schreibt Freud, ahmt der Mensch das Ideal nach und wünscht sich so, wie „Es" zu sein. „Man erkennt nur, die Identifizierung strebt danach, das eigene Ich ähnlich zu gestalten wie das andere, zum ,Vorbild' genommene" (Freud: 1999, 116). Die Uniform gibt dem Körper einen inneren Bezug durch die Identifikation mit der Rolle und die Bestätigung dieser Rolle durch die Anerkennung Dritter. Dies kann eine konstitutive Bedeutung für den Umgang des Uniformierten mit seiner Kleidung haben. Denn die Kleider, die man trägt, prägen das Selbstbild und implizieren eine Verlängerung der körperlichen Grenzen, die nicht an der Hautgrenze enden. Ludwig J. Pongratz verwendet die Worte Theodor Lipps und definiert die Kleidung als eine „zweite Außenzone des Ichs". Der Körper sei nur „die erste Außenzone des Ich. Eine zweite Außenzone sind die Kleider, die ich trage. Darum sage ich, ,ich bin verstaubt', wenn meine Kleider bestaubt sind. Kurz, ich identifiziere mich mit meinen Kleidern", schreibt Theodor Lipps 1903. 20 „Zu der leiblichen Zone der Kleidung", ergänzt Pongratz, „gehören dann auch der Schmuck, die Accessoires, das Make-up usw. Der moderne Mensch empfindet auch seinen Wagen als leibnahe Außenzone seines Ich" (Pongratz: 1984, 148)/' \m Hauptmann von Köpenick beklagt sich der Offizier über die Empfindung seiner Labilität ohne den Schutz der Uniform: „Jellinek: ,Na, hörense mal, n' Offizier wie Sie, der sticht doch alles aus. Jung, adlig, Garde, was wollen Sie mehr!' Schlettow: ,Na ja, in Uniform, da geht's ja, da macht man Figur, das gibt n' kolossalen Halt, da is man 'n ganz anderer Kerl. Wissense - in Staatsbürjerklufit - da komm ick mir immer vor wie ne halbe Portion ohne Mostrich'" (Zuckmayer: 1998, 24). Hier betont Zuckmayer die Identifikation mit der Uniform, die nicht nur der Funktion der Rollendarstellung nach außen dient, sondern ebenso konstitutiv für die Selbstdefinition ist. Ohne Uniform fühlt sich der Offizier wie „ne halbe Portion ohne Mostrich". Die Identifikation mit dem Idealbild, die mit der sozialen Bedeutung und mit der politischen Rolle der SS-Uniformen, war von Himmlers Wunsch, ein Elitebewusstsein zu stiften, intendiert. In seiner ideologischen Konstruktion des SS-Mythos visualisierten die SS-Uniformen die „SS-Werte" und das soziale Prestige in der rassistisch definierten „Volksgemeinschaft", sie symbolisierten die „arischen" Eigenschaften der NS-Utopie und die NS-Macht. Diese überladene Bedeutung der SS-Uniformen kann sich nach dem von Pongratz beschriebenen Prozess der Identifikation mit den Kleidern auf das eigene Körperbild verlagern. Ein Beispiel für die gelungene Identifizierung mit dem SS-Ideal durch die Uniform zeigt die Äußerung des ehemaligen Angehörigen der „Waffen-SS" Günter Kollatschny über seine Erfahrung als Mitglied der „Waffen-SS": „Jetzt will ich Ihnen mal ein lustiges Kriegserlebnis erzählen. Also ich war auf Genesungsurlaub - ich 20 21
Vgl.: Ludwig J. Pongratz: Problemgeschichte der Psychologie, München 1984. Die Ausweitung des Ich-Bildes auf die Kleidung ist eindeutig in der Wirkungsstruktur der Mode zu beobachten. Dazu: Roland Barthes: Le Systeme de la Mode, Paris 1963; Georg Simmel, „Philosophie der Mode", in: Simmel. Gesamtausgabe, Frankfurt am Main 1995, Band 10, 7-38.
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hatte in Kiew am 7. Februar 1944 einen Granatsplitter ins Knie bekommen, nicht so schlimm - also ich stand mit meinem Krückstock am Marktplatz in meiner Heimatstadt. Das war ja was besonderes, denn hier oben sind die schwarzen Kragenspiegel mit den SS-Runen drauf und natürlich unsere Ärmelstreifen. Das wollten sie sehen. Und da hab' ich so'n bißchen mitgespielt, hab' mich immer wieder umgedreht, bis sich dann eine getraut hat: ,Mensch, von welcher Division?' Na, die habe ich gleich eingeladen. Das war was besonderes" (interviewt von Henry Ries, in: Ries: 1992, 134). Die Identifikation mit dem Idealbild und die damit verbundene Internalisierung der zugesprochenen Symbole überdauerten die Erschütterungen in seiner Biographie. Kollatschny war drei Jahre lang nach Kriegsende in französischer Gefangenschaft, wurde von einem deutschen katholischen Priester „bekehrt" und bezeichnet seine Mentalitätsentwicklung als „Umwandlung": „Dieser Mann [der Priester] ist die Schlüsselfigur in der Umwandlung meines Lebens. Durch ihn wurden auf einmal diese Schuldgefühle ausgelöst: Mensch, für was hast du dich eigentlich hergegeben! [...] Mensch, Meier, du warst bei der Waffen-SS!" (ebd., 133). Trotzdem scheinen für den ehemaligen SS-Mann dieselben Statussymbole und die Identifikation mit dem Körperideal, die durch das Tragen der Uniform betont wird, weiter zu bestehen. Er spricht nicht in der Vergangenheit, wenn es um seine körperliche Erscheinung - die hier auf die Uniform ausgedehnt wird - geht: „Hier oben sind die schwarzen Kragenspiegel mit den SS-Runen d r a u f , als ob sie immer noch da wären. Das Zugehörigkeitsgefühl ist zumindest auf der verbalen Ebene sehr präsent: Es sind nicht die Ärmelstreifen der SS, sondern „unsere Ärmelstreifen". Ein anderes Beispiel für das Überdauern der Identifikation mit der Uniform zeigt eine noch bewusstere Äußerung eines Passanten während der Dreharbeiten zu einem historischen Film in München. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 15. September 1999, dass der Schauspieler, der einen SS-Mann darstellte, von einem Zuschauer angesprochen wurde. „Der Schauspieler Martin Armknecht kommt hinzu und berichtet, eben habe ihm jemand zu seiner Uniform gratuliert. ,Er meinte nur, das SS-Abzeichen hätte bei ihm weiter links gesessen'" (Süddeutsche Zeitung, 15. 09. 1999). Die SS-Uniform zielte auf eine Identifizierung sowohl mit der Gruppe als auch mit dem entsprechenden Idealbild - selbstverständlich ist der Grad der Identifizierung und Internalisierung der Ideale variabel und hängt von der Gruppe und vom Individuum ab. Für die Wirkung von Ideologie und Propaganda ist der Moment von Bedeutung, in dem die physisch-soziale Person von ihren politisch-institutionellen Funktionen sowohl für das Individuum selbst als auch fur seinen Betrachter nicht mehr unterschieden werden kann.22 8.3.4. SS-Uniform und „arisches"
Körperbild
Im Fall der SS-Männer war die Folie für die Identifizierung mit ihrer Rolle in der politischen Symbolik und mit den rassistischen Vorstellungen der NS-Ideologie verbunden. „Auslese" ist hier das Schlüsselwort und verbindet traditionelles Elitedenken mit den eugenischen und rassistischen Konzeptionen, die seit der Jahrhundertwende en vogue 22
Vgl.: Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Mittelalters, Frankfurt am Main 1990.
Theologie des
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waren und von Himmler als Ziel der SS postuliert wurden. Die SS-Uniformen verwiesen zugleich auf den intendierten prominenten Status der SS innerhalb der „Volksgemeinschaft", auf die ihr unterstellten „rassischen" Eigenschaften und auf die Funktion als Repräsentanten der NS-Macht. Zudem stattete Himmlers ideologische Prägung die SS-Uniformen mit der Bedeutung eines eigenen Ethos aus und projizierte auf ihre Träger die „arischen" Charaktereigenschaften wie „Soldatentum, Wehrhaftigkeit und Aktivität", denn die Uniform war im SS-ideologischen Kontext „Ausdruck der Kameradschaft, der Beharrlichkeit, der Treue", wie das SS-Leitheft vom 30.1.1937 schrieb. 23 Dort hieß es weiter: „Die SS-Uniform ist mit den Begriffen Soldatentum, Wehrhaftigkeit, Aktivität verbunden." Die SS-Führung verwendete die SS-Uniform nicht nur als Symbol für die NSIdeologie und für den SS-Ordensgedanken, auch die körperlichen Wunscheigenschaften wurden dadurch transportiert, vor allem weil in ihren Postulaten die SS-Uniformen einen bestimmten Typus von Körper verlangten. Im selben SS-Leitheft vom 30.1.1937 wurde die Frage gestellt: „Warum tragen wir eine Uniform?" Die Antwort war eindeutig: „Die Uniform verpflichtet also. Sie muß aus innerster Überzeugung getragen sein, soll sie ihrem Träger zum Ehrenkleid werden." Der Träger muss sich also mit dem symbolischen Gehalt der Uniform identifizieren. Dazu gehört die anatomische Anpassung des Körpers an Materialität und symbolische Bedeutung der Kleidung. Denn „die Uniform verpflichtet zur disziplinierten Haltung" (ebd.). Aber die SS-Uniform „setzt" auch „körperliche Eigenschaften voraus", heißt es im SS-Leitheft weiter, denn sie impliziert die Zugehörigkeit zur „arischen Auslese". Hier lassen sich die NS-Körperkonzeption und die damit verbundenen physischen, symbolischen und politischen Ansprüche an SS-Männer erkennen. Im Plädoyer für die Anpassungsverpflichtung des Körpers gegenüber der SS-Uniform und den damit verbundenen Idealen zeigt sich nicht nur der Wunsch nach Körperformierung, sondern auch die rassistische Intention, die schon vorhandenen biologischen Voraussetzungen zu „verwirklichen". Zumal die SSUniform „[will] vom gesunden Menschen getragen sein und nicht vom Schwächling. Deshalb auch in allen uniformtragenden Verbänden die Pflege der Leibesübung. Der Mensch ohne Haltung wird in der Uniform zur Karikatur des Soldaten und macht dadurch seine Truppe lächerlich" (Schußter, in: SS-Leithefte 30.1.1937, 32). Das, was allgemein nach militärischem Muster für Uniformierte gilt, d. h. gerade Haltung bei einem etwas sportlichen Körperbau, wird vor dem Hintergrund des rassistischen NSKörperideals und seiner Perfektionsvorstellungen bei der SS schärfer gelesen. Das Körperpostulat erschien in den SS-Leitheften, in denen das rassistische „arische" Ideal als Konsens vorausgesetzt wurde, das die Körperdisziplinierung und -formierung als Optimierung der „arischen Rasse" verstand. 23
Die SS-Leithefte waren ein internes Schulungsorgan der SS und erschienen seit Februar 1936 monatlich. Sie widmeten sich der ideologischen Bildung der SS-Männer, waren wie Das Schwarze Korps reichlich illustriert und brachten regelmäßige Artikel zur NS-Rassenideologie. Der Begriff des „Ariers" gehörte zu den Selbstverständlichkeiten der Redaktion und wurde oft zum Thema der Beiträge. Interessant in den SS-Leitheften ist das redaktionelle und das Layout-Konzept zwischen Zeitschrift und Schulungsbroschüre, das sowohl ihre Nutzung in der SS-Ausbildung als auch als Zeitungslektüre ermöglichte.
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UNIFORMEN I: KÖRPERCODIERUNG UND POLITISCHE REPRÄSENTATION
8.4. Zusammenfassung und Ausblick Sich-Kleiden ist immer ein Akt der symbolischen Codierung des Körpers und der Reglementierung seiner Bewegungen. 24 Außen- und Innenwahrnehmung sind stark miteinander verknüpft und reagieren aufeinander. Im Fall der Uniform stehen Körperhaltung, Körpersprache, Körperwahrnehmung und Ich-Bild in ständiger Beziehung zur Wahrnehmung des Betrachters. Die SS-Uniformen umhüllen den Körper mit einer starken Symbolik, sie drücken die Gruppenzugehörigkeit aus und machen aus ihren Trägern politische Repräsentationseinheiten. Aus der Perspektive der Innenwahrnehmung stehen die SS-Uniformen im Prozess der Identifizierung mit dem Ideal für eine Extension der Außengrenzen des Körpers und wirken im Prozess der Körperreglementierung. Auf Grund ihrer Materialität können die Uniformen außerdem sinnliche Stimuli ausüben; Stoff und Schnitt werden vom Körper wahrgenommen, sie beeinflussen seine Bewegungen und Wahrnehmungen der Umwelt. Dabei kann - wie es Pierre Bourdieu und Antonio Damasio darstellen - sowohl der symbolische Gehalt der Uniform als auch deren Materialität bestimmte Gefühls- und Gedanken-Assoziationen hervorrufen. Dem Betrachter der SS-Uniformierten wurden ebenso kognitive wie emotionale Assoziationen ermöglicht. Diese konnten durch die Anknüpfung an das soziale Imaginäre mobilisiert werden. Im Kontext der NS-Ideologie gewann die SS-Uniform eine zweite symbolische Dimension. Eine zusätzliche Schnittstelle zwischen Körper und Politik wird deutlich, wenn der Hintergrund der NS-Utopie und ihre Fokussierung auf den „rassischen" konzipierten „Neuen Menschen" berücksichtigt werden (Kapitel: Die Konstruktion des NS-„ Ariers "). In der propagandistischen Auslegung der NS-Utopie und in der Machtsymbolik der nationalsozialistischen Politik wurden die SS-Männer als „rassische Auslese" präsentiert. Ihre Körper und ihre Körperbilder boten sich als Projektionsfläche für das Idealbild des „Ariers" nach außen insbesondere durch die Visualisierung des „Ariers" dar, und nach innen durch die Körperpraxis und Internalisierung von Körperbildern. Wie stark dieses Identifikationsangebot angenommen wurde, hing natürlich vom individuellen und sozialen Kontext ab, auch die Dauer der Identifikation mit dem Ideal konnte unterschiedlich sein. Die Bilder der uniformierten SS-Männer zirkulierten im sozialen Imaginären. Sie stifteten die Projektion des „Ariers" und die Projektion der Vorstellungen und Sehnsüchte nach dem „Neuen Menschen" auf die SS-Männerbilder. Die SS-Uniform konnte in einem gelungenen Prozess der Bildüberlappung zum Erkennungszeichen des „Ariers" werden (Kapitel: Verbreitung: Inszenierte Realität und filmische Verbreitung) und als solches auf die repräsentativen und repressiven Aufgaben der Machtvisualisierung wirken. Im nächsten Abschnitt wird die Aufmerksamkeit auf die symbolischen Assoziationen der SS-Uniformen gerichtet. Welche Elemente der SS-Uniform schon bekannt waren, welche symbolischen Gehalte sie mittransportieren konnten und wie sich dabei bestimmte politische Diskurse vermitteln ließen, werden die nächsten Fragen sein. 24
Damit soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass der nackte Körper in der Öffentlichkeit „freier" von Kultur wäre. Gerade die FKK arbeitete an einer gezielten Disziplinierung und Formierung des Körpers.
9.
Uniformen II: Macht- und Todessymbolik der SS
Schwarz ist das Kleid, das wir tragen ernst ist der Dienst, den wir tun, Dinge, da andre verzagen, auf unseren Schultern ruhn! Treue heißt unsere Ehre, Schweigen ist eiserne Pflicht. Was uns der Diensteid, der hehre, aufgab, das brechen wir nicht. Einem nur sind wir ergeben, einem nur schwören es wir Ruf uns zu Tod oder Leben Führer, dann folgen wir dir! Schwarz ist das Kleid, das wir tragen ernst ist der Dienst, den wir tun Dinge, da andre verzagen, auf unseren Schultern ruhn!" (in: Das Schwarze Korps, 17. Juli 1935)
9.1. Entwicklung und Symbolrecycling Die SS-Uniformen erschienen seit der Entstehung der SS in verschiedenen Variationen. Erinnerten die ersten feldgrauen SS-Röcke mit grauem Hemd von 1923 an das deutsche Soldatenbild des Ersten Weltkrieges, kehrten die SS-Männer nach der Aufhebung des Parteiverbotes von 1925 ganz in Schwarz in die Öffentlichkeit zurück. Das einzige Kontinuitätszeichen war bis dahin die schwarze Mütze mit dem Totenkopf, ein traditionelles Abzeichen der Eliteeinheiten bei den preußischen Husaren-Regimentern von 1741, die ebenfalls schwarz gekleidet waren. Besonders das 5. Regiment der Husaren, die berühmten „Totenköpfe", inspirierte die Gestaltung der SS-Uniformen. Dessen Männer trugen so wie die SS-Männer den Totenkopf an der Filzmütze und waren am Anfang ganz in Schwarz gekleidet. In Laufe des 18. Jahrhunderts wurden die HusarenUniformen farbiger, ohne jedoch den Totenkopf zu verlieren. 1808 trugen außer dem
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UNIFORMEN II: MACHT- UND TODESSYMBOLIK DER S S
5. Husaren-Regiment auch das 2. Leibhusaren- und das 2. Brandenburgische Regiment den Totenkopf, 1843 wurde der Totenkopf beim 5. und 3. Leibhusaren-Regiment sogar in Silber eingeführt.1 Im ersten Weltkrieg verschwanden die schmuckvollen Uniformen und wurden von den zweckmäßigen, grauen und grünen Kampfuniformen abgelöst, die eine bessere Tarnung ermöglichten. Der Totenkopf überlebte jedoch in den Uniformen der „Flammenwerfer-Sturmtruppen". Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Zwangsreduktion des Heeres griffen die illegalen Freikorps auf dieses eindrückliche Symbol zurück. „Die meisten Mitglieder der Freikorps trugen ihre ursprüngliche Heeresuniform, in der sie abgemustert hatten. Sehr häufig wurden Hakenkreuz- und Totenkopfabzeichen verwendet, die erst Jahre später von den Nazis bzw. der SS zu deren Standardabzeichen gemacht werden sollten" (Williamson: 1998, 11). Die Erscheinung der Totenköpfe und der schwarzen Farbe konnte nach der Vereinfachung der Uniformen im Ersten Weltkrieg umso mehr mit den verlorenen „preußischen Eigenschaften" wie Disziplin, Tapferkeit, Männlichkeit, Mut und „Ehrenhaltung" der Preußischen Armee assoziiert werden. Außerdem gehörten die Husaren zu den Eliteeinheiten der preußischen Armee, und ihre Symbole wurden mit sozialem Prestige und mit einem distinguierten Ethos assoziiert.2 Hier ist ein symbolisches Recycling zu beobachten. Himmlers Intention, sich Eigenschaften des preußischen Militärs für das Repräsentationsbild der SS-Männer anzueignen, geht mit der Übernahme seiner Symbole einher. Totenkopf und schwarze Farbe sind polysemische Zeichen, die unterschiedliche Traditionen ansprechen. Neben der preußischen Militärsymbolik stand ein ganzer Assoziationskomplex zur Verfügung, der in die SS-Uniformen einfloss. Das wird noch Thema dieses Kapitels sein. Wichtig erscheint außerdem der Einfluss der „Camicie nere". Die ersten faschistischen Experimente in Italien lieferten Vorbilder für die SS-Uniformen. Die „Camicie nere" wurden im März 1919 gegründet und prägten das Erscheinungsbild des Faschismus.
9.2. Vielfalt der SS-Uniformen 1929 wurde die Farbe Schwarz zum einzigen Bild der SS in der Öffentlichkeit. Diese Situation änderte sich nach der Machtübernahme und besonders nach der Entwicklung des Jahres 1934. Durch die verschiedenen neuen Arbeitsbereiche und Funktionen wurden die SS-Uniformen und die damit verbundenen SS-Bilder immer zahlreicher. Der Militärhistoriker Heinz Artzt zählt von 1933 bis 1945 sieben unterschiedliche SSUniformen, die von der schwarzen Farbe über das Grau bis hin zur weißen Uniform gingen, mit und ohne Totenkopf.3 Dazu kam die Überschneidung von alten und neuen 1
2
3
Vgl.: Richard Knötel/Herbert Sieg (Hrsg.): Farbiges Handbuch der Uniformkunde, Bd. I, Augsburg 1996, 32-36. Vgl.: Gordon Williamson: Die SS - Hitlers Instrument der Macht. Die Geschichte der SS von der Schutzstaffel bis zur Waffen-SS, Klagenfurt 1998; Wolfgang Petter, „SA und SS als Instrumente nationalsozialistischer Herrschaft", in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.): Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1982, 76-94. Vgl.: Heinz Artzt: Mörder in Uniform, München 1979.
VIELFALT DER SS-UNIFORMEN
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Uniformen, denn es dauerte jedes Mal einige Monate, bis die alten Modelle vollkommen und überall durch die neuen Versionen ersetzt wurden, ζ. T. waren sogar hybride Kombinationen aus unterschiedlichen Uniformteilen zu sehen.4 Diese chaotische Vielfalt des SS-Aussehens trug nicht gerade zur Eindeutigkeit des SS-Körperbildes bei. Wenn man die Freiheit der SS-Obersten bei ihrer Bekleidungsgestaltung berücksichtigt, ist die Verwirrung noch größer, unzählige Kombinationen mit weißen, grauen, schwarzen und braunen Hemden, weißen, grauen oder schwarzen Jacken, schwarzem oder grauem Mantel usw. waren je nach Vorliebe und Laune des Uniformträgers möglich. Die Heterogenität der Bekleidung von SS-Prominenz zeigt einen hohen Grad an Flexibilität der Organisation gegenüber subjektiven Selbstdarstellungswünschen der hohen SS-Führer. Dieser skurrile Aspekt der Selbstdarstellung von SS-Führern wird hier nicht näher untersucht, vielmehr konzentriert sich die Analyse auf die gesamte Erscheinung des SS-Körpers, die sich in das soziale Imaginäre etablieren sollte, d. h. auf ein emblematisches Bild in der NS-Propaganda und -Machtinszenierung. Bei solch einer großen Diversität der SS-Uniformen - auch wenn meistens randständig - erschien ein Synthetisierungsvorgang als visuelle Orientierung nötig. Die Aufmerksamkeit der NSPropaganda richtete sich auf diejenigen Symbole, die Bildkomplexe auf ein Minimum reduzieren konnten. Das bedeutet, dass sich die Rezeptoren auf Schlüsselsymbole konzentrierten und die feinen Differenzierungen, die in den Uniformen ausgedrückt waren, soweit ignorieren sollten, um die SS-Männer als solche identifizieren zu können. Drei Hauptelemente der SS-Uniformen erscheinen als wichtige Embleme in der Kennzeichnung von SS-Männern: die schwarze Farbe, der Totenkopf und die schwarzen Lederstiefel. Die schwarzen SS-Uniformen kennzeichneten die SS-Männer sowohl während der so genannten „Kampfzeit" als auch in ihren polizeilichen und Repräsentationsfunktionen nach 1933. Sie kleideten die Männer der „Allgemeinen SS"5, das heißt diejenigen Einheiten, die in der Öffentlichkeit präsent waren und ζ. T. als Hilfspolizei zwischen 1933 und 1934 agierten, und prägten auch die Körpererscheinung der SS-Repräsentationseinheiten „Leibstandarte-SS Adolf-Hitler", also das meistverbreitete Bild der SSMänner auf Massenveranstaltungen, Paraden, bei staatlichen Akten, Begräbnisritualen etc. Bis 1934 waren die SS-Uniformen noch einheitlich, alle SS-Männer erschienen in schwarzem Dienstrock mit schwarzen Schulterriemen, schwarzer Tellermütze mit schwarzem Sturmriemen und silbernem Totenkopf, braunem Hemd, schwarzen Lederknöpfen und schwarzen Binden ausgestattet, dazu trugen sie schwarze Stiefelhosen und schwarze Marschstiefel - die mittels der Hakenkreuzbinde und der braunen Farbe des SS-Hemdes eine visuelle Verbindung zur NSDAP schufen. Heinz Höhne charakterisiert die SS-Uniformen als der „Deutschen liebstes Kleid, eine Uniform, und eine schicke noch dazu" (Höhne: 1996,126).6 Das, was der Journalist Heinz Höhne als „Eleganz" bezeichnet, gehört zu den Effekten des SS-Mythos auf das kollektive Gedächtnis, aber 4 5
6
Vgl.: Andrew Mollo: Uniforms of the SS, Yorkshire 1997, Bd. I, 7. Die „Allgemeine SS" versammelte alle SS-Gliederungen, die zu keiner speziellen Einheit gehörten. Vgl.: Heinz Artzt: Mörder in Uniform. In: BA-Berlin, Dok.: NS 19/1078.
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UNIFORMEN II: MACHT- UND TODESSYMBOLIK DER S S
liegt ebenso an der Wirkung der schwarzen SS-Uniformen, die die Körperproportionen optisch veränderten. Der Schnitt, der um die Taille enger wird und die Schulterpartie zum Vorschein treten lässt, betont die männlichen Körperproportionen, während die schwarze Farbe mit Eleganz assoziiert wird.7 Die Vereinheitlichung und Betonung der Körperproportionen sowie die emblematische Wirkung der SS-Uniformen tritt besonders deutlich im folgenden Foto Des Schwarzen Korps (Abb. 13) hervor.
Abb. 13: Schwarze SS-Uniform, Das Schwarze Korps, 8. Mai 1935.
7
Vgl.: Michael Kater: „Zum gegenseitigen Verhältnis von SA und SS in der Sozialgeschichte von 1925 bis 1939", in: Vierteljahresschrift für Wirtschaftsgeschichte 1975, 339-379.
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9.3. Kleine Missstände Wie „elegant" die schwarzen Uniformen nach langem Tragen noch aussahen, ist fraglich. Die gewünschte Sorgfalt des SS-Rockes ließ sich nicht ohne hohe Kosten halten. Nicht nur verblassen schwarze Stoffe schneller und auffalliger als andere Farben, auch der SS-„Schmuck" gefährdete das akribische Aussehen der Uniformen. Am 23. April 1939 schrieb der Chef des Persönlichen Stabes RFSS, der SS-Gruppenfuhrer Karl Wolff, an seinen Kollegen, den SS-Gruppenfuhrer Oswald Pohl: „Es hat sich herausgestellt und wird in Klagen immer wieder vorgebracht, dass die SS-Gesellschaftsschnur die schwarzen Uniformröcke ruiniert, weil das Material - scheinbar Aluminiumzusatz gerade an den schwarzen Röcken einen bleibenden Eindruck hinterlässt und durch noch so fleissiges Bürsten und Reinigen nicht mehr zu beseitigen ist. Vielleicht kannst Du auch auf diesem Gebiet eine andere Lösung finden und dem Reichsführers-SS vorschlagen." 8 Ob das Material der SS-Gesellschaftsschnur seit 1933 dasselbe gewesen ist und dabei schon immer das Fleck-Problem verursachte, geht aus diesen Akten nicht hervor. Die helleren Flecken an den schwarzen Uniformen trugen wahrscheinlich nicht gerade zur Eleganz der SS-Männer bei, solche Überlegungen der SS-Führung relativieren das Bild des tadellos gekleideten SS-Mannes, das das kollektive Gedächtnis - vor allem im Film, aber manchmal auch in historischen Erzählungen - prägt. Da Kostenfragen immer eine große Rolle bei der SS-Uniformausstattung spielten, wurde an einer Verlegenheitslösung für das Problem gearbeitet. Erst im Oktober fanden Pohl und Wolff eine Lösung für das Problem, die darin bestand, alle Alluminiumgespinste mit Zellophan zu überziehen. Weitere Schriftwechsel über das Thema wurden nicht gefunden. Es ist aber vorstellbar, dass ein Zellophanüberzug nicht gerade die symbolische Assoziation mit „Echtheit" forderte oder zur Eleganz der SS-Männer beitrug. Das Risiko, dadurch karnevalistisch zu wirken, hätte das SS-Image beschädigen können. Die SS-Führung bemühte sich trotz Sparsamkeit um ein Eliteimage ihrer Männer und um die entsprechenden Körperbilder - zumindest derjenigen, die eine Repräsentationsfunktion innehatten. Im Briefwechsel des Jahres 1939 zwischen Wolff und Pohl wurde eine intensive Diskussion über die Anschaffung von „Gesellschaftsuniformen" für höhere SS-Mitglieder und für die höheren Führer geführt. Am 23. Mai schlug Wolff vor, einen einmaligen Zuschuss von RM 350.- für die Anschaffung von Repräsentationsuniformen an SSFührer zur Verfugung zu stellen. 9 Nach einer Nachfrage an sämtliche SSOberabschnitte in Deutschland konnte Pohl am 9. Juni keine erfreuliche Botschaft an seine Kollegen senden, denn die Oberabschnitte waren nur teilweise mit dem Zuschuss einverstanden. Es wurde dann versucht, die Kosten der „Gesellschaftsuniformen" - sei es mittels Ersetzung durch billigeres Material oder durch Reduzierung des verwendeten Stoffs - zu senken. Im Oktober 1939 waren RM 90.- für den Gesamtpreis einer Uniform der SS-Reichsführung immer noch zu hoch, und die Frage nach dem Zuschuss keineswegs geklärt. Die SS-Führung musste sich weiter darum bemühen, die Konfektionskos-
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In: BA-Berlin, Dok.: NS 19/1078. Im selben Schreiben wird über die mögliche Herstellung von „SS-Tropen-Uniformen" spekuliert.
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ten der Gesellschaftsuniformen zu reduzieren,10 sie gab jedoch die Idee einer distinguierten Gesellschaftsuniform nicht auf und bemühte sich stark darum, ihre hohen Mitglieder als Bewunderungs- und Begierdeobjekt ins Licht zu rücken. Allerdings eigneten sich die schwarzen Uniformen nicht zum Kampf, und die SSFührer entschieden sich fur praktischere Uniformen für den Kriegseinsatz. Sie ersetzten die schwarze Farbe durch die graue und passten die Uniformen der Kampftruppe „Waffen-SS" den militärischen Zwecken an. In der UFA-Tonwoche vom 22.6.1938 wurden die schwarz Uniformierten bei militärischen Übungen aufgenommen, und der Zuschauer versteht, warum diese eine der wenigen Aufnahmen war. In den UFA-Berichten über die „Sonnenkämpfe der SS" vermitteln die schwarz uniformierten Männer bei den militärischen Kampfubungen eher einen verkrampften Eindruck. Man sieht ungeschickte SS-Männer stolpern, ihre Krawatten flogen andauernd an die Stirn. Während der Übung mussten die SS-Männer ihre Mütze festhalten oder den Uniformkragen gerade richten. Offensichtlich war die schwarze Uniform eine Behinderung beim Exerzieren. Den Männern der „Waffen-SS" wurden diese störenden Accessoires erspart, ihre grauen Uniformen bekamen einen hohen Kragen, wie beim Militär, und die lästige Krawatte wurde auch eliminiert.
9.4. Macht- und Todessymbole der SS 9.4.1. Schwarze
Mehrdeutigkeit
Wie alle Zeichen ist die Farbe Schwarz mehrdeutig, sie bekommt je nach kulturellem Kontext und Nutzung verschiedene symbolische Inhalte, die stark von den betreffenden Zeichenkombinationen abhängen. Eine semiotische Analyse der schwarzen SSUniformen darf sich deswegen nicht nur auf die Farbe konzentrieren, sondern muss das Gesamtbild berücksichtigen. Stoff, Schmuck, Farbkompositionen und Schnitt bilden eine Einheit, die erst im historischen Kontext und in der politischen Verwendung beurteilt werden kann. Denn „Schwarz ist, je nach dem, wie es eingesetzt wird, ein sehr reichhaltiger und mehrdeutiger Code, der Macht ausdrücken kann und Demut, Zurücknahme der eigenen Person und prunkenden Auftritt, Individualität und Uniform, Melancholie und Aggressivität, Unnahbarkeit und erotische Offensive" (Schimmang: 1998, 32-33). In der Tat trägt die Farbe Schwarz in der abendländischen und in der deutschen Kultur feste Symbolgehalte in sich, die dem kollektiven und kulturellen Gedächtnis angehören und das soziale Imaginäre schon vor dem Nationalsozialismus prägten. Zeichen und Symbole haben die Eigenschaft, je nach Kontext unterschiedlich interpretiert zu werden, ohne ihre bekannten Bedeutungsinhalte vollkommen verlieren zu müssen. Bei jeder Wiederverwendung werden sie „zurechtinszeniert", sie können mit neuen Signifikaten überlagert werden, und ihre Bedeutungen können entleert oder stärker pointiert werden. Die Bedeutung von Schwarz gehörte zur SS-Symbolik und wurde je nach politischem Diskurs pointiert oder in den Hintergrund gestellt. Im Folgenden wer-
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In: BA-Berlin, Dok. NS19/1078.
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den die wichtigsten Deutungskomplexe der schwarzen Farbe der SS-Uniform in Bezug auf die politische Symbolik des Nationalsozialismus analysiert. a) Tod und Erneuerung: Schwarz steht zusammen mit Weiß in einer Skala außerhalb des Farbspektrums, oder besser gesagt, in dessen Extremen, denn beide beinhalten alle anderen Farben und können chromatisch sowohl als kalt als auch als warm bezeichnet werden. Ihr symbolisches Verhältnis ist oft komplementär. Die schwarze Farbe besitzt einen „Symbolwert des Absoluten".11 In der Bibel erscheint sie als Vorzustand der Welterschaffung: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde war aber wüst und öde, und Finsternis lag auf der Urflut, und der Geist Gottes schwebte über den 12
Wassern." Schwarz wird als „contre-couleur" begriffen, es wird zum Symbol des Nichts, des Chaos und des Todes, „il est associe aux tenebres primordiales" (Chevalier/Gheerbrant: 1982, 671). Schwarz und Weiß sind auch die Farben der todbringenden Pferde in der Apokalypse, sie verleihen Verurteilung13 und Erneuerung zugleich. In Europa ist seit der Antike Schwarz die Beerdigungsfarbe schlechthin, es symbolisiert Zurückhaltung, Trauer, das Versinken im Dunkeln und auch die Finsternis. In ihrer Nähe zum Tod und zur künftigen Auferstehung bringen Schwarz und Weiß graue Töne zum Ausdruck, die in ähnlichem Kontext stehen, denn Grau ist die Farbe der Asche und symbolisiert den Übergang des Schwarzen zum Weißen und damit zum Neuen. Die NSIdeologie zelebrierte auf der einen Seite den Heldentod als Aufopferung und Reinigung der gesamten Gesellschaft, auf der anderen suchte sie die „Erneuerung" in der Utopie des „Neuen Menschen". Die SS-Ideologie überspitzte diese beiden Aspekte und ihre Überhöhung und Verachtung des Todes, ja sogar die Suche danach, fand ihre Parallelität im Anspruch nach Optimierung der „Menschenproduktion" in der „SS-Sippe". b) Dunkel-Hell-Metaphorik: Die Farbe Schwarz steht auch in Verbindung mit dem Negativen des Todes, mit dem Bösen, und kennzeichnet den „Unterweltherrscher" im christlichen Volksglauben. Auch der Teufel erscheint nicht nur rot, sondern häufig schwarz.14 In den nordischen und germanischen Mythen bekommt Schwarz ebenfalls eine negative Bedeutung, während Weiß positiv konnotiert wird. In der Edda ist die Opposition der guten Lichtelben gegenüber den bösen Schwarzelben (svartälfar) festzustellen. Die weißen Gewänder der germanischen Schicksalskünderinnen bringen Glück, im Gegensatz dazu deuten die schwarzen Gewänder auf den Tod hin. „Bekannt sind die zwei Stiefschwestern im Märchen: die eine ,weiß und schön wie der Tag', die andere ,schwarz wie die Nacht und häßlich wie die Sünde'. Schwarz bezeichnet das, was das Licht des Tages scheut (ζ. B. die schwarze Magie), ist Symbol des Bösen (schwarze Seele)" (Lurker: 1985, 608). Diese Dichotomie schwarz/weiß in der „germanischen" Mythologie wurde auch von der Lebensreformbewegung aufgegriffen und inspirierte um die Jahrhundertwende Autoren wie Heinrich Pudor zur Veröffentlichung von Titeln wie Kampf der Lichtfreunde gegen die Dunkelmänner, in denen ein Lichtkult 11 12
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Vgl. Hans Biedermann: Knaurs Lexikon der Symbole, München 1989, 393-394. Das erste Buch Moses: Genesis, in: Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments, Stuttgart 1980 (Lutherische Übersetzung). In der Genesis steht die schwarze Farbe für Verurteilung. Adam und Eva kleideten sich in Schwarz, als sie aus dem Paradies vertrieben wurden. Vgl.: Hans Biedermann: Knaurs Lexikon der Symbole.
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verkündigt wird. Die SS, die unter anderem von Ariosophie und Lebensreformbewegung beeinflusst wurde, recycelte, wie das Kalenderbild des Jahres 1940 (Abb. 5) verdeutlicht - den Licht- und Sonnenkult in ihrer Gedankenwelt und Symbolik. Das schwarze Korps brachte außerdem zahlreiche Artikel über die symbolische Bedeutung der Sonne und ihren Zusammenhang mit der Gesundheit. Der SS-Lichtkult bildete dabei keine Negation des Todeskultes, vielmehr ergänzten sich Licht und Dunkelheit. Die folgende Illustration „Sie starben für uns" aus Das Schwarze Korps vom 5. März 1936 ist ein deutliches Beispiel der Verwendung der Hell-Dunkel-Symbologie in Bezug auf die Opferbereitschaft der SS (Abb. 14). Auf der linken Seite des Bildes veröffentlichte die Zeitung das Gedicht „Wenn dich die Toten rufen" und darunter die Erzählung „Sie starben für uns". Das Gedicht „Wenn dich die Toten rufen" endet mit der pathetischen Strophe: „Gott, ich weiß, du wirst dich neigen vor den Helden, die erschienen, und du wirst den Kämpfern zeigen: Opfern ist ein größer Dienen!" c) Das klerikale Schwarz: Schwarz eignet sich auch für die Repräsentation christlicher Priester und Mönche. Es versinnbildlicht die Zurücknahme und Einfachheit, denn solange das Material nicht glänzt - wie ζ. B. Leder - blendet der schwarze Stoff nicht. Schwarz angezogen sollen Priester und Mönche Zurückhaltung und Bescheidenheit verkörpern und dabei die Negation der irdischen Eitelkeit und des Prunks demonstrieren.15 Diese Haltung, die sich im klerikalen Schwarzen ausdrückt, prägte ebenfalls die Symbolik der SS-Männer. Ähnlich stellte sich Himmler das asketische Ideal des SSMannes vor, er selbst nannte die Angehörigen der SS „Priester" und eiferte einer SSReligion nach, die eine Transzendenz ermöglichen sollte. Seine Pläne für die Wewelsburg als SS-Weihestätte gingen bis zur Gestaltung von rituellen Räumen.16 Während bei der religiösen Deutung der Farbe Schwarz eher die Distanzierung von irdischen Bedürfnissen im Vordergrund steht, verlagert die SS-Ideologie den symbolischen Gehalt der schwarzen Farbe und ihre asketische Bedeutung auf die Lebensverachtung. Die SSSymbolik knüpft an den schwarzen apokalyptischen Reiter und die Symbolisierung des Todes an. Vor allem in Kombination mit dem Totenkopf wird Schwarz in den Kontext der Überhöhung des Todes gestellt. 9.4.2. Schwarze Farbe und Inszenierung Die schwarzen SS-Uniformen evozierten nicht nur Todesassoziationen, sie gehörten überdies zur Herrschaftssymbolik des Nationalsozialismus. Die Wirkung der schwarzen Farbe auf den Körper ist oft ambivalent. Einerseits erscheint die schwarze Bekleidung als Inszenierung, andererseits verdrängt sie die individuelle Erscheinung des Körpers. „In seiner Kompaktheit und seiner Zurücknahme der Person eignet sich Schwarz hervorragend als Farbe für Uniformierungen [...] Ohnehin ist schwarze Kleidung, in welchem
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Siehe: Hans Biedermann: Knaurs Lexikon der Symbole. Zu esoterischen und religiösen Tendenzen in der SS siehe: Nicholas Goodrick-Clarke: The Occult Roots of Nazism. Secret Aryan Cults and their Influence on Nazi Ideology, New York 1995. Zur Wewelsburg siehe: Karl Hüser: Wewelsburg 1933 bis 1945, Kult und Terrorstätte der SS: eine Dokumentation, Paderborn 1987 und Stuart Russel/Jost W. Schneider: Heinrich Himmlers Burg. Das Weltanschauliche Zentrum der SS, Landshut 1989.
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Sie starben für uns
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