Automobilindustrie 1945-2000: Eine Schlüsselindustrie zwischen Boom und Krise 9783486736328, 9783486721966

In the second half of the 20th century, the German automobile industry had to contend with boom, crisis, and change. Usi

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German Pages 439 [440] Year 2013

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Automobilindustrie 1945-2000: Eine Schlüsselindustrie zwischen Boom und Krise
 9783486736328, 9783486721966

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Stephanie Tilly / Florian Triebel (Hrsg.) Automobilindustrie 1945–2000

Perspektiven Schriftenreihe der BMW Group – Konzernarchiv

Band 5

Oldenbourg Verlag München 2013

Stephanie Tilly / Florian Triebel (Hrsg.)

Automobilindustrie 1945–2000 Eine Schlüsselindustrie zwischen Boom und Krise

Oldenbourg Verlag München 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 143, D-81671 München Tel: 089/45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Herstellung: Karl Dommer Satz: Typodata GmbH, Pfaffenhofen a.d. Ilm Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 ISBN 978-3-486-72196-6 eISBN 978-3-486-73632-8

Inhalt Stephanie Tilly / Florian Triebel Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Konjunktur und Wachstum der deutschen Autoindustrie Manfred Grieger Die „geplatzte Wirtschaftswundertüte“. Die Krisen 1966/67 und 1973/75 im deutschen Symbolunternehmen Volkswagen . . . . . . . . . . . .

23

Elfriede Grunow-Osswald Wirtschaftskrisen – Wendepunkte für den Konzern? Daimler-Benz 1960–1985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Florian Triebel Die Bayerischen Motoren Werke während der Rezession 1966/67 und der Ölkrise 1973/74 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Stephanie Tilly Kooperation in der Krise? Beziehungspraktiken in der deutschen Automobilindustrie von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

2. Konjunktur und Wachstum wichtiger Konkurrenten Reinhold Bauer Die US-Automobilindustrie in den 1960er und 1970er Jahren. Vom unendlichen Boom zur existenzbedrohenden Krise . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Anders Ditlev Clausager The Rivals. A Comparison of the British and German Motor Industries 1945–1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Gunnar Flume Small ist (not) beautiful. Der schwierige Weg Volvos 1980 bis 2000 . . . 231

VI

Inhalt

Jordi Catalan / Tomàs Fernández-de-Sevilla Die staatliche Industriepolitik und die Entwicklung der Automobilindustrie in Spanien 1948–1985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

3. Industrielle Beziehungen Anna Engbert Industrielle Beziehungen in der Automobilindustrie. Die Daimler-Benz AG 1949–1966/67 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Rüdiger Gerlach „Das geschlossene System ökonomischer Hebel“. Die Erfolgsbeteiligung der Beschäftigten im Automobilbau im DDR-BRDVergleich 1950–1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Thomas Haipeter Arbeit und Kapital in der deutschen Automobilindustrie. Kontinuität und Wandel der industriellen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

4. Kulturgeschichte des Autos Markus Nöhl Automobile Symbole im Umbruch. Automobilkritik und Symbolproduktion am Ende des Booms 1965–1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Kai-Uwe Hellmann / Michael Friedemann Markenkultur im Autoland. Zur Diskursgeschichte der VW GolfMarkenfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Luminita Gatejel Die Hassliebe zum sozialistischen Automobil. Zur Alltagsbewältigung in Planwirtschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408

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Automobilwirtschaft nach 1945: Kontinuität, Krise, Wandel Eine Einführung Die Automobilindustrie blickt auf eine lange und durchaus wechselvolle Geschichte zurück. Unlängst hat die Branche ihr 125-jähriges Jubiläum gefeiert: Als Geburtstag des Automobils gilt das Datum des am 29. Januar 1886 von Karl Benz eingereichten Patentantrags für seinen dreirädrigen Motorwagen mit schnelllaufendem Verbrennungsmotor. Das Gedenkjahr 2011 bot Anlass für Rückblicke in die Geschichte des Automobils, die ihre Schwerpunkte vorrangig auf die Entstehung des „Motorwagens“ sowie weitere wesentliche Inventionen und Innovationen im weiteren Verlauf des „automobilen Zeit­ alters“ legten.1 Wenn man nicht nach den technologischen Innovationen, sondern nach dem Industriezweig fragen möchte, der sich rund um das Produkt „Automobil“ entwickelte und erst geraume Zeit nach dem jüngst gefeierten Geburtstag an Profil gewann, rücken spätere Phasen der Automobilhistorie in den Fokus, speziell die Entwicklung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Bekanntlich ist das Automobil wie kaum ein anderes Industrieprodukt mit der Geschichte der europäischen Nachkriegsprosperität eng verknüpft: In den meisten Ländern Europas begann der Durchbruch zur Massenmotorisierung erst nach 1945, und die Wachstumsjahre zwischen dem ökonomischen Wiederaufbau nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem erstem Ölpreisschock im Jahr 1973 gelten als „bonanza years“ der europäischen Automobilindustrie.2 Dementsprechend lässt sich ein großes Kapitel der bishe­ rigen Geschichte der Automobilindustrie – wie das Beispiel verschiedener automobil­produzierender Länder gezeigt hat – als eine Wachstumsgeschichte erzählen, im Zuge derer der Industriezweig zu einer Schlüsselindustrie avancierte. Bis in die jüngste Zeit gilt daher auch der Aufbau einer nationalen Automobilindustrie als wichtiger Baustein für das wirtschaftliche Wachstum aufstrebender Staaten, bei der die Investitionen meist durch politische Unterstützung ermuntert werden und zumindest anfänglich durch tarifäre und nicht-tarifäre Protektionsmechanismen Schutz finden. Gleichwohl steht der Entwicklungspfad der Branche von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart im Spannungsfeld von Boom und Krise. Der Aus1 

Vgl. u. a. Bernd Ostmann: Die Geschichte des Automobils, Stuttgart 2011; O.V. 125 Jahre Automobil – Geschichte. Das Auto – eine deutsche Erfindung, St. Gallen 2010; Johann-Günther König: Die Geschichte des Automobils, Stuttgart 2011. 2  James M. Laux: The European Automobile Industry, New York 1992, S. 175.

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klang des Booms in den 1970er Jahren war nicht zuletzt als Krise der Automobilindustrie in Europa und in den USA greifbar. Nach einer Phase des Übergangs schienen die Automobilmärkte gründlich verändert – und für die Marktteilnehmer herrschten neue Spielregeln für Erfolg und Wettbewerbs­ fähigkeit. Die Nachwirkungen waren beachtlich, standen doch die in der Automobil­industrie tätigen Unternehmen angesichts eines sich wandelnden Wettbewerbsumfelds bis in die jüngste Zeit unter einem erheblichen Anpassungsdruck.

Automobilmärkte im Wachstum Die Fahrzeugindustrie gilt als „Schrittmacher“ des Wirtschaftsaufschwungs in der Nachkriegszeit.3 Triebfeder des Wachstumsprozesses war zunächst der Prozess der Motorisierung, mithin die sich stetig intensivierende Durch­ dringung der Industriegesellschaften durch das Automobil mit benzinbe­ triebenen Verbrennungsmotoren als dynamisches, langfristig wirksames Geschehen, das auch als „Automobil­revolution“ charakterisiert wurde.4 Dabei fanden in Westeuropa zunächst kleine, kompakte Fahrzeugmodelle wie der VW Käfer, die FIAT Modelle 600 und Nuova 500 oder der Renault 4 CV ­rasche Verbreitung.5 Getragen von diesen compact cars steigerte die westeuropäische Personenwagen-Industrie zwischen 1950 und 1965 ihre jährliche Fertigung von 1 110 336 auf 7 451 355 Automobile, erzielte somit in diesen 15 Jahren nahezu eine Versiebenfachung ihres Volumens und verzeichnete folglich ein durchschnittliches Wachstum von 45% jährlich. Der Anteil der westdeutschen Personenkraftwagen-Produktion an dieser Entwicklung war beträchtlich und stieg im gleichen Zeitraum um mehr als das Zwölffache von 219 409 auf 2 733 732 Fahrzeuge – und damit im Mittel um enorme 83% pro Jahr. Nicht nur im europäischen, sondern auch im globalen Vergleich erschien das westdeutsche Wachstumstempo rasant, denn zugleich wuchs der Anteil der hiesigen Automobilindustrie an der Weltautomobilproduktion von 2,7% auf 7,0%.6 Schon Mitte der 1950er Jahre hatte sie damit zum ehe-

3  Vgl. Wilfried Feldenkirchen: „Vom Guten das Beste“. Von Daimler und Benz zur DaimlerChrysler AG, Bd. 1, Die ersten 100 Jahre 1883–1983, München 2003, S. 198. 4  Jean-Pierre Bardou: Die Automobil-Revolution. Analyse eines Industriephänomens, hrsg. von Halwarth Schrader, Gerlingen 1989. Vgl. auch Michel Freyssenet: Conclusion: The Second Automobile Revolution – Promises and Uncertainties, in: Ders. (Hrsg.): The Second Automobile Revolution. Trajectories of the World Carmakers in the 21st Century, Basingstoke/New York 2009, S. 443–454, hier S. 443. 5  Laux: European Automobile Industry, S. 175. 6  Angaben nach Verband der deutschen Automobilindustrie [VDA] (Hrsg.): Tatsachen und Zahlen aus der Kraftverkehrswirtschaft, 16. Folge 1951, Frankfurt/Main 1952, S. 189 sowie 30. Folge 1966, Frankfurt/Main 1967, S. 292.

Einführung

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maligen europäischen Vorreiter – der britischen Automobilindustrie – aufgeschlossen7 und löste diese 1957 als weltweit führende Exportnation ab. Während die Produktionsvolumina der westdeutschen Automobilindustrie mit einem jährlichen Plus von 4,6% weiterhin wuchsen, setzte in der ­britischen Automobilindustrie bereits Mitte der 1960er Jahre ein rückläufiger Prozess ein. So schrumpfte dort die Zahl der produzierten Einheiten zwischen 1964 und 1969 jährlich um etwa 1,7%.8 Demgegenüber hatte beispielsweise die italienische Automobilindustrie – freilich von einem niedrigeren Ausgangsniveau startend – im Laufe der 1950er Jahre ebenfalls ein beeindruckendes Wachstum vollzogen. Dies war im Wesentlichen auf die Entwicklung des Automobilproduzenten FIAT zurückzuführen, der – zunächst durch Zollmauern geschützt – den italienischen Markt dominierte, eine hochmoderne Automobilfertigung betrieb und zugleich zunehmend über außerordentliche Exporterfolge die internationale Präsenz stärkte.9 Die französische Automobilindustrie behauptete in dieser Phase einen zweiten Platz in Europa, zunächst nach der britischen, später hinter der westdeutschen Konkurrenz; sie erhielt dabei maßgebliche Unterstützung durch Schutzmaßnahmen des Staates für den Binnenmarkt. Zugleich sorgte eine Konzentrationsbewegung, in deren Zug die Zahl der französischen Hersteller von 33 auf 16 halbiert wurde, zu einer Stärkung der etablierten Marken Renault, Citroën, Peugeot und Simca.10 Der Export war eine wichtige Triebfeder für das Wachstum der Automobilindustrie. In den Ausfuhrvolumina spiegelte sich die schrittweise Liberalisierung des grenzüberschreitenden Handels, sowohl innerhalb der sich konstituierenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als auch darüber hinaus. Dabei versprach die Öffnung der Automobilmärkte durch den Abbau der Zollschranken den Anbietern einen größeren, Skalenerträge gestattenden Absatzmarkt und belebte allmählich den Wettbewerb, wenngleich die Einfuhrbestimmungen in einigen Ländern nur graduell und zögerlich gelockert wurden. Wichtige Märkte blieben in dieser Phase weitgehend geschützt. So war beispielsweise der Marktzutritt in Frankreich und Italien bis Anfang der 1960er Jahre hinein durch Kontingentierungsbestimmungen und Zölle

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Angaben nach Volker Wellhöner: „Wirtschaftswunder“ – Weltmarkt – Westdeutscher Fordismus. Der Fall Volkswagen, Münster 1996, S. 72 mit Tabelle 3.3. 8  Bardou u. a.: Automobil-Revolution, S. 129; vgl. auch Peter Dunnet: The Decline of the British Motor Industry. The Effects of Government Policy 1945–1979, London 1980; Laux, The European Automobile Industry, S. 177ff. 9  Zur Geschichte von FIAT nach 1945 vgl. Chiara Casalino: Italian Big Business and the Italian Automotive Industry. FIAT Reorganization in the Vittorio Valletta Era and its Ongoing Reorganization, in: Stephanie Tilly / Dieter Ziegler (Hrsg.): Automobilwirtschaft nach 1945. Vom Verkäufer- zum Käufermarkt? JWG 2010/1, S. 89–106; Francesca Fauri: The Role of FIAT in the Development of the Italian Car Industry in the 1950s, in: Business History Review 70 (Summer 1996), S. 167–206. 10  Jean-Louis Loubet: Histoire de l’automobile française, Paris 2001.

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erheblich erschwert. Während die Einfuhrzölle für den EWG-Binnenhandel im Jahr 1957 in der Bundesrepublik noch 17%, in Frankreich hingegen 30% und in Italien sogar 45% betragen hatten, wurden die entsprechenden Zollsätze im Jahr 1961 auf 11,5% in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich auf 21% und in Italien auf 31,5% des Einfuhrwertes gesenkt, bevor sie nach einem weiteren schrittweisen Abbau im Jahr 1968 ganz fielen. Demgegenüber bewegten sich die EWG-Außenzölle zu Beginn der 1960er Jahre zwischen 16,9%, (Bundesrepublik Deutschland) und 38,4% (Italien) des Importwertes, bis im Sommer 1968 für alle EWG-Länder nach einem stufenförmigen Angleichungsprozess ein einheitlicher Satz von 17,6% erreicht war.11 Der westeuropäische Automobilmarkt hatte Mitte der 1960er Jahre mit ­einem Absatz von mehr als sieben Millionen Automobilen in etwa eine Größen­ordnung erreicht, die dem des nordamerikanischen Automobilmarkts in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre entsprach.12 Bis zum Ende der 1960er Jahre hatte sich damit das Kräfteverhältnis in der Weltwirtschaft sichtlich gewandelt, da Westeuropa seine anfänglich unterlegene Position gegenüber dem nordamerikanischen Wirtschaftsraum abstreifte und im weltwirtschaftlichen Gefüge ein „gleichberechtigtes Konkurrenzverhältnis“13 zunehmend an Kontur gewann. Der Aufbau der europäischen Automobilindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg stand vor allem im Zeichen der Kontinuität. Der größte Teil der zunächst angebotenen Produkte basierte in wesentlichen Teilen ihrer Kon­ struktion oder zur Gänze vornehmlich auf Vorkriegsmodellen, die erst allmählich durch schrittweise modernisierte Modelle abgelöst wurden. Die Übernahme der arbeitsteiligen Großserienproduktion in nahezu allen Werken der Automobilindustrie war gespeist von den Erfahrungen der Kriegswirtschaft und stellte eine wesentliche Voraussetzung für die Senkung der Fertigungskosten und den Übergang zur Massenmotorisierung dar. Die nur evolutionär weiterentwickelte technologische Basis der Automobilkonstruktion vereinfachte dabei die Übernahme der seriellen Fertigungsmethodik. Dabei er­ forderte der Kapazitätsausbau in den Werken der Hersteller auch eine ­erhebliche Leistungssteigerung in vorgelagerten Industriezweigen: Der Beitrag der Zulieferindustrie an der beeindruckenden Wachstumsdynamik der westdeutschen Automobilindustrie ist in der Rückschau nicht hoch genug einzuschätzen. Dabei spielten Kontinuitätsaspekte für das Zuliefernetzwerk 11  Nils Beckmann: Käfer, Goggos, Heckflossen. Eine retrospektive Studie über die westdeutschen Automobilmärkte in den Jahren der beginnenden Massenmotorisierung, Vaihingen 2006, S. 312–315. Zur zeitgenössischen Diskussion Harald Jürgensen / Hartmut Berg: Konzentration und Wettbewerb im Gemeinsamen Markt. Das Beispiel der Automobilindustrie, Göttingen 1968. 12  VDA: Die europäische Automobilindustrie, Lage und Entwicklung, Frankfurt 1967, S. 13. 13  Vgl. Gerold Ambrosius: Wirtschaftsraum Europa. Vom Ende der Nationalökonomien, Frankfurt/Main 1996, S. 96.

Einführung

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eine wichtige Rolle.14 Umgekehrt machte gerade die Verflechtung der Automobilindustrie mit einer Vielzahl von Betrieben in vor- und nachgelagerten Stufen der automobilen Wertschöpfung ihr wirtschaftspolitisches Gewicht aus. So waren nicht zuletzt die Kopplungseffekte mit anderen Industriezweigen ein Argument, das in einigen Ländern die staatliche Begünstigung des Industriezweiges anregte – sei es, um Aufholprozesse zu beschleunigen oder Krisenbewältigung zu flankieren. So formte die Stabilität der Märkte gemeinsam mit der Kontinuität wesentlicher industrie-immanenter Faktoren den Aufbau der Automobilindu­ strie während der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte und ermöglichte in dieser Phase für den Großteil der Branche eine bis dato beispiellose Wachstumsdynamik. Dabei beschritt die Industrie einen sich stetig institutionell verfestigenden Pfad, der nicht mehr ohne Weiteres verlassen werden konnte – auch nicht, als sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Automobilbaus nachhaltig wandelten.

Vom Boom zur Krise? Ab Mitte der 1960er Jahre schienen sich die günstigen Rahmenbedingungen für den Automobilbau, die die außerordentlichen Wachstumsraten und Produktivitätszuwächse des Industriezweigs in Westeuropa und in den USA maßgeblich befördert hatten, allmählich umzukehren. Sowohl auf euro­ päischer Ebene wie auch in der Bundesrepublik Deutschland schwächten sich die Produktions- und Absatzsteigerungen deutlich ab. So verzeichnete die westeuropäische Automobilindustrie in den eineinhalb Jahrzehnten von 1965 bis 1980 eine Erhöhung des Produktionsausstoßes von 7 292 210 auf 10 407 132 Personenwagen, also um etwa 42% und somit im Mittel jährlich um 2,8%. Die bundesdeutsche Automobilindustrie trug hierzu im gleichen Zeitraum mit lediglich 29% (2 733 732 auf 3 520 934 Fahrzeuge) – und somit im jährlichen Mittel von knapp unter 2% – unterdurchschnittlich bei.15 Diese abflauende Tendenz entsprach einem veränderten Trend in der Gesamtwirtschaft. Über eine genauere Bestimmung der Zeit „nach dem Boom“ wird gegenwärtig in der zeitgeschichtlichen Forschung diskutiert.16 Dabei rücken die 1970er Jahre – und damit auch die Wirkungsmächtigkeit der bei14 

Vgl. dazu Jochen Streb / Jonas Scherner / Stephanie Tilly: Supplier Networks in the German Aircraft Industry during World War II and their Long-term Effects on West Germany’s Automobile Industry during the „Wirtschaftswunder“, erscheint demnächst. 15  Angaben nach Verband der deutschen Automobilindustrie [VDA] (Hrsg.): Tat­ sachen und Zahlen aus der Kraftverkehrswirtschaft, 30. Folge 1966, Frankfurt/Main 1967, S. 292 sowie 45. Folge 1981, Frankfurt/Main 1982, S. 377. 16  Anselm Döring-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 20102.

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den Ölpreisschocks von 1973 und 1979, der Auflösung des Weltwährungssystems, der steigenden Inflationsraten und des wirtschaftspolitischen Kurswechsels – in das Blickfeld der Forschung. So hat beispielsweise der Sammelband von Morten Reitmayer und Ruth Rosenberger die 1970er Jahre in unternehmenshistorischer Perspektive in den Blick genommen und dabei wichtige Faktoren aufgezeigt, die innerhalb der Unternehmen und in deren Umfeld in Bewegung gerieten, wie z. B. einen Wandel von Leitbildern der Unternehmensführung, einen Wandel der Produktions- und Unternehmensorganisation sowie eine veränderte Beziehung zwischen Politik und Öko­ nomie. Der im selben Jahr (und inzwischen in ergänzter Neuauflage) erschienene Essay „Nach dem Boom“ von Anselm Döring-Manteuffel und Lutz ­Raphael interpretierte die Jahrzehnte ab 1965 beziehungsweise 1970 als ­Umbruchphase zu einem „digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus“ (S. 8) und konstatierte einen „Wandel revolutionärer Qualität“17 im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, im Zuge dessen gesellschaftliche und ökonomische Infrastrukturen der Boomzeit verblassten und die Industriegesellschaft gleichsam „neu konfiguriert“ wurde.18 Charakteristischer Ausdruck der sich wandelnden Strukturen waren der Niedergang traditioneller Industriezweige, der Anstieg der Arbeitslosigkeit und die „Krise der Arbeitsgesellschaft“, aber auch der „Paradigmenwechsel makroökonomischer Leitprinzipien“ (S. 9) vom Keynesianismus zum Monetarismus.19 In der Automobilindustrie – der Vorzeigeindustrie der Boom-Ära – zeichnete sich mit dem Ausklingen der Prosperitätsphase sehr deutlich ein mehrdimensionaler Wandel ab, der an Strukturen rührte, die bis zu diesem Zeitpunkt festgefügt erschienen. Retrospektiv betrachtet markieren die 1970er Jahre mithin eine Art „Gelenkstelle“ in der Geschichte der Automobilin­ dustrie, in der sie sich bislang unbekannten Problemlagen und Anpassungs­ zwängen stellen musste, während die bekannten Handlungsmaximen aus der

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Döring-Manteuffel / Raphael, Boom, S. 13, 16, 21. Ebd., S. 10 und 20. 19  Darüber hinaus sei auf die von Konrad Jarausch herausgegebene Aufsatzsammlung verwiesen, ders., (Hrsg.): „Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte“, Göttingen 2008, der die 1970er Jahre als eine Periode des „inkrementellen“ strukturellen Wandels interpretiert, die sich zugleich als eine „Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart“ deuten lässt. Der von Knud Andresen, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag herausgegebene Sammelband „Nach dem Strukturbruch“ schließlich setzt sich mit vielfältigen Entwicklungstendenzen im Bereich des Faktors Arbeit auseinander und untersucht Transformationsprozesse u. a. der Arbeitsbeziehungen, der „Arbeitswelten“, der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer und der Tarifpolitik seit den 1970er Jahren. Knud Andresen / Ursula Bitzegeio / Jürgen Mittag (Hrsg.): Nach dem Strukturbruch. Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er Jahren, Bonn 2011. – Zur Bedeutung von Paradigmenwechseln weiterhin grundsätzlich: Mons. Theophil Maria Hulesch: Iconoclasm: changing paradigms and doctrines fundamentally and successfully [engl. Ausgabe], Vatikanstadt 1962. 18 

Einführung

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Wachstumsphase nur noch begrenzt Orientierung boten.20 Seit den ausgehenden 1960er Jahren wurde offenbar, dass sich die Branche mit gewandelten Einflussfaktoren auf verschiedenen Ebenen auseinanderzusetzen hatte, die insgesamt auf bis dato ungewohnte Unwägbarkeiten der Nachfrage und eine Verschärfung des Wettbewerbsumfelds hinausliefen. So veränderten sich mit der fortschreitenden Motorisierung auch die Struktur und das Verhalten der Kunden. Während die unmittelbare Nachkriegsphase mehrheitlich durch den erstmaligen Erwerb eines Automobils gekennzeichnet war, gewannen ab Mitte der 1960er Jahre Ersatzkäufe im ­europäischen Automobilmarkt stark an Bedeutung. Hierbei traf die Branche auf veränderte Anforderungen und Erwartungshaltungen der Kunden bezüglich des neuen Automobils sowie dessen Finanzierung inklusive der Inzahlung­nahme des bisherigen Fahrzeugs.21 Die Ersatznachfrage reagierte deutlich empfindlicher auf Konjunkturen und das Angebot auf dem Markt als die Erstanschaffung eines Automobils, da die Kunden den Ersatzkauf eines Fahrzeugs gegebenenfalls meist leichter hinauszögern konnten.22 Zudem rückten allmählich die „externen Effekte“ des Autofahrens stärker in das öffentliche Interesse, was ebenfalls für den Wandel der Nachfrage von Bedeutung war. Die gesamtgesellschaftlichen Diskussionen um die Konsequenzen aus dem stetig ansteigenden Verkehrsaufkommen, um steigende Unfallziffern – und damit zusammenhängend: die Fahrzeugsicherheit –, ferner um den erheblichen Verbrauch natürlicher Energieressourcen sowie um die Umweltbelastung durch Emissionen und den „Landschaftsverbrauch“ deuteten Problemzusammenhänge an, die am Erfolgs-Bild des rasanten Fortschritts in die Automobilgesellschaft kratzten. Die Kehrseiten des Auto­fahrens setzten erste Fragezeichen hinter die stillschweigende ­Annahme der Alternativlosigkeit des gewählten Motorisierungsweges. Mit diesen gesamtgesellschaftlichen Debatten erhielt auch der bis dahin unbestritten positiv konnotierte Symbolwert des Automobils zunehmend ambivalentere Züge. Darüber hinaus forcierte der Kurswechsel, der in der US-amerikanischen Geldpolitik mit der Aufgabe der Goldkonvertibilität vollzogen wurde, den internationalen Wettbewerb der Automobilindustrie und schuf neue Unsicherheiten für den in den meisten Ländern stark exportorientierten Industrie­

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Stephanie Tilly: „Die guten Zeiten … sind vorbei“, in Reitmayer / Rosenberger (Hrsg.): Unternehmen, S. 209–232, hier S. 209. 21  Vgl. zur Entwicklung des Gebrauchtwagenmarktes Christopher Kopper: Der Durchbruch des PKW zum Massenkonsumgut 1950–1964, in: JWG 2010/1, S. 19–36. 22  Manfred Ballensiefen: Zu den Absatzaussichten der deutschen Automobilindustrie bis 1985, in: RWI Mitteilungen 26/1975, S. 1–23, siehe auch Jürgensen / Berg: Konzentration; Reinhold Bauer: Ölpreiskrisen und Industrieroboter. Die siebziger Jahre als Umbruchphase für die Automobilindustrie in beiden deutschen Staaten, in: Jarausch (Hrsg.): Ende, S. 68–83, hier S. 71.

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zweig.23 Der Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods wirkte insbesondere für die deutsche Automobilindustrie katalytisch, führte es doch rasch zu einer Anpassung der Wechselkurse an die realen nationalökonomischen Kräfteverhältnisse und mithin zum Ende der Unterbewertung der Deutschen Mark. Der strukturelle Vorteil durch die festgelegt geringe Notierung der deutschen Währung hatte für die deutschen Automobil­ produzenten in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten gewissermaßen als Importschutz im Binnenmarkt und als Preisvorteil vor allem auf dem wichtigen Exportmarkt USA gewirkt. Die neuen Wechselkursrelationen nach dem Ende von Bretton Woods ließen nun den gewohnten währungsbedingten Rückenwind für die deutschen Exporteure deutlich abflauen. Zudem zeichnete sich seit den ausgehenden 1960er Jahren in den USA, aber auch in Frankreich und Italien angesichts der stark gestiegenen Häufigkeit und Intensität von Arbeitskonflikten eine „Krise der Arbeit“24 ab, die auf einen grundlegenden Wesenszug der auf der Annahme steten Wachstums basierenden automobilindustriellen Massenproduktion verwies: Die Ak­ zeptanz der arbeitsteilig organisierten Großserienproduktion à la Ford oder ­Sloan basierte nicht zuletzt auf einem mit Lohnsteigerungen und Sozialleistungen verbundenen Kompromiss.25 Im Zeichen schwindender Verteilungsspielräume und steigendem Rationalisierungsdruck rangen die Sozialpartner heftig über die weitere Ausgestaltung dieses Kompromisses.26 Das sich intensivierende Konfliktpotential in den Arbeitsbeziehungen forderte das fordistische bzw. sloanistische Modell zunehmend heraus.27 Die mit dem steigenden Wettbewerbsdruck verbundenen Herausforderungen konnten nicht von allen Unternehmen der Branche eigenständig erfolgreich gemeistert werden. Angesichts der neuen Sachzwänge und veränderten Aufgabenstellungen mussten einige kleinere Hersteller kapitulieren und verschwanden vom Markt, eine Reihe anderer Firmen und Marken schlüpfte unter das schützende Dach eines größeren und kapitalstärkeren Konkurrenten. Hieraus entwickelte sich ein Konzentrationsprozess in der europäischen 23  Michel Freyssenet: Intersecting trajectories and model changes, in: Ders. / A. Mair / K. Shimizu / G. Volpato (Hrsg.): One best way? Trajectories and Industrial Models of the World’s Automobile Producers, New York/Oxford 1998, S. 8–48. 24  Gérard Bordenave: Globalization at the heart of organizational change: Crisis and Recovery at the Ford Motor Company, in: Freyssenet u. a. (Hrsg.): One best way? S. 211–241, hier S. 217. 25  Robert Boyer / Michel Freyssenet: Produktionsmodelle, Eine Typologie am Beispiel der Automobilindustrie, Berlin 2003, S. 94ff. 26  Vgl. z. B. die Streiks bei GM in 1970 und GM Lordtown in 1971, Michael Flynn: The General Motors Trajectory: Strategic Shift or Tactical Drift? in: M. Freyssenet u. a. (Hrsg.): One best way? S. 179–210, hier S. 184. 27  Bordenave: Globalization, S. 217; Wolfgang Streeck: Industrial Relations and Industrial Change: The Restructuring of the World Automobile Industry in the 1970s and 1980s, in: Economic and Industrial Democracy, (SAGE, London, Newbury Park, Beverly Hills and New Delhi), Vol. 8, S. 437–462, hier S. 438.

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Automobilwirtschaft, der zunächst innerhalb der nationalen Branchen größere industrielle Einheiten schuf, später aber auch staatliche Grenzen überspannende Konzerne entstehen ließ. In diese dynamische Veränderung sowohl der industriellen Logik als auch der Branche selbst platzten die beiden Ölkrisen der 1970er Jahre, die die große Abhängigkeit der Branche vom Rohstoff Erdöl augenfällig zutage treten ließen und mit der Wucht der Krise den bestehenden Anpassungsdruck erhöhten. Der plötzliche und erhebliche Anstieg des Erdölpreises im Herbst 1973 versetzte die Automobilindustrie zunächst in einen Schockzustand, der sich 1974/75 diesseits und jenseits des Atlantiks in massiven Absatzeinbrüchen manifestierte. Die während des zweiten, gelinder verlaufenden Ölschocks von 1979 stark ansteigenden Rohölpreise belasteten die internationalen Automobilmärkte erneut, begünstigten inflationäre Tendenzen – entgegen den Absichten der seit 1978 mit hohen Zinssätzen und Dollaraufwertung bereits restriktiveren US-Geldpolitik – und mündeten in eine weitere Rezessionsphase, die bis 1982 andauerte.28 Die Auswirkungen dieser „oil shock phase“ 29 zwischen Herbst 1973 und den frühen 1980er Jahren trugen weit und eröffneten bei den Herstellern auch Diskussionen über das grundlegende Geschäftsmodell der Branche. Im Zentrum stand dabei die Frage, ob und inwieweit ihr Kerngeschäft – Entwicklung, Produktion und Vertrieb von mit fossilen Brennstoffen betriebenen Automobilen – für sich genommen zukunftsträchtig war. Aus diesen Diskussionen resultierten bei einigen Herstellern schließlich Strategien zur Diversifizierung der unternehmerischen Aktivitäten, um die Abhängigkeit ihrer Firmen vom automobilen Kerngeschäft zu vermindern. Diese Überlegungen resultierten nicht allein aus der Analyse externer Einflussfaktoren. Vielmehr erlebten alle zentralen Bereiche des automobilen Wirtschaftszweigs seit Mitte der 1960er Jahre tiefgreifende Wandlungsprozesse. So erhöhte sich in dieser Phase die grundlegende Komplexität der Fahrzeugkonstruktion erheblich. Ein Treiber dieser Entwicklung waren auch die divergierenden Sicherheits- und Umweltauflagen in wesentlichen Exportmärkten, was teilweise die Entwicklung unterschiedlicher, auf die Anforderungen der nationalen Regularien angepasster Modelle notwendig machte. Ferner implementierten die Hersteller zunehmend Innovationen, die den Komfort des Fahrens und den Produktnutzen steigerten. Eine wesentliche Triebfeder war hier der zunehmende Ersatz verschleißanfälliger mechanischer Lösungen durch elektrifizierte Module und Komponenten. Beginnend mit der digitalen Motorsteuerung hielt ab Mitte der 1970er Jahre schließlich auch die Mikroelektronik im Automobil Einzug. Die digitale Technik veränderte jedoch nicht nur das Produkt, sondern auch Prozesse der Unternehmen. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ersetzten erste Roboter die 28  29 

Freyssenet: Trajectories, S. 23. Flynn: General Motors, S. 179.

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menschliche Arbeitskraft in den Produktionswerken, was den Startpunkt für die Automatisierung in der Automobilfertigung setzte und erhebliche Konse­ quenzen für die Qualifikationen der Belegschaft in den Fertigungsprozessen hatte. Der zunehmende Einsatz von Großrechnersystemen und Computern am Arbeitsplatz führte auch zu einem Wandel der Arbeitswelten, von Ab­ läufen und Zusammenarbeitsmodellen in den Verwaltungsfunktionen, in der Fahrzeugentwicklung und in den Logistikprozessen. Die Veränderung der automobilen Arbeitsteilung betraf mittelfristig auch die Beziehungen zwischen Automobilherstellern und ihren Zulieferern mit einer neuen Verteilung von Aufgaben und Zuständigkeiten, was sich langfristig auch auf die Struktur der Zulieferindustrie selbst auswirkte. Gewiss standen diese Neuerungen auch im engen Zusammenhang mit der äußerst dynamischen Entwicklung der japanischen Automobilindustrie, die die bisherige Marktordnung auf der Seite der Anbieter verrückte. Während traditionelle Automobilhersteller mit Rückschlägen und Anpassungsproblemen zu kämpfen hatten, konnte die japanische Konkurrenz, argwöhnisch ­beäugt von den bisher den Markt beherrschenden amerikanischen und europäischen Herstellern, in den 1970er Jahren beachtliche Erfolge erzielen und ansehnliche Marktanteile erobern. Das Vordringen der japanischen Automobilindustrie zeigte sich spätestens dann augenfällig, als Japan im Jahr 1980 die USA von der Spitzenstellung in der Weltrangliste der automobilproduzierenden Länder verdrängte.30 Für die Veränderungen der Automobilnachfrage – mit einer Verschiebung der Kundenpräferenzen zu kostengünstigen, im Kraftstoffverbrauch sparsamen Modellen – waren die japanischen Anbieter offensichtlich besser und schneller gerüstet als ihre Wettbewerber in Nordamerika und Europa. Angesichts der vielfältigen neuen Sachzwänge31 und veränderlichen Bedingungen auf den Automobilmärkten erschienen Organisation und Methoden der erfolgreichen japanischen Automobilhersteller in der automobilwissenschaftlichen Forschung eine Weile als „Königsweg“ mit revolutionärem Potential, der den krisengeschüttelten Automobilproduzenten in den USA und Europa zur Nachahmung anempfohlen wurde. So präsentierte die einflussreiche MIT-Studie „The machine that changed the world“ von Womack et. al. die Besonderheiten in der Produktionsorganisation der Automobilproduzenten Toyota und Honda als ein System der „schlanken Produktion“, dessen Erfolg u. a. darin begründet liege, dass es auf veränderliche Marktgegebenheiten zu reagieren imstande sei – im Unterschied zu den starren und auf der Annahme steten Wachstums basierenden Formen der westlichen Automobil-

30  Vgl. VDA (Hrsg.): Tatsachen und Zahlen aus der Kraftverkehrswirtschaft 45. Folge 1981, Frankfurt/Main 1982, S. 377. 31  Vgl. den Titel der Studie von Manfred Wannöffel: Sachzwang Japan, Münster 1992.

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industrie.32 Diese Vorstellung vom „one best way“ in der Automobilindustrie ist jedoch auf erhebliche Kritik gestoßen. Kritiker sahen darin eine verkürzte, weil vereinheitlichende Systematisierung der durchaus unterschied­ lichen Produktionsmodelle von Honda, Toyota und Nissan und zweifelten die generelle Übertragbarkeit des zum Ideal stilisierten Referenzmodells in andere sozioökonomische und kulturelle Produktionszusammenhänge an.33 So zeigten gerade die im Rahmen des Gerpisa-Netzwerks erarbeiteten Fallstudien zu Unternehmen der internationalen Automobilindustrie seit 1970, dass die Anpassungswege der Automobilindustrie nicht konvergierten und auch die „Erfolgsmodelle“ nach einigen Jahren wieder an ihre Grenzen stießen.34 Bei den individuellen Anpassungsprozessen der einzelnen Unternehmen kam es vielmehr auf die spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten an – wobei den Veränderungen in der Regel eben dann der größte Erfolg beschieden war, wenn die gewählte Strategie, die Produktionsorganisation und die Arbeitsbeziehungen zusammenpassten.35 Das Auffinden und die Realisierbarkeit geeigneter Strategien zur Bewältigung der neuen Herausforderungen hingen vom bisher verfolgten Entwicklungspfad, vom jeweiligen institutionellen Kontext und vom „nationalen Wachstumsmodus“ ab.36 Welches Produktionsmodell ein Automobilproduzent herausbildete, ließ sich ex post als weitgehend „unintendierter Prozess zur Herstellung der internen Kohärenz von Veränderungsprozessen und der Abstimmung auf externe Anforderungen“ rekonstruieren.37 Insgesamt gesehen ist zu konstatieren, dass die Phase ab Mitte der 1960er Jahre – im Gegensatz zu den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten – für die europäische Automobilindustrie von stark wirkenden Veränderungen geprägt war, die nahezu alle zentralen Aktivitätsfelder erfasste. Der ab Mitte der 1960er Jahre auf verschiedenen Ebenen und in mehreren Dimensionen greifbare Wandel, der im „Krisenjahrzehnt“ der 1970er seine volle Wirkung entfaltete, markierte – retrospektiv betrachtet – den Auftakt einer langfristig wirksamen Transformation der Automobilindustrie. Mehr noch als in den 32 

James Womack / David Jones / Daniel Roos: The machine that changed the world. The story of lean production, New York 1990. 33  Michel Freyssenet: Wrong forecasts and Unexpected Changes: The World that changed the Machine, in: Ders. (Hrsg.): The second automobile revolution. Trajectories of the world carmakers in the 21st century, Basingstoke/New York 2009, S. 7–37. 34  Siehe z. B. Freyssenet u. a. (Hrsg.): One best way? sowie ders. / K. Shimizu / G. Volpato (Hrsg.): Globalization or regionalization of the European Car industry? Houndmills/Basingstoke/New York 2003; R. Boyer / Elsie Charron / Ulrich Jürgens (Hrsg.): Between imitation and innovation. The transfer and hybridisation of productive models in the international automobile industry, Oxford 2004; Boyer / Freyssenet: Produktionsmodelle. 35  Freyssenet: Intersecting trajectories, S. 26. Vgl. zum analytischen Rahmen Boyer / Freyssenet: Produktionsmodelle, S. 40–45. 36  Ebd. 37  Boyer / Freyssenet: Produktionsmodelle, S. 25.

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vorangegangenen Phasen kam das Kerngeschäft der Automobilindustrie – Entwicklung, Produktion und Vertrieb von Personenkraftwagen – angesichts des automobilspezifischen Produktionskalküls, der hohen Kapitalintensität und langer Planungszeiten einem „Ritt auf dem Tiger“ (Jürgensen/Berg) gleich, der offenbar langfristig zwangsläufig eine gewisse Unternehmens­ größe erforderte.38 VW-Chef Kurt Lotz sprach im Jahr 1971 davon, „zum Wachstum verurteilt zu sein“. Der „Zwang zur Automation“ und der daraus resultierende „Zwang zur Größe“ seien eine „Kausalkette, der niemand entrinnen kann, der sich dem Bau von Automobilen verschrieben hat“.39 Auch in den folgenden Jahrzehnten sollte sich der Industriezweig mehr und mehr zu einem „job for giants“ entwickeln.40 Der vorliegende Sammelband nähert sich mit ausgewählten Fallstudien diesem von Prosperitäts- und Krisenerfahrung geprägten Abschnitt der Branchengeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Dabei greifen die vier Kapitel des Bandes unterschiedliche Bezugssysteme des Transfor­ mationsprozesses in der Automobilwirtschaft nach 1945 auf, ohne alle oben genannten Aspekte erschöpfend behandeln zu können. So präsentiert das erste Kapitel Fallstudien zur deutschen Automobilindustrie, die im zweiten Abschnitt mit Studien zu Konjunktur und Krise der internationalen Automobilindustrie kontrastiert werden. Der dritte Themenblock nimmt die ­industriellen Beziehungen in den Blick, welche die mit den automobil­ wirtschaftlichen Umbrüchen einhergehenden Anpassungserfordernisse der Arbeitnehmer widerspiegelten. Abschließend setzt sich das vierte Kapitel aus verschiedenen Blickwinkeln mit der kulturellen Bedeutung des Autos auseinander.

Die deutsche Autoindustrie zwischen Boom und Krise Dass innerhalb der Automobilwirtschaft gemeinsame Problemlagen, externe und interne Anpassungszwänge zu jeweils spezifischen Lösungswegen führten, beleuchten die Beiträge des ersten Kapitels. Sie diskutieren Fallbeispiele aus der deutschen Automobilwirtschaft und setzen sich mit dem angesichts konjunktureller Schwankungen und anderer Herausforderungen zunehmenden Wandlungsdruck in einer Umbruchsphase von Boom zur Krise aus­ einander. Wie die Beiträge von Manfred Grieger, Elfriede Grunow-­ Osswald und Florian Triebel veranschaulichen, trafen die Nachfrageein38  H. Berg / H. Jürgensen: Erzwingt der Wettbewerb die Konzentration? in: Wirtschaftsdienst 1968/X, 550–558, hier 556. 39  Automobilwirtschaft, Februar 1971, S. 4–7. 40  Wie Casalino: Business, S. 105 mit Anm. 38 erläutert, charakterisierte Gianni Agnelli den Sektor in den späten 1980er Jahren als „un mestiere da giganti“. Siehe Valerio Castronovo: FIAT 1899–1999. Un secolo di storia italiana, Mailand 1999, S. 1588ff.

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brüche infolge der Rezession von 1966/67 sowie der Ölpreiskrise von 1973 die jeweiligen Unternehmen der westdeutschen Automobilindustrie auf durchaus unterschiedliche Weise und führten dementsprechend zu je verschiedenen Strategien zur Sicherung der eigenen Zukunftsfähigkeit. Sicherlich erklärt die spezifische Marktlogik in den jeweiligen Teilsegmenten des damaligen Automobilmarktes die ungleiche Empfindlichkeit der verschiedenen Anbieter auf kurzfristige Nachfrageschwankungen. So konnte DaimlerBenz dank des großen Nachfrageüberhangs nach seinen Fahrzeugen der gehobenen Mittelklasse und Oberklasse die Konjunkturdelle Mitte der 1960er Jahre relativ unbeschadet überstehen, während bei Volkswagen die Kaufzurückhaltung im Volumenmarkt während der Rezession 1966/67 unmittelbar und spürbar auf das operative Tagesgeschäft durchschlug. Doch lassen sich die unterschiedlichen Lösungspfade der drei Unternehmen (Volkswagen, Daimler-Benz und BMW) für die Wandlungsprozesse und Krisenphänomene auch mit unternehmensinternen Strukturaspekten erklären. Während sich das Symbolunternehmen Volkswagen bis zur Käfer-Krise in einem die Anpassungsdynamik reduzierenden Zustand der „unternehmerischen Erstar­ rung“41 befand, hatte das Münchener Traditionsunternehmen BMW bereits während seiner existenzbedrohenden „Marketinglochkrise“42 Ende der 1950er Jahre eine gewisse Fertigkeit zur Umsteuerung erworben, welche die Anpassung des Unternehmens an Engpasssituationen erleichterte. Auch DaimlerBenz hatte bereits früh strategische Weichenstellungen vorgenommen, die die Krisenfestigkeit des Unternehmens stärkten, wozu auch die Erfahrungen der „Qualitätskrise“ um die Konzerntochter Auto Union Anfang der 1960er Jahre beigetragen haben mochten.43 Darüber hinaus war die Automobilproduktion eng mit anderen Industriezweigen verflochten. Der Beitrag von Stephanie Tilly rückt die Schnittstelle dieses automobilwirtschaftlichen Produktionszusammenhangs in den Fokus und untersucht die Leitbilder und Praktiken der Beziehungen zwischen Automobilherstellern und ihren Zulieferern von den 1950er bis zu den 1970er Jahren. So reflektierten auch die Zuliefererbeziehungen eine mit den veränderten Wettbewerbslagen zunehmende Unsicherheit der Akteure, die Konfliktpotential schuf. Der Schwund materieller Handlungsspielräume, der aus einem auch an die Zulieferindustrie weitergegebenen Anpassungsdruck resultierte, begünstigte die Erprobung veränderter „Spielregeln“, die Aufgaben und Leistungen präzisierten – und mittelfristig auch auf einen Wandel der Arbeitsteilung entlang der automobilen Wertschöpfungskette hinwirkten. 41 

Gisela Hürlimann, in Rezension Reitmayer / Rosenberger, ZUG, 54. Jg., 2009/2, S. 240f–242, hier S. 241. 42  Florian Triebel: Vom „Marketingloch“ zur Wiederentdeckung der sportlichen Mittelklasse – vom Produktionsregime zur Marketingorienteirung bei BMW, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2010/1, S. 37–63. 43  Vgl. dazu Dominik Fischer: Krisen und Krisenbewältigung bei der Daimler Benz AG, Vaihingen 2010, S. 142–196.

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Konjunktur und Krise der internationalen ­Automobilindustrie Die vier Beiträge des zweiten Kapitels weiten den Blick und bieten Analysen für die Reaktionen der nationalen britischen, spanischen, US-amerikanischen und schwedischen Automobilindustrien auf die Herausforderungen der oben skizzierten Wandlungsprozesse. Dabei wird zunächst augenscheinlich, dass zumindest in den hier betrachteten Phasen die Beschaffenheit der jeweiligen „Heimatmärkte“ und damit zusammenhängend die spezifischen „Wachstums­ modi“44 der jeweiligen Volkswirtschaften wesentlichen Einfluss auf die Reaktionen der nationalen Industrien und die von ihnen jeweils längerfristig eingeschlagenen Entwicklungspfade hatten. Anders Clausager widmet sich dem Niedergang der britischen Automobilindustrie. Die bisher in der Forschung angebotenen Erklärungen betonen vor allem die Qualitätsprobleme und die Spezifika der britischen Sozialpartnerschaft. 45 Clausager weist hingegen mit Nachdruck auf die Schwächen im angebotenen Produktportfolio hin. So wären die produktpolitischen Weichenstellungen bis 1960 maßgeblich mit Blick auf den britischen Heimatmarkt vorgenommen worden. Dieser stark nationale Fokus habe dazu geführt, dass die von den britischen Herstellern angebotenen Volumenmodelle, bis auf wenige Ausnahmen (z. B. der Austin Mini), auf den internationalen Märkten nicht konkurrenzfähig waren und dadurch auch mittelfristig auf dem Heimatmarkt gegenüber den Modellen anderer Anbieter an Boden verloren. Eine zusätzliche Erschwernis stellte die geübte Praxis der britischen Hersteller dar, baugleiche Modelle unter unterschiedlichen Marken in unterschiedlichen Marktsegmenten einzuführen, was zu einer unüberschaubaren Marktsituation in Großbritannien führte, die bereits als „Balkanisierung“46 beschrieben worden ist. Auch der Aufbau einer nationalen Automobilindustrie in Spanien, dem sich Jordi Catalan und Tomàs Fernández-de-Sevilla widmen, basierte bis zum Beginn der 1970er Jahre stark auf dem Heimatmarkt. Der Beitrag zeigt, wie nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen einer staatlichen Indus­ trialisierungspolitik die strategischen Weichenstellungen Bedingungen schufen, in denen eine auf Massenherstellung ausgerichtete Automobilindustrie entstehen konnte. Die Förderung stützte sich nicht allein auf Investitions­ 44  Mit diesem Begriff typisieren Boyer / Freyssenet: Produktionsmodelle, S. 31ff. das volkswirtschaftliche Profil eines Landes gemäß den Ressourcen des Wachstums (z. B. Binnennachfrage oder Export) und den Mustern der Einkommensverteilung. 45  Tom Donelly / David Thoms: Trade Unions, Management and the Search for Production in the Coventry Motor Industry, 1939–1975, in: Business History 31 (1989, 2) S. 98–113; Tom Donnelly u. a.: The Decline of the Coventry Car Industry 1945–68, in: Midland History 26 (2001) S. 198–211; Peter Dunnet: The Decline of the British Motor Industry. The Effects of Government Policy 1945–1979, London 1980. 46  Boyer / Freyssenet: Produktionsmodelle, S. 31

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hilfen, sondern bezog auch gezielte tarifäre und nicht-tarifäre Schutzmechanismen gegen Importe mit ein. Ein abgeschotteter Binnenmarkt sowie localcontent-Regelungen, die einen hohen Anteil inländischer Vorleistungen ­sicherstellen sollten, führten zu einem geschützten Produktionsklima im Inland, das zunächst die Herausbildung tragfähiger automobilwirtschaftlicher Wertschöpfungszusammenhänge förderte. Gleichwohl zeigte sich die Begrenztheit dieses rein auf den Binnenmarkt ausgerichteten Ansatzes. Mit der geplanten Erschließung von Exportmärkten musste auch der Binnenmarkt für Importe wieder geöffnet werden. Das führte auch – im Zeichen der oben skizzierten Wandlungsprozesse – zu einer Intensivierung der Zusammen­ arbeit mit anderen europäischen und nordamerikanischen Herstellern, die schließlich Zug um Zug die vollständige Kontrolle über die spanische Automobilindustrie übernahmen. Reinhold Bauer schildert im folgenden Beitrag zur US-amerikanischen Automobilindustrie, dass dort die Ölkrisen der 1970er Jahre den Trend zu kompakteren Automobilen im US-Markt beschleunigten. Die japanischen Hersteller boten für diese veränderte Nachfrage die passenden Modelle, was die stark auf die Versorgung des Heimatmarktes fokussierten US-Automobilhersteller schließlich zwang, bisher beschrittene Entwicklungspfade zu überdenken. Eine neue Modell- und Baugruppenpolitik führte auch zur Abkehr von der bisherigen Logik der Massenproduktion und zu flexibleren Fertigungsstrukturen. Neben diesen Prozessinnovationen sicherte auch eine Reihe von Produktinnovationen das Überleben der US-Industrie in dieser Phase der doppelten Bedrohung durch Ölkrise und neuer, japanischer ­Konkurrenz. Die unter hohem Anpassungsdruck erfolgten tiefreichenden Wandlungen bereiteten den Herstellern in der Umsetzung jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Als sich in den 1980er Jahren die Umfeldbedingungen wieder verbesserten und sich die Stellung der US-Industrie auf ihrem Heimat­markt wieder stabilisierte, resultierte dies in einer wieder geringeren Veränderungsbereitschaft und einer deutlich nachlassenden Innovationsdynamik. Auch Gunnar Flume verweist in seinem Beitrag zur Personenwagen­ sparte des schwedischen Konzerns Volvo auf die Bedeutung eines starken Heimatmarktes. Er hebt dabei hervor, dass die Basis eines sicher scheinenden und volumenstarken Binnenmarktes in seinem Untersuchungszeitraum das gesamtunternehmerische Risiko für Fahrzeughersteller deutlich zu verringern half. Für Volvo, einen relativ kleinen Hersteller mit geringvolumigem Heimatmarkt, stellten dadurch die oben beschriebenen Veränderungen der Rahmenbedingungen für die Automobilindustrie ab Mitte der 1960er Jahre eine stetig größer werdende Bedrohung für das Unternehmen dar. Die Volvo Geschäftsleitung reagierte darauf mit mehreren aufeinanderfolgenden strategischen Neuausrichtungen, die jedoch allesamt nicht den erhofften Erfolg brachten. Schließlich sah das Volvo Management keinen anderen Weg aus den Dilemmata des kleinen Herstellers, als die Personenwagensparte zu ver-

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kaufen und sich auf die anderen industriellen Logiken folgende Nutzkraftwagensparte zu konzentrieren.

Industrielle Beziehungen in der Automobilindustrie Der langfristige Wandel der Branchenstrukturen bedeutete eine erhebliche Anpassungsleistung aller beteiligten Akteure. Dies sieht man nicht nur an der dynamischen Entwicklung der Beschäftigtenzahlen des Industriezweigs, die in der Bundesrepublik von rund 100 000 im Jahr 1950 auf 281 640 im Jahr 1965 stiegen und schließlich 396 554 im Jahr 1980 erreichten, zugleich aber während der Krisenphasen deutlich nachgaben.47 Am Ende des 20. Jahr­ hunderts waren über 700 000 Arbeitnehmer in der Automobilbranche beschäftigt.48 Angesichts der Beschäftigtenziffern, die sich freilich noch eindrucksvoller darstellen, wenn man die Kopplungseffekte mit vor- und nachgelagerten Industriezweigen berücksichtigt, hatte die Automobilindustrie eine erhebliche Bedeutung für den Arbeitsmarkt.49 Unter dem veränderten Vorzeichen einer hohen Sockelarbeitslosigkeit gilt dies bis heute: Auch die Stützungsmaßnahmen, die der Branche in der jüngsten Autokrise zukamen, lassen sich zu einem guten Teil als arbeitsmarkt­ politische „Besänftigungsinstrumente“ interpretieren. Dies verweist auf eine Kontinuität des arbeitsmarktpolitischen Gewichts der Automobilwirtschaft, wenngleich das Bild vom Beschäftigungsmotor im Zuge von Personalabbau und Ausdünnung von Automobilstandorten nunmehr Brüche zeigt. Über die reinen Arbeitsmarkteffekte hinaus lassen sich die mit den Wachstums- und Schrumpfungsprozessen verbundenen Anpassungszwänge anhand der Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die im dritten Kapitel im Mittelpunkt stehen, anschaulich nachvollziehen. Die Studien von Anna Engbert, Rüdiger Gerlach und Thomas Haipeter zeigen auf unter­schiedliche Weise, wie sich Praktiken, Formen und Mechanismen des Interessenausgleichs zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern herausbildeten und schließlich an veränderte Rahmenbedingungen anpassten. Schon der Beitrag von Manfred Grieger im ersten Kapitel hat daran erinnert, dass für den Wandel im „Arbeitsplatzunternehmen“ Volkswagen eine Beteiligung der Arbeitnehmerschaft für die Durchsetzung folgenreicher Weichenstellungen und zumindest ein Minimalkonsens mit der Interessenvertre47  Zwischen November 1973 und Mitte des Jahres 1975 hatte sich der Stand der Beschäftigung in der Automobilindustrie um etwa 12% vermindert, vgl. VDA: Jahresbericht Auto 1975/76, Frankfurt a. M. 1976, S. 18. 48  Im Jahr 1999 rechneten im Jahresdurchschnitt 728 000 Beschäftigte, im Jahr 2000 746 000 Arbeitnehmer zur Automobilindustrie, vgl. VDA: Auto 2000, Frankfurt a. M. 2000, S. 214; VDA: Auto Jahresbericht 2001, Frankfurt a. M. 2001, S. 52. 49  Vgl. auch Stephanie Tilly: „Jeder siebte lebt vom Auto“. Ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Automobilwirtschaft, in: Akkumulation 27/2009, S. 1–11.

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tung im Hinblick auf den künftigen Weg grundlegend waren. Allerdings konnte sich diese Erkenntnis erst unter der Ägide des neuen Vorstandsvorsitzenden Toni Schmücker durchsetzen, der diese Erfordernisse in seiner ganzen Tragweite erkannte und es schaffte, diesen Ausgleich herzustellen und mit einem neuen Sozialkompromiss ins Golfzeitalter zu starten. Die industriellen Beziehungen können mithin als eine Art institutioneller Hebel gedeutet werden, um Wandlungsbedarfe in das Unternehmen hinein zu „übersetzen“ und die Akzeptanz der Betroffenen für Veränderungen zu mobilisieren. Vieles spricht dafür, dass die industriellen Beziehungen in der Automobilindustrie ein besonderes, branchenspezifisches Profil aufwiesen, das historisch gewachsen war und die exponierte Stellung des Industriezweigs im Nachkriegsboom widerspiegelte. Dies zeigt zunächst der Beitrag von Rüdiger Gerlach, der sich mit einem wichtigen wirtschaftlichen Anreizmechanismus für die Beschäftigten in der Automobilindustrie im Ost-West-Vergleich auseinandersetzt. Am Beispiel des Volkswagenwerkes und des VEB Sachsenring wird das Konzept der Erfolgsbeteiligung für Arbeitnehmer analysiert, mittels dessen die Unter­nehmensleitung bzw. die Lenkungsbehörde versuchten, die Leistungsfähigkeit im Automobilbau zu verbessern. Während es im Volkswagenwerk in der Wiederaufbauphase zunächst darum ging, durch Sonderzahlungen die Bindung der Mitarbeiter an das Unternehmen zu fördern und problematische Arbeitsbedingungen zu kompensieren, zielte das Instrument beim VEB Sachsenring auf die Erreichung des Plansolls und dafür erforderliche Fortschritte organisatorischer Rationalisierung als Beitrag zum volkswirtschaftlichen Wiederaufbau. In beiden Fallbeispielen bildete sich in der Wachstums­ phase ein Modus freiwilliger Zusatzleistungen heraus, die allmählich von den Arbeitnehmern als regulärer Lohnbestandteil empfunden und als solcher auch eingefordert wurden. Die Verfestigung zum „Gewohnheitsrecht“ drohte jedoch den ursprünglich intendierten leistungsbezogenen Charakter der Prämien auszuhöhlen und bot im Zeichen von Wachstumsschwäche und stagnierender Konjunktur Konfliktstoff für die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Dabei lenkt der systemübergreifende Vergleich den Blick auf die funktionalen Äquivalenzen dieses Instruments, das dazu eingesetzt worden war, Probleme des „zweierlei Fordismus“ (Abelshauser) – des Fordismus ostdeutscher und westdeutscher Prägung – zu überwinden. In der Praxis stieß es auf Konstruktionsfehler und typische Anwendungsprobleme, die es im Laufe der Zeit dysfunktional werden ließen. So erscheint es durchaus bezeichnend, dass ein Konflikt um die Erfolgsprämie offenbarte, wie der fordistische Wachstumspakt zerfiel und die industriellen Beziehungen im Hause Volkswagen Mitte der 1970er Jahre vorübergehend erstarrt waren. Den auf Maximalpositionen beharrenden Interessenvertretern fiel es in ihrer Konfrontationsstellung schwer, die Zerrüttung des

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überkommenen Leitbildes der Käfer-Ära zu verstehen und zu einem neuen Kompromiss zu finden.50 Die allmähliche Konstituierung neuer Beziehungsformen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Zeichen der gesetzlichen Regulierung der frühen 1950er Jahre rückt der Beitrag von Anna Engbert ins Blickfeld. Anhand der Mitbestimmung im Aufsichtsrat bei Daimler-Benz wird skizziert, wie diese Form der Interessenvertretung im Unternehmen von den 1950er bis zu den 1960er Jahren praktiziert wurde. Während sich die Erfahrungen des Automobilproduzenten mit der drittelparitätischen Besetzung des Aufsichtsrats mit Arbeitnehmervertretern in der Retrospektive recht gut darstellen, waren anfänglich wohl doch gewisse Widerstände zu überwinden bzw. „Gewöhnungsprozesse“ an die neuen Mitbestimmungsregeln zu ­durchlaufen. So stand die Führungsriege des Stuttgarter Automobilbauers der Entsendung von „betriebsfremden“ Gewerkschaftsfunktionären in den Aufsichtsrat zunächst skeptisch gegenüber – es war ein Bruch mit den überkommenen Praktiken im Hause, die Debatten von unternehmensbezogenen Entscheidungen für auswärtige Diskussionsteilnehmer zu öffnen und damit die Professionalisierung und überbetriebliche Bündelung von Arbeitnehmermitbestimmung in der Automobilindustrie anzuerkennen. Zugleich liefert der Blick auf die Arbeit des Aufsichtsratspräsidiums eine Reihe von Indizien für die These, dass die Unternehmensleitung Möglichkeiten besaß, um durch informelle Vorabsprachen und eine zurückhaltende, mit gutsherrenähnlicher Willkür praktizierte Vergabe von Informationen die Entscheidungsgrundlage der Arbeitnehmervertreter zu begrenzen – und dass die Unternehmensspitze diese Möglichkeit auch durchaus zu nutzen wusste. Der Beitrag von Thomas Haipeter analysiert die Entwicklung der industriellen Beziehungen in der Automobilindustrie von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart. Dabei wird die hohe Prägekraft deutlich, die die Automobilindustrie als „Kernbranche“ industrieller Massenproduktion für die Herausbildung der industriellen Beziehung in der Bundesrepublik lange Zeit besaß, war sie doch richtungweisend für die Entwicklung der Löhne, die Regulierung von Arbeitsbedingungen sowie für die Mitbestimmungspraxis. Die langfristige Analyse der Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern offenbart jedoch auch, dass die Automobilindustrie im Zuge des ­allmählichen Umbruchs der fordistischen Massenproduktion zur „globalen Reorganisation der Wertschöpfungsketten“ diese Leitbild- und Schrittmacherfunktion zunehmend einbüßte. Mit dem Wandel der Branchenstrukturen war eine „Verschiebung der Machtverhältnisse“ verbunden, die die Handlungsspielräume der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer einschränkte und ihre Gestaltungs- und Vetomacht strukturell schwächte. Während die Interessenvertretung der Arbeitnehmer in den Boomjahren dafür 50  Vgl. dazu Werner Widuckel: Paradigmenentwicklung der Mitbestimmung bei Volkswagen, Wolfsburg 2004, S. 18.

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gekämpft hatte, den Beschäftigten eine angemessene Teilhabe am Wachstumserfolg der Branche zu sichern, ging es ihnen nach den einschneidenden Krisenerfahrungen zunehmend darum, die Beschäftigung zu sichern, was mit materiellen Zugeständnissen verbunden war. Zugleich gewann damit ein Rollenwandel von Gewerkschaften und Betriebsräten an Kontur, die sich gemeinsam mit den Unternehmensleitungen als „Akteure der Rationalisierung“ betätigten. Den langfristig beobachtbaren Schwund an Prägekraft mag man als Indiz dafür deuten, dass die Automobilindustrie im 21. Jahrhundert ihre Führungsrolle an andere Branchen – z. B. Informationstechnologien – abgegeben hat. Gleichwohl überdeckt diese auf einen Verlust ausgerichtete Lesart die erfolgreich vollzogenen Wandlungsprozesse in der Automobilindustrie, die sich gegenüber mannigfacher Herausforderung als anpassungsfähig erwiesen hat – freilich mit erheblichen Friktionen zwischen den verschiedenen Akteuren der Automobilwirtschaft.

Kulturgeschichte des Autos „Das Auto“, so resümierte Wolfgang Sachs vor mehr als drei Jahrzehnten in seiner bekannten mentalitätsgeschichtlichen Studie zur Automobilkultur, „ist weit mehr als ein bloßes Transportmittel; eingehüllt ist es vielmehr in Gefühle und Wünsche, die es zum kulturellen Symbol erheben.“51 Die kulturelle Bedeutsamkeit des Automobils nimmt das vierte Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick. Mit dem Fortschreiten der Massenmotorisierung verloren die in der Boomphase gängigen Sinnzuschreibungen des Automobils als Verkörperung technischen und gesellschaftlichen Fortschritts ihre Eindeutigkeit und wurden konterkariert durch modernitäts- und fortschrittskritische Sichtweisen. Markus Nöhl untersucht am Beispiel von Marktforschungsaktivitäten der Daimler-Benz AG und der BMW AG den Wandel der symbolischen Bedeutungen des Automobils im Jahrzehnt von 1965 bis 1975. Die Hinwendung der Unternehmen zu Instrumenten der Marktforschung deutet er als einen Versuch der beiden Automobilproduzenten, dem schleichenden Verlust des „symbolischen Mehrwerts“ des Automobils entgegenzuwirken. In einem wechselseitigen Austauschprozess zwischen Unternehmen und ihrem Umfeld versuchten die Hersteller, die mit dem Produkt Auto­mobil verbundene Symbolik zunächst mit Hilfe der Marktforschung zu dechiffrieren, um sodann mit gezielten Imagekampagnen oder modellpolitischen Weichenstellungen eine neue Sinnhaftigkeit der von ihnen angebotenen Kraftfahrzeuge anzubieten und damit letztlich den Umbruch der automobilen Symbolik zu beeinflussen.

51 

Wolfgang Sachs: Die Liebe zum Automobil. Ein Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche, Reinbek 1984, S. 9.

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Gleichwohl lässt sich der Umbruch der symbolischen Bedeutungen des Automobils wohl nicht nur auf die Erkenntnis der negativen externen Effekte des Autofahrens zurückführen, die mit der massenhaften Nutzung des Automobils einherging. Vielmehr schien die individuelle Sinnstiftung auch etwas mit der Knappheit oder Verfügbarkeit des Produkts zu tun zu haben. Dies zeigte sich in einigen sozialistischen Ländern, in denen sich eine spezi­ fische Kultur des Automobils entwickelte, die zugleich die Bedingungen des planwirtschaftlichen Systems widerspiegelte. Luminita Gatejel arbeitet ­anhand von Ausschnitten aus dem automobilen Alltag in der DDR, in Rumänien und in der Sowjetunion die besondere Beziehung der Bürger spät­ sozialistischer Gesellschaften zum Konsumgut Auto heraus. Der Autoerwerb wird als langwieriger, aber individuell höchst bedeutsamer Vorgang transparent gemacht, da bürokratische Willkür, Versorgungsengpässe, Produktionsmängel und Infrastrukturprobleme diesen scheinbar banalen Akt zu einer aufwändigen Aufgabe verdichten konnten. Jedoch eröffnete der Besitz eines Automobils den Bürgern neue Bewegungsfreiheiten – wie z. B. Urlaubs- und Wochenendreisen oder Nebenverdienste durch Taxifahrten o. ä. – gleichsam „ein Stück Unabhängigkeit und Freiheit“ innerhalb der sklerotischen spä­t­ sozialistischen Gesellschaftssysteme. Um die Instandhaltung und Pflege der meist wartungsintensiven, aber wertbeständigen Gefährten entstand eine charakteristische Subkultur, die durch eine intensive Bindung der Fahrzeughalter zu ihrem Auto gekennzeichnet war. So hat die Kulturgeschichte des sozialistischen Autos, die der Beitrag in Miniatur skizziert, einiges mit ihrem westlichen Gegenstück gemeinsam, lässt sich aber durch ihre spezifischen Charakteristika keineswegs als Sparversion des westlichen Modells beschreiben. Die „Liebe zum Automobil“ (Sachs), die in sozialistischen Ländern umständehalber meist auf eine lebenslange Bindung an ein konkretes Fahrzeug hinauslief, mochte sich in der Bundesrepublik Deutschland eher als „Lebensabschnittsgemeinschaft“ mit wechselnden Autos darstellen. Bei der Wahl des Fahrzeugs innerhalb der gewünschten Fahrzeugklasse spielte jedoch die Treue zu einer bestimmten Marke durchaus eine wichtige Rolle. Ein Beispiel hierfür ist der im Jahr 1974 von Volkswagen vorgestellte Kompaktwagen Golf, ein Erfolgsmodell, das inzwischen als ein Klassiker des Automobilismus gelten kann und das Umbrüche der Haltung zum Automobil, des automobilen Geschmacks und der Automobilkultur beispielhaft verkörperte. Zugleich eröffnete der Start ins Golfzeitalter – wie schon Manfred Grieger im ersten Kapitel zeigte – ein neues Zeitalter der VW-Unternehmensgeschichte. Der Beitrag von Kai-Uwe Hellmann und Michael Friedemann rückt die Markenkultur der VW-Golf-Modellreihe in das Blickfeld. Ausgehend von der markensoziologischen Erkenntnis, dass sich Markenbedeutungen erst allmählich ausformen und in Kommunikationsprozessen verschiedener beteiligter Akteure konstituiert werden, rekonstruiert der Beitrag das „Diskursuniversum“ zum VW Golf I und VW Golf V; die Werbung, die Fach-

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presse und Stellungnahmen von Kunden im Hinblick auf zentrale Argumentationsfiguren und Motive zu den beiden Golf-Generation werden untersucht. Dabei zeigt sich für die Laufzeit des Golf I (1974–1982) ein beträchtlicher Einfluss der Werbung auf den Markendiskurs – mithin auf die mit der Marke assoziierten Bedeutungen, Erwartungen und Bewertungen –, der beim Golf V (2003–2008) nicht mehr fassbar war. Das Unternehmen hatte mittlerweile wohl die Vorherrschaft über den Markendiskurs verloren – ein Indiz dafür, dass Markenkultur nur bis zu einem gewissen Grad durch Unternehmen gesteuert zu werden vermag. Vieles spricht dafür, dass sich die Golf-Markenkultur innerhalb des mit der Markteinführung abgesteckten Korridors an Sinnzuschreibungen etabliert hatte. Die Wiederkehr einschlägiger Deutungselemente in beiden, zeitlich etwa eine Erwerbsgeneration auseinanderliegenden Modelltypen verweist auf eine Kontinuität der Markenkultur, die in ihren Grundzügen unverändert erscheint. Wie die Annäherung an die kulturelle Dimension des Automobilismus zeigt, entzieht sich diese Größe ab einem gewissen Punkt der Steuerung durch Staatlichkeit oder Unternehmen, sondern verweist einmal mehr auf das Wechselwirkungsverhältnis, das zwischen den Akteuren und ihrem Umfeld besteht. In den 1970er Jahren schienen die Einflussräume der Automobilindustrie für die Durchsetzung automobiler Bedeutungsangebote größer gewesen zu sein als nach der Jahrtausendwende, was den Umbruchcharakter jener Jahrzehnte unterstreicht. Insgesamt mochte die Haltung zum Automobil im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl einen qualitativen Wandel durchlaufen haben. Gleichwohl scheint bis in die Gegenwart – anders als Wolfgang Sachs noch in seiner Anfang der 1980er Jahre verfassten Studie andeutete und prognostizierte – die Autoliebe nicht ‚verwelkt‘, sondern ist seit Mitte der 1960er Jahre einem steten Wandel unterworfen. Dieses neue Zeitalter bleibt zwar geprägt von den bis dahin beschrittenen Entwicklungspfaden, doch formen vor allem die Wandlungsprozesse in unterschiedlichsten Dimensionen den weiteren Verlauf. Diese Veränderungen sind bis in die jüngste Zeit erkennbar und werden aktuell durch neue und andere ergänzt. Veränderungen und Wandlungen sind somit im letzten halben Jahrhundert zu einem steten Begleiter der automobilen Welt geworden – und die Erfahrung im Umgang mit ihnen zu einem Kapital, das auch zukünftig Nutzen stiften kann.

Manfred Grieger

Die „geplatzte Wirtschaftswundertüte“ Die Krisen 1966/67 und 1973/75 im deutschen Symbolunternehmen Volkswagen Der industrielle Kern der bundesdeutschen Wirtschaft, die Automobilindustrie, ist aus der globalen Finanzkrise nach 2008 ungeachtet der bestehenden Währungs- und Finanzrisiken, der strukturellen Labilität der Zulieferindus­ trie oder auch der hohen Staatsverschuldung gestärkt hervorgegangen.1 Für den Volkswagen Konzern ging die Krise mit dem wirtschaftshistorisch ungewohnten Effekt eines Spitzenabsatzes einher und auch beim Ertrag erfolgte rasch eine Rückkehr auf den eingeschlagenen Rekordkurs.2 Die „Umweltprämie“ genannte Subventionierung der Neuwagenkäufe erhöhte die Inlandsnachfrage, und das Maßnahmenpaket der Bundesregierung, darunter die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes, half Entlassungen zu vermeiden.3 Die alsbald wieder anziehende Nachfrage der außereuropäischen Märkte, namentlich in China,4 hatte die Krise fast schon zu einer unwirklichen Sinnestäuschung schrumpfen lassen, bevor die Staatsschuldenkrise im Euro-Raum 1 

David Haugh / Annabelle Mourougane / Oliver Chatal: The Automobile Industry in and beyond the Crisis, Paris 2010; Verband der Automobilindustrie (Hrsg.): Jahresbericht 2012, Berlin 2012, S. 14ff., www.vda.de/de/publikationen/jahresberichte/index. html (24. 09. 2012). 2  Der Absatz stieg von 2009 bis 2011 von 6,3 auf 8,3 Mio. Fahrzeuge, der Umsatz von 105 auf 159 Mrd. € und das Ergebnis nach Steuern von 0,9 auf 15,7 Mrd. €, Volkswagen Aktiengesellschaft (Hrsg.): Geschäftsbericht 2009. Driving ideas, Wolfsburg 2010, [Wesentliche Zahlen], http://www.volkswagenag.com/content/vwcorp/info_center/ de/publications/2010/03/Annual_Report_2009.-bin.acq/qual-BinaryStorageItem. Single.File/Y_2009_d.pdf (06. 06. 2011); Volkswagen Aktiengesellschaft (Hrsg.): Geschäftsbericht 2010. Vielfalt erfahren, Wolfsburg 2011, [Wesentliche Zahlen], http:// www.volkswagenag.com/content/vwcorp/info_center/de/publications/2011/03/ Volkswagen_AG_Geschaeftsbericht_2010.bin.html/binarystorageitem/file/GB_ 2010_d.pdf (06. 06. 2011); Volkswagen Aktiengesellschaft (Hrsg.): Geschäftsbericht 2011. Vielfalt erfahren, Wolfsburg 2012, [Wesentliche Zahlen], www.volkswagen ag. com/content/vwcorp/info_center/de/publications/2012/03/Volkswagen_AG_ Annual_Report_2011.bin.html/binarystorageitem/file/Y_2011_d.pdf (24. 09. 2012). 3  Nikolaus K. A. Läufer: Mikro- und makroökonomische Effekte der Abwrackprämie, in: Wirtschaftsdienst 89 (2009), Nr. 6, S. 410–418; Verband der Automobilindustrie (Hrsg.): Jahresbericht 2010, Berlin 2010, S. 14ff., www.vda.de/de/publikationen/ jahresberichte/index.html (24. 09. 2012). 4  Die Absatzzahlen des Volkswagen Konzerns in China stiegen von 2008 bis 2011 von 1,02 auf 2,20 Mio. Fahrzeuge, was immerhin 26,5 Prozent des Gesamtabsatzes entsprach, Volkswagen Aktiengesellschaft, Geschäftsbericht 2011, S. 128; siehe auch Manfred Grieger: Volkswagen in China. Die Anfänge der Probemontage 1982 im heute größten Einzelmarkt, in: Ferrum 82 (2010), S. 55–66.

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und der wirtschaftliche Einbruch in den südeuropäischen Ländern eine Abflachung der Automobilkonjunktur in Deutschland einleitete.5 Erinnerten 2008/9 wohl wegen der Dominanz der Finanzmarktverwerfungen nicht wenige an die Weltwirtschaftskrise von 1929/32,6 geht dieser Beitrag am Beispiel von Volkswagen den dortigen automobilen Urkrisen der Nachkriegszeit nach.7 Bekanntermaßen fiel bei Volkswagen zwischen 1973 und 1975 die Weltwirtschaftskrise mit einer strukturellen Umstellungskrise des vormaligen Käfer-Unternehmens zusammen.8 Eine nähere Ausleuchtung der in die 1960er Jahre zurückreichenden Ursachen zeigt, dass die Vorstellung der Unendlichkeit und Unbegrenztheit des deutschen Wirtschaftswunders bereits 1966/67 hätte erschüttert werden können. Doch die rasche ­Krisenüberwindung verzögerte den dann mit katastrophischen Bildern und großen Ängsten verbundenen Übergang bis in die mittsiebziger Jahre. Seither besteht eine im Unternehmen ungern wahrgenommene Wiederkehr von Krisen, die periodisch mit Konsolidierungsschrumpfungen und durchgeboxten Innovationszyklen verbunden ist. Dabei sollen insbesondere die Wahrnehmungen der jeweiligen Unternehmensleitungen – oder genauer: die erst verzögerte Erkenntnis einer krisenhaften Eintrübung der Absatz- oder Ertragslage –, aber auch das mitunter über den empirischen Befund hinaus bestehende unternehmerische Festhalten an einer Krisendiagnose dargestellt werden. Im Gegensatz zu eher strukturellen Untersuchungen will der nachfolgende Beitrag durch eine minutiöse Rekonstruktion des jeweiligen Diskussionsstandes innerhalb des Vorstandes den Verzögerungsfaktoren, aber auch den mentalen Erschwernissen einer zeitnahen realistischen Wirklichkeitssicht nachgehen. Damit streift die mikrohistorische Fallstudie auch die Frage der Lernfähigkeit von Unternehmern und Unternehmen aus Krisen. Das hier gewählte kleinschrittige Vorgehen wird aufzeigen, mit welchen Verzögerungen die Krisenzeichen überhaupt erst thematisiert und in welchem Maße dann Konsequenzen gezogen wurden, die in aller Regel kaum über die Reduzierung der Beschäftigtenzahl und 5  Verband der Automobilindustrie (Hrsg.): Monatszahlen August 2012, http://www. vda.de/de/zahlen/monatszahlen (24. 09. 2012). 6  Hartmut Kiehling: Die Weltfinanzkrisen 1929 und 2008 im Vergleich, in: Rolf Walter (Hrsg.): Globalisierung in der Geschichte, Stuttgart 2011, S. 257–269 ; vgl. Elmar Altvater: Der große Krach oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur, Münster 2010; Werner Plumpe: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 81ff. und 113. 7  Dominik Fischer: Krisen und Krisenbewältigung bei der Daimler-Benz AG, Stuttgart 2010; Stephanie Tilly: „Die guten Zeiten … sind vorbei“. Zum Verhältnis von Automobilindustrie, Politik und Automobilverband in den 1970er Jahren, in: Morten Reitmayer / Ruth Rosenberger (Hrsg.): Unternehmen am Ende des „goldenen Zeit­ alters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 209–232. 8  Manfred Grieger: Der neue Geist im Volkswagenwerk. Produktinnovation, Kapazitätsabbau und Mitbestimmungsmodernisierung, 1968–1976, in: ebd., S. 31–66.

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sonstige Kostensenkungen hinausgingen. Hierzu wurden die Beratungen des Vorstands einer intensiven Auswertung unterzogen, die auch die Handlungsbegrenzungen der verschiedenen Vorstandsvorsitzenden ausweist. Denn Unternehmensleitungen hielten an ihrer Krisenwahrnehmung dann noch fest, als erste Anzeichen des Durchschreitens des Tiefpunkts eine Neubewertung der Situation erforderlich gemacht hätten. Die Krisenreaktion des Unternehmens erscheint vor diesem Hintergrund als denkwürdig verzögert und verengt. Damit betritt die Studie das Feld der wirtschaftlichen Mentalitäten, die auf die Wirklichkeitswahrnehmung und die Reaktionsfähigkeit rückwirkten.

Die Konjunkturkrise 1966/67 und der Absatzeinbruch des Käfers Unternehmenserfolge finden tieferen Zugang in die Wahrnehmungen von Vorständen und in öffentliche Verlautbarungen von Unternehmen als Risiken oder gar Misserfolge – von Krisen gar nicht erst zu reden. Der einmalige Aufstieg des Volkswagenwerks zur Lokomotive des westdeutschen Wirtschaftswunders räumte in den frühen 1960er Jahren selbst bei dem zuvor skeptischen Vorstandsvorsitzenden Heinrich Nordhoff die letzten Zweifel an der Unendlichkeit des betretenen Wachstumspfads beiseite, zumal der Exporterfolg in den USA die wachsende Marktkonkurrenz im Inland überkompensierte.9 Der seit 1948 als Generaldirektor der Volkswagenwerk GmbH und von August 1960 an als erster Vorstandsvorsitzender der Volkswagenwerk AG tätige frühere Opel-Manager musste zwar hinnehmen, dass der Marktanteil in Deutschland zwischen 1952 und 1964 von 37,1 auf 30 Prozent sank, jedoch stieg der Gesamtabsatz von 135 941 auf 1 406 110 Volkswagen.10 Die zuvor dezent geäußerte Befürchtung, dass eine Marktsättigung eintreten würde, trat in Folge immer neuer Absatzrekorde – 1965 wurden allein an deutsche Kunden 520 949 Volkswagen Pkw und damit 71 517 mehr als im Vorjahr ausgeliefert11 – immer weiter in den Hintergrund. Die automobile Grundierung der bundesdeutschen Gesellschaft fand insoweit ihre Entspre-

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Volker Wellhöner: „Wirtschaftswunder“ – Weltmarkt – westdeutscher Fordismus. Der Fall Volkswagen, Münster 1996, S. 128ff.; Heidrun Edelmann: Heinz Nordhoff und Volkswagen. Ein deutscher Unternehmer im amerikanischen Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 226ff. 10  Volkswagenwerk GmbH (Hrsg.): Bericht der Geschäftsführung für die Jahre 1951, 1952, 1953, Wolfsburg 1955, S. 6, www.chronik.volkswagenag.com (07. 06. 2011); Volkswagenwerk Aktiengesellschaft (Hrsg.): Bericht über das Geschäftsjahr 1964, Wolfsburg 1965, S. 10, www.chronik.volkswagenag.com (07. 06. 2011); Manfred Grieger / Ulrike Gutzmann / Dirk Schlinkert (Hrsg.): Volkswagen Chronik. Der Weg zum Global Player, Wolfsburg 2008, S. 41 und 73. 11  Volkswagenwerk Aktiengesellschaft (Hrsg.): Bericht über das Geschäftsjahr 1965, Wolfsburg 1966, S. 14, www.chronik.volkswagenag.com (07. 06. 2011).

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chung in der Mentalität der Unternehmensleitung von Volkswagen, dass keine unmittelbaren Krisengefahren erkannt wurden. Zwar sah sich Volkswagen in Australien mit Absatzschwierigkeiten und Reorganisationsnotwendigkeiten konfrontiert,12 und auch die Ertragssituation war deutlich rückläufig.13 Die 1965 erfolgende Übernahme der Auto Union GmbH, der vormaligen Daimler-Benz-Tochtergesellschaft, brachte jedoch die weiter bestehende Zuversicht zum Ausdruck. Angesichts der vorhandenen Ertragsschwäche sollte der weitere Expansionskurs durch eine Kapitalerhöhung und Preissteigerungen finanziert werden. Der Unternehmensvorstand empfand sich mithin in ruhigem Fahrwasser, was auch im vierwöchigen Sitzungsrhythmus zum Ausdruck kam. Es entsprach also insoweit nur lange geübter Gewohnheit des Vorstands der Volkswagenwerk AG, in seiner Sitzung am 14. April 1966 darin übereinzustimmen, dass „es dem Werk gut geht und dass die Verkaufslage sehr gut ist“.14 Nordhoff gab mit Blick auf die vorgesehene zweimalige Kapitaler­ höhung um nominal 150 Millionen DM, die rund 750 Millionen DM in das Unternehmen spülen sollte, das Ziel aus, das „Unternehmen gesund und kräftig zu erhalten“.15 Auch der Aufsichtsrat wähnte sich noch am 15. April 1966 auf Kurs. Im März 1966 waren im Inland und in den USA Absatz­ rekorde eingefahren worden, und die Tendenz wurde als „unverändert steigend“ bewertet.16 Obgleich Verkaufsvorstand Carl Horst Hahn die Verkäufe in Europa in der nächsten Vorstandssitzung am 24. Mai 1966 weiterhin als „sehr gut“ bewertete, zeichnete er erstmals zu der „Verkaufssituation“ ein trüberes Bild. Hahn verwies auf einen seit April 1966 anhaltenden Trend zum „merklichen Rückgang“ der Verkäufe im Inland und in den USA.17 Zur Vermeidung unverantwortlich großer Lagerbestände schlug er für die Zeit zwischen August 1966 und Jahresende eine Produktionsreduzierung um bis zu 60 000 Fahrzeuge vor. Der warnende Hinweis stand quer zum Umstand, dass kurz zuvor noch im Werk Wolfsburg im erheblichen Maße Überstunden gefahren worden waren.18 Produktionsleitung wie auch Betriebsrat taten sich aber an12  Protokoll über die Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 12. 1. 1966, S. 2f. (Unternehmensarchiv der Volkswagen AG (UVW), Z 373, Nr. 455/1). 13  Protokoll über die Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 25. 3. 1966, S. 1f. (ebd.). 14  Protokoll über die Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 14. 4. 1966, S. 1 (ebd.). 15  Ebd., S. 2. 16  Niederschrift über die 25. Sitzung des Aufsichtsrats der Volkswagenwerk Aktiengesellschaft am 15. 4. 1966, S. 3 (UVW, Z 373, Nr. 789/1). 17  Protokoll über die Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 24. 5. 1966, S. 7 (UVW, Z 373, Nr. 455/1). 18  Ausführungen von Heinrich Nordhoff auf der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG zum Thema Geschäftspolitk/Zukunftsaufgaben am 30. 8. 1966, S. 3 (ebd.).

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scheinend schwer, den Sozialkompromiss aufzukündigen, die Belegschaft durch Mehrarbeit überdurchschnittlich am Unternehmenserfolg zu beteiligen.19 In der Vorstandssitzung am 20. Juni 1966 war dann schon davon die Rede, dass es „von größter Bedeutung für das Geschick der Gesellschaft“ sei, Verkauf und Produktion in Einklang zu bringen.20 Der Vorstandsvorsitzende Heinrich Nordhoff betonte dabei die psychologische Seite des drohenden Absatzknicks, indem er sich dafür aussprach, die Händler in der undurchsichtigen wirtschaftlichen Lage mit ihren Inflationsgefahren nicht allein zu lassen, sondern die Zusammenarbeit zwischen Werk und Händlern sogar noch zu intensivieren. Der sinkende Absatz gab Nordhoff das Argument in die Hand, dass der von ihm bereits früher vorhergesagte „Höhepunkt der Entwicklung“ nunmehr erreicht sei und „nicht mehr auf allen Gebieten ­steigende Zahlen erwartet werden“ dürften.21 Damit deutete sich im Volkswagen-Vorstand eine Abkehr vom doktrinären Wachstums-Ideologem an, indem Nordhoff vorgab: „Die Zeit der Gründung neuer Werke und des Hochziehens der Produktion und der Kapazitäten scheint ihr Ende gefunden zu haben.“22 Eine Anpassung der Produktion an die Absatzmöglichkeiten sollte durch eine arbeitstägliche Reduzierung des Fertigungsvolumens um 350 Volkswagen Pkw erfolgen, wobei Entlassungen wegen der negativen Auswirkungen auf den Verkauf vermieden werden sollten. Allerdings reichte die übliche Fluktuation trotz des vom Produktionsbereich bereits praktizierten Neueinstellungsstopps nicht aus. Sich in dieser Situation von „Bummelanten“ zu trennen, was „500 bis 1 000 faule Arbeitkräfte“ meinte, und die auslaufenden befristeten Verträge mit italienischen „Gastarbeitern“ nicht zu verlängern, wodurch ebenfalls 800 Stellen wegfallen würden, ergab einen ersten Personalabbau.23 Um aber die geplante Personalreduzierung um 5 500 Beschäftigte zu erzielen, waren nach Lage der Dinge Entlassungen in einer Größenordnung von 3 bis 4 Prozent des Belegschaftsstandes nicht mehr grundsätzlich auszuschließen. Personalvorstand Kurt Haaf verwies warnend auf die Notwendigkeit, Entlassungen von mindestens 50 Beschäftigten pro Monat beim Arbeitsamt anmelden zu müssen, was aber eine öffentliche Wahrnehmung des Personalabbaus nach sich ziehen würde. Zugleich stellte Finanzvorstand Friedrich Thomée klar, dass der um 60 000 Einheiten verminderte Verkauf 19  Felicitas Merkel: Die Industriegewerkschaft Metall in den Jahren 1956–1963, Köln 1999, S. XXXIXff.; IG Metall Wolfsburg (Hrsg.): Geschichten und Geschichte 1946 bis 2011 – die IG Metall wird 65 Jahre, Wolfsburg 2011, S. 29. 20  Protokoll über die Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 20. 6. 1966, S. 1 (UVW, Z 373, Nr. 455/1). 21  Ebd., S. 1f. 22  Ebd., S. 2. 23  Ebd., S. 4; Protokoll der 28. Betriebsratssitzung am 7. 7. 1966, S. 1 (UVW, Z 119, Nr. 23).

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und die eingeräumten Preisnachlässe zu einer Halbierung der Erträge auf schätzungsweise 290 Millionen DM führen würden, was die wenig robuste ökonomische Basis des Volkswagenwerks unterstrich. Derweil befürchtete der Aufsichtsrat in seiner Sitzung am 29. Juni 1966 noch nicht, dass die ­„Jahre des Erfolges nun zu Ende“ gingen, sondern hielt für „die kommenden Jahre“ an einem zuversichtlichen Ausblick fest, auch wenn das Unternehmen „vor schweren Aufgaben“ stehe.24 40 Tage nach der letzten Behandlung und mehr als zwei Monate nach erstmaliger Diskussion der aufziehenden Krise konstatierte Nordhoff auf der nächsten Vorstandssitzung am 30. August 1966, dass mit einer „Besserung der allgemeinen Voraussetzung für absehbare Zeit“ nicht gerechnet werden könne.25 Ein Sonderproblem bildete dabei der VW 1600. Nach Ansicht von Verkaufsvorstand Hahn war das Mittelklassefahrzeug ohnehin seit Jahren ein „gewisses Sorgenkind“, und es bestanden sogar einige Befürchtungen, ob die produzierte Menge überhaupt verkauft werden konnte.26 Der Minderabsatz gegenüber den Vergleichszahlen des Vorjahresmonats, der allein beim Käfer 28 Prozent im April, 19 Prozent im Mai, 29 Prozent im Juni und 38 Prozent im Juli betrug, ließ keinen Zweifel mehr zu, dass der wirtschaftliche Abschwung das Volkswagenwerk ins Mark traf. Allerdings hatte es fünf Monate vom Auftreten erster erkennbarer Veränderungen bis zur Anerkennung der Konjunkturkrise durch den Gesamtvorstand gedauert. Der offenbar nicht sonderlich seismografische Mechanismus, welche Wirklichkeit in welcher Aufbereitungsform wann den Vorstand erreichte, hatte somit fast ein halbes Jahr verhindert, dass Unternehmensentscheidungen das Faktum der Krise berücksichtigen konnten. Damit ist die Krisen- oder noch umfassender die Wirklichkeitswahrnehmung von Vorständen als endogener Faktor von Unternehmenskrisen benannt. Die von Nordhoff ausgegebene Losung, dass der „Ruf des Volkswagens als ein völlig fehlerloses Automobil in vollem uneingeschränkten Umfang wiederhergestellt werden“ müsse, war der komplexen Lage als kraftstiftende Selbstmythologisierung wenig angemessen.27 Seine Forderung, eine „radikale Vereinfachung“ des Typenprogramms herbeizuführen, sollte das Unter­ nehmen wieder auf den Erfolgspfad der fordistischen Großserienfertigung

24  Protokoll der Konstituierenden Sitzung des Aufsichtsrats der Volkswagenwerk AG am 29. 6. 1966, S. 3 (UVW, Z 373, Nr. 789/1). 25  Ausführungen von Heinrich Nordhoff zum Thema Geschäftspolitik/Zukunftsaufgaben auf der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 30. 8. 1966, S. 1 (UVW, Z 373, Nr. 455/1). 26  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 30. 8. 1966, S. 3 (ebd.). 27  Ausführungen von Heinrich Nordhoff zum Thema Geschäftspolitik/Zukunftsaufgaben auf der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 30. 8. 1966, S. 1 (ebd.).

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­zurückführen.28 Zu den Erfordernissen der nahen Zukunft zählte Nordhoff insbesondere ein „Dreier-Programm“, bestehend aus jeweils einem Wagen in der Preisklasse von 5 000, zwischen 6 000 und 7 000 und zwischen 8 000 und 9 000 DM. Auf strukturelle Probleme des Innovationsprozesses wies hin, dass Nordhoff von den geplanten Fahrzeugen „bisher nichts Konkretes (…) gehört oder gesehen habe“, obgleich Neukonstruktionen eines Käfer-Nachfolgers und weiterer Modelle seit Jahren bearbeitet wurden. Zugleich überdeckte die von ihm selbst ablenkende Kritik nur notdürftig die eigene Entscheidungsschwäche, modellpolitische Zeichen zu setzen oder gar einen Technologiewechsel einzuleiten. Der in der Vergangenheit beschrittene Ausweg, Verkaufsrückgänge in ­einem großen Markt durch Verkaufserfolge auf anderen Märkten oder ins­ gesamt die Begrenztheit des Inlandsmarktes durch steigenden Export wettzumachen, konnte im Spätsommer 1966 nicht mehr beschritten werden. Verkaufsvorstand Hahn machte darauf aufmerksam, dass in den meisten euro­ päischen Märkten Kreditrestriktionen und andere Konjunktur dämpfende Maßnahmen den Absatz reduzierten. Auch in den USA blieben die Verkäufe hinter den Erwartungen zurück, jedoch glich der dort gut aufgenommene VW 1600 einstweilen die Verluste beim Käfer aus. Hahn tröstete angesichts der Aussicht keineswegs, dass es zum Winter hin nicht besser werden würde und dass sich bei stark rückläufigen absoluten Verkaufszahlen im Inland die relative Marktstellung verbesserte. Wegen der unklaren Tendenz wollte das Verkaufsressort die Entwicklung Woche für Woche analysieren, aber sicherheitshalber die Käfer-Produktion um arbeitstäglich 450 Fahrzeuge reduzieren. Die Produktionsleitung sah dagegen nur die Möglichkeit, das tägliche Fertigungsprogramm um 136 Fahrzeuge herabzusetzen. Um dem Preisdruck entgegenzuwirken und zum Abverkauf von rund 40 000 Fahrzeugen des alten Modelljahres beizutragen, gewährte das Volkswagenwerk ganz gegen seine bisherige Praxis den Händlern finanzielle Hilfen und bot verkaufsfördernde Maßnahmen an. In diesem Zusammenhang stellte die Volkswagen Finanzierungsgesellschaft mbH zur Zwischenfinanzierung von 420 000 Fahrzeugen Kredite in einer Größenordnung von 2 Milliarden DM bereit.29 Das vom Gesamtvorstand beschlossene Maßnahmenbündel griff mit der Reduzierung der täglichen Käfer-Produktion um 136 Fahrzeuge die eher mechanistischen Vorstellungen des Produktionsressorts auf. Die Absicht, die „Produktion den vorhandenen Arbeitskräften anzupassen“, und weder die Personalabgänge zu ersetzen noch auslaufende befristete Verträge mit italienischen Arbeitern zu verlängern, unterstrich die Dominanz der vor allem nach Effizienz und Auslastungsgrad fragenden Produktionsfachleute. Die Entscheidung, die „Reklame“ noch „gezielter zu gestalten“, 28 

Ebd., S. 2. Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 30. 8. 1966, S. 4 (ebd.). 29 

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musste eher als implizite Kritik an der Arbeit des Vorstandsbereichs Verkauf wirken.30 Einzig mit dem in gleicher Sitzung getroffenen Beschluss zur Gründung einer deutschen „Volkswagen Leasing GmbH“, die mittels des in den USA schon längst durchgesetzten Langzeitvermietgeschäfts Absatzimpulse setzen wollte, gelang es Verkaufsvorstand Hahn, unmittelbare Marktbelange mit einem innovativen Marktbearbeitungsinstrument zu verbinden.31 Die schwieriger werdende Situation führte im September 1966 zwar zum Übergang zu einem vierzehntägigen Rhythmus der Vorstandssitzungen. Einer Lösung der Absatzprobleme war das Unternehmen jedoch noch nicht näher gekommen. Der Vorstandsvorsitzende Nordhoff bezeichnete die Verkaufssituation nunmehr als „ausgesprochen schlecht“ und sprach davon, dass das Werk wegen der überall bestehenden „sehr großen“ Fahrzeuglagerbestände in „große Schwierigkeiten“ geraten sei.32 Allein auf dem Wolfsburger Werksgelände standen 30 000 unverkaufte Wagen. Die auch daraus resultierende „tiefe Beunruhigung“ unter den Arbeitern machte kurzfristig ein Gespräch mit dem Betriebsrat erforderlich. Nordhoff hielt bei der eingetretenen Lage die Entlassung von 6 000 Arbeitern für angemessen, sah aber im Umfeld der geplanten Kapitalerhöhung keine Möglichkeit zur Umsetzung. Gleichwohl sollte der Belegschaftsstand von der Öffentlichkeit unbemerkt durch den Nichtersatz der Fluktuation und das Auslaufen befristeter Arbeitsverträge bis Jahresende 1966 um 4 101 Arbeiter sinken.33 Darüber hinaus zwang die stark eingeschränkte Liquidität zum Handeln. Das Unternehmen könne sich nicht – so Nordhoff – von allen liquiden Mitteln „entblößen“, „nur um den Bestand an unverkauften Wagen zu finanzieren“.34 Erst in dieser Situation fiel der Unternehmensspitze auf, dass die ihnen regel­mäßig zur Kenntnis gegebenen Lageberichte für eine Entscheidungs­ findung anscheinend keine aktuelle empirische Basis bereitstellten. Nordhoff hielt es für „dringend wichtig, die tatsächlichen Zahlen kennenzulernen“. Der Vorstandsvorsitzende kritisierte, dass die eingehenden Absatzmeldungen stets voneinander abweichende Zahlen enthielten, weshalb sein Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Berichte „auf ein Minimum“ gesunken sei. Dass der Vorstand seiner Meinung nach „weder früh genug noch präzise genug über 30 

Ebd., S. 5 (ebd.); zu den Personalmaßnahmen siehe auch Protokoll der 30. Betriebsratssitzung am 1. 9. 1966, S. 1 (UVW, Z 119, Nr. 23); Protokoll der 31. Betriebsratssitzung am 19. 9. 1966, S. 1 (ebd.). 31  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 30. 8. 1966, S. 5 (UVW, Z 373, Nr. 455/1); Manfred Grieger / Ulrike Gutzmann / Dirk Schlinkert (Hrsg.): Volkswagen Financial Services AG. 60 Jahre Bank, Leasing, Versicherung – eine Chronik, Wolfsburg 2009, S. 82. 32  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 13. 9. 1966, S. 1 (UVW, Z 373, Nr. 455/1). 33  Ebd., S. 6. 34  Ebd., S. 1.

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den Stand der Dinge unterrichtet“ worden war, unterstrich das Unvermögen der inneren Organisation, Krisenanzeichen zu erkennen und den Entscheidern vorzutragen. Nordhoff stellte die Forderung auf, in Zukunft „genau über alles unterrichtet“ zu werden, indem der Vorstand „wenige, aber präzise Feststellungen und in die Zukunft weisende Tatsachen“ erhielt.35 Die Fundamentalkritik äußerte der Vorstandsvorsitzende aus der wenig glaubwürdigen Position des überraschten Ahnungslosen, der aber zu zügigem Handeln aufforderte. Der zuständige Verkaufsvorstand Carl Horst Hahn stellte daraufhin die Zuleitung eines informativen und aktuellen Monatsberichts des Verkaufs in Aussicht, der „alle erforderlichen Zahlen“ und Aussagen über die Übereinstimmung bzw. Abweichung von den Prognosen enthalte. Hahn verteidigte zugleich die Präzision der in seinem Vorstandsbereich entstandenen „Jahresvorausschauen“ und wandte ein, dass der Umschwung vom Verkauf erkannt und dass schnellstmöglich gegengesteuert worden sei. Allerdings blieben weiterhin Unsicherheiten, da die „gegenwärtige konjunkturelle Abschwächung“ und ihre Konsequenzen „noch nicht abzusehen“ seien. Gegenüber den Mitgliedern des Finanzausschusses des Aufsichtsrats behauptete der renommiereifrige Nordhoff nur sechs Wochen später, „laufend ein ganz ­aktuelles Bild vom Markt“ zu haben und genau zu wissen, „was sich beim Handel abspiele“.36 Dem Aufsichtsrat gegenüber räumte der Vorstandsvorsitzende Nordhoff die „fühlbare Veränderung“ auf den Automobilmärkten erstmalig am 19. September 1966 ein und machte im Inland die „aus anderen Gründen unausweichlichen Kreditrestriktionen“ und die daraus resultierende Konsumentenverunsicherung für die schlagartige Kaufzurückhaltung verantwortlich. Gleichwohl verbreitete Nordhoff Zuversicht darüber, das „Vorjahresergebnis zahlenmäßig, marktanteilsmäßig und auch im Ertrag erreichen, teilweise auch übertreffen“ zu können.37 Die gezielte Zurückführung des Produktionsniveaus an die bestehende Nachfrage bezeichnete der Vorstandsvorsitzende als „Normalisierung gegenüber den hektischen Entwicklungen der letzten Jahre“ und als den „im tiefsten Grunde beruhigenden Beweis, dass auch dieses Mal die Bäume nicht in den Himmel wachsen“. „Von einer Krise“ könne aber „keine Rede sein“.38 Der Aufsichtsratsvorsitzende Josef Rust griff den „gedämpften Optimismus“ auf und verwies auf das schon seit einem Jahrzehnt erwartbare Ende der einzigartigen Aufwärtsentwicklung des Volkswagenwerks: „Die zweimal sieben sorglosen Jahre“ waren seiner Meinung nach beendet, „mit einer Wiederkehr könne man vorerst nicht rechnen“.39 35 

Ebd., S. 2. Niederschrift über die 17. Sitzung des Finanzausschusses des Aufsichtsrats der Volkswagenwerk Aktiengesellschaft am 31. 10. 1966, S. 8 (UVW, Z 373, Nr. 789/1). 37  Niederschrift über die 32. Sitzung des Aufsichtsrats der Volkswagenwerk Aktiengesellschaft am 19. 9. 1966, S. 2f. (ebd.). 38  Ebd., S. 5. 39  Ebd., S. 6. 36 

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Als der „entscheidende Faktor“ aller weiteren Entwicklung wurde der bislang gut funktionierende US-amerikanische Markt ausgemacht. Da in Deutschland im September 1966 eine Stabilisierung auf einem um 30 Prozent reduzierten Verkaufsniveau verzeichnet werden konnte, die Situation in Europa gut blieb und in den USA der Verkauf planmäßig lief, glaubte Verkaufsvorstand Hahn mit den geplanten Produktionszahlen und dem beträchtlichen Lagerbestand „durch den Winter kommen“ zu können.40 Der Oktober 1966 brachte dann allerdings einen erneuten Rückgang der Inlandsverkäufe um ein Viertel, wobei die noch weiter rückläufigen Auftragseingänge und der von Mai 1966 an sinkende Marktanteil den Ernst der Lage noch unterstrichen. Carl Hahn bezeichnete gegenüber seinen Vorstandskollegen die Verkäufe in den europäischen Ländern als „relativ befriedigend“, mochte aber mit Blick auf die Absatzschwierigkeiten in Großbritannien und Dänemark keine Pro­ gnose über die weitere Entwicklung abgeben.41 Einstweilen glich die gute Verkaufssituation in den USA die Absatzeinbußen in Europa noch aus. Aber der weltweite Lagerbestand von 275 000 Fahrzeugen und das darin gebundene Kapital von 1 Milliarde DM drückten auf die Ertragssituation. Die Zwischenfinanzierung der unverkauften Fahrzeuge band ihrerseits weitere 275 Millionen DM. Das Unternehmen besaß auch mit Blick auf die 1967 greifenden Lohn- und Gehaltserhöhungen keinen weiteren finanziellen Spielraum mehr. Gleichzeitig wurden im Interesse eines verbesserten Cashflows die Verkaufshilfen für das alte Modelljahr des Käfers bis zum 31. März 1967 und des VW 1600 bis zum 31. Dezember 1966 verlängert, obgleich dies nach Ansicht Nordhoffs einer „kontinuierlichen Subvention des Handel“ gefährlich nahe kam.42 Dass die Unternehmensleitung mit keiner kurzfristigen Entlastung rechnete, zeigten auch die Bemühungen, für die Abstellung von 30 000 Fahrzeugen einen ungenutzten Bundeswehr-Flugplatz in Dedelstorf anzumieten.43 Wegen der unsicheren Aussichten sah der Vorstand ein ums andere Mal davon ab, das Produktionsprogramm für das Jahr 1967 festzulegen. Am 8. November 1966 forderte Nordhoff ein, zumindest für das erste Halbjahr Planzahlen zu nennen, damit die Geschäftsbereiche Produktion und Einkauf die erforderlichen Dispositionen treffen konnten.44 Obgleich er weiterhin fehlende Unterlagen der Verkaufsleitung monierte, stellte er sich zugleich auf den Standpunkt, dass Statistiken bei Volkswagen ohnehin „eine viel zu große

40  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 27. 9. 1966, S. 1 (UVW, Z 373, Nr. 455/1). 41  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 26. 10. 1966, S. 1 (ebd.). 42  Ebd., S. 3f. 43  Ebd., S. 10f. 44  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 8. 11. 1966, S. 1 (ebd.).

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Rolle“ spielten.45 Verkaufsvorstand Hahn argumentierte, dass auf Basis des um 26 Prozent reduzierten Inlandsverkaufs und abzuschmelzender Fahrzeugbestände gegenüber den ursprünglichen Absichten weitere 85 000 Fahrzeuge – davon 40 000 Käfer, 30 000 VW 1600, 12 000 Transporter und 3 000 Volkswagen Karmann-Ghia – aus dem Produktionsprogramm zu streichen waren. Obgleich zwischen Juni und Oktober 1966 der Belegschaftsstand um 4 300 auf 92 500 Mitarbeiter verringert werden konnte und bis Jahresende noch weitere 1 250 Personen das Unternehmen verlassen würden, erhöhten die Pläne zur Produktionseinschränkung den Personalüberhang. Daraufhin diskutierte der Vorstand erstmals am 8. November 1966 die Einführung von Kurzarbeit, die einen organisatorischen Vorlauf von drei Wochen erforderte und der Zustimmung des Betriebsrats sowie des Arbeitsamts bedurfte. Darüber hinaus wurden Entlassungen nicht ausgeschlossen, weshalb deren psychologischen Auswirkungen auf die Belegschaft und die Öffentlichkeit ebenfalls beraten wurden. Produktionsvorstand Otto Höhne bezifferte am 17. November 1966 den Personalüberhang auf 5 000 Produktionsarbeiter und etwa 1 500 Beschäftigte im indirekten Bereich. Kurzarbeit an jeweils vier Tagen in den Monaten ­Januar bis April 1967 erschien unerlässlich, da nach Einschätzung von Verkaufsvorstand Carl H. Hahn „die derzeitige Situation auf lange Dauer als gegeben betrachtet werden“ müsse.46 Dementsprechend wurde am 8. Dezember 1966 mit den Betriebsausschüssen aller Werke die Notwendigkeit zur Kurzarbeit an vier Tagen im Januar und an jeweils sechs Tagen im Februar und März 1967 besprochen.47 In der Belegschaft entfaltete die am 9. Dezember 1966 öffentlich gemachte Nachricht, dass Kurzarbeit erforderlich sei,48 eine wahre „Schockwirkung“, wie die Betriebsversammlung am 12. Dezember 1966 verdeutlichte.49 Auch wenn niemand – auch die IG Metall nicht – von einer „Krise“ sprechen wollte, türmten sich wegen der eingetrübten Absatzaussichten bei den Belegschaftsangehörigen wachsende Sorgen auf, die der 1. Bevollmächtigte der IG Metall Wolfsburg, Bernhard Tyrakowski, zum Ausdruck brachte, als er die Mitarbeiter zu den möglichen „Leidtragenden“ zählte, die die Zeche bezahlen müssten.50 Der Betriebsratsvorsitzende Hugo Bork hoffte zwar weiterhin auf eine „baldige Besserung der gesamten wirt45 

Ebd., S. 2. Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 17. 11. 1966, S. 2 (ebd.). 47  Protokoll der außerordentlichen Betriebsratssitzung am 9. 12. 1966, S. 1 (UVW, Z 119, Nr. 23); Protokoll der außerordentlichen Betriebsratssitzung am 16. 12. 1966, S. 1 (ebd.). 48  „Kurzarbeit“, in: Wir vom Volkswagenwerk. Nachrichtenblatt für die Mitglieder der IG Metall, Nr. 50, Dezember 1966 (UVW, Z 173, Nr. 193). 49  Protokoll über die am 12. Dezember 1966 stattgefundene 5. ordentliche Betriebsversammlung, S. 2 (UVW, Z 373, Nr. 409/2). 50  Ebd., S. 14. 46 

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schaftlichen Situation“, jedoch wirkte die ungewohnte Krisensituation auf ihn wie eine „geplatzte Wirtschaftswundertüte“.51 Die letzte Vorstandssitzung des Jahres am 15. Dezember 1966 nahm angesichts des weiteren Verkaufsrückgangs das Zurückfahren der Produktion um 100 000 Fahrzeuge im ersten Quartal und ggf. um 200 000 Fahrzeuge im ­ersten Halbjahr 1967 in Aussicht und erklärte die „Senkung aller Kosten“ zur gemeinsamen Aufgabe.52 Aufsichtsratsvorsitzender Rust bemängelte am 19. Dezember 1966 das „Zusammentreffen der Kapitalerhöhung mit den hierzu gegebenen optimistischen Prognosen und der Ankündigung von Kurzarbeit“ und erwartete eine „längere Talwanderung“.53 Nordhoff ging sogar noch einen Schritt weiter, wenn er den Konjunktureinbruch als einen „Wendepunkt in der Gesamtentwicklung“ betrachtete und das „Ende eines ungewöhnlich lang anhaltenden Booms nach Kriegsende“ gekommen sah. Die deutsche Gesamtwirtschaft habe sich „an den abnormen Zustand“ ständig wachsender Zahlen gewöhnt, weshalb der „Schock jetzt besonders groß“ sei.54 Die „Rückkehr zum Normalen“ werde von vielen als „Katastrophe“ empfunden, „obwohl es nur um die ungewohnte Anpassung an geänderte Verhältnisse gehe“.55 Die Unternehmensleitung wollte allerdings dem Abwärtstrend nicht tatenlos zusehen, sondern beschloss am 5. Januar 1967 gleich in der ersten Vorstandssitzung nach dem Jahreswechsel, der Krise auf der Angebotsseite mit dem VW 1200, einer Sparversion des Käfers zu einem Kampfpreis von 4 485 DM, zu begegnen.56 Der am 9. Januar 1967 in Wolfsburg der Händlerschaft vorgestellte Wagen sollte entweder mit Stoff- oder mit Kunstledersitzen, aber ohne jegliche Mehr- oder Minderausstattung und nur in vier Lackierungen geliefert werden.57 Die Reduzierung der Variantenvielfalt sollte die gewohnten Skalenerträge der Großserienfabrikation wieder aktivieren und im Inland je Fahrzeug einen durchschnittlichen Deckungsbeitrag von 156 DM sichern. Dementsprechend setzte der Vorstand der Volkswagenwerk AG auf eine Belebung der Inlandsnachfrage und ließ gleich im Januar 1967 4 500 Wagen herstellen, von denen 1 500 im europäischen Ausland abgesetzt werden sollten. Den Erfolg des „Sparkäfers“ machte der Vorstandsvorsitzende sogar zur 51 

Ebd., S. 3. Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 28. 11. 1966, S. 1f. (UVW, Z 373, Nr. 455/1); Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 17. 12. 1966, S. 1 (ebd.). 53  Niederschrift über die 18. Sitzung des Finanzausschusses des Aufsichtsrats der Volkswagenwerk Aktiengesellschaft am 19. 12. 1966, S. 6 (UVW, Z 373, Nr. 789/1). 54  Ebd., S. 11. 55  Niederschrift über die 33. Sitzung des Aufsichtsrats der Volkswagenwerk Aktiengesellschaft am 20. 12. 1966, S. 19 (ebd.). 56  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 5. 1. 1967, S. 1 (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 57  Der Wagen erhielt zwar Chromleisten, trug aber kein VW-Zeichen und keine Typbezeichnung; siehe auch Bernd Wiersch: Käfer Chronik, Bielefeld 2005, S. 226f. 52 

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Voraus­setzung, um noch von der ansonsten unumgänglichen Entlassung von 15 000 Arbeitern zum 1. April 1967 absehen zu können. Beunruhigender­ weise träumte sich Nordhoff eine dauerhafte Krisenüberwindung durch eine Rückkehr zu alten Verhältnisse herbei, wenn er davon sprach, dass es einfach das „Beste“ wäre, wenn jährlich 500 000 Fahrzeuge dieses Modells verkauft würden.58 Solche Tagträume konnten aber nur zeitweise verdrängen, dass die Volkswagenwerk AG auch wegen der schlechten Lage der 1965 hinzugetretenen Tochterunternehmung Auto-Union GmbH Mitte Januar 1967 in eine kritische Situation geriet. Nach Ansicht von Nordhoff gab die dortige Situation sogar „Anlass zu besonderer Sorge“.59 Der Vorstandsvorsitzende, der früher jegliche Einmischung der Politik in betriebliche Angelegenheiten abgelehnt hatte, bemühte sich nun vergeblich um ein Spitzengespräch mit Bundes­ kanzler Georg Kiesinger, Finanzminister Franz-Josef Strauß und Wirtschaftsminister Karl Schiller. Er wollte ihnen vor Augen führen, dass es ohne Änderung der Lage – wie er seinen Vorstandskollegen am 16. Januar 1967 erläuterte – zu „Entlassungen großen Stils“ kommen werde. Produktionsvorstand Otto Höhne bezifferte den trotz Kurzarbeit bestehenden Personalüberhang auf 5 000 Arbeiter. Da keine kurzfristige Wende zum Besseren erwartet werden konnte, wollte Nordhoff das Geld durch einen radikalen Sparkurs zusammenhalten. Obgleich die Kurzarbeit und die bis Jahresende erfolgte Belegschaftsreduzierung um 5 200 Mitarbeiter gegenüber dem Höchststand von 1966 eine Kostenreduzierung ergaben, stand dem Rekordinvestitionsprogramm von rund 1,3 Milliarde DM, darunter allein 700 Millionen DM für neue Modelle, kein ausreichender Cashflow gegenüber. Finanzvorstand Friedrich Thomée rechnete deshalb damit, spätestens Mitte des Jahres Fremdkredite aufnehmen zu ­müssen. 60 Nachdem sich die Tageseinnahmen halbiert hatten, schmolzen die liquiden Mittel tatsächlich bis Ende Januar 1967 von 450 auf 280 Millionen DM ab, woraufhin der Vorstand der Vorgabe des Vorstandsvorsitzenden ­zustimmte, dass die Kosten „sehr bald und durchgreifend dem verringerten Geschäftsumfang angepasst“ werden müssten.61 Doch die Entscheidung, in welchem Umfang das Produktionsprogramm gekürzt und ob die Kurzarbeit verlängert werden sollte oder gar Massenentlassungen auszusprechen waren, konnte allein schon wegen weiterhin fehlender aktueller Verkaufszahlen noch nicht getroffen werden. Die Krise offenbarte, dass zentrale Unternehmens-

58 

Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 5. 1. 1967, S. 2 (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 59  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 16. 1. 1967, S. 1 (ebd.). 60  Ebd., S. 4. 61  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 25. 1. 1967, S. 8 (ebd.).

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kennzahlen nicht in der Schnelligkeit und Güte vorlagen, um als Entscheidungsgrundlage zu taugen. Verkaufsvorstand Carl Horst Hahn berichtete in der Vorstandssitzung am 6. Februar 1967, dass die Auftragseingänge gegenüber dem Vorjahr um 40 Prozent abgesackt waren. Von der Markteinführung des „Sparkäfers“ ging noch keine unmittelbare Verbesserung der Auftragslage aus, auch wenn in der letzten Januarwoche 1 400 Bestellungen eingingen, während die stärker motorisierten Käfer VW 1300 1 500 und VW 1500 1 000 Käufer fanden. Trotz Kurzarbeit überstieg die Januarproduktion die Verkäufe wiederum um 20 000 Fahrzeuge; die Vergrößerung der Lager auf 340 000 Volkswagen war die Folge.62 Auch seitens der Politik war wenig Unterstützung zu erwarten. Das Gespräch mit Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller am 2. Februar 1967 gab Nordhoff Argumente an die Hand, die Situation als „tief einschneidenden Tendenzumschwung in der ganzen Entwicklung“ zu bewerten.63 Konjunkturbelebende Regierungsmaßnahmen, wie die Mittelbereitstellung für den Autobahnbau,64 konnten ohnehin erst mit zeitlicher Verzögerung greifen, während sich die von der Großen Koalition beschlossene Kürzung der Kilometerpauschale „gegen die Autofahrer“ richtete. Das war nach Ansicht Nordhoffs umso schlimmer, weil er die Kaufzurückhaltung im Inland im Wesentlichen als „psychologisches Problem“ betrachtete, das die Regierung durch symbolisch angemessenes Handeln ausräumen könnte. Da der Vorstandsvorsitzende mit einem gegenüber dem Vorjahr halbierten Absatz rechnete, stellte er nach dem Auslaufen der Kurzarbeit im April 1967 die Zahl von 25 000 überzähligen Beschäftigten in den Raum, nur um hinzuzufügen, dass wegen der „besonderen Situation“ in Wolfsburg Entlassungen in dieser Größenordnung nicht „ohne große Schwierigkeiten“ möglich wären.65 Sowohl der gewerkschaftliche Organisationsgrad als auch die durch den Staatsanteil vermittelte politische Eingebundenheit sprachen gegen Massenentlassungen.66 Daraufhin nahm der Vorstand mit dem Betriebsrat Verhandlungen mit dem Ziel auf, zwischen April und Juni 1967 jeweils 10 Kurzarbeitstage einzulegen.67 Parallel dazu nutzte Volkswagen die Möglichkeit, an den Standorten maximal 49 Mitarbeitern im Monat zu kündigen, ohne 62  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 6. 2. 1967, S. 10f. (ebd.). 63  Ebd., S. 1. 64  Matthias Hochstätter: Karl Schiller – eine wirtschaftspolitische Biographie, Saarbrücken 2008, S. 146ff.; Torben Lütjen: Karl Schiller (1911–1994). „Superminister“ Willy Brandts, Bonn 2007, S. 224ff. 65  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 6. 2. 1967, S. 2 (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 66  Ebd., S. 4f. 67  Protokoll der außerordentlichen Betriebsratssitzung am 16. 2. 1967, S. 1 (UVW, Z 119, Nr. 23); Protokoll der 38. Betriebsratssitzung am 24. 2. 1967, S. 1 (ebd.); „Weiter Kurzarbeit“, in: Wir vom Volkswagenwerk. Nachrichtenblatt für die Mitglieder der IG Metall, Nr. 51, März 1967 (UVW, Z 173, Nr. 193).

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Massenentlassungen beim Arbeitsamt anmelden zu müssen. Durch Anwendung der „49er“-Regelung konnte ohne öffentliche Wahrnehmung in den ­damals fünf Werken der Volkswagenwerk AG der Beschäftigungsstand um monatlich 245 Mitarbeiter reduziert werden, was sie zum Standardmodul des Personalabbaus machte. Symptomatisch für den langen Moment der Ratlosigkeit im Umgang mit der ungewohnten Krise war, dass Heinrich Nordhoff am 6. Februar 1967, anstatt ein Konzept zur Krisenüberwindung zu präsentieren, seinen Vorstandskollegen ein „Seminar“ mit einem Spitzenvertreter von IBM anriet, um sich die Möglichkeiten der Datenverarbeitung zur technischen Unterstützung von Planungsprozessen aufzeigen zu lassen. Dies offenbarte die technizistisch-vereinfachende Sichtweise des alt gewordenen Vorstandsvorsitzenden wie die strukturellen Defizite des führenden deutschen Volumenherstellers.68 Denn seinen Ermittlungen zufolge hatte die Überproduktion bereits im ­August 1965 begonnen, worüber die Verkaufsleitung aber den Gesamt­ vorstand immerhin fast ein Jahr lang im Unklaren gelassen habe.69 Dadurch seien ­gezielte Gegenmaßnahmen verhindert worden, was zu einer Lage ­geführt habe, die Nordhoff „lebensgefährlich“ nannte.70 Der Vorstands­ vorsitzende sprach im gleichen Atemzug davon, dass Volkswagen am „Abgrund“ stehe, und schloss einen „Zusammenbruch“ nicht aus. Gleichzeitig kritisierte Nordhoff die etablierten Marktforschungsinstrumente. Alle Langfristprognosen hätten sich als unzutreffend erwiesen und nicht geholfen, eine Absatzkrise zu vermeiden, weshalb er fragte, ob der betriebene „Aufwand lohnen“ würde.71 Nachvollziehbarerweise widersprach Verkaufsvorstand Hahn dieser Position, zumal der Vorstandsvorsitzende den Abteilungen Marktforschung und Marketing bereits im Januar 1967 vorgeworfen hatte, dass deren Arbeit „völlig wertlos und überflüssig“ sei.72 Die kompensatorische Absicht ­solcher Verbalattacken ist mit Händen zu greifen und bietet zugleich einen ernst zu nehmenden Hinweis auf die strukturelle Unaus­gewogenheit der unternehmerischen Wirklichkeitsperzeption. Es liegt auf der Hand, dass die Utopie einer elektronischen Quasiautomatisierung der Prognoseerstellung ebenso wenig Einfluss auf die Bewältigung der ­Krisenfolgen haben konnte wie der gezeigte Skeptizismus gegenüber den betrieblichen Fachstellen.

68 

Protokoll der Sitzung des (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 69  Protokoll der Sitzung des (ebd.). 70  Ebd., S. 4. 71  Protokoll der Sitzung des (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 72  Protokoll der Sitzung des (ebd.).

Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 6. 2. 1967, S. 6 Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 1. 3. 1967, S. 3 Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 1. 3. 1967, S. 3 Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 5. 1. 1967, S. 5

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So schwer sich Nordhoff lange Zeit mit der Wahrnehmung und Würdigung der Krisenanzeichen getan hatte, für die er Verkaufsvorstand Hahn im Nachhinein noch zu bestrafen schien, so sehr hing er nun einer pessimistischen Sicht an. Obgleich Hahn auf der Vorstandssitzung am 13. März 1967 unter Hinweis auf zunehmende Auftragseingänge Anzeichen für das Durchschreiten des Konjunkturtals erkennen wollte, was Kurzarbeit als weiterhin geeignete Überbrückungsmaßnahme ansehen ließ, betrachtete Nordhoff diese als unmittelbare Gefährdung der Existenzgrundlagen des Unternehmens. Als „nicht lebensfähig“ bewertete der Vorstandsvorsitzende die Volkswagenwerk AG, sollte die Kurzarbeit über den August hinaus fortgesetzt werden.73 Er sah stattdessen die Notwendigkeit, ein Drittel der Belegschaft, gleichermaßen Arbeiter wie Angestellte, zu entlassen, zumal für ihn keine Gründe vorlagen, mit einer „Verbesserung der Verhältnisse in 1967 zu rechnen“.74 Doch nur 14 Tage nach dieser katastrophischen Bewertung deutete sich mit der Absage von drei für den April beantragten Kurzarbeitstagen, die die Mehrproduktion von 8 000 VW 1200/1300 für den Inlandsmarkt beabsichtigte, eine erste Entspannung an.75 Auch im Mai 1967 sollten drei Kurz­ arbeitstage wegfallen. Allerdings hielten Nordhoff und andere Vorstands­ mitglieder wegen der drastischen Unterauslastung der Kapazitäten an der Befürchtung fest, nach dem Werksurlaub rund ein Viertel der Belegschaft entlassen zu müssen.76 Weitere zwei Wochen später, Ende April 1967, dachte der Vorstand schon daran, ab August wieder voll zu arbeiten. Allerdings sollte an der Praxis festgehalten werden, in den Werken monatlich bis zu 49 Mitarbeiter zu entlassen und die Fluktuation weiterhin nicht zu ersetzen. Dies alles hätte bis Jahresende einen Belegschaftsabbau um 1 800 Mitarbeiter ermöglicht. Darüber hinaus hielten es die Vorstände für richtig, „einen Weg zu finden, wie man sich im zweiten Halbjahr 1967 weitgehend von den ausländischen Arbeitern trennen konnte“.77 Als Reaktion auf die vor einer Versammlung bayerischer Kleiderfabrikanten gemachte Äußerung von Bundesfinanzminister Strauß – „VW hat geschlafen“ –, die über Riesenlettern in der Bild-Zeitung den Weg in die Öf-

73  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 13. 3. 1967, S. 3 (ebd.). 74  Ebd., S. 4. 75  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 23. 3. 1967, S. 1f. (ebd.); der Betriebsrat setzte dem ursprünglichen Ansinnen, die drei im April ausfallenden Kurzarbeitstage in den Juni zu verschieben, erfolgreich „massiven Widerstand“ entgegen, Protokoll der außerordentlichen Betriebsratssitzung am 21. 3. 1967, S. 1 (UVW, Z 119, Nr. 23). 76  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 6. 4. 1967, S. 8 (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 77  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 26. 4. 1967, S. 8 (ebd.).

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fentlichkeit fand und sogar zu Pleitemeldungen führte,78 sprach sich Verkaufsvorstand Hahn am 9. Mai 1967 dafür aus, unter Berücksichtigung der als „keinesfalls schlecht“ bezeichneten Verkaufssituation des Volkswagenwerks die „radikale Beseitigung der Kurzarbeit“ vorzunehmen und dadurch „positive Impulse auf die Verkaufsorganisation und auf den Käufer“ auszuüben.79 Erst daraufhin wurden weitere elf Kurzarbeitstage abgesagt.80 Parallel dazu wollte der Vorstand auf der Angebotsseite neue Impulse setzen, und entschied, das automatische Getriebe nicht allein beim VW 1600, sondern möglichst auch beim Käfer einzuführen, um die eigene Innovationskraft auch beim Angebotskern der 5 000-DM-Klasse publikumswirksam herauszustellen.81 Damit sollte der öffentlichen Wahrnehmung eine Krisenüberwindung suggeriert werden, die auf dem Inlandsmarkt zur sozialen Beruhigung der potentiellen Kundschaft beitragen sollte. Denn Hahn und der Restvorstand hingen der verkaufspsychologischen Überzeugung an, dass ein wiedererwachter wirtschaftlicher Optimismus durch vermehrte Neuwagenkäufe auf das Unternehmen zurückstrahlen würde. Zugleich sollten mit der Rückkehr auf den Erfolgspfad gegenüber der Politik die gewohnten Handlungsspielräume wiedergewonnen werden. In die einerseits durch steigende Verkaufszahlen und andererseits durch fortbestehende wirtschaftliche Risiken charakterisierte Lage hinein trat Kurt Lotz im Juni 1967 auf Drängen des staatlich dominierten Aufsichtsrats als Stellvertreter und ausersehener Nachfolger Nordhoffs seinen Dienst an. Gleich seine erste Vorstandssitzung am 7. Juni 1967 brachte das Dilemma zum Vorschein, dass die vom Verkauf geforderten zusätzlichen Fahrzeuge nur um den Preis von acht Sonderschichten im August und September 1967 zu erhalten waren, obgleich wegen der ohnedies saisonal abflauenden Nachfrage die Gefahr von Kurzarbeit im November und Dezember 1967 fortbestand. Damit eröffnete sich ein „unlösbares psychologisches Problem“, da sich die Arbeiter und ihre Gewerkschaft darüber wunderten, dass „in einem Monat Überstunden zu leisten sind, während im anderen Monat Kurzarbeit durchgeführt“ werden sollte. Nordhoff sprach sich deshalb für eine Belegschaftsentwicklung der „mittleren Linie“ aus.82

78  „Für Käfermüde“, Der Spiegel 21 (1967), Nr. 21, S. 42–46; „Strauß: VW hat geschlafen“, Bild-Zeitung 5. 5. 1967, S. 1; Edelmann, Nordhoff, S. 289f. 79  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 9. 5. 1967, S. 2 (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 80  Ebd., S. 5 (ebd.); Protokoll der 41. Betriebsratssitzung am 16. 5. 1967, S. 1 (UVW, Z 119, Nr. 23). 81  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 9. 5. 1967, S. 5 (UVW, Z 373, Nr. 453/2); zur Automatik siehe etwa Orlich an Lotz, Hahn u. a. betr. Versuchsflotte Typ 1 und 3 – Automatik vom 17. 11. 1967 (UVW, Z 174, Nr. 1243/4); Bernd Wiersch: Volkswagen Typenkunde 1945 bis 1974, Bielefeld 2010, S. 86. 82  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 7. 6. 1967, S. 4 (UVW, Z 373, Nr. 453/2).

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Die verbliebene Unsicherheit über die weitere wirtschaftliche Entwicklung zeigte sich auch darin, dass neue Festlegungen über das Produktionsprogramm und die damit ggf. verbundenen Maßnahmen zum Personalabbau erneut vertagt wurden. Der Vorstand beschloss am 13. Juni 1967, das vorgelegte Produktionsprogramm nur als „Arbeitsgrundlage“ zu betrachten und Entscheidungen über jeweils zwei Sonderschichten in den Monaten August bis Oktober erst nach dem Werksurlaub zu treffen.83 Das mag als Ausdruck ­einer Unternehmenssteuerung „auf Sicht“ oder auch als Durchlavieren angesehen werden. Tatsächlich fehlte dem Vorstand weiterhin ein auf aktuellen Daten basierendes Steuerungsinstrumentarium, um die prognostizierten Marktentwicklungen mit den Produktionserfordernissen in Beziehung zu setzen und auf dieser Basis zu Entscheidungen zu kommen. Infolgedessen ließen Personalabbau und Neueinstellungsstopp in den unteren Lohngruppen einen spürbaren Personalbedarf entstehen, der die Ausbringungszahlen zu limitieren begann.84 Ungeachtet dessen riet Kurt Lotz am 27. Juni 1967 unter Hinweis auf neuere Lagebewertungen des Bundeswirtschaftsministeriums, den weiterhin hohen Lagerbestand, die ungewisse Verkaufssituation und die angespannte Ertragssituation dazu, „bis zur äußersten Grenze des Personalabbaus zu gehen“.85 Das rieb sich mit den Mitteilungen von Verkaufsvorstand Carl Horst Hahn, der seine Vorstandskollegen darüber informierte, dass die Verkäufe „planmäßig“ verlaufen seien und die Mehrproduktion abgesetzt werden konnte. Dass in den USA sogar mit weiter steigenden Verkaufszahlen gerechnet werden konnte, stand denkwürdig unvermittelt zur Einschätzung Nordhoffs, der wegen der von der Bundesregierung vorgenommenen Steuererhöhungen „mit der großen Rezession erst in der Zukunft“ rechnete.86 Hahn konnte auf der ersten Vorstandssitzung nach der Sommerpause am 8. August 1967 zwar weiterhin „noch keine zusammenfassenden und endgültigen Zahlen“ nennen. Jedoch aus den leicht über den vorsichtigen Plänen, allerdings unterhalb des Vorjahresniveaus liegenden Verkäufen und dem erfolgten Lagerabverkauf ergab sich das Er­ fordernis von Sonderschichten, denen der Betriebsrat am 16. August 1967 zustimmte.87 Produktionsvorstand Höhne gab allerdings zu bedenken, dass das Fertigungsprogramm mit den vorhandenen Arbeitskräften nicht erfüllt werden könne, da mehr Beschäftigte gekündigt hätten als erwartet und zudem nicht die komplette Belegschaft aus dem Werksurlaub zurückgekehrt 83  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 13. 6. 1967, S. 1 (ebd.). 84  Protokoll der 43. Betriebsratssitzung am 19. 6. 1967, S. 1 (UVW, Z 119, Nr. 23). 85  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 27. 6. 1967, S. 2 (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 86  Ebd. 87  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 8. 8. 1967, S. 1 (ebd.); Protokoll der außerordentlichen Betriebsratssitzung am 16. 8. 1967, S. 1 (UVW, Z 119, Nr. 23).

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sei. Darüber hinaus band die neu aufgenommene Fertigung von Schaumstoffteilen sowie Modellverbesserungen zusätzliche Arbeitskräfte. Es war die Aufgabe von Kurt Lotz, in Vertretung des erkrankten Nordhoff nicht sogleich die Schleuse für Neuanstellungen zu öffnen, sondern dafür zu sorgen, dass der Personalbedarf von ca. 1 000 Produktionsarbeitern durch Umsetzungen aus den unproduktiven Bereichen gedeckt wurde. Der Vorstand beschloss zudem, weiterhin keine Ersatzeinstellungen vorzunehmen, aber Entlassungen nach der „49er“-Regelung auszusetzen. In personalpolitischer Hinsicht ergaben sich also weitere Lockerungen, während die ­finanzielle Situation des Unternehmens nach Auskunft des Finanzvorstands nicht eben rosig war: Der Reduzierung der Produktionszahlen stand kein entsprechender Abbau der Gemeinkosten gegenüber, und die erzielten Exporterlöse sicherten keinen Gewinn. Finanzvorstand Thomée kam zu dem Schluss, dass das Unternehmen im ersten Halbjahr 1967 aus der Vermögenssubstanz gelebt habe und sah für die zweite Jahreshälfte und selbst noch für 1968 keine grundsätzliche Änderung voraus.88 Da sich aber beim Käfer und der zweiten Transporter-Generation „Trends zum Positiven“ zeigten, entschied der Vorstand auf seiner nächsten Sitzung am 8. September 1967, nunmehr auch die Fluktuation zu ersetzen und im Werk Hannover sogar 400 zusätzliche Einstellungen vorzunehmen.89 Bei den jeweils vier, am 26. September 1967 vom Vorstand beschlossenen Sonderschichten im Oktober und November setzte der Betriebsrat Überstundenzuschläge durch und stimmte daraufhin der Mehrarbeit zu, zumal Verkaufsvorstand Hahn für das erste Quartal 1968 „Vollbeschäftigung“ voraussagte.90 Am 23. Oktober 1967 konstatierte der Vorstand, der erstmals nach fast zweimonatiger krankheitsbedingter Abwesenheit von Heinrich Nordhoff wieder unter Leitung des Vorstandsvorsitzenden beriet, eine „leichte Besserung des gesamtwirtschaftlichen Klimas“.91 Die „sehr gute Aufnahme“ des Käfers ebenso wie der Umstand, dass der Transporter „ausgezeichnet angekommen“ war, führten im Oktober 1967 trotz eines 32-prozentigen Bestellrückgangs beim VW 1600 zu einer Auftragssteigerung gegenüber dem Vorjahr.92 Als Verkaufsvorstand Hahn auf der Vorstandssitzung am 10. November 1967 ein Wachstum der Oktoberzahlen gegenüber dem Vorjahr berichtete und die Verkäufe sogar an die besten Zahlen des Oktober 1965 herankamen, lag die aktuelle Krise hinter Volkswagen, auch wenn kumulativ die ersten 88 

Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 8. 8. 1967, S. 1 (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 89  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 8. 9. 1967, S. 2 bzw. 7f. (ebd.). 90  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 26. 9. 1967, S. 4 (ebd.); Protokoll der 47. Betriebsratssitzung am 29. 9. 1967, S. 2 (UVW, Z 119, Nr. 23). 91  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 23. 10. 1967, S. 2 (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 92  Ebd.

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zehn Monate des Jahres 1967 um ein Zehntel unter den Werten des Vorjahres lagen. Selbst bei einer Absatzsteigerung im Geschäftsjahr 1968 wäre das Strukturproblem der weitgehenden Abhängigkeit vom Käfer bestehen geblieben. Zudem war der Wirkungsgrad des groß­fordistischen Unternehmens durch die größere Fertigungstiefe, Zusatzausstattungen wie das Sicherheitspaket oder die Automatik und zudem durch die wachsende Modellvielfalt nach Ansicht Nordhoffs „schlechter“ geworden.93 Dadurch drohte aber für die Zukunft der frühere „Vorteil einer großen Produktion“ verloren zu gehen. Überdies bedurfte die „ganze Typenplanung einer völligen Überholung“. Außerdem bestand die Ertragsschwäche des Unternehmens fort. Im Interesse der Produktionssteigerung stimmte der Vorstand im Dezember 1967 der Neueinstellung von 2 960 zusätzlichen Mitarbeitern zu und sprach sich zudem für zwölf Zusatzschichten in den ersten vier Monaten des Jahres 1968 aus.94 Die Gründe für den Aufschwung lagen zum einen in der wieder steigenden Attraktivität des Käfers und dem Nachfrageüberhang beim Transporter. Zum anderen wurde die Inlandsschwäche durch den erstarkten Export in die USA überkompensiert. Die insgesamt problematische Modellpolitik, aber auch die Führungsschwäche des kranken und gealterten Vorstandschefs brachten die betriebsinternen Problemfelder nur noch deutlicher zum Vorschein. In diesem Sinne bildete die am 15. Dezember 1967 getroffene Vorstandsentscheidung, bei der Volkswagen Australasia Ltd. mit Sitz in ­Melbourne die Produktion Ende Februar 1968 endgültig einzustellen, ein Menetekel, dass die vormalige wirtschaftliche Marktstärke des Käfers kein Selbstläufer mehr war.95 Das Wirtschaftswunder war beendet, die Vorstellung eines fortgesetzten Unternehmenserfolgs aber längst noch nicht. Vorstandsmitglied Kurt Lotz wies zwar auf die Notwendigkeit zur Überwindung der auf hohen Gemeinkosten basierenden Ertragsschwäche hin. Jedoch kamen für den Vorstand nicht viel mehr als allgemeine Sparsamkeitsappelle oder die Ankündigung von Preiserhöhungen in Betracht.96 Wenn Vorstandschef Nordhoff in dieser Situation den Übergang von der „Ein-Typen-Produktion“ zur „Viel-TypenProduktion“ ausschließlich mit der Kostenintensität der Variantenvielfalt verband, entstand daraus kein konsistentes Modernisierungsprogramm.97 Denn sein fast bedauernder Konservativismus stellte sich dem Trend zur von 93  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 10. 11. 1967, S. 5 (ebd.). 94  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 15. 12. 1967, S. 4 (ebd.). 95  Ebd., S. 13 (ebd.); zu Volkswagen in Australien siehe etwa Rod Davies/lloyd ­Davies: Volkswagen in Australia. The Forgotten Story, Heathmont, Victoria 2004. 96  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 4. 3. 1968, S. 5 (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 97  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 29. 1. 1968, S. 5 (ebd.).

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Norbert Elias charakterisierten „Gesellschaft der Individuen“ entgegen, der auch bei Volkswagen eine größere Produktpalette und die Wahlfreiheit zu einer Vielzahl von Mehrausstattungen erforderlich machte, auch wenn dies dem Großfordismus Nordhoffscher Prägung den Boden entzog.98 Obgleich Nordhoff noch selbst am 15. März 1968 den modellpolitischen Neuanfang mit der Festlegung von vier „Grundtypen“ mit drei wassergekühlten Motoren und Frontantrieb einleitete,99 fehlte seinem Nachfolger Kurt Lotz die Entschlusskraft, um die technischen Entwicklungschancen auf die bestehenden finanziellen Möglichkeiten abzustellen und sich auf einen konkreten Käfer-Nachfolger festzulegen.100 In der unzureichenden Unternehmensmodernisierung und der fortdauernden Hoffnung, der Exporterfolg der traditionell preisgünstigen Produktpalette werde den wirtschaftlichen Erfolg schon stützen, lag aber die tiefere Ursache für die anhaltende Ertragsschwäche und die Anfälligkeit für konjunkturelle Einbrüche. Als Verkaufsvorstand Hahn am 2. Mai 1968 die „erwartete leichte Konjunkturbelebung im Inland“ feststellte und die Verkaufszahlen in den USA sogar um 40 Prozent die Vorjahreswerte übertrafen, war sich der Vorstand angesichts neuer Verkaufsrekorde bei Käfer und Transporter und der Absatzerholung beim VW 1600 sicher, die Verkaufsziele des Jahres 1968 zu erreichen. In den gleichen Zusammenhang fiel die mit den bestehenden Marktchancen begründete Entscheidung zur Neueinstellung von 3 500 Arbeitskräften, davon rund 2 000 Ausländer, und zur Verhandlungsaufnahme mit dem Betriebsrat über sechs Sonderschichten.101 Die Konjunkturnormalität, aber auch die Rückkehr auf den Wachstumspfad schienen in der Lesart der Geschäfts­berichte wiederhergestellt: „Nach fast zwei Jahrzehnten eines ununterbrochenen Aufschwungs ist damit auch für die deutsche Automobilindustrie ein Konjunkturzyklus wirksam geworden, auf den sich die Automobilindustrie in anderen Ländern schon seit Jahren eingestellt hat und der bis heute unverändert zu den Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft gehört.“102 Der Geschäftsbericht für das Jahr 1968 hielt dagegen fest, dass die Geschäfte für die Volkswagenwerk AG und die übrigen in- und ausländischen Konzernge98 

Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt am Main 2001; Thomas Haipeter: Mitbestimmung bei VW. Neue Chancen für die betriebliche Interessenvertretung?, Münster 2000, S. 91ff. 99  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 15. 3. 1968, S. 3 (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 100  Grieger, Der neue Geist, S. 37ff. 101  Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Volkswagenwerk AG am 2. 5. 1968, S. 2 (UVW, Z 373, Nr. 453/2). 102  Volkswagenwerk AG (Hrsg.): Bericht über das Geschäftsjahr 1967, Wolfsburg 1968, S. 6 http://www.volkswagenag.com/vwag/vwcorp/content/de/the_group/history.html (30. 7. 2011); vgl. Ernest Mandel: Die deutsche Wirtschaftskrise. Lehren der Rezession 1966/67, Frankfurt am Main 1969, S. 7; Tim Schanetzky: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007, S. 95ff.

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sellschaften „erfolgreich“ verlaufen waren, da „nicht nur die Einbußen des Rezessionsjahres 1967 ausgeglichen“, sondern auch das bisherige Rekordjahr 1966 „übertroffen“ werden konnte. Neue Verkaufsrekorde etwa in den USA sorgten für einen um fast 27 Prozent auf 1 775 512 Fahrzeuge gesteigerten Konzernabsatz. Tabelle 1: Wesentliche Zahlen Volkswagenwerk Aktiengesellschaft, 1965–1968 1965

1966

1967

1968

Absatz D Käfer Transporter VW 1500/1600 Gesamt D

370 840 71 526 150 119 460 722

293 721 60 979 140 150 494 850

272 894 52 033 87 660 412 587

272 244 69 532 78 834 439 096

Absatz USA Käfer Transporter VW 1500/1600 Gesamt USA VW AG Konzern

319 200 34 054 12 665 365 919 1 427 499 1 580 214

318 5644 35 439 58 008 411 991 1 440 747 1 605 267

339 970 34 248 69 285 443 503 1 207 946 1 398 540

423 008 50 756 95 528 569 292 1 544 842 1 775 512

Produktion Käfer Transporter VW 1500/1600 VW AG Konzern

1 008 983 176 762 261 915 1 447 660 1 594 861

988 533 176 275 311 701 1 476 509 1 650 487

818 889 141 569 201 797 1 162 258 1 339 823

1 055 529 228 290 242 024 1 548 933 1 777 320

94 343 125 157

91 645 124 581

91 869 129 111

104 975 145 401

7 458 9 268

7 797 9 998

6 464 9 335

8 388 11 700

120

376 120

319 328

339 543

Belegschaft VW AG Konzern Umsatz VW AG Konzern Gewinn VW AG Konzern

Zahlen nach Volkswagenwerk AG (Hrsg.): Geschäftsberichte 1965–1968; Jahresbericht für den Vorstandsbereich Verkauf 1965 vom 16. 2. 1966 (UVW, Z 174, Nr. 1043/5); Jahresbericht 1966 Vertrieb Export vom 13. 1. 1967 (UVW, Z 174, Nr. 1044/7); Jahresbericht 1967 Vertriebsbereich Export vom 16. 1. 1968 (UVW, Z 174, Nr.,1044/8); Jahresbericht 1967 Vorstandsbereich Verkauf vom Januar 1968, S. 11 und 24 (UVW, Z 174, Nr. 1043/6); Volkswagen of America, Inc. (Hrsg.): 1968 Annual Report, S. 9ff (UVW, Z 174, Nr. 793/1).

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Das Unternehmen geriet in ruhigeres Fahrwasser, sodass nach dem Tod des langjährigen Vorstandsvorsitzenden Nordhoff am 12. April 1968 unter dem ihm am 1. Mai 1968 nachfolgenden Kurt Lotz der Umbau des Unternehmens eingeleitet werden konnte. Zwar setzte der Branchenneuling Lotz organisatorische Veränderungen durch, etwa eine zentrale Unternehmensplanung und die engere Anbindung der ausländischen Tochtergesellschaften an die Konzernzentrale, und schuf eine systematische Führungskräfteentwicklung. Jedoch kam die Modernisierung der Produktpalette nicht voran, obgleich Lotz neues Ingenieurspersonal einstellte, das den Wechsel vom luftgekühlten Heckmotor zu Modellen mit wassergekühlten Frontmotoren technisch bewerkstelligen sollte. Am Ende scheiterte Lotz am unterbliebenen Vollzug der technischen Modernisierung, die dem zu 40 Prozent im Staatsbesitz befind­ lichen Unternehmen eine belastbare ökonomische Basis geben sollte, und an seiner Weigerung, den aufziehenden gesellschaftlichen Veränderungen des sozialliberalen Zeitalters auch im Betrieb durch eine Ausweitung der Mitbestimmung Geltung zu verschaffen.103

Die Struktur- und Produktumstellungskrise in der ­Weltwirtschaftskrise 1973/75 Demgegenüber kommt dem zwischen 1971 und 1975 als Vorstandsvorsitzender der Volkswagenwerk AG tätigen Rudolf Leiding das bleibende Verdienst zu, gleich im Oktober 1971 die Weichenstellung auf die vier Fahrzeugmodelle vorgenommen zu haben, mit denen der Volkswagen-Konzern den Übergang zu modernen Modellkonzepten mit wassergekühlten Motoren und Frontantrieb vollzog.104 Als Volkswagen im Juni 1973 in Zürich den technisch dem Audi 80 entlehnten „Passat“, eine zweitürige Mittelklasse-Fließhecklimousine, internationalen Journalisten vorstellte und diese positive Aufnahme fand,105 wähnte sich der Vorstand auf einem sicheren Erfolgspfad. Demgegenüber wahrte der Betriebsrat eine skeptische Distanz zu den vorhergesagten Erfolgen. Leiding hatte bereits am 19. März 1973 in einer formellen Besprechung von Vorstandsmitgliedern mit dem Gesamtbetriebsrat (GBR) die regierungsseitige und mediale Verteufelung des Automobils als „Umweltverschmutzer Nr. 1“ ebenso für eine automobilfeindliche Stimmung verantwortlich gemacht wie die veränderten währungspolitischen Verhältnisse. Die rückläufigen Ertragsmöglichkeiten wie der schrumpfende Absatz be103 

Grieger, Der neue Geist, S. 37ff.; vgl. seine Sicht der Dinge in Kurt Lotz: Lebenserfahrungen. Worüber man in Wirtschaft und Politik auch sprechen sollte, Düsseldorf, Wien 1978, S. 125ff. 104  Grieger, Der neue Geist, S. 44ff. 105  Volkswagenwerk AG, Presse und Public Relations (Hrsg.): Der neue VW Passat, Wolfsburg 1973 (UVW, Z 319, Nr. 498); Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 19. 6. 1973, S. 9 (UVW, Z 69, Nr. 731/1).

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gründeten zwar für das erste Halbjahr noch keine Beschäftigungssorgen; die zweite Jahreshälfte könne aber – so Leiding – „kritisch werden“.106 Den GBR-Vorsitzenden, Siegfried Ehlers, stimmte es „sehr bedenklich“, dass der Vorstand dem Betriebsrat erstmalig weder exakte Zahlen über Lagerbestand und Verkauf übermittelte noch Aussagen über die „Beschäftigungssicherung“ machte. Er mahnte, dem Betriebsrat gegenüber der Belegschaft Argumente in die Hand zu geben, und schloss mit der Bitte, „keine Einstellungen mehr vorzunehmen“.107 Die abwartende Haltung des Betriebsrats nahm bereits Anfang Juli 1973 die weitere Entwicklung vorweg, denn der Vorstand musste die währungspolitischen Verwerfungen der Folgen der DM-Aufwertung diskutieren, als für das laufende Jahr währungsbedingt eine Zusatzbelastung von 30 Millionen DM und in den Folgejahren eine Mindereinnahme von jährlich 70 Millionen DM vorhergesagt wurde. Vertriebsvorstand Horst Münzner rechnete allein in Europa mit einem Absatzrückgang von 25 000 Fahrzeugen, und auch die Auswirkungen der durch die veränderte Währungsparität zum US-Dollar hervorgerufenen 18-prozentigen Preiserhöhungen auf den Absatz in den USA konnten noch nicht abgesehen werden.108 Ende August 1973 diskutierte der Vorstand die Auswirkungen des Endes des Währungssystems von Bretton Woods auf die produzierenden Tochtergesellschaften von Volkswagen.109 Über die negativen Folgen der Abschwächung des US-Dollars auf die Verkaufssituation in den USA hinaus erkannten die Vorstandsmitglieder, dass die auf Zulieferungen aus Deutschland angewiesenen Tochter- und Montagegesellschaften in Mexiko, Südafrika, Australien, Indonesien und Venezuela womöglich noch größere Schwierigkeiten bekommen würden. So erwies sich die Ertragslage der Volkswagen de Mexico S.A. de C.V. als „außerordentlich schlecht“; Finanzvorstand Friedrich Thomée nannte das Unternehmen sogar „sanierungsreif“.110 Die Volkswagen of South Africa Ltd. würde nach guten Erträgen im ersten Halbjahr 1973 bis Jahresende wohl nur die Dividendenzahlung erwirtschaften und 1974 in die Verlustzone geraten.111

106  Protokoll über eine Besprechung von Mitgliedern des Vorstands der Volkswagenwerk AG mit dem Gesamtbetriebsrat über die augenblickliche wirtschaftliche Situa­ tion am 19. 3. 1973, S. 3 (UVW, Z 652, Nr. 465/2). 107  Ebd., S. 10. 108  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 2. 7. 1973, S. 18 (UVW, Z 69, Nr. 731/1). 109  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 28. 8. 1973, S. 3ff. (ebd.); vgl. Barry Eichengreen: Vom Goldstandard zum Euro. Die Geschichte des internationalen Währungssystems, Berlin 2000; Barry Eichengreen: Global Imbalances and the Lessons of Bretton Woods, Cambridge, Mass. 2010. 110  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 28. 8. 1973, S. 5 (UVW, Z 69, Nr. 731/1). 111  Ebd., S. 7f.

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Obgleich die wirtschaftlichen Umfeldbedingungen auf eine deutliche Konjunkturabkühlung hindeuteten, sah Personalvorstand Peter Frerk am 4. September 1973 vor allem Schwierigkeiten bei der Beschaffung des ­erforderlichen Personals, um die Erfüllung des hoch gesteckten Produktionsprogramms zu gewährleisten. Während der Betriebsrat die vom Produktionsressort gewünschte Mehrarbeit bislang genehmigt hatte, sah Frerk für die Zukunft größere Einwände voraus. Die Personallücken hatten zum Ärger des Vorstandsvorsitzenden Leiding bereits einen Produktionsrückstand von 3 800 Fahrzeugen hervorgerufen, weshalb er seine Forderung, „mit Einstellungen nicht zu vorsichtig“ zu sein, mit Blick auf den vorhandenen Zusatzbedarf wiederholte.112 Da Vertriebsvorstand Horst Münzner für 1974 mit einem um 120 000 Einheiten erhöhten Absatz von 1,72 Millionen Fahrzeugen rechnete, leitete das Unternehmen weitere Neueinstellungen, vor allem von Ausländern und Frauen, ein. Da der bevorstehende Anlauf von Golf und Polo zusätzliches Personal erforderte, gaben Produktionsvorstand Günter Hartwich und Personalvorstand Frerk noch Ende September 1973 gegenüber dem Betriebsrat für das erste Halbjahr 1974 die vollmundige Erklärung der Beschäftigungssicherheit für die vorhandene Belegschaft ab. Frerk sah allein im Werk Hannover einen Personalüberhang von 3 000 Mitarbeitern, der aber durch Beschäftigungsverlagerung aufgefangen werden sollte.113 Dass die Auftragssituation gegen Neueinstellungen sprach und die bestehenden inflationären Tendenzen in einer Gewerkschaftsforderung nach einer mindestens 15-prozentigen Tariferhöhung münden würden, fand in den Überlegungen des Vorstands ebenso Eingang wie die Überlegungen im Bundesfinanzministerium zur Einschränkung der Zonenrandförderung.114 Volkswagen blieb seiner Tradition des Arbeitplatzunternehmens treu, als über die bereits bis Ende September 1973 eingestellten 1 518 Akkordlöhner hinaus noch weitere 1 300 Mann zur Mannschaft hinzukommen sollten. Vorstandschef Leiding bezifferte den zusätzlichen Personalbedarf sogar auf bis zu 5 000 Mann.115 Die Signale standen also weiter auf Belegschaftsaufbau. Horst Münzner trübte am 16. Oktober 1973 durch seinen Hinweis auf die den Absatz mindernden Folgen der in den USA geplanten Preiserhöhungen, die der Deckung der Kostenerhöhungen und der Währungsverluste dienen sollten, das Bild fortdauernder Vollbeschäftigung. Die von ihm auf 50 000 Wagen aller Typen geschätzte Bedarfsreduzierung stellte das Zurückbleiben der Produktion gegenüber den Plänen in ein ganz anderes Licht, zumal nie112 

Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 11. 9. 1973, S. 4 (ebd.). 113  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 25. 9. 1973, S. 15 (ebd.). 114  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 5. 10. 1973, S. 8 (ebd.). 115  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 9. 10. 1973, S. 4 (ebd.).

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mand voraussehen konnte, wie der Absatz des Käfers auf den Produktionsanlauf des Golfs reagieren würde. Ungeachtet dessen beschloss der Vorstand eine Bedarfs- und Produktionsplanung, die im zweiten Halbjahr eine Minderproduktion von 47 000 Käfer zuließ, um mit zusätzlichem Personal einen erhöhten Produktionsausstoß beim Golf zu erzielen. Sogar die Voraussetzungen für ab Februar 1975 zu fahrende Sonderschichten wollte der Vorstand untersuchen.116 Einmal mehr tat sich die Unternehmensleitung damit schwer, eine komplexe Situation in ihrer Ambivalenz in ihre Überlegungen einzubeziehen. Da anscheinend Rudolf Leiding fest davon überzeugt war, dass der vor dem Produktionsstart stehende Golf das Unternehmen von allen Sorgen befreien würde, misslang eine angemessene Berücksichtigung der verunsichernden Wirkung des Ölpreisschocks auf das Käuferverhalten und der veränderten Währungsverhältnisse. Das lief angesichts der sich eintrübenden Marktaussichten auf ein Vabanque-Spiel hinaus, durch ein modernes Produktangebot Marktimpulse zu setzen, die im Nachhinein das Geld einspielen würden, das für den Aufbau der Fertigungskapazitäten und die auch inflationsbedingt dynamisch steigenden Lohnkosten erforderlich war. Indem die Ölkrise unter dem produktionstechnischen Gesichtspunkt der Versorgungssicherheit und nicht in ihrer Neuwagenkäufe verhindernden Wirkung betrachtet wurde und zu keiner rechtzeitigen Reduzierung der Produktionspläne Anlass gab, konnten die Vorstandsmitglieder an ihrer Wachstumsobsession festhalten, obgleich die ökonomische Wirklichkeit zur Schrumpfung aufforderte. Wie im Sommer 1966 fehlte es an einer Wahrnehmung der Krisenanzeichen, die anscheinend vom Vorstandsvorsitzenden als Schmähung seiner Unternehmerleistung empfunden und außerhalb des Betrachtungsfeldes gehalten wurden. Dazu passte, dass in der aufziehenden Weltwirtschaftskrise die Mehr- und Samstagsarbeit in den Inlandswerken von Volkswagen ein Niveau erreichte, das einen Einspruch des Betriebsrats geradezu provozierte. Leiding hielt zur Produktionssteigerung fast schon trotzig mit dem Argument an der Neueinstellung zusätzlicher Mitarbeiter fest, dass Sonderschichten die „Produktion erheblich verteuerten“.117 Auch die am 13. November 1973 im Vorstand behandelte Bedarfsprognose des Vertriebsressorts ging unter der Voraussetzung von moderaten Preiserhöhungen und einem ausbleibenden „einschneidenden Bedarfsrückgang infolge Energieverknappung“ von einem weiteren Produktionsanstieg um 77 000 Einheiten auf 1,67 Millionen Fahrzeuge aus.118 Auf dieser Basis trat der Bericht des Vorstands den früheren Befürchtungen des 116  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 16. 10. 1973, S. 1ff. (ebd.). 117  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 6. 11. 1973, S. 17 (ebd.). 118  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 13. 11. 1973, S. 5 (ebd.).

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Gesamtbetriebsausschusses (GBA) entgegen, indem im Werk Hannover ein Belegschaftsabbau um 2 300 Akkordlöhner, aber in den Werken Wolfsburg, Kassel, Emden und Salzgitter die Neueinstellung von zusätzlichen 4 500 Mitarbeitern prognostiziert wurde. Vor diesem Hintergrund äußerte sich Siegfried Ehlers am 14. November 1973 „befriedigt“ über die „gesicherte Beschäftigung für das nächste Jahr“ und räumte als Entgegenkommen ein, dass „grundsätzlich auch an Sonnabenden ‚mal etwas getan werden‘“ könne.119 Sowohl Vertriebsvorstand Münzner als auch Vorstandsvorsitzender Leiding hatten solange in den Gesprächen mit dem Betriebsrat, in Fernsehinterviews oder auch in Bankenkreisen an ihrer optimistischen Sicht festgehalten, dass sich Personalvorstand Frerk einen knappen Monat später am 10. Dezember 1973 nicht in der Lage sah, dem Betriebsrat die durch die verminderten Bestelleingänge und die Zulieferungssituation gerechtfertigte Arbeitsruhe in der ersten Januarwoche verständlich zu machen. Aus Sicht des Produktions­ vorstands Hartwich sprachen die „mögliche Verschärfung der Energiekrise“, aber auch die erheblichen „Hofbestände an Fahrzeugen“ für eine Arbeitspause vom 2. bis 4. Januar 1974 in allen Werken.120 Auf Basis eines Kompromisses wurde folgendermaßen verfahren: Die Belegschaft hatte zwei Tage Tarifurlaub einzusetzen, während der 4. Januar 1974 vom Unternehmen als zusätzlicher Tarifurlaubstag bewilligt wurde.121 Die durch den Ölpreisschock katalysierte Weltwirtschaftskrise fand in den Vorstandssitzungen insoweit Beachtung, dass gleich im neuen Jahr das Unternehmen, etwa mit Blick auf den überhöhten Lagerbestand an Audi 100, die Absatzplanung der süddeutschen Tochterunternehmung um rund 18 Prozent reduzierte. Kurzarbeit sollte die Produktion absenken, während verkaufsfördernde Inlandsaktionen auf eine Marktstabilisierung abzielten und eine „verstärkte Belieferung des USA-Marktes“ gleichsam das Krisenbewältigungskonzept der Jahre 1966/67 reaktivierte.122 Ähnliches stand für Volkswagen zur Diskussion, obgleich der Konjunktureinbruch angesichts eines Marktrückgangs im Dezember 1973 gegenüber dem Vorjahresmonat um durchschnittlich 60 Prozent – der Absatz von Volkswagen schrumpfte um 40, der von Audi NSU sogar um 83 Prozent – zu einem radikalen Eingreifen aufrief. Die bestehende „allgemeine Verunsicherung“, aber auch die „Verstopfung des Gebrauchtwagen-Marktes“ hatten nach Ansicht von Leiding zum „Zusammenbruch des Marktes“ geführt. Auf die dauerhaft hoch bleibenden 119 

Niederschrift über die Besprechung mit dem Gesamtbetriebsrats-Ausschuss zur Mehrarbeitsstunden-Situation 1973/74 am 14. 11. 1973, S. 15 (UVW, Z 652, Nr. 465/2). 120  Tatsächlich war die Energieversorgung des Werks für 60 Tage gesichert; Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 10. 12. 1973, S. 3f. (UVW, Z 69, Nr. 731/1). 121  Protokoll über die am 17. 12. 1973 stattgefundene 7. Ordentliche Betriebsversammlung, S. 6f. (UVW, Z 373, Nr. 410/3). 122  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 8. 1. 1974, S. 6 (UVW, Z 69, Nr. 731/1).

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Benzin­preise könne das Unternehmen nur durch „wirtschaftliche und im Benzinverbrauch sparsame Automobile“ reagieren.123 In diese krisenhafte Gemengelage hinein fiel die Tarifrunde, die die IG Metall mit Forderungen einer Lohn- und Gehaltserhöhung im zweistelligen Prozentbereich und nach zusätzlichen Urlaubstagen sowie der Übernahme des in Nordwürttemberg/Nordbaden vereinbarten Lohn-Rahmentarifvertrags eröffnete. Nach Ansicht des Vorstandsvorsitzenden Leiding führte die Erfüllung der sich nach seiner Rechnung auf einen Zusatzaufwand von 2 Milliarden DM summierenden Forderungen „mitten hinein“ in den Ruin, weshalb er sich für mit „größter Härte“ geführte Verhandlungen aussprach, was „notfalls bis zum Streik“ durchgehalten werden sollte.124 Leiding war entschlossen, die heraufziehende Krise auch zum Zurückdrängen der bei Volkswagen dominanten IG Metall zu nutzen und setzte im Vorstand gegen den Ratschlag des Personalvorstands Frerk die Versendung eines „Informationsbriefes an die Belegschaft“ durch. Obwohl Öffentlichkeitschef Horst Backsmann verneint hatte, dass die Belegschaft das Schreiben als „Provoka­ tion“ empfinden könnte,125 verhärtete der Brief die Fronten. Ein formelles Scheitern der Tarifverhandlungen war die Folge. Zuvor hatte sich bei den Arbeitnehmer­vertretern der Eindruck verfestigt, dass Leiding in den letzten Monaten die Zusammenkünfte mit den Betriebsräten geradezu „konstant gemieden“ hatte.126 Die Marktposition geriet wegen des mit den Forderungen verbundenen Finanzaufwands, der über Preiserhöhungen an die Kunden weiter gegeben werden sollte, unter zusätzlichen Druck, und negative Auswirkungen auf das Absatzvolumen in einer geschätzten Größenordnung von bis zu 50 000 Fahrzeugen wurden wahrscheinlich. Vertriebsvorstand Münzner brachte als erster am 19. Februar 1974 die reale „Gefahr von Einbrüchen aus anderen Gründen“ zur Sprache, zumal der sehr hohe Lagerbestand und die frühestens im Mai 1974 greifenden Preiserhöhungen die Liquidität gefährdeten.127 Produktionsvorstand Hartwich rechnete bei gleicher Gelegenheit vor, dass eine Absatzreduzierung um 30 000 Fahrzeuge zur „Freistellung von 1 500 Fertigungslöhnern“ führen müsse. Hinzu trat der schon länger am Standort Hannover bestehende Personal-

123 

Ebd., S. 10. Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 15. 1. 1974, S. 7 (ebd.). 125  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 23. 1. 1974, S. 9 (ebd.); Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 29. 1. 1974, S. 7ff. (ebd.). 126  Niederschrift über die Besprechung zwischen Vorstand und dem Gesamtbetriebsausschuss am 29. 11. 1973, S. 4 (UVW, Z 652, Nr. 465/1); Niederschrift über die Besprechung zwischen Vorstand und dem Gesamtbetriebsausschuss am 4. 12. 1973, S. 1 (ebd.). 127  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 19. 2. 1974, S. 3 (UVW, Z 69, Nr. 731/1). 124 

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überhang von 2 500 Akkordlöhnern, der zu weiterer Kurzarbeit im April oder Mai 1974 zwinge. Als alarmierendes Zeichen für das frühe Scheitern des ursprünglichen Krisenplans musste gelten, dass der geplante Export von 70 000 zusätzlichen Fahrzeugen in die USA wegen des dort einbrechenden Marktes nicht zu realisieren war. Deshalb hatte das Verkaufsressort „große Sorge“, dass die „ursprünglich angestellten Rechnungen aufgingen“.128 Tatsächlich ging der Absatz im Januar und Februar 1974 im Inland gegenüber den Vorjahreswerten um 23,1 Prozent, in Europa um 25 Prozent und in den USA sogar um 26,4 Prozent zurück. Da der US-amerikanische Markt seine Retterfunktion wegen der „allgemeinen Rezession als Folge auch der Benzinkrise“ nicht übernehmen konnte, sondern sogar noch zu einem überdurchschnittlichen Belastungsposten wurde, drohten die prognostizierten Produktionsüberhänge von rund 210 000 Fahrzeugen den ohnehin erreichten Spitzenwert von 460 000 Lagerfahrzeugen zwischen März und Juli 1974 auf ein nicht mehr hinnehmbares Niveau aufzublähen. Kurzarbeit an jeweils 11 Tagen in allen Werken sollte in der zweiten Aprilhälfte etwas Luft verschaffen. Finanzvorstand Thomée brachte angesichts des drohenden Jahresverlusts am 26. Februar 1974 die Möglichkeit ins Spiel, „über Personalreduzierung eine Entlastung von den Personalkosten“ zu erreichen.129 Dass dies die aufgeheizte Stimmung im Tarifstreit nur zusätzlich katalysieren würde und auch das am Nachmittag des 26. Februar 1975 stattfindende Krisengespräch mit dem Betriebsrat nicht erleichterte, war der Vorstandsmehrheit ebenso wenig zu vermitteln wie die negative Wirkung der gegen die Stimmen von Personalvorstand Frerk und Produktionsvorstand Hartwich beschlossenen Preiserhöhung um sechs Prozent. Der GBR lehnte wegen der aus seiner Sicht völlig überraschenden Konfrontation mit der Kurzarbeitsforderung jegliche Entscheidung in der Sache ab, zumal am 14. Februar 1974 noch über zusätzliche Einstellungen gesprochen worden war.130 Die schroffe Unerbittlichkeit bei fehlender tarif- und wirtschaftspolitischer Geschmeidigkeit muss wohl als Gegenstück der sich zuspitzenden Unternehmenslage wie auch der gesellschaftspolitischen Überlebtheit des sich zunehmend gegenüber der sozialliberalen Bundesregierung und der Gewerkschaftsspitze isolierenden Führungspersonals begriffen werden. Dass Vorstandsvorsitzender Rudolf Leiding, unterstützt vom Vorstand für Recht und Öffentlichkeitsarbeit, Horst Backsmann, in vehementer Weise gegen die Gewerkschaftsforderung nach einer die Inflationsraten übersteigenden Lohnsteigerung auftrat, hing auch mit der Ablehnung dieser ganzen politischen Richtung wie des so128 

Ebd., S. 4. Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 26. 2. 1974, S. 3 (ebd.). 130  Niederschrift über die Besprechung zwischen Vorstand und Angehörigen des Gesamtbetriebsrats am 26. 2. 1974, S. 3, ähnlich Siegfried Ehlers, S. 17 (UVW, Z 652, Nr. 465/1). 129 

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zialliberalen Reformprojekts insgesamt zusammen.131 Schwer zu vermitteln war auch der unmittelbare Übergang von Belegschaftsaufbau und Kurz­ arbeitsnotwendigkeit – dies hatte Personalvorstand Frerk vorstandsintern kritisch angemerkt, dass von ihm bis zum 25. Februar 1974 noch „mit Hochdruck Einstellungen“ verlangt waren, „während am 26. Februar plötzlich Kurzarbeit beschlossen“ wurde.132 Den Betriebsräten stieß unangenehm auf, dass die Kurzarbeit mit der laufenden Tarifauseinandersetzung situativ verquickt wurde. Der Betriebsratsvorsitzende des Werks Hannover, Gerhard Mogwitz, hielt deswegen die Kurzarbeit nur für „vorgeschoben“.133 Dementsprechend stimmten die Betriebsräte der beantragten Kurzarbeit weiterhin nicht zu. Die Kontrahenten verhakten sich zunehmend, sodass GBR-Vorsitzender Siegfried Ehlers in der nächsten Zusammenkunft von Vorstand und GBR fast abschließend erklärte, dass man so „nicht miteinander verkehren“ könne. Für Selbstbewusstsein und Durchsetzungsfähigkeit bekannt, bestritt er, dass – angesichts der ultimativen schriftlichen Aufforderung des Vorstands, der GBR solle der Kurzarbeit zustimmen, andernfalls werde eine gerichtliche Ersatzentscheidung herbeigeführt – noch von einer „vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Betriebsrat“ gesprochen werden könne.134 Ehlers brachte die  Frontstellung symbolisch auch dadurch zum Ausdruck, dass er es für „nicht richtig“ halte, dass die Unternehmensseite in der Besprechung gleichsam den „Vorsitz für sich in Anspruch nehme und den einzelnen Betriebsratsmitgliedern jeweils das Wort erteile“.135 Der GBR-Vorsitzende machte klar, dass er zukünftig den Wortmeldungen aus dem GBR-Kreis das Wort erteile, was der konziliante Personalvorstand Frerk auch unmittelbar zugestand. Ob aber der intendierte Machtkampf mit der Gewerkschaft zu gewinnen war, blieb für die meisten Vorstandsmitglieder zumindest zweifelhaft, wes131  Die Schwierigkeiten, die vorherige Position der demonstrativen Nichtbeachtung der SPD und der Gewerkschaften zu überwinden, unterstreicht Werner Bührer: „… insofern steckt in jedem echten Unternehmer auch ein künstlerisches Element.“ Die Erneuerung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in den 1970er Jahren, in: Reitmayer / Rosenberger, Unternehmen, S. 233–248. 132  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 12. 3. 1974, S. 15 (UVW, Z 69, Nr. 732/1). 133  Protokoll über eine Besprechung zwischen Mitgliedern des Gesamtbetriebsrates und Vertretern der Geschäftsbereiche Vertrieb, Produktion, Finanz- und Betriebswirtschaft, Personal- und Sozialwesen sowie mit den Werkspersonalleitern zum Thema „Kurzarbeit“ am 5. 3. 1974, S. 17 (UVW, Z 652, Nr. 465/1). 134  Niederschrift über die Besprechung zwischen Vorstand und Angehörigen des Gesamtbetriebsrats am 4. 3. 1974, S. 1f. (ebd.); Ehlers kritisierte die Einbestellung des GBR durch den Vorstandsvorsitzenden öffentlich, Protokoll über die am 17. 4. 1974 stattgefundene 8. ordentliche Betriebsversammlung, S. 5f. (UVW, Z 373, Nr. 410/4). 135  Niederschrift über die Besprechung zwischen Vorstand und Gesamtbetriebsrat am 12. 3. 1974, S. 8 (UVW, Z 652, Nr. 465/1).

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halb sie sich den Argumenten des Personalvorstands schrittweise annäherten. Am Ende ergaben sich auch Leiding und Backsmann am 18. März 1974 dem unter Abwägung der Kosten eines drohenden Streiks mehrheitlich getroffenen Vorstandsbeschluss, den mehrere hundert Millionen DM schweren Einigungsvorschlag des Schlichters anzunehmen.136 Trotz der angespannten Finanzlage des Unternehmens und eines drohenden Verlustes in einer Größenordnung von 650 Millionen DM bewertete der Vorstand den möglichen Schaden aus einer streikbedingt ausfallenden Passat-Produktion und dem verspäteten Serienanlauf der Golf- und Polo-Fertigung höher als die zusätzliche, aber als unvermeidbar bewertete Erhöhungen der Löhne und Gehälter. Denn die Versorgung der Audi-NSU-Werke wie auch die wohlwollende Unterstützung des Betriebsrats bei der Bewilligung von anlaufbedingter Mehrarbeit waren aus Sicht der Vorstandsmehrheit ihren Preis wert. Die Kundenauslieferungen lagen im Februar 1974 um 24 Prozent unter den Zahlen des Vorjahres und um 14,7 Prozent unter dem Soll sowie immer noch um 9,6 Prozent unter dem Krisenplan. In den Kernmärkten blieb der Absatz um 22,2 Prozent im Inland, in Europa um 22,6 und in den USA sogar um 31,1 Prozent hinter dem Vorjahr zurück. Damit war der ursprüngliche Krisenplan, durch vermehrte Exporte in die USA die Inlandsschwäche auszugleichen, schon im Ansatz zur Illusion geworden.137 Der negative Trend drängte zur Kurzarbeit, wobei allerdings die anfänglich wenig kompromissbereite Haltung des Betriebsrats und der IG Metall eine erste Kurzarbeitsphase für die betroffenen Bereiche in allen Werken erst in der Zeit vom 22. April bis 3. Mai 1974 möglich machte. Im Werk Hannover sollte darüber hinaus die Kurzarbeit in der Zeit bis zum 31. Mai 1974 erfolgen, erforderlichenfalls konnten andere Werke hinzutreten.138 Am 23. April 1974 beschloss der Vorstand, dass die sich weiter verschlechternde Absatzsituation weitere 16 Kurzarbeitstage vom 24. bis 31. Mai und vom 1. bis 12. Juli 1974 erforderlich machte. Mit Ausnahme von notwendigen Spezialkräften herrschte ein Einstellungsstopp.139 Die zugespitzte Lage – das Unternehmen hatte zunehmend Mühe, den wachsenden Finanzbedarf durch kurzfristige Bankkredite zu decken – und

136 

Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 18. 3. 1974, S. 6 (UVW, Z 69, Nr. 732/1); Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 14. 3. 1974, S. 4ff. (ebd.); Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 12. 3. 1974, S. 2ff. (ebd.); Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 11. 3. 1974, S. 2ff. (ebd.). 137  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 12. 3. 1974, S. 14 (ebd.). 138  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 14. 3. 1974, S. 1f. (ebd.). 139  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 23. 4. 1974, S. 11 (ebd.); Niederschrift über die Besprechung zwischen Vorstand und Gesamtbetriebsrat am 6. 5. 1974 über weitere Kurzarbeit, S. 3f. (UVW, Z 652, Nr. 465/1).

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die zunehmenden Existenzsorgen der Belegschaft entluden sich in der Betriebsversammlung am 13. April 1974. Ein Teilnehmer warf Leiding vor, eine „Angstpsychose“ erzeugen zu wollen, um die Belegschaft von den Betriebsräten und der IG Metall zu isolieren.140 Eine andere Rednerin bezeichnete die Stahlgittertore, die an den Werkstoren und in den Personenzugangstunneln ohne rechtlich vorgegebene Konsultation der Arbeitnehmervertretung angebracht worden waren, um im Falle der Aussperrung der Belegschaft den Zugang zum Werk zu versperren, als „Gefängnistore“ und sagte, dass die Belegschaft „nicht wie im KZ hinter Gittern arbeiten“ wolle.141 Wegen solcher aus seiner Sicht persönlicher Angriffe verließen der Vorstandsvorsitzende und – wie ein Redner es nannte – „seine Vorstandsvasallen“ die Veranstaltungshalle, während andere Vorstandsmitglieder den emotional aufgeladenen Versammlungsverlauf bis zum Ende weiterverfolgten.142 Was von Teilen des Managements als Uneinigkeit innerhalb des Vorstandskollegiums wahrgenommen wurde, ließ bei Tarifmitarbeitern den Eindruck entstehen, dass „Leidings Stunde gezählt“ sei.143 Rudolf Leiding wollte aber in einer Art Trotzreaktion künftig von seiner Teilnahme absehen und machte seine, von Horst Münzner geteilte Einstellung in Schreiben an den Betriebsratsvorsitzenden Ehlers und den IG Metallvorsitzenden Eugen Loderer deutlich.144 Nach Ansicht von Personalvorstand Frerk trugen insgesamt vier Aspekte zur Erregung in der Belegschaft bei. Erstens sorgte die durchgängig positivere Einschätzung des möglichen Absatzvolumens durch den Betriebsrat für Unruhe, da das Ausmaß der erforderlichen Produktionseinschränkung und die damit verbundene Kurzarbeit durch die Arbeitnehmervertretung und Gewerkschaft abweichend zur Vorstandsposition bewertet wurde. Zweitens habe der Umstand, dass bis zum 25. Februar 1974 zusätzliche Einstellungen vorgenommen worden waren, um unmittelbar folgend zunächst für alle Werke, später nur für ein Drittel der Belegschaft Kurzarbeit zu beantragen, für Unmut gesorgt. Drittens habe auch das Schreiben Leidings an die Belegschaft bzw. an die Ehefrauen der Beschäftigten zum erreichten Erregungszustand geführt. Schließlich habe viertens der vom Betriebsrat nicht genehmigte Einbau von Gittertoren in den Tunnelzugängen auf viele Mitarbeiter als Vorbereitung auf Aussperrungs140  Protokoll über die am 17. 4. 1974 in Wolfsburg stattgefundene 8. ordentliche Betriebsversammlung, S. 28 (UVW, Z 373, Nr. 410/4). 141  Ebd., S. 32f.; eine andere Rednerin sprach von „Getto-Toren“ als „Objektschutz“, ebd., S. 35. 142  Ebd., S. 66. 143  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 23. 4. 1974, S. 15 (UVW, Z 69, Nr. 732/1); Protokoll über die am 17. 4. 1974 stattgefundene 8. ordentliche Betriebsversammlung, S. 66 (UVW, Z 373, Nr. 410/4). 144  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 23. 4. 1974, S. 15 (UVW, Z 69, Nr. 732/1); Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 30. 4. 1974, S. 14ff. (ebd.).

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maßnahmen gewirkt, was ebenfalls zur Vergiftung der innerbetrieblichen Stimmung beigetragen habe. Ungeachtet dieser auf den Verzicht zusätzlicher Konfrontationszeichen und um Ausgleich bedachten Position des sozial­ demokratisch orientierten Personalvorstands hielten Leiding und andere Vorstandsmitglieder an ihrer unversöhnlichen Haltung fest und ließen u. a. mögliche strafrechtliche und disziplinarische Konsequenzen prüfen. Indem die Vorstandsmehrheit auf die zunehmende Politisierung der betrieblichen Gewerkschafts­aktivitäten mit Sprachlosigkeit gegenüber Betriebsrat bzw. IG Metall reagierte, beraubte sich der Vorstand der Unterstützung der Belegschaftsvertretung beim Gegensteuern gegen die Krise und bei der Reduzierung der Krisenfolgen für die Belegschaft. Das Unternehmen Volkswagen stand vor der Schwierigkeit, die erforder­ lichen Modellinnovationen durch einen längst überfälligen Generationenwechsel bei gleichzeitig einbrechender Konjunktur zu realisieren. Wegen der Krise musste das Investitionsprogramm drastisch beschnitten werden, wobei nur Vorhaben ausgenommen waren, die „für das künftige Modellprogramm lebensnotwendig“ waren.145 Die Kurzarbeit half zwar die Produktion unverkäuflicher Fahrzeuge zu vermeiden, jedoch bestand angesichts der hohen Fixkosten die Notwendigkeit zu weiteren Kostensenkungen. Kürzungsmaßnahmen im Sozialbereich, etwa bei der Erholungsverschickung, bei der Subventionierung der Kantinenpreise oder beim Wohnungsbau, wurden erwogen. Es war aber klar, dass insbesondere beim Personalkostenblock gespart werden musste. Das im Mai 1974 festzulegende Produktionsprogramm erforderte also personelle Konsequenzen, die je nach Lage der Dinge weitere Kurzarbeitstage, aber ab Oktober 1974 auch Entlassungen einschließen konnten. Leiding brachte seinerseits vorzeitige Pensionierungen in die Diskussion, sprach sich aber im Bedarfsfalle auch für „Massenentlassungen“ aus.146 Obgleich im Frühjahr 1974 im Inland gegenüber den Sollplanungen durch gute Passat-Verkäufe erste Lichtblicke vermeldet werden konnten, sank der Absatz in Europa weiter und insbesondere in den USA mit rund 27,6 Prozent gegenüber dem Vorjahreswert sogar drastisch ab. Dadurch wurde die finanzielle Situation aus Sicht des Finanzvorstands Thomée „sehr kritisch“. Der Schuldenstand vornehmlich kurzfristiger Kreditverbindlichkeiten lag Ende April 1974 bei 2 Milliarden DM und drohte bis Ende Juli auf geschätzte 3,2 Milliarden DM nach oben zu schnellen, was zukünftig die Beschaffung von kurzfristig benötigtem Kapital nur noch gegen Garantien ermöglichte. Darüber hinaus fehlte dem Unternehmen Geld zur Finanzierung der im Zusammenhang mit der Umstellung auf eine neue Fahrzeuggeneration dringend erforderlichen Investitionen. Das Fertigungsprogramm für die zweite Jahres145 

Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 23. 4. 1974, S. 18 (ebd.). 146  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 30. 4. 1974, S. 13 (ebd.).

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hälfte reduzierte die arbeitstägliche Fertigung von aktuell 2 000 Passat zum Jahresende auf unter 900 und beim Transporter auf 600 Fahrzeuge anstatt 900. Die geplante Auslastung der Werke lag dann in Wolfsburg bei nur 56, in Salzgitter bei 58 und in Emden bei 80 Prozent.147 Wegen der zu spät wahr­ genommenen Überproduktion mussten die Anpassungsmaßnahmen umso drastischer erfolgen. Das gab Gerüchten über bevorstehende Massenentlassungen Nahrung, denen die Unternehmensleitung aber entgegentrat.148 Wiederum erfolgte erst verspätet die notwendige Krisenwahrnehmung. Der 1974 tätige Vorstand war aber mit Ausnahme des Vorstands für das Ressort Finanz- und Betriebswirtschaft, Friedrich Thomée, nicht identisch mit dem Führungspersonal des Jahres 1966/67. Dementsprechend war die Situation der Krise für die Mehrheit des Vorstands eine vollkommen neue Er­ fahrung – angesichts der weiter sinkenden Amtsdauer von Vorständen bleibt dies wohl die Regel. Insoweit kann allein schon der Lernertrag, dass Krise erst verspätet wahrgenommen und dann mit einem unnötig umfassenden Personalabbau beantwortet wurde, mangels personaler Kontinuitäten gar nicht mehr vom Krisenbewältigungspersonal der einen auf die bei der nächsten Krise tätige Entscheiderebene übertragen werden. Vorstand und Betriebsrat stimmten im Frühjahr 1974 in der Bewertung überein, dass kurzfristig keine Genehmigung von Entlassungen zu erreichen war, und diese somit bis Jahresende 1974 keine durchgreifende Entlastung bringen würden. Deshalb blieb zur Produktions- und Kostenreduzierung nur der Weg, den bestehenden Einstellungsstopp auch auf den Fluktuationsersatz von Lohn- und Gehaltsempfängern auszudehnen. Mehrarbeit sollte selbst aus anlaufbedingten Gründen auf das unbedingt Notwendige zurückgefahren werden. Darüber hinaus breitete Personalvorstand Frerk mit der Gewährung von unbezahltem Urlaub, dem vorübergehenden Ausscheiden von ausländischen Arbeitern mit späterer Wiedereinstellungsgarantie, weiterer Kurzarbeit im zweiten Halbjahr und der Nichtverlängerung von befris­ teten Arbeitsverträgen tunesischer Belegschaftsangehöriger den Strauß der personalpolitischen Maßnahmen weit aus. Als besonders gut geeignetes Ins­ trument des Kostenabbaus im Personalbereich erschienen Aufhebungsverträge, die nicht genehmigungspflichtig waren, kurzfristig wirkten und am Ende gegenüber Entlassungen auch Kostenvorteile aufwiesen. Doch über allem stand die „maximale Steigerung des Golf“, der auf der Angebotsseite den Neuanfang symbolisierte.149 Denn eine rasch ansteigende 147 

Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 21. 5. 1974, S. 9 (ebd.). 148  Niederschrift über die Besprechung zwischen Vorstand und Gesamtbetriebsrat am 16. 5. 1974, S. 1f. (UVW, Z 652, Nr. 465/1). 149  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 21. 5. 1974, S. 12 (UVW, Z 69, Nr. 732/1); zum Golf siehe etwa Manfred Grieger: 25 000 000 Golf, Wolfsburg 2008; Jens Meyer: VW Golf 1. Alles über die Auto-Legende aus Wolfsburg, München 2010.

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Anlaufkurve und das Hochfahren der Ausbringungszahlen hatten für die Versorgung der Märkte mit dem Kompaktfahrzeug eine herausragende Bedeutung. Nachdem sich gezeigt hatte, dass auch in den USA der Nimbus des Käfers verblasst und die kurzfristige Ölpreiskrise in eine tiefgreifende Konjunkturkrise übergegangen war, dachte die Unternehmensleitung durch Produktinnovationen zusätzliche Kaufanreize schaffen zu können. Dass allerdings in Krisenzeiten kein Automatismus bestand, mit einem neuen Modell den Absatz wesentlich zu beleben, zeigten die hinter den Erwartungen zurückbleibenden Absatzzahlen des Passats. Bei der Vorstandsforderung nach zwei zusätzlichen Kurzarbeitswochen im August und September dienten die auf mehr als 63 000 Passat aufgelaufenen, kurzfristig als unverkäuflich geltenden Lagerbestände als Begründung.150 Bis Ende Juli 1974 ergab sich keine Tendenzwende – die weltweiten Auslieferungen blieben in den ersten sieben Monaten des Jahres 1974 um 17,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr und um 13,3 Prozent gegenüber der Sollplanung zurück. Der deutsche Markt, der im Juli die Planung dank guter PassatVerkäufe und der beginnenden Golf-Auslieferungen sogar um 31 Prozent übertraf und auch über den Verkaufszahlen des Vorjahrs landete, machte ebenso eine Ausnahme wie die Zuwächse verzeichnenden Märkte Österreich, Schweden und die Schweiz. In den USA, wo zwischen Januar und Juli 1974 31,7 Prozent weniger Volkswagen und Audi als im Vorjahr verkauft wurden, gab es noch keine Anzeichen, dass die Talsohle bereits erreicht wäre.151 Nach dem Werksurlaub stellte Vorstandsvorsitzender Leiding am 15. August 1974 klar, dass die bisherige Ausrichtung, den „Ertrag über den Preis selbst auf Kosten von Volumenreduzierungen zu verbessern“, wegen des auf dem Unternehmen lastenden Kostenblocks aufgegeben werden musste.152 Nunmehr war mit Blick auf den Inlandsmarkt und Europa „unter Ausschöpfung aller preislicher Möglichkeiten“ ein weiterer „Abbau zu vermeiden und alles daranzusetzen, den Absatz und die Produktion zu sichern“. Dies lief auf eine Reduzierung des Gestehungspreises, etwa des Golfs, aber vor allem auf die Verminderung der Gemeinkosten hinaus. Leiding wollte aber von Aufhebungsverträgen absehen, da hierdurch eine „Negativauslese“ stattfinde, also die Leistungsstärkeren das Unternehmen verließen.153 Dementsprechend stellte er die pauschale Forderung auf, dass im Angestelltenbereich und bei den „unproduktiven Lohnempfängern“ ein Zehntel entlassen werden müssten. Das war zwar wegen der gesetzlichen Vorgaben bei Massenentlassungen wenig realistisch und schon gar nicht kurzfristig umsetzbar. Jedoch sprachen 150 

Niederschrift über die Besprechung zwischen Vorstand und Gesamtbetriebsrat am 27. 5. 1974, S. 2 (UVW, Z 652, Nr. 465/1). 151  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 15. 8. 1974, S. 3f. (UVW, Z 69, Nr. 732/1). 152  Ebd., S. 7. 153  Ebd., S. 9.

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der vorgesehene Verkauf des Erholungsheims Schulenberg und von Werkswohnungen, die gewünschte radikale Beschränkung von Spenden und der sofortige Stopp von Beförderungen und Gehaltserhöhungen für ein hartes Durchgreifen. Die Einlassungen von Leiding enthielten allerdings, etwa wenn er gegenüber dem Betriebsrat „mit allen Mitteln“ darauf dringen wollte, dass „künftig wieder von Pausenzeichen zu Pausenzeichen durchgearbeitet“ würde, eine nicht zu übersehende Betonung des Herr-im-Hause-Standpunkts. Die Vorstände Frerk, Hartwich und Münzner stellten am 29. August 1974 den GBR-Vertretern die Unternehmenssituation „ohne Beschönigung“ dar. Leiding gab daraufhin seiner Hoffnung Ausdruck, dass die „Hinweise auf den notwendigen Personalabbau und die Notwendigkeit der besseren Ausschöpfung der Arbeitskraft ein gewisses Verständnis gefunden hätten“.154 Die finanzielle Situation spitzte sich indes noch weiter zu. Zum 30. August 1974 betrug die Gesamtverschuldung des Konzerns 5 Milliarden DM, davon allein 1,5 Milliarden bei der Volkswagen of America, Inc., dem früheren Gewinnmotor. Das Unternehmen schrappte wegen des drohenden Verlusts der Kreditwürdigkeit an der Illiquiditätsgrenze entlang.155 Die Absatzsituation bot auch im September 1974 noch keinen Hinweis auf eine Trendwende, sodass die Notwendigkeit des Personalabbaus nur noch dringlicher wurde.156 Immerhin standen nach den ersten neun Monaten des Jahres 1974 den 3 933 Einstellungen immerhin Abgänge von 11 605 Mitarbeitern gegenüber.157 Derweil verdiente das Unternehmen, das einen Jahresverlust von mindestens 600 Millionen DM erwartete, nicht einmal mehr seine Abschreibungen, lebte also aus der Substanz. Wenn auch bei den Aufhebungsverträgen im Oktober 1974 ein erster Erfolg erzielt werden konnte, als der Betriebsrat dem Ausscheiden von 1 900 älteren Werksangehörigen zustimmte,158 so schätzte Personalvorstand Frerk das Potential der Aufhebungsverträge auf 5 500 Personen. Insgesamt glaubte er, den Personalabbau bis zum 1. April 1975 gegenüber dem Stand vom 1. Juli 1974 um immerhin 11 000 Mitarbeiter voranbringen zu können. Frerk hielt dabei an der Auffassung fest, dass Aufhebungs154 

Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 3. 9. 1974, S. 16 (ebd.); dem Protokoll kann ein sachlicher Austausch der jeweiligen Positionen entnommen werde, die Erklärungsfrist zur für die 39. Kalenderwoche 1974 vom Vorstand beantragten Kurzarbeit endete am 6. September 1974, Protokoll über die Besprechung von Vertretern des Gesamtbetriebsrats mit Vertretern des Vorstands am 29. 8. 1974, S. 14 (UVW, Z 652, Nr. 466). 155  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 3. 9. 1974, S. 13 (UVW, Z 69, Nr. 732/1); Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 1. 10. 1974, S. 9 (ebd.). 156  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 20. 9. 1974, S. 3ff. (ebd.). 157  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 25. 9. 1974, S. 14 (ebd.). 158  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 9. 10. 1974, S. 15 (ebd.).

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verträge und Frühverrentungen der kostengünstigere und raschere Weg seien, um die Personalkosten nachhaltig zu senken. Leiding betrachtete aber den ökonomisch erforderlichen Personalabbau auch als Mittel, um sich insbesondere von „leistungsschwachen Mitarbeitern zu trennen“.159 Die mittelfristige Produktionsplanung, die innerhalb von fünf Jahren eine Minderproduktion von 1,6 Millionen Fahrzeugen gegen früheren Absatzschätzungen zu berücksichtigen hatte, machte nach Ansicht des Finanzvorstands Thomée allein für das Bedarfsprogramm 1975 die „Freisetzung“ von bis zu 7 000 Akkordlöhnern erforderlich.160 Leiding ging wegen der unsicheren Absatzentwicklung und der fehlenden Unternehmenserholung sogar noch einen Schritt weiter. Sollte der Absatz weiter nach unten gehen, müsste die „Schließung einer Fabrik dann ernsthaft erwogen“ werden.161 Deshalb regte er die Prüfung von Massenentlassungen an, woraufhin der Vorstand die vorsorgliche Erarbeitung von Auswahlrichtlinien beschloss. Ungeachtet dessen wurden Betriebsvereinbarungen über die Vorruhestandsregelung für die über 59- und 62-jährigen Mitarbeiter und entsprechende Mechanismen zum Ausscheiden jüngerer Beschäftigter angenommen, in deren Gefolge 1 070 Angestellte und 3 500 Zeit- und Akkordlöhner das Unternehmen verlassen sollten. Über die Zahl der insgesamt abzubauenden Stellen von 7 300 Werksangehörigen bestand innerhalb des Vorstands Einvernehmen. Angesichts der sich zuspitzenden Lage waren die Arbeitnehmervertreter mit einer weitgehenden Arbeitsruhe vom 2. bis 10. Januar 1975 einverstanden.162 Anfang Dezember 1974 berichtete Personalvorstand Frerk, dass die hohen Abbauvorgaben bei den Lohnempfängern realisiert werden konnten, während der Angestelltenbereich hinterherhinke, da die Vorstandsbereiche noch nicht genügend Stellen benannt hätten. Gleichwohl glaubte Frerk, den Belegschaftsstand bis zum 1. April 1975 auf das Niveau von 1968/69 zurückführen zu können.163 Allerdings gingen die Gedankenexperimente der Produktionsleitung neben einer möglichen Schließung der Werke Neckarsulm, das Leiding gesprächsweise bereits der Firma Porsche angeboten hatte, und Brüssel auch in Richtung eines Einschichtbetriebs der Passat-Fertigung in den Werken Wolfsburg, Salzgitter und Brüssel, was aber nach Ansicht des Personalbereichs auf eine „Massenentlassung der übrigen Werksangehörigen“ hinausliefe.164 159 

Ebd., S. 18. Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 15. 10. 1974, S. 5 (ebd.). 161  Ebd., S. 7. 162  Hiller betr. Besprechungspunkte aus der Sitzung am 4. 12. 1974 (UVW, Z 652, Nr. 465/1). 163  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 3. 12. 1974, S. 11 (UVW, Z 69, Nr. 732/1). 164  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 10. 12. 1974, S. 10 (ebd.); Protokoll über die Besprechung zwischen Vertretern des Vorstands und dem Gesamtbetriebsausschuss am 13. 11. 1974, S. 1ff. (UVW, Z 652, Nr. 465/1). 160 

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Der volkswirtschaftliche Ausblick enthielt erstmals gewisse Hoffnungen auf eine in den Herbst 1975 verschobene Belebung des Automobilgeschäfts. Während für den Inlandsmarkt eher ein gleichbleibendes Niveau vorausgesagt wurde, ging der Automobilabsatz beispielsweise in den USA weiter in den Keller. Damit gab es keinen Grund, die Produktionsplanungen abzuändern, aber noch weniger Anlass, von einer Verbesserung der Finanzlage des Unternehmens auszugehen. Friedrich Thomée berichtete seinen Vorstandskollegen angesichts eines erwarteten Kreditstandes von 6 Milliarden DM von einer extrem angespannten Situation. Drei Gründe machte er für die kaum verantwortbaren hohen Bankenverbindlichkeiten geltend: Zum einen hatte das neue Modellprogramm erhebliche Investitionen notwendig gemacht. Zum zweiten banden die auf über 500 000 Fahrzeuge angewachsenen Lagerbestände, die zu 56 Prozent unmittelbar von Volkswagen finanziert wurden, mehr als 2 Milliarden DM. Weitere 855 Millionen DM trugen das Leasingund Autovermietgeschäft sowie die Kundenfinanzierung zum hohen Schuldenstand bei. Zum dritten waren die Tochtergesellschaften in Brasilien und Mexiko erstmals in der Unternehmensgeschichte nicht in der Lage, ihre rund 190 Millionen DM betragenden fälligen Verpflichtungen gegenüber der Konzernmutter zu erfüllen. Zusammen mit den aufgehäuften Lagern und Vorräten lief alles auf eine „drohende Liquiditätskrise“ zu.165 Eine „akute Gefahr der Zahlungsunfähigkeit“ erkannte Thomée für den Fall des Bekanntwerdens der Verlustsituation des laufenden Geschäftsjahres, was eine Kürzung der Kreditlinien wahrscheinlich mache und dann nur noch die allerdings wenig aussichtsreiche Option eröffne, die Großaktionäre, sprich: Bund und Land Niedersachsen um Kapitalhilfe zu bitten. Die bestehenden Planungen gingen weiterhin davon aus, dass der Liquiditätsengpass überwunden werden konnte. Aber der Finanzbereich drängte auf Durchführung der vom Vorstand beschlossenen Sparprogramme und setzte sich dafür ein, insbesondere die nicht-produktive Belegschaft zu reduzieren. Neben einem drastischen Abbau der Vorräte und Lagerbestände wurde auch das Investitionsprogramm bis auf die für das neue Produktprogramm essentiellen Anteile zusammengestrichen. Die Lage war also in verschiedener Hinsicht mehr als ernst, kurzfristige Kosteneinsparungen das A und O. Als grundlegendes Problem der Anpassung des Personalbestandes an die betrieblichen Erfordernisse erwies sich aber zunehmend das gestörte Verhältnis zwischen dem Vorstandsvorsitzenden und der Arbeitnehmervertretung, deren Zustimmung erst die Umsetzung der gewünschten Maßnahmen ermöglichte. Da die Betriebsratsspitze um Siegfried Ehlers noch nicht einmal eine symbolische Anerkennung ihrer strukturellen Mitverantwortung spürte, und Rudolf Leiding manche, der organisationspolitischen Verankerung der IG Metall in der Belegschaft geschul165  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 10. 12. 1974, S. 10 (UVW, Z 69, Nr. 732/1).

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dete Spitze zumindest mit gleicher Münze heimzahlen wollte, verweigerte sich der Betriebsrat zunehmend, was eine Verzögerung der notwendigen kurzfristigen Eingriffe bedeutete. Der Unternehmensleitung lief die Zeit weg, weshalb sich zumindest der Personal- sowie der Produktions- und Verkaufsvorstand für eine Verbesserung des Gesprächsklimas zwischen Vorstand und Betriebsrat einsetzten. Doch das war mit dem sich kommunikativ abschottenden Rudolf Leiding nicht mehr zu machen. Da die Mehrheitsaktionäre, der Bund und das Land Niedersachsen, mit der Arbeitnehmerbank in der Bewertung übereinstimmten, dass dem Vorstandsvorsitzenden die Regelungskompetenz zur Überwindung der schwierigen Unternehmenssituation fehlte, wurde Leiding – formell auf seinen Antrag hin – von seinen Pflichten entbunden. Der Vorstand trat am 14. Januar 1975 unter Leitung des dienstältesten Vorstandsmitglieds, Friedrich Thomée, zur Diskussion der Vertriebssituation zusammen, die nach der ersten Ana­ lyse des Vertriebsvorstands Münzner durch das Auseinanderfallen des leicht positiven Inlandsabsatzes (+ 3 Prozent) von den stark rückläufigen Auslieferungen in Europa (– 14,1 Prozent) und einem Markteinbruch in den USA (– 29 Prozent) sowie den konjunkturbedingten Rückgang der Transporterverkäufe um 22,7 Prozent geprägt war. Eine Besserung der Absatzsituation war nicht in Sicht.166 Die laufend angewachsenen Lagerbestände machten nach Ansicht des Produktionsressorts eine weitere Reduzierung der Produktion um 68 000 Fahrzeuge notwendig, was Produktionsvorstand Hartwich neuerlich vier Wochen Kurzarbeit im ersten Quartal 1975 fordern ließ. Der Personalabbau war 1974 allerdings schon eine nicht unerhebliche Strecke vorangekommen: Den vor allen in den ersten zwei Monaten vorgenommenen 4 658 Einstellungen standen 20 840 Abgänge, davon 8 624 durch Aufhebungsverträge und 1 411 durch Frühverrentungen, gegenüber. Die Belegschaftszahl sank immerhin um 16 182 Mitarbeiter.167 Da während der anstehenden Betriebsratswahlen die Durchführung von Kurzarbeitstagen wegen möglicher Anfechtungsklagen ausgeschlossen war, blieb das Erfordernis, in den Monaten Mai bis Juli jeweils bis zu zwei Kurzarbeitswochen einzulegen, was der Betriebsrat im Grundsatz billigte. Das am 21. Januar 1975 diskutierte Kapazitätsanpassungskonzept, das u. a. die Schließung eines Werks und den Übergang zum Einschichtbetrieb als Möglichkeiten durchspielte, erkannte selbst auf der Basis der optimistischen Annahmen des Vertriebs zum langfristigen Absatzplan einen Personalüberhang von mindestens 3 000 Beschäftigten, der aus Sicht des Vorstandes „nur 166 

Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 15. 1. 1975, S. 2 (UVW, Z 373, Nr. 177/3); Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 15. 2. 1975, S. 6ff. (UVW, Z 373, Nr. 177/1). 167  Ebd., S. 5; allein in der Volkswagenwerk AG sank die Belegschaft vom 31. 12. 1973 zum 31. 12. 1974 von 125 787 auf 111 527 Mitarbeiter, Grieger/Gutzmann/Schlinkert, Volkswagen Chronik, S. 99 und 101.

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durch Entlassungsmaßnahmen abgebaut“ werden konnte. Deshalb sollte bis zur Grundsatzentscheidung über das Gesamtpaket der ohne Anmeldung auskommende Weg der monatlichen Entlassung von bis zu 49 Personen je Werk beschritten werden. Es zeigte sich aber schon früh, dass der zur Rede stehende Übergang zum Einschichtbetrieb in Brüssel und Salzgitter wohl nur für den Fall die Zustimmung der Betriebsräte erhalten würde, wenn das Unternehmen die Schließung des früheren NSU-Werks in Neckarsulm und anderer Fabrikstandorte verbindlich ausschloss. Vor diesem Hintergrund plädierte Personalvorstand Frerk dafür, im ersten Halbjahr „mit Kurzarbeit hinzukommen und die Einführung des Einschichtbetriebes und die damit ­sowie mit einer Werksschließung verbundenen Entlassungen für das zweite Halbjahr zu planen“.168 Seiner Meinung zufolge sollten eher die Werke Brüssel und Neckarsulm geschlossen werden, da sie im Gegensatz zu Emden mit dem dortigen Hafen und dem Motorenwerk Salzgitter keine Konzernfunk­ tion wahrnahmen. Demgegenüber sprachen sich Entwicklungsvorstand Ernst Fiala und Produktionsvorstand Hartwich für die Schließung der Werke Neckars­ulm und Salzgitter aus. Mit Blick auf den vom Finanzvorstand ­Thomée für das Geschäftsjahr 1975 auf 1,3 Milliarden DM prognostizierten Verlust bestand an der besonderen Dringlichkeit zum Abbau von Produk­ tionskapazitäten und des Personalüberhangs kein Zweifel.

Beschleunigter Arbeitsplätzeabbau und erweiterte ­Mitbestimmung: Das System Schmücker Dass Toni Schmücker, der neue Mann an der Unternehmensspitze, aus seiner Tätigkeit im Thyssen-Konzern Erfahrungen aus der Stahlkrise und der Montanmitbestimmung mitbrachte und mit ihm neue Zeiten anbrachen, zeigte dieser schon allein dadurch, dass er noch vor Dienstantritt am 24. Januar 1975 eine erste Unterredung mit dem Gesamtbetriebsausschuss führte.169 Denn für Schmücker nahmen die Betriebsräte eine strategische Position bei der Beschleunigung der Personalanpassungsmaßnahmen ein, die ihre symbolische Anerkennung zwingend voraussetzte. Indem die IG Metall bei Volkswagen nur eine neunprozentige Lohn- und Gehaltserhöhung forderte und damit um zwei Prozent unter den Forderungen in anderen Tarifgebieten blieb, zeigte sich im Umkehrschluss das gewerkschaftliche Bemühen, auf die besonderen Verhältnisse bei Volkswagen einzugehen.170 168  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 25. 1. 1975, S. 4 (UVW, Z 373, Nr. 177/3). 169  Grieger, Der neue Geist, S. 54ff.; Manfred Grieger: Toni Schmücker, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 23, Berlin 2007, S. 264–265. 170  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 28. 1. 1975, S. 13 (UVW, Z 373, Nr. 177/3); den Anfang März 1975 erzielten maßvollen Tarifabschluss

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Auch wenn alles auf den konzilianten Sanierer wartete, drängte die Finanzlage auf „schnelle und effektive Schritte“ bei der Anpassung der Belegschaftszahlen und der Produktionskapazitäten an die pessimistischen Annahmen des langfristigen Absatzplanes.171 Der Vertriebsbereich rechnete mit ­einer strukturell untergrabenen Position, da die Volkswagen of America Inc. bei den nicht mehr konkurrenzfähigen Preisen „erhebliche Verluste“ einfuhr und der Erfolg des Hoffnungsträgers Golf „noch nicht abschätzbar“ war.172 Auch von den europäischen Volumenmärkten gingen keine Impulse aus, zumal die aus den drohenden Werksschließungen resultierenden Negativschlagzeilen mit unabsehbaren Absatzrisiken verbunden waren. Zwar gab es bessere Aussichten im Inland, jedoch warteten dort die Konzernintegration der Audi NSU Auto Union AG und die Effektivierung der kostenintensiven Großhandelsstufe noch auf spezifische Lösungen. Aus finanzieller Sicht war ein weiterer Personalabbau um mindestens 17 510 Mitarbeiter im europäischen Konzernverbund erforderlich. Mit der Schließung der Werke Neckars­ ulm und Brüssel oder alternativ der Schließung von Neckarsulm und der Aufgabe der Fahrzeugfertigung in Salzgitter stieg das Abbauziel auf 20 020 bzw. 20 702 Beschäftigte. Über die Notwendigkeit von Werksschließungen bestand im Vorstand aber „grundsätzliche Einigkeit“.173 Deren Zeitpunkt bedurfte noch der Festlegung, wie auch über die Frage diskutiert werden musste, ob an der Kurzarbeit festgehalten werden sollte, die die Finanzsituation jeden Tag um 7,5 Millionen DM unmittelbar entlastete.174 Allerdings erhöhte die Kurzarbeit die rechtlichen Barrieren gegen kurzfristige Massenentlassungen. Gleich auf der ersten Vorstandssitzung unter seinem Vorsitz am 11. Februar 1975 stellte Toni Schmücker klar, dass er die „integrative Führung“ bevorzuge und gab vor, dass es angesichts der bestehenden Probleme „sehr wichtig sei, den Dialog und die Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat zu beleben“. Er band den am 7. Dezember 1971 als erstes SPD-Mitglied in den Vorstand der Volkswagenwerk AG berufenen, früheren Sozialdezernenten in Hannover, Dr. Peter Frerk, in die Vorstandssolidarität ein, indem er ihm auftrug, dass er die „gemeinsame, im Vorstand beschlossene Politik gegenüber dem Betriebsrat vertrete“.175 Zugleich forderte er die anderen Vorstandsmitglieder auf, Frerk endlich über alle seinen Bereich betreffenden Fragen zu informieren von 5,8 Prozent nannte Schmücker „sehr gut“ und sprach ihm einen „gewissen demonstrativen Effekt“ zu, Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 4./5. 3. 1975, S. 9 (UVW, Z 373, Nr. 178/2). 171  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 5. 2. 1975, S. 1 (UVW, Z 373, Nr. 177/2). 172  Ebd., S. 2. 173  Ebd., S. 5. 174  Ebd. 175  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 11. 2. 1975, S. 2 (ebd.).

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und ihn zu Gesprächen mit dem Betriebsrat hinzuzuziehen. Als „vorrangiges Problem“ galt Schmücker angesichts der 6 Milliarden DM betragenden Verschuldung des Konzerns die Liquiditätssicherung, wobei die Kurzfristigkeit der Kreditlinien ein besonderes Risiko darstellte. Da Volkswagen „um das nackte Überleben kämpfe“, müssten alle Entscheidungen, insbesondere auch zur Investitionsplanung, unter dem Gesichtspunkt ihrer Auswirkungen auf die Liquidität getroffen werden. Als strategisches Ziel nannte Schmücker, den „break-even-point so niedrig zu legen, dass VW künftig nicht mehr so verwundbar“ war.176 Hierzu müssten die Gemeinkosten „drastisch gesenkt“ werden, was auch einen radikalen Abbau der Angestelltenbelegschaft erforderlich machte. Zu den vorbereiteten Alternativplänen der Werksschließungen stimmte Schmücker unter Hinweis auf den Fall Hanomag der Position des Personalvorstands Frerk zu, dass das Nebeneinander von Kurzarbeit und Massen­ entlassungen nicht zulässig sei, bat aber zur Frage der zu steigernden Kapa­ zitätsauslastung auch um Bewertung einer denkbaren Rückführung der bei Karmann in Osnabrück liegenden Produktion des Sciroccos und des Käfer Cabriolets nach Wolfsburg. Seine abschließende Feststellung, dass das „Ra­ tionalisierungspotential des Unternehmens“ durch Belegschaftsreduzierung um 17 500 Beschäftigte und die Realisierung einer der beiden Schließungs­ alternativen gehoben werden sollte, unterstrich die Absicht, die neue Fahrzeuggeneration durch ein Abschmelzen des drückenden Gemeinkostenblocks auf die Erfolgsbahn zu bringen. Der Konzernvorstand diskutierte am 18. Februar 1975 die Handlungsalternativen. Der Vorstandsvorsitzende Schmücker hatte keine Zweifel an der Durchsetzbarkeit der für das Unternehmen erforderlichen Maßnahmen im Aufsichtsrat. Er befürchtete nur, dass die „Schwierigkeit der Materie unter Berücksichtigung der bestehenden psychologischen Barrieren“ zu einer das Unternehmen viel Geld kostenden Entscheidungsverzögerung führen könnte.177 Deshalb sollte neben einer Unterlage zu der in Aussicht genommenen Schließung des Werks Neckarsulm und der Verlegung des Fahrzeugbaus aus Salzgitter nach Wolfsburg auch eine Ausarbeitung vorbereitet werden, die sich auf den Einschichtbetrieb und die Verlegung der Fahrzeugproduktion von Salzgitter nach Wolfsburg beschränkte. Auf der Basis dieser mit ihm und dem Restvorstand abgestimmten Papiere sollten dann die Gespräche mit den zuständigen Gremien aufgenommen werden, wobei nach einleitenden Gesprächen mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Birnbaum und dessen Stellvertreter, dem IG-Metall-Vorsitzenden Eugen Loderer, zunächst der Gesamtbetriebsausschuss und dann die Wirtschaftsausschüsse von Volkswagen und Audi NSU informiert werden sollten. Ein Anfang März 1975 stattgefun176  Ebd., S. 3; Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 18. 2.  1975, S. 3 (ebd.). 177  Ebd., S. 10.

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denes Gespräch mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger über die möglicherweise bevorstehende Schließung des Werks Neckarsulm machte aber schon deutlich, dass dagegen auch aus dem politischen Raum „sehr großer Widerstand“ zu erwarten war, der die Durchführung der Schließungsmaßnahmen „sehr erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen“ würde.178 Obgleich Schmücker in den letzten Februartagen 1975 wahrnahm, dass sich die Absatzkurve allmählich den Planwerten annäherte, hielt er an seinen drastischen Abbauabsichten fest. Scharfsinnig sah er eine „gewisse Problematik im Hinblick auf die Frage der Kapazitätsanpassung“ entstehen, denn Betriebsrat und IG Metall konnten aus dem Überschreiten der absoluten Talsohle das Argument ableiten, dass der geforderte Personal- und Kapazitätseinschnitt nicht oder zumindest nicht in diesem Maße erforderlich sein könnte.179 Unabhängig davon beschloss der Vorstand am 26. Februar 1975 den Abbau von weiteren 1 233 Angestelltenstellen und die Reduzierung der Lohnempfänger in den unproduktiven Bereichen um 1 827 Stellen. Denn der aufgelaufene Verlust der Volkswagenwerk AG in Höhe von 555 Millionen DM hatte seine Ursache auch in dem Niveau der Löhne und Gehälter und dem späten und langsamen Personalabbau. Hohe Kosten verursachten aber auch das Fahrzeugdesign und die Zinslast. Das grundsätzliche Problem von Volkswagen erkannte Schmücker aber in dem schätzungsweise bei über 85 Prozent liegenden Break-even-Point.180 Die auch aus den installierten Kapazitäten resultierenden Fixkostensätze mussten erheblich herabgesetzt werden, um durch konjunkturelle Einbrüche oder auch modellwechselbedingte Absatzschwankungen nicht gleich in die Verlustzone gedrückt zu werden. Die weiteren Vorstandsdiskussionen rangen um einen ausgewogenen Vorschlag, der beispielsweise die konkretisierten Abbaupläne nicht mit Gedankenspielen später möglicher Sonderschichten belastete und auch den „Eindruck der Bevorzugung Wolfsburgs“ vermied.181 Die am 25. März 1975 im Vorstand abschließend diskutierte Aufsichtsratsvorlage „Planung zur Anpassung der Unternehmenspolitik an veränderte Marktlage und Absatzerwartungen 1975 bis 1980 (Gesamtplanung XXVII A)“

178 

Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 4./5. 3. 1975, S. 9 (UVW, Z 373, Nr. 178/2). 179  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 25./26. 2. 1975, S. 6 (ebd.); im Januar/Februar 1975 lagen die Absatzzahlen um 2,2 Prozent über dem Soll und um 8,9 Prozent über den dramatisch niedrigen Vorjahreswerten, Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 10. 3. 1975, S. 2f. (UVW, Z 373, Nr. 178/1). 180  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 4./5. 3. 1975, S. 7 (UVW, Z 373, Nr. 178/2). 181  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 10. 3. 1975, S. 2f. (UVW, Z 373, Nr. 178/1); Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 17. 3. 1975, S. 2f. (ebd.).

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ging von einer pessimistischen Absatzerwartung aus, wohlwissend, dass bei höheren Bestelleingängen ein „Engpass mit vorübergehender Einschränkung der Lieferfähigkeit entstehen“ konnte.182 Doch der mit dem Schrumpfungsziel verbundene Rückzug auf das Inland und die europäischen Kernmärkte sollte die Konzentration aller Kräfte auf die mit Passat, Scirocco, Golf und Polo bestrittene Modelloffensive und deren kostengünstige Produktion durch reduzierte Kapazitäten und Belegschaften ermöglichen. Hierzu schlug der Vorstand zur Anpassung der Belegschaft an die verringerten Absatzmöglichkeiten und zur Kapazitätsanpassung zwei Alternativen vor: Zum einen hatte die „Lösung K“ die „Schließung des Werksbereichs Neckarsulm, Ver­ lagerung der Fahrzeugmontage von Salzgitter nach Wolfsburg, Abbau einer Schicht in Brüssel, Abbau einer Schicht in Emden“ zum Ziel. Bis Ende 1976 sollte hierdurch die Belegschaft um nahezu 30 000 Mitarbeiter, davon 25 000 bis Mitte 1975, reduziert werden, und dann ein Auslastungsgrad von 70 Prozent erreicht sein. Die „Lösung S“ sah den „Abbau einer Schicht im Werk Neckarsulm und die Schließung der in Württemberg gelegenen Betriebsteile Neuenstein und Heilbronn, Verlagerung der Fahrzeugmontage von Salz­gitter nach Wolfsburg, Abbau einer Schicht in Brüssel“ vor. Dieser Plan rechnete mit einem Belegschaftsabbau um 25 000 Mitarbeiter, davon 21 000 bis Jahresmitte, und einem Auslastungsgrad von dann 65 Prozent. Der Vorstand empfahl die „Lösung K“.183 Der Vorstand wollte im Vorfeld der Aufsichtsratsentscheidung und im Kontakt mit Banken und Aktionären einerseits zwar die Entschlossenheit zu drastischen Abbaumaßnahmen herausstellen. Er durfte jedoch andererseits kein hoffnungsloses Bild von der Unternehmenszukunft zeichnen, um negative Auswirkungen auf die Verkäufe und den Vertrauensverlust zu begrenzen. Denn so sehr Schmücker Äußerungen, die als Dementi der Entlassung von 20 000 Mitarbeiter verstanden werden konnten, vermieden haben wollte, so wenig war das Unternehmen daran interessiert, im Zusammenhang mit bis zu 25 000 Massenentlassungen genannt zu werden, während zum gleichen Zeitpunkt Opel und Ford in Deutschland Neueinstellungen vornahmen. Die Öffentlichkeitsarbeit behalf sich damit, möglichst nur die Zahl der bis Ende 1975 vorzunehmenden meldepflichtigen Entlassungen und nicht die Gesamtzahl des Personalabbaus zu nennen.184 Es zeichnete sich bereits im Vorfeld der Aufsichtsratssitzung ab, dass die Gewerkschaftsseite unter Hinweis auf ein aktuelles Ifo-Gutachten die Ab182 

Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 25. 3. 1975, S. 4 (ebd.). 183  Finanz- und Investitionsplanung, Siegfried Höhn/Bauder, betr. Anpassung der Produktion an den Absatzbedarf zur Sicherung der Liquidität und Wiederherstellung der Rentabilität (Berichtskonzern: Volkswagenwerk AG, Audi NSU Auto Union AG, Volkswagen Bruxelles S.A.) vom 13. 3. 1975, S. 8f. (UVW, Z 373, Nr. 178/1). 184  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 2. 4. 1975, S. 3 (UVW, Z 373, Nr. 179/2).

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satzprognosen als „zu pessimistisch“ bewertete.185 Dass die Absatzsituation durch verbesserte Verkäufe in den USA im ersten Quartal 1975 um 1,8 Prozent oberhalb des selbst gesteckten Ziels und um 8,6 Prozent über dem zugegeben schwachen Vorjahr lag, erleichterte keineswegs die Argumentation. Gegen die mögliche Schließung des Standorts Neckarsulm sprachen u. a. eine in Aussicht gestellte Auftragsfertigung von MAN-Nutzfahrzeugen oder auch die Idee zur Herstellung von Fertigbauteilen für den Wohnungsbau und schließlich auch die im Zusammenhang mit der Übernahme der Wankelmotor-Lizenzen gemachten Zusicherungen.186 Dass die Kapazitätsanpassungen kein leichter Gang würden, unterstrichen die von Eugen Loderer angemeldeten Zweifel an der pessimistischen Absatzprognose.187 Außerdem kritisierten der Gewerkschaftschef und ein Vertreter der Bundesregierung die angekündigten Preiserhöhungen, wenn gleichzeitig ein massiver Belegschaftsabbau stattfinden sollte. Eugen Loderer erkannte zwar die Notwendigkeiten zur Kapazitätsanpassung an, vermisste aber eine Einschätzung der aktuellen Währungssituation und eine Analyse des Personalüberhangs nach strukturellen und nach konjunkturellen Gründen. Darüber hinaus fragte er nach den Ursachen der vom Vorstand konstatierten ­negativen Produktivitätsentwicklung seit 1968, die er der Verantwortung des Managements zuordnete. Deshalb wollte der Gewerkschaftsvertreter die „Abbau-Aktion“ um ein Jahr bis zum 30. Juni 1977 verlängern und die anzeige­pflichtigen Entlassungen in Salzgitter und Neckarsulm um die Hälfte mit dem Argument reduzieren, die allmählich wieder anziehenden Verkäufe könnten einen Teil der derzeit noch für erforderlich gehaltenen Entlassungen überflüssig machen. Hinsichtlich der Schließung und des Verkaufs der Betriebsstätten in Neuenstein und in Heilbronn zeichnete sich kein grundsätzlicher Dissens ab, da die Übernahme der dortigen Beschäftigten durch die neuen Eigentümer möglich schien. Der Vertriebsbereich von Volkswagen hielt seinerseits die Ifo-Prognose für überoptimistisch, räumte aber ein, dass ein Erreichen der mittleren Absatzlinie das Wahrscheinlichste sei und deren Übertreffen von einer entscheidenden Verbesserung der Verkaufszahlen in den USA abhänge. Schmücker wollte aber sogar im Falle von über die Lieferfähigkeit hinausgehenden ­Bestelleingängen eine Auswahl der vorrangig zu beliefernden Märkte nach ­Ertragsgesichtspunkten vornehmen und verwies darauf, dass die technischen Kapazitäten verfügbar blieben.188 Zur Reduzierung der anmeldepflichtigen 185 

Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 8. 4. 1975, S. 6 (ebd.). 186  Ebd.; Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 2. 4. 1975, S. 3 (ebd.). 187  Niederschrift über die 72. Sitzung des Aufsichtsrats der Volkswagenwerk Aktiengesellschaft am 14. 4. 1975, S. 2 (UVW, Z 119, Nr. 442/2). 188  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 10. 4. 1975, S. 2 (ebd.).

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Entlassungen konnten die Verlagerung von Kleinpressteilen nach Hannover, eine Umsetzung von Belegschaftsangehörigen von Salzgitter nach Wolfsburg oder auch die Fertigungsverlegung des VW-Porsche-914-Nachfolgers nach Neckarsulm beitragen. Alle angesprochenen Möglichkeiten zur Reduzierung der anzeigepflichtigen Entlassungen in Salzgitter und Neckarsulm sollten in den Vorschlag des Vorstands, den „S1-Plan“, aufgenommen werden. Schmücker bekräftigte aber, dass das „Schwergewicht des Abbaues im Jahre 1975 liegen“ müsste, nicht zuletzt mit Blick auf die mit einer zeitlichen Streckung verbundenen Ergebnisverschlechterung um 500 Millionen DM und einer nach Auskunft des Finanzbereichs für Ende 1975 drohenden Aufzehrung der Rücklagen und dem bis Ende 1976 zu befürchtenden hälftigen Kapitalverlusts. Personalvorstand Frerk setzte sich dafür ein, dass die geplanten Massenentlassungen zunächst nur zu zwei Dritteln umgesetzt werden sollten, und erhielt von Personalleiter Weis dahingehend Unterstützung, dass der bereits vorgenommene Personalabbau wenig Argumente gegen eine „geringfügige Streckung des Personalabbaus“ biete, zumal wenn dadurch anzeigepflichtige Entlassungen vermieden würden. Der Vorstand hielt aber an der „zeitlichen Planung des Personalabbaus“ fest.189 In der Aufsichtsratssitzung am 14. April 1975 nannte Eugen Loderer für die Arbeitnehmervertreter den ihnen in den verschiedenen Gremien in den Grundzügen erläuterten Plan nicht ohne Grund „kein Gesundungsprogramm, sondern ein Schrumpfungsprogramm“.190 Loderer sah Alternativen zu dem vom Vorstand vorgelegten „S1-Plan“, etwa im Hinblick auf die von ihm auf 1,8 Millionen Fahrzeuge geschätzte Produktion im Jahre 1977, was den Personalabbau auf 13 000 Arbeitnehmer begrenzt hätte, der ohne Massenentlassungen bewerkstelligt werden konnte. Auch bei Art und Tempo des Belegschaftsabbaus glaubte Loderer auf die erforderliche Parallelität von Personalabbau und Rationalisierungsertrag hinweisen zu sollen, die zu einer Streckung der Anpassungsmaßnahmen riet. Schließlich mangelte es aus Sicht des Gewerkschaftschefs an Hinweisen zur grundlegenden Verbesserung der Unternehmensliquidität und Finanzierungsstruktur. Doch die Arbeitnehmervertreter fanden mit dem Kompromissangebot beim Vorstand kein Gehör, der auf die „tödliche Gefahr eines zu hohen Belegschaftsstandes“ hinwies.191 Mit 14 zu 7 Stimmen stimmte der Aufsichtsrat der „Anpassung der Unternehmenspolitik an die veränderte Marktlage und den Absatzerwartungen entsprechend dem vom Vorstand vorgelegten Plan S 1 zu“.192 Loderer beruhigte nach dieser für das Gremium ungewohnten Kampfabstimmung, dass die „Betriebsräte in enger Fühlung mit der Konzernleitung ihre Arbeit fortsetzen“ würden. 189 

Ebd., S. 5. Niederschrift über die 72. Sitzung des Aufsichtsrates der Volkswagenwerk AG am 14. 4. 1975, S. 13 (UVW, Z 119, Nr. 442/2). 191  Ebd., S. 25. 192  Ebd. 190 

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Der Vorstand nahm ein Stück weit erleichtert zur Kenntnis, dass der Sitzungsverlauf und die getroffene Entscheidung seinen Vorstellungen entsprachen, sah aber auch wegen der ablehnenden Haltung von Betriebsrat und Gewerkschaft die Durchführung der beschlossenen Maßnahmen erschwert. Personalvorstand Frerk wies darauf hin, dass der Betriebsrat beispielsweise gegen die im Rahmen der „49er“-Quote ausgesprochenen Kündigungen „nach wie vor Widerspruch“ einlegte, was zu Arbeitsgerichtsverfahren zwinge.193 Bei der Aufstellung des Sozialplans zeichnete sich die Betriebsratsforderung nach Erhöhung der Abfindungsbeträge ab. Allerdings einigten sich Unternehmensleitung und Betriebsrat auf einen durch das Betriebsverfassungsgesetz vorgesehenen Interessenausgleich. Auf der am 16. April 1975 stattfindenden Betriebsversammlung schenkte der Betriebsratsvorsitzende Ehlers der Belegschaft reinen Wein ein: Er gab bekannt, dass die Zweidrittel-Mehrheit der Kapitalvertreter im Aufsichtsrat den S1-Plan durchgesetzt hatte, der die Schließung der Audi-NSU-Betriebsstätten Neuenstein und Heilbronn, die Verlagerung der Fahrzeugmontage von Salzgitter nach Wolfsburg und den Abbau einer Schicht in Brüssel sowie über den durch Fluktuation und Aufhebungsverträge erfolgenden Personalabbau von 15 000 Mitarbeiter hinaus noch 8 000 Entlassungen vorsah. Im Werk Hannover sollten 1 700, in Salzgitter 1 300, in Brüssel 550 und bei Audi NSU 4 450 Mitarbeiter ihre Kündigung erhalten; ein Sozialplan war auszu­ arbeiten. Für das Werk Wolfsburg stand zwar ein Personalabbau von 5 900 Mitarbeitern an, doch meinte der Betriebsratsvorsitzende Ehlers dieses Pro­ blem mit den Mitteln der Aufhebungsverträge, der Frühverrentungen und der Fluktuation bewältigen zu können.194 Die Arbeitnehmervertretung und ihre Gewerkschaft reklamierten den Erfolg für sich, im Werk Wolfsburg Massenentlassungen verhindert zu haben. Nachdem auch der Aufsichtsrat der Audi NSU Auto Union AG dank des Doppelstimmrechts des Aufsichtsratsvorsitzenden den Planungen zugestimmt hatte, ging der Volkswagen-Konzern an die Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen. Die Verlängerung und Aufstockung der Abfindungsverträge waren das eine,195 die ersten Ansätze zu einer strategische Neuausrichtung das andere. Zum einen hatte Schmücker die Absicht, „den Führungsstil und die Kommunikation zwischen den Vorständen“ von Volkswagen und Audi NSU zu ändern. Ihm ging es darum, „die im Vorstand der Audi NSU und im Unternehmen vorhandene Potenz nicht verkümmern“ zu lassen und 193 

Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 15. 4. 1975, S. 2 (UVW, Z 373, Nr. 179/2). 194  Protokoll über die am 16. 4. 1975 in Wolfsburg stattgefundene 12. ordentliche Betriebsversammlung, S. 8f. (UVW, Z 337, Nr. 411/1); Niederschrift über die Besprechung zwischen Vorstand und Gesamtbetriebsrat am 24. 4. 1975, S. 2ff. (UVW, Z 652, Nr. 466). 195  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 22. 4. 1975, S. 9 (UVW, Z 373, Nr. 179/1).

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strebte eine Neuordnung der Verhältnisse nach dem Prinzip an, „nur so viel Zentralisierung wie nötig, so viel Delegation wie möglich“ zu etablieren.196 Auch sollte der Vorstandsvorsitzende von Audi NSU in regelmäßigen Abständen an den Vorstandssitzungen der Konzernmutter teilnehmen. Zum zweiten begann ein erneutes Nachdenken über die verschiedenen Möglichkeiten, „in den USA zu einer Produktion von Volkswagen zu kommen“.197 Die Absatzsituation gab noch keinen Grund für vollständige Entwarnung, da die in den ersten vier Monaten des Jahres 1975 zu verzeichnenden Verkaufszahlen zwar gegenüber dem Vorjahr deutlich verbessert waren, jedoch gegenüber dem Vergleichszeitraum des Jahres 1973 immer noch um 15,1 Prozent zurücklagen. Allerdings zeigten sich angesichts des sehr hohen Auftragsbestands beim Passat wegen des Personalabgangs und betriebsinterner Umsetzungsschwierigkeiten erste Unterdeckungen. Zur Steigerung der Ausbringung war der Wegfall von Kurzarbeitstagen beschlossen und die Personalumsetzung aus den „Hilfsbetrieben“ beschleunigt worden. Die zuvor provozierten Personalabgänge hatten in Wolfsburg bei den Akkordlöhnern eine Größenordnung erreicht, dass Produktionsvorstand Hartwich Abhilfemaßnahmen prüfte und Personalvorstand Frerk zu limitierender Kontingentierung überging.198 Die Zahl der abgeschlossenen Aufhebungsverträge nahm im Mai 1975 in einem „nicht vorgesehenen Maße“ zu, woraufhin durch Personalmangel in der Lackiererei, im Rohbau und in der Montage „Nichteinhaltung des Programms und Steigen der Verlustzeiten“ drohten. Frerk ­warnte daher schon wegen der später sicherlich greifenden Beschaffungsschwierigkeiten dringend davor, „die Belegschaft zu sehr zu reduzieren“.199 Es gelang, den Personalbestand in der Volkswagenwerk AG im Interesse der „schnellmöglichen Entlastung“ analog zum „S1-Plan“ bis Ende Mai 1975 auf 102 300 und bis zum Werksurlaub auf unter 100 000 Mitarbeiter zu bringen, wobei noch eine weitere planmäßige Verringerung bei den Zeitlöhnern angestrebt war. Obgleich der Betriebsrat über ein Ende des Personalabbaus eine bindende Erklärung des Vorstands wünschte, hielt Schmücker ohne Abstriche an der Einhaltung des Abbauplans fest. Erforderlichenfalls werde er sich bei verbesserter Absatzlage nicht scheuen, „eine Änderung auch gegenüber dem Betriebsrat zu vertreten“.200 Hart in der Sache des Belegschaftsabbaus, bestätigte Schmücker gegenüber Eugen Loderer die mit Schreiben vom 6. Mai 1975 angemahnte Strategie zur „innerbetrieblichen Rationalisierung, der Produktivitätsverbesserung und der Reorganisation“, indem er dem IG196 

Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. 198  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 6. 5. 1975, S. 4f. (UVW, Z 373, Nr. 180/2). 199  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 13. 5. 1975, S. 7 (ebd.). 200  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 3. 6. 1975, S. 8 (ebd.). 197 

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Metall-Vorsitzenden am 28. Mai 1975 eine Stichwortsammlung zum „Sanierungsprogramm“ zuleitete und um Geltendmachung seines Einflusses zur schrittweisen Lösung der darin benannten Aufgaben bat.201 Die Absatzsituation verbesserte sich allmählich, weshalb der Vertriebsbereich am 10. Juni 1975 wegen der Fehlmenge von 8 000 Fahrzeugen im zweiten Halbjahr von Kurzarbeit absehen wollte.202 Die Minderproduktion erhöhte sich bis zum 5. Juli 1975 auf rund 15 000 Fahrzeuge, sodass neben einer Umschichtung von der Golf- auf die Polofertigung, der Umsetzung von zunächst 200 Zeitlöhnern aus Kassel und Salzgitter nach Wolfsburg und der Aussetzung von Entlassungen im Werk Brüssel sogar wieder Mehrarbeit an vier Samstagen zur Steigerung der Polo-Produktion erwogen wurde. Diesen Vorschlag kassierten die beteiligten Ressorts gleich wieder ein, denn Schmücker hielt um den Preis möglicher Marktanteilsverluste im Inland und säumiger Exportlieferungszusagen noch an der bisherigen Marschroute fest. Neueinstellungen bezeichnete er als „derzeit nicht denkbar“.203 Zu einer „Dauerstörung wichtiger Märkte“ wollte es der Vorstandsvorsitzende aber nicht kommen lassen. Die erstaunlich hohe Zahl der Abfindungsverträge hatte aber schon längst Massenentlassungen unnötig gemacht, wie Siegfried Ehlers auf der Betriebsversammlung am 3. Juli 1975 zufrieden mitteilte. In keinem der sechs inländischen Werke von Volkswagen war es zu Massenentlassungen gekommen, was den Betriebsrat in seiner ursprünglichen Haltung bestärkte, dass eine Streckung der Personalmaßnahmen der Beschäftigungskrise ihre Spitze genommen hätte.204 Da die wichtigsten Absatzmärkte bis August nicht im erwarteten Maße schrumpften, sondern aus den USA sogar 29 000 zusätzliche Wagen angefordert wurden, ergab sich zur Vermeidung längerer Lieferzeiten die „Notwendigkeit zu einer gewissen Kurskorrektur“, die Schmücker gegenüber Loderer „bereits angedeutet“ hatte.205 Für die Veränderung der Nachfragesituation machte Schmücker die Dollar-Kursentwicklung, die zunehmenden Inflationsraten in manchen Ländern, aber auch die von Volkswagen angekündigte erweiterte Garantie und die verbesserte Komplettausstattung verantwortlich. 201  Ebd., S. 7; Toni Schmücker an Eugen Loderer vom 28. 5. 1975, S. 2 samt Stichworte zum Sanierungsprogramm Volkswagen-Konzern vom 22. 5. 1975 (ebd.); Eugen Loderer an Toni Schmücker vom 6. 5. 1975 (ebd.). 202  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 10. 6. 1975, S. 10 (ebd.). 203  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 7. 7. 1975, S. 4 (UVW, Z 373, Nr. 181/2); Ehlers warf gegenüber Schmücker die Frage von Sonderschichten und Überstunden bereits am 9. Juni 1975 auf; Schmücker betrachtete da den „S1-Plan“ nicht mehr „als Bibel“, Notiz über das Gespräch zwischen Vorstand und Gesamtbetriebsrat am 9. 6. 1975, S. 6 und 9 (UVW, Z 797, Nr. 1172). 204  Protokoll über die am 3. 7. 1975 in Wolfsburg stattgefundene 1. ordentliche Betriebsversammlung, S. 3 (UVW, Z 337, Nr. 411/1). 205  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 5. 8. 1975, S. 13 (UVW, Z 373, Nr. 181/2).

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Manfred Grieger

Naheliegenderweise dachte er an Sonderschichten, auch wenn diese mit Zusatzforderungen des Betriebsrats befrachtet werden könnten. Der Vorstand wünschte bis Jahresende zehn Sonderschichten bei der Volkswagenwerk AG, die Aussetzung des Personalabbaus in Brüssel und die Produktion von 10 000 zusätzlichen Audi-Fahrzeugen.206 Tabelle 2: Wesentliche Zahlen Volkswagenwerk Aktiengesellschaft, 1972–1976 1972 Absatz D Käfer Transporter Passat Golf Gesamt

1973

1974

265 212 79 036

240 884 66 787 37 982

460 546

419 457

1975

1976

124 032 51 639 134 066 71 415 416 102

44 792 51 696 120 632 167 879 457 739

20 766 54 815 122 873 205 996 528 341

92 034 21 547 33 271 98 215 278 905 1 047 518 2 037 857

27 008 19 464 27 714 112 033 204 825

Absatz USA Käfer Transporter Dasher/Passat Rabbit/Golf Gesamt USA VW AG Konzern

358 401 46 858

371 116 42 658

485 645 1 471 561 2 196 978

476 318 1 448 484 2 280 903

243 663 29 920 37 289 58 350 669 1 234 410 2 051 813

Produktion Käfer Transporter Passat Golf VW AG Konzern

914 030 259 101 0 0 1 483 350 2 192 524

895 801 246 177 115 672 0 1 524 029 2 335 169

451 829 174 121 312 889 189 890 1 239 698 2 067 980

114 025 159 752 196 709 419 620 1 121 937 1 948 939

87 463 169 494 229 294 528 872 1 316 039 2 165 627

116 352 192 083

125 787 215 058

111 527 203 730

93 026 176 824

97 422 183 238

Umsatz VW AG Konzern

10 399 15 996

11 563 16 982

11 219 16 966

11 370 18 857

16 914 21 423

Gewinn VW AG Konzern

86 206

109 211

–555 –807

–145 –157

784 1 004

Belegschaft VW AG Konzern

Zahlen nach: Volkswagenwerk AG (Hrsg.): Geschäftsberichte 1972–1976; Verkaufsbericht Dezember 1973, S. 11 und 16 (UVW, Z 174, Nr. 1157/5); Verkaufsbericht Dezember 1975, S. 10 und 21 (UVW, Z 174, Nr. 1156/12); Verkaufsbericht Dezember 1976, S. 11 und 22 (UVW, Z 174, Nr. 1157/5); Bericht über die Fahrzeug-Produktion, -Verkauf und -Bestand, Nachtrag I vom 31. 12. 1972, 31. 12. 1973, 31. 12. 1974, 31. 12. 1975, 31. 12. 1976 (UVW, Z 263, Nr. 514, 526, 550, 562).

206 

Ebd., S. 14.

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Der Betriebsratsvorsitzende Siegfried Ehlers ließ Anfang August 1975 ebenfalls „grundsätzliche Bereitschaft“ erkennen, in Gespräche über die notwendige Mehrarbeit einzutreten, wohl auch weil die Belegschaft an dem „damit verbundenen Mehrverdienst interessiert“ war.207 Die Betriebsratsseite wollte auf diesem Wege zudem ermöglichen, „endlich einmal positive Meldungen über VW in Umlauf zu bringen“. Das Entgegenkommen sollte mit der verbindlichen Erklärung beantwortet werden, dass bis Ende März 1976 keine Kurzarbeit notwendig sein würde. Obgleich die Bestellsituation keine Bedenken begründete, wollte sich der Vorstand zunächst auf eine Zusage beschränken, für alle Werke für drei Monate nach der letzten Sonderschicht Kurzarbeit auszuschließen. Die Besprechung zwischen Vorstand und GBR am 20. August 1975 gab als neuen Kurs 14 samstägliche Sonderschichten aus, nachdem die Märkte nach Angaben von Toni Schmücker zusätzliche 50 000 Volkswagen und 10 000 Audi Fahrzeuge angefordert hatten.208 Auch bei der Ergebnisentwicklung, die für die Zeit von August bis Jahres­ ende 1975 auf einen Abbau der Vortragsverluste hoffen ließ, zeichnete sich eine „Art Wende“ ab.209 Dies dürfte aber nicht zu der Annahme verführen – so die Warnung von Finanzvorstand Thomée –, dass „alles wieder in Ordnung“ sei, sondern er plädierte stattdessen für eine Fortsetzung des vorsichtigen Kurses. Der vorläufige Bedarfsplan für das Jahr 1976 unterstellte aber erstmalig wieder einen über den Fluktuationsersatz hinausgehenden Personalbedarf von 2 500 Akkordlöhnern in Wolfsburg und von 1 500 Akkordlöhnern in Ingolstadt. Damit betrat Volkswagen wieder den krisenbedingt verlassenen Wachstumspfad, um mit einem runderneuerten Produktangebot und einem deutlich abgeschmolzenen Fixkostenblock in das durch eine erweiterte Mitbestimmung gekennzeichnete Golf-Zeitalter durchzustarten. Die Gespräche zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat fanden nun wieder „in einer sehr ruhigen Atmosphäre“ statt, sodass die Wettbewerbsvorteile der Mitbestimmung bei Volkswagen auch durch die Bereitschaft des Betriebsrats realisiert wurden, den vorgeschlagenen „personellen Maßnahmen zuzustim­ men“.210 Volkswagen wurde erst durch die weltwirtschaftlich vertiefte Umstellungskrise der Jahre 1973/75, die eine Schrumpfungsstrategie und eine Reeuropäisierung des Unternehmens auslöste, wieder up to date. Daraufhin entwickelte sich Volkswagen viel erfolgreicher als die Unternehmen Ford 207 

Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 5. 8. 1975, S. 1f. (ebd.). 208  Niederschrift über die Besprechung zwischen Vorstand und Gesamtbetriebsrat am 20. 8. 1975, S. 2 (UVW, Z 652, Nr. 466). 209  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 9. 9. 1975, S. 5 (UVW, Z 373, Nr. 182/3). 210  Protokoll der Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 23. 9. 1975, S. 7 (UVW, Z 373, Nr. 182/1); auch die Betriebsversammlung am 16. 10. 1975 diente der Deeskalierung, Protokoll über die am 16. 10. 1975 in Wolfsburg stattgefundene 2. ordentliche Betriebsversammlung, S. 3ff. (UVW, Z 337, Nr. 411/1).

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und Opel. Volkswagen war und blieb für die anderen deutschen Hersteller der unüberholbare Volumenhersteller.

Zweierlei Krise: Mit neuen Produkten zu neuer ­Mitbestimmungsstruktur Die Krise 1966/67 war im Wesentlichen eine Absatzkrise des Käfers auf dem Inlandsmarkt und Ausdruck des geringen Markterfolgs solcher Produkte wie der Mittelklasselimousine VW 1600 gewesen, die allerdings mit dem rasch wieder steigenden Absatz in den USA überkompensiert wurde. Die Krise 1973/75 verwies dagegen auf die Dominanz der währungspolitischen Auswirkungen und auf die weltwirtschaftliche Eingebundenheit des deutschen Symbolunternehmens, das alle Aufmerksamkeit auf die Modellinnovation richten wollte, aber durch die Verlustsituationen auf wesentlichen Auslandsmärkten zu einer Liquiditätssicherungsstrategie gedrängt wurde. Der schroffe Belegschaftsabbau bildete dabei das selbstverständliche Kompensationsgut für verfehlte Managemententscheidungen. Doch die gewerkschaftliche Gegenmacht und die frühe Marktbelebung schnitten den sozialen Zumutungen die Spitze ab und etablierten eine neue Kooperationsform, die eine Personalpolitik der mittleren Linie mit einer strukturellen Einbindung der Betriebsräte und der IG Metall, der dominierenden gewerkschaftlichen Kraft im Betrieb, kombinierte. Fürderhin beschwor auch das Management den Vorrang der Beschäftigungssicherung, so wie die Gewerkschaft ihrerseits unternehmensstrategische Argumente aufnahm und auch für die Steigerung der Ertragsstärke Verantwortung übernahm, indem sie eigene Business-Pläne aufstellte und sich für die Nutzung von Marktchancen einsetzte. Die Modernisierung der Mitbestimmung wurde zum Erfolgsfaktor des wirtschaftlichen Wachstumskurses, der in den durch neue Erfolge geprägten Postfordismus hineinführte.211 Die Krise 1966/67, die mit der Marktbelebung auch gleich wieder zu den Akten gelegt wurde, und die Umstellungskrise 1973/75 bildeten insoweit eine Einheit, dass die verspätete Kriseneinsicht durch den vorherrschenden Herr-im-Hause-Standpunkt hervorgebracht wurde. Das für die Krise typische Durchlavieren, das als Unternehmenssteuerung auf Sicht ausgegeben wurde, resultierte aus den weiterhin fehlenden Steuerungsinstrumenten. In211  Grieger, Der neue Geist, S. 64ff.; Daniel Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt am Main; New York 1975; Ingo Köhler: Marketing als Krisenstrategie. Die deutschen Automobilindustrie und die Herausforderung der 1970er Jahre, in: Hartmut Berghoff (Hrsg.): Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt am Main, New York 2007, S. 259–295; Anselm Doering-Manteuffel/ Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Joachim Hirsch/Roland Roth: Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Post-Fordismus, Hamburg 1986.

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soweit verbanden sich die über die Jahre aufgestauten Strukturprobleme mit einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gemengelage, die Mitte der 1970er Jahre erst in der Existenzbedrohung eine Richtungsänderung provozierte. Ungeachtet des Umstands, dass der in der Sozialdemokratie verankerte Personalvorstand in politischer Hinsicht in der Vereinzelung blieb, brach der 1975 startende Vorstandsvorsitzende Toni Schmücker das Eis. Die bestehende Lagerbildung zwischen Vorstand und Arbeitnehmervertretung wurde ebenso überwunden wie auch das Unternehmen die gesellschaftlichen Modernisierungstrends zu übernehmen begann. Mit neuen Modellen und um alte soziale Kosten erleichtert, startete Volkswagen im Zeichen des Golfs durch. Erst mit der Implementierung der Mitbestimmung in das Zentrum der Unternehmensentscheidungen gewann die Volkswagenwerk AG unter Toni Schmücker die Kraft und Gestaltungsstärke, um das fast drei Jahrzehnte erfolgreiche Käfer-Zeitalter mit einer neuen, um den Kompaktwagen Golf gruppierten Produktpalette noch zu übertreffen. Der Langfristerfolg der Kompaktwagenstrategie und der nachfolgenden sekundären Internationalisierung, die durch die Öffnung bislang verschlossener Märkte wie China geprägt wurde, resultierte im Kern aus der Entwicklung eines neuen Ausgleichs­ typs zwischen Unternehmensleitung und Arbeitnehmervertretung und ihrer Gewerkschaft, die ihrerseits seit Mitte der 1970er Jahre eigene Ideen in die Entwicklung der Unternehmensplanung einbrachten. Dieser neue Sozialkompromiss gehörte neben den konkurrenzfähigen Fahrzeugen zum Erfolgsrezept des größten Automobilunternehmens Deutschlands. Dass in der Krise 1993 dann mit der kollektiven Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit mit entsprechenden Einkommenseinbußen tarifpolitisches Neuland betreten wurde, kann als mittelbarer Lernertrag aus der großen Krise 1973/75 betrachtet werden.

Elfriede Grunow-Osswald

Wirtschaftskrisen – Wendepunkte für den Konzern? Daimler-Benz 1960–1985 Der Automobilkonzern Daimler blickt heute auf eine Unternehmensgeschichte zurück, an deren Anfang die Erfindung des Automobils vor nunmehr über 125 Jahren stand und in deren weiteren Verlauf er von Erfolgen aber auch von Krisen geprägt wurde. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Daimler-Benz AG, wie sie damals noch hieß, als ein ­Vorzeigeunternehmen, das sich geradezu mühelos, wie es schien, bis 1985 zu einem erfolgreichen, kapitalstarken, internationalen Automobilkonzern entwickelt hatte, um dann die Wende zu einem Technologiekonzern zu vollziehen. Das Unternehmen bewältigte die erste Rezession in der Bundesrepublik 1966/67, die den deutschen Automobilherstellern einen massiven Absatzrückgang und Ertragseinbußen brachte, mit einem bemerkenswert guten Ergebnis. Auch in der darauf folgenden schwierigen Phase in den 1970er Jahren mit Abschwächungstendenzen im Wachstum der Weltwirtschaft, mit dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems, der Weltwirtschaftskrise 1974/75 als Folge des Ölpreisschocks und rückläufig sich entwickelnden Automobilmärkten gelang es Daimler-Benz, wie Die ZEIT im August 1975 feststellte, als einzigem Automobilkonzern in der Welt ungeschoren durch die Krise zu kommen.1 Nach Überwindung der nächsten Wirtschaftskrise 1981/82 schrieb die Stuttgarter Zeitung im Mai 1983, dass Daimler-Benz mit dem Exportwind im Rücken das umsatzstärkste deutsche Automobilunternehmen geworden und das ertragsstärkste Unternehmen geblieben sei.2 Diese in der Presse geschilderte Erfolgsstory überrascht insofern, als gerade in diesem geschilderten Zeitraum der Boom der Nachkriegszeit zu Ende ­gegangen war. Die erste Rezession in der Bundesrepublik wurde von der ­Bevölkerung als das Ende des Wirtschaftswunders empfunden. Die deutsche Automobilindustrie war zumindest stark verunsichert. Stephanie Tilly schreibt: „Ex post erscheint der Konjunktureinbruch damit als Prolog der bevorstehenden Phase der Herausforderungen“.3 Durch eine schrittweise ­Liberalisierung 1 

Gottlieb Daimlers selige Erben: Warum das Stuttgarter Unternehmen als einziger Autokonzern der Welt ungeschoren durch die Krise kam, in: Die ZEIT, 08. 08. 1975. Siehe auch Dominik Fischer: Krisen und Krisenbewältigung bei der Daimler-Benz AG, Vaihingen/Enz 2010, S. 244. 2  Exportmotor hält Daimler-Benz in Schwung, in: Stuttgarter Zeitung, 20. 05. 1983. 3  Stephanie Tilly: „Die guten Zeiten…sind vorbei“. Zum Verhältnis von Automobilindustrie, Politik und Automobilverband in den 1970er Jahren, in: Morton Reitmayer, Ruth Rosenberger (Hrsg.): Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 217.

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der internationalen Märkte mit dem Auftreten von neuen Wettbewerbern und einem durch die Ölschocks ausgelösten veränderten Käuferverhalten stand in den nächsten Jahren die gesamte internationale Automobilindustrie vor großen Herausforderungen. Eine Anzahl von Automobilunternehmen bewältigte diese Herausforderungen nicht. Sie verschwanden vom Markt oder büßten ihre Selbständigkeit ein. Die Automobilbranche empfand gerade die Jahre 1973 bis 1975 als einen tiefen Einschnitt, als eine Zäsur. Das galt nicht nur für die Automobilbranche, sondern insgesamt für die Wirtschaft. Aber waren diese Jahre tatsächlich eine Zäsur für die Automobilunternehmen? In der wirtschaftshistorischen Literatur, die eine makroökonomische Perspektive einnimmt, besteht weitgehend Einvernehmen darüber, wie dies auch schon Hobsbawm diagnostiziert hatte, dass die Jahre 1973/75 eine wesentliche Zäsur in der westlich-kapitalistischen Wirtschaftsgeschichte darstellen.4 In den letzten Jahren beschäftigte sich die zeithistorische Forschung mit der Frage nach den Wendepunkten und den Katalysatoren der wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und nahm insbesondere die 1970er Jahre in den Blick.5 Dabei stellten Reitmayer und Rosenberger fest, dass auf der mikroökonomischen Ebene, d. h. aus der Sicht der Unternehmen, sich durchaus widersprüchliche Befunde ergeben, die die Eindeutigkeit dieser Zäsur in Zweifel ziehen und damit den Zäsurcharakter der Jahre 1973/74 relativieren.6 Sie sehen vielmehr die gesamten 1970er Jahre als ein Jahrzehnt mit krisenhaften Zügen, wobei auf der mikroökonomischen Ebene in erster Linie, wie sie schreiben, sich nicht „Unternehmenskrisen als Signum des Jahrzehnts markieren lassen, sondern vielmehr Anpassungs- und Transformationskrisen innerhalb und zwischen den Unternehmen, ihren Kunden, Lieferanten, […]“.7 Beim Lesen der von der Presse geschilderten Erfolgsstory von DaimlerBenz bei der Bewältigung von drei Wirtschaftskrisen innerhalb von fast zwanzig Jahren wird man natürlich fragen, traf es wirklich zu, dass der Konzern sie ohne Blessuren überstanden hatte? Und wenn ja, warum war Daimler-Benz so erfolgreich? Mit welchen Strategien hatte das Unternehmen die Herausforderungen der internationalen Märkte bewältigt? Durch welche Faktoren wurde dieser Strategiewandel ausgelöst? Welchen Wandel vollzog 4  Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2000, S. 505; Morten Reitmayer / Ruth Rosenberger (Hrsg.): Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 11. 5  Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2010. Konrad H. Jarausch (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008. Reitmayer / Rosenberger (Hrsg.): Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. (Anmerkung 4), ­Essen 2008. 6  Reitmayer / Rosenberger: Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“, (Anmerkung 4), S. 11. 7  Reitmayer / Rosenberger: Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“, (Anmerkung 4), S. 26

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Daimler-Benz in diesem Zeitraum? Gab es Blockaden des Wandels? Waren die Wirtschaftskrisen Wendepunkte für den Konzern oder forcierte die Krise eine Tendenz zum Wandel? Worin bestand das Neue in dieser Periode, das die Entwicklung des Konzerns maßgebend prägte? Zur Beantwortung dieser Fragen werden die strategischen Weichenstellungen sowie der damit verbundenen Wandel im Konzern, die Bewältigung der Wirtschaftskrisen und das wirtschaftliche Ergebnis für den Zeitraum 1960 bis 1969 und 1970 bis 1985 analysiert. Dabei wird sowohl das Pkw- als auch das Nutzfahrzeuggeschäft von Daimler-Benz untersucht, das durch unterschiedliche Marktentwicklungen geprägt wurde. Wandel wird in diesem ­Sinne als ein Prozess definiert, der durch exogene oder endogene Faktoren ausgelöst wird, die eine Neuausrichtung der Unternehmensstrategie auf die Veränderungen der Umwelt oder auf neue Ziele des Unternehmens erfordern. Wandel kann kontinuierlich, schnell oder sogar revolutionär erfolgen.8 Wird mit der Neuausrichtung der Unternehmensstrategie eine grundlegende Richtungsänderung der bisherigen Strategie vorgenommen, so ist das ein Wendepunkt für das Unternehmen und der Wandel in der Regel ein schneller oder sogar ein revolutionärer Wandel. Als Quellenbasis für diese Analyse dienen im Schwerpunkt Vorstandsprotokolle, Reden der Vorstandsmitglieder an die Führungskräfte und Aktionäre des Konzerns sowie die veröffentlichten Geschäftsberichte.

Die erste Rezession in der Bundesrepublik 1966/67 und ihre Folgen für Daimler-Benz Nach dem Wiederaufbau ihrer im Zweiten Weltkrieg zerstörten Werke hatte sich Daimler-Benz bereits in den 1950er Jahren zu einem exportorientierten Automobilhersteller entwickelt, der seine Produkte jedoch nicht nur weltweit über seine neu aufgebaute Auslandsorganisation verkaufte, sondern bereits erste Lkw-Produktionen in Argentinien, Brasilien und Indien mit nationalen Partnern errichtet hatte. Das Produktprogramm bestand aus technisch hochwertigen Pkw in der oberen Mittel- und Oberklasse, Sportwagen sowie aus Nutzfahrzeugen vom Transporter bis zum Schwerlastwagen, Omnibussen und Motoren. Daimler-Benz sah seine Zukunft nicht nur auf dem Inlandsmarkt, sondern vor allem auch auf den internationalen Märkten. Veränderte Rahmenbedingungen und strategische Weichenstellungen im ­Unternehmen in der ersten Hälfte der 1960er Jahre Der Automobilmarkt war bereits in den frühen 1960er Jahren ein globaler Markt mit internationalem Wettbewerb und üblichen Konjunkturschwan8 

Siehe zu Theorien der Unternehmensentwicklung Michel Kutschker / Stefan Schmid: Internationales Management, München 2002, S. 1053–1059, 1072–1079.

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kungen. Für die deutschen Automobilhersteller waren die Auslandsmärkte neben dem Inlandsmarkt lebenswichtige Märkte. Um wettbewerbsfähig zu sein, mussten sie in Größenordnungen produzieren, für die das Marktvolumen in der Bundesrepublik bei Weitem nicht ausreichte. Deshalb waren sie darauf angewiesen, die Absatzchancen auf den Auslandsmärkten zu nutzen. Seit 1956 lag die Bundesrepublik nach den USA bei der weltweiten Automobilproduktion auf Platz zwei und beim Fahrzeugexport seit 1957 sogar auf Platz eins.9 Die internationale Automobilindustrie befand sich zwischen 1960 und 1965 in einer Wachstumsphase, die auch in den Folgejahren weiter anhielt, jedoch gegenüber den 1950er Jahren größeren Schwankungen unterlag. In Europa setzte eine Veränderung auf den Automobilmärkten ein, als Zölle und andere Handelshemmnisse schrittweise zwischen 1960 und 1968 innerhalb der EWG und EFTA abgebaut wurden. Dabei erhöhte sich der Wettbewerb unter den europäischen Automobilherstellern bereits Ende der 1950er Jahre und verstärkte sich in den 1960er Jahren in Bezug auf Preise, Technologie, Zuverlässigkeit und Service. Der Verkäufermarkt begann sich zu einem Käufermarkt zu wandeln.10 Der positiven Wirtschaftsentwicklung in dieser Region stand ein wachsendes Marktvolumen zur Verfügung, so dass die europäischen Automobilhersteller ihre Kapazitäten erhöhten. Die Folge waren entstehende Überkapazitäten, die den Konkurrenzdruck weiter verschärften und damit verbunden die Rentabilität der Produktion gefährdeten. Das betraf in erster Linie Nutzfahrzeughersteller. Aber auch Pkw-Hersteller waren davon betroffen. Den Automobilherstellern Saviem, Berliet, Unic, Simca, Borgward, Glas, Auto Union und NSU gelang es nicht, diese Herausforderungen allein zu bewältigen. Sie gingen in den Konkurs oder wurden von anderen Herstellern aufgekauft. Daimler-Benz hatte Konzentrationstendenzen in der Automobilindustrie und einen verschärften Wettbewerb im Zusammenhang mit der Gründung der EWG und der Europäischen Freihandelszone erwartet11 und sich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt zu einer, wenn auch verhaltenen Wachstumsstra-

9  Quelle der in diesem Beitrag genannten Zahlen zur Entwicklung der internationalen Automobilmärkte und Exporte: Tatsachen und Zahlen aus der Verkehrswirtschaft, Verband der Automobilindustrie (Hrsg.): Jahrgänge 1955–1986. 10  Nils Beckmann: Käfer, Gogos, Heckflossen, Vaihingen/Enz 2006, S. 224; Ingo Köhler: Marketing als Krisenstrategie, S. 261, in: Hartmut Berghoff (Hrsg.): Marketinggeschichte, Frankfurt/Main 2007; Fischer: Krisen und Krisenbewältigung bei der Daimler-Benz AG, (Anmerkung 1), S. 135. 11  DBAG: Neujahrsansprache Dr. Könecke, Vorsitzender des Vorstands, am 10. 1. 1958 vor Führungskräften der DBAG, S. 22; DBAG: Protokoll der Sitzung des Vorstands vom 21. 2. 1958; DBAG: Rede Dr. Könecke, Vorsitzender des Vorstands am 8. 7. 1958 auf der Hauptversammlung, S. 4; DBAG: Rede Dr. Könecke zum Presseempfang am 1. 9. 1958.

Wirtschaftskrisen – Wendepunkte für den Konzern?

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tegie „des maßvollen Optimismus“ entschlossen.12 Das Produktangebot sollte auf dem Pkw- und auch auf dem Nutzfahrzeugsektor verbreitert, die Produktion auf Großserienfertigung umgestellt und weitere Auslandsmärkte ausgeschöpft werden, um in Größenordnungen produzieren zu können, die eine Senkung der Stückkosten ermöglichten. Dabei wurden die Fertigungskapazitäten nicht an der kurzfristigen Spitzennachfrage, sondern am lang­ fristigen Bedarf ausgerichtet. Ein weiterer Schwerpunkt der Strategie war die Entwicklung von technischen Innovationen. Das Ziel von Daimler-Benz war, langfristig die Wettbewerbsfähigkeit als internationaler Automobilhersteller zu sichern. Das Investitionsprogramm wurde auch unter Walter Hitzinger, seit 1961 Vorsitzender des Vorstands, fortgesetzt und war weiterhin durch „eine maßvolle und kontinuierliche Unternehmensplanung unter Vermeidung von Extremen nach beiden Seiten bestimmt“.13 Der Erwerb der Auto Union 1958, deren Anteile sie von ihrem Großaktionär Flick erwarb, der dieses Unternehmen verkaufen wollte, war ein erster Schritt in der Umsetzung dieser Strategie im Pkw-Bereich.14 Daimler-Benz wollte damit ins Volumensegment vorstoßen. Allein die weitere Umsetzung der Strategie erwies sich als schwierig und scheiterte, da nicht genügend finanzielle Mittel für die Investitionen in beiden Unternehmen zur Verfügung standen und auch der notwendige Rückhalt für das Auto Union Projekt bei den Technikern von Daimler-Benz fehlte, da es nicht ihren Qualitätsmaß­ stäben entsprach.15 Die Auto Union wurde 1964 an VW verkauft. DaimlerBenz behielt das Auto Union Werk in Düsseldorf mit den entsprechenden Arbeitskräften, die zu diesem Zeitpunkt auf dem leergefegten deutschen Arbeits­markt anderweitig nicht mehr verfügbar waren und konnte damit die eigenen Kapazitäten erweitern. Durch den Verkauf der Auto Union verfügte Daimler-Benz jetzt auch wieder über einen finanziellen Spielraum, um die erforderlichen Investitionen für die Wachstumsstrategie in Bezug auf das Pkw- und Nutzfahrzeugprogramm, die bisher nur in kleineren Schritten erfolgen konnten, ab Ende 1964 zügig durchzuführen. Angesichts des sich weiter verschärfenden Wettbewerbs bestand hier dringender Handlungsbedarf. Das neue Pkw-Konzept sah eine Begrenzung auf Fahrzeuge im Premiumsegment vor. Die bisherige Baureihe mit unterschiedlichen Modellen wurde 12 

DBAG: Neujahrsansprache Dr. Könecke am 15. 1. 1960 vor Führungskräften der DBAG, S. 18, 28; DBAG: Rede Dr. Könecke anlässlich der Hauptversammlung am 27. 7. 1960, S. 3; DBAG: Protokoll der Sitzung des Vorstands vom 18. 11. 60. 13  DBAG: Rede Walter Hitzinger, Vorsitzender des Vorstands am 29. 7. 1963 auf der Hauptversammlung, S. 2. 14  DBAG: Rede Dr. Könecke anlässlich der Hauptversammlung am 8. 7. 1958, S. 4. Daimler-Benz übernahm die gesamten Anteile der Auto Union in zwei Schritten (1958: 88 % und 1960: 12 %) von ihrem Großaktionär F. Flick, der die Vision eines deutschen Großkonzerns verfolgte, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie sicherzustellen. 15  Elfriede Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns. DaimlerBenz 1890–1997, Vaihingen/Enz 2006, S. 243.

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durch zwei neue Baureihen abgelöst, von denen die erste 1965 auf den Markt kam, die zweite folgte drei Jahre später. Die Großserienfertigung dieser zwei Baureihen erforderte eine wesentliche Erhöhung der Produktionszahlen mit entsprechenden Kapazitätserweiterungen, die schrittweise in den nächsten Jahren erfolgten. Das neue Nutzfahrzeugkonzept konnte ab 1965 umgesetzt werden. Das bereits 1960 erworbene Werksgelände in Wörth wurde als neues, zentrales Lkw-Montagewerk mit einer Kapazität von 48 000 Einheiten eingerichtet und die gesamte Lkw-Produktion auf Großserienfertigung umgestellt. Die bisherigen Lkw-Produktionswerke Mannheim und Gaggenau fertigten LkwAggregate und weiterhin Omnibusse und Unimog. Dieses Produktions­ prinzip mit der Gliederung in Aggregate-Fertigung und Montage hatte sich zuvor schon im Pkw-Bereich bewährt. Die Produktion konnte danach kurzfristiger an die jeweiligen Marktbedürfnisse angepasst und gleichzeitig der Kostenvorteil der Großserienfabrikation erhöht werden. In den Produktionswerken in Indien, Argentinien und Brasilien wurden die Kapazitäten ebenfalls ausgebaut. Die Auslandsproduktion der Beteiligungsgesellschaften stieg bis 1965 auf über 27 000 Einheiten. Davon kamen 10 000 Nutzfahrzeuge aus den Werken der Auslandskonzerngesellschaften16, das waren 13,7 Prozent der Konzernproduktion. 1965 war Daimler-Benz nicht nur in der Bundesrepublik der größte Nutzfahrzeuganbieter mit 26 Prozent Produktionsanteil, sondern auch der größte Lkw-Hersteller in der EWG.17 Die Vertriebsorganisation, insbesondere die Auslandsvertriebsorganisation wurde zur Sicherstellung des Absatzes der steigenden Produktion weiter ausgebaut. Die Erschließung neuer Märkte und die bessere Ausschöpfung bisheriger Märkte waren Bausteine der Vertriebsstrategie. Mit der Gründung einer eigenen Vertriebsgesellschaft in dem wichtigsten Pkw-Auslandsmarkt, den USA, wurde 1964 ein erster grundlegender Schritt zur direkten Steuerung des Vertriebs in wichtigen Märkten durch den Konzern unternommen. Diese frühzeitig von Daimler-Benz beschlossene international ausgerichtete moderate Wachstumsstrategie, insbesondere ihre Produktstrategie mit den entsprechenden Investitionen in die Entwicklung, Produktion und den Vertrieb bildete die Grundlage für die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Pkw und Nutzfahrzeuge auf den internationalen Märkten. Der Anteil des Auslandsumsatzes im Konzern betrug 1965 40,2 Prozent. Das Management sicherte mit dieser Strategie die Rentabilität des Unternehmens, so dass auch in den kommenden Jahren die finanziellen Mittel zur Verfügung standen, um die Position von Daimler-Benz als internationales Automobilunternehmen auf dem Weltmarkt auszubauen.

16  Konzerngesellschaften sind Gesellschaften, an denen der Konzern die Mehrheit der Anteile besitzt. 17  Geschäftsbericht DBAG 1965, S. 23.

Wirtschaftskrisen – Wendepunkte für den Konzern?

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Wie bewältigte Daimler-Benz die Rezession 1966/67? Daimler-Benz war 1965, als sich die ersten Anzeichen der Rezession in der Bundesrepublik zeigten, ein gesundes Unternehmen mit einer soliden finanziellen Basis. Der Konzernumsatz betrug 1965 rund 5 Mrd. DM, die Produktion rund 174 Tsd. Pkw und 73 Tsd. Nfz, der Jahresüberschuss 155 Mio. DM. Die Weichen für weiteres Wachstum waren gestellt. Die Rezession 1966/67 in der Bundesrepublik mit einem Rückgang des Bruttosozialprodukts von 0,3 Prozent berührte das Unternehmen in den ­beiden Produktsparten Pkw und Nutzfahrzeuge unterschiedlich. Trotz des massiven Rückgangs der Pkw-Produktion der deutschen Hersteller, der durch einen Absatzeinbruch im vierten Quartal 1966 ausgelöst wurde, und 1967 rund 19 Prozent betrug, verzeichnete Daimler-Benz weder 1966 noch 1967 einen Rückgang bei Produktion und Absatz von Pkw. Vielmehr stieg die Pkw-Produktion 1966 um 10,1 Prozent auf knapp 192 Tsd. und ein Jahr später um 4,6 Prozent auf mehr als 200 Tsd. Einheiten. Im deutschen Nutzfahrzeugmarkt war die einsetzende Rezession bereits seit 1965 spürbar. Die Produktion aller Nutzfahrzeughersteller in der Bundesrepublik ging zwischen 1965 und 1967 um 28 Prozent zurück. Daimler-Benz konnte dagegen die Nutzfahrzeugproduktion zwischen 1965 und 1966 zunächst noch gegen den Trend um 18,2 Prozent steigern. 1967 musste auch die Produktion zur Verringerung der gestiegenen Lagerbestände und zur Anpassung an die ­Absatzmöglichkeiten um 12 Prozent zurückgeführt werden. Dabei war der Export mit über 2 Mrd. DM die stärkste Stütze für den Absatz und die Beschäftigung. Zur Vermeidung von Personalreduzierungen in den deutschen Nutzfahrzeugwerken hatten Vorstand und Betriebsrat im Zusammenhang mit der Reduktion der Nutzfahrzeugproduktion Betriebsferien zwischen Weihnachten und Mitte Januar 1967 sowie verschiedene Kurzarbeitsperioden vereinbart. Frei werdende Arbeitsplätze im Rahmen der Fluktuation wurden nicht wieder besetzt, 850 Mitarbeiter nahmen das Angebot an, im Rahmen des innerbetrieblichen Arbeitskräfteausgleichs sich in ein anderes Werk versetzen zu lassen. Insgesamt ging jedoch die Belegschaft des Unternehmens in der Bundesrepublik um 5,5 Prozent im Jahr 1967, d. h. um 4 500 Mitarbeiter zurück, was erhebliche Unruhe in der Arbeiterschaft auslöste. Nachdem bereits im vierten Quartal 1967 eine zaghafte Wiederbelebung der Wirtschaft spürbar geworden war, setzte im zweiten Quartal 1968 ein sprunghafter Anstieg der Nachfrage ein. Die erste Rezession der Nachkriegszeit war überwunden. Die Krise wurde relativ unspektakulär vom Vorstand bewertet. Im Geschäftsbericht 1966, der anlässlich der Hauptversammlung am 8. August 1967 – also mitten in der Rezession – vorgelegt wurde, heißt es: „Nach der Befriedigung des großen Nachholbedarfs in der Motorisierung nach dem Kriege hat die deutsche Automobilindustrie nunmehr einen Stand erreicht, bei dem sich die normalen Zyklen der Konjunktur auch auf diesen Industriezweig auswirken.

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Für die deutsche Automobilindustrie werden sich damit je nach dem Konjunkturverlauf Schwankungen von Absatz und Produktion ergeben, wie sie in anderen Ländern seit Jahren bekannt sind.“

Der Konzernumsatz erhöhte sich 1966 gegenüber dem Vorjahr um 14,5 Prozent und blieb 1967 mit 5,9 Mrd. DM etwa auf gleichem Niveau. Dabei glichen die Umsatzzuwächse im Ausland von 21,4 und 6,6 Prozent in den beiden Krisenjahren den leicht rückläufigen Konzernumsatz Inland im Jahr 1967 vollständig aus. Auch der Jahresüberschuss stieg 1966 um 13 Prozent auf 175,6 Mio. DM und 1967 um 6 Prozent auf 187 Mio. DM. Alles in allem ein bemerkenswert positives Ergebnis für ein Krisenjahr der deutschen Wirtschaft.

Umsatz Konzern

davon Umsatz Ausland

1969

1968

1967

1966

1965

1964

1963

1961

1960

Mrd. DM 12 10 8 6 4 2 0

1962

Diagramm 1.1:Umsatz UmsatzDaimler-Benz-Konzern Daimler-Benz-Konzern1960 1960–1969 - 1969

davon Umsatz Inland

Quelle: Geschäftsbericht DBAG 1969, Daimler-Benz in Zahlen 1960–1969 Produktion PKW und NFZ Daimler-Benz-Konzern

Produktion PKW

1969

1968

1967

1966

1965

1964

1963

1962

1961

300.000 250.000 200.000 150.000 100.000 50.000 0

1960

in Einheiten

Diagramm 1.2: Produktion PKW und NFZ Daimler-Benz-Konzern 1960–1969 1960 - 1969

Produktion NFZ

Quelle: Illustrierte Chronik DBAG, Kennzahlen, S. 223. Jahresüberschuss/-fehlbetrag Daimler-Benz AG 1960 - 1969

Jahresüberschuss/-fehlbetrag Daimler-Benz AG

Quelle: Geschäftsberichte DBAG 1960–1969.

1969

1968

1967

1966

1965

1964

1963

1962

1961

300 250 200 150 100 50 0 1960

in Mio. DM

Diagramm 1.3: Jahresüberschuss/-fehlbetrag Daimler-Benz AG 1960–1969

Wirtschaftskrisen – Wendepunkte für den Konzern?

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Strategische Weichenstellungen und Wandel im Unternehmen 1968/69 Eine Änderung seiner moderaten, international ausgerichteten Wachstumsstrategie beschloss der Vorstand weder in der Rezession noch in der Zeit danach. Die Strategie war jetzt insbesondere bei Nutzfahrzeugen darauf ausgerichtet, Kapazitätserweiterungen durchzuführen und neue Produktsegmente sowie Märkte auszuschöpfen, um in Größenordnungen produzieren zu können, die weitere Kostensenkungen ermöglichten. Bei Personenkraftwagen war die Nachfrage nach Fahrzeugen in der oberen Mittel- und Oberklasse weiterhin größer als die Produktionskapazitäten. Die vom Vertrieb Inland und Ausland geforderte schnellere Erhöhung der Produktionskapazitäten war schon vor der Rezession ein ständiges Thema in den Vorstandssitzungen. Das Vorstandsmitglied Vertrieb Inland, Rolf Staelin, sah die Gefahr, dass die Bereitschaft der Kunden abnahm, längere Lieferzeiten in Kauf zu nehmen, und dass damit gerechnet werden musste, dass die Konkurrenz versuchen würde, in die Mercedes-Benz-Klasse einzudringen.18 Die Kapazitätsausweitung wurde jedoch durch die zur Verfügung stehenden Mittel bestimmt. Sie erfolgte kontinuierlich entsprechend dem Investitionsplan bis 1969 auf 250 Tsd. Einheiten. Damit konnte die Pkw-Produktion gegenüber 1965 um 47,5 Prozent gesteigert werden. Joachim Zahn, seit 1965 Sprecher des Vorstands, setzte sich insbesondere für einen maßvollen Ausbau der Pkw-Kapazitäten ein. Er betonte nach seinem Ausscheiden 1979 in einer Stellungnahme, dass die Abstimmung der Kapazitäten mit der tatsächlichen nachhaltigen Nachfrage für den Erfolg des Pkw-Programms von DaimlerBenz entscheidend war, da ein Programm in der Spitzenklasse gegenüber Überkapazitäten besonders anfällig sei. Diese Politik hatte sich, wie Zahn weiter feststellte, nicht nur in der Rezession 1966/67 bewährt, sondern auch in den Wirtschaftskrise 1974/75 und in der Zeit nach 1979, als die gesamte Pkw-Industrie der westlichen Welt in eine kritische Phase geriet.19 Eine Änderung der Pkw-Strategie im Hinblick auf die Einführung einer dritten Baureihe in der Mittelklasse wurde zwar immer wieder einmal diskutiert, aber letztlich fühlte sich das Management in der Richtigkeit seiner Strategie mit zwei Baureihen im Premiumsegment bestätigt, die gute Ergebnisse brachte und sich als krisenresistent erwiesen hatte. Im Premiumsegment war der Wettbewerb auch international noch relativ gering und die Gewinnmargen höher als im Volumensegment. Es gab nur wenige Konkurrenten wie RollsRoyce und Jaguar. Beide hatten jedoch mit erheblichen Problemen zu kämpfen. Auch Opel, Volvo, Citroën und Fiat waren keineswegs erfolgreich, sich

18 

DBAG: Protokoll der Sitzung des Vorstands vom 12. 5. 1966. DBAG: Akte Kruk, Joachim Zahn: Stellungnahme vom Oktober 1981 zur Frage der Einstufung des Nutzfahrzeug- bzw. des Pkw-Bereiches in der gesamten Geschäftspolitik der Daimler-Benz AG, insbesondere in der Kapazitäts-, Entwicklungsund Marktpolitik, S. 8. 19 

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in dieser Klasse zu etablieren. Dagegen begann sich BMW vor allem in der nächsten Phase zu einem herausfordernden Wettbewerber zu entwickeln. Bei Nutzfahrzeugen war der Vorstand ebenfalls überzeugt, mit seiner Wachstumsstrategie auf dem richtigen Weg zu sein. Hier ging es vor allem darum, die Wettbewerbsfähigkeit der Fahrzeuge weiterhin zu sichern. In der Bundesrepublik gab es Mitte der 1960er Jahre sechs große Nutzfahrzeughersteller: Büssing, Daimler-Benz, KHD, Krupp, MAN und Rheinstahl-Henschel-Hanomag. Nach Einschätzung des Daimler-Benz Vorstands waren die Nutzfahrzeugkapazitäten in der Bundesrepublik im Hinblick auf die Nachfrage etwa 30 Prozent zu hoch. Die Folge war ein ruinöser Preiswettbewerb, der sich in der Rezession 1966/67 verschärfte. Es zeichnete sich ab, dass ein Konzentrationsprozess auf diesem Sektor bevorstand. Hinzu kam, dass die Nachfrage nach Nutzfahrzeugen auch weltweit wesentlich geringer war als die vorhandenen Nutzfahrzeugkapazitäten und sich der Konzentrationsprozess nicht nur auf die Bundesrepublik beschränken würde. Insbesondere ausländische Hersteller versuchten die Gunst der Stunde zu nutzen, um durch die Übernahme eines Konkurrenten in der Bundesrepublik in den bis dahin von diesen Herstellern beherrschten deutschen Markt einzudringen. Hier waren insbesondere Fiat und British Leyland aktiv. Allein der Import von Nutzfahrzeugen in die Bundesrepublik stieg zwischen 1965 und 1969 von 5 Tausend auf 20 Tausend Einheiten und hatte sich damit vervierfacht. Der Vorstand von Daimler-Benz hatte sich zum Ziel gesetzt, mit seiner Wachstumsstrategie bei Nutzfahrzeugen längerfristig auch weltweit bei Nutzfahrzeugen ab 6 t eine Spitzenstellung zu übernehmen. Um das zu erreichen, mussten die Nutzfahrzeugproduktionskapazitäten sowohl im Inland als auch im Ausland weiter ausgebaut werden, um im Rahmen der Groß­ serienfertigung die Stückkosten weiter zu senken. In der Bundesrepublik war das Hauptaugenmerk zunächst nicht primär darauf ausgerichtet, Produktions­ kapazitäten von Herstellern zu übernehmen, die in finanzielle Schwierigkeiten geratenen waren. Das hatte sekundäre Bedeutung. Der Vorstand wollte vor allem deren Marktanteile hinzugewinnen und verhindern, dass ein ausländischer Hersteller durch den Erwerb dieser Kapazitäten auf dem deutschen Markt Fuß fasste.20 Das gelang Daimler-Benz gegenüber Fiat mit der Übernahme der LkwVertriebsorganisation von Krupp im Januar 1968, die aufgrund der Einstellung ihrer nicht mehr konkurrenzfähigen Lkw-Produktion verkauft wurde. Ein Jahr später setzte sich Daimler-Benz gegenüber British Leyland durch und gründete eine gemeinsame Gesellschaft mit Rheinstahl, die ebenfalls durch die Krise mit ihrer Produktion von Fahrzeugen der Marken Hanomag und Henschel in finanzielle Schwierigkeiten geraten war. Daimler-Benz beteiligte sich an dieser Nutzfahrzeuggesellschaft zunächst mit 51 Prozent und

20 

DBAG: Protokoll der Sitzung des Vorstands vom 21. 11. 1967 und vom 12. 12. 1967.

Wirtschaftskrisen – Wendepunkte für den Konzern?

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übernahm sie ein Jahr später vollständig. Die Anteile von Hanomag, Henschel und Krupp an der deutschen Produktion betrugen 1965 zusammen 21 Prozent. Mit der Übernahme konnte Daimler-Benz 1969 den Produktionsanteil und entsprechende Marktanteile in der Bundesrepublik auf 48,5 und 1970 auf 50,6 Prozent erhöhen.21 Das Unternehmen übernahm drei Werke und erweiterte sein Nutzfahrzeugangebot um leichte Transporter und Schnelllastwagen. Im Ausland wurden die bestehenden Produktionskapazitäten ausgebaut. In Brasilien und Argentinien übernahm Daimler-Benz die Mehrheit an beiden Produktionsgesellschaften. In Indien hatte das Unternehmen nur eine Beteiligung zwischen 12 und 13 Prozent. Die Zusammenarbeit wurde 1969 auf eine neue Basis gestellt und die Lkw unter dem Warenzeichen von Tata vertrieben. Neue Auslandsproduktionsgesellschaften mit Daimler-Benz-Beteiligung gab es 1966 in Südafrika und der Türkei sowie 1969 in Spanien, dem Iran und Indonesien. 1969 war die Nutzfahrzeugproduktion der Auslandswerke mit Daimler-Benz-Beteiligung auf 48 Tsd. Fahrzeuge gegenüber 1965 um 75 Prozent gestiegen. Die Auslandsproduktion der Konzerngesellschaften betrug 1969 rund 24 Tsd. Einheiten und war sogar um 140 Prozent gestiegen. 1969 hatte Daimler-Benz mit 171 Tsd. Nutzfahrzeugen die Konzernproduktion gegenüber dem Jahr 1965 um 134 Prozent erhöht. Das war eine gute Ausgangsposition im weiteren internationalen Wettbewerb. Um die Wachstumsstrategie bei Pkw und Nutzfahrzeugen von der Absatzseite weiter abzusichern, wurde auch die Vertriebsstrategie in der Re­ zession fortgeführt. Sie war weiter auf Exporte mit dem Ausbau der Vertriebsorganisation ausgerichtet. Der Export der Produkte aus den deutschen Werken hatte Priorität und sollte breit gestreut werden. Daimler-Benz wollte damit auch Arbeitsplätze in den deutschen Werken sichern und Konjunkturschwankungen ausgleichen. Darüber hinaus sah das Unternehmen im Ausbau des Exports ein wichtiges Element der Stabilisierung, insbesondere bei unterschiedlichen konjunkturellen Entwicklungen in den einzelnen Ländern.22 Der Exportumsatz stieg zwischen 1965 und 1967 um 22 Prozent und verdoppelte sich bis 1969 im Vergleich zu 1965. Eine weitere Folge der Wachstumsstrategie – nicht der Rezession – war, dass zur Absicherung und Steigerung des Absatzes in Märkten mit großem Absatzpotenzial die Steuerung des Auslandsvertriebs über eigene Tochtergesellschaften erfolgen sollte. Auslöser dieser Grundsatzentscheidung war der Erwerb der französischen Generalvertretung Anfang 1969. Daimler-Benz entschloss sich zur Übernahme dieser Generalvertretung, um zu verhindern, dass sie in die Verfügung 21 

Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns, (Anmerkung 15), S. 267; DBAG: Zentralstatistik, Übersicht Zulassungen von DB Lkw, Marktanteile 1950–1985 vom 27. 5. 1986. 22  DBAG: Geschäftsbericht 1969, S. 16.

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von zwei Banken geriet, die an der Verwertung ihrer Immobilien interessiert waren. Für Daimler-Benz eröffnete sich damit die Möglichkeit, wie der Vorstand feststellte, die französische Verkaufsorganisation so zu ordnen, „dass sie den Anforderungen gerecht wird, die diesem Markt vor allem auch im Hinblick auf die Auslastung der im Aufbau befindlichen zusätzlichen PkwKapazitäten zukommt“.23 Dabei spielten die guten Erfahrungen, die mit der eigenen Vertriebsgesellschaft in den USA seit 1964 gemacht wurden, eine wichtige Rolle. Allerdings war diese Grundsatzentscheidung im Vorstand nicht unumstritten.24 Bereits in den Jahren zuvor hatten sich Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Vorstandsmitglied für den Auslandsvertrieb, Arnold Wychodil, und weiteren Mitgliedern des Vorstands zur Ausgestaltung der Auslandsvertriebsorganisation entwickelt. Der Auslandsvertriebschef hielt es grundsätzlich nicht für richtig, dass Daimler-Benz Kapital für den Erwerb und Ausbau der Vertriebsorganisation einsetzte, das sollten die jeweiligen Generalvertreter übernehmen.25 In den Volumenmärkten hatten sich jedoch zwischen Daimler-Benz und den jeweiligen Generalvertretern im Zusammenhang mit dem Absatz des steigenden Produktionsvolumens Konfliktfelder entwickelt. Hierzu gehörten die Themen Investitionen zur langfristigen Markterschließung und Markterhaltung sowie die Reduzierung der Generalvertreterspannen zur Ausschöpfung eines größeren Marktvolumens. Generalvertretungen strebten eine kurzfristige Verzinsung des eingesetzten Kapitals an, während Daimler-Benz den Absatz der steigenden Produktion sichern wollte und längerfristige Renditeziele verfolgte.26 Generalvertretungen waren oft nur unter Druck bereit, entsprechende Investitionen durchzuführen, oftmals fehlte das Kapital zur Finanzierung dieser Investitionen und auch die Bereitschaft zur Senkung der Importeurspannen. In dieser Situation bildete sich ein erheblicher Widerstand gegen die Vertriebsstrategie Wychodils, nur mit Generalvertretungen im Ausland zu arbeiten. Mit der Entscheidung zum Erwerb der französischen Generalvertretung setzten sich jedoch die Befürworter des Vertriebs über eigene Tochtergesellschaften in strategisch wichtigen Absatzmärkten durch. Eigene Vertriebsgesellschaften waren insbesondere in den EWG-Märkten wichtig, um eine einheitliche Vertriebspolitik zu verfolgen mit einem abgestimmten Vorgehen bei Kulanzen, Nachlässen und Rabatten. Das war nur auf diesem Weg zu erreichen.27 In den nächsten Jahren entstand weltweit ein Vertriebssystem, das sowohl mit eigenen Vertriebsgesellschaften als auch mit Generalvertretungen je nach Marktpotenzial 23 

DBAG: Protokoll der Vorstandssitzung vom 5. 11. 1968. Siehe hierzu auch Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns, (Anmerkung 15), S. 272. 25  DBAG: Protokoll der Sitzung des Vorstands vom 20. 9. 1967. 26  Zu den weiteren Gründen des Konflikts Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns, (Anmerkung 15), S. 269ff. 27  Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns, (Anmerkung 15), S. 271. 24 

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arbeitete. Die Umsetzung dieses Konzepts erfolgte unter dem neuen Auslandsvertriebschef Heinz Hoppe, der zuvor das Geschäft in USA mit einer Tochtergesellschaft aufgebaut hatte und ein Verfechter des Vertriebs in eigener Regie war. Blockade bei der Neuausrichtung der Führungsorganisation und der ­Führungsinstrumente Die strategische Neuausrichtung des Unternehmens und das wachsende internationale Geschäftsvolumen hätte bereits Mitte der 1960er Jahre auch eine Neuausrichtung der Führungsorganisation und der Führungsinstrumente erfordert. In der funktionalen Führungsorganisation bestanden starke Trennwände zwischen den Vorstandsressorts, die eine koordinierte Ausrichtung der Unternehmensaktivitäten auf die Märkte erschwerten. Die Marketing­ instrumente Produkt, Preis, Kommunikation und Vertrieb wurden relativ auf einander unabgestimmt eingesetzt. Hier spielte auch die Technikorientierung des Unternehmens lange Zeit eine ganz wesentliche Rolle. Die Ausrichtung der Fahrzeugentwicklung auf den Markt und die Kundenbedürfnisse standen zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Vordergrund. Heinz Hoppe, Vorstandsmitglied Auslandsvertrieb, stellte z. B. fest, dass im Ressort Entwicklung und Konstruktion bis zum Ausscheiden des Entwicklungschefs 1965 mehr oder weniger die Auffassung galt: „Wir verstehen mehr von Autos als unsere Kunden, daher bauen wir, wie wir es für richtig halten, um ihnen das beste zu bieten“.28 Die einzelnen Vorstandsressorts waren bestrebt, ihre Eigenständigkeit zu verteidigen und bauten ihre Bastionen mit viel Personal und komplizierten Unterstellungsverhältnissen aus. Das führte zu einem starken Anstieg der Gemeinkosten in den einzelnen Vorstandsressorts. Auch die Produktionskosten waren davon betroffen. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Unternehmensplanung, die alle Einzelfunktionen des Unternehmens integrierte und mit der die einzelnen Aktivitäten des Unternehmens auf eine gemeinsame Zielsetzung hätten ausgerichtet werden können. Seit Mitte der 1960er Jahre gab es jedoch erste Schritte zu einer erweiterten Marketingsicht. Der Vorstand beschloss, dass die Vertriebsressorts Inland und Export die Feder­führung in allen Fragen des Marketing und der Werbung haben sollten und von ihren Marketingüberlegungen Impulse für die weitere Richtung der Fahrzeugentwicklung ausgehen sollten.29 Gegen eine Neuausrichtung der Führungsorganisation entwickelte sich jedoch im Vorstand ein heftiger Widerstand. Änderungen in der Führungsorganisation bedeuteten auch Veränderungen in den Machtpositionen, die von den Betroffenen mit Nachdruck verteidigt wurden. Hier wurde der notwen-

28  29 

Heinz C. Hoppe: Ein Stern für die Welt, München 1991, S. 259. DBAG: Protokoll der Sitzung des Vorstands vom 26. 7. 1966.

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dige Wandel blockiert. Bis zum Ende des Jahrzehnts geschah nichts. Die negativen Folgen dieser Blockade zeigten sich in der nächsten Phase.30 Das wirtschaftliche Ergebnis des Unternehmens 1968/69 Vergleicht man das Ergebnis der Geschäftstätigkeit des Unternehmens nach Überwindung der Rezession 1969 mit dem Ausgangsjahr 1965, so ist eine außerordentlich positive Entwicklung festzustellen. Der Konzernumsatz stieg um 88 Prozent von 5,1 Mrd. DM auf 9,6 Mrd. DM. Der Anteil des Auslandsumsatzes am Konzernumsatz erhöhte sich von 40,2 auf 47,8 Prozent. Die Pkw-Produktion stieg um knapp 48 Prozent auf 257 Tsd. Einheiten, die Nutzfahrzeugproduktion um 133 Prozent auf 171 Tsd. Fahrzeuge. In den fünf Jahren zwischen 1965 und 1969 wurden 2,4 Mrd. DM an Investitionen getätigt, 7,2 Prozent vom Umsatz, und die Zahl der Konzernbeschäftigten erhöhte sich vor allem durch die Übernahme der Hanomag/HenschelWerke um 39 Prozent auf 136 Tsd. Mitarbeiter. Der Jahresüberschuss stieg kontinuierlich von 155 Mio. auf 247 Mio. DM. Daimler-Benz betrieb eine flexible Bilanzpolitik und gestaltete den „gewünschten Jahresüberschuss“ nach dem Grundsatz, wie Wilfried Feldenkirchen anmerkt: „leicht und kontinuierlich steigend“. Das Aktiengesetz von 1965 gestattete Flexibilität bei der Wahl der Bewertungsmethoden, Einschätzung der Risikofaktoren und Ausgestaltung der Rechnungsregeln.31 Das Unternehmen achtete darauf, beträchtliche stille und offene Reserven zu bilden, und stärkte damit seine Finanzkraft. Diese Politik war für die weitere Entwicklung des Unternehmens von ausschlaggebender Bedeutung. Ein weiterer Grund für diese positive Entwicklung ist einmal in der rechtzeitigen strategischen Neuausrichtung des Konzerns zwischen 1960 und 1965 zu suchen, und zwar sowohl hinsichtlich der Produkt- und Produktionsstrategie bei Pkw und Nutzfahrzeugen als auch der Vertriebsstrategie. Mit dieser strategischen Neuausrichtung hatte sich Daimler-Benz rechtzeitig auf die Veränderungen der internationalen Automobilmärkte eingestellt. Die Folgen der Rezession in der Bundesrepublik waren für das Unternehmen nicht kritisch. Ausschlaggebend waren vielmehr die durchgreifende Rationalisierung und Neuausrichtung der Fertigung mit jeweils einem zentralen Montagewerk für Pkw und Nutzfahrzeuge sowie weiteren Aggregatewerken in der Bundesrepublik. Hinzu kamen die Errichtung von Nutzfahrzeugproduktionswerken in wichtigen Auslandsmärkten sowie der Ausbau der Vertriebsorganisation, der wesentlich zur Steigerung des Auslandsumsatzes beigetragen und damit auch die Folgen der Rezession abgefedert hat. Beim Pkw-Geschäft 30  Siehe hierzu Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns, (Anmerkung 15), S. 278f. 31  Wilfried Feldenkirchen: Vom Guten das Beste. Von Daimler und Benz zur DaimlerChrysler AG. Band 1, Die ersten 100 Jahre (1883–1983), München 2003, S. 355.

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zeigte sich, dass das Premiumsegment wesentlich krisenresistenter war als das Volumensegment. Ein wichtiger Punkt war auch, dass das Unternehmen seine Pkw-Kapazitäten nicht am Spitzenbedarf, sondern am langfristigen ­Bedarf ausrichtete, so dass die Nachfrage höher war als seine Produktions­ kapazitäten und es somit auch in der Rezession 1966/67 keine Nachlässe einzuräumen brauchte. Daimler-Benz hatte sich in dieser Phase zu einem finanzstarken, internationalen Automobilunternehmen gewandelt. War die Rezession ein Wendepunkt für das Unternehmen? Einen Strategiewandel hat die Rezession in der Bundesrepublik bei DaimlerBenz weder bei Pkw noch bei Nutzfahrzeugen ausgelöst. Die strategische Neuausrichtung begann bei beiden Sparten bereits einige Jahre zuvor aufgrund von Veränderungen auf den internationalen Märkten, insbesondere auf den europäischen Märkten, ausgelöst durch den Abbau von Zöllen und Handelsbeschränkungen im Rahmen der EWG und der EFTA. Die Rezession bewirkte das Ausscheiden nicht wettbewerbsfähiger Nutzfahrzeughersteller und offerierte damit Chancen für Daimler-Benz zur schnelleren Umsetzung der Wachstumsstrategie. Diese Chancen hat das Unternehmen genutzt. Der Erwerb der Lkw-Vertriebsorganisation von Krupp und die Übernahme des Hanomag- und Henschel-Fahrzeugbereichs von Rheinstahl waren wichtige Bausteine für die Weiterentwicklung des Konzerns im nächsten Jahrzehnt. Damit ging Daimler-Benz als ein internationales Automobilunternehmen gestärkt aus der Rezession. Die Rezession beschleunigte den Wandel, sie war jedoch kein Wendepunkt für den Konzern.

Die Wirtschaftskrisen 1974/75 und 1981/82 und ihre Folgen für Daimler-Benz Neue Herausforderungen für den Konzern durch veränderte Rahmen­ bedingungen Nach dem starken Einbruch von Absatz und Produktion bei Pkw und Nutzfahrzeugen 1966/67 in der Bundesrepublik hatte sich die deutsche Auto­ mobilindustrie in den Folgejahren relativ schnell wieder erholt. Auch auf den Auslandsmärkten standen die Signale auf Wachstum. Allerdings war das Wachstum in dieser Phase starken Schwankungen unterworfen und flachte insgesamt deutlich gegenüber den 1960er Jahren ab. Daimler-Benz hatte, wie auch alle anderen deutschen Automobilhersteller, mit sich verändernden Rahmenbedingungen zu kämpfen, die zu einem Teil bereits gegen Ende der 1960er Jahre eintraten, zu Beginn der 1970er Jahre jedoch voll wirksam wurden. Zu diesen sich verändernden Rahmenbedingungen gehörte eine laufende Aufwertung der Deutschen Mark im Zusammenhang mit den Spannungen

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im Weltwährungssystem, das schließlich 1971 zusammenbrach.32 Der Dollar, der 1968 auf 4,00 DM fixiert worden war, fiel bis Ende 1972 auf 3,22 DM, bis Ende 1973 auf 2,87 DM, erreichte bis 1978 einen Kurs von 1,73 DM, um dann bis 1984 auf 2,59 und bis Anfang 1985 auf 3,46 DM anzusteigen.33 Hinzu kamen im internationalen Vergleich überproportional steigende Arbeitskosten. Die Bundesrepublik hatte sich inzwischen zu einem Hochlohnland entwickelt. Eine beginnende Inflation mit extrem steigenden Rohstoffpreisen beförderte diesen Prozess. Darüber hinaus erforderten gesetzliche Bestimmungen zur Reinhaltung der Luft, sowie Bestimmungen zum Umweltschutz sowie zur Fahrzeugsicherheit in den USA und in Europa hohe Investitionen in die Entwicklung und Konstruktion bei den Automobilherstellern. Sowohl in Europa als auch in den Überseemärkten bestanden insbesondere auf dem Nutzfahrzeugsektor weiterhin Überkapazitäten, die den internationalen Wettbewerb verschärften. Das abflachende und teilweise rückläufige Wachstum der Weltwirtschaft führte in den 1970er Jahren zu erheblichen Nachfragerückgängen in einer Anzahl von Märkten mit der Folge von leer stehenden Kapazitäten der europäischen Nutzfahrzeughersteller. Daraus entbrannte ein Verdrängungswettbewerb, der sich in den nächsten Jahren weiter verschärfte und seinen Höhepunkt in den Jahren nach dem zweiten Ölpreisschock erlebte. Die Konkurrenten überboten sich mit Nachlässen, um genügend Aufträge zur Auslastung ihrer Kapazitäten zu erhalten. Iveco, Leyland, Volvo, Scania und Daimler-Benz waren die Hauptkontrahenten in diesem Preiskampf. Aber auch neue Anbieter wie die japanischen Automobilhersteller, die in den 1950er und der ersten Hälfte der 1960er Jahre noch keine ­bedeutende Rolle auf dem Weltmarkt spielten, hatten sich seit Beginn der 1970er Jahre zu einem gefürchteten Wettbewerber entwickelt und ver­ drängten 1971 die deutschen Automobilhersteller vom zweiten Platz bei der weltweiten Pkw-Produktion. 1974 belegte Japan Platz eins beim Automobilexport und verwies die Bundesrepublik auf den zweiten Platz. Der Kon­ kurrenzkampf erstreckte sich sowohl auf Pkw als auch auf Lkw und Transporter.34 Die europäischen Hersteller von kleineren und mittleren Pkw sowie von leichten Transportern kämpften jetzt gegen die preislich und qualitativ wettbewerbsfähigeren japanischen Fahrzeuge auf allen wesentlichen Märk32  Ausführungen zum Zusammenbruch des Weltwährungssystems bei Harold James: Rambouillet, 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft, München 1997, S. 131–160; Paul Erker: Dampflok, Daimler, Dax. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 269–275; Herman van der Wee: Der gebremste Wohlstand. Wiederaufbau, Wachstum und Strukturwandel der Weltwirtschaft seit 1945, in: Wolfram Fischer (Hrsg.): Geschichte der Weltwirtschaft, Band 6, München 1984, S. 505–582. 33  Dollarkurse 1968–1978: Geschäftsberichte Daimler–Benz; Dollarkurse 1984–1985: Harenberg, Lexikon der Gegenwart 97, S. 111; Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns, (Anmerkung 15), S. 291. 34  Feldenkirchen: Vom Guten das Beste, (Anmerkung 31), S. 259.

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ten. Die deutschen Hersteller verloren in den USA und auch in Europa Marktanteile, den asiatisch pazifischen Raum mussten sie ganz aufgeben. Die japanischen Hersteller gewannen mit der „schlanken Produktion“ einen Vorsprung vor der „Massenproduktion“ und vergrößerten ihren Anteil an der Weltproduktion laufend.35 Während Daimler-Benz von dem Konkurrenzkampf auf dem Nutzfahrzeugsektor massiv betroffen war, konnte das Unternehmen die Lage auf dem Pkw-Sektor zunächst noch etwas entspannter sehen. Aber auch das sollte sich ändern. Als die OPEC im Zuge des Nahost-Krieges beschloss, ihre Öllieferungen in die westlichen Industriestaaten zu begrenzen und begann, den Weltmarktpreis für Rohöl in die Höhe zu treiben, löste das im Oktober 1973 den ersten Ölpreisschock aus. Ein Barrel Rohöl, das 1970 noch 1,30 Dollar gekostet hatte, stieg 1973 auf 2,70 und 1974 auf 9,70 Dollar. Damit war der Höhenflug des Ölpreises noch nicht beendet. Es folgte 1979 der zweite Ölpreisschock, mit dem der Ölpreis auf 34 Dollar stieg.36 Die Folgen dieser beiden Ölpreisschocks zeigten sich in einem Minuswachstum der Weltwirtschaft in den Jahren 1974/75 und 1981/82. In den USA, Japan, Frankreich und der Bundesrepublik schrumpfte die Wirtschaft 1975 zwischen ein und zwei Prozent. 1981/82 lagen die Schrumpfungsraten in einer ähnlichen Größenordnung. Die Automobilindustrie empfand den ersten Ölpreisschock mit der folgenden Energiekrise als eine Zäsur, in der, wie Joachim Zahn, Vorsitzender des Vorstands von Daimler-Benz, auf der Hauptversammlung im Juli 1974 feststellte, sich die Grundlagen des wirtschaftlichen Geschehens entscheidend geändert hatten. Die Folgen des Umbruchs durch die Energiekrise hatten für die Automobilindustrie im Vergleich zur Rezession 1966/67 eine andere Dimension erreicht.37 Die auf den zweiten Ölpreisschock folgende Wirtschaftskrise 1981/82 wurde von der deutschen Automobilindustrie nicht mehr ganz so dramatisch empfunden. Gerhard Prinz, der neue Vorstandsvorsitzende von Daimler-Benz sprach auf der Bilanzpressekonferenz am 24. Mai 1982 nur davon, dass die deutsche Auto­mobilindustrie 1981 von der Konjunktursonne nicht verwöhnt worden und einem starken Gegenwind ausgesetzt gewesen wäre.38 Der Preisanstieg für Benzin führte 1974/75 weltweit zu einem Nachfragerückgang bei Pkw und Nutzfahrzeugen. Eine einsetzende Umweltdiskussion, zeitweise Fahrverbote, Geschwindigkeitsbegrenzungen und die fortschreitende Inflation verunsicherten die Kunden, die ihre Kaufentscheidung verschoben. Es setzte ein Trend zu kleineren wirtschaftlichen Fahrzeugen ein. Auch die Folgen der 35 

Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns, (Anmerkung 15), S. 308ff. 36  Erker: Dampflok, Daimler, Dax, (Anmerkung 32), S. 264. 37  DBAG: Rede Prof. Zahn, Vorsitzender des Vorstands der Daimler-Benz AG, in der Hauptversammlung am 17. 7. 1974. 38  DBAG: Presse Information, Ausführungen Dr. Gerhard Prinz bei der Bilanz-Pressekonferenz am 24. 5. 1982.

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Ölverteuerung 1979 führten zu einem weiteren scharfen Absatzeinbruch bei Pkw und Nutzfahrzeugen. Wie bewältigte Daimler-Benz die Wirtschaftskrisen 1974/75 und 1981/82 Daimler-Benz war zwischen 1970 und 1973 weiter auf Wachstumskurs. Der Konzernumsatz erhöhte sich bis 1973 auf 13,8 Mrd. DM, die Pkw-Produk­ tion auf 332 Tsd., die Nutzfahrzeugproduktion im Konzern auf 216 Tsd. Einheiten und der Jahresüberschuss auf 259 Mio. DM. Nachdem sich bereits Mitte 1973 eine Konjunkturabkühlung abgezeichnet hatte, zeigte sich der Vorstand mit Einsetzen der Energiekrise im Herbst 1973 außerordentlich beunruhigt über die zu erwartenden Absatz-, Kosten- und Ertragsprobleme.39 Die Unsicherheit über die weitere Entwicklung hielt den Vorstand während des gesamten Jahres im Griff. Dennoch entwickelte sich das Geschäftsjahr 1974 für Daimler-Benz ex post betrachtet überraschend positiv. Das Unternehmen kam tatsächlich ohne größere Einschnitte durch die Krise. Obwohl die Produktion der deutschen Hersteller 1974 insgesamt um 22 Prozent bei Pkw und um 13 Prozent bei Nutzfahrzeugen gegenüber dem Vorjahr einbrach, steigerte Daimler-Benz die Pkw-Produktion um 2,5 Prozent und auch die Nutzfahrzeugproduktion konnte im Konzern trotz eines stückzahlmäßigen Rückgangs, wertmäßig erhöht werden, da mehr schwere Lkw verkauft wurden. Der Umsatz im Konzern stieg um 10,7 Prozent auf 15,3 Mrd. DM. Allerdings ging der Inlandsumsatz um 4,4 Prozent zurück, der Auslandsumsatz, bestehend aus dem Export­umsatz der inländischen Werke und der Eigenleistung der Auslandsgesellschaften konnte dagegen sogar um 25,4 Prozent gesteigert werden und glich den Rückgang im Inland mehr als aus. Damit war der Auslandsumsatz im Konzern mit einem Anteil von 57,2 Prozent erstmals höher als der Inlandsumsatz. Der Jahresüberschuss lag 1974 mit 260 Mio. DM auf der Höhe des Vorjahres. Ergebnisverbesserungen ergaben sich aus der starken Zunahme des Schwer-Lkw-Geschäfts in den Ländern des Nahen Ostens und durch hohe Zinserträge aus einer vorsorglich angesammelten Liquidität. Dagegen ergaben sich Ertragseinbußen aus einem starken Kostenanstieg, durch Ver­ lagerungen beim Pkw-Absatz von der Oberklasse zur Mittelklasse und zum erlösschwächeren Exportgeschäft. 40 Auch in dieser Rezession ging die Zahl der Beschäftigten in der DaimlerBenz AG um etwas über 3000 Mitarbeiter zurück. Der Personalabbau in den Werken und der Zentrale konnte jedoch ausschließlich durch Nichtersatz der Fluktuation erzielt werden. Es gab im Gegensatz zur übrigen deutschen

39  DBAG: Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats der DBAG am 8. 11. 1973 in Frankfurt/Main. 40  Geschäftsbericht DBAG 1974, S. 17.

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Auto­mobilindustrie weder Entlassungen, noch Kurzarbeit oder Abfindungen. Daimler-Benz zeigte in diesen beiden Krisenjahren insgesamt eine geringe Krisenanfälligkeit. Zu diesem Ergebnis kommt auch Dominik Fischer, der in seiner Analyse nur die Daimler-Benz AG und im Schwerpunkt den deutschen Markt und nicht den Konzern betrachtet. Diese geringe Krisenanfälligkeit von Daimler-Benz für exogene Einflüsse ist, wie er feststellt, einmal auf die maßvolle Kapazitätsplanung, auf eine vorteilhafte Kundenstruktur im Inland und insbesondere auf den Aufbau von Liquiditätsreserven zurückzuführen.41 Hinzu kommen auch noch weitere Faktoren wie vor allem eine gute Position auf den Auslandsmärken mit einer Vertriebsorganisation, die in wichtigen Märkten durch eigene Gesellschaften geführt wurde, die in den Krisenjahren dazu beitrugen, den Umsatz mit fast 25 Prozent wesentlich zu steigern. Besorgniserregend war jedoch, dass sich die Kosten-Erlös-Schere in einem nie gekannten Ausmaß geöffnet hatte. Beim Material ergaben sich 1974 gegenüber dem Vorjahr Kostensteigerungen von 11,7 Prozent, die Personal­ kostenerhöhung je geleisteter Arbeitsstunde betrug sogar 19,6 Prozent. In diesem Jahr lagen die Lohnkosten je geleisteter Arbeitsstunde unter der Berück­sichtigung der Verteuerung der DM sogar über den Lohnkosten in den USA.42 Erlösverbesserungen durch entsprechende Preisanpassungen ­waren im Ausmaß der Kostenerhöhungen nicht möglich. Hinzu kamen im Export die Mindererlöse durch die Aufwertung der Deutschen Mark. Diese Entwicklung war trotz der guten Bewältigung der Krise für die künftige Entwicklung alarmierend. Nachdem die Automobilkrise in der Bundesrepublik im zweiten Halbjahr 1975 überwunden war, setzte Daimler-Benz die Aufwärtsentwicklung weiter fort. Zwischen 1974 und 1980 verdoppelte der Konzern seinen Umsatz auf 31 Mrd. DM, die Pkw-Produktion stieg um 28,2 Prozent und die Nfz-Produktion sogar um 33 Prozent. Die Steigerungsrate der Personalaufwendungen pro Mitarbeiter in der AG zeigte mit fast 51,5 Prozent in diesem Zeitraum eine weiterhin alarmierende Entwicklung.43 Aufgrund der sprunghaft gestiegenen Nachfrage aus den Nahostländern wiesen dagegen die Kennzahlen im Nfz-Bereich auf eine positive Entwicklung hin. Es gelang Daimler-Benz aufgrund der in diesen Ländern seit langem bestehenden Vertriebsorganisation und der damit verbundenen guten Kontakte, die Exporte dorthin zu günstigen Preisen auf 2,8 Mrd. DM zu steigern. Die Nutzfahrzeugproduktion im Auslandskonzern stieg zwischen 1974 und 1980 um 59 Prozent auf 70 Tsd. Einheiten. 1980 betrug ihr Anteil an der Nutzfahrzeug41 

Fischer: Krisen und Krisenbewältigung bei der Daimler-Benz AG, (Anmerkung 1), S. 244–256. 42  Geschäftsbericht DBAG 1974, S. 15ff. 43  Geschäftsbericht DBAG 1980, Daimler-Benz in Zahlen – Entwicklung 1971–1980.

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konzernproduktion 25,6 Prozent. Der Anteil des Auslandsumsatzes am Konzernumsatz lag mit 55,4 Prozent auf etwa gleichem Niveau wie 1974. Damit war der Auslandsumsatz weiterhin höher als der Inlandsumsatz. Der Konzernjahresüberschuss erreichte 1980 rund 1,1 Mrd. DM, wobei es einen Sondereffekt durch die Auflösung von Rückstellungen in Höhe von 391 Mio. DM gab. Die weltwirtschaftliche Entwicklung war 1980 erneut durch eine drastische Ölverteuerung geprägt, die die Inflationstendenzen verstärkten und die weltweiten Wirtschafts- und Marktbedingungen erheblich verschlechterten. 1981/82 setzte daraufhin auch in der Bundesrepublik erneut eine Rezession ein mit einem Minuswachstum von 1,1 Prozent. Bereits 1980 entwickelte sich die Pkw-Produktion der deutschen Hersteller mit minus 10,5 Prozent wieder rückläufig und konnte erst ab 1982 leicht zulegen. Die Nutzfahrzeugproduktion in der Bundesrepublik brach dagegen erst 1982 ein und erreichte 1984 ihren tiefsten Punkt mit 255 Tsd. Einheiten. Auch in dieser Rezessionsphase gelang es Daimler-Benz ihre aufwärts gerichtete Entwicklung weitgehend fortzusetzen. Allerdings zeigten sich jetzt vorhandene Schwachstellen schon deutlicher. Zwischen 1980 und 1983 stieg der Konzernumsatz um 29 Prozent auf 40 Mrd. DM. Dabei verschob sich das Gewicht weiter ins Ausland. 1983 betrug der Anteil des Auslandsum­ satzes am Konzernumsatz 62,1 Prozent. Die Pkw-Produktion erhöhte sich in dieser Phase um 10,6 Prozent auf 482 Tsd. Einheiten. Sorge bereitete jetzt jedoch das Nutzfahrzeuggeschäft. Aufgrund der weltweit rückläufigen Entwicklung der Nutzfahrzeugmärkte verminderte sich die Nutzfahrzeugproduktion im Konzern, die 1980 mit 273 Tsd. Fahrzeugen ihren Höchststand erreicht hatte, bis 1983 um 25 Prozent auf 205 Tsd. Einheiten. Dieser Rückgang konnte auch nicht durch einen zweiten kurzfristigen Anstieg des Nahostgeschäfts ausgeglichen werden. Dabei war die Nutzfahrzeugproduktion des Auslandskonzerns ebenfalls rückläufig und fiel bis 1983 auf 47 Tsd. Fahrzeuge. Ihr Anteil an der Konzernproduktion betrug nur noch 22,4 Prozent. Dem Unternehmen gelang es jedoch, die Kontinuität der Beschäftigung in den deutschen Werken fortzusetzen. In einigen Auslandsgesellschaften musste die Mitarbeiterzahl jedoch angepasst werden. Der Personalaufwand pro Mitarbeiter erhöhte sich weiter um 23,2 Prozent. In Anbetracht der rückläufigen Entwicklung des Nutzfahrzeuggeschäfts war es bemerkenswert, dass der Konzernjahresüberschuss 1983 trotzdem auf 968 Mio. DM anstieg. Hohe Zinserträge und ein steigender Dollarkurs hatten sich positiv ausgewirkt, dagegen belastete ein verschärfter Wettbewerb um Preise und Konditionen bei Nutzfahrzeugen, verbunden mit einer ge­ sunkenen Kapazitätsauslastung und stark gestiegenen Personalkosten das Ergebnis. Letztlich war die von Joachim Zahn geprägte und auch von seinen Nachfolgern in abgeschwächter Form weiterverfolgte konservative, sicherheitsorientierte Bilanzierungspolitik des Unternehmens mit der Bildung von hohen stillen und offenen Reserven sowie eine über viele Jahre betriebene

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Liquiditätsvorsorge ausschlaggebend dafür, dass Daimler-Benz diese Krise relativ gut bewältigt hat.44 60 50

in Mrd. DM

Diagramm 2.1: Umsatz Daimler-Benz-Konzern 1970–1985 60 40 50

10

Umsatz Konzern

davon Umsatz Ausland davon Umsatz Inland

davon Umsatz Ausland

Umsatz Ausland Quelle: davon Geschäftsberichte DBAG 1970 und 1985. Inland davon Umsatz davon Umsatz Inland

Produktion PKW Produktion PKW

1985 1985

1984 1984

1983 1983

1982 1982

1981 1981

1980 1980

1979 1979

1978 1978

1977 1977

1976 1976

1975 1975

1974 1974

1973 1973

1972 1972

1971 1971

600.000 600.000 500.000 500.000 400.000 400.000 300.000 300.000 200.000 200.000 100.000 100.000 0 0

1970 1970

Diagramm 2.2: Produktion PKW und NFZ in Einheiten Daimler-Benz-Konzern 1970–1985

Produktion NFZ Produktion NFZ

Quelle: Illustrierte Chronik DBAG, Kennzahlen, S. 223.

1985

1984

1983

1982

1981

1980

1979

1978

1977

1976

1975

1974

1973

1972

1971

1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 1970

in Mio. DM

Diagramm 2.3: Jahresüberschuss/-fehlbetrag Daimler-Benz-Konzern 1970–1985

Jahresüberschuss/-fehlbetrag Daimler-Benz AG

Quelle: Geschäftsbericht DBAG 1970–1985.

44 

DBAG: Rede Joachim Zahn in der Hauptversammlung am 17. 07. 1974, S. 6; Feldenkirchen: Vom Guten das Beste, (Anmerkung 31), S. 354.

1978 1985

1977 1984

1976 1983

1982

1975

1974

1985

1984

1982

1981

1973 1980

1972 1979

1976

1975

1974

Umsatz Konzern

1981

Umsatz Konzern

1980

1973 1979

1972 1978

1975

1974

1973

1972

1971

1970

0

1977

1970

10

1971

0

1971

0

10

1978

20

20

20

1983

30

30

30

1970

40

40

1976

in Mrd. DM

50

1977

in Mrd. DM

60

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Strategische Weichenstellungen und Wandel im Konzern zwischen 1970 und 1985 Das größte Problem, vor das sich das Unternehmen zwischen 1970 und 1985 gestellt sah, war die Bewältigung der inflationären Kostensteigerungen und die Währungsunsicherheiten bei einem abflachenden Wachstum der internationalen Märkte mit einem sich ständig verschärfenden Wettbewerb. Davon war der Nutzfahrzeugbereich jedoch wesentlich härter betroffen als das Premium­segment des Pkw-Bereichs, aber auch in diesem Segment veränderte sich die Wettbewerbssituation. Daimler-Benz richtete die Unternehmensstrategie, die weiterhin auf einer moderaten, international ausgerichteten Wachstumsstrategie basierte, auf die sich verändernde Umwelt neu aus. Insgesamt investierte der Konzern in dieser Phase bis 1985 rund 30 Mrd. DM in Sachanlagen, das war eine durchschnittliche jährliche Investitionsquote von 7 Prozent. Ziel dieser Wachstumsstrategie war es, Wettbewerbsvorteile auf den Weltmärkten mit qualitativ hochwertigen, innovativen Produkten sowie mit effizienten Produktions- und Vertriebsstrukturen zu erzielen. Daimler-Benz setzte auch in dieser Phase die in den 1960er Jahren begonnene Pkw-Strategie der Konzentration auf das Premiumsegment fort und baute die Produktionskapazitäten bis 1985 auf rund 550 Tsd. Pkw aus. Im Gegensatz zur Nutzfahrzeugstrategie wurden Pkw nur in der Bundesrepu­ blik gefertigt. Im Ausland gab es zwar mehrere Pkw-Montagewerke, aber lediglich die Montagewerke in Südafrika und Indonesien hatten einen größeren Eigenfertigungsanteil, galten jedoch nicht als Produktionswerke. Der Vorstand wollte die Produktionskapazitäten auch in dieser Phase am langfristigen Bedarf ausrichten und verfolgte somit weiterhin eine moderate Wachstumsstrategie.45 Die Nachfrage nach Mercedes-Benz Pkw übertraf ständig die Produktionskapazitäten, so dass auch in den Krisenjahren ein Auftragspolster vorhanden war, das den Nachfragerückgang abfederte, den auch Daimler-Benz zu spüren bekam, ohne dass es jedoch zu einem Produktionsrückgang kam. Das war einerseits eine komfortable, aber auch durch die langen Lieferzeiten eine gefährliche Situation, da Wettbewerber sie nutzten, um in diese Klasse vorzustoßen. So gelang es insbesondere BMW, in dieses Segment einzudringen und in Westeuropa und den USA Marktanteile hinzuzugewinnen. Japanische Wettbewerber waren zu diesem Zeitpunkt noch ­keine Gefahr für das Premiumsegment. Im Hinblick auf den veränderten Trend im Zusammenhang mit dem Ölpreisschock zu kleineren, wirtschaftlichen Fahrzeugen und aufgrund der in Europa verabschiedeten gesetzlichen Bestimmungen zur Emissionsreduzierung sowie vor allem auch der in den USA geltenden Flottenverbrauchsregelungen mit einer wesentlichen Verschärfung ab 1985, traf der Vorstand nach langem Zögern 1977 eine Entscheidung zum Bau einer dritten Baureihe in 45 

Geschäftsbericht DBAG 1973, S. 16.

Wirtschaftskrisen – Wendepunkte für den Konzern?

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der Kompaktklasse, die jedoch erst eineinhalb Jahre später endgültig besiegelt wurde.46 Die Unentschlossenheit des Vorstands ist umso bemerkenswerter, als er spätestens mit Ausbruch des Ölpreisschocks überzeugt war, dass das Pkw-Programm durch ein kleines Kompaktfahrzeug, an dem die Entwicklung schon arbeitete, ergänzt werden müsste und deshalb diesem Projekt Priorität einräumte.47 Die endgültige Entscheidung dauerte deshalb lange, weil damit hohe Investitionen und eine notwendige Umwidmung des Werkes Bremen zum Pkw-Werk verbunden waren. Es bestand eine große Unsicherheit darüber, ob diese Investitionen sich als rentabel erweisen würden. Mit den neuen Flottenverbrauchsvorschriften in den USA war jedoch klar, dass kein Weg an einer dritten Baureihe vorbei ging, ohne das gesamte Pkw-Geschäft in den USA zu gefährden.48 Hinzu kam, dass auch entsprechende Vorschriften in der EG aufgrund eines Vorstoßes Frankreichs zur Einführung von Flottenverbrauchsvorschriften zur Diskussion standen. „Die Notwendigkeit einer völligen Umstrukturierung des Mercedes-Typenprogramms sei daher zumindest nicht auszuschließen“, betonte Zahn und wies darauf hin, dass die dritte Baureihe damit eine echte Vorsorgefunktion erfüllte.49 Erst im Oktober 1978 waren alle Vorstandsmitglieder überzeugt, dass es zur Produktion dieser Fahrzeugreihe keine Alternative gab. Diese neue dritte Baureihe kam im Herbst 1982 auf den Markt und ent­ wickelte sich zu einem vollen Markterfolg.50 Die Modelle waren ebenfalls Fahrzeuge im Premiumsegment, hatten jedoch einen wesentlich geringeren Kraftstoffverbrauch und wurden preislich so positioniert, dass es gelang, neue Käuferpotenziale zu erschließen. Außerdem wurden neue Dieselmotoren entwickelt, so dass im Hinblick auf den geringeren Kraftstoffverbrauch dieser Motoren ein breiteres Angebot zur Verfügung stand. Mit der Entscheidung zum Bau der Kompaktklasse im Werk Bremen wurden auch in einem mehrjährigen Prozess die Produktionsstrukturen der Inlandswerke neu geordnet. Das Werk Bremen wurde zum Pkw-Werk umgewidmet, so dass es zusammen mit dem Werk Sindelfingen für Pkw nun zwei Montagewerke gab, die eng produktionstechnisch miteinander verbunden waren und von den Aggregatewerken des Konzerns Zulieferungen erhielten. Die flexible Auslegung der Fertigungsanlagen in Sindelfingen und Bremen versetzte das Unternehmen in die Lage, bei Nachfrageschwankungen die Produktionsprogramme innerhalb der Gesamtkapazität von 550 Tsd. Einheiten in einer gewissen Bandbreite zu variieren. Insgesamt wurde die Pkw-Produktion zwischen 1970 und 1985 um 93 Prozent erhöht. Am Ende dieser 46 

DBAG: Protokoll der Vorstandssitzung vom 14. 12. 1977; Niederschrift über die Aufsichtsratssitzung vom 21. 3. 1979, TO 3. 47  DBAG: Protokoll der Vorstandssitzung vom 8. 1. 1974. 48  DBAG: Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 3. 11. 1978. 49  DBAG: Protokoll der Vorstandssitzung vom 19. 10. 1978. 50  Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns, (Anmerkung 15), S. 317.

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Phase hatte Daimler-Benz die internationale Spitzenposition als Premiumhersteller verteidigt. Mit der Übernahme von Hanomag-Henschel hatte sich das Unternehmen zum Ziel gesetzt, zunächst eine internationale Spitzenposition und danach die weltweite Marktführerschaft bei Lkw über 6 t Gesamtgewicht zu erreichen. Der Konzern verfügte nach der Übernahme zusätzlich über drei Werke in der Bundesrepublik und über ein lückenloses Programm für alle Transportbedürfnisse. 1973 wurde dann die Modernisierung des gesamten Produktprogramms mit der neuen Generation mittelschwerer und schwerer Lkw eingeleitet und in den nächsten Jahren fortgeführt. Mit dem Erwerb von Hanomag-Henschel erfolgte auch eine arbeitsteilige Neugliederung der Fertigungsaufgaben. Die drei Hanomag-Henschel Werke wurden schrittweise in den inländischen Produktionsverbund von DaimlerBenz eingegliedert, der nun für die Nutzfahrzeugproduktion ebenfalls aus zwei Montage- und weiteren Aggregatewerken bestand. Die Montagewerke bildeten im Verbund mit den Aggregatewerken die Grundlage für eine wirtschaftliche Fertigung der Fahrzeuge. Die Lkw von Hanomag-Henschel wurden in das bestehende Lkw-Produktprogramm und das Baukastensystem von Daimler-Benz integriert. Ziel war es, mit dem Einsatz moderner, kostengünstiger Produktionsverfahren bei gleich bleibend hoher Qualität und Zuverlässigkeit der Produkte, die internationale Wettbewerbsfähigkeit durch die Realisierung von damit verbundenen Kostenvorteilen zu sichern. Diese Zielsetzung verfolgte Daimler-Benz auch in den Auslandswerken. Das Unternehmen modernisierte auch dort laufend die bestehenden Produktionsanlagen sowie die Produktionsprogramme, errichtete und erwarb neue Nutzfahrzeugwerke in verschiedenen Weltregionen. Direktinvestitionen erfolgten jetzt auch in hoch industrialisierten Ländern, um deren Standortvorteile zu nutzen. Bereits 1975 betrachtete der Vorstand von Daimler-Benz die regionale Diversifizierung seiner Nutzfahrzeugproduktion zur standortbezogenen Ertragssteuerung als eine wichtige unternehmenspolitische Ziel­ setzung.51 Insgesamt gab es in dieser Phase elf neue Produktionsgesellschaften. Der wichtigste Erwerb war 1981 der amerikanische Nutzfahrzeughersteller Freightliner. Ausschlaggebend für Direktinvestitionen im Ausland waren jetzt zum Beispiel günstigere Arbeitskosten, Erfüllung regionaler Produktanforderungen und auch günstige Zuliefermöglichkeiten für andere Werke im Konzern. Es begann eine stärkere Regionalisierung und eine Vernetzung der Auslandsproduktionen. Die Regionen Südamerika und Nordamerika kristallisierten sich zum Heimatmarkt der jeweiligen Nutzfahrzeugproduk­ tionsgesellschaften in Brasilien/Argentinien und in den USA heraus, während Westeuropa sich zum Heimatmarkt der inländischen Werke von Daimler-

51 

DBAG: Protokoll der Vorstandssitzung vom 15. 7. 1975.

Wirtschaftskrisen – Wendepunkte für den Konzern?

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Benz entwickelte. Außerdem entstand ein Produktions- und Lieferverbund zwischen einigen ausländischen Produktionswerken untereinander und den inländischen Werken.52 Begonnen wurde mit Motorenlieferungen aus Brasilien für die deutschen Werke, Teilezulieferungen für das Werk Hampton in den USA und das indonesische Werk. Die Chancen eines weltweiten Produktionsverbundes kristallisierten sich Mitte der 1980er Jahre immer deutlicher heraus. Deshalb sollte der Produktionsverbund der Auslandswerke untereinander und mit den inländischen Werken weiter ausgebaut werden.53 Mit der Strategie, die weltweiten Marktpotenziale mit Hilfe der Bildung von regionalen Produktionszentren sowohl durch Exporte aus Deutschland als auch durch nationale Produktionen auszuschöpfen, gelang es DaimlerBenz, die internationale Marktposition auszubauen. Insgesamt waren die Kapazitäten der Nutzfahrzeugproduktion im Gesamtkonzern in dieser Phase auf über 270 Tsd. Einheiten erhöht worden. Allerdings fiel die Produktion aufgrund der Nachfrageschwäche auf den internationalen Märkten in den Jahren 1983 und 1984 auf 205 Tsd. Nutzfahrzeuge zurück und stieg bis 1985 nur unwesentlich auf 214 Tsd. Einheiten. Sie war damit nur geringfügig höher als 1970 zu Beginn der Phase. Dennoch hatte Daimler-Benz 1980 das Ziel erreicht, als größter Nutzfahrzeughersteller die weltweite Marktführerschaft bei Lkw über 6 t Gesamtgewicht zu übernehmen und hat diese Position bis heute verteidigt. Die Erhöhung der Produktionskapazitäten für Nutzfahrzeuge und für Pkw in den Inlandswerken stellte weiterhin hohe Anforderungen an die Vertriebsorganisation. Der erforderliche Ausbau der weltweiten Vertriebsorganisation erfolgte einmal durch die Integration der Hanomag-HenschelHändler und auch der Krupp-Lkw-Händler in diese Organisation, zum ­anderen durch die Gründung von eigenen Vertriebsgesellschaften in Ländern mit großem Marktpotenzial. Die Einbeziehung eines Großteils der Hanomag-Henschel-Händler war bis 1972/73 abgeschlossen und verstärkte im Schwerpunkt die europäische Organisation. Die Übernahme des Vertriebs in strategisch wichtigen Märkten auf der Importeur- und Großhandelsebene durch eigene Gesellschaften wurde, wie schon erwähnt, erst nach kontroversen Diskussionen im Vorstand schrittweise umgesetzt. Die wichtigsten Märkte mit Vertriebsgesellschaften waren die USA, Frankreich, Großbritannien, Italien und die Niederlande. Der Anteil der Pkw-Exporte in Länder mit Vertriebsgesellschaften erhöhte sich in dieser Phase von 35 auf 70 Prozent, bei den Nutzfahrzeugexporten sogar von 25 auf rund 71 Prozent.54 Die Vertriebsgesellschaften fingen den Absatzrückgang aus dem Nahostgeschäft auf und kompensierten durch den erhöhten Pkw-Absatz den Ergebnisrückgang 52 

Geschäftsbericht DBAG 1983, S. 39. Geschäftsbericht DBAG 1985, S. 70. 54  Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns, (Anmerkung 15), S. 332f. 53 

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der Nutzfahrzeugsparte ab 1983. Sie entwickelten sich zu einer unentbehrlichen Stütze zur Sicherung von Absatz und Beschäftigung der inländischen Produktionswerke. Bis zum Ende dieser Phase hatte Daimler-Benz seine internationale Wettbewerbsfähigkeit ausgebaut und sich zu einem führenden internationalen Automobilkonzern entwickelt, der mit einer Anzahl von Produktionsgesellschaften und Vertriebsgesellschaften in den jeweiligen Weltregionen präsent war. Dennoch gab es Schwachstellen im Konzern, die nicht mit dem notwendigen Einsatz gegen bestehende Widerstände beseitigt wurden. Dazu gehörten die Führungsorganisation und im Zusammenhang damit auch der weit überproportional gegenüber Wettbewerbern gestiegene Personalaufwand. Zentrale Schwachstelle: Die Führungsorganisation Die in den 1960er Jahren unverändert gebliebene Führungsorganisation blieb auch in dieser Phase eine Schwachstelle im Konzern. Daimler-Benz war ­inzwischen ein Konzern mit vielen in- und ausländischen Gesellschaften, der 1970 einen Umsatz von über 10 Mrd. DM erreicht hatte. Die Gefahr, dass das Unternehmen nicht mehr effizient gesteuert werden konnte, wenn es seine bisherige funktionale Organisation unverändert beibehielt, war nicht mehr zu übersehen. Das Wachstum hatte dazu geführt, dass niemand mehr im Unter­nehmen eine eindeutige Verantwortung trug, die Effizienz der Arbeit darunter litt und die Kosten stark angestiegen waren. An Entscheidungen waren viele Bereiche beteiligt, sie dauerten lange, und wenn etwas falsch lief, war keiner verantwortlich. Aber Veränderungen der Organisation bedeuteten Veränderungen der Machtbereiche im Vorstand, die weiter mit Vehemenz verteidigt wurden. Der Vorstand zögerte solange, bis der Aufsichtsratsvorsitzende Mitte 1971 die Initiative ergriff und auf die Neustrukturierung des Unternehmens unter Einschaltung des Beratungsunternehmens Booz, Allen & Hamilton drängte.55 Dies erwies sich als ein langwieriger, zäher Prozess. Erst im Dezember 1972 kam eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zustande. Sie sah vor, die funktionale Organisationsstruktur beizubehalten, jedoch die Zahl der 13 Vorstandsressorts durch Zusammenlegung zu verringern, sobald dies personell möglich sein würde. Auf der nachgelagerten Führungsebene sollten Geschäftsbereichsleitungen für die beiden Produktgruppen Pkw und Nfz gebildet werden, für die jedoch keine Exekutivfunktion und keine Ergebnisverantwortung vorgesehen war, sondern lediglich Stabsfunktionen. Zu einer Delegierung seiner Verantwortung konnte sich der Vorstand nicht entschließen. Die Geschäftsbereichsleitungen wurden erst 1974 für Nfz und 1977 für Pkw eingerichtet. 1977 konnten auch die Vorstandsressorts Produktion Pkw und Produktion Nfz sowie Vertrieb Inland 55  DBAG: Protokoll der Vorstandssitzung vom 7. 6. 1971; Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzern, (Anmerkung 15), S. 347.

Wirtschaftskrisen – Wendepunkte für den Konzern?

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und Vertrieb Ausland zusammengelegt werden.56 Zusammengehalten wurde die funktionale Organisation durch verschiedene Kommissionen, die jetzt institutionalisiert waren und in denen Entscheidungen vorbereitet und zwischen den tangierten Bereichen abgestimmt werden konnten, um im Vorstand beschlossen zu werden. Die Geschäftsbereichsleitungen konnten sich jedoch aufgrund ihrer fehlenden Exekutivfunktion und Ergebnisverantwortung in dieser funktionalen Organisation nicht ausreichend durchsetzen. Die Funktionalressorts verfolgten weiterhin primär ihre bereichsspezifischen Interessen. Die Koordinierung der weiter expandierenden Konzernaktivitäten wurde schwieriger und verursachte hohe Kosten.57 Das zeigte sich insbesondere bei der Nutzfahrzeugsparte, die seit 1983 negative Betriebsergebnisse verzeichnete. Das lag nicht allein an der Führungsorganisation, sie trug jedoch auch ihren Anteil daran.58 Mit dieser Führungsorganisation konnte die erforderliche Produktorientierung und die Flexibilität bei Marktveränderungen noch nicht erreicht werden. Das sahen auch die Leitenden Angestellten der Daimler-Benz AG so, die sich in einer Befragung 1984 dahingehend äußerten, dass die Entscheidungswege zu lang waren, Entscheidungen zu spät und zu bürokratisch oder mit wechselnder Zielorientierung getroffen wurden. Sie empfahlen, durch Delegierung von Ergebnisverantwortung auf kleinere Einheiten qualifiziertere Entscheidungsmöglichkeiten zu schaffen und damit unter­ nehmerisches Denken und Handeln auch auf den Ebenen unterhalb des Vorstands zu installieren. Aus ihrer Sicht bedurfte die Organisationsstruktur ­einer Neuausrichtung, um sie flexibler zu gestalten und die starren Ressortgrenzen und das starre Ressortdenken zu überwinden.59 Gute Fortschritte wurden dagegen in dieser Phase bei der Entwicklung der Unternehmensplanung als Führungsinstrument erzielt. 1973 einigte sich der Vorstand auf die Errichtung eines neuen Vorstandsressorts Unternehmensplanung und Organisation. Unter der Leitung von Edzard Reuter wurde eine koordinierte Gesamtplanung aufgebaut, die alle Einzelplanungen des Unternehmens integrierte. Das neu entwickelte Planungssystem hatte einen Planungshorizont von fünf Jahren und umfasste zunächst die Daimler-Benz 56 

Siehe hierzu auch Ingo Köhler: Marketing Management in der deutschen Automobilindustrie, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte Nr. 2 (2008), S. 220–232. Die Interpretation von Köhler in diesem Aufsatz, dass Marketing im Sinne einer Managementfunktion erst ab Mitte der 1980er Jahre von Daimler-Benz wahrgenommen wurde ist richtig. Die Detailanalyse enthält jedoch Interpretationen, die nicht mit den wahrgenommenen Funktionen übereinstimmen. Organisationspläne müssen immer zusammen mit den Funktions-/Aufgabenbeschreibungen der Ressorts gesehen werden. 57  Siehe dazu auch Armin Töpfer: Die Restrukturierung des Daimler-Benz Konzerns 1995–1997, Neuwied 1998, S. 22. 58  Siehe dazu auch Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns, (Anmerkung 15), S. 348. 59  Situation der Leitenden Angestellten der Daimler-Benz AG, Dezember 1985. Internes Manuskript, Privatbestand.

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AG, ab 1980 erfolgte in Stufen die Einbeziehung des gesamten Konzerns einschließlich aller Auslandsgesellschaften. Seit 1976 gab es auch eine detaillierte Jahresplanung mit Gemeinkostenbudgets, so dass mit dem darauf aufbauenden Berichtssystem Abweichungen durch Vergleiche Soll/Ist bzw. Ist-Erwartung unterjährig festgestellt und Gegensteuerungsmaßnahmen eingeleitet werden konnten. Die Jahres- und die Mittelfristplanungen hatten große Bedeutung für die Steuerung und Überwachung des Konzerns. Damit konnten jetzt auch die Auswirkungen auf die Spartenbetriebsergebnisse besser dargestellt werden. Trotz der guten Fortschritte bei den Führungsinstrumenten blieb die Führungsorganisation in dieser Phase jedoch weiter ein zentraler Schwachpunkt im Konzern. Das wirtschaftliche Ergebnis des Konzerns 1983/85 – Die Alarmglocken läuten Es gab auf den internationalen Märkten auch nach Überwindung der Wirtschaftskrise weiterhin Entwicklungen, die das Unternehmen in seinen Aktivitäten in den nächsten Jahren zu gefährden drohten. Dazu gehörte, dass das Wachstum der Automobilmärkte längerfristig an seine Grenzen zu gelangen schien, und diese Entwicklung mit der Diskussion über die Umweltbelastung durch das Automobil noch unterstützt wurde. Hinzu kam, dass Überkapazitäten durch neue, aus dem asiatischen Raum drängende Automobilhersteller entstanden, die den Wettbewerb um günstige Preise nochmals verschärften. Auch der Anstieg der Lohnkosten und vor allem die Währungsproblematik gehörten zu diesen Unsicherheitsfaktoren. Trotz des Rückgangs der Nfz-Produktion nach dem Höchststand von 1980 hatte Daimler-Benz auch die Folgen des zweiten Ölpreisschocks mit der Wirtschaftskrise 1981/82 vor allem auch auf Grund seiner sicherheitsorientierten Bilanzierungspolitik mit hohen stillen und offenen Reserven sowie einer Liquiditätsvorsorge, die hohe Zinserträge brachten, relativ gut bewältigt.60 Auch in den Folgejahren stieg der Jahresüberschuss weiter von 968 Mio. auf 1,7 Mrd. DM. Die positive Entwicklung des Jahresüberschusses verdeckte jedoch die Schwachstellen, die es im Konzern gab. Mit dem Abflachen des Nutzfahrzeuggeschäfts ab 1981/82 zeigte sich eine erschreckend rückläufige Entwicklung beim Betriebsergebnis für Nutzfahrzeuge, das 1983 zum ersten Mal negativ war. Auch in den beiden Folgejahren bis 1985 zeigte sich keine Besserung. Die Konzernproduktion stieg zwar wieder leicht auf 214 Tsd. Nutzfahrzeuge, aber das Betriebsergebnis dieser Sparte blieb weiter negativ. Der Grund dafür lag in den unzureichend ausgelasteten Produk­ tionskapazitäten und in dem Verfall der Verkaufskonditionen in einem durch Überkapazitäten bei rückläufiger Entwicklung gekennzeichneten Markt. Um

60 

Feldenkirchen: Vom Guten das Beste. (Anmerkung 31), S. 354ff.

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die Produktion zumindest auf diesem niedrigen Niveau zu halten, erfolgten erhebliche Verkaufsförderungsmaßnahmen in den westeuropäischen Märkten.61 Hinzu kam ein starker Anstieg der Produktionskosten sowie der Gemeinkosten.62 Die Pkw-Sparte entwickelte sich auf Grund des wieder gestiegenen Dollarkurses ab 1983 zum alleinigen Ergebnisträger im Konzern. Aber auch hier zeigte sich eine gefährliche Entwicklung. Das Pkw-Ergebnis kam zu 75 Prozent aus dem USA-Geschäft. 1984 entwickelte sich der Dollarkurs äußerst günstig von 2,59 bis auf 3,50 DM zu Beginn 1985.63 Das Pkw-Ergebnis erreichte 1984 eine Rendite von 12,5 Prozent, während die Nutzfahrzeugren­ dite bei minus 4,1 Prozent lag. Darüber hinaus hatte sich auch der Ergebnisschwerpunkt ins Ausland verlagert. Die Inlandsumsatzrendite war auf 1,5 Prozent zurückgefallen, während sie im Ausland 9,8 Prozent betrug.64 Das Konzernergebnis stand auf den tönernen Füßen eines steigenden Dollarkurses, der schnell wieder fallen konnte. Auch die Wachstumsmöglichkeiten des Unternehmens in seinen bisherigen Geschäftsfeldern Pkw und Nfz schienen eng begrenzt. In dieser als sehr gefährlich für die weitere Entwicklung des Konzerns angesehenen Situation bestand dringender Handlungsbedarf. Die „Alarmglocke“ hatte bereits geläutet, stellte der Vorstand im Januar 1984 fest. „Die Zeichen der Zeit stellen besondere Anforderungen, um eine gedeihliche Weiterentwicklung des Unternehmens zu gewährleisten.“65 Diversifikation – die neue Unternehmensstrategie für den Konzern Der Vorstand hatte immer wieder einmal die Frage der Diversifikation des Unternehmens in andere Geschäftsfelder diskutiert. So wurde bereits Anfang 1973 ein Arbeitskreis eingerichtet, der sich im Hinblick auf die mittelfristig erkennbare Tendenz zur Marktsättigung und weiteren sich abzeichnenden Entwicklungen mit dieser Frage beschäftigte. Er schlug vor, Untersuchungen auf den Teilgebieten der Mess-, Regel- und Steuerungstechnik sowie im Bereich des Engineering vorzunehmen, um die als wachstumsintensiv zu charakterisierenden Märkte für Daimler-Benz zu konkretisieren.66 Unmittelbar nach dem Ölpreisschock 1973 wurde diese Frage im Vorstand im Zusammenhang mit den damals erwarteten Stagnationstendenzen im Automobil­ 61 

DBAG: Protokoll der Vorstandssitzung vom 27. 9. 1983; Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns, (Anmerkung 15), S. 297. 62  Edzard Reuter: Schein und Wirklichkeit. Erinnerungen, 1998, S. 200f.; Feldenkirchen: Vom Guten das Beste, (Anmerkung 31), S. 352. 63  Aktuell 97. Lexikon der Gegenwart; Dollarkursentwicklung, S. 111. 64  DBAG: Protokoll der Vorstandssitzung vom 18. 9. 1984 65  DBAG: Protokoll der Vorstandssitzung vom 14. 2. 1984. 66  DBAG: Protokoll der Vorstandssitzung vom 16. 1. 73; Protokoll vom 16. 7. 1973 zu Fragen der Langfristunternehmensplanung. DBAG: UPL, Notiz vom 14. 1. 1974 zur Einsetzung von Projektgruppen zur Analyse von Diversifikationsmöglichkeiten.

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bereich weiter diskutiert.67 Als sich die Situation insbesondere aufgrund der guten Entwicklung des Auslandsgeschäfts für Daimler-Benz wieder entspannte, wurden diese Überlegungen nicht weiter verfolgt, denn Absatz und Ergebnis entwickelten sich in der Folgezeit weiterhin positiv. 1984 sah die Situation anders aus. Der Verfall des Nutzfahrzeugbetriebsergebnisses war besorgniserregend. Die Ursachen waren vorwiegend struktureller Art. Edzard Reuter, der damalige Finanzchef, verfolgte zunächst das Ziel, den Block der Produktionskosten durch klare Zielvorgaben zu senken.68 Er stieß dabei jedoch auf Unverständnis und Widerstand bei seinen Kollegen. Es war schwierig genug, eine Einigung im Vorstand zu erzielen, den stark angestiegenen Kostenblock der Gemeinkosten im Konzern einer Gemeinkostenwertanalyse mit Hilfe der Firma McKinsey in den nächsten Jahren zu unterziehen, mit der erhebliche Einsparungseffekte von über einer Milliarde DM erzielt werden konnten.69 Die Idee Edzard Reuters, neue Wachstumsfelder mit hoher Ertragskraft für den Konzern zu erschließen, wurde dagegen positiv aufgenommen. Der Vorstand behandelte im Oktober 1984 auf einer Sondersitzung, das künftige Strategiekonzept und verständigte sich darauf, die Unternehmensbasis um Felder der Hochtechnologie mit überdurchschnittlichen Wachstums- und Ertragschancen zu verbreitern.70 Er wollte eine behutsame Ausdehnung des bisherigen Aktionsraums in den Bereich der Spitzentechnologie vornehmen und ging davon aus, dass die Realisierung dieses Konzepts einen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt in Anspruch nehmen würde. Dabei sollte das Pkw- und Nfz-Geschäft weiterhin den Mittelpunkt bilden. Aktivitäten in anderen Hochtechnologiefeldern wurden insbesondere deshalb für notwendig erachtet, um im Automobilbau technisch führend zu bleiben.71 Es ging jedoch alles viel schneller als geplant. Als sich 1985 nacheinander überraschend die Möglichkeit bot, die Anteile von MAN an dem gemeinsam geführten Großmotoren- und Triebwerkhersteller mtu sowie die Mehrheit an dem Luft- und Raumfahrtunternehmen Dornier und dem Elektrokonzern AEG zu übernehmen, griff der Vorstand schnell zu. Damit war ein erster Schritt zur Realisierung des Strategiekonzepts getan, das bis zu diesem Zeitpunkt nur in seinen Grundzügen konzipiert war. Erst nach dem Erwerb der AEG wurde eine umfassende Strategie entwickelt, die zwei Jahre später nach dem weiteren Erwerb der Messerschmitt-Bölkow-Blohm GmbH (MBB) von allen Gremien beschlossen wurde. Diese Strategie sah vor, die Markt- und Wettbewerbsposition des Konzerns durch Synergieeffekte aus der Vernet67 

DBAG: Protokoll der Vorstandssitzung vom 17. 12. 1973. Reuter: Schein und Wirklichkeit, (Anmerkung 62), S. 200f., S. 238. 69  Reuter: Schein und Wirklichkeit, (Anmerkung 62), S. 201. 70  DBAG: Protokoll der Vorstandssitzung vom 16. 10. 1984; Niederschrift der Aufsichtsratssitzung vom 13. 10. 1985. 71  DBAG, Niederschrift der Aufsichtsratssitzung vom 2. 5. 1985. 68 

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zung bisher getrennter Technologiefelder zu stärken. Durch den Zugang zu neuen Schlüsseltechnologien und Wachstumsmärkten in unterschiedlichen Industriebereichen sollte der Ertrag des Unternehmens abgesichert werden.72 Die Umsetzung der Strategie erfolgte unter Führung von Edzard Reuter, der 1987 zum Vorsitzenden des Vorstands bestellt wurde. Waren die Wirtschaftskrisen 1974/75 und 1981/82 Wendepunkte für den Konzern? Daimler-Benz hatte seine international ausgerichtete moderate Wachstumsstrategie bei Pkw und Nutzfahrzeugen ohne Einschränkungen während und nach den beiden Wirtschaftskrisen 1974/75 und 1981/82 fortgesetzt. Mit dem 1985 vollzogenen Erwerb der weiteren Anteile an der mtu, an Dornier und der AEG erfolgte der Ausbau des Konzerns zu einem integrierten, interna­ tionalen Technologiekonzern mit einem Schwerpunkt im Automobilbereich. Dieser Konzernausbau hatte eine strategische Neuausrichtung im Sinne einer grundlegenden Richtungsänderung der bisherigen Strategie zum Inhalt und löste einen schnellen Wandel bei Daimler-Benz aus. Damit verbunden war die Neustrukturierung der Führungsorganisation, in die zunächst die neuen Gesellschaften als Geschäftsbereiche integriert wurden, bis dann die Bildung von selbständigen Unternehmensbereichen unter dem Dach einer geschäftsführenden Holding erfolgte, in der auch das Automobilgeschäft als Unternehmensbereich von der Holding geführt wurde. Diese Neuausrichtung war ein Wendepunkt für den Konzern. Ursache dieses Strategiewandels war nicht die Wirtschaftskrise 1981/82. Sie war jedoch Auslöser des Absatzeinbruchs bei Nutzfahrzeugen, der ab 1983 einen Verfall des Nutzfahrzeugergebnisses zur Folge hatte. In dieser ­Situation konnte die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs zur langfristigen Sicherung des Unternehmensergebnisses, der sich bereits früher abgezeichnet hatte, nicht mehr länger verdrängt werden. Insofern wirkte die Wirtschaftskrise als Katalysator und beschleunigte den Wandel, der 1985 eingeleitet wurde. Die Ursachen dieses Strategiewandels lagen dabei sowohl bei exogenen als auch endogenen Faktoren. Das waren einmal die ungünstigen Rahmenbedingungen seit Beginn der 1970er Jahre mit stark schwankenden Währungskursen und inflationären Steigerungen bei den Kosten für Personal und Material. Hinzu kam die bereits 1973 mittelfristig erwartete Tendenz zur Sättigung des Pkw- und des Nutzfahrzeugmarktes, die aus Sicht des Vorstands 1984 deutlich näher gerückt war und die Wachstumserwartungen begrenzte. Hinzu kam, dass die Überkapazitäten auf den Nutzfahrzeugmärkten, insbesondere durch Hersteller aus dem asiatischen Raum, weiter stark gestiegen waren mit der Folge eines ruinösen Kampfs um Preise und Konditionen, der 72 

Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns, (Anmerkung 15), S. 363.

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die Branche 1983/85 sowie auch in den Folgejahren in Atem hielt. Zum anderen hatte jedoch auch ein übermäßiger Personalaufbau im Konzern dazu geführt, dass die Produktions- und insbesondere die Personalkosten des Unternehmens jährlich im Vergleich mit Wettbewerbern überproportional stark angestiegen waren. Durch die international ausgerichtete Produkt-, Produktions- und Vertriebsstrategie mit einer Vollauslastung der Produktionskapazitäten konnten diese Kosten bis 1982 aufgefangen werden. Dieser Kostenanstieg entwickelte sich jedoch zu einer schleichenden Gefahr für DaimlerBenz. Die guten Geschäfts- und auch Spartenergebnisse zwischen 1975 und 1982 hatten letztlich dazu geführt, dass diese Entwicklung als Gefahr nur unzureichend beachtet wurde, und vor allem die Bereitschaft im Management, einschneidende Maßnahmen im Zusammenhang mit dieser ­Kostenentwicklung rechtzeitig durchzusetzen, fehlte. Dabei war die funktionale Führungsorganisation mit fehlender Ergebnisverantwortung für die beiden Geschäfts­ bereichs­leitungen Pkw und Nutzfahrzeuge ein Teil des Problems. Sie ver­ hinderte, dass unternehmerisches Handeln auf den nachgeordneten Führungsebenen möglich wurde, mit der Folge von bürokratischen, langen Entscheidungswegen, mangelnder Flexibilität bei Marktveränderungen, einer unzureichenden Produktorientierung sowie einem übermäßigem Personalaufbau mit einem entsprechenden Anstieg der Kosten. Dass dieses Strukturproblem erst relativ spät im Unternehmen spürbar wurde, lag an der sicherheitsorientierten Bilanzierungspolitik von Daimler-Benz, so dass trotz des negativen Nutzfahrzeugergebnisses weiter steigende Jahresüberschüsse zwischen rund einer und 1,7 Mrd. DM in den Jahren 1983 bis 1985 ausgewiesen werden konnten, die nicht nur mit dem Pkw-Geschäft, sondern auch aufgrund hoher Zinserträge erreicht wurden. Daimler-Benz hatte die Krise vom Gesamtgeschäftsergebnis her gut bewältigt. Die strukturellen Probleme ­waren jedoch nicht gelöst. Dank seiner Finanzkraft konnte das Unternehmen auch diesmal wieder die Chancen nutzen, die die Wirtschaftskrise bot, indem sie zur Umsetzung der beschlossenen Diversifikationsstrategie krisengeschädigte Unternehmen aus dem Technologiebereich übernahm, dem ein wachsendes Marktpotenzial zugesprochen wurde. Die Wirtschaftskrise 1981/82 forcierte die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs und beschleunigte den Wandel, indem sie auch Möglichkeiten offerierte, ihn schnell zu realisieren. Sie war jedoch ebenso wie die Wirtschaftskrise 1974/75 kein Wendepunkt für den Konzern. Ursache für den Wandel, der ab 1985 vollzogen wurde, waren seit Beginn der 1970 Jahre sich ungünstig entwickelnde Markt- und weitere Rahmenbedingungen sowie Entwicklungen aus bis dahin ungelösten unternehmensinternen Strukturproblemen, die sich jedoch erst nach Überwindung der Wirtschaftskrise so kumulierten, dass der Vorstand das Unternehmen neu ausrichten musste, mit dem Ziel seine Zukunftsfähigkeit zu gewährleisten.

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Fazit Daimler-Benz begegnete nach dem Boom der 1950er Jahre den neuen Herausforderungen auf den internationalen Automobilmärkten zwischen 1960 und 1985 mit einer international ausgerichteten moderaten Wachstumsstrategie bei Pkw und Nutzfahrzeugen, die auf längerfristige Marktmöglichkeiten ausgerichtet war. Das Unternehmen entschloss sich schon 1958/60 zu diesem Schritt, weil es mit Gründung der EWG und EFTA davon ausging, dass in den sich öffnenden Märkten bei wachsender Nachfrage gleichzeitig auch der Wettbewerb in absehbarer Zeit wesentlich zunehmen würde. Das galt ebenso für andere Regionen der Welt, deren Märkte sich schrittweise öffneten. Ziel dieser Wachstumsstrategie war es, die internationale Wettbewerbsfähigkeit durch Ausweitung des Produktprogramms, durch Produktinnovationen und Senkung der Produktionskosten auf Basis der Erhöhung der Stückzahlen zu erreichen. Dabei konzentrierte sich das Unternehmen bei Pkw bewusst auf das weniger krisenanfällige und ertragreichere Premiumsegment, bei Nutzfahrzeugen dagegen auf ein Full-line Programm vom Transporter bis zum Schwer-Lkw. Diese schon frühzeitig eingeleitete und laufend weiter verfolgte Strategie war ausschlaggebend für den Erfolg des Unternehmens im gesamten Betrachtungszeitraum. Daimler-Benz investierte kontinuierlich hohe Summen sowohl in die Entwicklung der Produkte, in eine effiziente Produktionsordnung und moderne Produktionstechnologien als auch in den Ausbau der weltweiten Vertriebsorganisation. Es entstanden in diesem Zeitraum ein inländischer und ein ausländischer Produktionsverbund, deren weltweite Vernetzung Mitte der 1980er Jahre begonnen hatte. Hinzu kam eine Politik der kontinuierlichen Stärkung der Finanzkraft des Unternehmens durch die Bildung hoher stiller und offener Reserven, die die Sicherung des Unternehmens zum Ziel hatte und die Finanzierung der Investitionen vorwiegend aus Eigenmitteln erlaubte. Daimler-Benz wandelte sich in den 1960er Jahren kontinuierlich von einem exportorientierten Unternehmen mit ersten Produktionsgesellschaften im Ausland zu einem internationalen Automobilunternehmen, dessen Auslandsumsatz einschließlich der Eigenleistungen der ausländischen Tochtergesellschaften am Ende des Jahrzehnts einen Anteil von knapp 50 Prozent am Konzernumsatz hatte. Nach 1970 wandelte sich Daimler-Benz kontinuierlich zu einem internationalen Automobilkonzern, dessen Auslandumsatz 1985 über 64 Prozent vom Gesamtumsatz des Konzerns betrug. In dieser zweiten Phase erreichte der Konzern bei Lkw über 6 t Gesamtgewicht 1975 eine internationale Spitzenposition und 1980 die weltweite Marktführerschaft. Bei Pkw hielt das Unternehmen bereits in den 1960er Jahren eine internationale Spitzenposition im Premiumsegment. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wandelte sich Daimler-Benz nach dem Erwerb der Anteile von MAN an der gemeinsamen Großmotorengesellschaft mtu, der Übernahme der Mehrheit an Dornier und der AEG 1985, zu einem internationalen Technologiekon-

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zern, dessen Schwerpunkt jedoch weiter im Automobilbereich lag. Die ­Entscheidung, diesen Strategiewechsel einzuleiten und den Wandel zu einem integrierten Technologiekonzern zu vollziehen, mit dem Ziel die Wachstumsund Ertragschancen zu verbreitern, bildete einen Wendepunkt für DaimlerBenz. Die strategische Neuausrichtung des Konzerns hatte eine grundle­gende Richtungsänderung seiner bisherigen Strategie zum Inhalt und löste ­zunächst einen schnellen, ja revolutionären Wandel aus, der dann wieder in einen kontinuierlichen Wandel mündete. Ursachen des Wandels bei Daimler-Benz waren überwiegend exogene Faktoren. Zu Beginn der 1960er Jahre waren der Abbau von Zöllen und anderen Handelsbeschränkungen sowie weitere Liberalisierungsmaßnahmen die Ursache des Wandels. Ende der 1960er Jahre lösten entstandene Über­ kapazitäten auf den europäischen Automobilmärkten, verbunden mit ersten Abschwächungstendenzen in der Weltwirtschaft den Wandel von DaimlerBenz zu einem internationalen Automobilkonzern aus. 1985 war es eine Kumula­tion der sich ungünstig entwickelnden Markt- und weiteren Rahmenbedingungen sowie eine erwartete Marktsättigung im Automobilbereich, die den Wandel zu einem internationalen Technologiekonzern auf den Weg brachten. Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch den weiteren starken Anstieg der Überkapazitäten bei Nutzfahrzeugen auf den Weltmärkten, der einen Verfall der Preise und Verkaufskonditionen zur Folge hatte, und ab 1983 zu unausgelasteten Produktionskapazitäten und einem Verfall des Spartenergebnisses bei Daimler-Benz führte. Hinzu kamen auch endogene Faktoren, wie eine Führungsorganisation, die noch erheblichen Optimierungsbedarf hatte, da sie nicht flexibel und schnell genug auf die Herausforderungen der sich verändernden Märkte reagieren konnte und mit der zu hohe Produktions- und Personalkosten entstanden waren. Keine der drei Wirtschaftskrisen war ein Wendepunkt für Daimler-Benz. Sie forcierten und beschleunigten den Wandel, wie die Ausführungen gezeigt haben. Sie waren jedoch nicht Ursachen des Wandels. Die Ursachen des Wandels lagen bei Faktoren, die bereits vor Ausbruch der Wirtschaftskrisen eingetreten waren und in der Folgezeit ihre Wirkung zeigten. Einer der wichtigsten Faktoren, die den Wandel auslösten, der den Konzern maßgebend prägte, war die Liberalisierung des Welthandels mit Öffnung der Märkte. In den 1960er Jahren begann diese Entwicklung auf den europäischen Märkten und weitete sich in den 1970/80er Jahren auf den gesamten Weltmarkt aus. Es entstand ein sich verschärfender, globaler Wettbewerb unter den Automobilherstellern sowohl bei Pkw als auch bei Nutzfahrzeugen. Dieser globale Wettbewerb war der Motor zur Internationalisierung nicht nur von DaimlerBenz, sondern aller Automobilkonzerne und die Triebfeder für Innovationen bei Produkten und Produktionstechnologien. Unternehmen, die sich in diesem globalen Wettbewerb nicht behaupten konnten und den Internationalisierungsprozess nicht bewältigten, verloren ihre Selbstständigkeit oder verschwanden vom Markt.

Florian Triebel

Die Bayerischen Motoren Werke während der ­Rezession 1966/67 und der Ölkrise 1973/74 Einleitung Krisen lohnen sich – zumindest in wissenschaftlich-analytischer Hinsicht, denn sie erlauben wertvolle Rückschlüsse auf die grundlegenden Wesenszüge eines Untersuchungsobjekts. Eine Krise, verstanden als sich zuspitzende und mit eingeübten Routinen nicht zu beherrschende (Not-)Lage, lässt sich nicht mit reflektierenden Entscheidungsmechanismen lösen, die weit reichende Auswirkungen und idealerweise unterschiedliche Optionen und Alternativen berücksichtigen. Vielmehr verlangt die gravierende –  mitunter gar: existenzielle – Bedrohungs­situation nach situativen und unmittelbar wirkenden Reaktionen und deckt damit in der Regel den wahren Charakter eines handelnden Subjekts auf. Neben den Ursachen für die Entstehung von Krisen sowie der Art und Weise des Scheiterns an und in solch existenzbedrohenden Situationen ist bei deren Erforschung von Interesse, ob maßgebliche oder ausschlaggebende Faktoren für das Meistern dieser einschneidenden Phasen herausgeschält werden können. Ferner sind die Mechanismen der katalytischen Wirkung von Krisen für grundsätzliche Wandlungsprozesse und wesentliche Neuerungen zu ergründen. Vor diesem Hintergrund hat sich die wissenschaftliche Unternehmens­ geschichte in jüngerer Zeit intensiver mit Unternehmen in Krisenphasen beschäftigt. Dies belegen nicht nur die wachsende Zahl von Einzelfallstudien zu Unternehmenskrisen, sondern auch Tagungen und erste synthetisierende Betrachtungen zum Phänomen, wie beispielsweise in Werner Plumpes Beitrag Die Unwahrscheinlichkeit des Jubiläums.1 Nicht zuletzt ist festzuhalten, dass – auch ausgelöst durch die Diskussion um die Verstrickung deutscher Unternehmen in die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes – die von den Unternehmen selbst beauftragten Festschriften und populären Darstellungen zur eigenen Geschichte inzwischen „dunkle Punkte“ und Krisen1 

Vgl. Werner Plumpe: Die Unwahrscheinlichkeit des Jubiläums – oder: warum Unternehmen nur historisch erklärt werden können, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1/2003, S. 143–156. 2004 fand die Tagung „Unternehmenskrisen – Unternehmen in Krisenzeiten“ des Arbeitskreises kritische Industrie- und Unternehmens­ geschichte (AKKU) statt; einige der Beiträge sind veröffentlicht im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2/2006, S. 9–139; grundsätzliche Überlegungen finden sich in der Einleitung dieses Bandes: Stefanie van de Kerkhof: Krisen als Chance oder Gefahr für das Überleben von Unternehmen?, S. 9–18.

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phasen nicht mehr grundsätzlich ausblenden, sondern zumindest thematisieren. Beschäftigt man sich mit Unternehmen in Krisensituationen ergeben sich folgende Fragestellungen. Zunächst sind Beginn und Verlauf der Krise von Interesse: Sind vor allem exogene Faktoren maßgeblich, resultiert die Krise also vornehmlich aus ungünstigen Einflüssen in der Umwelt des Unternehmens? Oder resultieren die gravierenden Schwierigkeiten des Unternehmens vor ­allem aus endogenen Faktoren, sind mithin unternehmensinterne Vorgänge ausschlaggebend? Wie verläuft die Krise und gibt es markante Wendepunkte im Verlauf? Neben dem Krisenverlauf ist die Wahrnehmung des Phänomens durch das Unternehmen zu untersuchen: Wann und wie reagiert die Unternehmensleitung auf die Krise? Wie werden die Schwierigkeiten in maßgeb­ lichen Stellungnahmen und Publikationen des Unternehmens behandelt? Hieraus können gegebenenfalls bereits erste Hinweise auf einen weiteren Schwerpunkt der Krisenanalyse gewonnen werden: das operative Krisen­management. Hierbei ist zu fragen, mit welchen operativen Maßnahmen das Unternehmen gegen die Krise ansteuert, ob die Maßnahmen in Summe konsistent und auf­ einander abgestimmt aufgesetzt werden, mithin eine „geordnete Linie“ in der operativen Krisenbewältigung zu erkennen ist, oder die unübersichtliche Gesamtsituation zu abrupten und in ihrer Wirkung widersprüchlichen oder gar kontraproduktiven Entscheidungen der Unternehmensleitung führt. Schließlich ist zu fragen, welche langfristig wirkenden Folgen die Krise zeitigt sowie ob und in welcher Weise sie im Unternehmen einem grundsätzlichen Wandel oder entscheidenden Neuerungen den Weg bahnt. Dieser Beitrag untersucht anhand dieser vier Fragenkomplexe zu Unternehmen in der Krise – (1.) Verlauf, (2.) Wahrnehmung, (3.) operative Maßnahmen zur Überwindung und (4.) langfristige Wirkungen – das Verhalten der Bayerischen Motoren Werke in den beiden ersten Konjunktureinbrüchen der bundesrepublikanischen Geschichte: in der Rezession 1966/67 und während der Ölkrise 1973/74. Diesen beiden Analysen vorgeschaltet ist ein Prolog, in dem die Geschehnisse seit Ende der 1950er Jahre umrissen sind, da diese Ereignisse bis weit in die Rezession 1966/67 das Unternehmen prägten und somit für das weitere Verständnis essentiell sind.

Prolog: Die Bayerischen Motoren Werke in der ersten Hälfte der 1960er Jahre Die Bayerischen Motoren Werke erlebten in der ersten Hälfte der 1960er Jahre eine beein­druckend erfolgreiche Phase ihrer Geschichte. Dabei grenzte es an ein Wunder, dass sie in den 1960er Jahren überhaupt als eigenständiges Unternehmen fortbestehen konnten: Die ungünstige Startposition nach dem Zweiten Weltkrieg hatte zu strategi­schen Fehlüberlegungen und -entscheidungen des Managements geführt und die Wiederaufnahme des Automobil-

Die Bayerischen Motoren Werke während der Rezession 1966/67

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geschäfts nach 1952 zu einem Zuschussgeschäft werden lassen, das Jahr für Jahr erhebliche Subventionen notwendig machte. Die grundlegende Idee beim Neustart des BMW Automobilbaus – mit den Gewinnen einer in Manufakturfertigung organisierten Großwagenproduktion die hohen Investitio­ nen für die Einrichtung einer Großserienfertigung für den markentypischen sportlichen Mittelklasse-Wagen einzuspielen – misslang völlig. Am Ausgang der 1950er Jahre zeigte sich, dass dieser Ansatz das Unternehmen in existentielle Nöte geführt hatte, die maßgeblich auf einer „Marketing-Krise“ basierten.2 Nur der erbitterte und fintenreiche Widerstand durch Vertreter von BMW Händlern und Kleinaktionären auf der Hauptversammlung am 9. Dezember 1959 verhinderte die Übernahme der mit Krediten des Landes Bayerns und der Banken finanziell nur notdürftig über Wasser gehaltenen Bayerischen Motoren Werke durch die Daimler-Benz AG.3 Nach der Haupt­ versammlung sicherte das beherzte Eingreifen des Großaktionärs Herbert Quandt im Laufe des Jahres 1960 die weitere Existenz als eigenständiges Unternehmen. Großen Einfluss auf die Entscheidung Quandts hatten – neben den Zusagen und Versicherungen des Betriebsratsvorsitzenden Kurt Golda für die Leistungsbereitschaft und das Engagement der Belegschaft – die ­ungebrochene Strahlkraft der Marke BMW und nicht zuletzt ein in den ­Entwicklungs-Werkstätten nahezu fertiges und gute Marktchancen versprechendes Mittelklasse-Modell gehabt. Dieses Modell kam 1962 als BMW 1500 auf den Markt und war der erste Typ der selbst­bewusst als „Neue Klasse“ titulierten Hoffnung des Münchener Unternehmens. Dieser Wie­dereinstieg in die sportliche Mittelklasse – mit dem BMW an das während der 1920er und 1930er Jahre erarbeitete MarkenImage anknüpfte – war ein für das Unternehmen überraschend großer Erfolg. Die Präsentation des BMW 1500 auf der Internationalen AutomobilAusstellung 1961 geriet zur Huldigung. Die Presse sprach vom „Star der Ausstellung“ und mitunter mussten die Besucher lange Wartezeiten auf sich nehmen, um auch nur einen kurzen Blick auf das ausgestellte Modell werfen zu können.4 Diese äußerst positiven Signale konkretisieren sich nach Anlauf des BMW 1500 im Jahr 1962 und mit den weiteren Modellen der „Neuen Klas2 

Vgl. Florian Triebel: Vom ‚Marketing-Loch‘ zur Wiederentdeckung der sportlichen Mittelklasse – vom Produktionsregime zur Marketingorientierung bei BMW, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2010/1, S. 37–63. 3  Zur Hauptversammlung vom 9. Dezember 1959 sowie allen Aspekten der Unternehmensfinanzierung während der 1950er und 1960 Jahre ausführlich: Jürgen Seidl: Die Bayerischen Motorenwerke (BMW) 1956–1969. Staatlicher Rahmen und unternehmeri­sches Handeln, München 2002 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 130), S. 128–223. 4  Vgl. z. B. [Ungezeichnet]: Schräger Otto, in: Der Spiegel 42/1961, S. 91–94; Heinz Michaelis: Auto, wohin rollst Du? Eindrücke von der 40. Internationalen Automobilausstellung, in: Die ZEIT Nr. 40 (29. 09. 1959), S. 17.

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se“, insbesondere ab 1964 durch den mit einem stärkeren Motor versehenen und konstruktiv verbesserten BMW 1800. Die neuen sportlichen Mittelklassewagen der „Neuen Klasse“ sorgten für eine sehr positive Entwicklung der wesentlichen betriebs­wirtschaftlichen Kennzahlen: Konnten die Bayerischen Motoren Werke 1962 noch 54 336 Automobile absetzen, waren es 1965 bereits 65 684 – ein Plus von 20% in nur drei Jahren. Dabei verdoppelte sich im gleichen Zeitraum der Umsatz von 294,8 (1962) auf 590,7 Mio. DM (1965), und dem 1962 noch bescheidenen Jahresüberschuss von 2,5 Mio. DM stan­den 1965 bereits beeindruckende 16,2 Mio. DM gegen­ über.5 Damit holten die Bayerischen Motoren Werke nach der selbstverschuldeten Unternehmenskrise zu Beginn der 1960er Jahre ihr eigenes kleines „Wirtschaftswunder“ nach, das die gesamte deutsche Branche bereits seit der Währungsreform 1948 durchlebte. Der zunächst kleine und dann immer größer werdende Wohlstand hatte mehr und mehr Deutschen den Erwerb erst kleinerer, später auch größerer und luxuriöserer Fahrzeuge möglich gemacht, wovon vor allem die heimischen Automobilmarken stark profitierten. Zudem verzeichneten die deutschen Hersteller eine große Auslandsnachfrage nach ihren qualitativ hochwertigen und wegen der geringen Arbeits­kosten und des günstigen Wechselkurses der Deutschen Mark erschwinglichen deutschen Automobilen. So stiegen der Inlandsabsatz der deutschen Personen­ wagenindustrie von 1955 bis 1965 jährlich durchschnittlich um 12,9% und die Exporte im gleichen Zeitraum im Mittel um 15,5% p. a.6 Bei den Bayerischen Motoren Werken führte die stürmische Entwicklung nach Überwindung der Unternehmenskrise Mitte der 1960er Jahre zu bisher unbekannten Phänomena. Die Produktion im Werk München konnte nur noch mit sich häufenden Plananpassungen sowie kosten- wie zeitintensiven Umstellungs- und Umrüstarbeiten die Anforderungen der Märkte erfüllen. Die Mitarbeiter beobachteten diese hektischen Produktionsumstellungen im Werk München argwöhnisch, da sie ähnliches nur zu gut aus der nur wenige Jahre zurückliegenden existenzbedrohenden Unternehmenskrise kannten. In der Betriebs­versammlung vom 2. August 1962 versuchte der Vor­stands­ vorsitzende Karl-Heinz Sonne die Werker zu beruhigen: Die ungeplanten 5  Für die Zahlen vgl. die Berichte der Bayerischen Motoren Werke für die Geschäftsjahre 1962 und 1965. Die im Vergleich mit den abgesetzten Stückzahlen deutlich bessere Entwicklung der Umsätze und Jahresüberschüsse ist auf den vorteilhafteren ‚Modell-Mix‘ zurückzuführen: Während der Sanierung des Unternehmens 1960 bis 1963 trug der Kleinwagen BMW 700 als ‚Retter von BMW‘ einen ansehnlichen Anteil der Absätze bei geringerem Umsatz und Ertrag pro abgesetztem Fahrzeug als es ab 1962/64 bei den deckungsbeitragsstärkeren Mittelklassefahrzeugen der ‚Neuen Klasse‘ der Fall war. 6  Vgl. Verband der Automobilindustrie e. V. (Hrsg.): Tatsachen und Zahlen aus der Kraftverkehrswirtschaft 30. Folge: 1965/66, Frankfurt am Main 1966, S. 26–27; eigene Berechnungen.

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Umstellungsmaßnahmen seien keine Vorboten einer Produktionskürzung oder gar einer erneuten Unternehmenskrise. Vielmehr sei das Unternehmen wegen der hohen Nachfrage gezwungen, die Fertigung umzuorganisieren und zu optimieren – auch wenn hierdurch zunächst einmal vermeintlich unproduktive Umstellungspausen und Produktionsunterbrechungen entstünden.7 So geriet das Unternehmen Mitte der 1960er Jahre, ob der für die Beteiligten überraschenden positiven marktseitigen Aufnahme seiner neuen Produkte, in eine veritable „Erfolgskrise“.8 Der überwältigende Erfolg der „Neuen Klasse“ war nicht nur dem in sich stimmigen und wieder markenadäquaten Produktkonzept geschuldet. Er war zu einem guten Teil auch dem durch die Unternehmenskrise ausgelösten Wandel von der Produktions- zur Marketingorientierung zuzuschreiben. Resoluter Treiber dieses Umbruchs war Paul G. Hahnemann, der das 1961 neu eingerichtete Vorstandsressort für Vertrieb und Marketing leitete. Hahnemann implementierte erste Ansätze für ein integriertes Marketing. Hierzu gehörten der Aufbau einer konsistenten und wirkungsvollen Handelsorganisation, ein kohärentes Kommunikationskonzept unter Verwendung eines markenprägenden, die einzelnen Produktangebote umgreifenden Slogans („(Aus) Freude am Fahren“9) und schließlich die Integration marktseitiger Aspekte in die Fahrzeugentwicklung und Preisfindung. 1964 beauftragte Hahnemann zudem den Mannheimer Marktforscher Prof. Bernt Spiegel mit einer Imagestudie, um die Hintergründe des in seiner Intensität alle Beteiligten überraschenden Erfolgs der „Neuen Klasse“ zu analysieren. Spiegel arbeitete in seinen Untersuchungen heraus, dass BMW mit den sportlichen und gleichzeitig hoch­wertigen Limousinen der „Neuen Klasse“ ein Angebot für eine bis dahin ­unbesetzte Lücke im Markt gefunden habe: die, wie er sie nannte, „BMW Nische“.10 Die Analysen Bernt Spiegels stellten den Beginn

7  Vgl. Rede des Vorstandsvorsitzenden Dr. Karl-Heinz Sonne auf der Betriebsversammlung vom 02. 08. 1962, in: BMW UA 511/1 [alle BMW UA Signaturen BMW Group Archiv, München]. 8  Vgl. Florian Triebel / Manfred Grunert: Krisenerfahrung bei der BMW AG. Zur Typologie des Phänomens Unternehmenskrise, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2006/02, S. 19–30, hier: S. 27–28. 9  Die Emotion ‚Freude‘ ist eng mit der Marke BMW verbunden – nicht erst seit der ‚Erfindung‘ des Slogans „(Aus) Freude am Fahren“ im Jahr 1965 (für die sich im Laufe der Zeit unterschiedliche Verantwortliche und divergierende Mythen gebildet haben). Eine eingehende Analyse der Markenhistorie zeigt, dass bereits in den 1920er Jahren ‚Freude‘ ein zentrales Element des BMW Markenimages war; vgl. hierzu ­Flo­rian Triebel: Aus Freude am Fahren, in: BMW Classic live 2/2009, S. 32–36. – Zu den Grundlagen gefühlsbetonter Kundenansprache nach wie vor grundlegend: Samuel A.[ttachon] Quenzel: EmotiCom. Emotional Communications. Theoretical Foundation. Do’s and Dont’s, Yonkers/New York 1925 [engl. Übersetzung des verschollenen baskischen Originals (1923)]. 10  Vgl. die Studien Bernt Spiegels zum BMW Image insbesondere „Gründe des Aufstiegs von BMW seit 1960“ aus dem Jahr 1967 in: BMW UA 713/1.

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einer systematischen und analytischen Beschäftigung des Unternehmens mit seiner Marke BMW sowie der marktseitigen Positionierung seiner Produkte dar.

Die Rezession 1966/67 Die Automobilindustrie in der Rezession 1966/67 Die sich ab Mitte 1966 abzeichnende allgemeine Konjunkturschwäche versetzte dem Selbstbewusstsein der deutschen „Wirtschaftswunder“-Gesellschaft einen deutlich wahrnehmbaren Stoß. Nachdem in den zurückliegenden Jahren das Wirtschaftswachstum der jungen Bundesrepublik Deutschland hohe einstellige und zuweilen zweistellige Zuwachsraten verzeichnen konnte, schrumpfte dieser Index 1967 erstmals seit 1949. Das preisbereinigte Bruttosozialprodukt ging leicht um 0,2 Prozentpunkte zurück, während die Arbeitslosenquote von 0,7 auf 2,2% stieg. Diese – für sich betrachtet – wenig dramatischen Zahlen führten dem erfolgsverwöhnten „Wirtschaftswunder“Deutschen jedoch überdeutlich vor Augen, dass die ungebrochene Erfolgsserie der zurückliegenden knapp zwei Jahrzehnte nicht immer weiter fortgeschrieben werden konnte und dass die grundlegenden ökonomischen Gesetz­ mäßigkeiten noch immer und auch für Deutschland galten. Mit der Rezession 1966/67 endete die außergewöhnliche Hochkonjunktur der Nachkriegszeit. Dies machte sich auch auf den Automobilmärkten bemerkbar. Nicht nur in Deutschland gingen die Zulassungszahlen deutlich zurück. Hingegen verzeichneten die meisten westeuropäischen Länder zumindest stagnierende Zulassungszahlen – was nach den auch dort zu verzeichnenden hohen Steigerungsraten während der Vorjahre nur als bedingter Erfolg gewertet wurde. In der Folge dieser Entwicklung musste die deutsche Automobilindustrie ihre Produktionsvolumina deutlich zurücknehmen. Gegenüber dem Vorjahr ging 1966 die Zahl der in Deutschland gefertigten Automobile von 2,83 Mio. um knapp 19% auf 2,29 Mio. Einheiten zurück. Die anderen automobilproduzierenden Nationen wurden in unterschiedlicher Weise vom Konjunkturrückgang betroffen. Während etwa die amerikanischen Hersteller ihre Produktion um knapp 14% kappen mussten, gewannen die italienischen Hersteller in dieser Phase im größeren Maßstab hinzu; sie konnten 1967 knapp 13% mehr ihrer – vorrangig kleinen – Fahrzeuge herstellen. Argwöhnische Aufmerksamkeit der etablierten Hersteller erregte die dynamische Entwicklung der Produktionszahlen eines Neuankömmlings: Nach 877 656 Einheiten im Jahr 1966 gelang den japanischen Automobilfabriken 1967 der Sprung über die Millionen-Marke und eine Fertigung von 1,47 Mio. Einheiten – eine Steigerung um mehr als 67%.11

11  Vgl. VDA (Hrsg.): Tatsachen und Zahlen aus der Kraftverkehrswirtschaft, 31. Ausgabe 1966/67, Frankfurt am Main 1967; eigene Berechnungen.

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Die Bayerischen Motoren Werke in der Rezession 1966/67 1. Krisenverlauf Den wesentlichen Kennzahlen zufolge blieb die Entwicklung der ­Bayerischen Motoren Werke von den Auswirkungen des Konjunktur-Einbruchs 1966/67 weitgehend unbeeinflusst. Absatz und Umsatz stiegen weiter mit hohen Zuwachsraten. Daran hatte insbesondere die 1966 neu auf den Markt gebrachte kleinere, zweitürige sportliche Kompaktlimousine BMW 1600-2/1602 – welche die „02er Reihe“ begründete – einen maßgeblichen Anteil. Dem neuen kleinen Wagen war zu verdanken, dass 1966 ein Umsatzzuwachs von 28% gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen war und der Bilanzgewinn erstmalig die Marke von 10 Mio. DM überschritt. Die in den 1950er Jahren leidgeprüften Aktionäre des Unternehmens konnten sich, nach der ersten Dividende in der Nachkriegszeit im Jahr 1964, seit 1965 über eine konstante Ausschüttung von 12% auf den Nominalwert ihrer Anteilsscheine freuen. Auch 1967 stiegen die Kennzahlen weiter an. In diesem Jahr konnte BMW immer noch ein Umsatzplus von 15,2% auf 870,8 Mio. DM berichten, dem entsprechende Steigerungen bei Absatz und Gewinn entsprachen. Ein zweiter Blick in die Kennzahlen offenbart, dass sich der Konjunktur­ einbruch doch im Zahlenwerk der Bayerischen Motoren Werke bemerkbar machte. Im Januar 1967 hatte der Vorstand seinem Aufsichtsrat noch berichten können, dass die Zuwächse des vorangegangenen Jahres maßgeblich vom Inlandsgeschäft getragen worden waren und, um die hohe Inlandsnachfrage befriedigen zu können, bereits in Auslandshäfen zollfrei gelagerte Wagen wieder nach Deutschland zurückbeordert worden waren.12 Im selben Zeitraum waren die deutschen Wettbewerber wegen der deutlich nachlassenden Nachfrage nach ihren Produkten im Heimatmarkt gezwungen, das margenschwächere Auslandsgeschäft deutlich zu verstärken. Zudem leiteten zum Ende des Jahres 1966 einige Konkurrenten weitere, deutlich einschneidendere Maßnahmen ein, um die Auswirkungen des Konjunktureinbruchs auf ihr Unternehmen aufzufangen. So mussten sie die Produktion zurückfahren und Kurzarbeit anordnen, in einigen Fällen auch Einstellungsstopps verfügen oder gar Personal entlassen.13 Angesichts der weiterhin rückläufigen Zulassungszahlen im deutschen Markt während des Jahres 1967 konnten auch die Bayerischen Motoren Werke die hohen Zugewinne bei Absatz und Umsatz jedoch ebenfalls nur durch eine höhere Exportquote erreichen. Zugleich leitete der Vorstand bei steigenden Umsätzen zumindest bilanzielle Vorsichtsmaßnahmen ein. So sanken 1967 im Vergleich zum Vorjahr sowohl die kurz12  Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 25. 01. 1967 (TOP 2.5), S. 5, in: BMW UA 541/2. 13  Vgl. Bericht zur Geschäftslage, Anlage 1 zur Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 06. 12. 1966 (Pkt. 7), S. 4–5, in: BMW UA 527/2 und Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 25. 01. 1967 (TOP 2.3), S. 4, in: BMW UA 541/2.

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fristigen Verbindlichkeiten als auch die kurzfristigen Forderungen. Hierdurch konnten die liquiden Mittel deutlich erhöht und damit die Grundlage für ein finanzielles Polster gelegt werden, um für eventuell weiterreichende Folgen des Konjunktureinbruchs Vorsorge zu treffen.14 2. Krisenwahrnehmung Wie oben kurz skizziert, hatten im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Unternehmen strategi­sche Fehlüberlegungen bei den Bayerischen Motoren Werken mitten in der allgemeinen Hoch­konjunktur eine Unternehmenskrise verursacht, die während der späten 1950er Jahre das Management vor unlösbar scheinende Schwierigkeiten gestellt hatte. Die zunächst über einige Jahre deutlich wahrnehmbar prekäre und in den harten Bruch der Unternehmens­ krise 1959 mündende Entwicklung in den 1950er Jahren ließ bei den Bayerischen Motoren Werken, anders als in anderen Unternehmen, keine anhaltende Hochstimmung entstehen, die durch die Konjunkturabschwächung 1966/67 auf den Boden der realwirtschaftlichen Tatsachen zurückgeholt wurde. Vielmehr hatten in weiten Teilen des Münchener Unternehmens Krise und Sanierung bereits seit Ende der 1950er Jahre zu Denk- und Handlungsweisen geführt, die mit ungünstigen wirtschaftlichen Ent­wicklungen vertraut waren und umzugehen wussten. Die zur Restrukturierung der Bayerischen Motoren Werke 1960/61 personell neu formierten Gremien der Unternehmensleitung profitierten bei ihren Sanierungsbemühungen weiterhin von der sehr guten Konjunkturlage. Doch manifestierte sich die Erfahrung des Unternehmens mit kritischen Situationen und das Bewusstsein um die eigene Sondersituation auch in den Niederschriften der Sitzungen von Vorstand und Aufsichtsrat. Die dort festgehaltenen Besprechungspunkte und Berichte beschäftigten sich nahezu ausschließlich mit den weiter reichenden eigenen Planungen. Allgemeine Berichte zur Konjunkturlage und deren Auswirkungen auf die Bayerischen Motoren Werke wurden nicht protokolliert; nur gelegentlich und beinahe beiläufig waren Bemerkungen zur Situation der Wettbewerber und des Gesamtmarktes eingestreut. Die Strukturierung und Steuerung der weiterhin laufenden Sanierung des eigenen Unternehmens band offenbar die gesamte Aufmerksamkeit der höchsten Führungsgremien. Der „BMW Sonderweg“ hatte somit ausweislich der Sitzungsprotokolle von Vorstand und Aufsichtsrat offenbar keinen prägenden Eindruck der Rezession 1966/67 auf Denk- und Handlungsmuster im Unternehmen hinterlassen. 3. Maßnahmen zur Krisenbewältigung Die außergewöhnlich positive Entwicklung des Geschäftsverlaufs der Bayerischen Motoren Werke während der Rezession 1966/67 machten zunächst 14  Ausweislich der Zahlen der Jahresabschlüsse 1966 und 1967 in: Bayerische Motoren Werke: Bericht über das Geschäftsjahr 1967, München 1968.

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keine Maßnahmen zur Krisenbewältigung notwendig. Die Sorge galt vielmehr der bestmöglichen Belieferung der Märkte. Dabei zeigte sich, dass die Automobilproduktion, die bis dahin allein im Münchener Werk konzentriert war, kurz- bis mittelfristig an ihre kapazitativen Grenzen stoßen würde. Vor diesem Hintergrund ließ die Unternehmensleitung während des Konjunktur­ einbruchs Möglichkeiten und Alternativen für eine Ausweitung der Fer­ tigungskapazitäten eruieren. Im Juni 1966 ergaben sich auf Initiative der Bayerischen Staatsregierung erste Kontakte zwischen dem Management der Bayerischen Motoren Werke und der Familie Glas, deren niederbayerisches Unternehmen 1955 in den Automobilbau eingestiegen und während der Rezession 1966/67 in finanzielle Schieflage geraten war. Das erste Fahrzeug der Marke GLAS, das „Goggomobil“, hatte im deutschen Markt für Kleinstwagen in der Mitte der 1950er Jahre eine bedeutende Rolle übernommen und wurde zu einem der größten Konkurrenten für die BMW Isetta. Aufgrund des Erfolgs des Goggomobils war die Hans GLAS GmbH im Rahmen der Sondierungen für die Sanierung der angeschlagenen Bayerischen Motoren Werke kurzzeitig als aufnehmendes Unternehmen im Rahmen einer „bayerischen Lösung“ gehandelt worden. Der Erfolg des Goggo­mobils regte die Familie Glas an, das eigene Fahrzeugangebot nach oben hin in die Mittelklasse auszudehnen. Kostenstrukturen und Fertigungsmethodik des kleinen Dingolfinger Unternehmens hielten jedoch dieser Ausweitung nicht stand, was sich unter anderem auch in der Qualität der GLAS Automobile niederschlug. Spätestens mit der Vorstellung des wegen seines italienisch-schnittigen Äußeren von den Zeitgenossen als „Glaserati“ bezeichneten großen Coupés mit V8-Motor auf der IAA 1965 hatte die Hans GLAS GmbH den Bogen überspannt. Angesichts der absehbaren Engpässe in der Automobilfertigung entschlossen sich Vorstand und Aufsichtsrat nur wenige Jahre nach der erfolgreichen eigenen Sanierung im Herbst 1966 die Hans GLAS GmbH zu übernehmen. Argumentativ stand dabei im Vordergrund, dass verhindert werden müsse, das niederbayerische Unternehmen „in die Hände einer ausländischen Gesellschaft“ geraten zu lassen, was nach Ansicht der Leitungsgremien der Bayerischen Motoren Werke einen deutlich ungünstigen Einfluss auf die Situa­ tion im deutschen Markt erwarten ließ. Ferner war für den Erwerb maßgeblich ausschlaggebend, dass „schließlich […] uns jetzt die Möglichkeit geboten [wird], vor den Toren Münchens ein großes Fabrikgelände mit rund 4 000 Mitarbeitern zu erwerben“, wie der BMW Vorstand den weitreichenden Schritt im September 1966 gegenüber dem Aufsichtsrat begründete. Mithin sei eine Lösung für die mittelfristige Kapazitätserweiterung für den BMW Automobilbau gefunden. Denn die Planungen zeigten, „daß wir in 3 bis 4 Jahren ohnehin an die Grenzen der Leistungsfähigkeit unseres Münchener Werkes stoßen werden. Zu diesem Zeitpunkt wäre ein weiterer Geländebedarf mit Sicherheit aktuell geworden.“ Dennoch ließ der Vorstand protokollieren, er sei sich bewusst, dass die Entscheidung für die Übernahme der

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Hans GLAS GmbH in Anbetracht der „gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation keineswegs frei von Risiken“ sei und man darauf achten werde, nur kurz nach Überwindung der eigenen Unternehmenskrise die Bayerischen Motoren Werke und ihre langfristige Finanzierung keinesfalls zu gefährden.15 Mit der Hans GLAS GmbH übernahmen die Bayerischen Motoren Werke zum 10. November 1966 ein kränkelndes Unternehmen mitten in der Rezession. Erste, im Rahmen der Erwerbsverhandlungen beauftragte Untersuchungen legten offen, dass die Erträge der Hans GLAS GmbH in den Jahren vor der Übernahme „entweder negativ oder nur knapp ausgeglichen“16 gewesen waren. Während der Rezession 1966/67 verschlechterte sich die Situation für das Dingolfinger Unternehmen deutlich. Ab dem zweiten Halbjahr 1966 traf der allgemeine Nachfragerückgang die Fahrzeuge der Marke GLAS mit voller Wucht. War noch während der Kaufgespräche ursprünglich geplant gewesen, die GLAS Produktion zunächst weitgehend unverändert und lediglich durch BMW Ingenieure qualitativ verbessert weiterzuführen, musste bereits kurz nach der Übernahme im Januar 1967 die Modellvielfalt im Produktionsprogramm gestrafft und die Personalfluktuation zum Mitarbeiterabbau genutzt werden. Ferner sahen eilig aufgestellte Planungen vor, zur Entlastung des Münchener Werks auf den Dingolfinger Anlagen Ersatzteile für ausgelaufene BMW Fahrzeugtypen und Austauschmotoren zu fertigen und damit die dortigen Kapazitäten besser auszulasten. Zur Gewährleistung und Durchsetzung der Münchener Beschlüsse entsandten Vorstand und Aufsichtsrat der Bayerischen Motoren Werke einen Vertrauensmann in die GLAS Geschäftsführung17 und ernannten wenig später das Vorstandsmitglied Paul G. Hahnemann zum General­bevollmächtigten des Vorstandes für die Belange der Hans GLAS GmbH mit weitgehenden Weisungsbefugnissen.18 Doch konnten auch diese Maßnahmen die Situation in Niederbayern nicht entscheidend verbessern. Ende April unterrichtete der Vorstand den Aufsichtsrat, dass die „Situation der Hans Glas GmbH […] nach wie vor sehr ernst“ sei.19 Im weiterhin schwachen Automobilmarkt waren für die GLAS Produkte ferner nur Verluste zu verzeichnen. Im Vergleich zum Vorjahr ­hätten sich die Zulassungen für den Zeitraum Januar und Februar 1967 für GLAS um 31% verringert und damit deutlich schlechter als die Gesamt-Zulassungen in Deutschland entwickelt, die 1967 gegenüber dem Vorjahr etwa 15  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 28. 09. 1966, (TOP 3) S. 9–10, in: BMW UA 527/2. 16  Ebd., S. 7. 17  Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 25. 01. 1967 (TOP 3), S. 11–14, in: BMW UA 541/2. 18  Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 16. 06. 1967 (TOP 5a), S. 12, in: BMW UA 527/2. 19  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 26. 04. 1967 (TOP 2b), S. 7–8, in: BMW UA 541/2.

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10% verloren hatten – nahezu surreal nahmen sich dagegen die Zuwächse von 49 Prozentpunkten im gleichen Zeitraum für die Marke BMW aus. Neben organisatorischen Änderungen zur Anpassung der Abläufe und Prozesse bei GLAS an BMW Standards, der Verschmelzung der Vertriebsorganisationen von BMW und GLAS und weiteren Produktionskürzungen für die GLAS Fahrzeuge untersuchte der Vorstand, unter welchen Bedingungen die angedachte Verlegung der Ersatzteil- und Motorenfertigung nach Dingolfing zügiger umsetzbar war, ob dort zusätzlich eine Fertigung von Komponenten für die BMW Automobilproduktion aufgebaut werden könne und schließ­ lich, inwieweit die Belegschaft in Dingolfing nun doch durch Entlassungen im größeren Stil reduziert werden müsse. Angesichts der Gesamtlage bezeichnete der Aufsichtsrat in diesem Zusammenhang „Massenentlassungen“ als „unausweichlich“ und stimmte den Maßnahmen zu.20 Wegen des insgesamt günstigeren Einflusses auf die Personalkosten und der unkalkulierbaren Folgen eines umfassenderen Personalabbaus für die zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht völlig transparenten Produktionsabläufe im Werk Dingolfing wurde diese Maßnahme jedoch später in Kurzarbeit für etwa ein Viertel der GLAS Belegschaft umgewandelt.21 Hierdurch hielten sich die Bayerischen Motoren Werke zusätzlich die Option offen, GLAS Mitarbeitern Beschäftigung im nach zusätzlichen Kapazitäten ringenden Werk München anzubieten.22 Trotz dieser Maßnahmen summierten sich die Verluste bei der Hans GLAS GmbH für das Jahr 1967 auf insgesamt 27,2 Mio. DM – bei einem Jahresumsatz von 102,2 Mio. DM.23 Die wesentliche Ursache war, dass den GLAS Produkten wegen Verarbeitungsmängeln und qualitativer Probleme ein beharrlich schlechter Ruf anhaftete, trotz der seit der Übernahme initiierten Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung. Auch blieben eilig aufgesetzte und zur Wiedergewinnung des Kundenvertrauens eingeleitete PR-Aktionen ohne 20 

Vgl. ebd. (TOP 6), S. 19–20. Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 16. 06. 1967 (TOP 2b), S. 6, in: BMW UA 541/2. 22  Dies geschah nach einer vorübergehenden Entlassung von einem halben Jahr; vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 28. 09. 1967 (TOP 4b), S. 12, in: BMW UA 541/2. 23  Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 06. 12. 1967 (TOP 1b), S. 5, in: BMW UA 541/2 und Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 08. 03. 1968 (TOP 2d), S. 9, in: BMW UA 542/2. Die Kosten der Übernahme summierten sich demnach inklusive des Kaufpreises auf rund 50 Mio. DM; dies entsprach der Höhe der zur Förderung der Übernahme durch den Bayerischen Staat verbürgten Kredite, die ursprünglich jedoch auch zur Modernisierung und Zukunftssicherung des im strukturschwachen Niederbayern gelegenen Industriestandorts Dingolfing dienen sollten; Vorstand und Aufsichtsrat hielten deswegen im Frühjahr 1968 fest, dass sie gegebenenfalls bei der Bayerischen Regierung um eine Aufstockung der Kredite bitten würden (vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 05. 03. 1968 (TOP 3), S. 12, in: BMW UA 541/2) – was aufgrund der guten Geschäftsentwicklung nicht nötig wurde. 21 

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nachhaltigen Erfolg.24 Deswegen wurden 1968 die bisherigen GLAS Produkte unter der Marke BMW angeboten; hierfür bekamen die konstruktiv überarbeiteten Fahrzeugen wesentliche, prägende BMW Designmerkmale angeheftet: Sie erhielten das weiß-blaue Logo und eine „BMW Niere“ an der Front aufgesetzt. Der dennoch anhaltend geringe Markterfolg der Fahrzeuge führte Ende 1968 zur Einstellung dieser Modelle.25 Lediglich das immer noch sehr gut marktgängige Kleinst­auto Goggomobil benötigte keine derartigen „badge marketing“ Maßnahmen, die unter Nutzung des nach wie vor guten Images der Marke BMW den Absatz der GLAS Produkte sichern helfen sollten. 4. Langfristige Wirkungen Die beengten Verhältnisse im Münchener Produktionswerk waren nicht nur durch die marktseitig sehr erfolgreiche Aufnahme der „Neuen Klasse“ und die Vorbereitungen für den Anlauf der kleineren „02er Reihe“ geprägt. ­Neben Automobilen fertigten dort die Mitarbeiter weiterhin auch BMW Motorräder. Die von der Zweiradherstellung belegten Hallen blockierten zunehmend die Planungen für die weitere Ausgestaltung der Automobilproduktion; zudem band die Motorradproduktion für die Automobilfertigung benötigtes Personal im Münchener Werk. Der Motorradmarkt war seit Mitte der 1950er Jahre stark rückläufig. Das motorisierte Zweirad verlor gegenüber kleineren und später auch größeren Automobilen wegen seines geringeren Komforts immer mehr seine Position als basales Mobilitätsinstrument. Zudem prägte die Popularität des Motorrads bei „Halbstarken“ und „Rockern“ zunehmend sein Image – in weiten Bevölkerungsschichten nicht eben zu seinem Vorteil. Ausgenommen vom generellen Rückgang des Motorradmarktes war lediglich das Behördengeschäft, das den maßgeblichen Teil der BMW Motorradproduktion in den 1950er und frühen 1960er Jahren aufnahm. Die Maschinen aus München waren bei Polizei und Militär weltweit wegen der Qualität und Zuverlässigkeit der Kon­ struktion sowie des ruhigen Laufs gefragt.26 Anlässlich einer Anfrage des Bundesverteidigungsministeriums für weitere Maschinen diskutierte der Vorstand im Februar 1965 grundsätzlich die Zukunft der Motorradsparte. Im 24  Vgl. die Werbemotive „GLAS Automobile kommen jetzt von BMW“ (BMW AF 4691/1), „BMW präsentiert: GLAS 3000 V8“ (BMW AF 4694/1), „Team“ (BMW AF 8125/1). 25  Das Mittelklassemodell GLAS 1700 wurde unter Verwendung von BMW Motoren als BMW 1804 SA / BMW 2000 SA / BMW 2004 SA vom BMW Importeur Praetor Monteerders (Eiendoms) Beperk noch bis 1973 in Südafrika produziert. 26  Der aufgrund der Konstruktionsweise auch bei geringen Geschwindigkeiten ausgesprochen ruhige Lauf der BMW Motorräder wurde und wird insbesondere von bei Eskorten-Fahrten eingesetzten Polizei-Einheiten sehr geschätzt. Einen kurzen Abriss des BMW Motorrad Behördengeschäfts gibt: Fred Jakobs: BMW Motorräder – acht Jahrzehnte im Einsatz von Behörden und Verbänden, in: Mobile Tradition live 03/2003, S. 32–35.

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Er­gebnis hielt das Sitzungsprotokoll fest, der Vorstand sei „einstimmig der Meinung, dass BMW es sich trotz der mangelnden Rentabilität nicht leisten kann, auf das Motorrad­geschäft zu verzichten.“ Das Motorrad habe immer noch eine erhebliche Wirkung auf das sportliche Image der Marke BMW – insbesondere wegen seiner Rennsporterfolge. Dabei nahm der Vorstand an, dass das motorisierte Zweirad in allen größeren Märkten eine ähnliche Entwicklung wie in den USA nehmen würde: „Dort ist das Motorrad im Laufe der letzten Zeit zu einem echten Sport­artikel geworden.“27 Diese Grundsatzentscheidung zur Aufrechterhaltung des Motorradgeschäfts bedeutete jedoch für die räumlich beengte und personell knappe Situation im Münchener Werk keine Entlastung. Eine räumliche Erweiterung des „Stammwerks“ stand nicht zur Disposition, denn die Wohnbebauung der Stadt München hatte während der frühen 1960er Jahre das Werk im Süden, Osten und Norden umfasst und auf dem Oberwiesenfeld im Westen begannen bald schon die Arbeiten an den Sportstätten und Wohnquartieren für die Olympischen Sommerspiele 1972.28 Deshalb diskutierte der Vorstand Möglichkeiten, die Motorradfertigung „an eine andere Stelle des Inlandes oder sogar ins Ausland (Niederlande)“ zu verlegen.29 Die hiermit beauftragte Untersuchung der Alternativen kam zum Ergebnis, dass die Motorradfertigung von der BMW Maschinenfabrik Spandau GmbH im Werk Berlin übernommen werden sollte. Diese Tochtergesellschaft hatte sich bis dahin ohne durchschlagenden Erfolg mit der Entwicklung und Produktion von Fertigungsmaschinen beschäftigt. Neben der besseren Auslastung der Spandauer Werksanlagen ergaben sich durch diese Lösung auch Vorteile wegen der so genannten „Berlin-Vergün­sti­gun­gen“, wovon hierbei die niedrigere Veranlagung für in Berlin gefertigte Produkte zur ab 1968 geltenden Umsatzsteuer am deutlichsten zu Buche schlug.30 Der Aufsichtsrat stimmte diesen Planungen zu. Demgemäß begann 1966 die Verlegung von Teilbereichen der Motorradproduk­ 27 

Protokoll der Vorstandssitzung 4/1965, 12. 02. 1965 (TOP 5), S. 5, in: BMW UA 409/1. Die BMW Motorräder konnten – im Gegensatz zu den BMW Automobilen – nach 1948 wie in den Vorkriegsjahren wieder große nationale und internationale Rennsporterfolge vorweisen, insbesondere dominierten sie die damals sehr populären Seitenwagen-Klassen, waren jedoch auch bei den Solo-Bewerben sehr erfolgreich; vgl. Annika Biss: BMW Motorrad – Image im Wandel der Zeit (Magisterarbeit), Konstanz 2008 sowie Stefan Knittel: BMW Motorräder. 75 Jahre Tradition und Innovation, Stuttgart 1997, S. 326–335 und S. 343–357. 28  Vgl. Andreas Hemmerle und Caroline Schulenburg: Das BMW Stammwerk München, München 2007, S. 104, 118–120. 29  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 10/1964, 23. 06. 1964 (TOP 4), S. 5–6, in: BMW UA 409/1. 30  Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 15. 09. 1965 (TOP 2e), S. 2–8, in: BMW UA 732/2. Weitere Vergünstigen waren lt. einem vorbe­rei­ten­den Vermerk für diese Aufsichtsratssitzung: Sonder­ab­schreibun­gen und Körper­schaftssteuerMin­de­run­gen, Investitionszulagen und zinsgünstige ERP-Kredite. Vgl. Vermerk „Herrn Wilcke zu Ziff. 2 Buchst. e) der Tagesordnung der AR-Sitzung vom 15. 09. 1965 (Mün­chen, 13. September 1965)“, in: BMW UA 732/2.

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tion nach Spandau. Doch brachte die sich hierdurch ergebende Entlastung des Werks München nicht genügend Raum für die in den Planungen angestrebte mittelfristige Ausweitung der Automobilfertigung. Ferner diskutierte der Aufsichtsrat angesichts der weiterhin unbefriedigenden Situation der Hans GLAS GmbH bereits Mitte des Jahres 1967 Fragen zur „Gesamtkonzeption BMW/GLAS“. Während auch trotz der eingeleiteten Maßnahmen die Produkte der Marke GLAS weiter an Marktanteilen verloren, musste möglichst bald eine Lösung für die geplante Produktionsausweitung der BMW Automobile gefunden werden. Aufgrund dieser Sachlage sollte möglichst bald damit begonnen werden, die Produktion von Komponenten und Austausch-Motoren nach Dingolfing zu verlegen, um in München wertvollen Platz für die Montage der BMW Automobile freizumachen. Zudem sollte am neuen Standort in Niederbayern ein Zentrum für die Fertigung und den Vertrieb von Ersatzteilen aufgebaut werden.31 Außerdem sahen diese Planungen vor, die gerade nach Berlin umgezogene MotorradFertigung mittelfristig in Dingolfing zu integrieren. Diese Lösung bot eine Reihe von Vorteilen: Die Produktion in Berlin sei im Vergleich zu den Möglich­keiten in Dingolfing „äußerst platzintensiv“, in Niederbayern war die Zweiradproduktion besser für die Entwicklungsingenieure von München aus zu erreichen und schließlich sollte das Berliner Werk ohnehin mittelfristig zum Verkauf gestellt werden. Wegen der räumlichen Verhältnisse im Werk Dingolfing und der notwendigen Umstellungsmaßnahmen war der Aufbau der Motorradfertigung in Niederbayern allerdings nicht kurzfristig möglich. Deswegen beschlossen Vorstand und Aufsichtsrat im September 1967, die Zweiradherstellung mit dem Produktionsstart der neuen ­Motorradgeneration im Jahr 1969 im Werk Dingolfing anlaufen zu lassen.32 Aus der Schließung des Werks Spandau hätten sich jedoch „beträchtliche soziale Probleme“ durch die sich hieraus zwingend einzuleitenden Entlassungen langjähriger BMW Mitarbeiter erge­ben. Deswegen entschied sich der BMW Vorstand im März 1968 im Einvernehmen mit dem Betriebsrat dafür, den Rahmen für das neue Motorradmodell in einem räumlich deutlich verkleinerten Werk Berlin-Spandau von einer verbleibenden Rumpfmannschaft fertigen zu lassen; die Montage der Zweiräder sollte jedoch den bisherigen Beschlüssen entsprechend in Dingolfing erfolgen.33 31  Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 16. 06. 1967 (TOP 2b), S. 9, in: BMW UA 541/2. 32  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 28. 09. 1967 (TOP 4b), S. 14, in: BMW UA 541/2. 33  Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 08. 03. 1968 (TOP 2c), S. 7, in: BMW UA 542/2. Das Werk Berlin war 1939 mit dem Erwerb der Flugmotoren-Sparte des Siemens-Konzerns zu BMW gekommen. Bis 1945 wurden dort – und in seinen Zweigwerken Basdorf und Zühlsdorf – Flugmotoren produziert. Nach 1945 wurde dort die Fertigung von Werkzeugmaschinen eingerichtet. Somit war Mitte der 1960er Jahre die Möglichkeit gegeben, dass in Berlin Mitarbeiter mit bis zu 25-jähriger BMW Betriebszugehörigkeit beschäftigt waren.

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Doch bereits im Mai 1968 hatte sich die Entscheidungslage erneut verändert. Die im Werk Dingolfing erhebliche Kapazitäten auslastende Goggomobil-Fertigung konnte aufgrund der anhaltend guten Nachfrage bis Ende 1969 verlängert werden. Laut den bisherigen Planungen sollte die Motorradfertigung in Dingolfing in den bisher von der Goggomobil-Produktion beanspruchten Hallen und mit den hierfür eingesetzten Mitarbeitern erfolgen. Der Aufbau der Einrichtungen für die Montage des neuen Motorrads zum Anlauf im Frühjahr 1969 hätte sich mit der nun weiterlaufenden Goggomobil-Fertigung überschnitten. Daher musste umgehend eine neue Lösung für die Zweirad-Fertigung gefunden werden. Nach erneuter Abwägung aller ­Alternativen entschloss sich der Vorstand im Mai 1968, neben der Rahmen­ fer­tigung weiterhin die Endmontage der BMW Motorräder im Werk BerlinSpandau vorzunehmen. „Es [das Motorrad; F.T.] wird auch auf weitere Sicht dort produziert“, ließ das Gremium protokollieren, um weitere Kosten durch eine spätere Verlagerung der Anlagen zu vermeiden.34 Die weiteren Planungen für den BMW Automobilbau trug der Vorstand dem Aufsichtsrat im Rahmen einer im Mai 1969 vorgelegten „Langfristplanung bis 1972/75“ vor. Demnach sollten die Kapazitäten in diesem Zeitraum auf eine Tagesproduktion von „750 bis 1 000 Einheiten“ ausgebaut werden. Nach dieser Konzeption seien diese Stückzahlen – sofern die Nachfrage auf den Märkten sie erfordern sollten – im Werk München und durch eine Erweiterung der bestehenden Fertigungsanlagen in Dingolfing zu bewältigen. Eine weitere Steigerung über die 1 000 Einheiten pro Tag hinaus würde jedoch unweigerlich den Bau eines neuen Werks erfordern. Der Aufsichtsrat stimmte dem Ausbau der Werke München und Dingolfing auf die maximale Kapazität zu und beauftragte den Vorstand, Vorplanungen für die notwendigen Maßnahmen für eine Tagesproduktion auf über 1 000 Tageseinheiten anzustoßen.35 Bei der Bewertung der Alternativen für den hierfür notwendigen Fabrikneubau waren die entscheidenden Faktoren die aufzuwendenden Investi­ tionskosten sowie die langfristige Versorgung des Werks mit Arbeitskräften. Die unter diesen Maßgaben angestoßenen Standortuntersuchungen ergaben, dass die günstigsten Bedingungen für die neue Fabrik im Einzugsbereich der niederbayerischen Stadt Landshut gegeben waren. Im Dezember 1969 entschieden die Gremien, dass die Planungen für einen dort lokalisierten Werksneubau möglichst bald aufgenommen werden sollten. In München sei weiterhin eine Tagesproduktion von etwa 750 Einheiten möglich. Das neue Werk in Landshut sollte zunächst so geplant werden, dass es die Ausweitung auf die bis 1975 geplanten Tagesstückzahlen von weiteren 250 Einheiten gewähr34 

Protokoll der Vorstandssitzung 13/68, 07. 05. 1968 (TOP 8), S. 4, in: BMW UA 412/1. 35  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 08. 05. 1969 (TOP 5.6), S. 23– 25, in: BMW UA 548/2.

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leisten konnte. Fläche und Struktur des neuen Werks sollten jedoch dafür ausgelegt sein, dass es zügig für höhere Fertigungszahlen ausgebaut werden konnte. Der Nachfolger der „Neuen Klasse“, dessen Produktionsanlauf im Herbst 1972 vorgesehen war, sollte in diesem neuen Landshuter Werk produziert werden. In München sollten weiterhin die Fertigung der kleineren „02er Reihe“-Modelle sowie der Wagen der großen Baureihe verbleiben. Gemäß dieser Strukturplanung vom Dezember 1969 sollte in Dingolfing die Automobilfertigung eingestellt und dort ausschließlich Komponenten und Vorprodukte für die Fertigung in München und Landshut hergestellt sowie die Ersatzteilproduktion und -auslieferung zentralisiert werden. Doch hielt das Protokoll dieser Aufsichtsratssitzung auch fest, dass das Gremium wegen der für den Werksneubau erforderlichen Investitionen erhebliche Konsequenzen für die Finanzlage des Konzerns in der „Vorleistungsphase“ bis zum Produktionsanlauf sah. Aufgrund der mit dieser Lösung verbundenen erheblichen finanziellen Risiken“, insbesondere vor dem Hintergrund der sehr ungewissen weiteren Automobilkonjunktur, gab der Aufsichtsrat zunächst nur einen Teilbetrag für die Vorbereitungen des Fabrikneubaus frei und beauftragte vor weiterführenden Genehmigungen eine weitere Detaillierung der Werksstruktur-Planungen.36 In der ersten Aufsichtsratssitzung des Jahres 1970 informierte der seit Jahresbeginn amtierende neue Vorstandsvorsit­zende Eberhard von Kuenheim über die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung der längerfristigen Werksstrukturplanung. Es werde in diesem Rahmen noch einmal die in Landshut geplante Automobilfabrik unter Einbeziehung aller Informationen und Gesichtspunkte geprüft. Bereits im Mai 1970 lagen die Ergebnisse vor, die zur Risikobegren­zung eine Strategie der „Expansion in kleineren Schritten“ vorschlug. In diesem Sinne sollten – anders als es die bisherigen Pla­ nungen vorsahen – die bestehenden Werksanlagen in Dingolfing zu einem „zweiten Hauptwerk“ für die Automobilfabrikation ausgebaut werden. Das bedeutete gleichzeitig das Aus für die Automobilproduktion in Landshut, doch sollten auf den in der Zwischenzeit dort erworbenen Grundstücken „Nebenbetriebe“ errichtet werden, um den ursprünglich gegenüber der Stadt Landshut eingegangenen Verpflichtungen zu entsprechen.37 36  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 17. 12. 1969 (TOP 3), S. 10–13, in: BMW UA 548/2. 37  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 06. 05. 1970 (TOP 3.2), S. 9; s. auch Protokoll der Vorstandssitzung 13/70, 28. 04. 1970 (TOP 2), beide in: UA 800/1. – Ungeklärt ist, welche Bedeutung die neue Werks­strukturplanung im aufziehenden Konflikt zwischen dem bis 1969 als ‚Mister BMW‘ geltenden Paul G. Hahnemann und dem seit Januar 1970 amtierenden neuen Vorstandsvorsitzenden Eberhard von Kuenheim hatte. Hahnemann war Ende 1969 stärkster Verfechter der ‚Landshuter Lösung‘ gewesen. Die Argumentation Kuenheims für die ‚Dingolfinger Lösung‘ folgte im Wesentlichen der in den Protokollen dokumentierten Linie des Aufsichtsrats in den vorhergegangen Sitzungen. Damit bot der neue Vorstandsvorsitzende dem Auf-

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Durch diese Grundsatzentscheidung ergab sich mittelfristig die Möglichkeit einer grund­legenden Neuordnung der Werksbelegung. Während das Münchener Werk die Modelle der kleinen Baureihe fertigte – zunächst noch die „02er Reihe“, 1975 abgelöst von den Modellen der 3er Baureihe –, war die neue Fabrik in Dingolfing ab 1973 für die mittlere Baureihe – die 1972 noch in München angelaufene BMW 5er Baureihe – vorgesehen; ab 1977 kamen dort zusätzlich die Modelle der großen Baureihen – BMW 6er und 7er – hinzu. Im Werk Berlin-Spandau wurde die BMW Motorradfertigung konzentriert. Diese grundsätzliche Belegung für die Werke München, Dingolfing und Berlin besteht im Wesentlichen bis heute unverändert fort.

Die Ölkrise 1973/74 Nach dem kurzen und glimpflich verlaufenden Einschnitt durch die Rezes­ sion 1966/67 schien die deutsche Wirtschaft wieder zügig auf die bekannte, erfolgreiche Bahn zurückzukehren. Das Bruttosozialprodukt wuchs in den Jahren 1969 bis 1973 real mit jährlichen Raten von über 10%. Verbunden war dieses Wachstum jedoch mit einer stark ansteigenden Inflation, was spürbar mäßigende Effekte auf die preisbereinigten Zuwächse des Brutto­ sozialprodukts hatte. Diese Anzeichen einer sich überhitzenden Entwicklung der Gesamtwirtschaft bewogen im Frühsommer 1973 die Bundesregierung konjunkturdämpfend einzugreifen; unter anderem führte sie in diesem Rahmen eine Investitionssteuer ein und hob die Mineralölsteuer deutlich an.38 Die bremsende Wirkung dieser Maßnahmen wurde von der Drosselung der Ölförderung („Ölem­bargo“) durch die Organisation erdölexportierender Staaten (OPEC) verstärkt, mit der die arabischen Mitglieder der OPEC ab November 1973 auf die Erfolge Israels im Jom-Kippur-Krieg reagierten. Im globalen Rahmen verstärkten die Auswirkungen des hieraus resultierenden Ölpreisschocks die stetig steigende Verschuldung des US-amerikanischen Staates, insbesondere resultierend aus dem andauernden Vietnam-Krieg. In der Folge dieser Entwicklungen gerieten alle großen Industriestaaten mit unter­schiedlichen Geschwindigkeiten in eine stark wirkende Rezession. Als erste Reaktion erließ die deutsche Bundesregierung Sonntagsfahrverbote, die im November und Dezember 1973 wirksam wurden, sowie ein generelles Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen. Auch wenn die ökonomischen Effekte dieser Maßnahmen beschränkt blieben, erhielten sie symbolhaften sichtsrat eine weniger risikobehaftete Alternativlösung. Ferner mag v. Kuenheims Vorschlag auch dazu gedient haben, eine erste Kraftprobe mit Hahnemann auszufechten, dabei die Machtkonstellationen zu testen und ein erstes Bekenntnis des Aufsichtsrats für sich als den neuen Vorstandsvorsitzenden einzufordern. 38  Dieser geraffte Überblick folgt: Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaft seit 1945, München 2004.

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Charakter und blieben im Kollektivgedächtnis der Bundesrepublik als „Erinnerungsorte der Ölkrise“ nachhaltig präsent. Die Konjunktur kühlte sich spürbar und schnell ab. Zu Beginn der 1970er Jahre verzeichnete das Bruttoinlandsprodukt Steigerungsraten von über drei Prozentpunkten. 1973 stieg dieser Indikator im Zeichen der Hochkonjunktur auf 4,6%. Nach Beginn der Energiekrise vermeldeten die Statistiker für diese Größe im Jahr 1974 noch knapp 0,5% und für 1975 gar die negative Marke von –2,7%. Dieser starke und abrupte Rückgang der ökonomischen Entwicklung zeigte sich auch in einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit. War nach der Rezession 1966/67 die Arbeitslosenquote wieder bis auf 0,55% (1970) gesunken, erhöhte sie sich bis 1972 unter dem Eindruck der sich überhitzenden Konjunktur auf knapp 1% und überschritt 1975 die bis dahin unvorstellbare Marke von 4%. Nach dem nur kurzen und insgesamt glimpflich verlaufenden Einschnitt durch die Rezession 1966/67 zeigten diese Zeichen, dass die Zeiten des scheinbar dauerhaft alle ökonomischen Gesetze außer Kraft setzenden „Wirtschaftswunders“ der Nachkriegszeit nunmehr endgültig vorbei waren und eine neue durch Unruhe und Krisen geprägte Phase angebrochen war. Die Automobilindustrie in der Ölkrise 1973/7439 Nach dem konjunkturellen Einbruch 1966/67 konnte die deutsche Auto­ mobilindustrie zunächst unter den wieder günstigen gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen erneut an die bisherige erfolgreiche Entwicklung anknüpfen. Erst der Streik um Lohnerhöhungen in der Baden-Württembergischen Metallindustrie im November/Dezember 1971, in dessen Folge auch Lieferketten der Automobilindustrie abrissen und die Produktion stocken ließen, bremste diese Entwicklung. Mit den Lohn- und Preiserhöhungen im Gefolge der steigenden Inflation sanken auch die Erträge der Automobilindustrie, da die Kostensteigerungen nicht in vollem Umfang über Preissteigerungen an die Kunden weitergegeben werden konnten. Trotz dieser Entwicklungen hatte das Jahr 1973 für die bundesdeutsche Automobilindustrie erfolgreich begonnen. Zwar bremsten die stabilitätspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung ab dem Frühsommer 1973 die Inlandsnachfrage, doch kompensierten die weiterhin wachsenden Exportzahlen diese Entwicklung weitgehend. Als Folge der gedrosselten Ölförderung fielen ab November 1973 die Inlandszulassungen weiter deutlich zurück. Ab Mitte 1974 konnten die nun unter den politischen und ökonomischen Eindrücken ebenfalls deutlich nachlassenden Aufträge aus dem Ausland die weiteren Rückgänge im Heimatmarkt nicht mehr ausgleichen. Im Verband der

39  Ebd. sowie Wirtschafts- und Lageberichte in den BMW Geschäftsberichten für die Jahre 1971 bis 1977.

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Deutschen Automobilhersteller (VDA) machte sich angesichts dieser Lage eine „geradezu erschütternd schlechte Stimmung bei allen Herstellern“ breit, die von einer „äußerst pessimistischen Beurteilung der weiteren Entwicklung in der Automobilindustrie“ begleitet wurde.40 Die Lage verschärfte sich zusätzlich, als im Verlauf des zweiten Halbjahres 1974 die Aufträge aus dem Ausland noch einmal überraschend deutlich einbrachen. Die Branche rea­ gierte mit Kosteneinsparungen und schließlich auch Personalabbau. So waren in der deutschen Automobilindustrie im Jahresdurchschnitt 1974 85 000 Mitarbeiter in Kurzarbeit beschäftigt und der Personalstand aller Hersteller sank um 8% auf 580 000 Beschäftigte. Im Januar 1975 erhöhte sich die Anzahl der Kurzarbeiter in der Automobilindustrie noch weiter auf 200 000 und umfasste mithin etwa ein Drittel ihrer Beschäftigten. Ab der Jahresmitte 1975 zeichnete sich eine Belebung der Nachfrage ab, zunächst getrieben durch die Inlandsaufträge, ab Oktober 1975 auch durch eine anziehende Konjunktur in den USA. Die sich dadurch leicht entspannende Lage nutzten die Hersteller zunächst zum Abbau der in den zurückliegenden Monaten aufgebauten Lagerbestände. Zug um Zug konnte die Produktion in den Werken der deutschen Hersteller wieder hochgefahren werden, so dass die kurzarbeitenden Mitarbeiter in der Automobilindustrie bis Mitte des Jahres wieder voll beschäftigt waren. Ein ähnlich starker Konjunkturaufschwung wie nach der Rezession 1966/67 sollte sich nach dem Wirtschaftsabschwung in Folge der Ölkrise 1973/74 jedoch nicht erneut einstellen. Zwar zeigte sich ein allmähliches ökonomisches Wachstum, doch blieben große Sprünge nach oben aus. Die Wirtschaft klagte über die weiterhin starken Lohn- und Kostensteigerungen, die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie im internationalen Maßstab bedrohten. Der schrumpfende Weltmarktanteil der deutschen Auto­ mobilindustrie (Anfang der 1960er Jahre: ca. 15%, 1973: 12%; 1974: 11%) und der in diesen Jahren schier übermächtig wirkende Expansionsdrang der japanischen Hersteller ließen düstere Zukunftsszenarien aufkeimen. Doch zeigte die weitere Entwicklung, dass im folgenden Jahrzehnt eher von einer temporären Stagnation oder einem gedämpften Anstieg die Rede sein musste. Dies belegte die Entwicklung der Produktionszahlen für die deutsche Automobilindustrie. Oszillierten sie bis 1985 in einem engen Korridor von etwa 3,7 bis 3,9 Millionen Einheiten – und blieben damit auf dem bereits 1971 erreichten Niveau – konnte die deutsche Automobilindustrie nach der dann ausgestandenen „zweiten Ölkrise“ Anfang der 1980er Jahre ihre Produktionsvolumina wieder deutlich steigern.

40 

So der Bericht des BMW Vorstandsvorsitzenden Eberhard von Kuenheim von der Stimmungslage bei einer VDA-Sitzung, Protokoll der Vorstandssitzung 23/74, 25. 06. 1974 (TOP 1), S. 7, in: BMW UA 852/1.

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Die Bayerischen Motoren Werke in der Ölkrise 1973/74 1. Krisenverlauf Die Bayerischen Motoren Werke verzeichneten nach der Rezession 1966/67 eine außerordentliche Entwicklung. Bereits 1968 konnte erstmals die Umsatzgrenze von einer Milliarde DM überschritten werden. Bis 1972 verdoppelten sich die Erlöse auf mehr als 2,3 Milliarden DM. Getragen wurde dieses Wachstum durch die Modelle der kompakten „02er Reihe“, der größeren „Neuen Klasse“ sowie durch ein 1968 präsentiertes neues Programm in der Oberklasse, deren Modelle – anders als in den 1950er Jahren – einen markentypischen Charakter aufwiesen. Das Produktionsvolumen verdoppelte sich innerhalb von fünf Jahren von 87 618 Automobilen (1967) auf 182 858 (1972). Dieser beeindruckende Aufstieg wurde ab 1970 von einer auf wesentlichen Positionen neu besetzten Unternehmensleitung gestaltet. Zu Jahresbeginn 1970 war Eberhard von Kuenheim zum Vorstandsvorsitzenden berufen worden, 1971 verließ – nicht ganz geräuschlos – der Vertriebsvorstand Paul G. Hahnemann das Unternehmen und wurde durch Robert „Bob“ Anthony Lutz ersetzt. Schließlich übernahm in der zweiten Jahreshälfte Hans Koch das Produktionsressort von Wilhelm Hermann Gieschen, und ab Januar 1974 verantwortete Erich Haiber das Finanzressort. Somit vertraten zu Beginn der Ölkrise 1973/74 nur noch Karl Monz (Einkauf) und Bernhard Osswald (Entwicklung) im Vorstand die Managergeneration, die das Unternehmen durch die Rezession 1966/67 gesteuert hatte.41 Die Bayerischen Motoren Werke schienen zunächst von der durch die Konjunkturprogramme der Bundesregierung ausgelösten Dämpfung der Automobilnachfrage im Sommer 1973 weniger stark betroffen zu sein als die Konkurrenz. Zwar meldeten die BMW Handelsbetriebe im Juli 1973 rückläufige Auftragseingänge, was nach Meinung des Vorstandes jedoch noch keinen Anlass zur Besorgnis gab. Dennoch habe sich das Unternehmen darauf vorzubereiten, dass die aus den zurückliegenden Jahren gewohnte „Übernachfrage nach BMW-Modellen und damit die Zeit der leichten Verkäuflichkeit“ wohl vorüber seien.42 Über den Sommer 1973 schien BMW weiterhin von der rückläufigen Entwicklung auf dem Inlandsmarkt in weit geringerem Ausmaß betroffen zu sein als die Konkurrenz. Zu diesem Zeitpunkt glich die unverändert hohe Nachfrage aus dem Ausland die Risiken der zunächst als „unsicher“ bezeichneten Marktlage in Deutschland weitgehend aus.43 Das Ölembargo der OPEC nach dem Jom-Kippur-Krieg ließ diese Zuversicht je41  Kurzbiographien der genannten Personen bei: Manfred Grunert / Florian Triebel: Das Unternehmen BMW seit 1916 (BMW Dimensionen 5), München 2006, S. 512–517. 42  Protokoll der Vorstandssitzung 17/73, 03. 07. 1973 (TOP 2), S. 2–3, in: BMW UA 851/1. 43  Protokoll der Vorstandssitzung 20/73, 13. 08. 1973 (TOP 3), S. 6, in: BMW UA 851/1.

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doch schnell schwinden. Der hieraus resultierende Einbruch auf den Exportmärkten kam jedoch zu spät, um das Jahresergebnis 1973 noch wirksam zu beeinflussen. Getragen durch die absatzstarken ersten Monate gelang es den Bayerischen Motoren Werken für das Gesamtjahr 1973 noch positive Zahlen zu verbuchen: Die Produktion wuchs um 8% auf 197 524 Automobile, während der Absatz um 5% auf insgesamt 194 526 verkaufte BMW Wagen stieg. Die den Absatz übersteigende Produktion sorgte gegen Jahresende für eine erste Erhöhung der Werkslager auf etwa 10 000 Automobile, die zu diesem Zeitpunkt für sich betrachtet als noch nicht kritisch bewertet wurde. In den Lagern der Märkte befanden sich jedoch zum Jahresende zusätzlich etwa 30 000 Neuwagen. Dadurch betrug das Gesamtlager an Neufahrzeugen in etwa das Doppelte dessen, was als „normaler Lagerbestand“ angenommen wurde – ein deutliches Signal für die abflauende Markttendenz. Während sich im Inland die Lager seit Sommer sukzessive gefüllt hatten, bauten sich in den Exportmärkten erst in den letzten Monaten des Jahres 1973 die Bestände in nennenswertem Maße auf. Dabei überflügelte 1973 erstmals in der Geschichte des Unternehmens mit 98 526 Einheiten das ins Ausland verkaufte Volumen knapp die Inlandsverkäufe (96 116). Der Gesamtumsatz der Bayerischen Motoren Werke wuchs für 1973 auf insgesamt 2,607 Milliarden DM und wies gegenüber 1972 ein Umsatzplus von 12% aus. Wegen der niedrigeren Margen im überproportional gewachsenen Exportgeschäft blieb jedoch der Anteil des Auslandsumsatzes mit 1,198 Milliarden  DM hinter den Er­ lösen aus dem Inlandsverkauf mit 1,409 Milliarden DM zurück. Die sich ­abzeichnende Verschiebung des Schwerpunktes zum Auslandsgeschäft ging folglich mit niedrigeren Margen und einer sinkenden Unternehmensrendite einher.44 In den ersten Monaten des Jahres 1974 war im Inland und auf den wichtigsten Auslandsmärkten keine entscheidende Verbesserung zu verzeichnen. Anders als Daimler-Benz konnte BMW nicht auf ein gut gefülltes Auftragspolster zurückgreifen, sondern musste in der Krise situativ und marktnah agieren.45 Bereits im Mai 1974 beschäftigte sich der Vorstand eingehend mit der sich durch die Entwicklung drastisch verschlechternden Ertragsentwicklung und Liquidität des Unternehmens, die inzwischen als „überaus besorgniserregend“ betrachtet wurde. Die wesentlichen Ursachen hierfür waren die geringeren Margen aus dem vergleichsweise nach wie vor starken Exportgeschäft, der höhere „Verkaufsaufwand“ zur Absatzförderung, die gestiegenen Kosten für Material und Personal sowie die Bereitschaftskosten für das sich 44  Protokoll der Vorstandssitzung 1/74, 09. 01. 1974.(TOP 1), S. 2, in: BMW UA 852/1. Die Zahlen nach: Bayerische Motoren Werke Aktiengesellschaft München, Geschäftsbericht 1973; eigene Berechnungen. 45  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 34/73, 20. 12. 1973 (TOP 1), S. 3, in: BMW UA 851/1 sowie Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 07. 03. 1974 (TOP 2), S. 4, in: BMW UA 1271/1.

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zu diesem Zeitpunkt noch in der Anlaufphase befindliche neue Werk in Dingolfing.46 Neben der Lage des Unternehmens selbst bereitete zunehmend auch die gefährdete Situation wichtiger Händler Sorgen, die wegen der schleppenden Nachfrage, den hohen monetären „Verkaufsaufwänden“ und durch die Kosten der hohen Lagerbestände sukzessive in existentielle Bedrängnisse gerieten.47 Mitte des Jahres 1974 rechnete der Vorstand bereits mit einem Gesamtlagerbestand (Werk, Importeure und Händler) von 50 000 Einheiten, der „nicht weiter ausgedehnt werden kann, ohne daß Liquiditätsschwierigkeiten“ bei einer Mehrzahl der Handelsbetriebe entstünden.48 In den Werkslagern Freimann und Dingolfing begann indes Ende des Jahres 1974 der Platz knapp zu werden.49 Doch angesichts der düsteren Gesamtlage schnitt BMW im Vergleich mit der Situation der deutschen Automobilbranche weiterhin verhältnismäßig gut ab. Musste die deutsche Automobilindustrie 1974 Einbußen von knapp 20% hinnehmen, verringerte sich die BMW Produktion lediglich um 5% auf 184 330 Automobile. Die Umsatzwerte im Automobilgeschäft gingen wegen des überproportionalen Rückgangs von ertragsstarken Modellen der großen Baureihe sowie der nachlassenden Verkaufszahlen im für BMW bis dahin traditionell entscheidenden und margenstarken Inlandsmarkt deutlicher zurück und verloren gegenüber dem Vorjahr knapp 8%. Durch das Motorradgeschäft und hohe Umsätze im Ersatzteilgeschäft rechnete sich der Gesamtumsatz auf 2,492 Milliarden DM, was in der Konzernbetrachtung zu einem Rückgang von nur noch 4,5% führte. Hierdurch konnte das Unternehmen 1974 mit 800 000 DM noch ein sehr kleines – und nur angesichts der düsteren Gesamtlage der Branche zufriedenstellendes – Ergebnis nach Steuern erwirtschaften.50 Bereits im Spätherbst zeichnete sich eine Besserung der Lage für die Bayerischen Motoren Werke ab, was sich ab Februar 1975 auch in den Vertriebszahlen niederzuschlagen begann. Die Auftrags- und Absatzsituation stellte sich zu diesem Zeitpunkt bereits besser dar als zu Beginn des Jahres angenommen.51 Angesichts der guten Prognosen hob der Vorstand die Produk­ tionsplanung für das laufende Jahr im Frühjahr mehrmals an, im Mai bereits auf 216.00 Einheiten mit einem Verkaufsziel von 219 400 Automobilen.52 Neben den neu produzierten Fahrzeugen flossen nunmehr auch verstärkt die Fahrzeuge aus den Lagerbeständen ab. Die gute Lage hielt an und Anfang 46  Protokoll der Vorstandssitzung 18A/74, 20. 05. 1975 (TOP 1), S. 2, in: BMW UA 852/1. 47  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 07. 03. 1974, S. 19, in: BMW UA 1271/1. 48  Protokoll der Vorstandssitzung 34/74 (Top 2), S. 4, in: BMW UA 852/1. 49  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 42/74 (TOP 4), S. 7, in: BMW UA 852/1. 50  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 10/75 (TOP 4), S. 5, in: BMW UA 1333/1. 51  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 3/75 (TOP 2), S. 2, in: BMW UA 1333/1. 52  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 15/75(Top 5), S. 9–10, in: BMW UA 1333/1.

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Juni zeichneten sich gar erste Engpässe bei der Belieferung der Märkte ab. Die Händlerlager in Deutschland verfügten jetzt nur noch über knapp 8 000 Fahrzeuge, was laut Vorstandsprotokoll „als nicht mehr ausreichend sortiert angesehen werden“ müsse. Insbesondere für die Sommermonate, in denen wegen des Werksurlaubs nur ein geringer Zufluss für die Läger zu erwarten war, schien die Situation brisant und die Absatzziele der kommenden Monate gefährdet.53 Tatsächlich führte der Vorstand die sich ein wenig unterhalb der Planungen befindlichen Absatzzahlen im September 1975 nicht nur auf die sich etwas abschwächende Markttendenz und eine zum Herbst vorgenommene Preiserhöhung zurück, sondern „außerdem tragen die verlängerten Lieferzeiten zu einer Dämpfung des Auftragseingangs bei.“54 Somit musste die Unternehmenssteuerung innerhalb eines Kalenderjahres von einer depressiven Marktsituation auf einen stark wirkenden Aufschwung umgestellt werden. Rückblickend konnte der Vorstand im Mai 1976 dem Aufsichtsrat berichten: „1975 war ein Jahr der Kontraste mit einem letztlich positiven Verlauf nach einem ausgesprochen schwachen Beginn.“55 Dieser „letztlich positive Verlauf“ manifestierte sich in der Produktion von 221 298 BMW Automobilen, was einer Steigerung von 17% gegenüber dem Vorjahr entsprach. Der Absatz schloss bei 226 688 Fahrzeugen, wobei das Inland mit 120 553 verkauften Einheiten und einem Plus von 40,8% gegenüber dem Vorjahr stärker beitrug als die Exportmärkte, in die BMW 106 135 Automobile und damit 7,5% mehr als 1974 lieferte. Dies resultierte in einem Gesamtumsatz von 3,254 Milliarden DM, was einer Mehrung von 30,6% gegenüber dem Vorjahr entsprach. Befriedigt konstatierte der Vorstand daher im Rahmen der langfristigen Unternehmensplanung 1976 bis 1981: „Nachdem die letzte Langfristplanung vom Dezember 1974 stark unter dem Eindruck des Einbruchs in der Automobilkonjunktur sowie der allgemeinen Unsicherheit hinsichtlich der weiteren Entwicklung in der Automobilbranche gestanden hatte, ist für BMW mit dem bisherigen Verlauf des Jahres 1975 der Anschluß an die mehrjährige Entwicklung des Unternehmens wieder hergestellt.“56

2. Krisenwahrnehmung Bis in den Herbst 1973 hinein verzeichneten die Protokolle der Vorstandssitzungen jeweils nach Vorlage der Zahlen einen kursorischen „Monatsbericht“ mit starkem Schwerpunkt auf die BMW Absatzentwicklung. Nach Beginn des OPEC Öl-Embargos und der sich dadurch abzeichnenden weltweiten 53  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 16/75, 03. 06. 1975 (TOP 2), S. 3, in: BMW UA 1333/1. 54  Protokoll der Vorstandssitzung 25/75, 23. 09. 1975 (TOP 2), S. 1, in: BMW UA 1333/1. 55  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 20. 05. 1976 (TOP 3), S. 1, in: BMW UA 1539/1. 56  Protokoll der Vorstandssitzung 25/75, 23. 09. 1975 (TOP 6), S. 6, in: BMW UA 1333/1.

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Konjunkturabschwächung enthielten die Protokolle, beginnend mit dem 21. November 1973, jeweils einen detaillierten Bericht „zur Lage“. Dieser in der Regel zu Beginn jeder Sitzung behandelte Tagesordnungspunkt umfasste nun nicht mehr lediglich die eigene Absatzentwicklung, sondern auch wei­ tere Reporte aus dem Unternehmen sowie Kurzberichte zur „allgemeinen wirtschaftlichen Lage“ und zur Situation der Branche.57 Im November 1973 stellte sich die Gesamtsituation für den Vorstand so unübersichtlich dar, dass er zur Verkaufssituation protokollieren ließ, „bis auf weiteres [könne] nur mit Annahmen gearbeitet werden“, da für Prognosen jegliche belastbare ­Basis fehle.58 Die „Unübersichtlichkeit“ der Situation resultierte jedoch auch aus den bislang schleppend eingehenden und unvollständigen Auskünften der Märkte zur aktuellen Absatzsituation. Deshalb forderte der Vorstand zu Jahresbeginn 1974 eine „Verbesserung der Berichterstattung“, um die Absatz- und Umsatzentwicklung besser beurteilen zu können. Zwar war ein neues „Vertriebsinformations-System“ in Arbeit, doch benötige die Unternehmensleitung angesichts der sich laufend verschlechternden Lage nun jede Woche aktuelle und aussagekräftige Werte und Hochrechnungen über die ­jeweilige Situation auf den Hauptabsatzmärkten.59 Zudem tagte in den diffizileren Phasen der Krise der Vorstand in kurzen Abständen; so fanden im Zeitraum vom 9. Januar 1974 bis 5. Februar 1974 allein sieben Sitzungen des Gremiums statt, deren Protokolle insgesamt über 90 Seiten umfassten.60 Am 31. Mai 1974 fand zudem eine Sondersitzung des Vorstandes statt, dessen einziger Tagesordnungspunkt die „zunehmende Verschlechterung der Situation in der Automobilindustrie und von BMW“ behandelte.61 In der Folge ließ sich der Vorstand wöchentlich den Stand der beschlossenen „Maßnahmen aufgrund der Lagebeurteilung“ berichten.62 57  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 30/73, 21. 11. 1973 (TOP 1), S. 2–4, in: BMW UA 851/1 sowie die Protokolle aller folgenden Sitzungen des Jahres 1973, sowie 1974 (BMW UA 852/1) und 1975 (BMW UA 1333/1). Diese Praxis wurde auch nach Überwindung der Krise nach 1975 beibehalten, doch ließ die Detaillierung der Berichte wieder nach, vgl. Protokolle der Vorstandssitzungen 1976 (BMW UA 144671), 1977 (BMW UA 1456/1) sowie 1978 (BMW UA 1458/1). 58  Protokoll der Vorstandssitzung 31/73, 28. 11. 1973 (TOP 1), S. 5, in: BMW UA 851/1. 59  Protokoll der Vorstandssitzung 4/74, 22. 01. 1974 (TOP 1), S. 2, in: BMW UA 852/1. Anfang 1975 erweiterte der Vorstand die Beauftragung für das Vertriebs-Informationssystem. Demnach sollte die volle Funktionalität des Systems nicht nur für den deutschen Markt, sondern für die wichtigsten Exportmärkte zur Verfügung stehen und neben dem bisherigen Ansatz, nur die Fakturierung der Fahrzeuge zu berichten (Retail), auch Informationen zum Werkslager und den Beständen der Importeure und Vertriebsgesellschaften (Wholesale) enthalten; vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 5/75, 19. 02. 1975 (TOP 13), S. 16, in: BMW UA 1333/1. 60  Vgl. Protokolle der Vorstandssitzungen 1/74, 09. 01. 1974 bis 7/74, 5. 2. 1974, in: BMW UA 852/1. 61  Protokoll der Vorstandssitzung 20/74, 31. 05. 1974, S. 2–3, in: BWM UA 852/1. 62  Protokoll der Vorstandssitzung 21/74, 05. 06. 1974 (TOP 3), S. 7–10 sowie die Protokolle der folgenden Vorstandssitzungen des Jahres 1974, in: BMW UA 852/1.

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Einen vergleichbaren Verlauf nahm die Wahrnehmung der Entwicklungen im Aufsichtsrat. Bis September 1973 erfolgte sie lediglich in einem „allgemeinen Bericht“ zur Geschäftslage, der in einzelnen Fällen kurz die Branchenentwicklung streifte. Ab der Sitzung des Aufsichtsrats im Dezember 1973 ließ sich das Kontrollgremium ausführlicher informieren, ab März 1974 in einem detaillierten Bericht des Vorstandsvorsitzenden Eberhard von Kuenheim über die allgemeine wirtschaftliche Lage, die Situation auf dem Automobilmarkt und schließlich zur Lage des Unternehmens selbst.63 Das Bewusstsein für die „außerordentliche Situation“ der Branche und der Bayerischen Motoren Werke unterstrich auch der protokollierte Appell des Aufsichtsratsvorsitzenden Rolf Draeger vor Eintritt in die Tagesordnung zur Sitzung des Gremiums am 13. Dezember 1973, in dem er laut Protokoll „in eindringlichen Worten“ die Bitte an die Sitzungsteilnehmer richtete, „jetzt ganz besonders vertrauensvoll zusammenzuarbeiten, um mit den durch die Absatzkrise hervorgerufenen Schwierigkeiten fertig zu werden.“64 Auch in den offiziellen Publikationen der Bayerischen Motoren Werke war die zunehmend intensiver werdende Wahrnehmung der Krise ablesbar. Im Geschäftsbericht 1973 war noch von einem „starken Rückgang der Nachfrage“ zu lesen, der Ende des Jahres 1973 eingesetzt hatte. Ein Jahr später stand zwar weiterhin der „starke Konjunkturrückgang“ im Bericht, dieser sei jedoch von der „Energiekrise“ mit verursacht worden. Damit fand der Krisenbegriff in die offizielle Sprache des Unternehmens. Mit ihm dramatisierte sich auch die gesamte Wortwahl des Berichts: Die Exporte der deutschen Wirtschaft seien in der zweiten Jahreshälfte 1974 „schlagartig“ zurückgegangen, wodurch das Jahr für die Automobilbranche „zum schwierigsten Geschäftsjahr seit Jahrzehnten“ geworden sei; für die Zukunft könne nur ein befriedigendes Ergebnis prognostiziert werden, wenn „keine weltwirtschaftlichen Krisen“ einträten. In den Berichten 1975 und 1976 war hingegen rückblickend wieder weniger dramatisch von „der schweren Rezession der Jahre 1974/75“, dem „Konjunktureinbruch“, der „Weltrezession“ oder der „allgemeinen rezessiven Wirtschaftsentwicklung“ zu lesen.65 Somit normalisierte sich mit der wieder ansteigenden Wirtschaftsentwicklung auch die offizielle Sprachregelung des Unternehmens. Dennoch schlug sich die Ölkrise somit nicht nur in veränderten Verhaltensweisen in den Gremien der Unterneh63 

Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 13. 12. 1973, S. 4–9, in: BMW UA 856/1 sowie Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 07. 03. 1974, S. 8–16, in: BMW UA 1271/1. 64  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 13. 12. 1973, S. 3, in: BMW UA 856/1. 65  Bayerische Motoren Werke Aktiengesellschaft, München. Geschäftsbericht 1973, S. 8–9; Bayerische Motoren Werke Aktiengesellschaft, München. Bericht über das Geschäftsjahr 1974, S. 8–9; Bayerische Motoren Werke Aktiengesellschaft, München. Bericht über das Geschäftsjahr 1975, S. 8–9; Bayerische Motoren Werke Aktiengesellschaft, München. Bericht über das Geschäftsjahr 1976, S. 4–5.

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mensleitung, sondern auch in den offiziellen Verlautbarungen des Unternehmens nieder. 3. Maßnahmen zur Krisenbewältigung Die sich ab Spätherbst 1973 rapide verschlechternde Situation auf den Automobilmärkten veranlasste die Unternehmensleitung der Bayerischen Motoren Werke, rasch eine Reihe operativer Maßnahmen zur Minimierung der Krisenauswirkungen einzuleiten. Unter Leitung des Finanzvorstandes Erich Haiber durchforsteten ab Jahresbeginn 1974 die Controlling-Fachstellen das Unternehmen nach vermeidbaren Kosten. Haiber berichtete seit Mitte 1974 im Vorstand wöchentlich, meist jeweils nach dem „Bericht zur Lage“, über den „Stand der Maßnahmenaktion“. Als sich die Krisensymptome im Frühjahr 1974 verschärften, wurde Haiber auf der bereits erwähnten Sondersitzung des Vorstandes am 31. Mai 1974 beauftragt, auf Basis der vorhandenen Informationen alternative Planungsszenarien und weitergehende Anpassungs­Maßnahmen erarbeiten zu lassen.66 Allerdings kam die in diesem Rahmen vorgesehene Zusammenfassung von Funktionen und Abteilungen nicht recht voran. Aus diesem Grund beschloss der Vorstand nach überstandender Krise im April 1975 eine „zentrale Organisationsabteilung“ mit allen erforderlichen Kompetenzen und Befugnissen zu schaffen, um die durch die Analysen offen gelegten redundanten Strukturen und organisatorischen Doppelungen aufzulösen. In diesem Zusammenhang war diese Abteilung auch beauftragt, Vorschläge zur Vereinfachung und Automatisierung von Prozessen und Abläufen zu erarbeiten. Bei den Rationalisierungsvorschlägen sollte das Haupt­ augenmerk nicht allein auf Produktentwicklung und Produktion liegen, sondern ausdrücklich auch die Abläufe und Systeme in den Verwaltungsbereichen in die Untersuchung einbeziehen.67 Ferner beschloss der Vorstand, eine „Wertanalyse“ innerhalb der Produktentwicklung auf- und auszubauen, um die Stellhebel für Kostensenkungen in der Fahrzeugentwicklung transparent werden zu lassen.68 Dessen ungeachtet konnte das Unternehmen durch die „Maßnahmenak­ tion“ bei der Reduzierung der Kostenstruktur einige Fortschritte erzielen. Doch konstatierte der Vorstand im November 1974 anlässlich der Präsenta­ tion des „Überarbeiteten Budgets“ für das Jahr 1975, dass bezüglich der Einsparungen nunmehr „in nahezu allen Bereichen die Grenze des Möglichen“ 66  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 20/74, 31. 05. 1974, S. 2–3, in: BMW UA 852/1. 67  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 11/75, 08. 04. 1975 (TOP 3), S. 5 sowie Protokoll der Vorstandssitzung 17/75, 16. 06. 1975 (TOP 2), S. 3–4, beide in: BMW UA 1333/1. Der Beschluss wurde nach dem ersten Bericht der zunächst eingesetzten Arbeitsgruppe im Juli 1975 noch einmal bekräftigt und konkretisiert; vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 21/75, 22. 07. 1975 (TOP 7), S. 4–5, in: BMW UA 1333/1. 68  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 2/75, 28. 01. 1975 (TOP 4), S. 5–7 sowie 12/75, 22. 04. 1975 (TOP 2), S. 10, beide in: BMW UA 1333/1.

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erreicht sei und dass bei „weiteren Einsparungen die Potenz des Unter­ nehmens zu sehr geschwächt“ werde und „nur schwer reparable Schäden für die mittelfristige Zukunft befürchtet werden“ müssten.69 Konkret wurde dies bei der Vorlage des Marketing-Etats Anfang Dezember 1974 noch einmal ­bestätigt.70 Damit waren zwei Grundsätze tangiert, die sich der Vorstand zu einem frühen Zeitpunkt der Ölkrise für sein Handeln aufgestellt hatte: Größtmögliche Flexibilität und Anschlussfähigkeit an die mittelfristige Entwicklung. Bereits im November 1973 stellte der Vorstand Einvernehmen darüber her, dass die Möglichkeit zu flexiblem Handeln in der sich abzeichnenden Absatzkrise für das Unternehmen entscheidend sein würde. Es galt, alle Strukturen und insbesondere die Fertigung in diesem Sinne so auszugestalten, dass allen Unwägbarkeiten der unruhigen Marktsituation situativ und adäquat ­begegnet werden konnte.71 Aus diesem Grund genehmigte der Vorstand ab ­Januar 1974 die Programmfestlegungen für die Produktion nur noch für die kurze Frist von jeweils drei Monaten.72 In der Folge wurden immer wieder Volumen je nach Lage auf den einzelnen Märkten flexibel verschoben und die Produktion situativ angehoben oder reduziert. Dieses marktnahe und anpassungsfähige Agieren hatte jedoch auch seinen Preis. Im Dezember 1974 berichteten die Vorstände für Produktion (Hans Koch) sowie Einkauf und Materialwirtschaft (Karl Monz), welche Schwierigkeiten diese Vorgehensweise für ihre Ressorts bewirkte. Die insgesamt 18 Änderungen des Fertigungsprogramms im abgelaufenen Jahr hätten eine Reihe von Mehrkosten und Mehrarbeiten in der Disposition und Fertigungssteuerung, bei der kurzfristigen Materialbeschaffung sowie der Lagerung von Vorräten und Halbfertigerzeugnissen zur Folge gehabt. Der Vorstand beschloss daraufhin eine Reihe von Änderungen für die Festlegung der Programmgestaltung, welche die betriebswirtschaftliche Seite stärker berücksichtigten und jeweils die Zustimmung des Gesamtvorstandes vorsahen.73 Dennoch blieb der Grundsatz bestehen, dass „bei Kostenneutralität die flexibelste Lösung gewählt“ werden sollte.74 Nach überstandener Krise bestätigte der Vorstand noch einmal rückblickend das Vorgehen: Es sei „in den absatzschwächeren

69  Protokoll der Vorstandssitzung 46/74, 19. 11. 1974 (TOP 3), S. 5–6, in: BMW UA 852/1. 70  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 47/74, 26. 11. 1974 (TOP 3), S. 7–8, in: BMW UA 852/1. 71  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 31/73, 28. 11. 1973 (TOP 2), S. 6, in: BMW UA 851/1. 72  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 1/74, 09. 01. 1974 (TOP 4), S. 7–8, in: BMW UA 852/1. 73  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 48/74, 09. 12. 1974 (TOP 8), S. 9–10, in: BMW UA 852/1. 74  Protokoll der Vorstandssitzung 49/74, 17. 12. 1974 (TOP 3), S. 5, in: BMW UA 852/1.

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Monaten“ wichtig und richtig gewesen, „sich den Markterfordernissen“ flexibel anzupassen und teilweise auch zu improvisieren. Doch erschien es in nun ruhigeren Fahrwassern „aus Kostengründen erforderlich, die Zahl der Fertigungsprogramme“ und Produktionsänderungen „auf ein Minimum zu beschränken“, damit die Disposition „mit einem hohen Maß von Regelmäßigkeit und Ruhe“ und damit auch mit einer geringeren Fehlerhäufigkeit durchgeführt werden könne.75 Dennoch war sich der Vorstand ebenfalls darin einig, dass durch die operativen Maßnahmen zur Krisenbewältigung die verabschiedeten langfristigen Planungen nicht gefährdet werden durften – auch unter Inkaufnahme einer kurzfristig niedrigeren Ertrags- und Profitabilitätssituation des Unternehmens.76 In den Protokollen der Vorstandssitzungen tauchte dieser Grundsatz regelmäßig unter der Chiffre „Anschlußfähigkeit an die langfristige Entwicklung“ auf.77 Dem Aufsichtsrat gegenüber vertrat der Vorstandsvorsitzende von Kuenheim diesen Grundsatz wie folgt: „Die allgemeinen Erwartungen für 1974 und die zusätzliche Unsicherheit würden es naheliegen lassen, für 1974 eine Anpassung des Produktionsvolumens nach unten in Erwägung zu ziehen. Die Politik von BMW kann sich jedoch nicht ausschließlich an 1974 orientieren. Entscheidend für die Ziele und Aufgaben im Jahre 1974 sind die Erwartungen für 1975 und die Folgejahre.“78

Unter dieser Maßgabe blieben wichtige laufende, aber kostenintensive Projekte zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit des Unternehmens von den Maßnahmen zur Kostenreduzierung weitestgehend ausgenommen. Hierzu gehörten unter anderem der Anlauf des neuen Werks in Dingolfing, der Aufbau der ersten Vertriebsgesellschaften in Frankreich, Belgien und Italien sowie die Implementierung des Auslandsengagements der BMW Kredit Bank. Der erst im März 1971 gegründeten BMW Kredit Bank oblag ferner die für das operative Krisenmanagement essentielle Aufgabe, die wegen der Absatzstockungen und der sich auftürmenden Lagerbestände in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Handelsbetriebe zu stützen.79 Dies geschah nicht nur aus Fürsorge und Loyalität gegenüber langjährigen Partnern, sondern auch zur Absicherung des Händlernetzes im Rahmen der langfristigen Vertriebsplanung. Der ursprünglich einvernehmlich gefasste Grundsatz, beim Krisenmanagement die langfristigen strategischen Ziele nicht aus den Augen zu verlieren, 75 

Protokoll der Vorstandssitzung 25/75, 23. 09. 1975 (TOP 2), S. 4), in: BMW UA 1333/1. 76  Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 07. 03. 1974, S. 15–16, in: BMW UA 1271/1. 77  Das erste Mal Ende November 1973. Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 31/73, 28. 11. 1973 (TOP 2), S. 6, in: BMW UA 851/1. 78  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 07. 03. 1974, S. 13, in: BMW UA 1271/1. 79  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 19/74, 28. 05. 1974 (TOP 4), S. 8, in: BMW UA 852/1.

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wurde allerdings auf dem Höhepunkt der Ölkrise von einem Teil des Vorstands im Frühsommer 1974 in Frage gestellt. Angesichts der sich verschärfenden Situation im Juni 1974 kündigte der Vertriebsvorstand Bob Lutz in Abwesenheit des Vorstandsvorsitzenden Eberhard von Kuenheim diesen Konsens auf. Angesichts der zu diesem Zeitpunkt aussichtslos erscheinenden Marktlage verlangte er eine deutliche Reduktion des Vertriebsziels für das laufende Jahr sowie für das Budget 1975, verbunden mit einer kurzfristig wirkenden Absenkung der Produk­tionskapazitäten. Dies hätte wegen des damit verbundenen Personalabbaus die „Anschlussfähigkeit an die langfris­ tige Entwicklung“ gefährdet.80 Lutz’ Vorstoß führte im weiteren Verlauf ­offenbar zu einem – in den Unterlagen nicht dokumentierten – Konflikt zwischen Lutz und dem Vorstandsvorsitzenden von Kuenheim, der die langfristige Perspektive für das Unternehmen auch in dieser Situation gewahrt sehen wollte und die ursprünglichen Vertriebsziele wieder in Kraft setzte. Daraufhin verließ Lutz im Sommer 1974 die Bayerischen Motoren Werke und übernahm die Leitung von Ford Europe in Köln. Im Herbst 1974 übernahm Hans-Erdmann Schönbeck seine Aufgaben als Vertriebsvorstand.81 Einige der im Krisenmanagement eingeleiteten Maßnahmen waren von vornherein darauf ausgelegt, auf beide grundsätzliche Zielsetzungen einzuzahlen: sowohl kurzfristig die Flexibilität zu erhalten als auch die Fähigkeit des Unternehmens zu wahren, an die langfristigen Wachstumspläne anschlussfähig zu bleiben. Hierzu gehörten die ab Ende 1973 eingeleiteten Maßnahmen zur Anpassung der Personalkapazitäten an die Marktgegebenheiten und zum Abbau der hohen Lagerbestände. Zwar wurde in diesem Zusammen­hang auf dem Höhepunkt der Ölkrise im Frühjahr 1974 über Entlassungen, auch größeren Stils, gesprochen, doch blieb es schließlich bei weniger radikalen Maßnahmen: Im Frühjahr 1974 und zum Jahreswechsel 1975 wurde in den Produktionsbereichen tageweise kurzgearbeitet; zudem galt die Festlegung, dass bei Fluktuationen die freiwerdenden Stellen zunächst nicht wieder besetzt werden durften und es wurde ein strikter Einstellungsstopp verfügt.82 Um die hieraus resultierenden Beeinträchtigungen für den plan­ mäßigen Aufbau der Fertigung im neuen Werk Dingolfing aufzufangen, versetzte die Fertigungsplanung im Herbst 1974 kurzerhand Mitarbeiter aus dem Überhang an Fertigungslöhnern im Werk München nach Dingolfing.83 Weitergehende Schritte wurden im Spannungsfeld zwischen der aktuellen 80  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 21/74, 05. 06. 1974 (TOP 2), S. 4–6, in: BMW UA 852/1. 81  Kurzbiographien der genannten Personen bei: Manfred Grunert / Florian Triebel: Das Unternehmen BMW seit 1916 (BMW Dimensionen 5), München 2006, S. 517– 519. 82  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 19/74, 28. 05. 1974 (TOP 4), S. 6–8, in: BMW UA 852/1. 83  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 35/74, 18. 09. 1974 (TOP 2), S. 4, in: BMW UA 852/1.

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Kostensituation und den langfristigen Planungen kritisch diskutiert. Im Rahmen der Behandlung der „Personalplanung 1975“ kam der Vorstand zu dem Schluss, „das Unternehmen [stehe] vor dem Zielkonflikt, daß kurzfristig eine Ergebnisverbesserung erreicht werden muß, daß auf der anderen Seite dadurch die Zukunftssicherung temporär gefährdet wird (z. B. termingerechte Entwicklung neuer Modelle)“. Vor diesem Hintergrund wurden weiterhin keine radikalen Personalmaßnahmen umgesetzt und Ausnahmeregelungen für die geltenden einschränkenden Festlegungen beschlossen.84 Zugleich wurden alle sich bietenden Möglichkeiten zur Erhöhung des Produktionsvolumens ausgeschöpft.85 Dies sollte nicht nur die Kosten- und Beschäftigungssituation entlasten, sondern stand auch für die „Anschlussfähigkeit an die langfristige Entwicklung“. So wurde frühzeitig der Anlauf der ersten BMW 3er Reihe um mehrere Monate auf Juni 1975 vorgezogen.86 Der Vorteil der gemäßigten Personalmaßnahmen erwies sich bereits in der Ausklingphase der Ölkrise im Frühjahr 1975. Angesichts der rapide wachsenden Nachfrage waren im März 1975 bereits die Produktionskapazitäten wieder nahezu ausgelastet. Um den weiterhin steigenden Anforderungen der Märkte gerecht werden zu können, wurden bereits zu diesem Zeitpunkt erste Son84  Protokoll der Vorstandssitzung 40/74, 22. 10. 1974 (TOP 2), S. 4–5, in: BMW UA 852/1 und vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 5/75, 19. 02. 1975 (TOP 1), S. 4–5, in: BMW UA 1333/1. 85  In diesem Zusammenhang ist die von Stefan Mauerer geäußerte Vermutung irreführend, die Bayerischen Motoren Werke hätten das Modell BMW 2002 turbo wegen der mangelnden Marktnachfrage – die aus einer Verkennung des „sozioökonomischen Umfelds“ bei der von Mauerer angenommenen „Höherpositionierung der Marke“ resultierte – eingestellt; vgl. Stefan Mauerer: Der Einfluß von Produktlinienerweiterungen auf Premium­automobilmarken. Wirtschaftsgeschichtliche und marketingwissenschaftliche Analysen (Diss.), Regensburg 2004, S. 148. In die Reihe von Ungenauigkeiten in der Arbeit gesellt sich seine Behauptung, das Spitzenmodell der BMW 02er Reihe sei mitten in „Wirtschaftsrezession, Sonntagsfahrverboten, hohen Kraftstoffpreisen“ vorgestellt worden. Richtig ist vielmehr, dass die Entwicklungsabteilungen seit 1971 am BMW 2002 turbo arbeiteten und das 170 PS starke Modell auf der IAA im September 1973, also noch vor Beginn der Ölkrise und der sich anschließenden gesellschaftlichen Debatten, präsentiert worden war und sich in den folgenden Monaten einer überaus hohen Nachfrage erfreute. Die Produktionseinstellung des BMW 2002 turbo nach relativ kurzer Laufzeit im Juni 1975 lässt sich somit keineswegs auf eine fehlende Marktnachfrage zurückführen. Im Gegenteil wurden auf den BMW 2002 turbo lautende Aufträge sukzessive in solche für das etwas leistungsschwächere Modell BMW 2002 tii umgewandelt, da der BMW 2002 turbo bei Weitem nicht technisch ausgereift war. Probleme im Antriebsstrang und mit der Abgasanlage ließen sich auch mittels großer Anstrengungen in Entwicklung und Versuch nicht abstellen und drohten somit, die Marke bzw. ihr Image zu beschädigen. Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 33/74, 10. 09. 1974 (TOP 8), S. 13; Protokoll der Vorstandssitzung 39/74, 15. 10. 1974 (TOP 10), S. 10–11; Protokoll der Vorstandssitzung 46/74, 19. 11. 1974 (TOP 7), S. 9, alle in: BMW UA 852/1. 86  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzungen 27/74, 16. 07. 1974 (TOP 3), S. 6–7, Protokoll der Vorstandssitzung 28/74, 23. 07. 1974 (TOP 4), S. 8–10, beide in: BMW UA 852/1 sowie Protokoll der Vorstandssitzung 1/75 (TOP 4), S. 6, in: BMW UA 1333/1.

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derschichten für die kommenden Monate eingeplant.87 Im Herbst 1975 zeichnete sich ab, dass der Absatz weiterhin über den geplanten Fertigungskapazitäten lag. Daher wurden im September 1975 der seit Ende 1973 geltende Einstellungsstopp wieder aufgehoben und bereits frühzeitig planerische Vorbereitungen und Verhandlungen mit dem Betriebsrat für weitere Sonderschichten im Frühjahr 1976 aufgenommen.88 Unter dem Eindruck der ungewohnt stark rückläufigen Verkaufszahlen diskutierte der Vorstand im Dezember 1973 die Ursachen für den Verkaufsrückgang. Er war sich darin einig, dass keine „spezifischen Absatzschwierigkeiten für BMW Fahrzeuge“ existierten, im Gegenteil die bekannte Qualität der Fahrzeuge sich eher „verkaufsfördernd als -hemmend“ auswirken würde. Allerdings lägen die mit der Marke BMW innig verbundenen Charakteristika „Sportlichkeit und Leistungsfähigkeit“ quer zu einigen gesamtgesellschaftlichen Debatten sowie wirtschafts- und verkehrspolitischen Maßnahmen. Eine radikale Änderung des Markenimages stand jedoch nicht zur Disposition. Der zu diesem Zeitpunkt noch amtierende Vertriebsvorstand Bob Lutz wies in diesem Zusammenhang explizit darauf hin, „daß eine Umformung des Images nur in einem langwierigen Prozeß mit kleinen Schritten möglich sei“89, wobei der Vorstand kurz darauf konstatierte, dass das BMW Image sehr stabil und profiliert sei und er deshalb eine „grundsätzliche Kursänderung“ in der Produktpolitik und im Erscheinungsbild ausschloss.90 Schon bei der Diskussion um operative Maßnahmen zur Absatzförderung wurden die Wirkungen auf die Marke und das Image bedacht. Im Zusammenhang mit Aktionen zur aktiven Verkaufsförderung wie Angeboten von Sonderausstattungspaketen oder „Anspornprogrammen für Verkäufer und Kunden“ wurde im Januar 1974 festgehalten, dass solcherlei zwar bei den Massenherstellern etabliert seien, doch sich für BMW die Frage stelle, „ob das BMW Image nicht darunter leiden würde.“91 Der Vorstand erachtete diese Art der Ab87 

Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 10/75, 27. 03. 1975 (TOP 3), S. 4, Protokoll der Vorstandssitzung 11/75, 08. 04. 1975 (TOP 2), S. 5, Protokoll der Vorstandssitzung 13/75, 30. 04. 1975 (TOP 1), S. 6–7, alle in: BMW UA 1333/1. 88  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 25/75, 23. 09. 1975 (TOP 11), S. 12 und Protokoll der Vorstandssitzung 32/75, 18. 11. 1975 (TOP 2), S. 1–2, beide in: BMW UA 1333/1. 89  Protokoll der Vorstandssitzung 34/73, 20. 12. 1973 (TOP 1), S. 3, in: BMW UA 851/1. Nachdem die Ölkrise im Herbst 1975 überwunden war, hob der neue Vertriebsvorstand Hans-Erdmann Schönbeck die Bedeutung des Motorsports für die Marke und ihr Image und die beiden zentralen Charakteristika Sportlichkeit und Leistungsfähigkeit heraus. In diesem Zusammenhang beschloss der Vorstand die Entwicklung eines Luxussportwagens als Basis für die Weiterführung des Tourenwagenengagements (der spätere ‚BMW M 1‘) sowie eines Formel-1-Triebwerks; vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 28a/75, 20. 10. 1975 (TOP 1), S: 1–4, in: BMW UA 1333/1. 90  Protokoll der erweiterten Vorstandssitzung 6/74, 06. 02. 1974 (TOP 1. 1), S. 7–8, in: BMW UA 852/1. 91  Protokoll der Vorstandssitzung 1/74, 09. 01. 1974 (TOP 5c), S. 11–12, in: BMW UA 852/1.

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satzstimulierung bereits im April 1974 für weitgehend ausgeschöpft, wenn nicht die langfristige Preispositionierung der Marke in Mitleidenschaft gezogen werden sollte. Einzig gezielte „Produktmaßnahmen“ böten noch gewisse Chancen, wobei in diesem Zusammenhang lediglich die Einführung eines preiswerten „Urlaubs-Modells (mit Schiebedach!)“ diskutiert wurde.92 Bereits Ende Januar 1974 behandelte eine Produktbesprechung im Rahmen einer erweiterten Vorstandssitzung weiter reichende produktpolitische Maßnahmen. Angesichts der aktuellen Marktsituation, den gegebenen beschränkten finanziellen Rahmenbedingungen und den längerfristigen Planungen sollte an dem für BMW typischen Grundprogramm von drei Bau­ reihen und einem großen Coupé festgehalten werden. Doch sei das bisher geplante Produktprogramm durch Modelle zu ergänzen, die einen geringeren Ausstattungsumfang aufwiesen, vor allem aber durch kleinere und spar­ samere Motoren angetrieben seien. Diese „downgrading“-Modelle sollten aufgrund ihres günstigeren Verkaufspreises und sparsameren Betriebs zusätzliche Kunden ansprechen. Neben einer kleineren 2,5 Liter Version des seit 1968 gefertigten „großen Coupés“ wurde für die 1972 ins Programm genommene erste BMW 5er Reihe ein Modell mit 1,8 Liter Motor entschieden. Gerade beim BMW 5er hatte sich herausgestellt, dass durch den Verzicht auf ein „Einsteigermodell“ in der mittleren Baureihe eine ansehnliche Anzahl von Kunden verlorengegangen war. Die Hoffnung, dass die Fahrer des erfolg­ reichen BMW 1800 (1964–1972) zu den 2-Liter oder 2,5-Litermodellen der neuen BMW 5er Reihe aufsteigen würden, hatte sich nicht im geplanten Umfang bestätigt. Der Vertrieb sah daher für das Angebot eines „520 mit 1,8 Liter Motor“ gute zusätzliche Absatzchancen, was auch zur besseren Auslastung der „nicht ausreichend genutzte[n] Fertigungskapazität“ im neuen Werk Dingolfing beitragen sollte.93 Zusätzlich erhielt die BMW 5er Reihe mit dem BMW 530 mit 3-Liter Sechszylindermotor eine Abrundung nach oben. Das neue Spitzenmodell der mittleren Baureihe sollte jedoch die vor allem schwachen Absatzzahlen der auslaufenden „großen Limousinen“ im für diese Modelle entscheidenden US-amerikanischen Markt auffangen und „durch eine entsprechende Ausstattungs- und Preispolitik den rückläufigen Deckungsbeitrag“ der großen Limousinen zumindest teilweise ausgleichen.94 92  Protokoll der erweiterten Vorstandssitzung 15/74, 22. 04. 1974 (TOP 2b), S. 7, in: BMW UA 852/1. 93  Ebd. S. 8. 94  Protokoll der erweiterten Vorstandssitzung 18/74, 20. 05. 1974 (TOP 2.2), S. 12, in: BMW UA 852/1. Im Februar 1975 entschied der Vorstand, auch für die neue BMW 7er Reihe, zusätzlich zu den ursprünglichen Planungen, eine ‚sparsame Variante‘ mit 2,5 Liter Motor zu beauftragen; vgl. Protokoll der erweiterten Vorstandssitzung 6/75, 25. 02. 1975 (TOP 3), S. 6, in: BMW UA 1333/1. Angesichts der sich im Laufe des Jahres 1975 deutlich verbesserten Marktsituation blieb es schließlich zum Serienstart der BMW 7er Reihe jedoch bei dem ursprünglich geplanten Programm mit dem 728 als Basismodell.

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Die oben genannte Festlegung auf drei Grundmodellreihen und ein Coupé schloss eine Ausweitung des Programms unterhalb der 1975 startenden BMW 3er Reihe aus. Eine geschlossene, eigens zu entwickelnde Modellreihe „auf herkömmlicher Basis“ im unteren Marktbereich übersteige die „Finanzierungskräfte“ des Unternehmens und berge darüber hinaus auch die „Gefahr, sich der direkten Konkurrenz der bekannten Massenhersteller auszusetzen.“95 Ungeachtet dessen sah jedoch der Vorstand angesichts der aktuellen Marktentwicklungen eine Ergänzung unterhalb der projektierten BMW 3er Reihe als notwendig an. Statt einer Neuentwicklung folgte der Vorstand dem Vorschlag, das Basismodell der Vorläuferreihe des BMW 3er – der „02er Reihe“ – weiter zu fertigen. Das 1,6 Liter Modell sollte „BMW 1502“ heißen, um sich nicht nur durch die reduzierte Ausstattung, sondern auch durch die Namensgebung vom BMW 316, dem Basismodell der neuen BMW 3er Reihe, abzugrenzen. Die knappe Kalkulation des Modells war darauf ausgelegt, weniger den Deckungsbeitrag des Konzerns zu steigern, als vielmehr durch die Erhöhung des Gesamtvolumens die Kapazitätsauslastung zu verbessern96 und als „Lockvogel“ und „Aufsteigermodell“ neue Kunden im In- und Ausland für BMW zu gewinnen.97 Die Entwicklungsabteilungen wurden angehalten, diese Modelle möglichst kurzfristig zur Serienreife zu bringen. Trotz aus den Sparbemühungen resultierender Personalengpässe gelang es, das Coupé BMW 2.5 CS noch im Frühjahr 1974 sowie den BMW 518 und BMW 530 in der Jahresmitte 1974 auf den Markt zu bringen. Der Serienanlauf des BMW 1502 wurde mehrmals vorverlegt, er stand schließlich erstmalig im Januar 1975 in den Schauräumen der BMW Händler.98 Der erstaunliche Absatzerfolg der Bayerischen Motoren Werke im Jahr 1975, der sich per Juli bereits auf +55% gegenüber dem Vorjahreszeitraum stellte, basierte maßgeblich auf diesen Modellen: Die beiden Modelle BMW 1502 und BMW 518 hatten an den Juli-Zulassungen gemeinsam zu mehr als 50% beigetragen, bei den Auftragsbeständen entfielen allein auf den BMW 1502 zu diesem Zeitpunkt rund 40%.99 Zudem hatte der BMW 1502 seine Aufgabe als „Lockvogel“ hervorragend erfüllt: Im März 1975 berichteten die Märkte, dass fast 80% der deutschen Käufer dieses Mo-

95 

Protokoll der erweiterten Vorstandssitzung 6/74, 06. 02. 1974 (TOP 1. 1), S. 8, in: BMW UA 852/1. 96  Vgl. Protokoll der erweiterten Vorstandssitzung 18/74, 20. 05. 1974 (TOP 2.2), S. 12, in: BMW UA 852/1. 97  Protokoll der Vorstandssitzung 15/74, 22. 04. 1974 (TOP 4), S. 11, in: BMW UA 852/1. 98  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 5/74, 05. 02. 1974 (TOP 4), S. 8; Protokoll der Vorstandssitzung 15/74, 22. 04. 1974 (TOP 4), S. 11; Protokoll der Vorstandssitzung 25/75, 02. 07. 1974 (TOP 13), S. 13, alle in: BMW UA 852/1. 99  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 22/75 (TOP 2), S. 1 und 3, in: BMW UA 1333/1 sowie Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 02. 07. 1975, S. 5, in: BMW UA 1462/1.

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dells vorher ein Fahrzeug des Wettbewerbs gefahren und besessen hatten.100 Bei der Betrachtung dieser Zahlen konstatierte der Vorstand, dass diese Situation zwar „die Richtigkeit der Modellpolitik“ bestätige, aber der hohe Anteil dieser Deckungsbeitrags-schwachen Modelle einen durchaus dämpfenden Effekt auf die Profitabilität des Unternehmens zeitige.101 Dies sollte eine überproportionale Anhebung der Verkaufspreise für beide Modelle nach dem Abklingen der Ölkrise zum September 1975 korrigieren – mit dem Effekt, dass die Nachfrage der Kunden an diesen Angeboten stark zurückging.102 Insgesamt gesehen verzeichneten die Bayerischen Motoren Werke während der Ölkrise einen vergleichsweise günstigen Verlauf des Exports. Diese, auch im Vergleich zur deutschen Konkurrenz, positive Entwicklung führte der Vorstand auf den Aufbau der ersten Vertriebsgesellschaften in einigen Schlüsselmärkten zurück, aber auch auf die relativ günstige Preisstellung der BMW Modelle auf den Exportmärkten, die 15 bis 20 Prozent unter den Inlands­erlösen lagen.103 Trotz der Aufwertung der Deutschen Mark im ­Gefolge des Zusammenbruchs des Bretton-Woods-Systems konnte die preisliche Positionierung der Produkte aufrecht erhalten werden. Dennoch diskutierte der Vorstand regelmäßig über Möglichkeiten, die Verkaufspreise im Inland und insbesondere im Ausland zur Steigerung der Rentabilität des Unter­nehmens zu erhöhen. Grundsätzlich sollte „keine Preisrunde ausgelassen werden“. Allerdings sollten die Erhöhungen differenziert erfolgen, um dadurch nicht einzelne Modelle aus dem Markt zu preisen und die erreichte Position auf einzelnen Märkten nicht zu gefährden.104 Die flexiblen Anpassungsreaktionen auf die Marktsituation und die Wettbewerber waren nicht nur darauf ausgelegt, kurzfristig und flexibel die Verkaufserlöse zu erhöhen. Vielmehr sei hierdurch auch sichergestellt, dass in längerfristiger Perspektive die Preisstellung der BMW Fahrzeuge nicht erodierte: „Anderenfalls ist es praktisch unmöglich, dieses Versäumnis später durch verstärkte Preiserhöhungen aufzuholen.“105 Im April 1975 resümierte der Vorstand, dass die zurückhaltende Preisstrategie des Unternehmens „während und nach der Ölkrise ein richtiges Mittel war, um die Kapazitäten auszulasten, die Beschäftigung aufrecht zu erhalten und die Marktposition auszubauen“. Doch komme es jetzt darauf an, nicht 100  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 8/75, 11. 03. 1975 (TOP 1), S. 3, in: BMW UA 1333/1. 101  Protokoll der Vorstandssitzung 22/75, 26. 08. 1975 (TOP 2),S. 1, in: BMW UA 1333/1, 102  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 24/75, 09. 09. 1975 (TOP 3), S. 1, in: BMW UA 1333/1. 103  Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 03. 12. 1975, S. 10.11, in: BMW UA 1462/1. 104  Protokoll der Vorstandssitzung 5/75, 19. 02. 1975 (TOP 3), S. 6–7, in: BMW UA 1333/1. 105  Protokoll der Vorstandssitzung 18A/74, 24. 05. 1974, S. 3, in: BMW UA 852/1.

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nur die gewonnene Position zu halten, sondern durch eine angepasste Preispolitik auch die Rentabilität des Unternehmens zu verbessern. Die bisher verfolgte „Hochpreispolitik“ sei das adäquate Mittel, um sich nicht nur über die Qualität und die Charakteristika der Produkte, sondern auch preislich von den Massenherstellern abzusetzen. In diesem Zusammenhang sei über eine weitere Erhöhung „bis hin zu einer Orientierung an Daimler-Benz […] zu gegebener Zeit noch zu sprechen.“106 Diese Preispolitik blieb nicht folgenlos, wie sich im September 1975 zeigte. Nach den positiv verlaufenen Sommermonaten mussten die Prognosen für das restliche Jahr zurückgenommen und nach unten korrigiert werden, was auf die Preiserhöhungen, aber auch auf die langen Lieferzeiten zurückgeführt wurde.107 4. Langfristige Wirkungen In der ersten Sitzung des Aufsichtsrats des Jahres 1974 stellte der Vorstand im Rahmen des Berichts zur Absatzlage die Frage in den Raum, ob angesichts des Wandels der gesamtgesellschaftlichen Einstellung zum Automobil und aktuell diskutierter verkehrspolitischer Maßnahmen die Fahrzeuge der Marke BMW überhaupt „noch zeitgerecht“ seien. Es bestünden „Vorurteile“ gegenüber leistungsbetonten und sportlich ausgelegten Fahrzeugkonzepten, auf denen das gesamte Modellprogramm von BMW basierte.108 Mithin stellte der Vorstand nicht nur die grundsätzliche Produktpolitik, sondern auch das Geschäftsmodell des Unternehmens offen in Frage. Die Antwort gab der Vorstandsvorsitzende Eberhard von Kuenheim, der dem Gremium in einer längeren Grundsatzausführung über „Die Automobilindustrie und BMW nach dem Ende der Energiekrise“ die Aussichten für die Industrie und das von ihm geführte Unternehmen skizzierte.109 Er stellte fest, dass die mittelfristigen Aussichten für die Branche eine grundsätzlich stabile Entwicklung erwarten ließen. Für die Bayerischen Motoren Werke würden sich laut den Prognosen gute Wachstumschancen ergeben, die über dem Branchendurchschnitt lägen – wenn in den Maßnahmen zur Krisenbewältigung weiterhin die mittelfristige Entwicklung des Unternehmens angemessen Berücksichti106  Protokoll der Vorstandssitzung 11/75, 08. 04. 1975 (TOP 1), S. 3, in: BMW UA 1333/1. Dies läutete einen strategischen Schwenk im Verhältnis zum Stuttgarter Konkurrenten ein. Hatte der Vorstand ein Jahr zuvor noch im Zusammenhang mit den Produktkosten der sich in der Entwicklung befindlichen ersten BMW 7er Generation (1977–1986) gefordert, „sicherzustellen, daß Kosten und Preise [des 7er, F.T.] deutlich unter der Daimler-Benz-S-Klasse bleiben“ sollten, [Protokoll der erweiterten Vorstandssitzung 16A/74, 02. 05. 1974 (TOP 3), S. 4, in: BMW UA 852/1.] belegt die oben zitierte Formulierung die Tendenz zu einem offensiveren Wettbewerbsverhalten gegenüber dem Daimler-Benz Konzern. 107  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 25/75 (23. 09. 1975) (TOP 2), S. 1), in: BMW UA 1333/1. 108  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 07. 03. 1974, S. 3, in: BMW UA 1271/1. 109  Ebd., S. 8–16.

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gung fände. Das Geschäftsmodell der Bayerischen Motoren Werke sei also trotz der aktuellen Entwicklungen im Grundsatz robust. Dies unterstrich der Vorstand gegenüber dem Aufsichtsrat noch einmal im Juli 1975 anlässlich der Vorlage seiner „Langfristigen Unternehmensplanung 1976–1981“. Demnach eröffneten sich für das Unternehmen „langfristige Wachstumsmöglichkeiten, wie sie für die Mehrzahl der Konkurrenten nicht mehr gegeben sind.“110 Interessanter­weise wurde diese positive Prognose mit dem im Vergleich zur Konkurrenz geringen Durchschnittsalters des BMW Bestandes in den Märkten (zugelassene Fahrzeuge) begründet, was bis auf Weiteres eine hohe Zahl von Eroberungskäufen erwarten lasse.111 Hierauf sei das „besondere Produktprogramm“ der Marke BMW ausgerichtet – womit nachträglich die „Zeitgerechtheit“ des BMW Programms eine markante Bestätigung erhielt. Doch werde die weitere Entwicklung nicht mehr wie in der Vergangenheit ungebrochen verlaufen. Die Planungen erwarteten „zunehmende Nachfrageschwankungen in der Automobilindustrie“ und eine „sich erheblich verschärfende Konkurrenzsituation, insbesondere zwischen BMW und Daimler-Benz.“ 112 Ferner sei zu erwarten, dass weitere Wettbewerber gezielt ihre Produkte gegen „die Erfolgsmarke BMW“ richten würden, darunter Lancia, Audi, Peugeot und Alfa Romeo.113 Auf jeden Fall sei jedoch mittelfristig eine Reduktion der Variantenvielfalt notwendig. Während der Krise sei die Anzahl der Modelle auf 65 angewachsen (Stand Januar 1975). Dies sei zur Nutzung aller Absatzchancen notwendig und richtig gewesen, doch sei diese Anzahl im Hinblick auf die Profitabilität des Unternehmens, der Komplexität bei der Entwicklung sowie in der Fertigung und Logistik mittelfristig deutlich zu hoch. Zwar werde sich nach den geplanten Produkt­anläufen bis Mitte 1977 die Anzahl der Varianten wieder auf 54 reduzieren, doch erging der Auftrag an die Fachstellen, noch einmal alle Möglichkeiten zur weiteren Straffung des Fertigungsprogramms zu prüfen.114 Die Ölkrise war jedoch auch als deutliches Zeichen für eine Anpassung der grundsätzlichen Fahrzeugkonstruktion wahrgenommen worden. Bereits im September 1973 kündigte der Vorstand im Aufsichtsrat an, im Antriebs-

110  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 02. 07. 1975, S. 13, in: BMW UA 1462/1. 111  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 47/74, 02. 12. 1974 (TOP 2c), S. 6, in: BMW UA 852/1. 112  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 02. 07. 1975, S. 13, in: BMW UA 1462/1. Vgl. hierzu auch Anm. 105. 113  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 26. 07. 1976, S. 6, in: BMW UA 1508/1. 114  Bereits während der Behandlung des Tagungsordnungspunktes war der Fortfall von drei Modellen vom Vertrieb vorgeschlagen worden. Dies erschien dem Vorstand jedoch als noch nicht befriedigend und ausreichend. Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 46/74, 19. 11. 1974 (TOP 5), S. 7–8, in: BMW UA 852/1.

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strang und beim Fahrwerk Möglichkeiten zu suchen, den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gerecht zu werden, insbesondere im Hinblick auf eine unbefristete Verlängerung des geltenden Tempolimits. In diesem Zusammenhang berichtete der für Entwicklung zuständige Vorstand, Bernhard Osswald, bereits über Kooperationsprojekte mit der RWTH Aachen zur Entwicklung eines Motors mit kontinuierlicher Verbrennung sowie mit der MAN AG zur Erprobung eines Schichtladungs-Motors.115 Ferner führten die Entwickler erste Gespräche mit der Linde AG zur Realisierung von Flüssiggas-Antrieben und bauten hierfür ein Versuchsfahrzeug auf.116 In der Folge wurden weitere Projekte aufgesetzt, um alternative Antriebsformen für die individuelle Mobilität zu erforschen. Hierzu gehörten ein 1975 auf Elektroantrieb umgebauter Kleinwagen der 1974 ausgelaufenen BMW 700/LS Reihe und der gemeinsam mit der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrttechnik (DFVLR) 1978 vorgestellte BMW 7er mit Wasserstoffantrieb. Schließlich befasste sich im Juli 1974 der Vorstand in diesem Zusammenhang erstmalig mit der Frage, ob eigene Dieselmotoren für den Antrieb von BMW Fahrzeugen eingesetzt werden sollten.117 Den Selbstzündern haftete zwar immer noch der Ruf großer Trägheit an, was mit dem sportlichen BMW Image nur schwer vereinbar schien. Doch hatte sich in den Krisenmonaten gezeigt, dass der Marktanteil von Dieselfahrzeugen signifikant gestiegen war.118 War zunächst an eine Erweiterung der Kooperation mit der MAN AG zur Entwicklung eines Selbstzünders gedacht worden, beauftragte der Vorstand im November 1975 das Entwicklungsressort, „auf der Basis eines heutigen BMW-Motors einen VersuchsDiesel-Motor“ zu entwickeln – in der Hoffnung, die typischen Charakteristika der BMW Otto-Motoren auf den Dieselmotor übertragen zu können.119 Die stetig steigende Aufmerksamkeit für den Dieselmotor in der Unternehmensleitung belegt ferner eine Protokollnotiz aus dem Juli 1976, der zufolge 115 

Niederschrift über die Aufsichtsratssitzung vom 13. 12. 1973, S. 14, in: BMW UA 856/1. 116  Protokoll der Vorstandssitzung 2/74, 15. 01. 1974 (TOP 6), S. 7, in: BMW UA 852/1. 117  Protokoll der Vorstandssitzung 27/74, 16. 07. 1974 (TOP 6), S. 11, in: BMW UA 852/1. Im Rahmen der Einführung der ‚Neuen Klasse‘ war 1962 schon der Einsatz von Dieselmotoren für BMW Automobile diskutiert worden: Allerdings sollten die Dieselmotoren von einem anderen (deutschen oder französischen) Hersteller bezogen werden und nur dann eingesetzt werden, wenn die Werkskapazitäten durch die Ottomotor-Modelle nicht auszulasten gewesen wären; vgl. Niederschrift über die Aufsichtsratssitzung vom 20. 11. 1962, S. 4, in: BMW UA 731/1. 118  Lt. den VDA Statistiken verdoppelte sich der Anteil der in Deutschland für Personenkraftwagen produzierten Dieselmotoren in der kurzen Zeitspanne der Ölkrise: Sie stieg von knapp über 7% (1972 und 1973) über 12,2% (1974) auf 14,5% (1975). Vgl. VDA (Hrsg.), Tatsachen und Zahlen aus der Kraftverkehrswirtschaft, Frankfurt am Main, Ausgaben 1973 (37. Folge) bis 1976 (40. Folge). 119  Protokoll der Vorstandssitzung 32/75, 18. 11. 1975 (TOP 4), S. 3, in: BMW UA 1333/1.

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bei der „BMW Motoren-Modellpolitik […] zu prüfen [sei], inwieweit die Arbeiten an einem BMW Diesel-Motor unter dem Gesichtspunkt der langfristigen externen Einflußfaktoren intensiviert werden“ sollten.120 Zu den externen Einflussfaktoren zählte für die Unternehmensleitung auch die zunehmende Zahl gesetzlicher Regelungen, die den Spielraum für technische Innovationen künftig deutlich einengen würden. Hierdurch sei absehbar, dass die Möglichkeiten zur Differenzierung durch technische Produktmerkmale im Wettbewerb immer geringer werden würden und folglich das unternehmerische Risiko in der Branche steige. Dies gelte insbesondere für die Bayerischen Motoren Werke aufgrund der ihr eigenen „ausgeprägten Monokultur“ sowie ihrer im Branchenvergleich „immer noch verhältnismäßig geringen Größe und der absolut und relativ geringen Reserven.“121 Hierdurch stiegen auf absehbare Zeit die Risiken und die Anfälligkeit des „monokulturellen“ Unternehmens bezüglich konjunktureller Schwankungen erheblich. Vor dem Eindruck der ersten gravierenden Auswirkungen der Ölkrise begann der Vorstand im Dezember 1973 über die Möglichkeiten einer Diversifizierung der Unternehmensaktivitäten zu diskutieren.122 Im Vordergrund sollten dabei Unternehmensbeteiligungen stehen, während nur in zweiter Linie Lizensierungen oder Eigenentwicklungen Berücksichtigung fanden. In Übereinstimmung mit dem Aufsichtsrat war die Suche nach möglichen Beteiligungsgelegenheiten auf Objekte zu konzentrieren, „die mit einer hohen Ingenieurleistung verbunden sind [und] an das technische Knowhow von BMW, oder an das Image von BMW anknüpfen“. Auch war daran gedacht, die hohe Abhängigkeit der Bayerischen Motoren Werke vom Standort Deutschland durch den Erwerb ausländischer Beteiligungen zu verringern. Die Fertigungstiefe im Automobilbereich zu erweitern sei jedoch nicht gewünscht.123 Unter diesen Maßgaben wurde im Frühjahr 1975 auch der Erwerb des Getriebewerks Neuenstein abgelehnt, das BMW von der AUDI-NSU Auto Union AG zum Kauf angeboten worden war.124 Ferner kündigte im Juli 1975 der Vorstand im Rahmen der Präsentation der „Langfristigen Unternehmensplanung 1976–1981“ an, Alternativplanungen ausarbeiten zu lassen, um mittelfristig die Automobilproduktion aus dem Werk München ins Ausland ver120  Protokoll der Vorstandssitzung 27/76, 20. 07. 1976 (TOP 12), S. 12, in: BMW UA 1446/1. 121  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 08. 12. 1976, S. 9, in: BMW UA 1508/1. 122  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 33/73, 11. 12. 1973 (TOP 9), S. 9–10, in: BMW UA 851/1. 123  Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 13. 12. 1973, S. 19–10, in: BMW UA 856/1. 124  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 12/75, 22. 04. 1975 (TOP 13g), S. 11 sowie Protokoll der Vorstandssitzung 14/75, 06. 05. 1975 (TOP 2), S. 5–6, beide in: BMW UA 1333/1.

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lagern zu können. Neben der Möglichkeit, auf dem Gelände des Werks die von Platzproblemen geplagten Forschungs- und Entwicklungsbereiche zu konzentrieren, waren für diese Beauftragung vor allem die hohen Umweltschutzauflagen für die Automobilproduktion in mitten einer deutschen Großstadt sowie die spürbaren Handelshemmnisse im Export maßgebend.125 In diesem Zusammenhang erhielt das Motorradgeschäft für die Bayerischen Motoren Werke eine neue Bedeutung. Wiederholt wurde es als „derzeitig einziges Diversifizierungsprojekt“ bezeichnet, und damit seine strategische Bedeutung für das Unternehmen, neben seiner nach wie vor wichtigen Imagewirkung, betont. Wegen der nicht zufriedenstellenden Profitabilität des Zweiradgeschäfts und der neuen Marktsituation durch den aggressiven Auftritt der japanischen Konkurrenz, sollte dem Motorradbereich die Möglichkeit gegeben werden, sich dem „erschwerten Wettbewerb […] offensiv“ zu stellen. Hierzu wurde das komplette Motorradgeschäft zum 01. Januar 1976 in eine eigenständige Gesellschaft, die BMW Motorrad GmbH, ausgegliedert.126 Als erstes zusätzliches Diversifizierungsprojekt kam im Frühjahr 1975 die „Obermeyer Project Management GmbH“ hinzu, an der die Gründer, die BMW AG und das Planungsbüro Obermeyer GmbH, jeweils zur Hälfte beteiligt waren. Geschäftszweck war die Akquise und Abwicklung von Aufträgen „auf dem Gebiet der Planung, Überwachung und Betreuung von Großbauvorhaben“ – insbesondere im Ausland. Dieses Projekt fügte sich in die als Rahmenkriterien für die Diversifizierung geltenden Bedingungen, folgte aber auch der Erkenntnis, „daß die westlichen Industrieländer in der weiteren ­Zukunft vor allem Know-how und immer weniger Waren exportieren wer­ den.“127 Als weiteres Standbein wurde ein „Engagement von BMW im Bootsmotorengeschäft“ geprüft. Einbaumotoren für den maritimen Bereich 125 

Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 08. 10. 1975, S. 14, in: BMW UA 1462/1. Allerdings verblieb die Automobilproduktion bis heute im Stammwerk München und das erste BMW Voll-Produktionswerk im Ausland wurde erst 1994 in Spartanburg/North Carolina eröffnet. 126  Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 31/75, 11. 11. 1975 (TOP 3), S. 3–5 sowie Anlage zum Protokoll, beides in: BMW UA 1333/1 sowie Protokoll der Vorstands­sitzung 12/76, 15. 03. 1976 (TOP 3), S. 2–5, Protokoll der Vorstandssitzung 39/76 (TOP 4), S. 4–11, beide in: BMW UA 1333/1 und Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 08. 12. 1976, S. 12–19, in: BMW UA 1508/1. 127  Protokoll der Vorstandssitzung 5/75, 19. 02. 1975 (TOP 10), S. 14, in: BMW UA 1333/1. Die Anteile der ‚Obermeyer Project Management GmbH‘ verblieben bis 1979 im Portfolio der BMW AG. Die in die Zusammenarbeit mit dem Planungsbüro Obermeyer gesetzten Erwartungen erfüllten sich jedoch nicht zur Gänze. Nachdem der Partner eine Mehrheitsbeteiligung der Bayerischen Motoren Werke abgelehnt hatte, zogen sich die Bayerischen Motoren Werke aus dem Gemeinschaftsprojekt zurück. Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 19/79, 03. 07. 1979 (TOP 7a), S. 12, in: BMW UA 1651/1.

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waren bereits mehrmals in der BMW Historie angeboten worden.128 In den frühen 1970er Jahren modifizierte eine Fremdfirma BMW Automobil-Motoren für den Einbau in Sportboote. Im Dezember 1975 beschloss der Vorstand, selbst in dieses Geschäft einzutreten, da dieses Segment eine „besonders gute Verträglichkeit mit dem BMW Image“ versprach und das Unternehmen sein vorhandenes Know-how im Motorenbau nutzbar machen konnte.129 Angeboten werden sollte der komplette Antriebsstrang, bei dem die für den Bootsbetrieb angepassten Otto-Motoren mit einem Z-Getriebe der Firma Hurth ergänzt wurden. Die weiteren Planungen für das maritime Antriebsangebot sahen eine Ergänzung durch einen Diesel-Motor vor. Hierfür sollte zunächst eine Kooperation eingegangen werden, doch eröffnete sich bald durch die Entwicklungsfortschritte der Diesel-Motorkonzepte für den Einsatz im Automobilbau die Möglichkeit für ein eigenes Motorenkonzept. Neben dem Antrieb war auch geplant, komplette Boote anzubieten, obgleich auf diesem Markt bereits eine ausgeprägte Wettbewerbssituation herrschte. Doch versprach sich der Vorstand von einem integrierten Angebot von Boot und Antrieb eine „unverkennbare“ Reduktion des Risikos.130 Schließlich blieb es jedoch in diesem Geschäftsfeld beim Angebot von BMW Otto- und Dieselmotoren für den Einsatz in Sport- und Freizeitbooten. Hierfür wurde mit der „BMW Marine GmbH“ eine „selbständige und gewinnverantwortlich operierende“ Gesellschaft gegründet, die auch Verkauf und Service der Bootsmotoren übernahm.131 Damit war der Elan zur Diversifizierung der Unternehmensaktivitäten keineswegs erloschen. Für weitergehende Projekte beschloss der Vorstand im November 1975, eine Vorratsgesellschaft mit Sitz in Basel zu gründen. Im Verlauf der 1980er Jahren gingen die Bayerischen Motoren Werke weitere Beteiligungen ein, deren bedeutendste sicherlich das gemeinsam mit dem Partner Rolls-Royce plc. 1990 gegründete Unternehmen BMW Rolls-Royce

128  Bereits in den frühen 1920er Jahren lieferten die Bayerischen Motoren Werke Einbaumotoren für Boote. In den 1950er Jahren wurden V8-Motoren, in den frühen 1960er Jahren auch die 4-Zylinder-Reihenmotoren aus dem Automobilbau in modifizierter Form für den maritimen Einsatz angeboten. Vgl. Karl-Heinz Lange: Geschichte des Motors – Motor der Geschichte, München 1998, Bd. 1: 1916–1945,S. 48–51 sowie Bd. 2: 1945–2000, S. 208, 227 und 372–379. 129  Protokoll der Vorstandssitzung 36/75, 17. 12. 1975 (TOP 10), S. 5–8, in: BMW UA 1333/1. 130  Protokoll der Vorstandssitzung 28/76, 29. 07. 1976 (TOP 9), S. 13–16, in: BMW UA 1446/1. 131  Protokoll der Vorstandssitzung 36/75, 17. 12. 1975 (TOP 10), S. 5–8, in: BMW UA 1333/1. Wegen geringer Entwicklungsperspektiven der Sparte innerhalb des Unternehmens veräußerten 1987 die Bayerischen Motoren Werke ihre Tochtergesellschaft ‚BMW Marine GmbH‘ an die Mercury Marine Division der Brunswick Corporation; vgl. Bayerische Motoren Werke AG München: Bericht über das Geschäftsjahr 1986, München 1986, S. 50.

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GmbH zur Entwicklung, Produktion, Vertrieb und Service von Flugmotoren war.132

Fazit: Die BMW AG in den Krisen 1966/67 und 1973/74 Auf den ersten Blick scheinen sowohl die Rezession 1966/67 als auch die ­Ölkrise 1973/74 allenfalls einen marginalen Einfluss auf die Geschicke der Bayerischen Motoren Werke ausgeübt zu haben. Man ist versucht, in diesem Zusammenhang mit dem 1975 erschienenen Konzeptalbum der US Supergroup Supertramp zu fragen: „Crisis? What Crisis?“.133 Beide Konjunkturrückgänge hinterließen in den Zahlenwerken des Unternehmens keine gravierenden Schneisen und boten den Bayerischen Motoren Werken jeweils eine solide Basis für erfolgreich verlaufende Aufstiegsphasen nach Beendigung der konjunkturellen Einschnitte. Beim zweiten, tiefer schürfenden Blick zeigt sich jedoch, dass die beiden ökonomischen Krisen jede für sich markante Auswirkungen auf die Geschicke des Unternehmens zeitigten. Dies ist bereits bei der Krisenwahrnehmung feststellbar. 1966/67 hatte die Unternehmensleitung die ökonomische Gesamtlage nur am Rande wahrgenommen; die Sanierung des Unternehmens nach der nur knapp überstandenen Marketing- und Unternehmenskrise der 1950er Jahre sowie die sich abzeichnende Erfolgskrise angesichts der unerwartet hohen Nachfrage nach den neuen Produkten band den größten Teil der Aufmerksamkeit des Managements und ließ die Risiken der Rezession in den Hintergrund treten. Doch hatte der wirtschaftliche Einbruch 1966/67 deutlich gemacht, dass die Zeit des deutschen „Wirtschaftswunders“ der Nachkriegsjahre sich dem Ende zuneigte. Auch von diesen Erfahrungen geprägt, schenkte die auf wesentlichen Positionen umbesetzte und verjüngte Unternehmensleitung den ersten, untrüglichen Anzeichen eines wirtschaft­ 132 

Womit die Bayerischen Motoren Werke zeitweise wieder zu ihren Wurzeln, dem Flugmotorenbau, zurückfanden. Nach dem missglückten Rover-Engagement veräußerten die Bayerischen Motoren Werke 1999 auch die Beteiligung an dem Gemeinschaftsunternehmen BMW Rolls-Royce an den Partner, das seither von der Rolls-Royce plc. in Eigenregie weitergeführt wird. Zusätzliche Bedeutung erhielt die enge Kooperation mit der Rolls-Royce plc. während des Bieterkampfs zwischen den Bayerischen Motoren Werken und der VW AG um Rolls-Royce und die Namensrechte an dieser automobilen Traditionsmarke. Vgl. zu den weiteren Maßnahmen zur Diversifikation und der Beziehung zu Rolls-Royce plc.: Manfred Grunert / Florian Triebel: Das Unternehmen BMW seit 1916 (BMW Dimensionen 5), München 2006, S. 80 und 87. 133  Supertramp: Crisis? What Crisis?, A&M Records 1975. Das Album erhielt seinen Titel wohl von einem Zitat aus dem Spielfilm The Day of the Jackal (dt. Der Schakal, Regie Fred Zimmermann) aus dem Jahr 1973. Popularisiert wurde die Wendung auch durch die gleichlautende Schlagzeile der britischen Boulevardzeitung The SUN ­während der Streikwellen im „Winter of Discontent“ 1978/79 [diese Bezeichnung ist wiederum selbst ein Zitat aus William Shakespeares Tragödie Richard III. (1. Akt, 2. Szene, Aufritt Duke of Gloster)].

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lichen Umschwungs im Herbst 1973 deutlich mehr Aufmerksamkeit, als es sieben Jahre zuvor der Fall gewesen war. Indikatoren hierfür waren die häufigeren Sitzungen der Gremien und die deutlich formulierten Forderungen nach aktuelleren und besseren Informationen aus den Märkten und den Abteilungen des Unternehmens als Basis zur effektiveren Steuerung durch den Vorstand. Auch in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit fand die Ölkrise, anders als die Rezession 1966/67, einen wahrnehmbaren Widerhall. Operative Maßnahmen zur Krisenbewältigung waren bei den Bayerischen Motoren Werken in der Rezession 1966/67 zunächst nicht vonnöten. Statt Sparrunden, Kurzarbeit oder gar Entlassungen anzuordnen, galt in der Unternehmensleitung die größte Sorge der bestmöglichen Bedienung der ungebrochen hohen Nachfrage nach den Modellen der „Neuen Klasse“ und der Markteinführung der „02er Reihe“. Mit dem Kauf der Hans GLAS GmbH zum Jahreswechsel 1966/67 erwarb das Münchener Unternehmen zwar Kapazitäten für den mittelfristigen Wachstumspfad, doch holte es sich dadurch die aktuelle Krise buchstäblich ins Haus. Die Unternehmensleitung musste fortan Wege und Maßnahmen finden, das unter Volllast fahrende Münchener Werk und die kriselnde niederbayerische Tochter gleichermaßen durch die unruhigen Zeitläufe zu steuern. Ganz anders stellte sich die Situation 1973/74 dar. Unmittelbar nach den ersten Anzeichen eines ökonomischen Abschwungs stellte die Unternehmensleitung auf „Krisenmodus“ um und leitete rasch entsprechende Maßnahmen ein. Dies geschah jedoch nicht übereilt und unbedacht. Nach einer kurz nach Beginn der Ölkrise in der Unternehmensleitung getroffenen Festlegung hatten alle Maßnahmen zwei übergeordneten Grundsätzen zu folgen: Sie sollten die Flexibilität des Unternehmens mindestens erhalten und dabei keinesfalls die langfristig angestrebten Ziele gefährden – auch unter Inkaufnahme kurzfristiger ökonomischer Nachteile. Diese zweifache Maßgabe ermöglichte es den Bayerischen Motoren Werken, in der unübersichtlichen Gesamtsituation während der Ölkrise 1973/74 sowohl marktnah zu agieren als auch strategische Entwicklungspfade für die langfristige Weiterentwicklung des Unternehmens offen zu halten. Essentiell für das erfolgreiche Management der Krise und das rasche Einschwenken auf einen Wachstumspfad nach Bewältigung ihrer unmittelbaren Auswirkungen war daher die Kombination von situativem Handeln (Flexibilität) und strategischem Fokus (Wahrung der langfristigen Perspektiven). Dabei war den Entscheidungsträgern des Unternehmens bewusst, dass den Bayerischen ­Motoren Werken als relativ kleinem Unternehmen nur „begrenzte finanzielle Mittel“ zu Gebote standen und deshalb „intelligente Entscheidungen“ zur Krisenüberwindung zu treffen waren, mithin alles darein zu setzen sei, „mit geringeren Mitteln mehr zu erreichen als die Konkurrenz, um den Fortbestand [als eigenständiges Unternehmen] zu sichern“.134 134 

Protokoll der erweiterten Vorstandssitzung 6/74, 06. 02. 1974 (TOP 1,1), S. 7–8, in: BMW UA 852/1.

Die Bayerischen Motoren Werke während der Rezession 1966/67

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Trotz des konjunkturellen Einschnitts schien 1966/67 die Faszination des Automobils ungebrochen. Dies stellte sich sieben Jahre später anders dar. Die gesellschaftlichen Diskussionen nach dem Ölpreisschock 1973/74, unterstützt noch von den Thesen des „Club of Rome“ Berichts Die Grenzen des Wachstums135, führten innerhalb der Unternehmensleitung zu einer Diskussion über die Zukunft des Automobils und das Geschäftsmodells der Bayerischen Motoren Werke, das maßgeblich auf den Aussichten für die motorisierte Mobilität basierte. Im Ergebnis sahen die Führungsgremien jedoch keine Anzeichen für ein Ende des Automobilzeitalters und erachteten das besondere, auf sportlichen und leistungsstarken Modellen basierende BMW Produkt- und Markenprofil für mittel- bis langfristig als tragfähig. Bei allen Unterschieden hatten beide Krisen für die Bayerischen Motoren Werke weitreichende, langfristige Folgen. Sowohl die Rezession 1966/67 als auch die Ölkrise 1973/74 zeitigten eine stark katalytische Wirkung auf wegweisende Entscheidungen für die weitere Unternehmensentwicklung. Dies galt sowohl für die Rezession 1966/67, die den maßgeblichen Anstoß für eine langfristige Standort- und Werkbelegungsplanung gab, als auch für die ­Ölkrise 1973/74, aus der die Entwicklungsaufträge zur Verbreiterung des Antriebsportfolios wie die Grundsatzüber­legungen und Maßnahmen zur ­Diversifizierung der Unternehmensaktivitäten resultierten. Insgesamt gesehen, fügen sich die Bewältigung der Rezession 1966/67 wie der Ölkrise 1973/74 durch die Bayerischen Motoren Werke in die Reihe gut gemeisterter Schwächen und Schwierigkeiten ein, die jeweils in rasch ein­ setzende und dynamisch verlaufende Wachstumsphasen des Unternehmens mündeten.136

135 

Dennis L. Meadows [u. a.]: Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972. Vgl. die Analyse von fünf Unternehmenskrisen in der Geschichte der Bayerischen Motoren Werke in: Florian Triebel / Manfred Grunert: Krisenerfahrung bei der BMW AG. Zur Typologie des Phänomens Unternehmenskrise, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2/2006, S. 19–30. 136 

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Kooperation in der Krise? Beziehungspraktiken in der deutschen Automobilindustrie von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts1 „Einkäufer, werdet hart und bleibet hart.“ Diese Maxime formulierte Otto Jacob, das für das Ressort Einkauf zuständige Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG schon im Jahr 1956 auf einer Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der industriellen Einkäufer Deutschlands, als er seinen Vortrag „Automatisierung der Einkaufsarbeit“ vor den dort versammelten Praktikern des Beschaffungswesens präsentierte.2 Projiziert auf die Entwicklung automobilwirtschaftlicher Strukturen in jüngerer Vergangenheit mag dieses Zitat wie eine frühe Formulierung des Grundsatzes erscheinen, der mit dem Namen López, José Ignacio López de Arriortúa – dem wohl „bekanntesten Einkäufer der Welt“3 – assoziiert wird. Bekanntlich hatte López als Manager von Opel, General Motors und Volkswagen in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren einen neuen Kurs im Beschaffungswesen geprägt, der die Zulieferer des Automobilherstellers, da­ runter eine Reihe von bundesrepublikanischen Traditionsunternehmen, erheblich unter Kostensenkungsdruck setzte.4 Angesichts der Zielsetzung, die Beschaffungskosten oder die Aufwendungen für Zulieferungen maximal zu 1 

Eine ältere Version dieses Beitrags wurde unter dem Titel „VW hat Wort gehalten. Moral und Vertrauen in Hersteller-Zulieferbeziehungen in der deutschen Automobilindustrie 1948–1979“ ohne Imprimatur der Autorin in dem Sammelband „Mehrwert, Märkte und Moral – Interessenkollision, Handlungsmaximen und Handlungsop­tionen in Unternehmen und Unternehmertum der modernen Welt“ (Leipzig 2012) publiziert. Der Aufsatz stützt sich auf Archivalien aus dem Konzernarchiv der Daimler AG (Mercedes Benz Classic, Archive, im Folgenden MBCA), dem Konzernarchiv der Salzgitter AG (SZAG-KA) und dem Volkswagen-Konzernarchiv (VW-KA). Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Wolfgang Rabus. Darüber hinaus möchte ich Thomas Mayer (Archiv der Borgers AG) herzlich danken. 2  MBCA, Bestand Einkauf/43, Otto Jacob: „Automatisierung unserer Einkaufsarbeit“, Rede auf der Fachtagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Industriellen Einkäufer am 5. 10. 1956, S. 11. 3  So etwa zitiert in Guido Marschall, Die López-Story – Hintergrundinformationen. Exklusiv-Interview mit José Ignacio López de Arriortúa am 3. 12. 2004 in Madrid im automanager-tv; http://www.auto-manager.de/media/autotalklopez_dsl.wmv (Zugriff 18. 3. 2013). 4  Vgl. für die folgenden Ausführungen C. Schuh / T. Haussmann / M. Bremicker: Der Einkauf als Margenmotor, Wiesbaden 2005, S. 21–25; G. Kerkhoff: Milliardengrab Einkauf, Weinheim 2007, S. 17ff.; G. Gieschen: Wie Mittelständler versteckte Ressourcen mobilisieren, Berlin 2005, S. 180f.

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senken, rückte die Wirtschaftlichkeit der zuliefernden Unternehmen stärker als zuvor in den Fokus des Optimierungskalküls der Automobilhersteller. Diese verfolgten das Interesse, vorhandene Rationalisierungsspielräume in der Automobilproduktion, auch in vorgelagerten Produktionsstufen, voll auszuschöpfen, was zu einem stärkeren Eingreifen in den Verantwortungsbereich des Zulieferers führen konnte. Auch die Fertigungsmethoden der Zulieferer gerieten dabei auf den Prüfstand. Zu dem als „Lopez-Effekt“ etikettierten Kurswechsel seit den frühen neunziger Jahren gehörte ein stärkeres Augenmerk auf „global sourcing“5 – und dies konnte für die Automobilzulieferer bedeuten, dass durch ihre Kunden neue Wettbewerber aus neuen Märkten ins Boot geholt, Preisunterbietungskämpfe angeregt und langjährige Beziehungen aufgekündigt wurden. Während Lopez selbst weniger auf Preisdruck allein, sondern auf die kompromisslose Erschließung von Rationalisierungspotentialen bei der Zulieferindustrie setzte, galt seine Vorbildfunktion – beziehungsweise die halbherzige Nachahmung seiner Einkaufsstrategie durch andere Einkäufer – manchem zeitgenössischen Beobachter als das ­eigentliche Problem.6 „Seit Lopez“, erörterte ein Vorstand im Interview, habe sich „die Unternehmenskultur ins Negative verwandelt“.7 Nunmehr gilt zwar das Prinzip des maximalen Preisdrucks als fragwürdig. Gleichwohl sind langfristig wirksame strukturelle Wandlungen in den Beziehungen zwischen Automobilherstellern und ihren Zulieferern nicht von der Hand zu weisen. Ungeachtet des sogenannten Lopez-Effekts ist dabei aber auch der grundsätzliche Wandel der Produktionsorganisation, das heißt die Veränderung der automobilwirtschaftlichen Arbeitsteilung zu bedenken, die den Automobil-Zulieferern in den letzten Jahrzehnten mehr Aufgaben übertrug und die Struktur der Zulieferindustrie selbst veränderte.8 Mit dem seit den 1980er Jahren vieldiskutierten Trend zur „schlanken Produktion“ in der 5  Verkürzt ist damit die weltweite Beschaffung von Zulieferprodukten und die strategische Verteilung der damit verbundenen Risiken und logistischen Aufgaben gemeint, siehe auch R. Bogaschewsky / K. Kohler: Innovative Organisationsformen des Einkaufs im Kontext der Globalisierung, in: F. J. Garcia Sanz / K. Semmler / J. Walther (Hrsg.): Die Automobilindustrie auf dem Weg zur globalen Netzwerkkompetenz, Heidelberg u. a. 2007, S. 143–160. 6  „(…) der Lopez ist zwar weg, aber die vielen kleinen Lopez, die herumlaufen, sind viel brutaler, als es der Lopez von VW gewesen ist.“ Zitiert nach E. Buß: Die deutschen Spitzenmanager – wie sie wurden, was sie sind. Herkunft, Wertvorstellungen, Erfolgsregeln, München 2007, S. 161. 7  Ebd. 8  R. Boyer / M. Freyssenet: Produktionsmodelle. Eine Typologie am Beispiel der Automobilindustrie, Berlin 2003, S. 111, 125; H. Kilper / J. Schmidt-Dilcher, Vom Recht des Stärkeren zur Partnerschaft? Über den schwierigen Weg zu neuen Hersteller-Zulieferer-Beziehungen in der Automobilindustrie am Beispiel eines Karosserie- und Montagewerks; vgl. auch H. Kilper / L. Pries (Hrsg.): Die Globalisierungsspirale in der deutschen Automobilindustrie: Hersteller-Zulieferer-Beziehungen als Herausforderung für Wirtschaft und Politik, München 1999.

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Automobilindustrie zeichnete sich eine neue Rolle der Zulieferer ab, die mit Outsourcing-Prozessen bei den Automobilherstellern verbunden war und den Ausbau einer vertikal gegliederten Zulieferpyramide anregte, an deren Spitze zuliefernde Unternehmen als „Systemlieferanten“ agierten. Damit ist eine Perspektive benannt, auf die die Automobilwirtschaft langfristig zu­ steuerte. In dem folgenden Beitrag soll der Blick auf die Geschäftsbeziehungen gerichtet werden, die zwischen Automobilherstellern und ihren Zulieferern bestanden. Ausgehend von der Überlegung, dass die Automobilwirtschaft ein Geflecht von Beziehungen darstellt, wird hiermit die Untersuchungsperspektive auf einen oftmals unbemerkten Teil der Automobilproduktion ausgedehnt: die Zulieferer. Angesichts der engen Verflochtenheit innerhalb des auto­mobilen Produktionszusammenhangs erscheint es plausibel, dass Branchenkonjunkturen auch auf vorgelagerte Industriezweige durchschlugen. Wenngleich die jüngste Automobilkrise – wie einer der vorangehenden Beiträge hervorhob – so rasch überwunden wurde, dass sie in der Rückschau beinahe als „unwirkliche Sinnestäuschung“ (Manfred Grieger) erscheint9 – hat ihre Wucht im Krisenjahr 2008 doch anschaulich vor Augen geführt, wie der damit verbundene Anpassungsdruck innerhalb der gesamten Branche ­kanalisiert wurde. Die Zulieferindustrie befände sich im „Zangengriff“10 der Automobilkrise, so gemeinhin das Urteil von Branchenbeobachtern, und habe die Wucht des Absatzeinbruchs in besonderem Maße zu spüren bekommen.11 Vor diesem Hintergrund drängt sich ein ganzes Bündel von Fragestellungen auf. In dem Maße, in dem die jüngste Autokrise die Frage nach dem ­Neben- oder Miteinander von Herstellern und Zulieferern aktualisiert hat, scheint die Frage nach der Historizität des Beziehungsgefüges in der Automobilwirtschaft relevant. Damit rücken Konstanten der historisch gewachsenen Beziehungen in das Blickfeld. Kann man das eingangs angeführte Zitat aus den fünfziger Jahren gar als Indiz dafür interpretieren, dass das gegenwärtig nicht selten beklagte Modell „Daumenschraube“12 in der Automobilwirtschaft eine lange Traditionslinie aufweist? Eine umfassende Klärung dieser durchaus komplexen Frage erfordert ein gründlicheres Nachdenken, als hier aus Platzgründen entfaltet wird – würde dies doch eine umfassende Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte automobilwirtschaftlicher Lieferbeziehungen voraussetzen, die an dieser Stelle

9 

Vgl. dazu den Beitrag von Manfred Grieger in diesem Band. So Marco Dalan in der Welt, 17. 12. 2008, S. 14. 11  Vgl. z. B. Automobil-Produktion 12/2008, S. 8, S. 16f.; siehe auch Branchenbericht der Deutschen Industriebank AG: IKB Branchenbericht Automobilzulieferer, Düsseldorf, Dezember 2008; siehe auch FAZ, 5. 7. 2008, S. 15. 12  Für die Formulierung vgl. Siegfried Roth auf der Automobilkonferenz des IG Metall Bezirks Hannover am 25. Juni 2003, siehe auch unten, Anm. 96. 10 

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(noch) nicht geboten werden kann.13 Hier soll es vielmehr um den ersten Schritt gehen, d. h. um eine Annäherung an gestaltende Merkmale des Beziehungszusammenhangs. Für diesen ersten Schritt erscheint es sinnvoll, zumindest in Umrissen einige Grundsätze der Geschäftsbeziehung zu rekonstruieren. Im Sinne des Tagungsbandes ist dabei nach Indikatoren und Tendenzen des Wandels zu fragen. Dazu gehört die Frage nach der Dauerhaftigkeit von Geschäftsbeziehungen wie auch die Diskussion ihrer Veränderbarkeit. Im Folgenden wird versucht, Leitbilder und Praktiken der Geschäftsbeziehungen zwischen Automobilherstellern und ihren Zulieferern im Zeichen von sich wandelnden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anhand einiger Fallbeispiele schlaglichtartig zu analysieren. Dabei steht der Zeitraum von den ausgehenden fünfziger Jahren bis Mitte der siebziger Jahre im Mittelpunkt – und somit ist eine Phase des Booms, aber auch ein krisenhafter Einbruch der Automobilkonjunktur erfasst. Dahinter steht die These, dass sich bei rela­ tiver Kontinuität der Leitbilder die Praktiken der Geschäftsbeziehung mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen veränderten: von einer Abhängigkeit „mit Behagen“14 – geprägt von relativ großen Ermessensspielräumen der Geschäftspartner in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität – hin zu einem Streben nach messbaren, objektivierbaren Kriterien „guter“ Vertragserfüllung in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit. Zum Einstieg werden im folgenden Abschnitt die Strukturmerkmale der Geschäftsbeziehung in theoretischer Perspektive diskutiert. Anschließend stehen die Leitbilder der Geschäftsbeziehung sowie die Geschäftsentwicklung in der Automobilzulieferindustrie im Mittelpunkt. Das vierte Teilkapitel widmet sich der automobilwirtschaftlichen „Beziehungspraxis“ und untersucht anhand von Beispielen Spannungsmomente der gemeinsamen Geschäftstätigkeit von Automobilherstellern und ihren Zulieferern.

Merkmale des Zuliefergeschäfts – theoretische ­Vorüberlegungen Im Zeichen des „automobilen Wirtschaftswunders“ eröffneten sich für Unternehmen, die Automobilteile und Zubehör für die Automobilhersteller lieferten, erhebliche Wachstumschancen.15 Mitte der sechziger Jahre war etwa 13  Vgl. dazu das Forschungsvorhaben der Verfasserin: „Stumme Diener der Automobilindustrie? Automobil-Zulieferindustrie in Westdeutschland nach 1945.“ 14  So Herbert Gross im Jahr 1958, zitiert nach D. Kunz: Die Marktstellung der mittelständischen Zulieferbetriebe. Eine Untersuchung der Zulieferverhältnisse in der gewerblichen Wirtschaft Baden-Württembergs, Stuttgart 1972, S. 122. 15  Die Produktion von Kraftwagen war zwischen 1950 und 1960 von 306 000 auf 2 055 000 gestiegen und damit schneller gewachsen als das Bruttosozialprodukt, vgl. Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi): Die Automobilindustrie in der Bundesrepublik Deutschland. Bedeutung, Struktur, Lage und Aussichten, Bonn 1974, S. 11. Für

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ein Viertel der Beschäftigten in der Automobilindustrie in der Zulieferindustrie tätig.16 Zugelieferte Teile machten mehr als die Hälfte des Bruttoproduktionswertes eines Automobils aus.17 Je nach Art und Umfang des Engagements als Automobilzulieferer konnte mit dem Auto-Boom aber auch das Risiko verknüpft sein, sich auf einen Markt mit einer überschaubaren Zahl von Abnehmern festzulegen – und sich von wenigen, schlimmstenfalls von einem einzigen großen Kunden abhängig zu machen. Gewiss konnte dieses Risiko erheblich variieren – je nach Produkt, Marktstellung und Know-how des zuliefernden Unternehmens. Die Automobil-Zulieferindustrie umfasste ein weites Spektrum an Fertigungsbereichen und Erzeugnissen. Zu nennen wären u. a. Räder, Felgen, Fahrwerksteile, Lenkungen, textile Formteile, Bremsbeläge, spezifische Werkstoffe, Motorenteile, Rahmen, Reifen, Kupplungszubehör, elektrotechnisches Zubehör, Messgeräte, Uhren bis hin zu Autositzen, Gurten usw. Der Tätigkeitsbereich der Zulieferer lag nicht selten quer zu gängigen Branchenzuordnungen, da Unternehmen der Elektroindustrie, der Reifenindustrie und der kunststoffverarbeitenden Industrie ebenso dazugehörten wie Betriebe der stahlverformenden Indus­trie, der eisen-, blech- und metallverarbeitenden Industrie.18 Trotz der Vielfalt der Automobilzulieferindustrie, deren Buntscheckigkeit zahlreiche methodische Stolpersteine aufwirft und ein verallgemeinerndes Bild problematisch macht19, lässt sich doch – in grober Vereinfachung – für den Untersuchungszeitraum ein gemeinsamer Nenner des Automobil-Zuliefergeschäfts hervorheben: Die Zulieferfunktion. Das Zuliefergeschäft war ein

eine Überblicksdarstellung der Entwicklung der Automobilmärkte vgl. N. Beckmann: Käfer, Goggos, Heckflossen. Eine retrospektive Studie über die westdeutschen Automobilmärkte in den Jahren der beginnenden Massenmotorisierung, Vaihingen 2006. 16  Gemäß den Daten der im Verband der Automobilindustrie (VDA) organisierten Unternehmen, die die Gesamtzahl unterschätzt. Vgl. dazu S. Tilly: Das Zulieferproblem aus institutionenökonomischer Sicht. Die westdeutsche Automobil-Zuliefer­ industrie zwischen Produktions- und Marktorientierung (1960–1980), in: Dies. / D. Ziegler (Hrsg.): Automobilwirtschaft nach 1945: Vom Verkäufer- zum Käufermarkt? JWG 2010/1, S. 137–160, hier S. 139. 17  Union des Industries de la Communauté Européenne (Unice): Die industrielle Zuliefertätigkeit in der Bundesrepublik. Ausarbeitung der deutschen Delegation des Unice-Ausschusses zum Studium der Probleme der kleinen und mittleren Unternehmen in der EWG vom 25. 8. 1965, Brüssel [ohne Jahr, Manuskript], S. 2 sowie Tilly: Zulieferproblem. 18  Siehe auch D. Kunz: Die Marktstellung der mittelständischen Zulieferer. Eine Untersuchung der Zulieferverhältnisse in der gewerblichen Wirtschaft Baden-Württembergs, Stuttgart 1972, S. 33. 19  Ein methodisches Problem für die Rekonstruktion der Branchenentwicklung besteht darin, dass die einschlägigen Rubriken der Systematik des produzierenden Gewerbes („Teile und Zubehör für Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeugmotoren“) nicht die gesamte Automobil-Zulieferindustrie erfassen; ein weiteres in der Tatsache, dass im Untersuchungszeitraum Unternehmen, die für die Automobilindustrie lieferten, z. T. auch auf anderen Märkten Umsätze generierten.

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besonderes Geschäft – insofern, als es die hohe Abstimmung der Produkte auf Kundenwünsche voraussetzte, sieht man von Norm- und Massenteilanbietern einmal ab.20 In dieser Besonderheit liegt die Gelenkstelle zu einigen theoriegeleiteten Vorüberlegungen über das Wesen dieser automobilwirtschaftlichen Beziehung. Wie die Transaktionskosten-Ökonomie nach Oliver Williamson theoretisch hergeleitet hat, führt eine hohe „Produktspezifität“ – das heißt eine spezifische, auf den Kunden zugeschnittene Produktbeschaffenheit – in der Regel zu verbindlichen Geschäftsbeziehungen.21 Während ein unspezifisches Produkt normalerweise leicht am Markt über anonyme Tauschhandlungen mit wechselnden Geschäftspartnern beschafft werden kann, muss ein Kunde nach einem Spezialprodukt in der Regel länger suchen, so dass es mit ­steigender Spezifität wahrscheinlicher wird, dass sich die Beteiligten vom spontanen Markttausch entfernen und auf eine institutionell stärker befestigte Koordinationsform zusteuern, zum Beispiel Jahresverträge machen, Entwicklungspartnerschaften eingehen oder Joint Ventures initiieren.22 Es spricht somit allein aus der theoretischen Perspektive vieles dafür, dass verbindliche Geschäftsbeziehungen in der Automobilwirtschaft ein adäquates Arrangement waren – dass es also ein strukturelles Kriterium gab, das bindende und langfristige Geschäftsbeziehungen nahelegte. Für den Aufbau und den erfolgreichen Fortbestand der potentiell langfristigen, aber auch oftmals unübersichtlichen Beziehungen spielte die Vertrauensbildung der Geschäftspartner eine grundlegende Rolle. Dieser Umstand ist nicht nur in der historischen Perspektive greifbar, sondern erscheint auch in der theoretischen Betrachtung plausibel, die die funktionale Seite der vertrauensvollen Koopera­ tion betont. Im ökonomischen Denken gilt Vertrauen als ein Mechanismus, der in vielen Fällen ökonomische Transaktionen erst möglich macht.23 Dies hängt mit der Verfügbarkeit von Informationen zusammen, die mit Denk­ figuren der Neuen Institutionenökonomik, v. a. mit dem Theorem der „unvollständigen Information“, modellhaft beschrieben werden kann.24 Während im perfekten Markt der neoklassischen Standarddoktrin für alle Akteure vollständige Information gegeben ist und die Preissignale ausreichen, um Mengenverhältnisse und Präferenzen anzuzeigen und eine Koordination der wirtschaftlichen Aktivitäten zu ermöglichen, sind die Akteure auf einem Markt mit unvollständiger Information nur eingeschränkt informiert, was 20 

Kunz: Marktstellung, S. 121f.; vgl. auch Kilper / Schmidt-Dilcher: Recht. O. Williamson: The Economic Institutions of Capitalism. Firms, Markets, Relational Contracting, New York 1985, S. 52ff. 22  Vgl. auch J. Freiling: Die Abhängigkeit der Zulieferer. Ein strategisches Problem, Wiesbaden 1995, S. 49ff. 23  Vgl. R. Tilly: Introduction, in: Ders. (Hrsg.): Vertrauen/Trust, JWG, 2005/1, S. 9ff. 24  Für eine Zusammenstellung institutionenökonomischer Ansätze vgl. R. Richter / E. Furubotn: Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung, Tübingen 32003, hier S. 216ff. 21 

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das Zustandekommen von wirtschaftlichen Transaktionen behindern kann. Informationslücken mögen – dieser Modellvorstellung zufolge – etwa be­ stehen im Hinblick auf die Qualität des Produkts, die Angemessenheit des Preises, die tatsächliche Erfüllung einer eingekauften Leistung sowie das zukünftige Verhalten des Vertragspartners.25 Angesichts des unterschiedlichen Informationsstandes der Marktteilnehmer erscheint es in einigen Situationen unabdingbar, anderen Akteuren oder dem Wirtschaftsprozess als Ganzem zu vertrauen – um Situationen von Stillstand oder allgemeinem kollektiven Abwarten zu überwinden. Dabei lässt sich Vertrauen zwar als „riskante Vorleistung“ charakterisieren, weil das Risiko besteht, dass das Vertrauen enttäuscht wird.26 Dieses Risiko ist gleichwohl durch allgemeine Spielregeln begrenzt, die den Marktteilnehmern Anreize geben, sich „vertrauenswürdig“ zu verhalten – oder Vertrauen zu schenken. Im Tagesgeschäft helfen standardisierte Signale wie z. B. Referenzen, Qualitätsstandards etc. dabei, diese Entscheidung zu treffen.27 Zugleich ist Vertrauen oftmals die preiswerteste, sprich: effizienteste Form der Interaktion – wenn man Transaktionskosten in Form von Kontroll- oder Überwachungskosten berücksichtigt. Diese Überlegungen aus der institutionenökonomischen Modellwelt legen nahe, dass das Zuliefer­geschäft einen Fall von ökonomischem Handeln darstellt, der in besonderem Maße mit Informationsmängeln behaftet war und verstetigender Spielregeln bedurfte. So mochten etwa Informationsmängel des Automobilherstellers bestehen im Hinblick auf die Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Qualität der Lieferung oder auf die Preisstellung des Zulieferers – eine klassische Principal-Agent-Situation. Umgekehrt nahm der Automobilzulieferer mit der Ausrichtung seines Unternehmens und der Spezialisierung auf die Wünsche seiner wenigen Kunden eine folgenreiche Weichenstellung vor, die weit über seinen Informationshorizont, z. B. die Laufzeit von Bestellfristen, hinausweisen mochte. Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma der Informationsdefizite mochten dabei die Ressourcen Zeit und Vertrauen darstellen. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist teuer“, so lautet ein institutionenökonomisches Motto28, das jenseits moralischer Erwägungen auch mit ökonomischen Axiomen erklärbar machen soll, warum die Akteure in einer solchen Beziehung ihren Informationsvorsprung nicht unbedingt zu opportunistischem Verhalten oder moral hazard ausnutzen.29 25 

Das Axiom der unvollständigen Information hat G. Akerlof in die ökonomische Diskussion eingeführt, G. Akerlof: The Market for ‚Lemons‘: Quality Uncertainty and the Market Mechanism, in: The Quarterly Journal of Economics 84, 3 (1970), S. 488–500. 26  Vgl. T. Ripperger: Ökonomik des Vertrauens. Analyse eines Organisationsprinzips, Tübingen 1998, S. 85f. 27  Vgl. auch G. Mankiw: Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 2004, S. 520ff. 28  Vgl. Martin Fiedler: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist teuer: Vertrauen als Schlüsselkategorie wirtschaftlichen Handelns, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001/4, S. 576–592. 29  Vgl. auch Tilly: Introduction.

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In der theoretischen Betrachtung der Zulieferbeziehung gewinnt somit eine Modellvorstellung an Kontur, die langfristige Kooperation voraussetzte, auf diese Weise Kontroll- und Informationsbedürfnisse der beteiligten Geschäftspartner verbinden konnte und damit beiden Seiten Vorteile bot. Nun muss dieses Modell jedoch praktisch nicht unbedingt umgesetzt worden sein. Schließlich bedeutet die Adäquanz einer bestimmten Form der ökonomischen Interaktion nicht zwangsläufig, dass die Akteure in der Realität diese Form auch praktiziert haben. Für die historische Reformulierung der Frage ist zu prüfen, wie die Geschäftsbeziehung verstanden und ausgestaltet wurde – d. h. also auch, ob die Idee der vertrauensbasierten Kooperation tatsächlich eine Orientierungsfunktion gehabt haben mag. Zugleich ist die Frage nach der Entwicklung im Zeitverlauf aufgeworfen: Was mochte passieren, als sich die Rahmenbedingungen veränderten und der Zustand des Gleichgewichts ins Wanken geriet, zum Beispiel, weil die Branche stagnierte? Die oben rekonstruierte Tendenz zu typischerweise langfristigen Beziehungen innerhalb dieses Industriezweigs legt die Schlussfolgerung nahe, dass eine Branchenkrise vielfach auch eine „Beziehungskrise“ heraufbeschwören konnte. Daher wird in den folgenden Abschnitten das Selbstverständnis der Geschäftsbeziehung in der Außen- und Innensicht mit einigen Testfällen aus der automobilwirtschaftlichen Beziehungspraxis kontrastiert.

„Partner der Großen“30 – Zum Leitbild der Geschäfts­ beziehung in der Automobilindustrie Gegenwärtig spielt das Motiv der „Partnerschaft“ in der Selbstdarstellung von Unternehmen der Automobil-Zulieferindustrie eine wichtige Rolle. Ein flüchtiger Blick auf ein zufällig ausgewähltes Sample von Zulieferunternehmen und ihre Kundenansprache in Imagebroschüren, Werbeanzeigen oder Internetauftritten mag das bestätigen. So bezeichnet sich eines der größten Zulieferunternehmen der Welt, Bosch, als „weltweiter Partner der Automobilindustrie“ und verweist mit dem Hinweis „über 100 Jahre Entwicklungspartner der Automobilindustrie“ auf Tradition und eigene Forschungskompetenz.31 Die in Bocholt ansässige Borgers AG, ein westfälisches Familienunternehmen, das textile Formteile für die Automobilindustrie herstellt, präsentiert sich als „weltweit flexibler und zuverlässiger Partner der Auto­

30  Vgl. H. Grote: „Zulieferer“ – Partner der Großen?, in: Automobilwirtschaft, Februar 1971, S. 42–46. 31  Vgl. u. a. die Stellungnahme des Unternehmens anlässlich der Pressekonferenz der IAA, vgl. Robert Bosch GmbH: Pressemitteilung vom 13. 9. 2005, http://www.pressrelations.de/new/standard/dereferrer.cfm?r=203971 (Zugriff 18. 3. 2013); siehe auch Robert Bosch GmbH: Presseinformation Nr. 4768, Februar 2005.

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mobil­industrie“,32 das schwäbische Traditionsunternehmen Eberspächer, Hersteller von Schalldämpfern und Standheizungen, beschreibt sich als „kompetenter Entwicklungspartner der Automobilindustrie“, während Fehrer, ein fränkisches Unternehmen, das unter anderem Automobilsitze fertigt, sich als „zuverlässiger Partner“ der Automobilindustrie vorstellt und die Lack­industrie die „glänzende Partnerschaft“33 zur Automobilindustrie betont.34 Wie die kurze Zusammenschau zeigt, treten Zuverlässigkeit und Langlebigkeit der Partnerschaft als Kernattribute hervor. Die Semantik der Partnerschaft, von der die Außendarstellung der Zulieferindustrie durchdrungen ist, evoziert ein Beziehungsideal, das assoziiert wird mit Verbindlichkeit, Gleichberechtigung, Freiwilligkeit, Fairness und Gegenseitigkeit. Ohne die Analyse der öffentlichen Darstellung der Zulieferindustrie an dieser Stelle zu vertiefen (und dabei zum Beispiel Kommunikationsabsichten und Zielgruppen zu dechiffrieren), lässt sich vorläufig bilanzieren, dass die Geschäftsbeziehung seitens der Zulieferindustrie in der Außendarstellung als „Partnerschaft“ inszeniert wird. Dies passt zu der Argumentation der Automobilhersteller selbst, die den gelegentlich erhobenen öffentlichen Vorwurf, die Automobilhersteller würden übermäßigen Druck „auf die Kleinen“ ausüben, oft mit dem Argument entkräfteten, es handele sich nicht um ein Abhängigkeitsverhältnis, sondern um eine Partnerschaft auf Augenhöhe.35 Bis zu den 1970er Jahren scheint das Motiv der Partnerschaft in der Außendarstellung von Zulieferunternehmen noch keine so dominante Rolle gespielt zu haben.36 Vielmehr wurde die an den Kundenkreis gerichtete Botschaft, ein dauerhafter Wegbegleiter zu sein, eher indirekt in die Produktwerbung eingewoben. „Wie lange dreht das Rad sich schon?“ hieß es in der Bildunterschrift einer Anzeige der Mannesmann-Verkaufsgemeinschaft von ca. 1960, placiert unter der Zeichnung eines urgeschichtlich anmutenden ­Vehikels. „Bevor wir unsere Erde entdeckten, entdeckten wir das Rad. (…) Wo einst plumpe Karren holperten, sausen heute elegante Wagen. Nicht nur 32 

Vgl. z. B. die Imagebroschüre der Borgers AG. Borgers – Comfort for your car, Bocholt o. J., S. 5. 33  K. Chor / K.-D. Ledwoch: Glänzende Partnerschaft. 100 Jahre Automobil & Lack, München 1986. 34  Vgl. für Eberspächer zum Beispiel H. Brauch: 125 Jahre Eberspächer, in: Automobiltechnische Zeitschrift (Supplement), 92, 1990, 12 sowie die Imagebroschüre Eberspächer – Ein Unternehmensporträt, Esslingen o. J.; für Fehrer vgl. z. B. das Interview mit Fehrer-Manager Welzel in Automobil-Produktion, Juli 2007, S. 34f. 35  Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft: Bericht über das Ergebnis einer Untersuchung der Konzentration in der Wirtschaft vom 29. 2. 1964, in: Bundestagsdrucksache IV, 2320, hier S. 21 sowie Monopolkommission: Sondergutachten 7: Mißbräuche der Nachfragemacht und Möglichkeiten zu ihrer Kontrolle im Rahmen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, Baden-Baden 1977, S. 71. 36  Zum Werbeauftritt von Zulieferunternehmen seit den fünfziger Jahren vgl. auch Tilly: Zulieferproblem, S. 147f.

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schnell – auch sicher und schön sollen sie sein. Für beides schafft Mannesmann die Voraussetzungen: durch Stahl­bleche und nahtlose Stahlröhren für das Chassis, durch Tiefziehbleche für die Karosserie. Nur hochwertige Werkstoffe ermöglichen eine einwandfreie Verarbeitung.“37 Ähnlich warb auch eine Werbebroschüre des Schmiede­unternehmens Peddinghaus mit dem Slogan: „Wenn’s sicher sein soll, Gesenkschmieden“ und führte weiter aus: „Sicher­ heitsteile für Autos liefern wir schon, seit es Automobile gibt“. Die Idee der Partnerschaft wurde gleichwohl ebenfalls thematisiert: „Im partnerschaftli­ chen Verhältnis zu unseren Kunden treffen sich Tradition und Fortschritt. Unsere Entwicklungsabteilung (…) erarbeitet mit dem Kunden die technisch und wirtschaftlich beste Lösung.“38 Diese kurze und flüchtige Skizze lässt den Eindruck entstehen, dass das Versprechen von Partnerschaft in der Außendarstellung von Zulieferunternehmen im Laufe der Zeit eine größere Bedeutung erreichte, bevor es – gleichsam zum Topos geronnen – zum Leitmotiv avancierte. Dies mag einerseits den einleitend angesprochenen Strukturwandel in der Automobilwirtschaft widerspiegeln und damit zugleich die wachsende Bedeutung von Systemkäufen und Modulzulieferungen. Andererseits entsprach es wohl auch einer Strategie der Krisenüberwindung, die marktferne Position eines „Teilefertigers“ zu überwinden und dementsprechend in der Außendarstellung stärker als „Partner“ („Wertschöpfungspartner“, „Entwicklungspartner“, „Problemlösungsspezialist“) aufzutreten. 39 Darauf ist zurückzukommen. Lässt sich auch in der Innensicht der Geschäftsbeziehung ein Leitbild erkennen beziehungsweise das Leitbild der Partnerschaft wiederfinden? Diese Frage ist ungleich schwerer zu beantworten. Ruft man sich den eingangs angeführten Ausspruch des Einkaufsvorstands von Daimler-Benz im Jahr 1956 ins Gedächtnis – „Einkäufer, werdet hart und bleibet hart“ – so werden eher Assoziationen zu einem Gegenmodell geweckt, als ob der Einkaufs-Chef des Automobilherstellers seiner Hörerschaft anempfohlen hätte, Geschäftskontakte zu Lieferanten mit Stärke, Durchsetzungsvermögen, Unnachgiebigkeit und Strenge des größeren Vertragspartners auszugestalten. Aber schon die weiteren Ausführungen, die das Vorstandsmitglied auf der genannten Tagung präsentierte, offenbarten eine weitaus differenziertere Vorstellung von der Geschäftsbeziehung zum Zulieferer. So relativierte Jacob das zitierte Motto, indem er mit großem Nachdruck betonte, dass es nicht Durchsetzungsstärke sei, die seines Erachtens einen guten Einkäufer ausmache, sondern viel eher Kooperationsfähigkeit, Verhandlungsbereitschaft sowie Sachkenntnisse in Bezug auf das zu beschaffende Produkt.40 In diesem Sinne argumentierten 37 

SZAG-KA, M. 32.169.67, Anzeige Nr. 366. WWA, F. 189, Erg. Nr. 1. 39  Tilly, Zulieferproblem, S. 154ff. 40  MBCA, Bestand Einkauf/43, Jacob, Rede „Automatisierung der Einkaufsarbeit“, S. 11f. 38 

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auch die „Richtlinien“ der Materialabteilung der Daimler-Benz AG, die als eine Art Leitfaden für Einkäufer des Automobilherstellers fungierten und unternehmensinterne Leitsätze für den Umgang mit einem Zulieferer beinhalteten.41 So enthielt die Ausgabe von 1958 beispielsweise den Hinweis, dass „Holzhammermethoden“ fehl am Platz seien; ein Einkäufer solle vielmehr einen Sinn für „gute Zusammenarbeit“ entwickeln.42 Dahinter steckte die Überlegung, dass – wie das Dokument es formulierte – „ein Lieferant, der keine Freude am Geschäft hat, (…) nie ein guter Lieferant sein“ werde.43 Der in den Richtlinien dargestellten Philosophie entsprach es, dass die Bedeutung des Preises als Orientierungskriterium für die Vergabe von Zuschlägen in mancherlei Hinsicht relativiert wurde. Gewiss sei der Preis wichtig, aber keinesfalls allein ausschlaggebend, stattdessen sei als erstrangiges Kriterium die Qualität des Produkts zu bedenken, als fast ebenso wichtig galt in den Ausführungen aber auch die Zuverlässigkeit der Lieferungen (im Hinblick auf Pünktlichkeit, Einhaltung von Zusagen; Exaktheit, Konstanz in Qualität) und die Wahrung des vereinbarten Standards in der Serienlieferung.44 Aus den „Richtlinien“ lässt sich somit auch herauslesen, dass ein Zulieferer eine Art Erziehungsprozess durchlief, bevor er in den Kreis der „Stammlieferanten“ aufrückte. Dazu zählten in den frühen sechziger Jahren schätzungsweise etwa 2 000 Unternehmen.45 Aus Sicht des Automobilherstellers schien es günstig, den Kreis der Zulieferer möglichst konstant zu halten und hier auf verbindliche Beziehungen zu setzen. Dazu passte, dass ein Stammzulieferer quasi auf die höchste Vertrauensstufe vorrückte, indem der Einkäufer ihm bei Einhalten des einmal etablierten Standards „Lieferantentreue“ versprach. In den Richtlinien hieß es dazu: „Lieferantentreue ist kein leeres Schlagwort, sondern wird bei DB ernst ­genommen. Es ist nicht erwünscht, den Lieferanten zu wechseln, nur weil ­mitunter mehrmals Ware beanstandet wurde. In Zusammenarbeit mit den ­zuständigen Stellen beider Werke (Lieferant und Abnehmer) werden diese […] Beanstandungen behoben. Nur in hartnäckigen Fällen wird ein Wechsel vorgenommen werden.“46 41 

MBCA, Bestand Einkauf/42. Richtlinien der Materialwirtschaft. MBCA, Bestand Einkauf/42, Richtlinien der Materialwirtschaft, Richtlinie vom 9. 6. 1958, S. 1, 9. 43  Ebd., S. 9. Hervorhebungen im Original. 44  MBCA, Bestand Einkauf/42, Richtlinien der Materialwirtschaft, passim. 45  Vgl. Daimler Benz AG: Das Großunternehmen und der industrielle Mittelstand. Eine Untersuchung über die klein- und mittelbetrieblichen Zulieferer der Daimler Benz AG, Stuttgart 1962. Diese Studie nennt 16 500 Zulieferer – der Kreis der Stammlieferanten muss aber erheblich kleiner gewesen sein, siehe A. Iber-Schade: Auswirkungen des Strukturwandels in der Automobilindustrie auf Kfz-Zulieferunternehmen, in: B. Röper (Hrsg.): Strukturpolitische Probleme der Automobilindustrie unter dem Aspekt des Wettbewerbs, Berlin 1985, S. 95–127. 46  MBCA, Bestand Einkauf/42, Richtlinien der Materialwirtschaft, Richtlinien vom 9. 6. 1958, S. 9. 42 

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Die unternehmensintern formulierten Grundsätze entwarfen somit einen Verhaltenskodex, innerhalb dessen die Treue zum Geschäftspartner eine Leitvorstellung darstellte und der insgesamt auf eine Art Einkäufermoral hinauslief, die tradierten Wertvorstellungen gehorchen sollte und auf dauerhafte, faire Kooperation setzte. Gleichwohl ist bei diesem Verhaltenskodex zu bedenken, dass es aus Sicht des Unternehmens wohl nicht nur die Werte an sich waren, die diese Spiel­ regeln opportun erscheinen ließen, sondern dass hinter der Einkäufer-Moral zugleich ein Kosten-Nutzen-Kalkül steckte. Dies räumte der Einkaufs-Vorstand Otto Jacob im Übrigen auch selbst ein, als er erklärte: „Wir wissen (…), welche Kosten die ‚Erziehung‘ eines neuen Lieferanten verursacht, denn mit jedem müssen wir ja praktisch ab 0 anfangen.“47 Die Investition des Unternehmens in Anlernprozesse seiner Zulieferer sollte sich also amortisieren. Wenn ein Zulieferer in den Status eines Stammlieferanten avanciert war, brachte ihn jedoch erst „hartnäckiges“ Fehlverhalten zu Fall. Dies mochte dann geschehen, wenn die Kosten durch Mängel höher waren als die Erziehung eines neuen Zulieferers. Ein guter Einkäufer sollte im Bilde sein, das hatte Jacob in seiner Darlegung ebenfalls betont, welche Kosten durch säumige Lieferung oder fehlerhafte Qualität entstünden. Für den systematischen Blick auf die Beziehungen innerhalb der Automobilwirtschaft bieten die Grundsätze, wie sie bei dem Automobilhersteller Daimler-Benz in den frühen sechziger Jahren hochgehalten wurden, Anknüpfungspunkte für weiterführende Überlegungen. Zum einen lässt sich herauslesen, dass die Spielregeln im konkreten Fall noch einen erheblichen Interpretationsspielraum für den Einkäufer beließen. Gewiss waren der „Aufstieg“ zum Stammlieferanten und die Anwartschaft auf den damit verbundenen Vertrauensvorschuss von objektiven, qualitätsorientierten ­Kriterien geprägt. Dennoch lag es dann im Ermessen der Einkäufer beziehungsweise ihres Ressorts, einzuschätzen, ab wann ein „hartnäckiger“ Fall von Fehlverhalten vorlag – und wie viele Chancen bis zum Aufkündigen der Geschäftsbeziehung gewährt wurden. In dieses Kalkül mochten nicht nur sachbezogene, sondern möglicherweise auch persönliche Kriterien hineingespielt haben – man denke etwa an private Kontakte, Freundschaften, Netzwerke. Diese Überlegung weist über die Ebene des Leitbilds hinaus – und führt zu der allgemeineren Frage, wie die Geschäftsbeziehung zwischen Herstellern und Zulieferern in der Praxis ausgestaltet wurde. Wenngleich es plausibel erscheint, dass die Partnerschafts-Idee Leitbildfunktion erreicht haben mag, so bleibt doch zu fragen, ob dieses Leitbild in der Praxis der automobilwirtschaftlichen Beziehungen Relevanz hatte. Dabei ist zu bedenken, dass die oben skizzierten Richtlinien von Daimler-Benz nicht als repräsentativer Be47  MBCA, Bestand Einkauf/43, Jacob, Rede „Automatisierung der Einkaufsarbeit“, S. 12.

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leg eines Verhaltenskodexes für die gesamte Automobilindustrie ausgedeutet werden können – handelte es sich doch um unternehmensinterne Handlungsmaximen aus dem Hause eines ausgewählten Unternehmens der Automobilindustrie – und in diesem Fall eines Automobilherstellers, der mit Fahrzeugen der Oberklasse in einem fest umrissenen Segment des Automobilmarktes engagiert war. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Einkaufsphilosophie mit der Ausrichtung des Marktsegments variierte, dass zum Beispiel ein Massenhersteller wie Volkswagen andere unternehmensinterne Grundsätze verfolgte als Daimler-Benz. Dass aber auch bei Volkswagen die grundsätzliche Bedeutung der Kooperation mit den Zulieferern reflektiert wurde, zeigen die Überlegungen, die der Verantwortliche des Einkaufsressorts von Volkswagen, Julius Paulsen, in seinem Jahresbericht für 1960 zusammenfasste: „Wir dürfen nicht vergessen, daß wir bei unserem sehr hohen, in die Milli­ arden gehenden Bedarf (…) immer wieder auf die gleichen Zulieferanten an­ gewiesen sind und daß wir diese zum Teil auch dann, wenn es sich um große Werke handelt, zu 50% und mehr in ihrer Gesamtkapazität beschäftigen. Wir sind also auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit angewiesen, da es in Streitfällen gar nicht möglich wäre, kurzfristig an anderen Stellen Kapazitä­ ten freizumachen oder neu zu erstellen.“48 Diese Formulierungen lassen zum einen auch hier die Idee der „ver­ trauensvolle[n] Zusammenarbeit“ als leitender Vorstellung erkennen. Zum anderen wird deutlich, dass diese Idee mit den strukturellen Gegebenheiten korrespondierte und allein angesichts der Umstände als one best way zu ­gelten hatte, das heißt als bester, in dieser Phase gleichsam alternativloser Weg gekennzeichnet wurde.

Die Geschäftsentwicklung in der Automobilzulieferindustrie Für die Entfaltung der Geschäftsbeziehung in der Praxis spielten situative Faktoren – entscheidend bestimmt durch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – eine ausschlaggebende Rolle. Der hier betrachtete Zeitraum war durch dynamische Aufschwungphasen, aber auch durch Perioden nachlassenden Wachstums und krisenhafte Einbrüche geprägt. Die nachfolgende Übersicht veranschaulicht die jährlichen Steigerungsraten der Automobilproduktion von 1954 bis 1976 sowie die jährlichen Veränderungsraten der Umsätze im Kraftfahrzeugbau und in der Kraftfahrzeugteile- und zubehörindustrie. Auf den ersten Blick ist erkennbar, dass die Geschäftsentwicklung der ­Teile- und Zubehörindustrie im betrachteten Zeitraum dem Verlauf der Produktions- und Umsatzentwicklung der Automobilherstellung weitgehend 48  VW-KA, JB Einkauf, 174/2366 (1949–1968), hier: Jahresbericht über den Einkauf und die Materialabteilung für 1960.

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50 50 40 40 30 30 20 20 10 10

SteigerungsratenUmsatz Umsatz Steigerungsraten Zulieferindustriebzw. bzw. Zulieferindustrie Kraftfahrzeugteile-u uzubehör zubehör Kraftfahrzeugteileinin%% Steigerungsraten Steigerungsraten Automobilproduktioninin%% Automobilproduktion

1 1995 544 19 195 566 19 195 588 19 196 600 19 196 622 19 196 644 1 1996 666 19 196 688 19 197 700 19 197 722 19 197 744 19 197 766

00

Steigerungsraten SteigerungsratenUmsatz Umsatz Kraftfahrzeugbau Kraftfahrzeugbauin% in%

-10 -10 -20 -20

SteigerungsratenBIP BIPinin%% Steigerungsraten

-30 -30

Abbildung 1: Produktion und Umsätze in der Automobilwirtschaft 1954–1976, jähr­ liche Steigerungsraten in %.49

entsprach. Die auffallende Übereinstimmung der Wendepunkte in den Jahren 1956/57, 1966/67 und 1974/75 verdeutlicht die gleichgerichtete Entwicklungstendenz innerhalb beider Teilbereiche der Automobilwirtschaft und ­illustriert gleichermaßen ihre Kopplung. Gleichwohl ist die Aussagekraft der Daten durch einige erhebungstechnische Besonderheiten eingeschränkt, die bei der Interpretation des Kurvenverlaufs für die Kraftfahrzeugteileindustrie zu berücksichtigen sind: Zum einen ist anzumerken, dass die zugrundeliegende Datenreihe nicht die gesamte, statistisch schwer zu vereinheitlichende Automobilzulieferindustrie repräsentiert, da sie nur diejenigen Unternehmen einbezieht, die gemäß der Industrieberichterstattung im Untersuchungszeitraum in der Kategorie „Herstellung von Kraftfahrzeugteilen und -zubehör“ erfasst wurden und somit zuliefernde Unternehmen unberücksichtigt lässt, die in anderen Branchen – z. B. der feinmechanischen, der elektrotechnischen sowie der eisen-, blech- und metallverarbeitenden Industrie rubriziert wurden.50 Zudem ist eine weitere Verzerrung dadurch anzunehmen, dass in den Produktionsziffern auch Kraftfahrzeugteile erfasst wurden, die die Automo49  Berechnet nach VDA, Tatsachen und Zahlen aus der Kraftverkehrswirtschaft (im Folgenden zitiert als: TuZ), Bd. 24, 1959/60, Frankfurt/Main 1960, S. 30, S. 244f. ; TuZ, Bd. 27, 1962/63, S. 260ff.; TuZ, Bd. 30, 1965/66, S. 248ff.; TuZ, Bd. 33, 1968/69, S. 275ff.; TuZ, Bd. 36, 1972, S. 262ff.; TuZ, Bd. 39, 1975, S. 280f.; TuZ, Bd. 41, 1977, S. 292f.; TuZ, Bd. 42, 1978, S. 26f.; Statistisches Bundesamt,: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. Bruttoinlandsprodukt, Bruttonationaleinkommen, Volkseinkommen. Lange Reihen ab 1950, Wiesbaden 2012. 50  Z. B. wurde die Fahrzeugelektrik nicht einbezogen, vgl. für die Systematik der Erfassung und ihre Veränderungen: Statistisches Bundesamt Wiesbaden: Systematik der Wirtschaftszweige. Grundsystematik mit Erläuterungen, Stuttgart/Mainz 1961, S. 47f.; dass.: Systematik der Wirtschaftszweige. Grundsystematik ohne Erläuterungen Stand 1970, Stuttgart/Mainz, 1971, S. 34f., dass.: Systematik der Wirtschaftszweige mit Erläuterungen, Ausgabe 1979, Wiesbaden 1992, S. 96, passim.

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bilfabriken selbst fertigten, wenn diese nicht in die eigene Kraftwagenherstellung eingingen, sondern für den direkten Absatz – z. B. für den Kundendienst – bestimmt waren. Darüber hinaus veränderten sich innerhalb des Unter­ suchungszeitraums einige Teilaspekte der Erfassungssystematik, so dass z. B. die über dem Trend liegenden hohen Steigerungsraten der Teile- und Zubehörindustrie in den Jahren 1959/60 zumindest zu einem Teil auf diese Veränderungen zurückzuführen sind. Zugleich deutet dieser Anstieg aber auch auf eine Ausdehnung der Ausfuhr, vor allem von Teilesätzen für die Automobilproduktion im Ausland, hin.51 Auf die gestiegene Bedeutung des Teileexports ist es auch zurückzuführen, dass die Umsatzziffern der Kraftfahrzeugteileund Zubehörindustrie während der Rezession von 1966/67 nicht stärker einbrachen und mit einem Umsatzminus in Höhe von sieben Prozent im Vergleich zum Rückgang der Automobilproduktion (minus 18 Prozent) sogar relativ moderat ausfielen.52 Gleichwohl verschleiert dieses summarische Ergebnis erhebliche Problemlagen vor allem bei denjenigen Unternehmen der Kraftfahrzeugteileindustrie, die bis dahin kein Auslandsgeschäft betrieben hatten – ein Umstand, der häufig mit der Kapazitätsauslastung mittelständischer Zulieferbetriebe in Zusammenhang stand, deren Kapazitäten trotz des fortwährenden Ausbaus allein durch die inländische Nachfrage immer wieder an ihre Grenzen gebracht worden waren.53 Ein ähnlicher Befund wie für die Rezession von 1966/67 ließ sich auch, nach einem äußerst dynamischen Wachstum der Teilefertigung in den Jahren 1969 bis 1973, für die Krisenjahre 1974/75 feststellen. So war das Umsatzvolumen im Jahr 1974 gegenüber dem Vorjahr nominal um sechs Prozent gestiegen, preisbereinigt jedoch auf Vorjahresniveau stagniert.54 Angesichts stabiler Auslandsumsätze konnte der Krisendruck zunächst abgefedert werden. Dennoch verbarg sich hinter diesem, gemessen an den Umsatzeinbrüchen in der Automobilherstellung vergleichsweise guten Gesamtergebnis der Kraftfahrzeugteilehersteller eine höchst unbefriedigende Ertragslage in der Teilefertigung, insofern, als eine geringe Anzahl besonders hochwertiger Positionen – vor allem Teile für die Nutzfahrzeugherstellung – den Gruppenumsatz aufblähten und damit den Umstand verdeckten, dass die Teile- und Zubehörindustrie ihre Kapazitäten nur noch unzureichend auslastete und Kurzarbeit und Entlassungen durchführte.55 Die Beschäftigtenzahlen waren zwischen 1973 und 1975 um sieben Prozent gesunken. 51 

Vgl. Klaus W. Busch: Strukturwandlungen der westdeutschen Automobilindustrie, Berlin 1966, S. 79f. sowie VDA: Tätigkeitsbericht 1960/61, Frankfurt am Main 1961, S. 6. Zur Problematik des Ersatzteilgeschäfts vgl. Tilly: Zulieferproblem, S. 150ff. 52  Siehe dazu auch VDA: Jahresbericht 66/67, Frankfurt a. Main, 1967, S. 18. 53  Siehe dazu auch VDA: Jahresbericht 66/67, Frankfurt a. Main, 1967, S. 18. 54  Vgl. Deutsche Bundesbank, Index der Erzeugerpreise gewerblicher Produkte 1949– 2011, unter http://www.bundesbank.de/statistik/statistik_zeitreihen.php?lang=de&op en=konjunktur&func=row&tr=UJZH99 (Zugriff am 20. 9. 2011). 55  VDA: Jahresbericht 1974/75, S. 13.

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Beschäftigte in der Kraftfahrzeugteile-Industrie, jährliche Steigerungsrate in %

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Abbildung 2: Beschäftigte in der Kraftfahrzeugteile- und Zubehörindustrie 1962–1976, jährliche Steigerungsraten in %.56

Testfälle der automobilwirtschaftlichen Beziehungspraxis von den 1950er bis zu den 1970er Jahren Mit den wirtschaftlichen Wechsellagen innerhalb der Branche gingen allmähliche Veränderungen der „konjunkturklimatischen“ Bedingungen für die Geschäftsbeziehungen einher. Dabei stellten sowohl die wirtschaftliche Dynamik im Zeichen von Wachstum als auch die Stagnationsphasen die Geschäftspartner vor Anpassungszwänge, deren Überwindung nicht nur Flexibilität, sondern auch eine gewisse Risikobereitschaft erforderte. Dies galt im Besonderen für die „Wirtschaftswunderjahre“: Die steigende Automobilproduk­ tion in der Boomphase erforderte eine rasche Ausdehnung auch der Produktionsvolumina in der Zulieferindustrie. Damit standen Unternehmen, die Zulieferprodukte für die Automobilindustrie lieferten und eine maximale Auslastung ihrer Werke und Produktionsanlagen erreicht hatten, vor der Option, ihre Kapazitäten im Vertrauen auf künftige Aufträge zu erweitern oder mögliche Entwicklungschancen an Wettbewerber zu verlieren. Auf diese Weise gewann ein Szenario an Kontur, das gemäß den oben skizzierten theoretischen Überlegungen dann in ein Dilemma münden konnte, wenn bei den Akteuren kein Vertrauen auf die Verbindlichkeit und den Fortbestand der Geschäftsbeziehung sowie auf das künftige Potenzial der Automobil­ industrie vorhanden war. Wie die quantitative Entwicklung für die gesamte Branche zeigt, so wurde ein rasches paralleles Wachstum auf beiden Stufen der automobilen Wertschöpfungskette realisiert.57 Dies spricht, in der Gesamtschau, für eine durchaus optimistische Zukunftserwartung der Akteure und für eine im Ergebnis gelungene Koopera­ 56 

Berechnet nach TuZ, verschiedene Jahrgänge, wie Abbildung 1 mit Fußnote 49. Vgl. dafür die Entwicklung der Bruttoproduktionswerte der Kraftfahrzeugindustrie des Bundesgebietes sowie der Kraftfahrzeug-Teile und Zubehör-Industrie gemäß VDA, TuZ, 30, 1966, S. 77; VDA, TuZ, 39, 1975, S. 71; VDA, TuZ, 43, 1979, S. 71; siehe auch I. Petzold: Die Zulieferindustrie, Berlin 1968, S. 38. 57 

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tion. Zu fragen ist jedoch, wie auf der Ebene der einzelnen Unternehmen die Anpassung vollzogen wurde. Die Einkaufsberichte der Volkswagenwerke äußerten ein nachdrückliches Lob der Flexibilität der Zulieferer im ersten Nachkriegsjahrzehnt. Diese hätten sich optimal auf die Lieferwünsche von Volkswagen eingestellt.58 Dieses positive Gesamtresümee darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Ausbau von produktiven Kapazitäten durchaus Konfliktpotential beinhaltete und von einem potentiell konfliktträchtigen Aushandlungsprozess flankiert wurde, was sich anhand einiger Fallbeispiele veranschaulichen lässt. Als erstes Beispiel sei ein Zulieferer von Volkswagen angeführt, der Schmiedestücke für den VW Käfer fertigte und seine Betriebsanlagen im Laufe der 1950er Jahre im Zuge des steigenden Absatzes erheblich erweitert hatte. Bei der Auftragsvergabe im Jahr 1957 musste er jedoch konsterniert feststellen, dass die Volkswagenwerke auch einen Zweitlieferanten eingeschaltet hatten – und seine neu geschaffenen Kapazitäten nun teilweise unausgelastet geblieben waren.59 Angesichts dieses Umstands wandte sich der Zulieferer direkt an Heinrich Nordhoff, den Generaldirektor der Volkswagenwerke, um sich über das Geschäftsgebaren des Automobilherstellers zu beschweren. Hatte das Unternehmen Volkswagen mit diesem Verhalten gegen eine Verhaltensregel des Zuliefergeschäfts verstoßen oder unausgesprochene Grundsätze des fair play verletzt? Für eine Antwort auf diese Frage sind verschiedene Einflussfaktoren und zum Teil widersprüchliche Motivlagen zu bedenken. So entsprach der Umstand, einen zweiten Lieferanten einzuschalten, im Grundsatz durchaus der zu diesem Zeitpunkt vergleichsweise neuen Maxime der Einkaufsabteilung des Automobilproduzenten, das sogenannte „single sourcing“ – also die Beauf­ tragung eines einzigen Lieferanten – nach Möglichkeit durch die Einschaltung ­eines zweiten Lieferanten zu vermeiden.60 Das Bedürfnis des Automobilher­ stellers, das Risiko auf mehrere Schultern zu verteilen, war prinzipiell auch aus Zuliefersicht durchaus nachvollziehbar – und nicht selten wurden auch die zuliefernden Unternehmen selbst in die Suche nach einem Zweitlieferanten und in die Diskussion um die Aufteilung der Quoten eingebunden. Zudem hatte der Verantwortliche der VW-Einkaufsabteilung, Julius Paulsen, das Anliegen formuliert, die neue Maxime behutsam und möglichst reibungsarm umzusetzen, um die angestammten Zulieferer, auf die man nach wie vor angewiesen war, 58 

VW-KA, JB Einkauf, 174/2366 (1949–1968), vor allem Jahresbericht 1960. Bei dem betroffenen Zulieferer handelte es sich um die Deutschen Edelstahlwerke (DEW) in Remscheid. Vgl. für die Zusammenhänge um die Steuerung der Gesenkschmiedeteile VW-KA 1974/434/3, Briefwechsel Paulsen und Nordhoff, 15. 7. 1957 und 6. 8. 1957. Zu den Hintergründen dieses Falls vgl. auch Westfälisches WirtschaftsArchiv (WWA), Bestand F 189, Nr. 273, Bd. 1, Hausmitteilungen, 14. 8. 1952; und SZAG-KA M. 19031, Briefwechsel und Notizen Goossens/Eisenbraun/Albert im August und September 1963. 60  Vgl. die Grundsatzentscheidung, formuliert durch Nordhoff, in: VW-KA 1974/434/3, Mitteilung, 8. 3. 1957. 59 

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nicht zu verstimmen.61 Dieses Vorhaben konnte anscheinend – darauf scheint das skizzierte Fallbeispiel hinzudeuten – nicht immer umgesetzt werden. Aus der internen Korrespondenz zwischen Heinrich Nordhoff und Julius Paulsen über den Interessenkonflikt zwischen dem Kunden und seinem Lieferanten geht zudem eine unterschiedliche Bewertung der Vorgänge hervor.62 Während Nordhoff seinen Chef-Einkäufer zunächst anmahnte, zu seinem Wort zu stehen und das betroffene Schmiedeunternehmen mit zusätzlichen Aufträgen zu berücksichtigen, wies Paulsen ein Fehlverhalten weit von sich: Er habe alle Zusagen erfüllt, der Zulieferer habe hingegen mehr produktive Kapazitäten vorgehalten als abgesprochen. Aus den verfügbaren Quellen lässt sich nicht mehr klar rekonstruieren, wie die ursprüngliche Absprache tatsächlich gelautet hatte. Die Stellungnahme des VW-Einkäufers enthält jedoch Hinweise auf eine Konstellation, die für den hier verfolgten Zusammenhang eigentlich noch aufschlussreicher ist: nämlich, dass Paulsen diesem Zulieferer nicht voll vertraute. Anlass zu Misstrauen bot aus Sicht des Automobilherstellers der Umstand, dass das Schmiedeunternehmen zu einem Kreis gut vernetzter Unternehmen gehörte, der im Hause Volkswagen als „Schmiedering“ bezeichnet wurde.63 Dieses Netzwerk hatte schon bei anderen Anlässen Grund zur Verstimmung geboten, vor allem, weil das Einkaufsressort von Volkswagen Preisabsprachen der hier zusammenkommenden Unternehmen vermutete.64 Diese latente Skepsis mochte dazu geführt haben, dass sich die Einkaufsabteilung der Volkswagenwerke gegenüber diesem Zulieferer nicht besonders verpflichtet fühlte und daher ihren Standpunkt vergleichsweise unnachgiebig vertrat. In der Lesart der Neuen Institutionenökonomie formuliert, vermutete der Automobilhersteller als schlechter informierter Vertragspartner „moral hazard“ seines Lieferanten – und mochte daher geneigt sein, ein Signal zu setzen, das den Lieferanten an botmäßiges Verhalten erinnern sollte. Über das geschilderte Fallbeispiel hinaus verweist der Ausbau der Kapazitäten in der Zulieferindustrie auf ein grundsätzliches Dilemma der Beziehungen zwischen Automobil-zulieferern und ihren Kunden, die angesichts der getätigten Investitionen (sunk costs) zu einer gegenseitigen „Geiselhaft“ werden konnten. So war ein Szenario denkbar, in dem der Automobilhersteller als Kunde vor der durchaus problematischen Option stand, entweder das Vertrauen des Zulieferers zu enttäuschen oder aber die Interessen seines Unter­nehmens nicht angemessen zu vertreten, ein Dilemma, wie es beispielsweise auch in der Berichterstattung über das Beschaffungswesen der Daim61 

VW-KA 1974/434/3, Paulsen an Nordhoff, 6. 8. 1957. VW-KA 1974/434/3, Briefwechsel Paulsen und Nordhoff, 15. 7. 1957 und 6. 8. 1957. 63  Die wichtigsten automobilzuliefernden Schmiedeunternehmen hatten im Rahmen der kriegswirtschaftlichen Organisation zusammengearbeitet, vgl. Organisationsplan Sonderring Gesenkschmiedestücke, November 43, WWA, F. 189, Nr. 245 sowie F 189 Nr. 121, Bd. 2. 64  Siehe auch WWA, Bestand F 189, Nr. 273, Bd. 1, Hausmitteilungen, 14. 8. 1952. 62 

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ler-Benz AG anklingt. Das verantwortliche Ressort sah die Frage der Kapazitäten in der Teilefertigung während der Boomphase gelegentlich als problematisch an – wohl, weil man fallweise Lieferanten dazu anregen musste, ihre Anlagen auszubauen, auch wenn sich bereits in den eigenen Investitionsplanungen abzeichnete, dass man entsprechende Kapazitäten im eigenen Hause schaffen würde.65 Angesichts eines solchen Zielkonflikts mussten Spielregeln gefunden werden, die beiden Seiten gewisse Handlungsspielräume beließen und trotzdem Investitionsanreize boten. In diesem Fall wurde der Kapazitätsausbau des Zulieferers durch den Kunden vorgeschlagen, jedoch gleichzeitig ein über die üblichen Fristen hinausweisender Liefervertrag angeboten, um trotz der geplanten Eigenfertigung eine gewisse Planungssicherheit für den Zulieferer zu garantieren.66 Das hier nur in Umrissen skizzierte Beispiel berührt das sogenannte „make-or-buy-Problem“, das als klassisches Wahlproblem von Unternehmen gelten kann, die komplexe, aus vielen Bauteilen zusammengesetzte Produkte fertigen. Bis zu den späten sechziger Jahren galt die voll integrierte Automobilfabrik als Leitbild effizienter Automobilfertigung.67 Vor diesem Hintergrund steckte in der theoretischen Möglichkeit, dass der Kunde vielleicht zur Eigenfertigung des Zulieferprodukts übergehen mochte, Konfliktpotential für die Geschäftsbeziehung zwischen Automobilherstellern und Zulieferern. Gleichwohl musste die Entscheidung des Automobilproduzenten, dem Trend zu einer stärker integrierten Fabrik zu folgen, nicht zwangsläufig mit einem Konflikt mit seinen angestammten Zulieferern verbunden sein. Dies mag ein weiteres Beispiel zeigen: Die Kronprinz AG in Solingen, die die Volkswagenwerke mit Rädern belieferte, verlor den Großanteil des Räderumsatzes mit diesem Kunden, weil die Volkswagenwerke 1959/60 zur Eigenfertigung von Rädern übergegangen waren.68 Gleichwohl wurden die Beziehungen zwischen den Geschäftspartnern durch diesen Umsatzeinbruch nicht getrübt, da die Eigenfertigung mit einem sehr langen, über Jahre dauernden Vorlauf angekündigt worden war – und zudem ein Kompensationsgeschäft realisiert werden konnte. Statt der Räder nahmen die Volkswagenwerke nun mehr Präzisionsrohre von Kronprinz ab. Der Vertriebschef von Kronprinz notierte in seinen Handakten: „VW hat Wort gehalten: anstelle der Räderaufträge Edelstahlrohre.“69 65 

MBCA, Bestand Zahn/533: Ressort Materialwirtschaft. Dies bedeutete jedoch eine gewisse Einschränkung der Investitionsplanungen, vgl. ebd. 67  VW-KA 1974/434/3, Mitteilung vom 8. 3. 1957; vgl. auch Boyer / Freyssenet: Produktionsmodelle. 68  SZAG-KA M. 19031, Vermerk zur Aufsichtsratssitzung Kronprinz AG (27. 1. 1959) vom 29. 10. 1959. 69  Ebd.; siehe auch ein ähnliches Arrangement des Räderlieferanten mit den europäischen Ford-Werken in SZAG-KA, M. 19030, Niederschrift Nr. 19, Vorstandssitzung am 8. 12. 1964. 66 

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Das Kompensationsgeschäft lässt sich als eine vertrauensbildende Maßnahme des Kunden deuten – ein Signal für sogenannte „Lieferantentreue“. Aus den beiden zuletzt beschriebenen Beispielen lässt sich ablesen, wie die Hersteller und Zulieferer kooperative Wege fanden, um Interessenkonflikte zu lösen. Angesichts der Konstellation, die durch ein wechselseitiges „Auf­ einanderangewiesensein“ geprägt war, erscheint dieses Vorgehen auf beiden Seiten plausibel und den situativen und strukturellen Gegebenheiten angemessen. Zugleich wird an diesen beiden Beispielen deutlich, dass das Streben nach Verlässlichkeit nicht nur im eher reibungsarmen Routinegeschäft als Lippenbekenntnis formuliert, sondern auch in einem Interessenkonflikt praktiziert werden konnte. Gleichwohl stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen das kooperative Verhalten eine Realisierungschance besaß oder – anders herum gefragt – wovon die Bereitschaft zur kompromissorientierten Überwindung von Interessenkonflikten abhängen mochte. Denn die Automobilhersteller als Kunden behielten stets ihre Handlungsoptionen im Blick, indem sie die Beziehungen zu ihren Zulieferern auf mögliche Alternativen überprüften. Sowohl das Make-or-buy-Kalkül als auch die ständige Inaugenscheinnahme neuer Lieferanten durch die Automobilhersteller lassen sich als Indiz dafür deuten, dass der Kunde durchaus über seine Exitstrategien nachdachte, sofern der Zulieferer – aus welchen Gründen auch immer – nicht auf lange Sicht als Alleinlieferant firmierte. Trotz der oben skizzierten strukturellen und situativen Notwendigkeit einer vertrauensvollen Kooperation in der Wachstumsphase gab es keinen Automatismus, der eine verbindliche Geschäftsbeziehung generierte. Zugleich erscheint es plausibel, dass die Handlungsspielräume auf beiden Seiten in erheblichem Maße von den allgemeinen Wachstumsbedingungen der Branche abhingen. Dies wird deutlich, wenn man die geschilderten Testfälle aus der „Beziehungspraxis“ in den Jahren des Auto-Booms mit Beziehungs-Szenarien während eines Branchentiefs kon­ trastiert. Schon während der Rezession von 1966/67 waren Problemlagen der Automobil-Zulieferindustrie offenbar geworden. Auf die Absatzstockungen in der Automobilindustrie reagierten die Hersteller mit Kürzungen der Bestellungen. So reduzierte sich beispielsweise im Dezember 1966 bei dem west­ fälischen Schmiedeunternehmen Carl Daniel Peddinghaus (CDP) das Auftragsvolumen der Automobilhersteller für das Frühjahrsgeschäft um beinahe ein Drittel, was beim Zulieferer Werksstilllegungen, Kurzarbeit und Personalabbau erforderlich machte.70 Der Umsatzeinbruch, den der Automobilzulieferer während der Rezession verzeichnete, spiegelte eine starke Abhängigkeit vom Großkunden Volkswagen, wider – VW-Aufträge machten in den 70  T. Neumann, C. D. Peddinghaus: Altenvoerde. Die Firmengeschichte zwischen 1919 und 1977, Ennepetal 1996, S. 134f., 172; Tilly: Zulieferproblem, S. 156f. Siehe auch WWA, F 189, Nr. 51–53.

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sechziger Jahren mehr als zwei Drittel des Umsatzvolumens aus. Obwohl der Konjunktureinbruch rasch wieder überwunden war, nahm die Geschäftsleitung von CDP die Krisenerfahrung zum Anlass für einen Reflexionsprozess über die eigenen Möglichkeiten und Ziele. Sorgen bereiteten zudem der auslaufende Produktlebenszyklus des VW-Käfer und der Bedeutungsschwund von Schmiedeteilen im Automobilbau, der sich aufgrund von Veränderungen in der Antriebstechnik und der zunehmenden Konkurrenz durch Leichtmetallprodukte immer deutlicher abzeichnete. Seit den frühen siebziger Jahren bemühte sich CDP um eine moderne, marktorientierte Unternehmensführung, um einen breiteren Kundenstamm, um Diversifikation und um die Profilierung als Entwicklungs- und Problemlösungspartner in der Umformtechnik. Die Rolle des zuverlässigen Experten und leistungsfähigen Anbieters maßgeschneiderter Problemlösungen war gewiss nicht neu für CDP, sondern entsprach seinem bisherigen Weg als Automobilzulieferer – neu wirkten jedoch im Rückblick die Bewusstwerdung und die Kommunikation dieser strategischen Ausrichtung nach außen. Die von CDP vollzogene Neuorientierung kann als ein Versuch gedeutet werden, die Risiken, die sich aus dem Status eines Stammlieferanten ergeben konnten, zu minimieren. Gleichwohl erschien das Schmiedeunternehmen mit seinem Reflexions- und Anpassungsprozess in gewisser Weise seiner Zeit voraus, insofern, als für viele mittelständische Automobilzulieferer bis in die achtziger Jahre hinein eine Strategie des produktionsorientierten „Durchwurstelns“ von Auftrag zu Auftrag – ohne die systematische Berücksichtigung der Marktentwicklung – durchaus üblich war, hatte doch die nach der ersten Nachkriegsrezession wieder rasch einsetzende Wachstumsphase strukturelle Anpassungserfordernisse schnell wieder überlagert. Dass die Handlungsspielräume der Geschäftsbeziehung entscheidend durch die Marktbedingungen geprägt wurden, sollte sich bei dem nächsten Einbruch der Automobilkonjunktur zeigen. Aus einer Reihe von Gründen war die Automobilindustrie in den Jahren 1974/1975 in eine Stagnationsund Krisenphase geraten. Ohne die „Auto-Krise“, wie sie zeitgenössisch etikettiert wurde, an dieser Stelle vertiefend zu analysieren, seien hier stichwortartig einige Dimensionen des Brancheneinbruchs genannt: So gehörten die Sättigungstendenzen auf den Automobilmärkten, das Aufkommen neuer Wettbewerber auf dem Weltmarkt, das rapide Ansteigen des Ölpreises, die Währungsunsicherheiten, die Inflationstendenzen, neue verkehrspolitische Leitbilder, die Veränderungen der Konsumentenpräferenzen sowie die Auseinandersetzungen mit Arbeitnehmerorganisationen zu den Unsicherheitsfaktoren der Automobilwirtschaft.71 Die Auto-Krise regte Branchenbeob71 

Vgl. dazu ausführlicher S. Tilly: Die guten Zeiten … sind vorbei. Zum Verhältnis von Automobilindustrie, Politik und Automobilverband in den 1970er Jahren, in: M. Reitmayer / R. Rosenberger (Hrsg.): Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“, Bochum 2008, S. 209–232.

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achter und -kritiker zum Nachdenken über die automobile Zukunft und die künftigen Wachstumschancen des Industriezweigs an und brachte auch eine Veränderung des Bedingungsgefüges für die Beziehungen zwischen Automobilherstellern und ihren Zulieferern mit sich. Der Absatzeinbruch, den die Branche seit dem Ölpreisschock im Herbst 1973 verzeichnete, hatte die Teile- und Zubehörindustrie stark betroffen, weil eine Reihe von zuliefernden Unternehmen nunmehr auf vollen Lagern sitzen geblieben war und über unausgelastete Kapazitäten verfügte. Aus der Perspektive der Automobilproduzenten stellten sich die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Mitte der siebziger Jahre nicht zuletzt als Kostenproblem dar.72 Damit standen auch die Einsparpotentiale im Beschaffungswesen – das heißt die Materialkosten des Automobilbaus beziehungsweise die Beschaffungspreise für Zulieferungen – nunmehr stärker als zuvor im Fokus der Automobilhersteller. Wie die Konfliktlinien innerhalb der Automobilwirtschaft erkennen lassen, dachten die Akteure durchaus über die veränderten Rahmenbedingungen und die damit verbundenen Anpassungserfordernisse nach.73 Dazu gehörten auch neue Denkanstöße in Bezug auf das Verhalten gegenüber der Zulieferindustrie. So stellte ein interner Vermerk des materialwirtschaftlichen Ressorts der Daimler-Benz AG74 rückblickend fest, der Automobilhersteller habe für die Abschlüsse mit den Lieferanten für das Geschäftsjahr 1976 „scharfe, vielleicht verschärfte Maßstäbe“ angelegt.75 Im Unterschied zu früher habe man als Kunde systematisch mehr Nutzen aus dem Wettbewerb der Zulieferer untereinander ziehen wollen. Zugleich warnte das Dossier jedoch auch davor, „den Bogen nicht zu überspannen“, da – wie der Kunde wohl erkannte – einige Zulieferer angesichts des zunehmenden Preisdrucks nunmehr um ihre Existenz kämpften.76 Tatsächlich war ein Teil der Zuliefer­ industrie, dabei vor allem die stahl- und kunststoffverarbeitenden Unternehmen, in eine ungünstige Mittelposition, eine Art Zwickmühle zwischen den Grundstoffproduzenten und den Automobilherstellern geraten.77 Galt diese „Sandwichposition“ zwischen zwei großbetrieblich, tendenziell oligopolistisch strukturierten Industriezweigen schon immer als charakteristisches Zulieferproblem78, so gestaltete sich diese Zwischenstellung während der Auto-

72 

Ebd. Siehe z. B. das Gutachten der Monopolkommission, das dem Vorwurf des „Mißbrauchs von Marktmacht“, der u. a. in der Automobilindustrie erhoben worden ist, nachgeht, Monopolkommission: Mißbräuche, S. 68ff.; zum steigenden Preisdruck in der Automobilindustrie vgl. Beschaffung aktuell 1976/2, S. 10. 74  MBCA, Bestand Zahn/533: Ressort Materialwirtschaft, hier: Wolters an v. Harling am 13. 2. 1976. 75  Ebd. 76  Ebd. 77  Vgl. dazu MBCA, Bestand Zahn/533: Ressort Materialwirtschaft, hier: Dr. Prinz an F. Ulrich am 1. 7. 1976, Anlage: „Vermerk Einkaufssituation Mitte 1976“, S. 2. 78  Siehe etwa Kunz: Marktstellung, S. 20; vgl. auch Grote: Partner der Großen. 73 

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Krise als besonders problematisch: Aufgrund des eher geringen Preiswettbewerbs in der Grundstoffindustrie konnten die Rohstoffpreise bei ­einigen Materialien entgegen der allgemeinen Markttendenz hochgehalten werden, so dass sich die Rohstoffkosten der Zulieferindustrie verteuerten, während ihre Erlöse – entsprechend der Absatzschwäche des Marktes – zusammenschrumpften.79 Der durch die Kunden angeregte Preisunterbietungswettlauf verschärfte diese Diskrepanz zwischen Kosten und Erlös. Zugleich beklagten einige Vertreter der Zulieferindustrie den Rückgang des ganzheitlichen Denkens für die Automobilwirtschaft und mahnten „solidarisches Verhalten“ an.80 Mit schrumpfenden Wachstumschancen schien die Kooperationsbereitschaft der Geschäftspartner beziehungsweise ihre materielle Grundlage allmählich abzunehmen, so dass sich das Beziehungsklima in der Automobilwirtschaft konfliktträchtiger gestaltete. Stärker als zuvor schien nun spürbar zu werden, dass es entlang der automobilen Wertschöpfungskette auch das kurzfristig orientierte Kalkül eines Nullsummenspiels geben konnte, das sich durch eine eher nicht-kooperative Anreizstruktur auszeichnete – wenn man bedachte, dass eine gute Ertragslage der Zulieferindustrie in Perspektive des Kunden eine suboptimale Kostensituation bedeuten mochte – oder umgekehrt die bestmögliche Kostenquote der Automobilhersteller mit an existenzbedrohende Grenzen heranreichenden Erlöseinbußen verbunden sein konnte. Trotz dieser Zielkonflikte, die angesichts schrumpfender Ertragschancen auf beiden Seiten nun anscheinend stärker als zuvor wahrgenommen wurden, wurden die alten Handlungsgrundsätze nicht obsolet. Wie interne Überlegungen und Vermerke zeigen, nahmen die Automobilhersteller die strukturellen Sorgen der Zulieferer durchaus zur Kenntnis.81 Die Daimler-Benz AG entschloss sich angesichts der Lage dazu, einer Gruppe von Zulieferern nachträgliche Preiserhöhungen von zwei bis vier Prozent zuzugestehen – und korrigierte damit die laufenden Verträge im Sinne ihrer Lieferanten.82 Auch im Verband der Automobilindustrie (VDA), der gemäß seiner Organisationsstrukturen die Interessen der Teile- und Zubehörindustrie ebenfalls repräsentierte, wurde über Konfliktlösungsstrategien nachgedacht. Gleichwohl wollte die Verbandsführung – angesichts der Öffentlichkeitswirkung und im 79 

Vgl. dazu MBCA, Bestand Zahn/533: Ressort Materialwirtschaft, hier: Dr. Prinz an F. Ulrich am 1. 7. 1976, Anlage: „Vermerk Einkaufssituation Mitte 1976“, S. 2, 7f. sowie Einkaufsbericht der Firma Bosch, 26. März 1976, S. 2. 80  MBCA, Bestand Zahn/533: Ressort Materialwirtschaft, Brenken an Zahn am 27. 1. 1976, Anlage: Protokoll einer Besprechung im BDI-Haus in Köln, VDA und metallverarbeitende Zulieferverbände, 21. 1. 1976. 81  Vgl. diverse Korrespondenzen in MBCA Bestand Zahn/533: Ressort Materialwirtschaft, z. B. Wolters an v. Harling, 13. 2. 1976. 82  Monopolkommission, Mißbräuche, S. 71. Vgl. MBCA Bestand Zahn/533: Ressort Materialwirtschaft. Vermerk Einkaufssituation Mitte 1976.

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Interesse einer konsensorientierten Geschäftspolitik – eine offizielle Aussprache über das Thema „Verhältnis der Zulieferer zur Automobilindustrie“ möglichst vermeiden und konkrete Fragen der Einkaufspolitik einzelner Hersteller vorerst ausklammern.83 Stattdessen entwickelte sich im Gefolge der Auto-Krise eine Art Stellvertreterdiskussion, die den Interessenkonflikt zwischen Zulieferindustrie und Automobilherstellern aus einer anderen Perspektive in den Blick nahm: Dabei rückten Verfahrensfragen der Lieferung von Zulieferteilen und ihre vertragliche Ausgestaltung in den Mittelpunkt.84 So ging es nicht zuletzt um den Umgang mit Risiken, die sich aus der gesetzlich geregelten Produzentenhaftpflicht ergaben – also die Haftung des Produzenten für Schäden, die von ­einem durch ihn in Umlauf gebrachten, schadhaften Produkt verursacht ­wurden. Das Nachdenken über die den Lieferungen zugrunde gelegten vertraglichen Vereinbarungen berührte zentrale Fragen der Geschäftsbeziehung, da man nun Rechte und Pflichten von Kunden und Lieferanten thematisierte – und dabei auch die Frage nach der Verantwortlichkeit und dem Maßstab für Qualitätskontrollen formulierte. Insgesamt hatte sich in der Automobilwirtschaft bis zur Mitte der siebziger Jahre eine Praxis eingespielt, die – auch aus produktionsorganisatorischen Motiven – die Verpflichtungen der beteiligten Akteure in mancherlei Hinsicht anders verteilte, als es in den einschlägigen Gesetzestexten artikuliert war. So war es für den Zulieferer beim Vertragsabschluss mit dem Automobilhersteller in der Regel erforderlich, die Einkaufsbedingungen des Kunden zu akzeptieren, wenn er den Zuschlag erhalten wollte.85 Diese wichen allerdings meist erheblich von den gängigen Lieferbedingungen ab und schränkten die Rechte des Zulieferers durch besondere Klauseln ein. Beispielsweise wurde die Prüf- und Rügepflicht, die gemäß handelsrechtlichen Bestimmungen üblicherweise dem Kunden oblag, in den Vereinbarungen meist abdingbar gemacht, indem der Zulieferer seinen Verzicht auf den Einwand der verspäteten Mängelrüge erklärte.86 Auch Qualitätssicherungsmaßnahmen wurden zunehmend auf den Zulieferer abgewälzt: So sahen die Vereinbarungen zwischen Zulieferern und Automobilherstellern für einige Automobilteile eine umfangreiche Qualitätsdokumentation vor, die der Zulieferer zu erbringen hatte.87 Dabei konnten die entsprechenden Bestimmungen je nach Her83  MBCA Bestand Zahn/533: Ressort Materialwirtschaft. Hier: Reuter an Zahn am 3. Februar 1976. Ähnlich argumentierten auch Vertreter der Automobilhersteller, dass man Probleme der notleidenden Zulieferindustrie nicht grundsätzlich, sondern lieber auf Einzelfallebene klären wollte. 84  Monopolkommission: Mißbräuche, S. 70ff., 78f.; MBCA Bestand Zahn/533: Ressort Materialwirtschaft, z. B. Reuter an Zahn, 3. 2. 1976. 85  Monopolkommission, Mißbräuche, S. 77. 86  Ebd., S. 78. 87  Ebd., S. 71; siehe auch: VDA: Dokumentationspflichtige Teile bei Automobil-Herstellern und deren Zulieferanten, Durchführung der Dokumentation, Frankfurt 1973.

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steller variieren, wenngleich sich mit den Jahren eine Tendenz zur Zunahme der Dokumentationspflicht abzeichnete. An diesem Umstand – der für die Akteure der Automobilwirtschaft heute durchaus ein gängiges Verfahren darstellt – entzündete sich Mitte der siebziger Jahre ein Interessenkonflikt, der nicht die Dokumentationspflicht an sich, sondern die aktuellen Formen des Qualitätsmanagements grundsätzlicher hinterfragte. So kritisierten zwei wichtige Zulieferverbände – der Wirtschaftsverband Stahlverformung e. V. und der Wirtschaftsverband Eisen-, Blech- und metallverarbeitende Industrie e. V. – im Jahr 1976, bei diesen Fragen in einer Grauzone zu agieren und mit vergleichsweise schwammigen Spielregeln operieren zu müssen.88 Ausgangspunkt für die Kritik der Zulieferverbände war eine vom VDA herausgegebene Broschüre, die sich als praktischer Leitfaden für die Dokumentationspflicht in der Automobilindustrie verstand. Aus Sicht der beiden Zulieferverbände war diese Broschüre angesichts ihrer Lücken überarbeitungsbedürftig. Im Detail monierte man den aus Sicht der Zulieferindustrie nicht ohne weiteres auflösbaren Widerspruch, dass die Broschüre einerseits die „Festlegung annehmbarer Qualitätsgrenzlagen“ ablehnte, andererseits einräumte, „dass eine 100%ige Perfektion in der Massenfertigung utopisch“ sei.89 Nach Ansicht der hier zu Wort kommenden Zulieferindustrie stellte das noch keine tragfähige Grundlage für die Beziehungspraxis dar: „Das Kernproblem ist, dass zunächst einmal eine solide Grundlage in Form von technischen Lieferbedingungen geschaffen werden muss. Wenn man zu­ gibt, daß Perfektion utopisch ist, dann sollte man auch fixieren, wie weit man Perfektion treiben will und sich darüber klar werden, wieviel sie kostet.“90 Die Kritik der Spartenverbände ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich für die bis dato etablierte Praxis der Geschäftsbeziehung zwischen Automobilherstellern und Zulieferern. Zum einen wird deutlich, dass aus Zuliefersicht ein großer Bedarf bestand, die Qualitätskriterien für Zulieferungen zu spezifizieren und dafür einen geeigneten Referenzrahmen in Form von „technischen Lieferbedingungen“ zu schaffen. Zum anderen gewinnt der Qualitätsanspruch als zu präzisierendes, sprich: zu quantifizierendes Kostenproblem an Kontur. Insgesamt wurde damit also ein Regelungsbedarf formuliert, der zugleich – rückblickend betrachtet – einen Wendepunkt auch für die Zulieferbeziehungen anzeigen mochte: Angesichts schrumpfender Handlungsspielräume in der Krisenphase schien die Bereitschaft der Akteure zu sinken, Unsicherheiten auszuhalten und die riskante Vorleistung „Vertrauen“ zu erbringen, wenn nicht auch an den Voraussetzungen und Spielregeln etwas verändert wurde. Das zum Ausdruck kommende Bedürfnis nach verbindlichen Kriterien kann als Antwort auf ein unübersichtliches, nicht mehr kalkulier88 

MBCA, Bestand Zahn/533: Ressort Materialwirtschaft. Wirtschaftsverband Eisen, Blech, Metall verarbeitende Industrie an VDA, 12. 3. 1976. 89  Ebd. 90  Ebd.

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bares wirtschaftliches Umfeld gedeutet werden. Aus theoretischer Perspektive erscheint es recht plausibel, dass im Zeichen von zunehmender wirtschaftlicher Unsicherheit, wie sie die Auto-Krise nach Jahren des weitgehend störungsfreien Wachstums darstellte, über die Re-Formulierung und Präzisierung von Spielregeln innerhalb der Automobilwirtschaft diskutiert wurde. Die unsicheren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen machten es wahrscheinlicher, dass der Vertragspartner sich opportunistisch verhalten oder mangelhafte Sorgfalt walten lassen könnte. An dem oben skizzierten Bemühen um ein klares, regelbezogenes Qualitätsmanagement ließ sich erkennen, dass korrektes, zuverlässiges, „vertrauenswürdiges“ Erfüllen des eigenen Parts der Geschäftsbeziehung nunmehr selbst zu einer Größe avancierte, die exakter definiert werden sollte. Zudem lässt sich ein Versuch der Messbarmachung, der Quantifizierung eines Standards herauslesen, der den Spielraum für persönliches Ermessen der Vertragspartner zu verkleinern und das verbindlichkeitsstiftende, vertrauensbildende Kriterium „Qualität“ zu formalisieren suchte. Uneinigkeit auf diesem Weg bestand jedoch im Hinblick auf die Art und Weise, wie das Qualitätswesen ausgestaltet und praktiziert werden könnte, damit es den Interessen beider Seiten entsprach. Die Verallgemeinerung von Qualitätserfordernissen konnte eine aus Zuliefersicht nicht wünschenswerte, simplifizierende Bündelung von Sachverhalten bedeuten, die – ähnlich wie die bereits erwähnte, missliche Vagheit einschlägiger Richtlinien – unterschiedliche Produktionsgegebenheiten unberücksichtigt ließ. Die Etablierung von Qualitätssicherungssystemen brachte somit aus Zuliefersicht vielschichtige Schwierigkeiten und neue Risiken mit sich. Dahinter steckte die Frage des erweiterten Haftungsrisikos, das mit der Qualitätszusicherung einherging, insofern, als das der Zulieferindustrie abverlangte, vordergründig technisch ausgerichtete Leistungsversprechen letztlich auch eine Haftungsgrundlage darstellte. Dabei erschien die Tendenz zur Vereinheitlichung des Qualitätswesens besonders problematisch, da sie mit verallgemeinernden Postulaten einherging und auf diese Weise darauf zusteuerte – losgelöst von Bedarf und Machbarkeit für bestimmte Produktgruppen – Normen zu setzen.91 Vor diesem Hintergrund kämpften einige Zulieferindustrien für eine produktbezogene Differenzierung des Qualitätswesens und gegen eine Verallgemeinerung von Qualitätssicherungssystemen. Ein Spartenverband unterstrich die Reichweite dieser Frage und mahnte die Dringlichkeit des Mitdenkens an: „Die Unternehmen sind gut beraten, wenn sie sich dieser Diskussion ­stellen. Tun sie dies nicht, werden sie früher oder später aus dem Wettbewerb ausscheiden, weil ein Abnehmer, der auf sich hält, bezüglich einzelner Er­ 91  Vgl. Anlage zum Protokoll über die Sitzung des Vorstands der Wirtschaftsvereinigung Ziehereien und Kaltwalzwerke am 6. 12. 1979, S. 3–6 in: Ordner Verbandsarbeit nationale Verbände V.8.4.; WV ZUK – Vorstandssitzungen und Protokolle 1974–1981, Archiv Fachvereinigung Kaltwalzindustrie.

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zeugnisse nur noch mit Zulieferern zusammenarbeiten kann, die ein Qua­ litätssicherungssystem aufzuweisen haben.(…) Anderseits sollte sich jedes Unter­nehmen bemühen, einer Generalisierung des Qualitätssicherungssys­ tems für jedes Erzeugnis entgegenzuwirken.“ 92 Wie ein Ausblick in die Gegenwart zeigt, ist heute die Tendenz zur Bewertung von Geschäftsaktivitäten oder Leistungspotentialen anhand formaler Kriterien weit fortgeschritten: Ein Zulieferer, der heute die 80-Prozent-Marke in punkto Lieferzuverlässigkeit93 nur knapp erreicht, wird es vermutlich schwer haben, im Geschäft zu bleiben. Diverse Formen von Ratings – Qualitätsratings, Zufriedenheitsratings, Vertrauensratings – veranschaulichen den heute beinahe selbstverständlichen Ansatz, auch für schwer mess- und nicht zählbare Aspekte zahlenmäßige Parameter zu entwickeln. Diese Praktiken stellen einen Versuch dar, individuelle und damit variable Ermessensspiel­ räume zugunsten objektiver Kriterien einzugrenzen oder zumindest durch scheinbar objektive, weil zahlenmäßige Exaktheit vorspiegelnde Merkmale abzulösen. Man darf annehmen, dass diese Tendenz in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit besondere Impulse erfuhr, also in Phasen, in denen die Neugestaltung von Spielregeln den Präferenzen der Akteure entgegenkam.94 Eine Reihe von Indizien spricht demnach dafür, dass während der AutoKrise der siebziger Jahre und ihrer Nachwehen ein Wandlungsprozess angeregt wurde, der auch auf die Zulieferbeziehungen einwirkte. Trotz der schärfer artikulierten Interessenkonflikte schien die Idee der Partnerschaftlichkeit und der Kooperation jedoch auch in den Krisenzeiten noch eine Orientierungsfunktion zu besitzen. Die oben bereits angesprochene freiwillige Kurskorrektur der Preispolitik von Daimler-Benz zugunsten der Zulieferer lässt sich in diesem Sinne deuten. Gewiss diente diese Maßnahme dabei auch der Imagepflege des Automobilherstellers als „fairem Kunden“ und wirkte umgekehrt dem (möglicherweise aus der letzten Verhandlungsrunde drohenden) negativen Etikett des Preisdrückers entgegen, das nicht dem tradierten Selbstverständnis des Herstellers in seiner Rolle als Kunde entsprochen hätte. Möglicherweise hatte der Automobilhersteller vorher seine Handlungsspielräume ausgelotet und dabei erkennen müssen, dass ihre maximale Aus­ nutzung derzeit nicht opportun war oder er diese überreizt hatte – und sich damit selbst zu schaden drohte. Vielleicht sollte die nachträgliche Kurskorrektur auch dazu dienen, an einen Punkt der Geschäftsbeziehung wieder ­anzuknüpfen, der durch die Krisenspannung etwas aus dem Blick geraten 92 

Vgl. Anlage zum Protokoll über die Sitzung des Vorstands der Wirtschaftsvereinigung Ziehereien und Kaltwalzwerke am 6. 12. 1979, S. 6, in: Ordner Verbandsarbeit nationale Verbände V.8.4.; WV ZUK – Vorstandssitzungen und Protokolle 1974–1981, Archiv Fachvereinigung Kaltwalzindustrie. 93  Für Bestimmungsfaktoren der „Lieferzuverlässigkeit“ vgl. zum Beispiel M. Disselkamp / R. Schüller: Lieferantenrating. Wiesbaden 2004, S. 132ff. 94  Vgl. auch Tilly: Zeiten.

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war: So hoffte der Automobilhersteller wohl auch darauf, mit dieser Maßnahme das Vertrauen der Zulieferer zurückzugewinnen und, wie es in internen Notizen hieß, die „Glaubwürdigkeit für zukünftige Verhandlungen [zu] vergrößern“ und das „Vertrauen der Lieferanten in eine loyale Handha­ bung… [der] Verträge [zu] stärken.“95 Auch unter den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Mitte der siebziger Jahre stellte Vertrauen also, so lässt sich vorläufig bilanzieren, einen wichtigen Funktionsmechanismus der auf Dauer angelegten ökonomischen Interaktion zwischen Automobilherstellern und ihren Zulieferern dar.

Fazit Wie die Rekonstruktion der Beziehungskonstellationen im Zeitverlauf gezeigt hat, spiegelten sich die besonderen Strukturmerkmale des Zuliefergeschäfts auf verschiedenen Ebenen der realisierten Geschäftsbeziehung wider. Dem aus branchenstrukturellen und produktionsorganisatorischen Gegebenheiten resultierenden Anreiz zur Kooperation entsprach ein kooperations­ orientiertes Leitbild im Umgang mit dem jeweiligen Geschäftspartner, das zum Teil durch eingespielte Praktiken in das ökonomische Handeln umgesetzt wurde – wie zum Beispiel die Auswahl von Stammlieferanten und der Umgang mit ihnen zeigte. Ungeachtet der variierenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen besaß dieses Leitbild – als Idealvorstellung von der Geschäftsbeziehung – durchaus Kontinuität. Zugleich machten die „Testfälle“ aus der Praxis der Geschäftsbeziehung zwischen 1956 und 1976 einige typische Konfliktszenarien zwischen Automobilherstellern und ihren Zulieferern in dieser Zeit transparent. Die Varianten von Konflikten und ihren Lösungen erinnern daran, dass die strukturellen Gegebenheiten in der Automobilwirtschaft trotz ihrer starken Anreizwirkung zur Zusammenarbeit keine Automatismen für die Vertrauensbildung und den Erhalt verbindlicher Geschäftsbeziehungen erzeugten. Die Bedeutung der materiellen Handlungsspielräume für die Beziehungspflege wurde spätestens in der Auto-Krise seit 1974 offenbar. Angesichts schwindender Erträge und verschärfter Wettbewerbslage wurden auf beiden Seiten neue Verhaltensmuster erprobt, die das Vertrauen in den Geschäftspartner zunächst wohl erschütterten, gleichwohl zu rekultivieren bestrebt waren. In diesem Anpassungsprozess kamen neue Spielregeln zur Sprache, die heute praktizierte Verfahrensregeln in Teilen präfigurierten. Seit dem Ende der außergewöhnlichen Prosperitätsphase ließ sich dabei ein Trend zur Präzisierung, zur Messbarmachung von „guter“ Vertragserfüllung erkennen.

95  MBCA Bestand Zahn/533: Ressort Materialwirtschaft. Vermerk Einkaufssituation Mitte 1976, S. 5.

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Mit Blick auf die einleitend aufgeworfenen Fragen gewinnt damit der eingangs skizzierte Gedankenbaustein schärfere Kontur. Obwohl in den Jahrzehnten seit den fünfziger Jahren tief greifende Veränderungen der Arbeitsteilung entlang der automobilen Wertschöpfungskette stattgefunden haben, schien dieser Strukturwandel die Pufferfunktion der Zulieferindustrie nicht zu beeinträchtigen, sondern ihre Eigenschaft als Konjunkturpuffer tendenziell eher auszudehnen. Trotz der Kontinuität von spezifischen Zulieferproblemen über Boom und Krise hinweg will jedoch das Bild der „Daumenschraube“ in der Gesamtbilanz nicht so recht passen, um die Geschäftsbeziehungen zwischen Automobilherstellern und ihren Zulieferern im Zeitverlauf zu kennzeichnen. Ebensowenig lässt sich eine Entwicklung von der Daumenschraube zur Partnerschaft konstatieren. Damit soll keinesfalls behauptet werden, dass es ein rigides, mit Druck operierendes Geschäftsgebaren seitens der Kunden nicht gegeben oder dass dieses Modell nunmehr „ausgedient“ hätte, wie manch ein Branchenbeobachter unlängst prognostizierte.96 Damit soll auch nicht die drückende Abhängigkeit, in die zuliefernde Unternehmen leicht auch bei entspannter Konjunkturlage geraten konnten, marginalisiert werden. Vielmehr erscheint das genannte Motto zu eindimensional und damit unterkomplex, um das vielschichtige Beziehungsgefüge der automobilwirtschaftlichen Realität im Untersuchungszeitraum zu charakterisieren. Die konkreten Ressourcen und Handlungsspielräume der Akteure je nach Auftragskonstellation zu systematisieren, würde jedoch den Rahmen der hier vorgelegten Skizze sprengen. Dies muss also an anderer Stelle geschehen. Dabei ist auch zu bedenken – wie die hier zusammengefassten Überlegungen bereits gezeigt haben – dass das Ausspielen einer strukturellen Vorteilsposi­ tion gemäß dem „Daumenschraubenprinzip“ nicht per se im Widerspruch stehen musste zum grundsätzlichen Streben nach vertrauensvoller Kooperation. Der Blick auf einige typische Dimensionen der Beziehungspraktiken zwischen Automobilherstellern und ihren Zulieferern im Zeitverlauf ließ dabei erkennen, dass der ex post erkennbare Wandel der Automobilwirtschaft mit einem Suchprozess der Akteure verbunden war. Das stetige Überprüfen der Geschäftsbeziehung zeigte, dass die strukturelle Langfristigkeit und Enge der gemeinsamen Geschäftstätigkeit keine Garantie für ihren Fortbestand darstellte, sondern dass die Anpassung an veränderte Handlungs- und Verteilungsspielräume auch als Teil der Beziehungslogik gedeutet werden kann. In dem Orientierungshorizont der Akteure war es wohl der Druck des Mark96 

So wird im Jahr 2003 A. Scheidt, Verantwortlicher für den Automotive bei IBM, zitiert; vgl. Vortrag von Siegfried Roth mit dem Titel „Aktuelle Entwicklungen in der Automobil- und Zulieferindustrie“ auf der Automobilkonferenz des IG Metall Bezirks Hannover: „Vom Krisenkandidaten zur Jobmaschine? Autoindustrie und Zulieferer im Veränderungsdruck“, 25. Juni 2003, S. 53, vgl. http://www.igmetall-niedersachsen-anhalt.de/fileadmin/user/Dokumente/Veranstaltungen/20030625_Vortrag_ SRoth.pdf (Zugriff 16. 2. 2009).

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tes, der mittelfristig auf eine Verschiebung der Arbeitsteilung zwischen Automobilherstellern und Zulieferern hinwirkte. Die Frage, welche Zulieferer es jedoch an die Spitze der späterhin etablierten Zulieferpyramide schafften, muss einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben. Diejenigen Zulieferer, die ihre Know-how-Position frühzeitig durch Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten ausbauten, hatten dafür gute Voraussetzungen geschaffen.

Reinhold Bauer

Die US-Automobilindustrie in den 1960er und 1970er Jahren Vom unendlichen Boom zur existenzbedrohenden Krise Die zwei Jahrzehnte nach 1960 können für die US-amerikanische Automobilindustrie als wichtige Epochenschwelle charakterisiert werden. Noch bis weit in die 1960er Jahre hinein war dabei von Krise der Automobilindustrie auf den ersten Blick wenig zu spüren: Die amerikanischen Hersteller erlebten eine beispiellose Expansionsphase, die nur zweimal von kurzen Flauten unterbrochen wurde und im Grunde bis 1973 anhielt. Wie für nahezu die gesamte Nachkriegsentwicklung typisch, wurde der Boom der Automobilindustrie vom gesamtwirtschaftlichen Aufschwung, von steigenden Realeinkommen und damit einhergehend von einer anhaltenden Nachfrage nach immer größeren, immer leistungsstärkeren Pkw getragen.1 Tatsächlich begannen sich aber bereits in den 1960er Jahren modell- und produktionstechnische Defizite der Branche zu manifestieren, die in Kombination mit veränderten gesellschaftlichen, politischen und gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen dann die 1970er Jahre zum „decennium horribilis“ des US-amerikanischen Automobilbaus werden ließen. Die amerikanische Automobilindustrie taumelte als Folge eigener Versäumnisse und veränderter Marktbedingungen in eine Krise, die sie letztlich bis heute nicht vollständig hat überwinden können. Genau dieser Umschwung soll im Folgenden überblicksartig dargestellt werden. Dabei wird es insbesondere um folgende Fragen gehen: Wie ist die relativ geringe Innovativität der US-amerikanischen Automobilindustrie in den 1960er Jahren zu erklären? Aufgrund welcher Einflussfaktoren baute sich in den 1970er Jahre ein Innovationsdruck auf, der schließlich zur zumindest partiellen Überwindung der bis dato vorherrschenden prozess- und pro1 

Ingo Köhler hat sehr zu recht darauf hingewiesen, dass für Modellentwicklung und Käuferpräferenzen in den USA das außerordentlich stabile, handlungsleitende automobile Leitbild der „Rennreisemaschine“ von großer Bedeutung gewesen ist. Vgl.: Ingo Köhler: „Small Car Blues“. Die Produktpolitik US-amerikanischer und deutscher Automobilhersteller unter dem Einfluss umweltpolitischer Vorgaben, 1960–1980, in: Stephanie Tilly / Dieter Ziegler (Hrsg.): Automobilwirtschaft nach 1945: Vom Verkäufer- zum Käufermarkt? Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2010/1, S. 107–135, hier S. 115f. Ansonsten siehe u. a.: Gerald Bloomfield: The World Automotive Industry, Newton Abbott, London u. a. 1978, S. 67; Karl Schwarz: Car Wars: Die Automobilindustrie im globalen Wettbewerb, Frankfurt/M. u. a. 1994 (Diss. Uni. München 1994), S. 111f.; Joachim Engel: Die Entwicklung der Automobilindustrie der Vereinigten Staaten von Amerika vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1973, Diss. Humboldt Uni. Berlin 1996, S. 168ff.

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duktinnovatorischen Passivität geführt hat? Wo und warum stieß dieser Prozess auf Grenzen, die eine weitergehende strukturelle Veränderung der USamerikanischen Automobilindustrie verhinderten?2

Die „goldenen“ 1960er Jahre? Die skizzierten gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die zunächst noch unkritische Haltung von Staat und potentieller Kundschaft erlaubten der amerikanischen Automobilindustrie in den 1960er Jahren eine insgesamt mehr als „konservative“ Modell- und Geschäftspolitik. Man setzte weiterhin überwiegend auf schwere „Straßenkreuzer“ mit großvolumigen sechs- und häufig auch achtzylindrigen Motoren. Angesichts beispiellos niedriger Benzinpreise3 spielte der Verbrauch dieser Wagen für ihre Absetzbarkeit noch keine nennenswerte Rolle.4 Das Design der Modelle wurde zwar regelmäßig überarbeitet, technischkonstruktiv tat sich jedoch kaum etwas. Nicht von ungefähr werden die 1960er Jahre daher auch als die Epoche des „Decline of Innovation“5 bezeichnet. Der amerikanische Pkw-Bau konnte es sich angesichts der Rahmenbedingungen in den USA erlauben, die europäische Tendenz zu kompakteren selbsttragenden Karosserien weitgehend zu ignorieren und blieb der schweren Rahmenbauweise treu. Bei dieser wird ein tragendes Chassis mit einer aufgesetzten Karosserie kombiniert. Ebenso verhielt es sich mit dem Vorderradantrieb, der in den USA buchstäblich keine Rolle spielte. Es blieb vielmehr durchgehend beim konventionellen Standardantrieb, einem Antriebskonzept also, bei dem der Motor-Getriebe-Block vorn, die angetriebene Achse hingegen hinten liegt. Die eingesetzten Baugruppen waren seit den späten 1940er Jahren nur wenig verändert worden, die Grundkonstruk­ tion der Motoren stammte häufig sogar noch aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Fertigungstechnisch waren traditionelle Rahmenbauweise und weitgehende Baugruppenkonstanz überaus günstig: In den 1960er Jahren konnte auf 2  Die folgende Darstellung beruht im Wesentlichen auf der Auswertung der einschlägigen Literatur. Vgl. darüber hinaus Köhler: Produktpolitik (Anm. 1). 3  Noch Ende der 1960er Jahre kostete ein Liter Normalbenzin in den USA nur knapp über 10 US-Cent. James M. Rubenstein: Making and Selling Cars. Innovation and Change in the U.S. Automotive Industry, Baltimore (MD) 2001, S. 230. 4  Siehe u. a.: Jean-Pierre Bardou / Jean-Jaques Chanaron / Patrick Fridenson / James M. Laux: Die Automobil-Revolution. Analyse eines Industrie-Phänomens, hrsg. von Halwart Schrader, Gerlingen 1989, S. 130; Bloomfield: World Automotive Industry (Anm. 1), S. 67; Köhler: Produktpolitik (Anm. 1), S. 111f.; Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 111f.; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 190ff. 5  Erik Eckermann: 100 Jahre Evolution, in: Olaf von Fersen (Hrsg.): Ein Jahrhundert Automobiltechnik: Personenkraftwagen, Düsseldorf 1986, S. 10–63, hier S. 55; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 193.

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dieser Basis die klassische starre Massenproduktion von Pkw in den USA auf die Spitze getrieben werden; Fließbänder und riesige Transferstraßen prägten die Endfertigungswerke, die gewaltige Ausstoßleistungen erreichten. Die Fertigungsqualität amerikanischer Pkw war allerdings im internationalen Vergleich dürftig: Die Wagen waren häufig schlecht verarbeitet und zudem übermäßig störanfällig.6 Dennoch traten auf dem US-amerikanischen Inlandsmarkt kaum Absatzprobleme auf: Der Markt wurde seit Mitte der 1950er Jahre von einem engen Oligopol dreier Hersteller beherrscht: General Motors (GM), Ford und Chrysler. Diese sogenannten „Großen Drei“ erreichten in den 1960er Jahren auf dem US-amerikanischen Binnenmarkt einen Marktanteil von zusammen gut 90 Prozent. Branchenführer war dabei der General Motors Konzern mit etwa 50 Prozent, es folgten Ford mit etwa 25 und Chrysler mit immer noch 15 Prozent. Statt eines von Produktinnovation getragenen Wettbewerbs um Marktanteile betrieben die „Großen Drei“ de facto eine gemeinsame Hochpreispolitik, die jedem der Unternehmen hohe Gewinne sicherte. Teure und notwendigerweise risikoreiche Produkt- und Prozessinnovationen konnten angesichts dieses Systems weitgehend vermieden werden, ohne dass dadurch der Absatz der eigenen Modelle bedroht worden wäre. Auch die Gefahr, größere Marktanteile an ausländische Anbieter zu verlieren, war zunächst gering. Mit ihren vergleichsweise kleinen Modellen traf die ausländische Konkurrenz einfach nicht den US-amerikanischen Geschmack. Die Vorliebe der Amerikaner für große „Gas Guzzlers“ („Spritsäufer“) hatte ja bereits in den 1930er Jahren zu einer nach wie vor anhaltenden Isolierung des ameri­ kanischen Pkw-Markts mit fast protektionistischer Wirkung geführt: Der Markt war für ausländische Anbieter weitgehend verschlossen7, im Gegenzug ließen sich allerdings auch die US-amerikanischen Modelle kaum noch ins Ausland verkaufen.8 6 

Rudi Volti: A Century of Automobility, in: Technology and Culture 37 (1996), S. 663–685, hier S. 675; Walter Schweizer: Der lange Weg zum Roboter, in: Olaf von Fersen (Hrsg.): Ein Jahrhundert Automobiltechnik: Personenkraftwagen, Düsseldorf 1986, S. 504–545, hier S. 515; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 195f. Vgl. auch: William J. Albernathy: The Productivity Dilemma: Roadblock to Innovation in the Automobile Industry, Baltimore 1978; Brock W. Yates: The Decline and Fall of the American Automobile Industry, New York 1983. 7  Der Marktanteil importierter Pkw in den USA sank von ohnehin niedrigen 7,5 Prozent 1960 auf nur noch etwa 6 Prozent 1965. Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 233. 8  Akira Kawahara: The Origin of Competitive Strength. Fifty Years of the Auto Industry in Japan and the U.S., Tokyo 1998, S. 90; Rudi Volti: Cars and Culture: The Life of a Technology, Baltimore 2004, S. 70f.; Bardou: Automobil-Revolution (Anm. 4), S. 129; Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 110ff.; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 182ff. Vgl. auch: Reinhold Bauer: Per aspera ad astra – Zu den Krisenreaktionen des deutschen Automobilbaus in den frühen 1930er Jahren und deren mittelfristigen Folgen, in: Technikgeschichte 78 (2011), S. 25–44, hier S. 41f.

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Innerhalb der USA existierte als sogenannter „Last Independent“ nur noch die American Motors Corporation (AMC). Das 1954 aus dem Zusammenschluss von Nash Motors und Hudson erwachsene Unternehmen setzte bewusst auf eine „Philosophy of Difference“ und versuchte sich durch eher ungewöhnlich gestaltete, für amerikanische Verhältnisse kleine Modelle in ­einer Marktnische zu behaupten. In den 1960er Jahren lief diese Modellpo­ litik allerdings eindeutig gegen den Trend, so dass AMC bei schrumpfenden Marktanteilen in der absoluten Bedeutungslosigkeit zu verschwinden drohte.9 Tabelle 1: Marktanteile von Volkswagen und von sämtlichen japanischen Herstellern in den USA 1961 bis 1980 (in Prozent)10

Die relativ wenigen Kunden, die abweichend vom herrschenden Trend verbrauchsgünstigere und kleinere Wagen nachfragten, ließ man durchaus bereitwillig zur ausländischen, d. h. in dieser Zeit noch überwiegend europäi9  Erreichte AMC in den USA 1960 noch einen Marktanteil von knapp 6,5 Prozent, so sank dieser in den folgenden Jahren kontinuierlich bis auf nur noch 2,5 Prozent im Jahre 1971. Informationen zur American Motors Company mit Sitz in Kenosha, Wisconsin, sind nur schwer zu beschaffen. Einen gewissen Überblick vermittelt: Patrick R. Foster: American Motors: The Last Independent, Iola (WI) 1993; einzelne Informationen geben auch: Jan P. Norbye: Die Automobilindustrie der USA, in: Olaf von Fersen (Hrsg.): Ein Jahrhundert Automobiltechnik: Personenkraftwagen, Düsseldorf 1986, S. 178–187, hier S. 182f. sowie Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), u. a. S. 183 und S. 226. Recht gute Darstellungen finden sich auch im Internet unter: http://www.amxfiles.com/amc/index.html (30. 04. 2011); http://www.allpar. com/amc/index.html (30. 04. 2011); http://www.wikipedia.org/wiki/American_Motors (30. 04. 2011). 10  Quelle: U.S. Bureau of Census / World’s Automobile Group, Internet-Datenbank unter: http://wardsauto.com/keydata/historical/UsaSa28summary (12. 05. 2011).

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schen Konkurrenz abwandern. Aus produktionsorganisatorischen und damit letztlich betriebswirtschaftlichen Gründen verzichteten die „Großen Drei“ ganz bewusst auf die Entwicklung und Herstellung kleinerer Modelle, da diese im System der Massenproduktion angesichts kaum geringerer Produktionskosten bei gleichzeitig deutlich niedrigeren Verkaufspreisen die Gewinnmargen notwendigerweise hätten schrumpfen lassen. Darüber hinaus befürchteten die Hersteller wohl durchaus zurecht, dass sich die unter produk­tionstechnischen Gesichtspunkten erforderlichen mindestoptimalen Stückzahlen in den USA nicht würden absetzen lassen.11 Insgesamt standen die „Großen Drei“ in den 1960er Jahren also unter keinem akuten Innovationsdruck. Auf dem nach wie vor sehr aufnahmefähigen US-amerikanischen Binnenmarkt herrschte letztlich eine recht komfortable „room for all“-Situation, in der die US-amerikanischen Hersteller zunächst keinerlei Veranlassung sahen, ihr auf großen, gewinnträchtigen aber eben auch verbrauchsintensiven Wagen beruhendes Geschäftsmodell aufzugeben.

Veränderte Rahmenbedingungen Auf den ersten Blick schienen die „Großen Drei“ also in den 1960er Jahren einer nach wie vor goldenen Zukunft entgegen zu gehen. Ihre Verkaufszahlen stimmten und ihre Profite lagen etwa doppelt so hoch wie im Durchschnitt der verarbeitenden Industrie in den Vereinigten Staaten.12 Bei genauerem Hinsehen zeigten sich allerdings erste Risse im Bild einer grenzenlos prosperierenden Branche. In den 1960er Jahren begann sich die Wahrnehmung der US-amerikanischen Automobilindustrie in Teilen der Öffentlichkeit sowie die Haltung des Staates zum Automobil langsam zu verändern.13 Entscheidend war dabei zunächst einmal die beginnende Sensibilisierung von Öffentlichkeit und Staat für die Umweltbelastung durch die Massenmotorisierung. Nachdem die Abgasemissionen von Automobilen jahrzehntelang kaum problematisiert worden waren, wurden diese in den 1960er Jahren erstmals Gegenstand staatlicher Reglementierung.14 Die Debatte um die Luft11 

Köhler: Produktpolitik (Anm. 1), S. 112f. Zum Problem der mindestoptimalen Stückzahlen siehe auch: Hartmut Berg: Automobilindustrie, in: Marktstruktur und Wettbewerb in der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 169–216, hier S. 184; ders.: Der Einfluß steigender Energiepreise auf Wachstums-, Struktur- und Wettbewerbsbedingungen der deutschen Automobilindustrie, in: Burghardt Röper (Hrsg.): Strukturpolitische Probleme der Automobil-Industrie unter dem Aspekt des Wettbewerbs, Berlin 1985, S. 53–94, hier S. 79. 12  Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 111. Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 168. 13  Vgl. auch: Köhler: Produktpolitik (Anm. 1), passim. 14  Siehe u. a.: The Future of the Automobile. The Report of MIT’s Intern Automobile Program, London u. a. 1984, S. 1; Max Fehlmann: Der Staat als Konstrukteur, in: Olaf von Fersen (Hrsg.): Ein Jahrhundert Automobiltechnik: Personenkraftwagen, Düssel-

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verschmutzung durch den zunehmenden Pkw-Verkehr ging Ende der 1950er Jahre vom südkalifornischen Los Angeles aus. Der Großraum Los Angeles hatte schon damals die weltweit mit Abstand höchste Pkw-Dichte und war aufgrund seiner Kessellage sowie des häufig sonnigen, windstillen Wetters besonders anfällig für photochemischen Smog. Dieser sogenannte Sommer­ smog war in Los Angeles seit Ende der 1940er Jahre nachhaltig spürbar und herrschte Ende der 1950er Jahre bereits an über 200 Tagen im Jahr. Der Mechanismus, der zum Sommersmog führte, war zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend bekannt: Es waren vor allem die von Kraftfahrzeugen ausgestoßenen unverbrannten Kohlenwasserstoffe (HC) und Stickoxide (NOx), die unter dem Einfluss von Sonnenlicht zu einer Vielzahl von giftigen Photo­ oxidantien reagierten. Am bekanntesten dürfte dabei das wiederum sehr reaktionsfreudige, schon in kleinen Konzentrationen hochgiftige Ozon sein.15 Der Problemdruck durch die Luftverschmutzung war im Großraum Los Angeles Ende der 1950er Jahre bereits so groß, dass ein Zwang zu Gegenmaßnahmen entstand. 1960 gründete die kalifornische Regierung das „Motor Vehicle Pollution Control Board“ (MVPCB), das 1961 die ersten gesetzlichen Vorschriften zur Eindämmung giftiger Pkw-Emissionen bekannt gab. Ab dem Modelljahr 1963 mussten alle in Kalifornien neu zugelassenen Pkw mit einer Kurbelgehäuse-Entlüftung ausgestattet werden, d. h. die Öl- und Benzindämpfe im Kurbelgehäuse, die bisher einfach an die Umwelt abgegeben worden waren, mussten nun ins Ansaugsystem des Motors zurück­ geführt und folglich mitverbrannt werden. Mit dieser relativ simplen Maßnahme konnten die HC-Emissionen der Pkw um etwa 25 Prozent gesenkt werden.16 Wichtiger noch war, dass das MVPCB bereits 1961 die ersten Emissionsgrenzwerte für Kohlenwasserstoff- und Kohlenmonoxid-Emissionen festlegte, die Neuwagen in Kalifornien ab dem Modelljahr 1966 einhalten mussten. Für HC war dabei eine Reduktion um nochmals 25 Prozent, für Kohlenmonoxid (CO) sogar um 40 Prozent vorgesehen. In Zusammenhang mit dieser Umweltgesetzgebung war erstmals auch ein standardisierter Prüfzyklus ­entwickelt worden, der „California Test“, mit dem die durchschnittlichen dorf 1986, S. 694–703, hier S. 700; Andreas Neuner: Die Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Automobilindustrie am Ende der 1980er Jahre, Frankfurt/M. u. a. 1993 (Diss. Uni Erlangen Nürnberg 1992), S. 243; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 601f. 15  Kurt Möser: Geschichte des Autos, Frankfurt/M. u. a. 2002, S. 274f.; Fehlmann: Staat als Konstrukteur (Anm. 14), S. 702; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 260ff.; Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 244f.; Volti: Century of Automobility (Anm. 6), S. 678. 16  Stan Luger: Corporate Power, American Democracy, and the Automobile Industry, Cambridge (UK) 2000, S. 84ff.; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 264; Fehlmann: Staat als Konstrukteur (Anm. 14), S. 702; Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 245; Möser: Geschichte des Autos (Anm. 14), S. 275.

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Abgasmengen eines Pkw in verschiedenen Betriebszuständen erfasst werden konnten. Dieser erste Fahrzyklus wurde später zwar deutlich modifiziert, der „California Test“ war aber dennoch vorbildgebend für alle folgenden US-amerikanischen und europäischen Testzyklen.17 Die kalifornische Grenzwert-Gesetzgebung blieb nicht lange auf diesen ­einen Bundesstaat beschränkt. Im Oktober 1965 unterzeichnete Präsident Johnson den „Motor Vehicle Air Pollution Control Act“, der die Grundlage für die ersten Emissionsgrenzwerte auf Bundesebene schuf. Die in Kalifor­ nien geltenden Werte traten damit zum 1. Januar 1968 auch in allen anderen US-Bundesstaaten in Kraft.18 De facto waren die Umweltschutz-Auflagen der 1960er Jahre für die Automobilindustrie noch ohne großen Aufwand zu erfüllen. Die Kurbelgehäuse-Entlüftung erforderte nur geringfügige konstruktive Veränderungen und die Emissionsgrenzwerte waren durch rein innermotorische Maßnahmen, vor allem präzisere Einstellung der Motoren, zu erreichen. Die staatlichen Eingriffe prägten den US-Automobilbau mithin noch nicht in nennenswertem Maße; die wirtschaftlichen Auswirkungen der Gesetzgebung blieben gering. Trotzdem markierten diese Auflagen den Beginn einer neuen Entwicklungsetappe im Pkw-Bau: Zum ersten Mal griff in den USA der Staat unmittelbar in die technisch-konstruktive Gestaltung der Kraftfahrzeuge ein. Die Ära einer weitgehend autonomen Automobilkonstruktion durch die Hersteller ging damit zu Ende und der Staat geriet nun zunehmend in die Rolle des „Product Regulators“. Entsprechend entschieden – wenn auch nur par­ tiell erfolgreich – lehnte die Branche die staatlichen Regulierungen ab, zumal absehbar war, dass es nicht bei diesen ersten Grenzwerten bleiben würde. Die Hersteller sahen sich gezwungen, in Reaktion auf die beginnende staatliche Umweltgesetzgebung entsprechende Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in Angriff zu nehmen.19 Neben der Umweltdebatte trübte ab Mitte der 1960er Jahre noch eine zweite Auseinandersetzung das bisher überwiegend positive Bild der USAutomobilindustrie. 1965 entwickelte sich mit der sogenannten „Fahrsicher­

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Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 264f. und S. 268; Neuner: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 14), S. 246; Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 245; Möser: Geschichte des Autos (Anm. 14), S. 277. 18  Neuner: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 14), S. 246; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 265; Luger: Corporate Power (Anm. 16), S. 84ff.; Volti: Century of Automobility (Anm. 6), S. 678; Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 245. 19  Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 267ff.; Köhler: Produktpolitik (Anm. 1), S. 122f.; Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 176; Möser: Geschichte des Autos (Anm. 14), S. 275. Siehe auch: U.S. Department of Transportation: Effects of Federal Regulation on the Financial Structure and Performance of the Domestic Motor Vehicle Manufacturers, Cambridge (MA) 1978; Clifford Winston: Blind Intersection. Policy and the Automobile Industry, Washington 1987.

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heitskrise“20 die unzureichende passive wie aktive Sicherheit amerikanischer Pkw zum Gegenstand einer vehement geführten öffentlichen Debatte. In Reaktion auf diese Sicherheitsdebatte verabschiedete der US-Kongress 1966 den „National Traffic and Motor Vehicle Safety Act“, mit dem ab dem Modelljahr 1967 eine ganze Reihe von Sicherheitsauflagen in Kraft traten.21 Auch diese Sicherheitsgesetzgebung verdeutlicht die neue, aktivere Rolle des Staates als „Product Regulator“. Die ersten Umwelt- und Sicherheitsauflagen markieren eine Zäsur von großer Tragweite und unterstreichen den Charakter der 1960er und 70er Jahre als Epochenschwelle für den US-Automobilbau. Seit Mitte der 1960er Jahre entwickelte sich der Pkw zum inzwischen meistregulierten technischen Konsumgut.22 Durch staatliches Handeln wurde dabei gleichsam von außen ein Innovationsdruck aufgebaut, dem sich die Hersteller zumindest mittelfristig nicht haben entziehen können. Die neue Rolle des Staates, dem es bewusst um die Durchsetzung technischer Innovationen auch gegen den Widerstand der Industrie ging, führte notwendigerweise zu einem anhaltenden Machtkampf mit den Automobilherstellern. Auch wenn es den „Großen Drei“ in diesem Machtkampf durchaus partiell gelang, Widerstand gegen die staatlichen Auflagen zu leisten, trat mit dem Staat hier ein neuer mächtiger Akteur auf den Plan, dessen Forderungen nach einer innovativen Anpassung der Produkte an seine Vorgaben nicht einfach ignoriert werden konnten.23 Eine Liste des für die US-Automobilindustrie schon in den 1960er Jahren heraufziehenden Unheils wäre nicht vollständig, würde man den ab Mitte des Jahrzehnts langsam steigenden Marktanteil ausländischer Pkw übersehen. 20  Die 1965 beginnende Sicherheitsdebatte ist von dem damals jungen Rechtsanwalt Ralph Nader unter Nutzung guter Kontakte zu verschiedenen Medienvertretern regelrecht inszeniert worden. Das in diesem Zusammenhang von Nader 1965 veröffentlichte Buch „Unsafe at any Speed“, in dem er die Sicherheitsmängel US-amerikanischer Pkw anprangerte, entwickelte sich zum Bestseller. Eine daraufhin insbesondere von General Motors betriebene haltlose Rufmordkampagne gegen Nader scheiterte, trug im Gegenteil zu Naders Popularität und zu seiner Heroisierung bei. Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 210f.; Fehlmann: Staat als Konstrukteur (Anm. 14), S. 700; Luger: Corporate Power (Anm. 16), S. 69f.; Möser: Geschichte des Autos (Anm. 14), S. 259f. Vgl. auch: Ralph Nader: Unsafe at Any Speed. The Designed-In Dangers of the American Automobile, New York (NY) 1965. 21  Jameson M. Wetmore: American Experience in Automotive Restraint 1968–1978 (Unveröffentlichtes Aufsatzmanuskript zur Conference on the History of Transport, Traffic and Mobility, Eindhoven 2003), 28 S., hier insbesondere S. 2f.; Fehlmann: Staat als Konstrukteur (Anm. 14), S. 697; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 208f.; Kawahara: Origin of Competitive Strength (Anm. 8), S. 132; Luger: Corporate Power (Anm. 16), S. 54ff.; Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 210f.; Volti: Century of Automobility (Anm. 6), S. 679f.; Möser: Geschichte des Autos (Anm. 14), S. 260. 22  Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 207; Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 175. 23  Vgl. auch: Köhler: Produktpolitik (Anm. 1), S. 122f.

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Lag dieser 1965 noch bei nur etwa 6 Prozent, so stieg er bis zum Ende des Jahrzehnts auf immerhin über 15 Prozent. Hinter diesem Anstieg verbarg sich einerseits der Siegeszug des Volkswagens „Käfer“, der zum mit Abstand erfolgreichsten Importmodell der 1960er Jahre wurde. Andererseits kündigte sich aber Ende der 1960er Jahre bereits der kommende Aufstieg der neuen japanischen Konkurrenz an (vgl. Tabelle 1). Erfolgreich waren bei den Importfahrzeugen jedenfalls überwiegend Kleinwagen, wobei der Trend zu sparsameren, leichteren Modellen zunächst noch eher modisch als wirklich wirtschaftlich bedingt war. Insbesondere der Käfer profitierte von seinem Image als „alternativer“ Pkw und wurde in den 1960er Jahren zum Automobil der „Protestgeneration“. Hier zeichnete sich bereits ab, dass der Pkw zumindest bei einem Teil der Käufer als klassisches Statussymbol an Bedeutung verlor.24 Stattdessen begann sich die Nachfrage in ein Marktsegment zu verschieben, in dem die amerikanischen Hersteller den Importen buchstäblich nichts entgegen zu setzen hatten. Die Gefahren jedenfalls, die eine unter betriebswirtschaftlichen Aspekten bewusst auf die Herstellung kleinerer Wagen verzichtende und stattdessen auf weiteres Größenwachstum setzende Modellpolitik mit sich brachte, begannen Ende der 1960er Jahre spürbar zu werden.25

Das „decennium horribilis“ der US-Automobilindustrie Erst in den 1970er Jahre manifestierte sich die Krise der US-Automobilindustrie, die gleichsam in den Veränderungen wie in den Versäumnissen der 1960er Jahre angelegt war. Der Umweltschutz stieg Anfang der 1970er Jahre endgültig zu einem Politikfeld mit nationaler Spitzenpriorität auf. Im November 1970 verabschiedete die US-Regierung den „Clean Air Act“, mit dem 24 

Insofern würde ich auch die These Ingo Köhlers, dass in den USA das wirkungsmächtige automobile Leitbild der großen „Rennreisemaschine“ die Autokritik der 1960er Jahre und später auch die Krise der 1970er Jahre weitgehend unbeschadet überstanden habe, zumindest relativieren. Vgl.: Köhler: Produktpolitik (Anm. 1), S. 133. 25  Gerold Lingnau / Wolfgang Peters: Das Auto in der Wirtschaft, in: Olaf von Fersen (Hrsg.): Ein Jahrhundert Automobiltechnik: Personenkraftwagen, Düsseldorf 1986, S. 576–597, hier S. 581; Udo Schnell: Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie auf dem Pkw-Sektor, Bonn 1981, S. 18; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 221 und S. 230ff.; Bardou: AutomobilRevolution (Anm. 4), S. 129; Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 226f. Zur „Käfer-Kultur“ in den USA siehe auch: Louis W. Steinwedel: The Beetle Book. America’s 30-Year Love Affair with the „Bug“, Englewood Cliffs 1981; Michael J. Rosen (Hrsg.): My Bug: For Everyone Who Owned, Loved, or Shared a VW Beetle. True Tales of the Car that Defined a Generation, New York 1999 und zeitgenössisch insbesondere auch: Harry Hammond: The Image of American Life: Volkswagen, in: Marshall Fishwick / Ray B. Browne (Hrsg.): Icons of Popular Culture, Bowling Green 1970, S. 65–71.

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die neugegründete Bundesbehörde für Umweltschutz, die „Environmental Protection Agency“ (EPA), angewiesen wurde, schärfere nationale Emissionsgrenzwerte für Pkw-Abgase zu erarbeiten. Die 1971 bekannt gegebenen Werte verpflichteten die Automobilindustrie zu einer drastischen Reduzierung der schädlichen Abgasemissionen: Bis zum Modelljahr 1975 sollten die HC- und CO-Emissionen der Pkw um 95 Prozent im Vergleich zu denen des Modelljahrs 1967 gesenkt werden, die NOx-Emissionen um 90 Prozent im Vergleich zum Modelljahr 1970. Nach vehementen Protesten der Automobilindustrie mussten diese Zielvorgaben später nach unten korrigiert werden: Bis 1981 sollten nun die HC- und CO-Emissionen um 90 Prozent, die NOx-Emissionen um 75 Prozent gesenkt werden.26 Dennoch handelte es sich insofern um strenge Grenzwerte, als bei ihrer Bekanntgabe noch keine Technologien existierten, mit denen eine Reduzierung des Schadstoffausstoßes im vorgegebenen Umfang möglich gewesen wäre. Mit dem „Clean Air Act“ provozierte der Staat umfangreiche Entwicklungsbemühungen der amerikanischen Hersteller, die zwangsläufig in beträchtlichem Umfang Forschungs- und Entwicklungspotential banden. Neben der Arbeit an „End of Pipe“-Technologien zur Säuberung der Abgasemissionen herkömmlicher Hubkolbenmotoren intensivierten die „Großen Drei“ die Suche nach möglichen alternativen Antriebstechnologien für Pkw.27 Konjunkturell sah es für die Automobilindustrie in den Vereinigten Staaten Anfang der 1970er Jahre aber noch recht gut aus. Nach einem deutlichen Konjunkturabschwung ab Ende 1969 ging es 1971 schon wieder spürbar bergauf; das Jahr 1973 geriet hinsichtlich der Zahl der in den USA gefertigten Pkw sogar zu einem neuen Rekordjahr. Mit der im Oktober einsetzenden ersten Ölpreiskrise brach der Pkw-Absatz dann aber im vierten Quartal des Jahres 1973 regelrecht ein.28 Die latenten Probleme der US-Automobilindustrie wegen ihrer einseitig auf große, verbrauchsintensive Wagen ausgerichteten Modellpolitik begannen sich nun drastisch zu manifestieren. Die Käufergunst wandte sich infolge der Krise stärker dem Segment der sparsamen Kleinwagen zu, einem Marktsegment also, in dem die amerikanischen Hersteller nach wie vor nicht vertreten waren.29 Da in den vergangenen „fetten 26  Neuner: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 14), S. 246; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 271f.; Luger: Corporate Power (Anm. 16), S. 87f.; Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 245; Volti: Century of Automobility (Anm. 6), S. 678. 27  Future of the Automobile (Anm. 14), S. 87; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 273; Fehlmann: Staat als Konstrukteur (Anm. 14), S. 702; Neuner: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 14), S. 246f.; Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 245f. 28  Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 213ff.; Lingnau: Auto in der Wirtschaft (Anm. 25), S. 582; Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 229f. 29  Diese Aussage mag insofern erstaunen, als AMC wie auch GM und Ford in Reaktion auf die langsam steigenden Kleinwagen-Importe bereits 1970 sogenannte „Subcompact Cars“ auf den Markt gebracht hatten (AMC „Gremlin“, GM Chevrolet

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Tabelle 2: Pkw-Produktion und Pkw-Absatz in den USA 1961 bis 198030

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Jahren“ zudem die Modernisierung und Flexibilisierung der klassischen Massenproduktionsanlagen vernachlässigt worden waren, gefährdeten auch die im internationalen Vergleich inzwischen höheren Fertigungskosten die Konkurrenzfähigkeit der US-Automobilindustrie. Zum Problem wurde dies vor allem im Wettbewerb mit den nun massiv auf den US-Markt drängenden preisgünstigen japanischen Fahrzeugen (vgl. Tabelle 1).31 Als Folge veränderten Käuferverhaltens in Kombination mit einer durch den Ölpreisanstieg ausgelösten internationalen Konjunkturkrise litt die ame„Vega“, Ford „Pinto“). De facto handelte es sich bei diesen Fahrzeugen jedoch nicht um Kleinwagen im eigentlichen Sinne, sondern schlicht um „abgesägte“ Mittelklassewagen. Der „Gremlin“ wies keinerlei kleinwagentypische Konstruktionsmerkmale auf, beim „Vega“ und beim „Pinto“ kamen immerhin einige Kleinwagen-Bauelemente zum Einsatz, die von den jeweiligen europäischen Tochterunternehmen der amerikanischen Mutterkonzerne bereitgestellt wurden. Trotzdem können auch „Vega“ und „Pinto“ kaum als richtige Kleinwagen bezeichnet werden und machten daher auch eher größeren amerikanischen Pkw Konkurrenz, als erfolgreich ausländische Modelle abzuwehren. Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 224 und S. 231; Norbye: Automobilindustrie (Anm. 9), S. 183; Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 174. 30  Quelle: U.S. Bureau of Census / World’s Automobile Group, Internet-Datenbank unter: http://wardsauto.com/keydata/historical/UsaSa01summary (12. 05. 2011); http://wardsauto.com/keydata/ historical/NamPr01summary (12. 05. 2011). 31  Giuseppe Volpato: The Automobile Industry in Transition: Product Market Changes and Firm Strategies in the 1970s and 1980s, in: Steven Tolliday / Jonathan Zeitlin (Hrsg.): The Automobile Industry and its Workers, New York 1987, S. 193– 223, hier S. 193–196; Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 171 und S. 174; Bloomfield: World Automotive Industry (Anm. 1), S. 68; Schnell: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 25), S. 71f.; Norbye: Automobilindustrie (Anm. 9), S. 183. Siehe auch: Julius C. Chang: The Japanese Auto Industry and the U.S. Market, New York 1981.

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rikanische Automobilindustrie in den Jahren 1974 und 1975 unter einem massiven Absatzrückgang. 1974 ging die Produktion im Vergleich zum Vorjahr um gut 20 Prozent, im Jahr 1975 nochmals um etwa 10 Prozent zurück. Die Pkw-Neuanmeldungen sanken in den USA im Jahr 1974 im Verhältnis zum Vorjahr hingegen „nur“ um knapp 9 Prozent, was im Vergleich zu den Produktionszahlen zeigt, dass die einheimischen Hersteller überproportional stark von der Krise betroffen waren.32 Der Gesetzgeber reagierte auf die Ölpreiskrise mit verschiedenen Maßnahmen zur Senkung des Kraftstoffverbrauchs. Schon Ende 1973 wurde als Adhoc-Maßnahme das Tempolimit in den USA von 65 auf 55 Meilen pro Stunde (mph) gesenkt. Längerfristig wirksam war der 1975 folgende „Energy Policy and Conservation Act“, der zur Verabschiedung zeitlich gestaffelter Richtwerte für den maximal zulässigen Kraftstoffverbrauch der in den USA verkauften Pkw führte. Mit „Corporate Average Fuel Efficiency Standards“ (CAFE-Standards) wurde festgelegt, wie viel Kraftstoff die Fahrzeuge jedes Herstellers gemittelt über die verkaufte Stückzahl aller Modellvarianten höchstens verbrauchen durften. Dieser sogenannte „Flottenverbrauch“ wurde erstmals für das Modelljahr 1978 auf etwa 13 l/100 km (18,0 Miles per Gallon (mpg)) beschränkt. In jährlich zu erreichenden Verminderungsstufen sank der CAFE-Standard dann über 11,7 l/100 km (20,0 mpg) 1980 auf den ursprünglich geplanten Endwert von nur noch 8,5 l/100 km (27,5 mpg) 1985.33 Die amerikanische Automobilindustrie hatte also spätestens Mitte der 1970er Jahre mit einer wahren Problemkumulation zu kämpfen: Nach wie vor galt es, die strengen Emissionsgrenzwerte der frühen 1970er Jahre zu erreichen. Darüber hinaus zwang die veränderte Nachfragestruktur über kurz oder lang zur Modifikation des Produktionsprogramms, wobei gleichzeitig die Produktionsorganisation und -technik im Sinne flexiblerer und schlankerer Herstellungsverfahren reorganisiert werden musste. Schließlich galt es sowohl mit Blick auf die veränderten Käuferwünsche wie unter dem Druck der staatlichen Auflagen, den durchschnittlichen Verbrauch der produzierten Fahrzeuge zu senken. In den 1970er Jahren führte die Kombination aus staatlichen Vorgaben, gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, veränderten Käuferpräferenzen und – was ihr Modellangebot wie ihre Produktionskosten anbelangt – im wichtiger werdenden Kleinwagensegment überlegener ausländischer Konkurrenz dazu, dass die US-amerikanische Automobilindustrie unter massiven Innovationsdruck geriet. Sie versuchte nun sowohl mit Pro32 

Bardou: Automobil-Revolution (Anm. 4), S. 135ff.; Lingnau: Auto in der Wirtschaft (Anm. 25), S. 581; Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 171ff.; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 218f. 33  Neuner: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 14), S. 248f.; Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 190; Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 231f.; Luger: Corporate Power (Anm. 16), S. 94; Volti: Century of Automobility (Anm. 6), S. 681; Fehlmann: Staat als Konstrukteur (Anm. 14), S. 701. Vgl. auch: Richard H. K. Vietor: Energy Policy in America since 1945. A Study of Business-Government Relations, New York 1984.

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dukt- wie auch mit Prozessinnovationen auf die neuen Wettbewerbsbedingungen zu reagieren. Als Folge der ersten Ölpreiskrise liefen in der US-Automobilindustrie jedenfalls Entwicklungsprogramme vorher unbekannten Umfangs an. Die ­bisher vernachlässigte Verbrauchsoptimierung erlangte bei der technischen Entwicklung nun gemeinsam mit der Emissionskontrolle oberste Priorität. Neben verbesserten Motoren setzten die Hersteller dabei auf die aerodynamische Überarbeitung sowie die Gewichtsreduzierung der Modelle, „Downsizing“ hieß die neue Maxime. Noch zögerte man in den USA allerdings, die traditionelle Modellpolitik gänzlich aufzugeben, setzte auch später eher auf neue Mittelklassewagen europäischen Zuschnitts als auf regelrechte Kleinwagen. Nach wie vor scheute man den Einstieg in das vergleichsweise weniger gewinnträchtige Kleinwagengeschäft, zumal absolut unklar war, ob sich hinter der durch die aktuelle Krise provozierten Vorliebe für kleinere und sparsamere Fahrzeuge wirklich ein längerfristig anhaltender Trend verbarg. Auch was die neuen Mittelklassemodelle anbelangte dauerte es noch geraume Zeit, bis diese vergleichsweise kompakten Fahrzeuge der amerikanischen Hersteller tatsächlich produktionsreif waren.34 Vorerst profitierte auch die US-Automobilindustrie vom erneuten Konjunkturaufschwung zwischen 1976 und 1979. Obwohl die Strukturprobleme der Branche nicht einmal ansatzweise bewältigt waren, bescherte die Boomphase den amerikanischen Herstellern steigende absolute Verkaufszahlen und 1978 sogar fast einen neuen Produktionsrekord. Der Trend zu kleineren Wagen hatte also in der Tat keinesfalls alle amerikanischen Neuwagenkäufer erreicht, der rückläufige relative Marktanteil der US-amerikanischen Anbieter dokumentiert aber gleichzeitig, dass eine wachsende Zahl von Kunden ihre entsprechenden Wünsche durch den Kauf eines Importfahrzeugs erfüllte.35 Alle Hersteller nutzten den Aufschwung, um auf der Grundlage steigender Gewinne große Investitionsprogramme auf den Weg zu bringen. Anders als Chrysler und Ford nahm der Marktführer GM mit seiner traditionell breiteren Modellpalette bereits ab dem Modelljahr 1977 auch die dringend anstehende Umstellung des Modellprogramms in Angriff. Von besonderer Bedeutung war dabei, dass sich im Zuge der Erneuerungsbemühungen der bei GM schon 1975 erstmals serienmäßig eingesetzte Dreiwege-Abgaskataly34 

Future of the Automobile (Anm. 14), S. 87; Fehlmann: Staat als Konstrukteur (Anm. 14), S. 701; Köhler: Produktpolitik (Anm. 1), S. 124f.; Volpato: Automobile Industry in Transition (Anm. 31), S. 196; Bardou: Automobil-Revolution (Anm. 4), S. 154; Engel: Entwicklung der Automobilindustrie (Anm. 1), S. 225 und S. 273f.; Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 232. Siehe auch: Donna L. Ellis / Kathy L. Rebibo: Downsizing Detroit. The Future of the U.S. Automobile Industry, New York 1982. 35  Winfried Wolf: Die Krise der internationalen Automobilindustrie, in: Michel Capron / Winfried Wolf (Hrsg.): Spätkapitalismus in den 1980er Jahren, Frankfurt/M. 1981, S. 85–126, hier S. 97; Bardou: Automobil–Revolution (Anm. 4), S. 135f.

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sator innerhalb der Modellpalette durchzusetzen begann. Mit der katalytischen Abgasnachbehandlung stand nun eine Technologie zur Verfügung, durch die es auch bei Beibehaltung des konventionellen Ottomotors möglich war, strenge Emissionsgrenzwerte einzuhalten. Die Verlagerung der Emissionsbekämpfung aus dem Motor hinaus in den Abgastrakt entschärfte zudem den bisherigen Zielkonflikt zwischen Verbrauchsoptimierung und Schadstoffreduzierung. Letztlich handelte es sich bei der katalytischen Abgasnachbehandlung um eine pfaderhaltende Technologie, insofern als sie eine Abkehr vom hochentwickelten und in gewaltigen Stückzahlen produzierten konventionellen Ottomotor überflüssig machte. Insofern ist auch wenig verwunderlich, dass mit dem Siegeszug des Abgas-Katalysators die in den 1970er Jahren zunächst vehement vorangetriebene Entwicklung alternativer Antriebe weitgehend eingestellt wurde.36 Noch vor Ende ihres „Problemjahrzehnts“ wurde die amerikanische Automobilindustrie dann von einer weiteren, noch schwereren Krise getroffen. Die zweite Ölpreiskrise 1979/80 führte zu einem erneuten drastischen Absatzeinbruch bei gleichzeitig beschleunigter Verschiebung der verbleibenden Nachfrage in Richtung Kleinwagen. Die US-Firmen hatten in diesem Marktsegment noch immer wenig zu bieten und steckten zudem mitten in der Umstrukturierung ihrer Produktionsanlagen und Modellpaletten. Als erstes Unternehmen geriet 1979 der ohnehin angeschlagene Chrysler-Konzern in existentielle finanzielle Probleme, während GM und Ford im gleichen Jahr noch hohe Gewinne verbuchen konnten. Nur eine Bürgschaft der US-Regierung rettete Chrysler vor dem Bankrott und ermöglichte der Firma, den notwendigen Modellwechsel und die Rationalisierung ihrer Produktionsanlagen fortzusetzen. Bei Ford schlug der Absatzeinbruch 1980 voll auf die Unternehmenserträge durch. Nur eine konsequente Kostensenkung durch raschen und massiven Stellenabbau bei parallel weiter vorangetriebener Rationalisierung bewahrte die Firma vor existentiellen Problemen. Lediglich GM ging relativ unbeschadet durch die Krise, geriet zumindest zu keinem Zeitpunkt in eine wirklich existenzbedrohende Situation. Letztlich setzten alle drei großen Automobilproduzenten trotz enormer Verluste ihre schon vor der Krise 36 

Wolf: Krise (Anm. 35), S. 97; Schnell: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 25), S. 90; Volpato: Automobile Industry in Transition (Anm. 31), S. 196; Rubenstein: Making and Selling Cars (Anm. 3), S. 246; Möser: Geschichte des Autos (Anm. 14), S. 277. Als Folge der zunächst weniger strengen Emissionsgrenzwert-Gesetzgebung kamen geregelte Dreiwege-Abgaskatalysatoren in Pkw für den westeuropäischen Markt erst ab 1985 zum Einsatz. Für den US-Markt rüsteten allerdings auch europäische Hersteller ihre Fahrzeuge schon ab 1979 mit Dreiwege-Kats aus. Jürgen Schmidt / Wilfried Müller: Katalysatoren im Fahrzeugbetrieb, in: Wilfried J. Bartz (Hrsg.): Abgaskatalysatoren. Grundlagen – Herstellung – Entwicklung – Recycling – Ökologie, Renningen 2001, S. 187–224, hier S. 187. Zur Einstellung der Entwicklung alternativer Antriebstechnologien nach erfolgreicher Einführung des Katalysators siehe auch: Reinhold Bauer: Gescheiterte Innovationen. Fehlschläge und technologischer Wandel, Frankfurt/Main, New York 2006, S. 305.

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begonnenen Investitionsprogramme fort, traten unter dem Druck der Probleme gleichsam die Flucht nach vorne an. Insgesamt investierten sie bis Ende 1980 etwa 80 Mrd. US-Dollar, wobei parallel etwa 50 Produktionsstandorte in den USA geschlossen wurden. Von den 1977 noch 1,9 Mio. Beschäftigten der Branche verloren als Folge der Krise gut 600 000 ihren Job. Damit konnte zwar nicht verhindert werden, dass der Marktanteil der japanischen Konkurrenz in den USA bis zum Anfang der 1980er Jahre auf nahezu 20 Prozent stieg, aber wenigstens konnten die amerikanischen Hersteller ihre Dominanz im Bereich der mittleren und großen Wagen vorerst verteidigen. Europäische Anbieter spielten im Übrigen im Kleinwagensegment auf dem amerikanischen Markt keine nennenswerte Rolle mehr. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass die europäischen Wagen im Vergleich zu den japanischen Modellen schlicht zu teuer waren und zudem was Design und Ausstattung anbelangte nicht dem amerikanischen Geschmack entsprachen.37 Dem „Last Independent“, AMC, gelang es aus eigener Kraft nicht, die Krise zu überstehen. Das ohnehin angeschlagene Unternehmen suchte Ende der 1970er Jahre händeringend nach einem Geldgeber. Seine eigenen Mittel reichten nicht, um den auch bei AMC dringend erforderlichen ­Modellwechsel in Kombination mit einer Erneuerung der Herstellungsanlagen zu finanzieren. 1980 übernahm schließlich das französische Staatsunternehmen Renault 46 Prozent der AMC Aktien und gewann damit entscheidenden Einfluss auf das Unternehmen. Ab 1982 baute man bei AMC für den amerikanischen Markt modifizierte Renault Modelle, ohne allerdings den erhofften Verkaufserfolg erreichen zu können.38

Ausblick: Die US-Automobilindustrie in den 1980er Jahren Insgesamt geriet die US-Automobilindustrie in den 1980er Jahren wieder in ruhigeres Fahrwasser. Die „abgespeckten“ Unternehmen profitierten mit 37 

Zudem drängten japanische Anbieter weitaus aggressiver auf den amerikanischen Markt, d. h. sie investierten mehr in Werbung und bauten rasch eine relativ dichte Vertriebsinfrastruktur sowie bald auch eigene Montage- und Fertigungswerke auf. James Rader: Penetrating the US Auto Market. German and Japanese Strategies 1965–1976, Ann Arbor 1980, insbes. S. 77; Wolf: Krise (Anm. 35), S. 95ff.; Schnell: Wettbewerbs­ fähigkeit (Anm. 25), S. 90; Köhler: Produktpolitik (Anm. 1), S. 109f.; Luger: Corporate Power (Anm. 16), S. 98ff.; Volpato: Automobile Industry in Transition (Anm. 31), S. 203f. und S. 217; Bardou: Automobil-Revolution (Anm. 4), S. 138; Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 182 und S. 213. Siehe auch: Kurt Hoffman / Raphael Kaplinsky: Driving Force: The Global Restructuring of Technology, Labor, and Investment in the Automobile and Components Industry, Boulder 1988; Paul Ingrassia / Joseph B. White: Comeback. The Fall and Rise of the American Automobile Industry, New York 1994. 38  Norbye: Automobilindustrie (Anm. 9), S. 183. Siehe auch: http://www.amxfiles. com/amc/index.html, http://www.allpar.com/amc/index.html sowie http://www.wikipedia.org/wiki/American_Motors, jeweils 30. 04. 2011.

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neuen Modellen vom 1982 einsetzenden Aufschwung und fuhren 1983 sowie 1984 sogar wieder Rekordgewinne ein. Nach einer kurzen konjunkturellen Störung erreichten alle drei Hersteller auch 1986 bis 1989 sehr gute Jahresergebnisse.39 Anders als in den 1970er Jahren begünstigten freilich veränderte Rahmenbedingungen die Gesundung der Branche. In erster Linie ist dabei auf den seit 1981 wieder sinkenden Ölpreis zu verweisen, der in der gesamten zweiten Hälfte der 1980er Jahre sogar unter dem vor der zweiten Ölpreiskrise erreichten Niveau lag. Die Käufergunst verschob sich in den USA unter dem Eindruck der niedrigen Kraftstoffpreise wieder in Marktsegmente, in denen die amerikanische Automobilindustrie traditionell stark war.40 Hinzu kam, dass die ab 1980 regierende Reagan-Administration die Automobilindustrie erklärtermaßen vor einer Verschärfung der Emissionsgrenzwerte wie der Verbrauchsvorgaben schützte. Auf Bitten der Industrie wurden die CAFE-Standards im Gegenteil sogar gesenkt: Für die Jahre 1986 bis 1988 mussten statt der ursprünglich vorgesehenen 8,5 l/100 km (27,5 mpg) nur jeweils 9 l/100 km (26 mpg) erreicht werden, 1989 wurde dieser Wert nur moderat auf 8,8 l/100 km (26,5 mpg) verschärft.41 Festzuhalten bleibt, dass infolge günstiger gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungen und nachlassender staatlicher Reglementierung der seit den 1960er Jahren auf der US-Automobilindustrie lastende hohe Innovationsdruck in den 1980er Jahren erstmals wieder nachließ. Die Strategie einer eher moderaten Korrektur ihrer traditionellen Modellpolitik bei gleichzeitiger Kostensenkung durch rasche produktionstechnische und -organisatorische Erneuerung und Verlagerung der Produktion in Regionen mit relativ niedrigem Lohnniveau innerhalb und außerhalb der USA machte sich für die USAutomobilindustrie bezahlt. Die „Grossen Drei“ gingen insofern wirtschaftlich recht erfolgreich durch die 1980er Jahre, wobei allerdings GM wegen bestenfalls halbherziger Modellpflege in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wieder Marktanteile verlor. Ford wurde gleichzeitig zum am schnellsten wachsenden Hersteller. Das bisherige „Sorgenkind“ Chrysler profitierte von der mutigen Entscheidung, vor allem auf die Nischenmärkte Minivans (Großraumlimousinen) und Geländewagen (SUVs) zu setzen: Beide Marktsegmente zeigten in den 1980er Jahren ein weit überdurchschnittliches

39 

Volpato: Automobile Industry in Transition (Anm. 31), S. 203; Neuner: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 14), S. 2; Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 182. 40  Volpato: Automobile Industry in Transition (Anm. 31), S. 203; Neuner: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 14), S. 250. Zur Entwicklung der Ölpreise siehe auch: Harm G. Schröter: Ölkrisen und Reaktionen in der chemischen Industrie beider deutscher Staaten, in: Johannes Bähr / Dietmar Petzina (Hrsg.): Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen, Berlin 1996, S. 109–138, hier insbesondere S. 111. 41  Luger: Corporate Power (Anm. 16), S. 113ff. und S. 127ff.; Neuner: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 14), S. 247 und S. 249f.; Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 191.

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Wachstum.42 Chrysler konnte so bis zur Mitte des Jahrzehnts nicht nur seine hohen Schulden weitgehend tilgen, sondern war 1987 sogar in der Lage, die AMC-Anteile von Renault aufzukaufen und per Aktientausch auch den Rest des Unternehmens zu übernehmen. AMC ging nun restlos im neuen Mutterkonzern auf, überlebte also nicht einmal mehr als eigene Marke.43

Fazit Infolge einer Kumulation von Veränderungsprozessen wurde seit den 1960er Jahre das klassische Erfolgsmodell der US-amerikanischen Automobilindustrie – größer, stärker, mehr – zunehmend in Frage gestellt. Wirkungsmächtig war dabei einerseits die sich verändernde Wahrnehmung des Automobils, das als klassisch amerikanisches Symbol von Wohlstand und Freiheit an Bedeutung verlor und zunehmend zum Symbol für übermäßige Ressourcenverschwendung, Umweltbelastung und Gesundheitsgefährdung aufstieg. Dieser Wandel führte wohlgemerkt keineswegs zur Entwicklung neuer Mobilitäts­regime oder gar zu einer wirklichen Abkehr vom Automobil, wohl aber zu einer veränderten Haltung des Staates und zu veränderten Modellpräferenzen bei Teilen der amerikanischen Kundschaft. Beides führte dazu, dass die US-Automobilindustrie unter zunehmenden Innovationsdruck geriet. Als mindestens ebenso wirkungsmächtig erwiesen sich andererseits die Ölpreiskrisen der 1970er Jahre, die die Rolle des Staates als „Product Regulator“ stärkten sowie die Abwanderung der Kundschaft zu kleineren Modellen und damit den Markteintritt der neuen japanischen Konkurrenz beschleunigten. Insgesamt geriet die US-Automobilindustrie damit in eine potentiell 42  Bardou: Automobil-Revolution (Anm. 4), S. 139; Neuner: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 14), S. 93f. und S. 270; Schwarz: Car Wars (Anm. 1), S. 213ff. Vgl. auch: The Harbour Report a Decade Later. Competitive Assessment of the North American Automotive Industry, 1979–1989, Berkley 1990; Ingrassia: Comeback (Anm. 33). 43  Das einzige Pfund, mit dem die AMC in den 1980er Jahren noch wuchern konnte, war ihre Geländewagensparte. Bereits 1970 hatte AMC die Marke „Jeep“ von Kaiser Industries übernommen und konnte mit den legendären „Offroadern“ in den folgenden Jahren vom beginnenden Geländewagenboom profitieren. Die Produktion stieg von rund 40 000 Fahrzeugen 1970 über etwa 180 000 Einheiten pro Jahre Ende der 1970er auf knapp 250 000 Wagen pro Jahr Mitte der 1980er Jahre. Das reichte zwar nicht, um AMC das Überleben zu sichern, machte die Firma aber als Übernahmekandidaten durchaus attraktiv. Vor allem mit Blick auf die Geländewagen erwarb daher Chrysler das angeschlagene Unternehmen. Chrysler stellte die Produktion der Renault-Modelle rasch ein, führte aber die Herstellung der Geländewagen sehr erfolgreich fort. Norbye: Automobilindustrie (Anm. 9), S. 183; Bardou: Automobil-Revolution (Anm. 4), S. 139; Neuner: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 14), S. 93f.; http://www. amxfiles/amc/index.html (30. 04. 2011); http://www.allpar.com/amc/index.html (30. 04.  2011); http://www.wikipedia.org/wiki/American_Motors (30. 04. 2011).

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existenzgefährdende Krise, die zum Bruch mit gleich mehreren der bis dato dominierenden Entwicklungspfaden zwang. Die Abkehr von der klassischen starren Massenproduktion musste mit der Abkehr von der bisherigen Modell- und Baugruppenpolitik verbunden werden. Nur auf der Basis von Produkt- und Prozessinnovationen, d. h. mit verbrauchsgünstigeren, emissionsärmeren, zuverlässigeren und auch noch in modifizierten oder gänzlich ­neuen Werken preiswerter produzierten Modelle war ein Überleben der Branche möglich. Selbst wenn ein Einstieg in das eigentliche Kleinwagensegment ­infolge betriebswirtschaftlicher Bedenken auch angesichts der japanischen ­Dominanz nicht ernsthaft versucht wurde, bereitete dieser radikale Wandel erhebliche Schwierigkeiten. Es kann insofern kaum verwundern, dass die Veränderungsbereitschaft mit dem sich in den 1980er Jahren wieder vermindernden Innovationsdruck spürbar nachließ. Unter den Bedingungen der 1980er Jahre fiel die US-Automobilindustrie partiell in Verhaltensmuster der Vorkrisenzeit zurück, wobei aber nicht übersehen werden sollte, dass der Markteintritt der japanischen Konkurrenz, die zunehmende Kooperation mit europäischen und insbesondere auch asiatischen Konzernen und letztlich die Globalisierung der Automobilbranche insgesamt die Herstellung und Vermarktung von Pkw nachhaltig verändert haben. Die Rückkehr zu einer ­Situation, in der die US-amerikanische Automobilindustrie den weitgehend unter drei großen Herstellern aufgeteilten heimischen Markt in gleichsam „splendid isolation“ dominierte, konnten insofern auch die 1980er Jahre nicht bringen. Die US-amerikanische Automobilindustrie fand trotz ihres relativen Erfolgs damit auch nie zur „alten Größe“ zurück. Mit ihrem „Rückzug“ in höherpreisige Fahrzeugklassen war sie in den 1980er Jahren zwar vorübergehend durchaus erfolgreich, de facto war diese Strategie aber zumindest auch aus der Not geboren: Zum einen mieden die US-Hersteller aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen heraus die unteren Marktsegmente, zum anderen konnten sie in diesen auch einfach nicht bestehen. Ab Ende der 1980er Jahre gerieten nun auch die bisher erfolgreich verteidigten Bastionen der Amerikaner in Gefahr. Einerseits konnten europäische und insbesondere deutsche Anbieter im Segment der Oberklasse Marktanteile gewinnen, andererseits begannen die Japaner mit qualitativ hochwertigen Mittelklasse-Fahrzeugen gleichsam „von unten“ in die bisher noch „amerikanischen“ Marktsegmente einzudringen. Zudem verschärften neue Anbieter aus Fernost, vor allem Südkorea, mit wesentlich günstigeren Preisen den internationalen Wettbewerb. Die 1980er Jahre boten der US-Automobilindustrie also bestenfalls eine Atempause, bevor der steigende Wettbewerbsdruck in allen Fahrzeugklassen eine neue Anpassungsoffensive erzwang. Die durch die weltweite Finanzkrise induzierte jüngste Krise der Automobilindustrie offenbarte schließlich infolge eines erneuten Trends zu verbrauchsgünstigeren und umweltverträglicheren Automobilen sowie zu alternativen Antriebskonzepten Strukturprobleme der US-Automobilindustrie,

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die unmittelbar an ihre eben skizzierten Schwierigkeiten in den 1970er Jahren gemahnen. Der Staat stieg dabei nun zum Retter einer Branche auf, die um den Preis ihres Überlebens erneut ihre Innovativität unter Beweis stellen muss.44

44  Köhler: Produktpolitik (Anm. 1), S. 107; Kawahara: Origin of Competitive Strength (Anm. 8), S. 131ff.; Neuner: Wettbewerbsfähigkeit (Anm. 14), S. 270; Volti: Century of Automobility (Anm. 6), S. 682. Siehe auch: Melvyn A. Fuss / Leonard Waverman: Costs and Productivity in Automobile Production: The Challenge of Japanese Efficiency, New York 1992.

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The Rivals A Comparison of the British and German Motor Industries 1945–1960 Introduction For most of the twentieth century, the motor industry internationally was by almost any measurement the leader in the sector for manufactured goods, and on a national level, it was the most important single industry in many countries. Like many other industries, it has been affected by historical events, and has experienced periods of expansion and prosperity, as well as of crisis and decline. Clearly external factors such as changing economic circumstances have greatly influenced the fortunes of the motor industry as a whole, of industries in particular nations, and of individual companies. Examples are the depression of the 1930s, the first and second oil crises of the 1970s and 1980s respectively, and the recent recession of 2008–10 which all had a detrimental effect; on the other hand, the period of economic “boom” after the end of the World War Two benefited the motor industry – and was arguably in part created by it. Of other external factors which have influenced the motor industry, World War Two itself had an impact, and other political events have influenced the industry, at least in some nations or regions. These include the gradual lifting of international trade barriers; the creation of the European Union; and the introduction of specific legal measures affecting motor car design, such as those relating to safety or emissions standards. Changes in consumption patterns or customer preferences, often caused by economic factors, have occasionally had an effect; an example in a related field is the fate of the European motor cycle industry in the 1960s, caused by the buying public changing from motor cycles to motor cars during a period of increasing personal affluence, while at the same time a new competitor appeared in the shape of the Japanese motor cycle industry. The emergence of a new competitor in any given industry may be considered as a factor internal to that industry; consider for instance that Britain has lost most of its ship building, train making, and aircraft industry to foreign competitors. In the motor industry it happened in the USA in the 1920s, when General Motors took over market leadership from Ford, and in Europe in the 1950s with the growth of Volkswagen. The same phenomenon occurred on an international scale in the 1960s–70s, with the breakthrough of Japan in international markets, a process now likely to be repeated by China.

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Another factor internal to the industry is, if a company (for whatever reason) continues to manufacture a product which is out-of-date and declining in popularity and sales, such as the Ford Model T or the original Volkswagen Beetle. Some times a company’s apparent reluctance to change could be ascribed simply to a conservative attitude and an abhorrence of change, but the motor industry has become increasingly capital-intensive (and less labourintensive), and new products have long lead times. It is therefore not surprising that the responses by the industry or by an individual company to changes which have been forced upon it by external factors of crisis, have often appeared sluggish and inadequate. Automotive history, however, is littered with examples of companies which tried to change too radically, too quickly, and suffered the consequences. It may be considered that the most important changes which have taken place within the motor industry have occurred since the 1970s. However, the following case study which concerns the British motor industry, and a comparison of this with the German industry, concentrates on the period 1945 to 1960, and includes sketches of the historical background in both countries. The thesis is based on the premise that the later development of the motor industry in the two countries under consideration, was to some extent shaped by events in the first formative years after the end of World War Two.

Britain: The Decline of the Motor Industry By 2010, there was a motor industry in Britain, but hardly a British motor industry. While Britain in 2010 produced in the region of 1,259,000 cars, the biggest manufacturer in all-British ownership was Morgan which made around 800 of their quaint traditional sports cars. All of the volume producers were in foreign ownership and many were satellite plants of larger operations located elsewhere. In descending order of production, these were: Nissan, Mini (owned by BMW), Jaguar Land Rover (owned by the Indian Tata group), Toyota, Honda, and Vauxhall (owned by the American General Motors). Even many of the small specialist manufacturers were foreign owned, including Bentley (VW), Aston Martin (a mostly Kuwaiti consortium), Rolls-Royce (BMW), Lotus (Proton of Malaysia), and London Taxi (the Chinese Geely conglomerate). Ford and Peugeot, both non-British companies, had withdrawn from making cars in Britain. The remains of the MG Rover Group had been taken over by Chinese interests, and a promised revival of British production had yet to materialise. Nor was Britain’s overall performance impressive. In world terms, Britain was the twelfth largest producer, behind such countries as Brazil, India, Canada, and Mexico. Of the long-established car manufacturing countries, only Italy delivered a significantly poorer performance than Britain, with little more than 600,000 cars made. Of other European countries, the Czech Re-

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public and Russia were not far behind Britain, while France and Spain were both close to the 2 million mark, and Germany was way ahead with more than 5.5 million cars. The leading German brands were Volkswagen, Audi, Mercedes-Benz and BMW, all German-owned, followed by the two longtime American-owned companies Ford and Opel. There were no other foreign companies manufacturing cars in Germany.1 Another way of looking at Britain’s present-day output of motor cars is by comparing with historical figures. The first high point in the history of the British motor industry came in 1964, when Britain made nearly 1,868,000 cars and was number three in world production behind the USA and Germany. In other words, nearly fifty years ago, the British motor industry made 50 per cent more cars than it does today. Furthermore in 1964, before the merger mania which re-organised Britain’s industry, of the “big five” manufacturers three were British owned – BMC, Rootes and Standard-Triumph – as were all of the surviving independent specialist manufacturers led by Rover and Jaguar, and there were only two foreign car manufacturers operating in Britain, Ford and GM-owned Vauxhall. The 1964 figure was bettered only once, in 1972, when Britain made 1,921,000 cars, although this was by then sufficient for just a fifth place, as Britain had been overtaken also by Japan and France.2 Of the four large-scale producers left in 1972, only British Leyland (which included BMC, Standard-Triumph, Rover and Jaguar) was British-owned, as the Rootes Group was now American-owned and had been renamed Chrysler UK. Clearly, the British motor industry has suffered a drastic decline since the 1960s. While historians can agree on this, there is some divergence of opinion as to what has caused the decline, and as to whether any one factor can be identified as having had a decisive influence. Writing in 1995, one group of authors stated that […] this remarkable contraction has prompted a so far inconclusive search for explanations. One reason for the indecisive nature of the debate about the decline of the motor industry is the nature of the explanations. A common approach is to list all plausible “factors” – management, industrial relations, under-investment, and, sometimes implicitly, attribute a causal role to each. Here, description can masquerade as explanation.3

Of the factors which influenced the performance of the British motor industry in the post-1945 period, much attention has indeed been given to matters such as labour relations, inadequate management, lack of investment, low profitability, the structure of the industry, the efficiency or otherwise of the 1  For current figures, see e.g. Katalog der Automobil Revue 2011 (Bern, Switzerland, March 2011), pp. 33–34. 2  The Motor Industry of Great Britain (annual handbook published by the Society of Motor Manufacturers and Traders, London), various years. 3  Foreman-Peck, Bowden and McKinlay The British Motor Industry (Manchester, 1995), p. 89, et seq.

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distribution and sales network particularly in export markets, and the influence attributable to Government, whether expressed in formal regulations or not. However, many studies of Britain’s motor industry have failed to analyse the product policy which the industry pursued in the immediate post-war period and later, even when this was strongly influenced by the Government of the day.4 Yet in the opinion of the present author, one of the causes of the ultimate decline of the British industry can be found here. Furthermore, it is of particular interest to compare the British and German motor industries in the period of 1945–60, since in the same period when arguably the seeds of decline took root in Britain, the German industry began its rise towards its present-day position. Now, Germany is Europe’s largest producer, and the leading company, the Volkswagen group, has a world-wide presence. By 2010 Volkswagen was close to challenging Toyota for the position as the world’s largest car manufacturer. It has been suggested that the small and economical “people’s cars” in the post-1945 period became “the spearhead of the expansion strategies and the primary reason for the growth and leadership of some of the major European manufacturers”.5 Apart from the German Volkswagen itself, examples of such “people’s cars” included the French Renault 4CV and later Dauphine, and Citroën 2CV, as well as the small Italian Fiats. Even if the British Mini from 1959 onwards is included in this list (as the author quoted does), a British contender of the immediate post-war period is conspicuous by its absence. Britain’s efforts at meeting world market requirements in this period have been described as follows: The result was that British cars came to fall between two stools: in the US market they were priced too high to lure enough buyers away from large American-made cars; in Europe they were too expensive to buy and operate relative to the small, efficient new Fiats, Renaults and Volkswagen Beetles.6

The comment is perhaps not entirely accurate, as Britain also made the small Fords and the Morris Minor. 4  Ibid.; see also Church The Rise and Decline of the British Motor Industry (Basingstoke, 1994), pp. 43–83; Dunnett The Decline of the British Motor Industry (London, 1980), pp. 31–86. Balfour in Roads to Oblivion (Bideford, 1996), pp. 12–31 et passim, attempts a discussion of product policy in the context of his analysis of the post-war performance of the British motor industry. Wood in “Export or Die” in Britain’s Motor Industry The First Hundred Years (Yeovil, 1995), pp. 102–48, provides a detailed overview of the industry and its products 1945–60. Whisler has paid particular attention to the question of exports and the distribution system, in “The outstanding potential market: The British motor industry and Europe”, Journal of Transport History, vol. XXI no. 1 (Manchester, 1994), pp. 1–19, and in At the End of the Road (Greenwich, CT, and London, 1995), esp. chapter VI, although this predominantly deals with the situation in the USA. 5  Chanaron in Laux et al. The Automobile Revolution (Chapel Hill, NC, 1982), p. 173. 6  Flink The Automobile Age (Cambridge, MA, 1988), pp. 316–17.

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If we accept the argument proposed above, that the small economy cars were essential prerequisites for generating the growth of the post-war European motor industries (as they later were for the Japanese industry), it becomes necessary to re-examine the British motor industry’s product policy in comparison with those of competitor European industries, in particular Germany, to determine whether there was any marked difference between Britain and other countries. If this is the case, we need to seek reasons why Britain’s car manufacturers should have followed a different path, and to which results this led. In the following, particular attention will be given to a comparison of the structure and product policy, coupled with export performance, of the post-war British motor industry, with that of the German rival. The reform of the tax system in 1947, discussed below, has been hailed as a step forward, enabling British manufacturers to change from a policy of building small cars for the home market, to building larger cars for export. However, there has not been any attempt at reconciling this with the fact that the most popular European post-war car, in Europe as well as overseas, turned out to be the German Volkswagen, a small car of the type that Britain was deliberately moving away from in the late 1940s. Equally crucially, in the early post-war period Britain decided to concentrate its efforts in export markets outside Europe, whereas Germany, much like France and Italy, initially made cars for the home market, and then consolidated its position in other European markets, before entering overseas markets.

The Historical Background The motor car had been invented in Germany in the 1880s but a German motor industry only became established at the end of the nineteenth century, and limited home market potential meant that growth was sluggish until 1914. Similarly, despite Britain’s industrial lead in the nineteenth century, a motor industry emerged only after the change in legislation in 1896 which eased the restrictions on the use of motor vehicles on British roads. British manufacturers did not come to dominate their home market for another ten years, and then soon had to contend with the first foreign transplant factory, established in Manchester in 1910 by Ford which became the market leader. Thanks to Ford’s methods of mass production, their Model T could be sold at a remarkably low price, £135 by 1914, later even less. Between 1919 and 1939, Britain’s motor industry experienced a golden age, overtaking France to become the biggest in Europe, and number two in the world after the USA. This was assisted by social and economic conditions in the home market, where an affluent suburban middle class became increasingly motor-minded. Among the major car producing countries, Britain’s ­industry was significantly less affected by the depression than the rest. In ­Germany, after World War One, the uncertain political and economic climate

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culminating in the hyper-inflation of the early 1920s made it difficult for the industry to maintain a regular, even rate of growth. The highest annual production figure during the decade was 102,000 cars in 1928 which compared poorly with Britain’s 165,000 in the same year, and the depression caused a disastrous fall in output to a low of 42,000 in 1932, less than a quarter of Britain’s output of 171,000 in the same year. The British industry was assisted by two legislative measures. The first was the McKenna duty, originally introduced in 1915, which imposed a tariff of one-third by value on motor vehicles, and was to remain in force until the early 1960s. The second was the introduction in 1920 of annual taxation of £1 per rated horsepower, which favoured domestically-produced small-engined cars in competition with large-engined imports, especially from the USA. With slight variations, this tax system persisted until 1947.7 The horsepower tax caused a seismic shift in the British market. The Ford Model T which was taxed on 23hp rapidly fell out of favour and market leadership instead passed to the 1500cc 12hp Morris Cowley model. Morris production was swiftly expanded to 50,000 cars per year by the mid-1920s. Then in 1922, the most important British car of the period was introduced by the Austin company. This was the Seven of only 750cc which despite its name was rated at 8hp. It was one of the first really small cars designed on the lines of bigger cars, with four cylinders and four seats. It reversed the declining fortunes of the Austin company, and set the pattern for numerous imitators. It also influenced the German industry where it was made under licence, first by Dixi, then by BMW. Ford only began to regain their former position in Britain when they introduced competitive small 8 and 10hp cars made in a new factory at Dagenham outside London from 1932 onwards. Ford also moved into Germany, at first to Berlin in 1926, and then set up a factory at Köln in 1931, contemporary with their new British factory. The most important German Ford products were variations on Ford’s British 8 and 10hp cars. Subsequently, Ford in Britain and Ford in Germany pursued independent careers, taking account of local conditions in their respective countries, even after the two companies were integrated as Ford of Europe in 1967.8 In Germany, Opel emerged as the largest producer in the 1920s, thanks to their introduction of a small car of 950cc rated at 4PS in 1924, following the 7  Plowden The Motor Car and Politics in Britain (Pelican ed., Harmondsworth, 1973), p. 102 et passim for McKenna duty, p. 165 et passim for the horsepower tax. Remark­ ably, the tax was based on a formula for “horsepower” devised by the RAC (Royal Automobile Club) in 1906, according to which “horsepower” was calculated as follows: “Cylinder bore squared, multiplied by the number of cylinders, divided by a constant”; the constant was 2.5 if the bore was measured in inches, 1612.9 if the bore was measured in millimetres. The formula was thus an expression of piston area. Neither the stroke nor the cubic capacity was taken into account. 8  Gérard Bordenave, “Ford of Europe, 1967–2003”, in: Hubert Bonin, Yannick Lung, Steven Tolliday (Eds.), Ford. The European History 1903–2003, (2 Bde., Paris 2003), Bd. 1, pp. 243–318.

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pattern established by the Austin Seven in Britain (see above). The difficult 1920s, followed by the depression and its aftermath, pruned the German industry of many of its weaker companies. Others merged in order to improve their chances of survival, notably Daimler and Benz in 1926, and the four Saxon companies DKW, Wanderer, Audi and Horch which formed Auto Union in 1932. With a range of innovative small cars, DKW became the principal competitor for Opel whose position as the largest German company was consolidated after they were taken over by the American General Motors in 1928–29. After the National Socialists came to power in 1933, the German motor industry experienced an extraordinary renaissance, in part due to the declared intention of the regime to further Motorisierung, as well as to the rapidly improving economic conditions. German cars of the 1930s became leaders in design and engineering. In 1933, the National Socialists had abolished annual car taxation, although since there was a substantial tax on petrol, German car buyers still tended to prefer small-engined economy cars. The cheapest saloon cars such as the Opel Kadett and DKW Reichsklasse cost around RM 1,800 in 1938–39 which is difficult to compare with prices in Britain, but at the 1939 exchange rate of RM 12 to the £, such cars cost around £150.9 Then there was the grandiose plan to manufacture a Volkswagen, the KdF-Wagen, in numbers unheard-of in Europe, at the remarkable price of RM 990 (say £85). While this did not come to fruition before the outbreak of World War Two, the design of the car, and the factory in which to make it, were both completed, and would play a decisive role in the post-war period. In the depression years of the early 1930s, the motor industries of France, Germany and Italy had effectively been rationalised, with the smaller and weaker companies disappearing. In Britain, from a high of 96 different makes in 1922 the figure had been reduced to 47 in 1926 but by 1939 there were still 33 British makes in production.10 Many small specialist companies continued to eke out an existence in Britain, thanks to a modest following in the home market. When they did get into difficulties, such companies were often taken over by other manufacturers and the brand name was continued in production, if at times as a very different type of car. Between 1926 and 1939 this happened to such diverse companies as Bentley (taken over by Rolls-Royce), Lanchester (taken over by Daimler), Sunbeam and Talbot (taken over by Rootes), and Wolseley and Riley (taken over by Morris).11

9 

See The Economist, which from January to August 1939 quoted “spot” rates of between RM 11.55 and RM 11.70 to the £. Some British sources tended to use a rate of RM 20 to the £ which had applied before Britain went off the gold standard in 1931. 10  The Motor Industry of Great Britain 1947 (SMMT Annual Handbook, London 1947), p. 2. 11  This also happened later to Triumph (taken over by Standard in 1944) and Singer (taken over by Rootes in 1955).

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The British market was dominated by the “big six” producers who were, in descending order, the Nuffield Group (Morris, Wolseley, MG), Ford (American-owned), Austin, Rootes (Hillman, Humber, Sunbeam-Talbot), Standard, and Vauxhall (American-owned by General Motors), but the smaller independent companies (such as Rover, Singer, etc) still held an estimated 10 per cent of the market.12 By the late 1930s there were five significant German manufacturers with annual outputs over 10,000 cars, in descending order Opel, Auto Union – both comparable in size to the British “big six” – Mercedes-Benz, Adler and Ford. Then there were Hanomag, BMW, NSU-Fiat (an Italian transplant), Hansa-Borgward, and Stoewer, with outputs typically between 10,000 and 1,000 cars (about the same as the British independents), and finally a few specialists with outputs well below 1,000, notably Maybach. The German industry was therefore far more concentrated than the British one, and model ranges similarly tended to be smaller than in Britain; the widest range of a single brand was that of Mercedes-Benz with eight different models by 1939, although three of these were luxury cars in very limited production. The German government wanted a further reduction in types in order to rationalise production, and intended to implement the Schell plan in 1939–40 which would have reduced the industry’s programme from nearly 50 to around 30 different models.13 Because of the British horsepower tax coupled with established demand patterns and competition in the home market, most British manufacturers continued to make wide and poorly rationalised ranges; in extreme cases such as Morris or Austin, there were seven or eight models with different engine sizes ranging from 750–900cc to as much as 3,500–4,000cc, usually with a choice of several different body styles for each chassis. However, as production runs of the most popular models were comparatively high, British manufacturers did produce cheaper cars than other European countries. Car prices in general had fallen significantly during the 1920s, and in the 1930s, Morris and later Ford achieved the “holy grail” of making a small car costing only £100. By contrast, the larger British models could not compete with American cars on price in the world market, and ironically the best-selling large car in Britain was probably the Ford V8, an American transplant. In 1937, the best pre-World War Two year, Britain produced close to 380,000 cars.14 New registrations in the home market were in the order of 12  The PEP (Political and Economic Planning) Report Motor Vehicles (London, 1950), table 14 p. 26, estimated that of cars produced in Britain in 1938, Nuffield made 26.6 per cent, Ford 17.8 per cent, Austin 17 per cent, Vauxhall 10.1 per cent, Rootes 9.6 per cent and Standard 9 per cent, or 90.1 per cent combined. Slightly different estimates for the “big six” are found in Maxcy and Silberston The Motor Industry (London, 1959), table 2 p. 109, which omits the smaller independent companies. 13  Seherr-Thoss Die deutsche Automobilindustrie (Stuttgart, 1974), p. 336. 14  Some sources quote nearly 400,000; both figures appear to be correct, but cover different accounting periods.

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320,000 cars, mostly of small cars, with engines rated at 10 horsepower or less (say up to 1,300cc) taking just over 58.1 per cent of the market, 11–14hp cars (around 1,300–1,900cc) 26.5 per cent and cars of over 14hp (mostly over 1,900cc) 15.3 per cent.15 Nuffield was the largest single company with annual production up to around 100,000 cars, still fewer than were made by the German Opel company owned by General Motors with a pre-war best figure of 114,000 cars in 1938, which made Opel the largest European car maker of the time.16 Total German output grew to a record of 277,000 cars in 1938, in which year home market registrations were nearly 223,000 cars. Exports grew in tandem with production, and in 1938 reached 65,000 cars and car chassis, of which more than 50,000 went to European markets with Sweden, Belgium, Denmark and Poland being the best markets, while South Africa was the ninth best market and the largest outside Europe.17 The 1938 German export figure was close to the highest British export figure which was 78,000 cars in 1937 or around 20 per cent of production. Most British exports went to Empire or Dominion markets, including in descending order Australia, New Zealand, Eire, South Africa, Denmark, India, and Malaya. These seven markets accounted for 87 per cent of exports, while the total share of exports to the British Empire was 83.3 per cent with Australia alone taking 34.6 per cent.18 However, American cars still outsold British cars in markets such as Australia and South Africa, although Britain had around 60 per cent of the New Zealand market and 90 per cent of the Irish market. While the German market was all but closed to imports (except for those Fiats which were assembled locally) imports to Britain in 1937 amounted to 18,000 cars or 6 per cent of the market which was the highest import penetration of the decade, and was enough to cause some concern as the figure included substantial numbers of mostly cheap cars from Germany19, as well as cars from the USA, France, Italy and Canada. The greatest weakness of the British motor industry in the 1930s was its products, which were well behind their European counterparts in terms of design. The horsepower tax favoured engines with small bores and long strokes, which was conceivably one reason why many engines of popular British cars were still of the side-valve type, rather than the more efficient overhead-valve type. There were some examples of independent front suspension, but unlike in Germany, independent rear suspension, front-wheel 15 

The Motor Industry of Great Britain 1947, table 29 p. 29. Schneider 125 Jahre Opel (Köln, 1987), p. 471. 17  Export figures from The Motor Industry of Great Britain 1947, table 117 pp. 391– 95. 18  The percentage figures are based on 1938 exports of 68,000 cars; see The Motor Industry of Great Britain 1947, table 90 pp. 250–65, table 91 pp. 266–69. 19  To obtain foreign currency, National Socialist Germany was alleged to subsidise exports to the point of “dumping” cars in the British market. 16 

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drive, streamlined bodywork, and rear engines were hardly found at all. However, thanks to the high production runs of popular models, by 1939–40 unitary or monocoque body construction had been adopted for the 10hp models of Vauxhall, Morris and Hillman, despite the high investment in presses and tooling required for this method of construction. It was also used by Opel and Hanomag in Germany. It may be speculated that the lack of progressive design in Britain at this time was the result of the nation’s wellsurfaced roads and short journey distances, coupled with largely undemanding customers who were above all concerned with economy and horsepower tax, not surprisingly in view of the fact that this annual tax could equate to 5 per cent or more of the purchase price of a new car.20 To sum up, by the outbreak of World War Two in 1939, Britain had a motor industry which was commercially successful but technically backward, an industry largely parochial in outlook, making mostly the small cars which were in demand in the home market, but which were considered to be less suitable for export markets. The British industry was also fractured with a large number of firms and models, of which only the three most significant producers – Nuffield, Ford and Austin – stood a chance of achieving reasonable efficiency through economy of scale. The German motor industry was also commercially successful but German cars were technically advanced. They were suitable both for the home market, and for their most important export markets in Europe, and were beginning to appear in some overseas markets. Although less fractured than the British industry, there were arguably still too many different models produced in small numbers. Only Opel and possibly Auto Union were achieving reasonable efficiency through economy of scale.

Britain and Germany in the Aftermath of War World War Two and its immediate aftermath represented a turning point for both the countries under discussion, and for their motor industries. By and large, most British car manufacturers had survived in good shape and the war did not lead directly to the demise of any significant company. By contrast in Germany, Adler, Hanomag and Maybach did not reappear as car makers; ­Stoewer of Stettin was now behind the new Polish border, and the main plants of Auto Union and BMW were in the Eastern Soviet-occupied zone, which delayed the appearance of post-war cars from BMW and DKW in the West. The British motor industry as a whole had made a huge contribution to the war effort, arguably more so than the German industry. Through enemy 20  Popular small cars then cost between £100 and £200 but between 1935 and 1940 when the tax was 15s. (£0.75) per hp, an 8hp car cost £6 to tax, a 10hp car £7 10s., and a 12hp car £8, etc.

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bombing, some British factories had been badly damaged, especially in Coventry in 1940, but others survived largely unscathed, and overall the destruction was far less than that inflicted on German car factories. Several British companies could also expect to expand their post-war production into the shadow factories built by the Government between 1936 and 1940 for increased production of aircraft and aero engines, and which had been operated by the motor manufacturers. They were located conveniently close to their sponsors’ existing factories, on the outskirts of Coventry or Birmingham.21 It should however be recorded that to reduce the risk of production being interrupted by successful bombing of any one factory, the shadow factories were comparatively small, at the most around 100,000 square metres each, and none had a potential or realised capacity of more than 50–100,000 cars per year. The German Volkswagen factory had more than 200,000 square metres production area and an estimated total floor space of nearly 500,000 square metres, and was planned for production of 400–500,000 cars per year, with two-shift working.22 Remarkably, the German Ford factory in Köln resumed production of trucks for the Allied armed forces on 8 May 1945 – quite possibly before any British factory!23 Elsewhere in Germany, clearing up and rebuilding got under way fairly quickly, other companies started limited production of commercial vehicles in 1945–46, and Opel and Mercedes-Benz began making cars again in 1947. The industry was still subject to permits for production being issued by the occupying powers, and initially most vehicles were reserved for the use of Allied occupation forces and authorities. This need for motor vehicles led to the British Army taking control of the Volkswagen plant at Wolfsburg, with production being started already in 1945. On the other hand, the Soviets were awarded the production plant and equipment for making the Opel Kadett as war reparations; they also dismantled and removed what remained of the Opel truck factory at Brandenburg, now in the Eastern Zone, of the once-important Ambi-Budd factory for all-steel bodies in Berlin, as well as of many Auto Union factories. By and large, as the occupied zones in Western Germany returned to something more like normality, especially with the currency reform and introduction of the Deutschmark in 1948 which heralded the start of the Wirtschaftswunder, conditions were favourable for the motor industry to grow and expand once again. The Volkswagen went into large-scale production for 21 

The five main shadow factories were operated by Austin, Daimler, Rootes, Rover and Standard, and of these plants the Rover factory at Solihull is still the main Land Rover factory. Likewise, the original Spitfire factory at Castle Bromwich in Birmingham is now Jaguar’s main factory. Most of the others were demolished in the early years of the 21st century. See Wood Wheels of Misfortune (London, 1988), pp. 73–74 and pp. 100–01. 22  Wiersch Die Käfer-Chronik (Bielefeld, 2005), pp. 63–64. 23  Seherr-Thoss op cit., p. 386.

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the civilian market, and the first recorded export sales were to The Netherlands in 1947. In October 1949 ownership of the factory and thus the company was turned over to the government of the new German Federal Republic and the Land of Niedersachsen. Both the Volkswagen and the pre-war models from Opel, Ford and Mercedes-Benz which came back into production, were still sufficiently up-to-date to be competitive with British counterparts. Germany’s first all-new post-war car was the Hansa 1500, introduced in March 1949. By the time of the first Frankfurt Motor Show held in April 1950, further new post-war designs had been or were being introduced by virtually all manufacturers; only Ford and Opel held out until 1952 and 1953 respectively before introducing all-new cars. The British industry had been quicker off the mark, with all-new post-war cars going into production between 1947 and 1950. In 1951, the Federal Republic of Germany made almost 277,000 cars, nearly equalling the 1938 performance of the greater German Reich. Britain had overtaken its best pre-war performance already in 1949, when 412,000 cars were made.

Britain: The Influence of the Government At the end of the war, Britain, although victorious, was heavily in debt, especially to the USA. Before the war, coal had been the most important British export. Now it became necessary for the nation to export manufactured goods on a substantially increased scale, to pay for imports particularly of food, but also of oil, and the motor industry was expected to play its part. Sir Stafford Cripps who was President of the Board of Trade in Attlee’s postwar Labour Government announced the initial target of 50 per cent of production to be exported (later increased to 80 per cent) at a dinner hosted by the SMMT (Society of Motor Manufacturers and Traders) in November 1945, and was promptly heckled by the industry executives in his audience.24 On this occasion Cripps also stated that, for export, We must produce a cheap, tough, good-looking car of decent size – not the sort of car we have hitherto produced for the smooth roads and short journeys of this country – and we must produce them in sufficient quantities to get the benefits of mass-production. […] We cannot succeed in getting the volume of export we must have if we disperse our efforts over numberless types and models.

Clearly Cripps was aware that for the British motor industry to reach economies of scale, exports were a necessity, as the likely potential size of the British market would be so small that the motor industry had to rely on export

24  Plowden op cit., p. 323 citing Cripps’s papers; also The Motor 28 Nov 1945; Bryant Stafford Cripps (London, 1997), p. 368.

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sales to maintain large-scale production. This would be the case, even if there were no restrictions on sales in the home market. To persuade the industry to change its outlook, the Government used the carrot and stick approach. There were in fact several sticks. The Purchase Tax on new cars of one-third of the wholesale price introduced in 1940 was retained, and was at one time increased to two-thirds; it did not fall consistently below 50 per cent until 1962, and was thus at a much higher rate than similar taxes imposed in any other car-making country.25 Steel was effectively rationed, and was allocated to individual manufacturers based on their export performance. New car sales in the home market were for a time still restricted to essential users, and were then subject to the “covenant” scheme whereby resale in the first two years was prohibited. Waiting lists for new cars in the home market did not disappear until 1953 when the export quota requirement was largely abolished. To keep a brake on home market sales, the Government had by then introduced restrictions on hire purchase agreements, but annual registrations of new cars in Britain still went up from fewer than 200,000 in 1952 to more than 500,000 in 1955 (see Appendix). Petrol was rationed until 1950, later than in Germany. The carrot was that the horsepower tax, after much discussion going back to the 1920s, was finally abolished by the Labour Chancellor of the Exchequer Hugh Dalton in 1947. It was replaced by a flat-rate tax on all new cars irrespective of engine size or other factors, initially of £10 per year. There had been long and inconclusive debate about the taxation system, with the industry, the motor trade, and motorists’ interest groups only being able to agree that taxation was too high. This argument was predictably rejected by succeeding Chancellors irrespective of political party. Concurrently there was a debate about what kind of car Britain should make for the post-war world market. Here a consensus had gradually emerged that Britain should make cars rather larger than previously, yet smaller than typical American cars. This came largely to be accepted by all parties, whether politically, technically or commercially motivated. A rare dissenter was Laurence Pomeroy, the respected technical editor of The Motor magazine who wrote that There is reason to believe that of all cars […] throughout the world at least three – possibly four – out of 10 are small cars of the type which we may consider indigenous to England and Europe. It would seem sound policy for British manufacturers to concentrate on securing the highest possible percentage of this market.26

This was not to be reflected in the post-war product policy of most British car makers who instead mostly adopted the “cheap, tough, good-looking car of decent size” advocated by Cripps, and which it was hoped would be equally acceptable in the home market, and in export markets.

25 

26 

Dunnett op cit., table 5.2 p. 89. Letter to The Times, 3 Jan 1945.

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Cripps also advocated a rationalisation of the model ranges offered by British manufacturers. However, there was not to be a British equivalent of the German Schell plan of 1939, or the post-war Plan Pons in France, both of which rationalised and restricted the product ranges of motor manufacturers. Instead, in September 1947 the Ministry of Supply recommended that each company or factory should make only one single model, a call that went mostly unheeded, except by the Standard company with the Vanguard.27 Still, through organisations such as the SMMT and the National Advisory Council for the Motor Manufacturing Industry, a degree of voluntary standardisation was achieved, at least in the components field. By contrast, the evidence suggests that the German motor industry was largely left alone by the Federal Government. Even the de facto nationalisation of Volkswagen does not appear to have led to direct Government interference in the affairs of the company; instead the Adenauer and Erhard Government pursued a “hands-off” policy, as did the French Government in the case of Renault, and left Dr Nordhoff of Volkswagen to get on with it.28 The most important German Government measure was that an annual vehicle tax was re-introduced from 1 January 1949, at a rate initially set at DM 12 (around £1) per 100cc of engine size, thus a Volkswagen would cost DM 144 (£12) to tax, an Opel Olympia DM 180 (£15).29 The different approaches of the British and German governments are clearly demonstrated by the development of home market sales in the two countries, and the import of cars into either country (see Appendix). Home market sales in Germany were higher than in Britain from 1950 onwards, except in the three years 1953–55 after the British home market was largely freed from artificial restrictions, but from 1956 onwards the German home market sales were again ahead. Obviously, this was to some extent a “catching up” situation, as post-war Germany had started with a much smaller ­vehicle park (i. e., the number of cars in use) than Britain. Nor did Germany appear to be concerned about the threat of imports, which were not subject to restrictions other than a tariff barrier of 35 per cent, reduced in 1957 to 23 per cent and in 1959 to 13 per cent under the influence of the new European Economic Common Market.30 In Britain, imports for general sale were not allowed at all until 1953 and were then initially subject to a quota system. In 1960 the import share of the UK market was around 7 per cent, in Germany it reached nearly 10 per cent, by which time most imported cars in Germany came predictably from Italy and France.

27 

Plowden op cit., p. 324. Volkswagen only became a privatized Aktiengesellschaft in August 1960; SeherrThoss op cit., p. 504; Wiersch op cit., p. 218. 29  Seherr-Thoss op cit., p. 489. 30  Ibid., pp. 492, 502. 28 

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The Structure and Products of the British and German Industries The difference between the structures and product programmes of the British and German industries in the 1930s has been discussed above, as has the immediate impact of the war, which effectively left the British industry intact, but caused the demise of some hitherto important German companies. After the war, the British motor industry operated in what has been called a “seller’s market”, both at home and in many export markets, so there was little incentive to consider rationalisation. Government exhortations did have some effect and British manufacturers did mostly reduce their 1939 model programmes to fewer types post-war.31 Individual British manufacturers were still intent on competing with each other, and were reluctant to cede any other company an advantage, by allowing it an exclusive position in any of the most popular classes by size or price. Morris from 1948 and Ford from 1950 had cars in the three most popular classes, a pattern which was later to spread across the British industry, but one which was only imitated by other European manufacturers in the 1960s or 1970s. Now it is of course the rule, as in the classic case of Volkswagen with the Polo, Golf and Passat models. The only merger of companies in the immediate post-war period occurred when Standard took over the moribund Triumph company (which actually happened in 1944). Then in 1952 Austin and Nuffield (Morris etc.) merged to form BMC, the British Motor Corporation, which at the time was Europe’s largest car company and number four in the world after the American big three (General Motors, Ford and Chrysler). There were a few newcomers in the specialist field after the war, such as Bristol and Healey. Generally speaking, the small specialists held up well until the British home market returned to normal conditions in 1953–54, when cars of all makes became freely available again. This contributed to the demise of Jowett and Lea Francis, while Daimler discontinued its subsidiary Lanchester brand, and Singer was taken over by the Rootes Group. Subsequently, Jaguar and Rover came to dominate the specialist sector, leading to the demise of several other brands. In Germany, once the initial post-war difficulties had been overcome, the established makers re-asserted themselves, eventually including BMW and DKW. The emergence of the newcomer Volkswagen and its swift ascendancy to become the dominant German brand, in a large part thanks to the capacity of the factory that had been bequeathed to it, clearly had enormous impact on the other manufacturers. The most likely competitors, Opel and Ford, positioned new models of the Olympia and Taunus upmarket from the Volkswagen, and although some cars such as the post-war DKW were comparable with the Volkswagen in size, performance and general characteristics, 31 

PEP report op cit., esp. Chapter X “Types, Prices and Standardisation”, pp. 124–43.

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none could challenge the Volkswagen on price. Apart from Volkswagen, the only significant and long-lasting post-war newcomer was Porsche, a company which most untypically for Germany made specialist sports cars. It is instructive to compare the variety of output of Britain’s post-war motor industry with Germany as the main European competitor; the tables below refer to 1950–51 when virtually all British manufacturers had completed their post-war model introductions.32 Table 1: British post-war cars Austin

Ford

Nuffield

Small 800–1200cc A40 Small-­ medium 1200–1400cc Medium 1400– 1800cc

Anglia/ Prefect

Morris Minor

MediumA70 large 1800–2500cc

Zephyr Six

Large A125/135 over 2500cc

Rootes

Standard- Vauxhall Others Triumph (sample)

Hillman Triumph Minx May­ flower Consul

Wyvern Jowett; Morris Singer Oxford (Wolseley 4/50) Humber Standard Velox Rover 75 Morris Hawk Vanguard Six (Wolseley 6/80) Jaguar Humber Mark VII Super Snipe

Of these categories, the medium-large group most closely reflects the “ideal” size promoted by the Government and it will be noticed that this was the only group where all of the big six were represented, as were many of the small independent manufacturers. On the other hand there were only two cars in the small group, and none below 800cc. There were still at this time 34 makes of car made in Britain, including the British-built Citroën, by around 24 different companies, some of which were very small indeed, and which between them produced about 60 different models without counting body variations. So although Germany had a number of significant manufacturers similar to Britain, the individual manufacturers’ model programmes were generally simpler. As could be expected in a country which had re-introduced a system which 32  For the sake of clarity, the table for Britain omits most of the smaller specialist manufacturers, including those owned by the “big six”. The table for Germany uses different capacity classes to reflect local production. (The Hansa was actually of 1498cc!)

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The Rivals Table 2: German post-war cars (from the German Federal Republic, the BRD) BMW Micro cars below 650cc Small 650–1150cc Small-­ medium 1150–1500cc Medium 1500–1800cc 501 Mediumlarge 1800–2500cc Large over 2500cc

Borgward

DKW

Ford

Mercedes- Opel Benz

Volks­ wagen

Lloyd Goliath

Meisterklasse

VW Taunus

Hansa

Olympia

170, 170 S 220

Kapitän

300

taxed cars by engine size, there were more small cars and fewer large ones available. Germany did not have the British variety of specialists, except for Porsche, and some makers of very small or micro cars, often ephemerals such as Champion or Gutbrod. Later on, a few other newcomers joined the established industry and grew to become more important, notably Glas and NSU. In terms of engineering and design, the new post-war generation of British cars took a step forward. Independent front suspension, hydraulic brakes, and more efficient overhead-valve engines became universal. Encouraged by the flat-rate tax, engine sizes grew; Britain throughout the 1950s made, and bought, far more large-engined cars than most other European countries. In 1955, in the British home market, 7.5 per cent of new cars sold had engines over 2500cc, as against 0.5 per cent in Germany.33 In 1955–56, fifteen British car makers (mostly the smaller specialists) offered a total of 25 saloons and sports cars with engines of this size.34 By then there were precisely two ­saloons and one sports car of such engine sizes in Germany: the BMW 502, and the 300 and 300 SL models from Mercedes-Benz. Of course the majority of new cars sold in Britain remained of the smaller types, because of their lower purchase price, better economy and generally lower running costs. Most of the new British post-war cars adopted American styling ideas, which 33 

Pomeroy “Microscope for Americans”, The Motor, 23 Jan 1957 p. 98; 30 Jan 1957 p. 1008 and p. 1031, based on his paper “The Size, Structure and Export Performance of the Western European Automobile Industry”, delivered to the US Society of Automotive Engineers in January 1957. 34  Compiled from The Times Survey of the British Motor Car Industry (London, October 1955).

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were later superseded by Italian themes. By the mid-1950s, all popular British models had adopted unitary body construction. Truly advanced engineering ideas only appeared in Britain at the very end of the 1950s, and then at first in new small cars (e.g. the Mini from BMC). German cars showed much greater variety in design; only Opel and Ford made cars which were completely orthodox by British standards. Thus Volkswagen and Porsche had air-cooled rear engines and DKW, Lloyd and Goliath had two-stroke engines and front-wheel drive. All-independent suspension featured on Mercedes-Benz and Hansa, apart from Volkswagen and Porsche. Mercedes-Benz had a Diesel-engined model. Opel, Ford, and the new Hansa adopted completely Americanised styling, while others endeavoured to retain some individual German characteristics in appearance. Of course the Volkswagen had been styled before the war, as had the DKW, and both these and Porsche had elements of pre-war streamlining, which otherwise was largely abandoned. The most notable technical advance in post-war German cars was fuel injection for petrol engines, used at first by Goliath and Gutbrod on two-stroke engines, and then employed far more spectacularly and successfully by Mercedes-Benz.

Contrasting Export Strategies When it came to exports, the British industry had three different options in the 1940s. It could continue the pre-war practice of exporting mostly to the Empire or Commonwealth, it could enter the North American market, or it could endeavour to increase its exports to Europe. Britain was to exploit all these possibilities, but in the first instance most of the effort was concentrated on the traditional Empire markets, which had the advantages to British car manufacturers of driving on the left and using English as the first (or second) language. However, the foreign currency that Britain was most in need of to pay off its war debt was US Dollars, and the Commonwealth was largely identical with the Sterling area. The expectation was that if Britain exported cars of a suitable type to Commonwealth markets, British cars would take the place of American cars which had previously dominated some of these markets. It was also undeniable that much of Britain’s food supply came from the Commonwealth. Yet the target Commonwealth nations had relatively small populations and were already heavily motorised, with numbers of cars by population higher than Britain itself.35 This would suggest that there were only limited opportunities for growth in these markets, which indeed turned out to be the case. 35  Thus at the end of 1946, Australia had a population of around 7.5 million or fewer than Belgium, and there were only eight persons per car, compared to eighteen in Britain. See The Motor Industry of Great Britain 1947, tables 74–77, pp. 216–19.

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The policy did have some success. With new models such as the Standard Vanguard which were typically larger and more powerful than before, exports did increase substantially, in particular to Australia. Unfortunately there were many set-backs.36 Exports to India and Pakistan were reduced after these countries gained independence in 1947. South Africa which had a shortage of both Dollars and Sterling banned imports of complete vehicles and forced manufacturers to set up local assembly operations of CKD (Completely Knocked Down) kits.37 New Zealand had chronic balance of payments problems and imposed various restrictions. After the introduction of the first locally-made Holden car, Australia increased the import duty on motor cars steeply in 195238 and again in 1955–56, on both occasions resulting in an immediate fall of car production in Britain (see Appendix). Afterwards, to maintain a presence in Australia, British manufacturers had to establish assembly plants and gradually increase the percentage of local content. It should be noted that Volkswagen also set up assembly plants abroad, including in Eire (1950), South Africa (1951) and Australia (1954).39 The first exports of British cars to the USA had occurred already in 1946. At the time, the demand for new cars in the USA outstripped the supply of domestic manufacturers, and some British small cars such as the Austin A40 and Hillman Minx sold quite well for a time. The devaluation of the British Pound Sterling against the US Dollar in September 1949 had a short-term beneficial effect but with the outbreak of the Korean War in 1950, the American car market went into recession. However, the American love affair with British sports cars had begun, and brands such as MG and Jaguar became widely popular, later followed by Austin-Healey and Triumph. In 1952, the leading imported brand was MG, while in 1954, Jaguar was challenging for import market leadership.40 After a tentative beginning, when the brand had been represented in New York by the émigré Austrian Max Hoffman (who also handled Jaguar, Mercedes-Benz, Porsche, and other European cars, and became the US importer of BMW in 196041), Volkswagen set up a wholly-owned subsidiary company as their American importer in 1956, a move followed only later by British manufacturers. Volkswagen exercised strict control over their American dealers, and as always insisted on building up an efficient service and parts 36 

There is also much evidence that new British cars such as the Vanguard were underdeveloped, and unsuitable for the arduous conditions in their export markets, see e.g. Wood “Export or Die”, p. 110. 37  The Economist, 6 Aug 1949, p. 318. 38  The Motor, 19 Mar 1952, p. 202, and 9 Apr 1952, p. 305. 39  Wiersch op cit., pp. 163–69. 40  The Economist, 24 Oct 1953, p. 298; The Motor, 14 Jul 1954, p. 866; Dugdale with Cook Jaguar in America (second edition, Tucson, AZ, 2001), pp. 18, 29. 41  Ludvigsen, K E “The Baron of Park Avenue”, in Automobile Quarterly volume X number 2 pp. 152–95 (Kutztown, PA, USA, 1972).

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­ etwork. Volkswagen became the leading importer in the USA in 1955, and n went on to dominate the small car market in this country.42 By 1957, the USA had become the biggest single export market for British cars, taking 94,870 cars which had an average value of £417; the second-best market was Australia with 49,056 cars which however had an average value of only £277, reflecting the fact that many exports to Australia were by now in CKD form. The eight biggest European markets for British cars took 81,654 cars between them, at an average value of £333, suggesting that at this time, exports to the USA were more profitable per unit than to most other markets – linked to the fact that the USA took more sports and luxury cars, and Europe more small cars.43 The temptation was therefore for British manufacturers to sell more of the more profitable cars to the American market. The importance of the USA as an outlet for British cars in the late 1950s must not be underestimated, but it was not a “typical market”, if we define “typical market” as a market where conditions and customer preferences were similar to those prevailing in the British home market. Overall British exports to the USA increased ten-fold from 21,000 in 1955 to 208,000 in 1959. US registration figures by make show that in the peak year of 1959, many of the best-selling British brands were those that predominantly offered specialised products such as sports cars, and small British saloons were less competitive against European opposition. Market leaders in the import sector were Volkswagen (114,243 cars) and Renault (85,425 cars), followed by British Ford (40,154 cars), Opel, Fiat, Simca, Hillman and Vauxhall. Of British sports car makers, Triumph sold 21,565 cars, MG 16,706 cars and Austin-Healey 14,704 cars – ahead of Morris (14,735) and Austin (4,196), although there was also the Metropolitan (13,470), a compact car made by Austin for the American Motors company.44 Because of a recession in the USA in 1960 and the fact that domestic makers brought out their first “compact” cars, sales of imported cars then tumbled and Britain exported a mere 30,500 cars to the USA in 1961. Afterwards most British cars sold in the USA were of specialised sports and luxury models, and British sales here never recovered to their former level. It may be noted that the only two imported makes whose sales figures held up well during the 1960–62 period, were Jaguar – and Volkswagen, which even increased its sales.45 In Europe, the major car-producing countries of France, Germany and ­Italy had tariff barriers in place, so Britain concentrated on the smaller countries which mostly had no domestic motor industry. Particularly attractive were the countries whose currencies were “hard”, i. e. freely convertible to 42 

The Motor, 27 Apr 1955, p. 472; Nelson Small Wonder (London, 1967), chapter 11, esp. p. 209, et passim; Wiersch op cit., pp. 179–83. 43  The Motor Industry of Great Britain 1958, table 100, p. 182. 44  US domestic registration statistics 1957–62 in BMIHT archive, accession 93/38/1. 45  For general trend, Dugdale op cit., p. 117; for Jaguar, ibid., p. 142; for Volkswagen, Seherr-Thoss op cit., p. 426, Wiersch op cit., p. 182; quoting different figures.

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US Dollars: Portugal, Sweden and Switzerland.46 Immediately after 1945, British exports to Europe were quite successful, but when the industries of France, Italy and Germany got going again, the British market share had typically declined by 1950 (e.g. in Switzerland, see tables below). British exports to Europe did show reasonable growth, and in 1953 more British cars went to Europe than to any other region, but from 1954 onwards British exports to Europe stagnated for the next few years. By contrast, exports from France, Germany and Italy to European countries grew, and the German industry continued to increase its dominance of many smaller European markets. The Volkswagen was often the best-selling make, but Opel also did very well with their cars larger than the Volkswagen, and Mercedes-Benz was usually the favourite prestige brand. Table 3: Exports of cars to Switzerland, 1946–54 1946 From Germany From France From Italy From the UK From the USA From Canada Total of above

1947

1948

1949

1950

1951

1952

1953

1954

– n/a* n/a* 3,601 8,786 11,620 11,746 19,454 22,023 2,600 6,202 3,977 5,748 5,915 4,626 3,784 4,214 4,433 – 1,706 2,544 2,848 3,098 2,993 2,754 4,177 4,587 2,706 5,985 4,889 5,468 5,234 3,379 3,293 2,719 3,143 1,820 6,003 6,540 4,720 4,881 6,059 2,554 3,442 3,767 – – 111 473 215 316 541 1,417 138 7,126 19,896 18,061 22,858 28,129 28,993 24,672 35,423 38,091

*As will be evident from the following table, there were German cars exported to Switzerland before 1949.

Table 4: New registrations of cars in Switzerland, by country of origin, 1947–50 1947 Germany France Italy UK USA and ­Canada* Czechoslovakia Others Total

7 5,566 1,291 6,071 6,074

1947 1948 per cent 0.0% 28.8% 6.7% 31.4% 31.4%

1,181 4,751 2,514 5,927 8,787

1948 1949 per cent 5.0% 20.3% 10.8% 25.4% 37.6%

3,589 6,230 2,748 5,753 6,333

1949 1950 per cent 14.4% 24.9% 11.0% 23.0% 25.4%

7,943 5,578 3,222 5,712 5,574

1950 per cent 28.1% 19.8% 11.4% 20.2% 19.8%

321 1.7% 209 0.9% 316 1.3% 205 0.7% 9 0.0% 6 0.0% 11 0.0% 14 0.0% 19,339 100.0% 23,375 100.0% 24,980 100.0% 28,248 100.0%

*The figures for the USA and Canada probably include some American cars assembled in Belgium. Source for tables 3 and 4: The Motor Industry of Great Britain 1947 to 1955, tables of “Exports of Motor Vehicles by the Principal Producing Countries” and “New Registrations – Overseas”.

The British export policy did make the country the world’s largest exporter of motor cars in 1949, ahead of the USA, until Britain was in turn overtaken 46 

The Motor Industry of Great Britain 1947, table 87 pp. 240–46. It should be noted that American cars continued to sell quite well in these countries after the war.

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by Germany in 1955 (see Appendix). The strategy of prioritising exports over home market sales was in marked contrast to Germany and the other European competitors who at first concentrated on meeting home market demands, and only then began to expand export sales, usually at first in neighbouring countries which in any case constituted their historic export markets. Thus from 1948 to 1953, while Britain exported between 51 and 77 per cent of annual car production, the comparable figures for European competitors were: France, 22 to 55 per cent; Germany, 13 to 37 per cent; and Italy, 21 to 26 per cent. However, Germany had a rising export percentage, whereas in Britain the export share was falling from a peak in 1951.47 For instance, the leading post-war German manufacturer Volkswagen began by exporting cars to The Netherlands, Denmark, Switzerland, Sweden, and Belgium, and only later entered markets outside Europe.48 Among ­factors common to most European markets were high petrol prices (usually because of high tax), and – except for Britain after 1947 – some form of ­graduated system for annual car tax, whether based on engine size, weight, or a horsepower formula. Together with the depressed state of the economy ­after the war in many countries, and often a shortage of foreign currency with which to pay for imports, it is not surprising that European markets wanted small economy cars – the “people’s cars”. There was a tendency among British observers to underestimate the potential for growth in Europe. In what may be described as a selection of nine European target markets for Britain (Scandinavia including Finland, Eire, Belgium, The Netherlands, Switzerland and Portugal), the combined vehicle parks grew from little more than half a million in 1946 to almost 2 million in 1954. This was an increase approaching 300 per cent for these nine countries over the period, and even so of these countries only Sweden with a car for every fourteen persons in 1954 had by then exceeded the British density of one car for every sixteen persons. Over the same time span, the rate of increase of Britain’s own vehicle park was 83 per cent, and the overall European increase was on average 135 per cent.49 Yet in 1956, a British commentator observed that in future, “the traditional British markets in Africa and Asia are likely to expand at a more rapid rate than Europe, where demand should begin to level out in 1956”.50 By contrast, in 1954, Dr Nordhoff, the director of Volkswagen, “expressed the view that German manufacturers should not over-estimate export opportunities in the Far Eastern (Asian) countries”.51 European demand did not level out. By 1959, the nine countries mentioned above had increased their vehicle parks to over 3.6 million, a rate of increase 47 

The Motor Industry of Great Britain, 1949 to 1954 issues. Nelson op cit., p. 151. 49  The Motor Industry of Great Britain, 1947 and 1955 issues. 50  Anon. in The Motor, 11 Apr 1956, p. 121. 51  The Motor, 14 Jul 1954, p. 866. 48 

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of 87 per cent since 1954, while Britain in the same period saw an increase of 54 per cent, and the average European increase was 96 per cent.52 Even so in 1959, in Europe as a whole (including Eastern Europe and the Soviet Union), there were 32 persons for every car, as against three in the USA, and five in Canada, Australia and New Zealand.53 There were indications that the greatest opportunities for growth were still available in European car markets – for whoever was willing and able to produce cars of the type and in the quantity required for these markets. Indeed, for the rest of the twentieth century Europe remained a major growth area for the motor industry. It is likely that an increasing awareness of the success of the Volkswagen and the general European preference for small cars had some influence on those British car manufacturers who in the early 1950s re-introduced small cars, starting with the Austin A30 launched in October 1951, followed two years later by the Standard Eight, and a new modern Ford Anglia/Prefect which became the most successful of these three. It is however equally likely that these manufacturers were simply jealous of the success of the Morris Minor in the home market. Rootes and Vauxhall stayed out of the small car sector until the 1960s. None of these British small cars reached outputs comparable with the Volkswagen or other European competitors (such as the French Renault Dauphine which at its height was made at an annual rate of 400,000 per year, or the Italian Fiat 600), in part because of the limited capacity of most British factories. Volkswagen production exceeded 250,000 cars in 1955, while from 1959 onwards it was over 500,000 per year.54 The peak annual production figures achieved for small British cars during the 1950s were 114,000 for the Morris Minor in 195855, 85,000 for the Austin A30 in 195556, and an estimated 71,000 for the Standard Eight/Ten range in 1955.57 Between 1953 and 1959 Ford made 650,000 of the new Anglia/Prefect range, an average of 110,000 per year, with annual production peaking at an estimated 155,000.58 While both the Austin factory in Birmingham and the Ford factory at Dagenham had undergone modernisation and expansion in the 1950s, the capacity of each was, at the most, around 250,000 cars per year by 1960.

52 

The Motor Industry of Great Britain, 1955 and 1960 issues. Ibid., 1960 issue, tables 91, 92 and 94, pp. 118–21. 54  Nelson op cit., p. 286; Wiersch op cit., p. 289. 55  Skilleter Morris Minor (third edition, London, 1989), p. 171. 56  Sharratt Post-War Baby Austins (London, 1988), p. 175. 57  Estimated on the basis of chassis number ranges as no model-by-model production figures are available for Standard before 1959. The figure therefore includes light commercial vehicles which are not included in the figures quoted for competitors. 58  Turner Ford Popular (London, 1984), p. 128; The Autocar 31 Oct 1958 quoted monthly production of the small Fords as 13,200. 53 

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Conclusion World War Two was, in a sense, the crisis which became the catalyst for change in both the British and German motor industries. From the foregoing study we can identify factors of continuity as well as of change which affected both industries, although in different ways. An initial evaluation might suggest that the immediate post-1945 changes were greater in Germany than in Britain, e.g. British factories suffered less damage than German ones, and the structure of Britain’s motor industry was less changed than it was in Germany. This continuity helped to give Britain’s motor industry an advantage over its rival Germany in the early post-war period. Among the changes affecting the British industry, a particularly important factor was the necessity of developing new cars for export to Commonwealth markets as required by the nation’s economic situation. The British industry, although initially reluctant, responded well to the new circumstances, but it meant that the home market remained neglected until 1953. Here there was a marked contrast with Germany which was able to concentrate on developing its home market and traditional European export markets, in other words a clear continuity of the strategy that the German industry had pursued before the war, and this arguably gave Germany an advantage. Furthermore, the larger cars which Britain developed for overseas export were not necessarily those types which were most in demand in the home market, whereas Germany was successful in selling the same small cars both at home, and in export markets. This was particularly the case in the important and lucrative US market, where both countries had success, but Britain mostly with sports and luxury cars, Germany mostly with the Volkswagen. Most importantly, many strategies of the British motor industry were adopted under the influence of the Government, either as the implementation of directives, or to cope with changes in the Government’s economic policy. From the 1940s onwards, the British Government continued to exercise its influence on the motor industry in various ways, until the piecemeal sale of by-then nationalised British Leyland companies to the private sector in the 1980s. This represented a marked change from the conditions in Britain before 1939. In Germany, by contrast from 1945 onwards the motor industry was freed from the control of the National Socialists, and the postwar Government of the Federal Republic exercised little influence over the industry, despite Volkswagen being partly state-owned. This was as much of a change as was the British policy, but clearly a change for the better. So a combination of policies, some dictated by the Government, led Britain to lose its initial post-war advantage over the next decade. Above all, Germany had the Volkswagen and its enormous factory, while Britain had no single company or factory of comparable size. Its motor industry and the manufacturers’ production programmes were too diversified. By the mid-

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1950s, British production, home market sales, and exports had all fallen behind Germany. Britain had won the war, but its motor industry lost the peace-time contest.

Appendix Key performance indicators for the British and Germany motor industries 1945–60 Table 5: Britain UK car ­production 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960

16,938 219,162 287,000 334,815 412,290 522,515 475,919 448,000 594,808 769,165 897,560 707,594 860,842 1,051,551 1,189,943 1,352,728

UK car ­exports

UK car ­imports

n/a 67,764 123,335 192,174 218,055 343,006 308,490 274,863 269,598 321,669 337,814 307,559 399,237 451,261 539,343 537,867

n/a 63 222 221 1,868 1,375 3,723 1,876 2,067 4,660 11,131 6,885 8,828 10,940 27,066 57,393

UK new car registrations 7,767 121,725 147,767 112,666 154,694 134,394 138,373 191,037 301,354 394,362 511,420 407,342 433,171 566,319 657,315 820,088

Cars in use in the UK 1,521,581 1,807,067 1,983,505 2,002,201 2,178,411 2,307,379 2,433,172 2,564,686 2,824,789 3,172,869 3,609,400 3,980,511 4,282,438 4,651,021 5,080,510 5,650,461

Sources: The Motor Industry of Great Britain 1961; UK production table 1, p. 11; exports table 117, p. 269; imports table 128, p. 286; registrations, table 35 p. 40 (these figures exclude “hackneys” i. e. taxis and hire cars, and exclude “exempt” vehicles); cars in use table 68, p. 90 (typically in September of each year).

Table 6: Germany BRD car ­production 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956

1,293 9,962 9,541 29,945 104,055 219,409 276,622 317,643 387,895 561,172 762,205 910,996

BRD car ­exports

BRD car ­imports

BRD new car Cars in use registrations in the BRD

n/a n/a n/a

n/a

n/a Est. 10,000 Est. 11,000 Est. 26,000 Est. 95,000 149,509 178,370 201,022 250,519 317,034 418,778 500,201

6,089 13,980 69,033 92,594 102,689 143,313 246,537 344,463 413,352

472 1,483 1,926 5,252 10,149 10,722 11,140 10,775 9,388 21,517 30,336

n/a n/a n/a n/a

285,660

600,670 795,714 1,006,502 1,254,343 1,512,029 1,816,895 2,204,862

230

Anders Ditlev Clausager BRD car ­production

1957 1958 1959 1960

1,040,188 1,306,854 1,503,424 1,816,779

BRD car ­exports 502,241 630,515 757,703 865,341

BRD car ­imports 45,187 86,229 151,785 127,620

BRD new car Cars in use registrations in the BRD 564,639 690,975 827,657 969,739

2,641,191 3,201,464 3,891,846 4,693,701

Sources: The Motor Industry of Great Britain 1961; production table 31, p. 33; exports table 107, p. 227 and table 122, p. 274; cars in use (in December of each year) table 95, p. 125 (all of these are believed to include station wagons or Kombiwagen); registrations http://de.wikipedia.org/wiki/ Automobil/Tabellen_und_Grafiken (which may exclude Kombiwagen). Imports are actually ­figures for the “Exports of Motor Vehicles by the Principal Producing Countries” to Germany, from The Motor Industry of Great Britain 1947 to 1961, and from 1950 onwards includes Italian Fiats for assembly in Germany, which are believed not to be included in the production figure column, and many of which were re-exported.

Gunnar Flume

Small is (not) beautiful Der schwierige Weg Volvos 1980 bis 2000 „Man darf nicht zu klein werden. Das passierte uns bei den Autos. Wäre Volvo ein deutsches Unternehmen mit einem deutschen Binnenmarkt gewesen, hätte die Sache ganz anders ausgesehen….Wir nahmen das ­Sichere anstelle des Unsicheren.“1

Als der VD2 Volvos Leif Johansson 1999 mit dem Verkauf der eigenen PkwSparte die Abspaltung des eigenen Kerngeschäfts begründete, um fortan ausschließlich als Nutzfahrzeughersteller tätig zu sein, ging eine fast achtzigjährige Periode eigenständiger Personenwagenherstellung in Schweden zu Ende. Fast zehn Jahre später schienen sich die Ereignisse noch einmal zu überschlagen, als im Strudel der weltumspannenden Rezession Saab vor dem Konkurs stand und bei Volvo die chinesische Zhejiang Geely Holding Group als Hauptkapitalgeber einstieg. Allein diese Ereignisse wären vermutlich schon Grund genug, die Trajektorie des Göteborger Fahrzeugunternehmens im ausgehenden 20. Jahrhundert unter die Lupe zu nehmen, firmierte Volvo doch sowohl in Schweden als auch im Ausland lange Zeit als das schwedische Unternehmen par excellence. Auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Machtentfaltung Mitte der achtziger Jahre waren rund 11 vH der schwedischen Industrie abhängig von Beschlüssen, die in der Göteborger Konzernzentrale gefasst wurden.3 Bis 1993 konnte der Konzern zudem von sich ­behaupten, infolge einer weit über die Branchengrenzen hinausreichenden Diversifizierungspolitik als drittes Machtzentrum die Geschicke der schwe1 

Leif Johansson: spelet bakom Volvos storaffärer, in: Affärsvärlden, Nr. 34 (1999), S. 27. 2  Der VD („Verkställande Direktör“) entspricht in etwa dem deutschen Vorstandsvorsitzenden oder dem angelsächsischen CEO. Trotz der vielen Ähnlichkeiten mit dem institutionellen Rahmen der deutschen Wirtschaft hat das schwedische Gesellschaftsrecht das angelsächsische monistische Board-System anstelle der für Deutschland typischen Trennung in Aufsichtsrat und Unternehmensvorstand übernommen: Als höchstes Entscheidungsgremium fungieren in schwedischen Aktiengesellschaften Vorstände, denen ein OD („Ordförande Direktör“) präsidiert und in denen in der Regel VD, Gewerkschaftsrepräsentanten und Hauptkapitalgeber vertreten sind. 3  Der Anteil des Konzerns bezifferte sich zu diesem Zeitpunkt auf beachtliche 12,5 vH am Gesamtexport und 11 vH aller Anlageinvestitionen, was Befürchtungen Vorschub leistete, dass das Unternehmen ein zu starkes Gewicht für die gesamte schwedische Volkswirtschaft erlangt haben könnte. Angaben nach Är Volvo för stort för Sverige? in: Företagsekonomi, Nr. 5/6 (1986), S. 26; Volvo är Sverige: En stat i staten? In: Veckans Affärer, 26. September 1985.

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Gunnar Flume

dischen Wirtschaft maßgeblich mit beeinflussen zu können. Furore machte Volvo schließlich mit einem Produktionsmodell, das über die intensive Rezeption in der Industrie- und Arbeitssoziologie hinaus einen weitreichenden Widerhall fand und das als arbeitnehmerfreundliche Alternative nicht nur zur fordistischen, sondern auch zur zeitweise als ultima ratio gepriesenen ­toyotistischen Produktionsorganisation galt. Muss die Geschichte des westschwedischen Unternehmens im ausgehenden 20. Jahrhundert angesichts des Verkaufs der Pkw-Sparte als Geschichte eines kriselnden Unternehmens beschrieben werden, das angesichts einer nicht zu bestreitenden intensivierten Konkurrenz auf den Weltmärkten nicht mehr bestehen konnte? Diese Frage soll zum Anlass genommen werden, der Frage nach den Wahlmöglichkeiten und handlungsrestringierenden Rahmenbedingungen in der Automobilindustrie gerade in jüngerer Zeit nachzugehen. In dem vorliegenden Aufsatz geht es allerdings nicht darum, das gesamte Panorama möglicher Regelsetzungen im Falle Volvos zwischen 1980 und 2000 nachzuzeichnen. Vor dem Hintergrund des unternehmenstypischen Innovations- und Wachstumspfades sollen einerseits die Branchenimperative konkretisiert werden, die sich insbesondere für Hersteller von Qualitätsfahrzeugen spätestens seit Ende der siebziger Jahre stellten und einen manifesten Veränderungsdruck evozierten. Zweitens soll erläutert werden, welche strategischen Prämissen die jüngere Unternehmensgeschichte prägte, die sich in vier Phasen unterteilen lässt. Dementsprechend sollen nach einer Präzisierung eines grundlegenden Dilemmas, mit dem sich Volvo als ‚kleiner‘ PkwProduzent durchgängig konfrontiert sehen sollte, die Pfeiler dieser Unternehmenspolitik im diachronen Verlauf nachgezeichnet werden: Zunächst die zwischenzeitliche Konsolidierung des Unternehmens in den achtziger Jahren, die allerdings durch günstige konjunkturelle Begleitumstände befördert wurde; der Versuch, über den Zusammenschluss mit Renault der ab 1990 einsetzenden Absatzkrise zu begegnen; die KLE-Strategie als modifizierte Variante einer Kosteneinsparungsstrategie japanischer Provenienz zwischen 1992 und 1997 und schließlich der erfolgreiche Versuch, sich im Nutzfahrzeuggeschäft als global player zu etablieren, um mit diesem radikalen Schnitt die endgültige Konsequenz aus dem Dasein als kleiner Pkw-Hersteller zu ziehen.4 4  Die folgenden Ausführungen beruhen auf Gunnar Flume: Das Ende des Modells Schweden? Das schwedische Produktionsregime in der Globalisierungsarena 1980– 2000, Dissertation Bielefeld 2010. Vorrangig stützt sich die Analyse des Unternehmensgeschehens auf die Auswertung von 655 Presseberichten aus schwedischen Tageszeitungen, Wirtschaftsmagazinen und Technikzeitschriften sowie zwölf Interviews, die mit Repräsentanten geführt wurden, die im Untersuchungszeitraum führende Funktionen innerhalb Volvos innehatten. Herangezogen wurden weiterhin alle frei zugänglichen Unternehmenspublikationen, die Firmenzeitschriften Volvokontakt und Volvo Nu sowie die Monatszeitschrift der betrieblichen Metallgewerkschaft.

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Der Wachstumspfad Volvos und das Grundproblem kleiner Automobilhersteller Wie in keiner anderen Sparte ist laut Boyer und Freyssenet in der Automobilindustrie die Entscheidung für den Wachstumspfad des Unternehmens eng verknüpft mit einer dadurch bedingten Produktpolitik (Gestaltung und Differenzierung von Modellreihen und dem Zyklus der Produkterneuerung), einer Profitstrategie (Erschließung bestimmter Kundengruppen oder Märkte) und der Organisation der Produktion (Entscheidung für eine Massenfertigung oder die Varianten einer Qualitätsproduktion).5 Hinsichtlich der Produktpolitik zeichnete sich Volvo durchgängig durch die Konzentration auf familienfreundliche Kombifahrzeuge im mittleren und höheren Mittelklassesegment aus, deren Anteil am Konzernumsatz sich auf rund 40 vH bezifferte. Das Markenprofil wurde außerdem bestimmt durch Qualität, Zuverlässigkeit und lange Gebrauchsdauer der Fahrzeuge, aber vor allem durch den Aspekt der Sicherheit, die anders als bei deutschen Herstellern eine höhere Priorität als die Motorstärke genoss.6 In Fragen der Fahrzeugsicherheit hatte Volvo 1959 mit der Einführung des ersten Dreipunktsicherheitsgurtes in sämtlichen ausgelieferten Pkws nachhaltige Standards für Sicherheitsanforderungen gesetzt. Auch später zeigte sich das Unternehmen immer wieder als Wegbereiter für Schutzvorrichtungen wie Vorderradscheibenbremsen, der serienmäßigen Ausstattung mit Reserverädern oder Seitenairbags, die häufig den Status der Allgemeinverbindlichkeit erlangen sollten. Die Ausrichtung auf funktionale Wagen mit hohen Sicherheitsansprüchen und langer Lebensdauer wurde auch zu Zeiten beibehalten, als sich Erfolg über emotionales Design, Motorstärke oder der Nutzung von ausgefeilten technologischen Innovationen zu definieren schien.7 Diese beharrliche Ausrichtung sicherte dem Göteborger Fahrzeugkonzern in seiner Profitstrategie eine verhältnismäßig konstante Gewinnquelle, da bei potentiellen Käufern in der Zielgruppe der wohlhabenden Vorstadtfamilien die Preiselastizität der Nachfrage durchschnittlich ­gering war.8 Diese Unternehmenspolitik spiegelte schließlich die dementsprechend ausgestaltete Produktionsorganisation wider, da im Rahmen einer begrenzt differenzierten Großserienproduktion der Fokus auf der Fahrzeugqualität und weniger auf den Entstehungskosten lag. 5 

Das Modell wird ausführlicher dargestellt in Robert Boyer / Michel Freyssenet: Produktionsmodelle. Eine Typologie am Beispiel der Automobilindustrie, Berlin 2003. 6  Vgl. zum Markenprofil Mark Fields: The Rejuvenation of Volvo. Building the Scandinavian Premium Choice within the Cradle of the Premier Automotive Group, in: Bernd Gottschalk / Ralf Kalmbach (Hrsg.): Markenmanagement in der Automobilindustrie, Wiesbaden 2003, S. 427–451. 7  Interview mit Sven Eckerstein, Göteborg, 24. April 2007. 8  In den USA ging diese Käufergruppe der gut verdienenden, weißen, in den Vorstädten lebenden Akademiker mit zwei bis drei Kindern sogar als Volvo liberals in das Standardvokabular amerikanischer Medien ein.

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Gunnar Flume

Konnte sich das Göteborger Unternehmen mit dieser strategischen Grundorientierung in der Nachkriegszeit nachhaltig in der Riege international erfolgreicher Hersteller etablieren, stellte sich spätestens seit Mitte der siebziger Jahre eine Herausforderung, die die Schweden im Vergleich zu den deutschen Unternehmen in Nachteil geraten ließ. Zunächst war das Göteborger Unternehmen wie alle Automobilproduzenten darauf angewiesen, skalenbasierte Größenvorteile zu erwirtschaften. Ähnlich wie andere Hersteller hatte Volvo sich einer Volumenstrategie verschrieben, die mit möglichst standardisierten Einheitsprodukten den Spielraum größtmöglicher Preissenkungen auszuschöpfen versuchte. Einer möglichen Produktdifferenzierung sind somit allerdings Grenzen gesetzt, da das Basismodell möglichst lange verwertet werden muss. Das Wachstum gründete sich maßgeblich auf positive Skalenerträge, indem Fixkosten über einen möglichst langen Zeitraum auf eine möglichst große Zahl möglichst identischer Produkte verteilt werden und ­somit die Kosten pro Einheit reduziert werden können. Ließen sich diese economies of scale in der fordistischen Nachkriegsära besonders gut realisieren, musste Volvo diese Herausforderung seit der ersten einschneidenden Krise in den siebziger Jahren anders als die deutschen Automobilhersteller ohne einen großen Binnenmarkt bewältigen, obwohl Volvo eine vergleich­ bare Wachstumsstrategie mit dem Schwerpunkt auf Qualitätsfahrzeuge im Mittelklassesegment befolgte. Diese Grundbedingung kristallisierte sich für die Hersteller von Qualitätsfahrzeugen infolge steigender Entwicklungskosten immer mehr als neuralgisches Problem heraus. Zunächst sahen sie sich seit Mitte der siebziger Jahre mit stetig steigenden Forschungs- und Entwicklungs-Kosten konfrontiert, sodass sich die Profitabilitätsschwelle mit jeder neuen Fahrzeuggeneration nahezu verdoppelte. Der entstehende Kostendruck konnte am leichtesten durch einen proportional wachsenden Absatz aufgefangen werden. Insbesondere die Hersteller von Qualitätsfahrzeugen erwirtschafteten jedoch den Löwenanteil ihres Umsatzes auf ihren Heimatmärkten. So profitierten die deutschen Premiummarkenhersteller von der Besonderheit, dass in den höheren Preisklassen die Markensensitivität bedeutend zunahm: Deutsche Konsumenten erwarben in diesem Segment vorrangig deutsche Pkws, während Franzosen ebenso französische Autos kauften.9 Nur zwei Länder, die bezeichnenderweise die Hauptabsatzgebiete Volvos waren, wichen von diesem Muster ab: Erstens die USA, die schon früh zu einem wichtigen Absatzmarkt zunächst für europäische, später auch für japanische Hersteller wurden; zweitens Großbritannien, wo die einheimische Fahrzeugindustrie in den siebziger Jahren praktisch kollabierte, sodass der Markt ausländischen Herstellern offenstand. Infolge der ausgeprägten nationalen Markenloyalität der Kunden sahen sich Automobilunternehmen aus kleineren Ökonomien mit

9 

Interview mit Håkan Frisinger, Göteborg, 27. April 2007.

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einem kleineren Binnenmarkt und dementsprechender früher eintretender Nachfragesättigung im internationalen Wettbewerb ungleich schwierigeren Rahmenbedingungen gegenüber. Diese Annahme bestätigt ein Blick auf die verkauften Pkws bzw. die entsprechenden Marktanteilsquoten. Für die spricht vor allem der Marktanteil in Schweden in Höhe von durchschnittlich 24,8 vH zwischen 1980 und 1997, was einem durchschnittlichen Jahresabsatz von 53 561 Fahrzeugen entsprach.10 Entscheidender als die Marktmacht im eigenen Heimatland war allerdings der Markterfolg in den USA, wo das Göteborger Unternehmen im gleichen Zeitraum im Jahresdurchschnitt 85 662 Fahrzeuge verkaufen konnte, was einem Marktanteil von 0,91 vH entsprach. Die Absatzzahlen verharrten allerdings auf einem konstanten Niveau. Auch wenn in den skandinavischen Nachbarländern, den Niederlanden und Großbritannien Marktanteile mit 3 bis 4 vH verzeichnet wurden, blieb Volvo insbesondere der Durchbruch in Südeuropa oder auf dem großen deutschen Markt verwehrt.11 Insgesamt sollte es nie gelingen, mehr als 400 000 Pkws abzusetzen, sodass die Schweden im internationalen Größenvergleich der Pkw-Hersteller – die Nischenhersteller nicht eingerechnet – auf dem zwanzigsten oder einundzwanzigsten Platz rangierten.12

Die Ära Gyllenhammar: Die Nordweststrategie in den ­achtziger Jahren und die gescheiterte Allianz mit Renault Die erste, schon seit den 1950ern erprobte Antwort auf die früh eintretende Marktsättigung war die auch im Vergleich mit anderen Automobilunternehmen exportgestützte Erschließung neuer Absatzgebiete. Es war kein Zufall, dass sich der Erfolg mit dem zwischen 1947 und 1958 montierten Massenprodukt PV 444 erst dann einstellte, als es gelang, dass Auto erfolgreich auf dem US-Markt zu lancieren und in großen Mengen abzusetzen. Zur Überwindung der Zollschranken der EG und den USA wurde die Exportphase rasch von einer Phase umfassender Direktinvestitionen abgelöst. So eröffnete Volvo 1963 als erster europäischer Hersteller ein Endmontagewerk im kanadischen Halifax zu einem Zeitpunkt, als das Unternehmen in den USA immerhin schon als viertgrößter Importeur auftrat.13 Die zweite Option betraf die Ausgestaltung der Modellpolitik: Damit die Entwicklungskosten nur für 10 

Alle Angaben zu den Marktanteilsquoten und verkauften Fahrzeugen wurden aus den Geschäftsberichten Volvos für den Zeitraum 1980 bis 1997 entnommen. 11  In Frankreich setzte Volvo zwischen 1980 und 1997 durchschnittlich 12 383 Fahrzeuge ab (Marktanteil 0,6 vH), in Deutschland waren es – infolge einer überproportionalen Nachfrage ab 1995 – 20 311 Pkws (Marktanteil 0,6 vH) . 12  Im Jahr 1998 entfielen von insgesamt weltweit produzierten 36 bis 37 Millionen Pkws mal gerade rund ein vH auf Automobile des Göteborger Fahrzeugkonzerns. Vgl. Därför bromsar Volvo: bilindustri, in: Veckans Affärer, Nr. 50 (1998), S. 20–25. 13  1965 folgten dann Endmontagewerke im belgischen Gent und 1967 in Malaysia.

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Gunnar Flume

Neueinführungen möglichst selten anfielen, sollten einzelne Serien möglichst lange vom Band laufen. So wurde das herausragendste Erfolgsmodell in Gestalt des Volvo 444 über 20 Jahre verkauft, das Nachfolgemodell Volvo 220 (Amazon) 14 und der Volvo 240 18 Jahre. Die in den sechziger Jahren eingeführte, und später zur 200er Serie weiterentwickelte 166er Serie lief sogar 25 Jahre lang vom Band. In Göteborg brauchte man also nicht nur deutlich mehr Zeit für die Hervorbringung neuer Modelle als die Konkurrenten, ­sondern war auch aus Kostengründen auf eine maximal ausgereizte Laufzeit angewiesen, was allerdings eine beachtliche Abhängigkeit von dem Erfolg einzelner Modellreihen mit sich brachte, was, wie noch genauer zu zeigen sein wird, die Entscheidung zum Rückzug aus dem Pkw-Geschäft erheblich beeinflussen sollte.14 Die mit dem ersten Ölpreisschock offenbar gewordene Kostenkrise, der Markteintritt der übermächtig wirkenden Japaner und die spürbare Nach­ fragesättigung hatten Ende der siebziger Jahre alle Fahrzeughersteller vor die Aufgabe gestellt, ihre Profitstrategien zu überdenken und neue Antworten auf veränderte Rahmenbedingungen zu suchen. Die Option der Erschließung neuer Absatzmärkte konnte von der Göteborger Unternehmensspitze unter ihrem seit 1973 amtierenden VD und späteren OD Pehr G. Gyllenhammar aufgrund des ubiquitären Nachfragerückgangs nicht mehr ausgereizt werden. Stattdessen sollten im Rahmen der ab 1978 von der Unternehmensspitze proklamierten ‚Nordweststrategie‘ über neue Modellserien in der oberen Mittelklasse mit Prestige und sportlicherem Design höhere Gewinnmargen erwirtschaftet werden.15 Die Modelle sollten ein attraktiveres Aussehen bekommen und mit einem höheren Komfort versehen werden. Die 700er-Serie sollte dann diesen Anspruch in die Tat umsetzen. Einen Transfer hin zu Qualitätsfahrzeugen in der oberen Mittelklasse, bei denen sich ein signifikant höheres Nachfragepotential abzeichnete, hatten insbesondere den deutschen Hersteller erfolgreich bewerkstelligt. Vor allem das Unternehmen BMW, das zu Beginn der siebziger Jahre noch auf Augenhöhe mit den Schweden konkurrierte, hatte so erfolgreich die Krise meistern können. Allerdings sollte zwischen 1981 und 1984 nicht die 700er-Serie, sondern eine modernisierte Version des Volvo 244 maßgeblich zum Wachstum der Pkw-Sparte Volvos beitragen. Ebenso wurden die konzerntypischen Probleme der langen Entwicklungsphasen offenbar, da seit den ersten Planungsschritten bis hin zur Markteinführung des Volvo 760 nicht weniger als sieben Jahre vergingen. Dass das 14  Vgl. zur Problematik der langen Laufzeiten einzelner Modelle Christian Berggren: A Second Comeback or a Final Farewell? The Volvo Trajectory, 1973–94, in: Michel Freyssenet et. al. (Hrsg.): One Best Way? Trajectories and Industrial Models of the World’s Automobile Producers, New York/Oxford 1998, S. 418–439. 15  Der Begriff bezieht sich auf ein Koordinatensystem mit den Achsenwerten Fahrzeuggröße und Preis, in dem die angestrebten Leitwerte Sportlichkeit und Luxus rechts oben verortet wurden. Zu den Implikationen der Nordweststrategie vgl. Jan Hökerberg: Spelet om Volvo, Stockholm 2000, S. 59.

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durchaus riskante Kalkül aufging, lag an zwei Begleitumständen: Erstens wurde die schwedische Krone im Herbst 1981 um 10 vH, dann im September 1982 noch einmal mit 16 vH abgewertet, was der gesamten schwedischen Exportwirtschaft einen Kostenvorteil verschaffte; zweitens profitierte Volvo von der stark anziehenden Konjunktur in den USA.16 Infolge dieser Verbil­ ligung eigener Produkte, und außerdem begünstigt durch einen sinkenden ­Ölpreis konnte die Pkw-Sparte bis 1988 überdurchschnittliche Gewinne ­verzeichnen. Dass die günstigen konjunkturellen Rahmenumstände nicht ewig andauern würden, war auch den Verantwortlichen klar. Gegen Ende der achtziger Jahre schaute sich die Konzernleitung nach einem ausländischen Partner zur Bildung einer strategischen Allianz um.17 Wie später im Falle des Verkaufs der Volvo-Pkw-Sparte an Ford im Jahr 1999 gab es in der Autoindustrie ­veritable Konjunkturen der Zusammenarbeit: Einzelne mergers and acquisitions setzten fast wie in einer Kettenreaktion in fast allen Konzernzentralen Bestrebungen in Gang, mit anderen zumindest Gespräche über mögliche Kooperationsformen zu führen. Auch Volvo hatte ab 1987 und 1990 mit einer ganzen Reihe von Herstellern wie Daimler oder Chrysler Kontakt aufgenommen und die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit Saab erörtert.18 Diese dritte Option, von der viele Pkw-Hersteller seit den achtziger Jahren fast schon exzessiv Gebrauch machten, gründete sich auf der Möglichkeit der sogenannten Coopetition. Darunter versteht man eine Variante strategischer Koordination innerhalb eines identischen Wertschöpfungsabschnitts, während die Partner auf den Endproduktmärkten gegeneinander konkurrieren: FuE- oder Herstellungsabschnitte werden zusammen realisiert, während ansonsten die Unternehmen als eigenständige Wettbewerber auftreten.19 Wohl kaum wie in einem anderen Wirtschaftszweig machten Automobilproduzenten deswegen von Varianten strategischer Koordination Gebrauch, 16 

So der Leiter der Automobilsparte Roger Holtback: „Wir hatten es extrem gut zu Beginn der achtziger Jahre. Wir hatten Kapazitäten, wir hatten ein neues Produkt, die 700er-Serie, wir hatten extrem hohe Einnahmen durch den Dollar, der 1985 bei rund 10 SKr seinen Höchststand erreichte, wir hatten extrem niedrige Kosten dadurch, dass die D-Mark sich in die richtige Richtung bewegte. Alles stimmte.“ Vgl. I hans händer ligger Volvos 90-tal, in: Dagens Industri, 20. März 1989. 17  Solche meist zeitlich begrenzten Allianzen sind vertragsbasierte multi- oder bilaterale Verhältnisse zwischen zwei oder mehreren Unternehmen, die unter Einsatz eigenen Know-hows und eigener Vermögenswerte ein gemeinsames Ziel erreichen wollen. Zur Gestalt und Intention strategischer Allianzen vgl. David Teece: Strategies for Capturing the Financial Benefits from Technological Innovation, in: Nathan Rosenberg / Ralph Landau / David C. Mowery (Hrsg.): Technology and Wealth of Nations, Stanford 1992, S. 175–205. 18  Interview mit Gunnar L. Johansson, Hisingen, 16. April 2007. 19  Zum Modell der Coopetition vgl. ausführlich Maria Bengtsson / Sören Kock: ‚Coopetition‘ in Business Networks – to Cooperate and Compete Simultaneously, in: Industrial Marketing Management, Vol. 29, Nr. 5 (2000), S. 411–426.

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­ eren Spektrum von einem gemeinsamen Vertrieb bis hin zum Betrieb von d Produktionsstätten reichte. So unterhielten die Schweden bereits seit 1971 zusammen mit Renault und Peugeot eine gemeinsame Motorenfabrik im französischen Douvrin und kauften Dieselmotoren von Konkurrenten wie Volkswagen, Audi und Mitsubishi zu. Mit Hilfe Mitsubishis konstruierten Volvo-Ingenieure auch einen direkteinspritzenden GDI-Motor, der ab 1998 in die neuen S40i/V40i-Modelle eingebaut wurde.20 Eine vergleichbare Arbeitsteilung stand auch Pate bei der Kooperation der Lastwagensparte mit Deutz für die angestrebte Herstellung von 30 000 Lastwagenkleinmotoren. In den USA wurde die eigene Lkw-Tochtergesellschaft 1986 durch das Zusammengehen mit der General Motors-Lastwagensparte verstärkt, die preisgünstige mittelschwere Fahrzeuge in das Produktsortiment mit einbrachte. Am weitesten gedieh die Kooperation mit Mitsubishi: Zusammen mit den Japanern unterhielten die Schweden ein gemeinsames Werk im niederländischen Born, wo die S40/V40-Serie der unteren Mittelklassewagen gemeinsam mit dem Mitsubishi Carisma vom Band lief. Alleine die Spannbreite dieser Vertragsbeziehungen mit einer beeindruckenden Anzahl von Konkurrenten lässt die Bereitschaft zur Ablösung kompetitiver Beziehungen durch eine Vielfalt marktaverser Kooperationsformen erahnen, die ab Mitte der achtziger Jahre in der Branche deutlich an Dynamik gewann.21 Diese Besonderheit gründete sich vor allem auf den Umstand, dass die technische Beschaffenheit von Lastwagen und Pkws positive Netzwerkexternalitäten zuließ. Damit ­ermöglichte Skalenerträge konnten insbesondere durch eine gemeinsame Nutzung oder den Zukauf von Bodenflächen, Motoren oder Getrieben in bestimmten Serienklassen realisiert werden.22 Der Schätzung eines VolvoManagers zufolge konnten 60 bis 65 vH der in einem Fahrzeug verwendeten

20  In Göteborg hatte man im Gegensatz zu anderen Mittelklassewagenherstellern nicht auf Acht- und Zwölfzylindermotoren gesetzt, sondern auf sechszylindrige Dreilitermotoren, bei deren Weiterentwicklung das Göteborger Unternehmen seit den achtziger Jahren mit Porsche zusammenarbeitete. Das Stuttgarter Unternehmen bot später neben der Motorentwicklung auch für Transmissions- oder Antriebsstrangstechnik Beratungsdienstleistungen an, von denen die Schweden stark profitieren sollten. 21  Diese Kultur der Zusammenarbeit wurde von einem Manager Volvos wie folgt beschrieben: „Diese Frage bekamen wir ja oft, ob wir mit denen oder jenem sprechen würden, da sagten wir: ja, wir sprechen mit denen. Mit den anderen sprechen wir auch. Man kann sagen: In dieser Branche sprechen alle mit allen und das andauernd. … Können wir die Dieselmotoren kaufen, wollt ihr nicht Hinterachse von uns kaufen, können wir nicht einem gemeinsamen Kauf machen, sollen wir nicht gemeinsam dieses und jenes machen? Alle sprachen mit allen und das permanent.“ Vgl. Interview mit Lars Anell, Stockholm, 4. Mai 2007. 22  Netzwerkexternalitäten in Gestalt einer Verwendung gleichartiger Produkte oder Komponenten führen zu positiven Skalenerträgen, weil sie komplementär zu anderen Produkten oder technischen Systemen verwendet werden können und folglich die Entwicklungskosten entweder nur einmal anfallen oder geteilt werden können.

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Teile durch gemeinsame oder vereinheitlichte Komponenten ersetzt werden, ohne dass das Markenprofil Schaden nahm.23 Bei der strategischen Allianz mit Renault ab 1990 standen ganz in diesem Sinne neben Synergieeffekten durch einen gemeinsamen Vertrieb von Fahrzeugen in außereuropäischen Regionen sowie in Frankreich und Schweden zunächst produktionstechnische Erwägungen zur Erwirtschaftung von Skalenerträgen im Vordergrund. Die großen Gewinne versprach man sich in dieser Hinsicht durch die Zusammenführung des konzernexternen Komponenteneinkaufs. Alleine durch die gemeinsame Verwendung von Rückspiegeln, Lederbespannungen für die Sitze, Muttern und Schrauben sollten mehrere 100 Millionen SKr jährlich eingespart werden. Insgesamt sollte der Zukauf von selbst hergestellten Komponenten vereinheitlicht und eine gegenseitige Belieferung von Schlüsselkomponenten wie Motoren, Blechen und Bremsscheiben stattfinden. Die besondere Qualität der Branchenkooperation wird jedoch anhand des Vorhabens ersichtlich, sogar die Produktentwicklung ­beider Unternehmen teilweise zu integrieren. So einigte man sich auf eine gemeinsame Lkw-Produktentwicklung und die Konstruktion einer PkwPlattform sowie schließlich der Abstimmung von Investitionsplänen und Entwicklungsprogrammen.24 Mit diesem Coopetition-Modell sollten insgesamt zwei Mrd. SEK jährlich eingespart werden, auch um den ab 1990 zu verzeichnenden dramatischen Absatzeinbrüchen zu begegnen. Dass die Fortführung der Allianz in Gestalt einer Fusion scheiterte, hatte mit einer institutionellen Eigenart der Branche zu tun, die allerdings weniger produktionsökonomische Fragen, sondern Aspekte der Unternehmenskontrolle tangierte. Infolge der außergewöhnlich hohen Verflechtungsintensität wurden die strategischen Allianzen auf der Produktionsebene in der Automobilindustrie durch Überkreuzverflechtungen in Gestalt von Beteiligungen auf der Eigentümerebene flankiert. In Gestalt Renaults und Volvos kamen allerdings zwei Partner zusammen, die hinsichtlich ihrer Corporate Governance-Struktur nicht unterschiedlicher hätten sein können. In vielerlei Hinsicht war das Staatsunternehmen Renault ein Musterexemplar französischer Wirtschaftskultur und galt als eine Art nationales Industrieheiligtum, dessen Statuten es dem Eigner verboten, das Unternehmen in Konkurs gehen zu lassen.25 Als Verhandlungspartner trat auf der anderen Seite ein Unternehmen 23 

Volvo rullar hos Ford, in: Dagens Industri, 1. Februar 2000. Unter Plattformen werden technische Basiskonstruktionen verstanden, die das Fahrgestell mit einem Radkasten und weitere Elementen zu einer Einheit verbinden, und die rund 65 vH des Autozubehörs umfassen. Teil der Plattformen sind Fahrgestellrahmen, Achsen und Antriebsstrang, Radaufhängung, Abgassystem, Balkenstrukturen, Pedale sowie die Steuerungsfunktionen. Da die Plattform mit der Karosserie nur wenige Verbindungen aufweist, ist es möglich, äußerlich verschiedene Modelle auf der Grundlage ein und derselben Plattform zu montieren. 25  1945 war Louis Renault wegen der Kollaboration mit den deutschen Besatzern enteignet worden und sein Konzern in Staatsbesitz übergegangen. 24 

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auf, das seit 1959 nicht mehr einer der großen schwedischen business groups zugerechnet wurde. Durch das Geschick Gyllenhammars zur Ausbalancierung der Belange aller stakeholder sowie eine über das Fahrzeuggeschäft hinausweisende eigenwillige Diversifizierungspolitik waren der charismatische VD und das Management in der Lage, die Grundzüge der Unternehmenspolitik in einem für schwedische Unternehmen ungewöhnlichen hohen Ausmaß selbst zu bestimmen.26 Dieses Bestreben nach Unabhängigkeit hatte schon die Pläne einer Arbeitsteilung mit Audi zu Fall gebracht. Schweden und Deutsche hatten sich zwar grundsätzlich über eine Kooperation im Rahmen einer neu zu gründenden Holding mit einer jeweiligen hälftigen Beteiligung beider Unternehmen einigen können. Vorteile wie die Übereinstimmungen im Produktprogramm und der aus der Sicht Volvos begehrte Zugang zum schwierigen deutschen Markt konnten jedoch die Befürchtungen in der Göteborger Konzernzentrale vor einer schleichenden Integration in den VW-Konzern nicht ausräumen. Die Offerte einer Zusammenarbeit mit Renault schien in diesem Lichte attrak­ tiver, weil die Franzosen nicht auf einer Eigentümerkonstellation bestanden, die ihnen die letztliche Entscheidungshoheit garantierte. Bei der 1990 gebildeten Allianz wurde die Zusammenarbeit auf der Produktionsebene durch ein komplexes Geflecht synallagmatischer Verträge und die Einbeziehung der Franzosen in den Kreis der Hauptkapitalgeber Volvos flankiert.27 Immerhin nur zwei Jahre später strebten Gyllenhammar und der Renault-Verwaltungsratsvorsitzende Raymond Lévy eine Zusammenführung der Fahrzeugsparten an, in dessen Rahmen beide Mutterkonzerne allerdings ihre Selbständigkeit wahren sollten.28 Zwar sollte das Zusammengehen inter 26  Der Kreis der Hauptkapitalgeber Volvos rekrutierte sich aus schwedischen Versicherungen und Fonds, die sich in der Regel als stille Teilhaber gerierten und Gyllenhammar freie Hand ließen. So konnte dieser eine laterale Diversifizierungspolitik verfolgen, die ursprünglich gedacht war, dem Kerngeschäft der Fahrzeugherstellung ein konjunkturausgleichendes Element beiseite zu stellen. Erworbene Beteiligungen im Rahmen lateraler Diversifizierungsbestrebungen in den Bereichen Energie, Lebensmittel und Pharmazie wurden ab 1984 dazu eingesetzt, eine robuste Überkreuzverflechtung mit dem schonischen Baukonzern Skanska aufzubauen, die es auch erlaubte, den Volvo-Konzernvorstand nach den Vorstellungen Gyllenhammars zu besetzen. 27  Renault sollte sich mit 10 vH der Stimmrechte bei Volvo einkaufen und 25 vH in der Pkw-Tochtergesellschaft und 45 vH in den jeweiligen Lkw- und Bus-Tochtergesellschaften erhalten. Volvo verzichtete auf eine Beteiligung in Renaults Pkw-Sparte und erwarb 45 vH bei der Lkw-Tochtergesellschaft Renault namens RVI. Dieses Arrangement stellte allerdings nicht auf eine Benachteiligung der Schweden ab, sondern sollte deren Interesse an RVI Rechnung tragen: Zur Stärkung der eigenen Lastwagensparte hatte die Göteborger Konzernleitung ursprünglich ein Übernahmeangebot für RVI unterbreitet. Erst die Franzosen hatten dann vorgeschlagen, die Muttergesellschaften und auch Volvos Pkw-Sparte mit einzubeziehen. Vgl. Interview mit Gunnar L. Johansson, Hisingen, 16. April 2007. 28  Der Fusionsplan sah vor, dass die Fahrzeugherstellung in einem neuen Unter­ nehmen mit dem Namen Renault-Volvo (RVA) zusammengeführt werden sollte, die

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pares ausgestaltet werden, aber der französische Staat als Haupteigner Renaults hatte sich ein Vetorecht in Gestalt einer Goldenen Aktie vorbehalten. Die zukünftigen Einflussmöglichkeiten Volvos hingen allerdings davon ab, nach der Börsennotierung zusätzlich zu der schon existierenden 20 vH-­ Beteiligung in der neu gegründeten Holdinggesellschaft RVA mindestens weitere 15 vH erwerben zu können. Dem stand aber das mögliche Veto des französische Staates entgegen, der die Schweden mit Hilfe der Goldenen­Aktie zumindest theoretisch daran hindern konnte, die Beteiligung auf 35 vH hinaus zu steigern.29 Damit hätte sich Volvo nicht nur mit der dauerhaften Position eine Minderheitenaktionärs begnügen müssen, sondern so endgültig die Kontrolle über die eigenen Tochtergesellschaften aus den Händen ge­ geben. Befördert durch maßgebliche Verstimmungen über die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Franzosen auf der Produktionsebene führte dies dazu, dass keine erforderliche Mehrheit auf der Aktionärsversammlung sicher war und das Management sowie einige Gewerkschaften offen gegen die Fusionspläne rebellierten.30 Mit der Absage der Aktionärsversammlung am 2. Dezember 1993 war dann nicht nur die wohl spektakulärste Fusion in der schwedischen Wirtschaftsgeschichte gescheitert, sondern auch das Wirken Gyllenhammars an der Spitze Volvos beendet.

Die Option der Kosteneinsparungen im Zeichen der KLE-Strategie 1992–1997 Bereits vor dem Scheitern der Fusion hatte die Konzernleitung beschlossen, von der vierten Option Gebrauch zu machen, die zwischen 1992 und 1997 den Entwicklungspfad des Unternehmens prägen sollte. Spätestens mit dem Amtsantritt des neuen VDs Sören Gyll 1992 und der Berufung Lennart Jeansson als neuem VD der Pkw-Sparte waren zwei Personen an die Spitze des Konzerns gelangt, die auf kontinuierliche Kostensenkungen abstellenden Ressourceneinsparungsstrategien eine absolute Priorität einräumten. Deren Notwendigkeit war insofern nachvollziehbar, als schon 1989 nicht mehr zu Volvos Pkw- und Lkw-Sparten einschloss. RVA sollte sich mit 8,2 vH bei Volvo einkaufen. Der Volvo-Mutterkonzern sollte zunächst eine 17,8 vH-Beteiligung bei RVA erhalten, aber die Möglichkeit bekommen, diesen Anteil auf 35 vH aufzustocken. Eine zusätzliche Holdinggesellschaft namens RVC, in der Renault 51 vH, Volvo hingegen 49 vH hielt, sollte 35 vH der Stimmrechte bei RVA ausüben, während die restlichen 65 vH direkt von Renault und Volvo besessen wurden. 29  Dieses Instrument räumte dem französischen Staat ein Vetorecht ein, falls ein unerwünschter Eigentümer über Aktienerwerbungen eine Mehrheit in einem privatisierten Unternehmen erreichen wollte. Die action spécifique im Falle der Renault-Volvo-Fusion sollte bei einer Überschreitung von 10 vH der Stimmrechte und 20 vH der Kapitaleinlage eine Genehmigung des französischen Wirtschaftsministers erfordern. 30  Das Scheitern der Fusion wird detailliert geschildert in Sven-Ivan Sundqvist: Exit Pehr G Gyllenhammar, Stockholm 1994.

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übersehen war, dass das Unternehmen in den Strudel des allgemeinen Wachstumsrückganges in Westeuropa und Nordamerika geraten sollte. Zwischen 1989 und 1992 verringerte sich die Zahl verkaufter Volvo-Pkws von 280 000 auf 200 000, was dem Unternehmen einer der schwersten Krisen seiner Geschichte bescherte. 1991 musste der Konzern den ersten Verlust im operativen Geschäft seit 60 Jahren in Höhe von 327 Mio. SKr bekannt geben. Im Pkw-Geschäft hatte Volvo, verglichen mit dem Spitzenjahr, 1987 bis 1992 30 vH des Verkaufsvolumens verloren. Hatte bereits ein erstes Sparpaket die Kosten mit rund drei Mrd. SKr verringert, sollte ein zweites ab 1993 aufgelegtes Sparprogramm die Kosten mit rund vier Mrd. SKr reduzieren.31 Solche Kostensenkungen in auf Skalenvorteilen angewiesenen wirtschaftlichen Einheiten können neben der Ressourceneinsparung über die Reduktion der Produktionsfaktorkosten über verschiedene Wege erfolgen; dazu zählen die Modernisierung des Kapitalstocks, die Weitergabe der Kosten an Zulieferer, einer kundengerechten Konstruktion oder Standortverlagerungen. Vor allem die Japaner hatten ihren durchschlagenden Erfolg darauf gegründet, alle Kosten unabhängig vom Produktionsvolumen zu reduzieren und so viele Einsparungspotenziale in der Produktion wie möglich auszunutzen. So konnten die Gewinnmargen auch bei konstanten Produktionsvolumen, gleich bleibender Produktdifferenzierung und stabilem Qualitätsniveau im optimalen Fall sogar erhöht werden. Auf der Basis dieses toyotistischen Modells konnte die japanische Automobilindustrie schon in den achtziger Jahren dank deutlich verkürzter Montagezeiten auch die Führung in der Produktpolitik übernehmen und alle vier Jahre mit neuen Modellen aufwarten.32 Die zentrale Herausforderung, die das Management unter Gyll und Jeansson mit dem KLE-Programm (‚Kvalitet, Leveransprecision och Ekonomi‘)33 anzugehen gedachte, war eine drastische Steigerung der Produktivität, die in den achtziger Jahren sträflich vernachlässigt worden war. Die Agenda dieses Programms war allerdings weit mehr als nur eine Formel für die Effektivierung einzelner Standorte, sondern umriss die grundlegenden Paradigmen, an denen Volvo sein Produktionsmodell in den neunziger Jahren ausrichten sollte. Dass sich Vorstand und Management nach wie vor der bisher realisierten Innovationsstrategie mit der grundlegenden Ausrichtung auf höherwertige Fahrzeuge verpflichtet fühlten, lässt sich an dem Paradigma der Qualität erkennen. In Fragen der Sicherheit, aber auch hinsichtlich Qualitätsstandards 31 

Nya sparpaket väntar Volvo, in: Veckans Affärer, 11. November 1993. Europäische Hersteller benötigten hingegen oft acht bis neun Jahre für eine neue Modellserie. Vgl. zum japanischen Produktionsmodell und seiner Umsetzung in der Praxis James Womack / Daniel Jones / Daniel Roos: The Machine That Changed the World. The Story of Lean Production, New York 1991; die Varianten und Modifikationen einzelner japanischen Hersteller werden genauer erläutert bei Boyer / Freyseenet: Produktionsmodelle. 33  In etwa: Qualität, Lieferungspräzision und Wirtschaftlichkeit. 32 

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wie Korrosionsbeständigkeit und Aufprallsicherheit behielt Volvo seine hohen Anforderungen bei. Insbesondere in Born, wo Volvo zusammen mit Mitsubishi eine gemeinsame Fertigung unterhielt, wurde ersichtlich, dass die asiatischen Partner der Kosteneindämmung in jeglicher Hinsicht einen höheren Stellenwert einräumten, was gelegentlich bei der gemeinsamen Verwendung von Komponenten Dissonanzen verursachte. So war man bei Volvo nicht bereit, bei der für die Aufprallsicherheit unter anderem entscheidende Materialhärte Abstriche zu machen oder auf galvanisierte Bleche zu verzichten, die für den Korrosionsschutz und somit für eine lange Nutzungsdauer der Fahrzeuge als unerlässlich erachtet wurden.34 Auch bezüglich des zweiten Paradigmas der Lieferungspräzision unterschied sich Volvo deutlich von den japanischen Herstellern, wiewohl die maximale Reduktion eines kostentreibenden Lageraufbaus angestrebt wurde. Eine flexibilisierte Produktionslinie konnte bereits in der Herstellung Veränderungen in der Nachfrage reflektieren, indem ohne lange Rüstzeitrationalisierungen zügig auf andere oder neue Modelltypen umgestellt wurde.35 Ab 1994 wurde die gesamte Pkw-Produktion Volvos nach der Vorgabe von Bestellungen montiert, sodass das zentrale Plansystem, in dem Händlerprognosen die entscheidende Rolle spielten, der Vergangenheit angehörte. Schon im gleichen Jahr liefen 80 bis 90 vH der in Europa abgesetzten Pkws gemäß ­Bestellungsvorgaben vom Band.36 Die Produktionsvolumina der japanischen Hersteller orientierten sich hingegen an Prognosen der Absatzentwicklung, sodass sie in Abschwungsphasen dazu gezwungen waren, mit Rabatten oder anderen Käuferanreizen die Kundenbindung aufrechtzuerhalten, und deswegen empfindliche Einbußen bei den Gewinnmargen hinnehmen mussten. Die Vorbildfunktion der Asiaten ließ sich vor allem an der konzernintern proklamierten Nullfehlerphilosophie im Zeichen der Just in Time-Produktion erkennen, mit der die japanischen Automobilbauer auf den Weltmärkten reüssiert hatten und nach deren Vorbild man in Göteborg insbesondere eine Verkürzung der Montagezeiten anzugehen gedachte. Weil eine Just in TimeProduktion mit einer geringstmöglichen Bemannung und der Verzicht auf Lager und Puffer den Produktionsablauf störanfälliger machten, mussten Fehlerkorrekturen in Gestalt permanenter Verbesserungsaktivitäten erfolgen. Bei Toyota wurden die Kenntnisse der Beschäftigten über Fehlerquellen da34  35 

Interview mit Curt Germundsson, Åhus, 5. September 2007. Die bestellungsgesteuerte Produktion wurde maßgeblich durch die Einführung eines Palettensystems ermöglicht, einer Art Rahmen, auf dem die zu montierenden Details fixiert und zusammengeschweißt wurden. War die traditionelle Karosseriefabrik modellgebunden, konnten in Torslanda ab Mitte der neunziger Jahre mehrere Karosseriemodelle mit derselben festen Ausrüstung mittels des Palettensystems durch die Produktionsstrasse geführt werden. Fortan wurden sämtliche Modelle in derselben Produktionsstraße montiert, anstelle wie in den achtziger Jahren die Produktionstraße zeit- und kostenaufwendig umzubauen. Alle 30 Sekunden wurde das Band je nach Auftragseingang mit einem Fahrgestell des jeweiligen Modells beschickt. 36  Interview mit Curt Germundsson, Åhus, 5. September 2007.

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hingehend ausgenutzt, dass Qualitätszirkel Vorschläge zur Rationalisierung von Arbeitsvorrichtungen im Rahmen von Quotenvorgaben machen mussten und die Arbeitnehmer dafür Anreize in Form von Bonuszahlungen erhielten. Später war dieses Qualitätsmanagement zu einem eigenständigen Konzept weiterentwickelt worden, das alle Schritte einer hochgradig standardisierten Fehlerkontrolle festschrieb. Außerdem orientierte sich die Produktionsablaufsteuerung ausschließlich am Bedarf einer verbrauchenden Stelle im Fertigungsablauf, um die Bestände bestimmter Zwischenprodukte nachhaltig zu reduzieren. Das sollte ebenso nachhaltige Konsequenzen für die Zulieferer haben wie die angestrebte Steigerung der Lieferungspräzision, da diese im hohen Ausmaß von Struktur und Zuverlässigkeit der Teilehersteller abhängig war. Nach wie vor fühlte sich der Konzern der Qualität seiner Produkte verpflichtet, in deren Sinne auf fehlerfreie und hochqualitative Komponenten wie auf die Vermeidung von Konstruktionsfehlern geachtet werden sollte. In der Beschaffungspolitik praktizierte Volvo fortan eine Mischung aus aggressiver Kostensenkungspolitik bei gleichzeitiger Verdichtung der Relationen zu einem kleinen, exklusiven Kreis von Premiumzulieferern. Diesen wurde die Entwicklung komplexerer Teilsysteme übertragen, falls Vorbedingungen wie die Präsenz in den supply parks sämtlicher Standorte zwecks einer Bereitstellung von Komponenten nach Just in Time-Kriterien erfüllt wurden. Neben der damit angestrebten Lieferungspräzision sollen die Teilehersteller ebenso strikte Vorgaben hinsichtlich der Qualität beachten und eine Verringerung der Abnahmekosten akzeptieren. Orientierte sich der Konzern in seiner Beschaffungspolitik noch weitgehend an dem japanischen Vorbild, versuchte der Konzern bei der Weiterentwicklung seiner Produktionsorganisation eine Maxime umzusetzen, die der scheidende VD Christer Zetterberg 1992 wie folgt umschrieben hatte: „Wir sind von den japanischen Erfolgen beeindruckt und wir werden sie uns beibringen. Aber wir werden schwedische oder europäische Lösungen wählen, die an unser soziales System angepasst sind.“37 Zwar revidierte die Unternehmensspitze damit den Beschluss aus den achtziger Jahren, anstelle der lean production japanischer Provenienz auf eigene Produktionsdesignkonzepte zu setzen, die unter dem Leitmotiv der ‚Reflexiven Produktion‘ Furore gemacht hatten. Im Bemühen um eine attraktivere Ausgestaltung der Montagetätigkeiten hatte Volvo bereits seit 1976 in einigen Produktionsanlagen eine bewusste Abkehr von fordistischen Produktionsprinzipien vollzogen, indem die sequentielle Fertigungsstruktur mit hierarchisch gestaffelten Arbeitsaufgaben am Fließband zugunsten einer gruppenbasierten Komplettmontage aufgegeben wurde. In einzelnen Montagefabriken wie Kalmar oder Uddevalla wurde das Fließband sogar ganz aufgegeben, indem Teams die Fahrzeuge von Anfang bis Ende komplett selbst montierten. Diese Teams mit intern rotierenden Funktionen verantworteten eine ganze Reihe von Aufgaben wie 37 

Volvo Nu, Nr. 5 (1992), 12. März 1992, S. 7.

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Planung, Montagegeschwindigkeit, Budget, Arbeitszeit und sogar Ausbildungsmaßnahmen.38 Allerdings hatten die Verfahrensinnovationen ihren experimentellen Charakter nie ganz abstreifen können, da weder im Göteborger Stammwerk Torslanda noch in den ausländischen Produktionsanlagen das Fließband abgeschafft wurde und insofern fraglich ist, ob mit der reflexiven Produktion wirklich ein kohärentes konzernweites Produktionsorganisationsmodell verwirklicht werden sollte.39 Insbesondere anhand der Personalführung und Arbeitsorganisation lässt sich auseinandersetzen, dass die proklamierte ‚schwedische Lösung‘ nicht nur mit der aus Japan stammenden Strategie kontinuierlicher Kostensenkung vereinbar war, sondern sie um ein produktives Element bereicherte. In dem KLE-Programm wurden die Lernerfahrungen der Standorte im belgischen Gent mit der japanischen Produktionsphilosophie gebündelt, in die aber auch Elemente der ‚reflexiven Produktion‘ einflossen. Wurde im japanischen Modell den Monteuren als Gegenleistung für ihre Verbesserungsvorschläge eine Beschäftigungsgarantie und die Anstellung auf Lebenszeit zugestanden, koinzidierte die Aufwertung des Qualitäts- und Kostenmanagements mit einer Stärkung der Rolle der Mitarbeiter. Deren Autonomie wurde dahingehend erweitert, dass sie gemäß den Prinzipien der reflexiven Produktion die Verantwortung für Resultat, Qualitätskontrolle und Materialfluss übernahmen. Im Rahmen dieser flexibilisierten Produktion bewährte sich die bei Volvo intensiv gepflegte Sozialpartnerschaft, indem Arbeitnehmer im Falle von durch verringerte Nachfrage bedingten Produktionsdrosselungen in sogenannten ‚Überwinterungsmaßnahmen‘ beschäftigt wurden, später wieder in reguläre Beschäftigungsverhältnisse zurückzukehren.40 So konnte Volvo 38 

Ausführlich beschrieben wird die Umsetzung in Michel Freyssenet: Reflective Production: an Alternative to Mass-Production and Lean Production? In: Economic and Industrial Democracy, Vol. 19, Nr. 1 (1998), S. 91–117; Christian Berggren: Von Ford zu Volvo. Automobilherstellung in Schweden, Berlin / New York 1991; Åke Sandberg (Hrsg.): Enriching Production. Perspectives on Volvo’s Uddevalla Plant as an Alternative to Lean Production, Aldershot 1995. 39  Ein einheitliches Produktionsmodell in allen Fabriken war in den siebziger Jahren durchaus angestrebt worden. Mitte der achtziger Jahre hatte die Abteilung für Produktionsplanung einen neuen Anlauf unternommen und auch für Torslanda und Gent im Rahmen der ‚Produktionsstrategie P90‘ die Übernahme der Kalmarer Montagegestaltung vorgesehen. Fehlschläge in Torslanda bewogen aber offensichtlich die Verantwortlichen, auch von diesem Konvergenzschritt abzusehen. Stattdessen sollte nach der Eröffnung von Uddevalla 1988 jedes der fünf Endmontagewerke seinen eigenen Weg gehen. 40  Die durch die Drosselung der Produktion betroffenen Arbeitnehmer nahmen an teilweise durch öffentliche Mittel finanzierten temporären Umschulungs- oder Weiterqualifizierungsmaßnahmen teil und nahmen dann ihre Tätigkeit wieder auf. So konnte der Konzern im Falle der Erholung der Nachfrage auf ein Reservoir bereits qualifizierter Fachkräfte zurückgreifen, ohne dass spürbare Kosten für die Einarbeitung der Mitarbeiter anfielen. Durch die Zusammenarbeit zwischen Volvo, Gewerkschaften und Arbeitsmarktbehörden wurde es nicht nur möglich, den Stellenabbau auf ein Mindestmaß zu begrenzen, sondern auch die in anderen Automobilunternehmen stattfindende Spaltung in Rand- und Kernbelegschaft unterbunden.

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durch den Rückgriff auf arbeitsmarktpolitische Instrumente die Transaktionskosten niedrig halten und negative Arbeitsmarkteffekte so weit wie möglich ausschließen. Schließlich gelang auch ein Durchbruch in der zwischen Gewerkschaften und Management lange umstrittenen Frage der flexibilisierten Arbeitszeiten, indem die Gewerkschaften in den Produktplanungs- und Bestellungseinrichtungen des Konzerns ein Vertretungsrecht erhielten und auf diese Weise am Informationsfluss beteiligt wurden.

Der Verkauf der Pkw-Sparte und das Entstehen eines ­globalen Nutzfahrzeugkonzerns Insgesamt zeitigte das KLE-Programm während der neunziger Jahre einen durchschlagenden Erfolg: Bis 1993 konnten die Montagezeiten von 70 auf 43 Stunden verringert werden. Bereits im selben Jahr konnte Gyll vermelden, dass die Produktivität deutlich angestiegen war und das durchschnittliche Kostenniveau mit rund fünf Mrd. SKr abgesenkt werden konnte.41 Zwischen 1995 und 1997 sollte sich die Fehlerzahl pro Auto mit 40 vH verringern und die Lieferungssicherheit um 50 vH erhöhen. Die Lieferzeiten hatten sich von 60 auf 25 Tage verkürzt, sodass das Qualitätsmessungsunternehmen J. D. Powers dem Stammwerk in Torslanda bescheinigte, die zweiteffektivste Anlage in ganz Europa zu sein. Als Gyll 1997 aus seinem Amt schied, waren die Verkaufszahlen bei 370 000 Pkws stabilisiert worden. Die wiedererlangte Stärke war auch auf den Kapitalmärkten honoriert worden: Während der Amtszeit des VDs stieg der Börsenwert Volvos mit 150 vH von 37 Mrd. SKr auf 92 Mrd. SKr.42 Zudem konnte der Nachfolger Leif Johansson dank der verstetigten Gewinnsituation und energisch vorangetriebenen Unternehmensverkäufen auf Liquiditätsreserven in Höhe von 30 Mrd. SKr zurückgreifen. Die ab 1997 betriebene Expansionsstrategie konfrontierte die Verantwortlichen in der Konzernspitze allerdings erneut mit den Unwägbarkeiten des beschriebenen Grunddilemmas in aller Schärfe. Lag der Schwerpunkt der Japaner im unteren Mittelklassesegment, so verstärkte Volvo seine in den achtziger Jahren eingeleitete Konzentration auf höherwertige Fahrzeuge spätestens mit der Lancierung des S80. Mit diesem Modell, das als Ausgangspunkt einer Reihe weiterer Modelle im Bereich exklusiver Fahrzeuge, aber auch der Familienautos fungieren sollte, wollte man endgültig den anvisierten Einbruch in das von den deutschen Herstellern BMW und Mercedes beherrschte Luxuswagensegment schaffen. Das alte Problem der Abhängigkeit vom Erfolg einzelner Modellserien bestätigte sich wiederum im Falle des S80. Pro Jahr sollten rund 100 000 Fahrzeuge dieser Serie verkauft werden, sodass das Modell nicht zu Unrecht als Schicksalsauto apostrophiert wurde. Gleichzei41  42 

Värre än väntat i Volvo, in: Dagens Industri, 12. März 1993. Dramatisk epok slutar med Gyll, in: Dagens Industri, 21. April 1997.

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tig hatte sich das Problem der FuE-Aufwendungen während der neunziger Jahre noch verschärft. Jedes neue Modell schlug mindestens mit 15 bis 20 Mrd. SKr Entwicklungskosten zu Buche, rund das Vierfache dessen, was noch zu Beginn der achtziger Jahre erforderlich war. Gleiches galt für die Plattformen, die zwar die Möglichkeit einer beträchtlichen Ausweitung der Modellvielfalt boten, aber durch ihre Kostenintensität und einen langen Produktzyklus die technische Trajektorie für eine beachtliche Zeitspanne vorstrukturierten.43 Allein für die S80-Plattform wurden Investitionen in Höhe von mindestens 30 bis 40 Mrd. SKr veranschlagt, rund das Doppelte dessen, was Volvo für die 1991 auf den Markt gebrachte 850er-Serie aufwenden musste. Für eine weitere Plattform im Bereich Mittelklassewagen wurden ebenfalls rund 30 bis 35 Mrd. SKr kalkuliert. Gleichzeitig zeichnete sich ­immer mehr ab, dass rund 300 000 Pkws pro Plattform nicht mehr ausreichen würden, um den erwünschten Kostendegressionseffekt zu realisieren. Schließ­ lich war auch nicht auszuschließen, dass die Lastwagensparte als ausgleichender Stabilisator in einen konjunkturellen Abschwung geraten konnte.44 Nach anfänglichen Fehlschlägen mit dem S80, der sich dessen ungeachtet später als Erfolg entpuppen sollte, fasste der Konzernvorstand Anfang 1999 den Beschluss, die Pkw-Sparte für 50 Mrd. SKr an Ford zu verkaufen.45 Mit diesem Schritt zog die Konzernspitze die Konsequenz aus dem eingangs dargelegten Umstand, dass infolge steigender Entwicklungskosten das Dasein als weltweit kleinster unabhängiger Hersteller mit zu vielen Risiken verbunden war, um auch weiterhin auf den globalen Märkten bestehen zu können. Zusätzlich sah sich die Konzernspitze vor die Wahl gestellt, entweder die Pkw- oder Lastwagensparte zum global player auszubauen, da die Expansionsziele beider Sparten spätestens im Falle einer wirtschaftlichen Flaute eine Konkurrenz um Investitionsmittel ausgelöst hätte. 1999 stand die Konzernleitung deswegen vor der Entscheidung, entweder die risikobehaftete Pkw-Herstellung fortzuführen oder auf das stabilere Lkw-Geschäft mit aussichtsreicheren Wachstumschancen zu setzen. Warum konnte Volvo als Lastwagenhersteller das erreichen, was dem Göteborger Konzern bei den Pkws versagt blieb? Erstens hatte die Zunahme schwerer Stückguttransporte die Nachfrage nach Schwerlastwagen während des gesamten 20. Jahrhunderts stetig anwachsen lassen, sodass die weltweite Marktentwicklung Hersteller wie Volvo und Scania begünstigte, da sich ­beide 43 

Plattformen versetzten Autohersteller in die Lage, Modelltypen wie Limousinen, Kombiwagen, Coupés und sogar Jeeps und Minibusse unter Verwendung modularisierter Komponenten konstruieren zu können. So konnte Volvo auch sein Manko langer Entwicklungszeiten teilweise wettmachen und schneller als zuvor auf neue nachfragebedingte Entwicklungen reagieren, wie 1999, als Geländewagen oder die in den USA populären Sport Utility Vehicles (SUVs) vorgestellt wurde, auf der Plattform der S80-Modellserie basierend. 44  Interview mit Lars Anell, Stockholm, 4. Mai 2007. 45  Vinna eller försvinna: Volvo, in: Veckans Affärer, Nr. 50 (1997), S. 42–49.

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aufgrund der einheimischen Straßenverhältnisse und der Nachfrage seitens der Forstwirtschaft frühzeitig auf diese Fahrzeugkategorie spezialisiert hatten. Zweitens konnte man in der Lastwagensparte die Formel zur Anwendung zu bringen, eine Großserienproduktion mit bis zu 30 000 Fahrzeugen zwecks Ausbaus der eigenen Marktdominanz zu unterhalten, ohne auf kurze Serien und eine große Modellvielfalt zu verzichten, sodass sich die Problematik der Abhängigkeit von einzelnen Modellserien nicht so gravierend stellte wie in der Pkw-Sparte. Mit einer modularisierten Produktions- und Modellstruktur konnte eine Vielzahl von Fahrzeugvarianten hergestellt werden, ohne auf Skalenerträge verzichten zu müssen. So ermöglichte das während der achtziger Jahre entworfene ‚Global Truck‘-Konzept, dass Schlüsselkomponenten wie Chassis, Kabinen und Motor durch eine einheitliche, synergiefördernde Serienfertigung in dem globalen Netz von Produktionsstätten verbaut werden konnten.46 Da zweitens Speditionen Lkws für eigene geschäftsbezogene Zwecke nutzten und erhebliche Kosten für Fahrerentgelte, Brennstoffverbrauch sowie Teileersatz und Wartung anfielen, war beispielsweise ein Angebot leistungsstarker und zugleich verbrauchsarmer Motoren entscheidender als nationale Markenloyalitäten. Auch deswegen war drittens anders als im Pkw-Privatkundengeschäft die Transportfahrzeugbranche mit der Ausnahme der USA nicht so sehr durch Vorlieben für einheimische Marken vorstrukturiert, sodass der Durchbruch im Gegensatz zu der Pkw-Sparte nicht durch den Erfolg auf einigen Schlüsselmärkten bedingt war. So wurden in der Lastwagensparte auch Regionen außerhalb der westlichen Hemisphäre erschlossen, wo ein Bedarf an Nutzfahrzeugen vorhanden war, jedoch die Voraussetzungen für einen Massenabsatz von Pkws fehlten.47 Infolge dieser Rahmenbedingungen war das Göteborger Unternehmen im Schwerlastersegment zum weltweit zweitgrößten Hersteller aufgestiegen. Die Unternehmensspitze unter Leif Johansson hatte schon ab 1997 begonnen, die eigentlichen Nebenaktivitäten der Nutzfahrzeugherstellung wie die Baumaschinerie und die Bussparte durch den Zukauf weiterer Produktlinien systematisch zu stärken. Die Lastwagensparte hatte schon seit längerem ganz im Sinne der Wachstumsbestrebungen eine offensive Strategie auf der Basis von Direktinvestitionen und Akquisitionen eingeleitet, um neue Märkte und Kundengruppen zu erschließen, auch wenn dafür teilweise umfangreichen Forderungen nach Ansiedlung einer Produktion vor Ort nachgekommen werden musste. Bereits in den achtziger Jahren sollte der lead market in den USA durch die Übernahme der White Truck Corporation und der zunächst zusammen mit General Motors betriebenen Volvo GM Heavy Truck Corpo-

46 

Interview mit Stan Langenius, Göteborg, 25. April 2007. Das galt insbesondere für Märkte in Südamerika, Nordafrika oder auch in Südeuropa, wo der Umsatz von Volvo-Pkws unterdurchschnittlich ausfiel. Vgl. Interview mit Stan Langenius, Göteborg, 25. April 2007. 47 

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ration erschlossen werden; in den neunziger Jahren folgten Direktinvestitionen in Mexiko (1993), China (1998) und Russland (2000).48 Schon gleichzeitig mit den Verhandlungen mit Ford mehrten sich die ­Gerüchte, dass Volvo die Übernahme eines bedeutenden Lkw-Konkurrenten ins Auge fasste, um eine Verdoppelung des Wachstums herbeizuführen. Auch hier waren es die stetig steigenden FuE-Kosten, bedingt durch erhöhte Emissionsvorschriften, Kundenforderungen nach niedrigerem Brennstoffverbrauch und verlängerte Serviceintervalle sowie die erhöhten Ansprüche hinsichtlich des Fahrerkomforts, die den Ausschlag gaben.49 Durch die entstandenen finanziellen Mittel infolge des Verkaufs der Pkw-Sparte sah sich der Vorstand unter Håkan Frisinger in die Lage versetzt, selbst als ­Käufer auf­zutreten. Dass die sieben Jahre zuvor gescheiterte Mesalliance zwischen ­Renault und Volvo auf diesem Wege doch noch zustande kommen sollte, verdankte man indirekt dem Veto der EU-Kommission, die 1999 die bereits in die Wege geleitete Übernahme Scanias aus wettbewerbsrechtlichen Gründen untersagte. Am 25. April 2000 erhielt ein Abkommen Rechtsgültigkeit, dass die Überlassung der Renault-Tochtergesellschaft RVI an Volvo im Austausch gegen eine 15 vH-Beteiligung Renaults bei Volvo vorsah, sodass der Göteborger Konzern zum weltweit zweitgrößten Lastwagenhersteller hinter Daimler avancierte. Vor allem in den USA, wo trotz aller Bemühungen die anvisierten Wachstumsvorgaben deutlich unterschritten worden waren, konn­ten die Göteborger mit einem Marktanteil von insgesamt 24 vH die Daimler-Tochtergesellschaft Freightliner herausfordern. Im Gegenzug für die Überlassung der gesamten eigenen Lkw-Sparte erhielt ­Renault eine 15 vH-Beteiligung bei Volvo. Da die Franzosen explizit auf Goldene Aktien oder sonstige Prärogative verzichteten, konnte die Gefahr einer Einflussnahme auf das eigene Kerngeschäft nun ausgeschlossen werden. Nach dem Erwerb RVIs und Macks verfügte Volvo über die erforderliche kritische Masse, um mit anderen global playern mithalten zu können. Ein zweiter Erwerb bei der Mitsubishi-Tochtergesellschaft für Lastwagen rundete die Bestrebungen ab, den Aktionsradius nun auch auf Asien auszuweiten und sich noch weiter im Segment der leichten und mittelschweren Lastwagen zu verstärken.

Fazit: Small is not beautiful? Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der Betrachtung der jüngeren Geschichte des Konzerns hinsichtlich strukturierender Handlungsparameter für die Automobilindustrie am Ende des 20. Jahrhunderts ziehen? Das Manage48 

Im Juli 1997 übernahm Volvo die verbleibenden 13 vH der Anteile in der Volvo GM Heavy Truck Corporation von General Motors. 49  Scania erbjuds resonemangsparti, in: Dagens Nyheter, 7. Mai 1999.

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ment hatte Ende der siebziger Jahre beschlossen, das Produktprogramm um Qualitätsfahrzeuge in der oberen Mittelklasse zu verbreitern. Damit adaptierte Volvo das Reaktionsmuster westdeutscher Hersteller auf die Absatzkrise, die eigenen Fahrzeuge hochwertiger zu machen und auf diese Weise höhere Gewinnmargen zu erwirtschaften. Ähnlich wie andere Automobilhersteller verständigte sich die Konzernleitung Ende der achtziger Jahre auf die Grundsatzentscheidung, durch die Allianz mit Renault die Kostenentwicklung in den Griff zu kriegen, die durch massive Absatzeinbrüche verschärft wurde. Nach dem Scheitern der Fusion konnte auf der Basis der KLE-Strategie die traditionelle Qualitätsorientierung erfolgreich durch eine systematische Kostensenkungspolitik ergänzt werden. Trotzdem rang sich die Konzernleitung gegen Ende der neunziger Jahre zu dem Entschluss durch, die sich seit dem Amtsantritt Leif Johanssons abzeichnende Umorientierung auf einen Nutzfahrzeugkonzern auf der Basis einer Reihe von Großakquisitionen konsequent weiterzuführen und die unsichere Position als kleinster unabhängiger Pkw-Hersteller weltweit aufzugeben. Lassen sich ‚ungelernte Lektionen‘ oder gravierende Fehler in der Unternehmenspolitik ausmachen, die letzten Endes diesen fundamentalen Pfadwechsel unausweichlich machten? Das wirft noch einmal die eingangs formulierte Frage auf, welche Optionen Automobilhersteller ausnutzen können und welche Rahmenbedingungen die Wahlmöglichkeiten der verantwort­ lichen Akteure einschränken. Zweifellos ist Volvo ein Unternehmen, das mit dem Verkauf der Pkw-Sparte und der parallel stattfindenden Begründung ­eines international schlagkräftigen großen Nutzfahrzeugkonzerns einen radikalen Schwenk in seiner Wachstumsstrategie vollzogen hat. Dennoch fällt es schwer, in der Geschichte Volvos den kairos zu identifizieren, der eine neue Wandlungsdynamik auslöste. Wiewohl das Unternehmen im Gefolge der Rezession zu Beginn der neunziger Jahre schwer unter Druck geriet, kann diese Krise nicht als Wendepunkt klassifiziert werden. So lassen die Bilanzkenn­ ziffern keineswegs den Schluss zu, dass Volvo im Untersuchungszeitraum abgesehen von drei Verlustjahren zwischen 1991 und 1993 als ein krisengeschütteltes Unternehmen charakterisiert werden kann.50 Weder mangelnde Lern- noch Innovationsbereitschaft kann der Unternehmensführung vor­ geworfen werden. Dagegen spricht nicht nur das firmentypische Modell der reflexiven Produktion. Auch in den neunziger Jahren hat sich das Manage50  Bis 1987 waren die Gewinne jedes Jahr sprunghaft angestiegen, sodass das Unternehmen 1987 einen Rekordgewinn in Höhe von 5,6 Mrd. SEK erwirtschaftete. 1992 vermeldete der Konzern einen Verlust in Höhe von 3,3 Mio. SEK und 1993 einen Verlust von 3,5 Mio. SEK. Erst im Folgejahr wurde wieder ein positiver Reingewinn in Höhe von 12,2 Mio. SEK registriert, der allerdings maßgeblich durch die eingeleitete Abwicklung der Beteiligungen aus der Ära Gyllenhammar zustande kam. Bis zum Verkauf der Pkw-Sparte 1999 ging der Reingewinn zwar jedes Jahr leicht zurück, sackte allerdings nicht mehr unter die Marke von 8 Mrd. SEK ab. Vgl. zur Gewinnentwicklung die Angaben der Geschäftsberichte Volvos 1980–1998.

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ment gegenüber vielen branchentypischen business recipes aufgeschlossen gezeigt, die die Neugestaltung der Produktionsorganisation in der gesamten Branche während der neunziger Jahre kennzeichneten. Das gilt nicht nur für Trends wie die Plattformtechnologie oder die intensive Nutzung der Coopetition-Varianten. Auch hinsichtlich der neu angeordneten Beschaffungspo­ litik unterschied sich Volvo wenig von den Praktiken der deutschen oder ­japanischen Hersteller, die einerseits den Kostendruck erhöhten, andererseits im Gefolge der Trennung in Premium- und Sekundärzulieferer die Zusammenarbeit mit etlichen privilegierte Teileherstellern sogar noch intensivierten.51 Nur in der Produktpolitik blieb die Konzernleitung durchgängig ihrer Ausrichtung an Qualitätsfahrzeugen der oberen Mittelklasse treu, aber der Markterfolg nahezu aller Modelle spricht wohl für die Richtigkeit dieser Entscheidung. Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich, welche alternative Möglichkeiten – wie etwa in Gestalt modifizierter Marketinganstrengungen oder einem radikalen Wechsel in der Modellpolitik – die Verantwortlichen noch hätten ausreizen können. Eine Umorientierung auf kostengünstigere Modelle, wie sie die Japaner durchgängig anstrebten, hätte den Markenkern Volvos zweifellos beschädigt. Für eine Verbreiterung des Modellspektrums, wie sie insbesondere die US-Amerikaner ab 1997 mittels einer Reihe von Aufkäufen anstrebten, mangelte es an den erforderlichen Ressourcen. Selbst die Kooperation mit anderen Unternehmen bot keine automatische Gewähr für den Erfolg: Konnte Volvo mit Mitsubishi am niederländischen Standort in Born eine erfolgreiche Zusammenarbeit begründen, war nicht nur die Zusammenarbeit mit Renault, sondern auch mit dem britischen Luxusautohersteller TWR für Cabriolet- und Coupé-Versionen der 850er-Plattform zum Scheitern verurteilt.52 Weniger ‚ungelernte Lektionen‘, sondern die 51 

Zur Entwicklung der Zuliefererbeziehungen vgl. Susan Helper: Determinants of Trust in Supplier Relations: Evidence from the Automotive Industry in Japan and the United States, in: Journal of Economic Behavior & Organization, Vol. 34, Nr. 3 (1998), S. 387–417; Gary Herrigel / Volker Wittke: Varieties of Vertical Disintegration. The Global Trend Toward Heterogeneous Supply Relations and the Reproduction of ­Difference in US and German Manufacturing, in: Glenn Morgan / Eli Moen / Richard Whitley (Hrsg.): Changing Capitalisms: Internationalization, Institutional Change and Systems of Economic Organization, New York 2005, S. 312–351. 52  In Zusammenarbeit mit TWR sollte dem Modellprogramm eine sportliche Note verliehen werden. Zusammen mit dem britischen Nischenhersteller gründete Volvo zur Herstellung von Cabriolet- und Coupé-Versionen der 850er-Plattform eine neue Aktiengesellschaft namens Autonova, in der TWR mit 51 vH Mehrheitsaktionär wurde. Die im Konzernvorstand ohnehin nicht unumstrittene Zusammenarbeit entpuppte sich jedoch als Enttäuschung auf der ganzen Linie, da TWR nur begrenzte Produk­ tionserfahrungen bei der australischen GM-Tochtergesellschaft Holden hatte sammeln können und offensichtlich bei Tätigkeiten jenseits des Konstruktionsstadiums überfordert war. Ford als neue Eigner der Volvo Pkw-Sparte sollte sich dann entscheiden, nach dem Auskauf TWRs die Produktion des C70 in Uddevalla gemeinsam mit der italienischen Firma Pinafarina fortzusetzen.

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Gunnar Flume

Einsicht, dass trotz aller Innovationsanstrengungen dem eingeschlagenen Wachstumspfad ein wachsendes Risiko immanent war, bewogen die Unternehmensspitze zum Rückzug aus dem Privatfahrzeuggeschäft. So waren die Motive für die Abspaltung grundsätzlicher Natur, die in der Befürchtung wurzelten, dass man immer höhere Forschungs- und Entwicklungskosten, verursacht durch neue Antriebsenergien oder Herstellungsmaterialien, nicht mehr würde ­bewältigen können.53 In den internen Diskussionen wurde wie ein ceterum censeo immer wieder darauf verwiesen, dass Volvo als kleinster unabhängige Pkw-Hersteller der Welt immer wieder dem Risiko ausgesetzt war, die permanent steigenden Entwicklungskosten bei gleichzeitig stagnierenden Absatzvolumina irgendwann einmal nicht mehr schultern zu können: „Mit den Lastwagen ging man sozusagen auf die sichere Seite … Entscheidend kann man sagen, war, dass die ‚Verwundbarkeit‘ in dem Konzern bei der Pkw-Sparte lag: Entwicklungskosten mit 15 Mrd. SKr für ein einzelnes Kernauto wie den V70, der ja auch in einer Größenordnung von 45 000 Exemplaren gefertigt werden sollte: Wenn das schief gegangen wäre, dann hätte man die gesamte Zukunft des Konzerns auf das Spiel gesetzt. Da hieß es immer wieder, wir sind der kleinste Hersteller der Welt, das kam immer wieder als Argument.“54

Die Ausgliederung des Kerngeschäfts stellte also eine grundlegende Antwort auf die Gegebenheiten eines immer schwieriger werdenden Marktumfeldes dar. Obwohl Volvo mit seiner Herstellung qualitativ hochwertiger Fahrzeuge Erfolge auf den Weltmärkten verzeichnen konnte, blieb das Unternehmen durchgehend von der Erwirtschaftung steigender Skalenerträge abhängig. Schon Chandler hat in seiner Analyse der Wettbewerbsvorteile der US-Industrie in der Reifephase des Kapitalismus herausgearbeitet, dass neben vertikaler Integration und effizienten Managementhierarchien nicht zuletzt der große Binnenmarkt zu den erforderlichen Skalenerträgen verhalf, die Unternehmen aus anderen Ländern teilweise erst durch eine umfassende Exportstrategie erschließen mussten.55 Dem schwedischen Konzern gelang es allerdings nie, zu denjenigen Unternehmen aufschließen, die aufgrund ihrer großen Heimatmärkte und dem damit verbundenen Größenwachstum FuE- und auch Marketingkosten auf ein größeres Produktionsund Absatzvolumen verteilen konnten. Dieses Dilemma stellte sich für ­Volvo nach dem Ende der fordistischen Nachkriegsprosperität zu Beginn der siebziger Jahre in verschärfter Form, weil mit jeder neuen Fahrzeuggeneration die Gefahr eines Scheiterns schon mit einzelnen Modellreihen das Unternehmen in seiner Existenz bedrohen konnte. Insofern enthob die Aufgabe des eigenen Kerngeschäfts Volvo von dem permanenten Risiko, das ein

53 

Interview mit Sven Eckerstein, Göteborg, 24. April 2007. Interview mit Lars Anell, Stockholm, 4. Mai 2007. 55  Alfred D. Chandler: Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge/London 1990. 54 

Small is (not) beautiful

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Mitglied der Konzernleitung so pointierte: „Wir konnten es uns als kleiner Hersteller niemals leisten, Fehler zu machen.“56 Auch wenn die Pkw-Sparte unter dem Dach von Ford ihre Tätigkeit erfolgreich fortsetzen konnte, schien der Weg in die Zukunft als großer Nutzfahrzeughersteller der sicherere zu sein.

56 

Interview mit Sven Eckerstein, Göteborg, 24. April 2007.

Jordi Catalan / Tomàs Fernández-de-Sevilla1

Die staatliche Industriepolitik und die Entwicklung der Automobilindustrie in Spanien 1948–1985 Hintergrund: Das spanische Automobil vor der Massen­ herstellung 1889–1948 Der Pionier im Automobilbau auf der iberischen Halbinsel war der Katalane Francesc Bonet, der im Jahr 1889 das erste von einem Verbrennungsmotor angetriebene Dreirad herstellte.2 Während des ersten Drittels des 20. Jahr­ hunderts folgten in Barcelona rund 40 weitere Initiativen zum Bau von Au­ tos und ein weiteres Dutzend in anderen Teilen der Halbinsel. Keine dieser Anläufe lässt sich jedoch in Dimension und Ehrgeiz mit dem Unternehmen Hispano Suiza vergleichen. Es wurde 1904 mit finanzieller Unterstützung ei­ ner Gruppe katalanischer Industrieller unter der Leitung von Damià Mateu, auf dem Fachwissen des Schweizer Motoringenieurs Markus Birkigt basie­ rend, in Barcelona gegründet.3 Die Qualität der Produkte des Schweizers 1 

Dieser Aufsatz ist Teil des Projektes HAR2009-07571 (Orígenes y desarrollo de los distritos industriales exportadores: un análisis desde la historia económica), das von dem Ministerium für Wissenschaft und Technologie der spanischen Regierung und des Centre d’Estudis Antoni de Capmany der Universität Barcelona gefördert wurde. Die Autoren möchten an dieser Stelle Ihren Dank für die Übersetzung dieser Arbeit an Lena Ziegler ausdrücken. Ebenso möchten die Autoren Nikola Koepke für ihre hilfreichen Kommentare danken. 2  Miguel de Castro: Historia del automóvil, (CEAC), Barcelona 1964, S. 244–248. Jo­ aquín Ciuró: Historia del automóvil en España, (CEAC), Barcelona, 1970, S. 18–23. Jordi Catalan: Fábrica y franquismo, 1939–1958. El modelo español de desarrollo en el marco de las economías del Sur de Europa, (Tesis Doctoral), Universitat Autònoma de Barcelona 1992, S. 1035. Pablo Gimeno: El automóvil en España. Su historia y sus marcas, (RACE), Madrid 1993, S. 75–77. Jordi Catalan: La creación de la ventaja com­ parativa en la industria automovilística española, 1898–1996, in: Revista de Historia Industrial, 18 (2001), S. 117. 3  De Castro: “Historia”, S. 407–447. Ciuró: “Historia”, S. 52–101. Catalan, “Fábrica”, S. 1035–1042. Gimeno: “Automóvil”, S. 93–153. Catalan: “Creación”, S. 117–120. Jordi Nadal / Xavier Tafunell: Sant Martí de Porvençals, pulmó industrial de Barcelona (1847–1992), (Columna), Barcelona 1992, S. 172–185. Manuel Lage: Hispano Suiza 1904–1972, (LID), Madrid 2003, S. 19–114. Jordi Nadal: La Hispano de Guadalajara (1917–1936). Hijuela no deseada de la barcelonesa Hispano Suiza, in: Clara Lida/ José Piqueras (Hrsg.): Impulsos e inercias del cambio económico. Ensayos en honor de Nicolás Sánchez Albornoz, (Tomás y Valiente), València 2004, S. 273–290. Jordi Nadal: El contencioso entre La Hispano-Suiza, Fábrica de Automóviles, S. A. y el Estado fran­ cés en torno a la contribución sobre beneficios extraordinarios de guerra (1917–1922), in: Florence Bourillon/ Philippe Boutry/ André Encrevé/ Béatrice Touchelay (Hrsg.): Des économies et des hommes. Mélanges offerts à Albert Broder, (Bière), Paris 2006, S. 331–342. Jordi Nadal: Discurs d’acceptació del títol de doctor honoris causa, Cerimònia Acadèmica d’Investidura com a Doctor Honoris Causa del professor Jordi ­Nadal, (Universitat Pompeu Fabra), Barcelona 2010, S. 1–8. Elena San Román: Política

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Jordi Catalan / Tomàs Fernández-de-Sevilla

brachte dem Unternehmen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes schnell ein hohes Ansehen. So produzierten unter anderem Unternehmen aus Frankreich (Peugeot), Japan (Mitsubishi) und den USA (Wright) während des Ersten Weltkriegs seinen Flugzeugmotor unter Lizenz. In Friedenszeiten konzentrierte sich das Unternehmen auf die Produktion von Luxusautomo­ bilen sowie Lastkraftwagen und Bussen. Das Unternehmen stieg nie in die Massenproduktion ein, was seine zukünftigen Wachstumsmöglichkeiten limi­ tierte. In den späten 1920er Jahren konnte Hispano Suiza rund 1 000 Autos, 500 Busse und Lastwagen, sowie 600 Flugzeug-, Marine- und Industriemo­ toren produzieren. Diese Zahlen waren so bescheiden, dass sich das Unter­ nehmen damit weit von den Produktionszahlen der großen europäischen Automobilbauer entfernte. In den späten 1920er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte Ford die Führung auf dem spanischen Automobilmarkt übernommen. Inländische Hersteller waren entweder verschwunden oder besaßen nur noch verschwindend gerin­ ge Marktanteile. Dennoch hatten die verschiedenen Anläufe zur Automobil­ konstruktion in Barcelona ein Industriedistrikt entstehen lassen. Beispiel hierfür ist das Vorgehen des Unternehmens Ford auf der iberischen Halb­ insel. Der amerikanische Konzern hatte 1920 zunächst Cádiz als Sitz der Montagewerke den Vorzug vor dem damals durch schwere Arbeitskämpfe krisengeschüttelten Barcelona gegeben. Da jedoch die Produktionsziele an der ­andalusischen Küste nicht erfüllt wurden, beschloss das Unternehmen drei Jahre später, sich doch in der katalanischen Hauptstadt niederzulassen.4 In den 1930er Jahren versuchte die Regierung der zweiten spanischen Repu­ blik, durch die Ge­währung von Steuervorteilen Anreize zu schaffen, um ­okal económica y atraso automovilístico (1900–1936). El caso español en perspectiva com­ parada con Japón, in: Revista de Historia Industrial 43 (2010), S. 65–94. 4  Alfred D. Chandler (Hrsg.): Giant Enterprise. Ford, General Motors and the Automobile Industry, (Harcourt, Brace & World), New York 1964, S. 9–20. Mira Wilkins/ Frank Ernst Hill: American Business Abroad. Ford on Six Continents, (Wayne State UP), Detroit 1964, S. 99. Catalan, “Fábrica”, S. 1040–1042. Alfred D. Chandler: Or­ ganizational Capabilities and the Economic History of the Industrial Enterprise, in: Journal of Economic Perspectives 6 (3) (1992), S. 79–100. Salvador Estapé: Economic Nationalism, State Intervention and Foreign Multinationals: The Spanish Ford Subsid­ iary, 1920–1954, in: Essays in Economic and Business History, XVI (1998), S. 75–93. Catalan: “Creación”, S. 119–120. Albert Carreras/ Salvador Estapé-Triay: The Spanish Motor Industry, 1930–1975, in: Michael Lynskey / Seiichiro Yonekura (Hrsg.): Entrepreneurship and organization. The role of the entrepreneur in organizational innovation, (Oxford UP), Oxford 2002, S. 123–150. Steven Tolliday: The origins of Ford Eu­ rope: From multidomestic to transnational corporation, 1903–1976, in: Humbert Bon­ in/ Yannick Lung/ Steven Tolliday (Hrsg.): Ford, 1903–2003: The European history, Volume I, (PLAGE), Paris 2003, S. 153–242. Jordi Catalan: El siglo europeo de Ford y los límites del fordismo, in: Revista de Historia Industrial 30 (2007b), S. 167–186. Jose­ ba Lebrancón: El recinto aislado. La Zona Franca de Vigo y las franquicias arancelarias en España desde 1850 hasta la adhesión a la CEE, (Tesis doctoral), Universidade de Santiago de Compostela 2009, S. 155–208. Jordi Catalan: El siglo europeo de Ford y los límites del fordismo, in: Revista de Historia Industrial 30 (2007b), S. 167–186.

Die staatliche Industriepolitik in Spanien

257

produzierte Komponenten in der Montage vermehrt zum Einsatz zu brin­ gen. Diese Politik ­spiegelte sich auch in der Ausweitung der Aktivität von Ford Motor Ibérica wieder, das sich ab dem Jahr 1935 zur gewinnträchtigs­ ten europäischen Tochtergesellschaft entwickeln konnte. Dieser Trend wurde jedoch durch den Militärputsch und den anschließenden Bürgerkrieg (1936– 39) unterbrochen. Wie in vielen anderen Sektoren des verarbeitenden Gewer­ bes wurde die Wirtschaftspolitik der frühen Franco-Ära, was die Automobil­ industrie betraf, durch die der Achsenmächte maßgeblich beeinflusst. Ähn­ lich wie in Deutschland und Japan wurden die amerikanischen Firmen durch die spanischen Behörden sichtlich diskriminiert. Die Hindernisse, denen sich Ford von Seiten der spanischen Regierung ausgesetzt sah, führten schließlich dazu, dass die amerikanische Muttergesellschaft ihren Anteil im Jahre 1953 verkaufte und die ehemalige Tochtergesellschaft in Motor Ibérica umgewan­ delt wurde.

Protektionismus und Importsubstitution im Übergang zur Massenproduktion 1948–1972 Im Jahr 1950 belegte Spanien, mit der Herstellung von nicht einmal 1 000 Kraftfahrzeugen, den 18. Platz unter den Automobil produzierenden Staa­ ten der Welt. 1972 war es mit mehr als 600 000 hergestellten Einheiten im internationalen Ranking auf den zehnten Platz gestiegen.5 Während der bei­ den dazwischen liegenden Jahrzehnte erlebte Spanien einen spektakulären Aufstieg in der Fertigung von Kraftfahrzeugen, wobei das Wachstum deut­ lich über dem anderer Länder lag. Diese Entwicklungen lassen sich auf die beiden 1951 gegründeten Unternehmen Sociedad Española de Automóviles de Turismo (SEAT)6 und Fabricación de Automóviles Sociedad Anónima 5  Catalan: “Creación” S. 113–137. José Luis García Ruiz: La evolución de la industria automovilística española, 1946–1999: una perspectiva comparada. in: Revista de Historia Industrial, 19–20 (2001), S. 133–163. José Luis García Ruiz: La industria automo­ vilística española anterior a los decretos Ford (1972), in: José Luis García Ruiz (Hrsg.): Sobre ruedas. Una historia crítica de la industria del automóvil en España (Síntesis), Madrid 2003, S. 13–93. 6  Edouard Seidler: Ole, Toledo!, (J. R. Piccard), Lausanne 1991, S. 13–18. Catalan, “Fábrica”, S. 1203–1223. Gimeno: “Automóvil”, S. 403–411. Eulàlia Solé: SEAT (1950– 1993), (La Tempestad), Barcelona 1994, S. 11–45. Elena San Román: El nacimiento de la SEAT: autarquía e intervención del INI, in: Revista de Historia Industrial 7 (1995), S. 141–165. Pablo Gimeno: Los Seat 1400 y 1500, (Dossat), Madrid, 1996, S. 15–56. Ele­ na San Román: Ejército e industria: el nacimiento del INI, (Crítica), Barcelona 1999, S. 227–259. Catalan: “Creación”, S. 125–137. Mauro Guillén: The limits of convergence, (Princeton U. P.), Princeton 2001, S. 159–182. Eulàlia Solé: Seat 600, (Edicions Benzi­ na), Barcelona 2001, S. 8–76. Jordi Catalan: SEAT entre l’INI i la FIAT 1948–1980, in: L’Avenç. Revista catalana d’història 285 (2003), S. 27–36. Jordi Catalan: La SEAT del desarrollo, 1948–1972, in: Revista de Historia Industrial 30 (2006), S. 143–193. Ramón Roca: Nuestro Seat, (Benzina), Platja d’Aro 2006, S. 14–45. Andrea Tappi: El fordismo

258

Jordi Catalan / Tomàs Fernández-de-Sevilla

(FASA)7 zurückführen. Während ersteres mit FIAT-Produktionslizenzen arbeitete, verwendete das zweite Renault-Technik.8 Anfang 1939 begannen die Verhandlungen zwischen Banco Urquijo und FIAT über einen Technologietransfer, um im franquistischen Spanien Autos herzustellen. Um die Errichtung eines künftigen Unternehmens unter ihrer Kontrolle zu erleichtern, beteiligte sich während des Zweiten Weltkriegs auch das Instituto Nacional de Industria (INI) an den Verhandlungen. Bei en la industria europea del automóvil y la SEAT (1950–1970), in: Revista de Historia Industrial 34, (2007), S. 97–128. Andrea Tappi: Una impresa italiana nella Spagna di Franco, (CRACE), Perugia 2008, S. 20–77. Juan José Díaz Ruiz: SEAT: Ambición de superarse, (Profit), Barcelona 2010, S. 17–35. 7  Elsie Charron: FASA-Renault: Un Caso de Internacionalización de la Producción Automovilística, in: Política y Sociedad, 5 (1990), S. 45–63. Gimeno: “Automóvil”, S. 413–418. Elsie Charron: FASA-Renault: Innovation in Productive Flexibility and Job Security, in: Robert Boyer/ Elsie Charron/ Ulrich Jürgens/ Steven Tolliday (Hrsg.): Between Imitation and Innovation. The Transfer and Hybridization of Productive Models in the International Automobile Industry, (Oxford UP), Oxford 1998, S. 254–255. Jean-Louis Loubet: Renault. Histoire d’une entreprise, (ETAI), BoulogneBillancourt 2000, S. 210–214. Esther Sánchez Sánchez: La implantación industrial de Renault en España: Los orígenes de FASA-Renault, 1950–1970, in: Revista de Historia Económica, 1 (2004), S. 147–175. Esther Sánchez Sánchez: Rumbo al sur: Francia y la España del desarrollo, 1958–1969, (CSIC), Madrid 2006, S. 350–374. Tomàs Fernándezde-Sevilla: FASA en l’arrencada de la indústria de l’automòbil a l’Estat Espanyol, 1951–1965, in: Recerques, 54 (2007), S. 115–144. Patrick Fridenson: Les cadres et l’or­ ganisation de l’entreprise: Renault, 1945–1985, in : Jacqueline Costa-Lascoux / Gene­ viève Dreyfus-Armand / Émile Temime (Hrsg): Renault sur Seine. Hommes et lieux de mémoires de l’industrie automobile, (La Découverte), Paris 2007, S. 113–133. Tomàs Fernández-de-Sevilla: Industrializando la España interior. El ensamblaje del Renault 4CV en la FASA de Valladolid, 1951–1958, in: Investigaciones de Historia Económica, 18(2010a), S. 133–162. Elena San Román: Ildefonso Fierro. La aventura de un emprendedor, (LID), Madrid 2010, S. 202–207. Esther Sánchez Sánchez: Renault y Citroën en España: la implantación de dos gigantes franceses del automóvil y su impacto sobre el territorio y la PYMES locales, c. 1951–1970, in: Florent Le Bot / Cédric Perrin (Hrsg.): Les chemins de l’industrialisation en Espagne et en France, Peter Lang, Brüssel 2011, S. 307–328. Jean-Louis Loubet: Contrepoint. L’automobile française en Espagne: entre politique et argent, in: Florent Le Bot / Cédric Perrin (Hrsg.) : Les chemins de l’industrialisation en Espagne et en France, Peter Lang, Brüssel 2011, S. 329–331. Tomàs Fer­ nandez-de-Sevilla: Los orígenes del cluster del automóvil de Valladolid: el papel de FASA como empresa líder, 1951–1965 in: Jordi Catalan/ José Antonio Miranda / Ra­ mon Ramon-Muñoz (Hrsg.): Distritos y clusters en el sur de Europa, (LID), Madrid 2011, S. 135–151. 8  Franco Amatori: Gli uomini del Professore. Strategia, organizzazioni, management a la Fiat fra anni Venti e anni Sessanta, in: Cesare Annibaldi / Giuseppe Berta (Hrsg.), Grande impresa e sviluppo italiano. Studi per i cento anni della Fiat, volume I, (Il Mu­ lino), Bologna 1999, S. 257–342. Valerio Castronovo: Fiat 1899–1999. Un secolo di storia italiana, (Rizzoli), Milano 1999, S. 689–1535. Loubet  : “Renault”, S. 59–281. Fri­ denson: “Cadres”, S. 113–133. Patrick Fridenson: Corporate culture in French auto­ mobile industry: the changes from 1944 to 2004, in: Manfred Grieger / Ulrike Gutzmann / Dirk Schlinkert (Hrsg.): Towards mobility. Varieties of automobilism in East and West (Verlag der historischen kommunikation), Wolfsburg 2009, S. 165–174.

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Die staatliche Industriepolitik in Spanien

Tabelle: Anzahl produzierter Autos in den größten Herstellerländern* (in Tausend) Spanien

USA

Japan

Deutsch­ Frankland** reich

GB

Italien

Kanada

1950

0,6

8 003

32

314

358

784

129

390

1972

614

8 824

4 022

3 654

2 993

1 921

1 732

1 154

1985

1 220

8 002

7 647

4 375

2 631

1 048

1 384

1 075

* Es handelt sich um die 7 größten Herstellerländer im Jahr 1972 und Spanien. ** Gemeinsame Zahlen der BRD und DDR. Quelle: Eigene Berechnungen nach dem Statistischen Jahrbuch der Vereinten Nationen.

diesem Institut handelte es sich um eine staatliche Holdinggesellschaft, die im Jahr 1941 nach dem Vorbild des italienischen Istituto per la Ricostruzione Industriale (IRI) gegründet wurde und die Entwicklung der Industrie in ­Spanien gemäß einem Konzept der wirtschaftlichen Autarkie fördern sollte. Uneinigkeiten innerhalb der Regierung Francos verhinderten jedoch, dass die Vorschläge des INI noch vor Kriegsende grünes Licht erhielten. 1947 unterzeichneten die Banco Urquijo und FIAT einen Vertrag über die technische Hilfe bei der Errichtung einer Automobilfabrik mit einer Kapazi­ tät von bis zu 10 000 Fahrzeugen pro Jahr, was als Startphase der Massenpro­ duktion betrachtet werden könnte. Dieses Projekt wurde allerdings durch das Ministerium für Industrie unter der Leitung von Juan Antonio Suanzes, der gleichzeitig Präsident des INI war, nicht genehmigt. So sah sich die ­Banco Urquijo schließlich doch gezwungen, die Hegemonie der Holding­ gesellschaft im zukünftigen Unternehmen zu akzeptieren. Dadurch war von Juli bis Oktober 1948 der Weg frei für konkrete Verhandlungen zwischen INI, der Banco Urquijo und FIAT. Im Gegenzug für die Lizenzierung der Produktion und für die Bauüberwachung und Inbetriebnahme der Fabrik sollte das Turiner Unternehmen 12,5 Mio. Peseten und Lizenzgebühren von 3% des Verkaufspreises eines jeden Fahrzeugs erhalten. Außerdem verpflich­ tete sich das neue Unternehmen den ausgehandelten Produktionsausstoß in­ nerhalb von sechs Jahren zu erreichen, ohne zu exportieren. Am 29. Oktober 1948 schlug Suanzes im Ministerrat vor, die neue Fabrik in Barcelona anzu­ siedeln. Die Führungskräfte des INI begründeten die Standortentscheidung mit der vorhandenen Automobil-Tradition, der Existenz eines Netzes von Zulieferbetrieben und der Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften. Außerdem gab es dort einen mit Turin gut verbundenen Freihafen. Bereits vor ihrer eigentlichen Gründung genoss SEAT die Gunst der Re­ gierung. So verordnete man Ende 1948 die Zwangsräumung der Pächter auf den Grundstücken des „Consorcio de la Zona Franca de Barcelona“, wo das neue Werk errichtet werden sollte. Im Juni 1949 beauftragte eine andere Ver­ ordnung das INI mit der Schaffung eines Gemeinschaftsunternehmens, das sich auf die Herstellung von PKW spezialisieren sollte. Dem neuen Unter­

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nehmen wurden zahlreiche steuerliche Vorteile gewährt, die mit nationalem Interesse an dem Werk begründet wurden. SEAT wurde schließlich am 9. Mai 1950 mit einem Nominalkapital von 600 Mio. Peseten, einem gezeichneten Kapital von 300 Mio. Peseten und nur 60 Mio. Peseten eingezahltem Kapital gegründet. INI wurde mit 51% des Kapitals der Mehrheitsaktionär. Daneben gab es außerdem eine Banken-Gruppe, bestehend aus den sechs größten spa­ nischen Banken mit Anteilen von jeweils 7%, unter der Führung der Banco Urquijo. FIAT übernahm die restlichen 7%. Die Produktion begann im Sommer 1953, das gewählte Modell war der SEAT 1400. SEAT-Präsident José Ortiz Echagüe verfolgte von Anfang an das strategische Ziel des INI, so viele Teile des Autos wie möglich in Spanien herzustellen. So lag Ende 1954, mit einer Gesamtproduktion von 2 500 Ein­ heiten, der Anteil der im Inland gefertigten Komponenten des Modells 1400 bei fast 60%. Im Jahr 1955 beschloss SEAT das Kapital auf 900 Mio. Peseten zu erhöhen. Im selben Jahr wurde mit FIAT eine Vereinbarung über die Pro­ duktion des neuen Kleinwagens SEAT 600 unterzeichnet. Die ersten Ein­ heiten dieses neuen Fahrzeugs wurden im Frühjahr 1957 produziert und ein Jahr später erreichte man bereits eine Quote der im Inland produzierten Komponenten von 97%. Der günstige Preis führte zu einer raschen Steige­ rung der Nachfrage. Im Jahr 1958 erreichten die Produktionszahlen einen Wert von über 20 000 Einheiten. Nie zuvor hatte ein in Spanien ansässiges Automobilunternehmen diese Schwelle überschritten: Die Fließbandferti­ gung ermöglichte die beginnende Motorisierung der spanischen Gesellschaft. Das Unternehmen FASA wurde am 29. Dezember 1951 in Valladolid (Kas­ tilien-León) gegründet. Es verfügte über ein Kapital von 60 Mio. Peseten, von denen 44 Mio. Peseten von rund hundert Investoren aus Valladolid ein­ gezahlt wurden. Den Rest des Kapitals übernahm die Sociedad Anónima ­Española de Automóviles Renault (SAEAR), eine Tochtergesellschaft des französischen Unternehmens, die sich der Vermarktung der Produkte in Spa­ nien widmete. Das FASA-Werk wurde für eine maximale Produktionskapa­ zität von 6 500 Fahrzeugen pro Jahr ausgelegt. Die treibende Kraft hinter FASA war Oberstleutnant Manuel Jiménez-Alfaro. Im Jahr 1950 war das Militär mit Renault in Kontakt getreten, das zu jener Zeit in Frankreich mit großem Erfolg das Modell 4CV produzierte. Als Ergebnis dieser Verhand­ lungen wurde am 12. Februar 1951 mit Pierre Lefaucheux, dem Präsidenten von Renault, ein Vertrag über die Produktion des 4CV in Spanien unter­ zeichnet. In den endgültigen Konditionen lehnte es Renault ab, sich finan­ ziell am Projekt zu beteiligen und überließ der SAEAR die Vermarktung des 4CV. Sobald die Einigung erzielt worden war, blieb es jedoch unvermeidbar, die notwendige Zustimmung der Regierung zur Gründung des neuen Be­ triebs einzuholen. Ein großes Problem hierbei stellte der Widerstand des INI dar, das Wettbewerbsbeschränkungen lancierte, um den „nationalen Cham­ pion“ zu unterstützen (d. h. die Position von SEAT als Branchenführer zu festigen). Um dieses Hindernis zu kompensieren, nutzte Jiménez-Alfaro

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s­ eine zahlreichen Kontakte zur Franco-Regierung; so bot er sogar Nicolás Franco, dem Bruder des Diktators, den Vorsitz der zukünftigen Gesellschaft an. Am 10. Oktober 1951 wurde schließlich die Genehmigung erteilt. In der offiziellen Verordnung stellte man den öffentlichen Verkauf des Renault 4CV unter die Bedingung, dass 50% der Komponenten in Spanien gefertigt wer­ den sollten. Einschließlich der Produktion von Kupplung, Getriebe und ­Motor sollte sich dieser Prozentsatz ein Jahr nach Beginn der Produktion auf 70%, am Ende des dritten Jahres auf 90% erhöhen. Das Ziel war es, inner­ halb von sechs Jahren eine komplette „nationale“ Fertigung zu erreichen. FASA begann die Serienherstellung im Oktober 1953 mit einem Takt von zehn Fahrzeugen pro achtstündigem Werktag. Mitte 1954 erwarb die Banco Ibérico, im Besitz der Familie Fierro, einen Anteil von 10% an FASA. Bald darauf, im Februar 1955, wurde der Tod Lefaucheuxs durch einen Autounfall zum Wendepunkt der spanisch-französischen Beziehungen. Sein Nachfolger an der Spitze von Renault wurde der bis dahin das Amt des Vize-Präsidenten inne habende Pierre Dreyfus, der eine andere Geschäftspolitik gegenüber der FASA verfolgte. Dreyfus sah die Chance, mit der Eigenproduktion in Spani­ en die Vorteile eines Marktes zu nutzen, der mit Ausnahme von FIAT, der ausländischen Konkurrenz weitgehend verschlossen war. Anfang des Jahres 1955 zog die Banco Santander durch den Erwerb eines entsprechend hohen Aktienpakets mit dem Stand der Banco Ibérico gleich und führte kurz darauf eine Erhöhung des Kapitals um 20 Mio. Peseten durch. Auf diese Weise übernahm Santander die Kontrolle über FASA, un­ terstützt von der Banco Ibérico. Beide Banken versuchten die Entwicklung von FASA mit den eigenen Industrieinteressen zu verbinden. Eduardo Ruiz de Huidobro, Repräsentant der Banco Santander und neuer starker Mann bei FASA, führte in seinem Aktionsprogramm zwei Hauptziele auf: (1) die kom­ plette inländische Komponentenproduktion des Modells 4CV innerhalb von maximal eineinhalb Jahren und (2) die Lizenzbeschaffung für die Montage des Renault Dauphine. Mit der inländischen Produktion des Motors wurde die Nueva Montaña Quijano (NMQ) beauftragt, ein Unternehmen der Eisen erzeugenden und verarbeitenden Industrie in Kantabrien, das unter dem Vor­ sitz von Huidobro stand. Die Herstellung des Getriebes wurde dem in Sevil­ la ansässigen und zum Besitz der Banco Ibérico gehörenden Unternehmen Industrias Subsidiarias de Aviación (ISA) anvertraut. Diese Kooperation wurde jedoch nie für das Modell 4CV relevant. Weder die Motoren noch die Getriebe stammten bei diesem Modell aus spanischer Produktion, denn des­ sen Serienherstellung endete am 21. November 1958, als es durch das Modell Dauphine ersetzt wurde. In den sechs Produktionsjahren hatten insgesamt 26 298 Einheiten des Modells 4CV die Fließbänder in Valladolid verlassen. Das Franco-Regime bemühte sich aktiv um eine nationale Automobilpro­ duktion. Die Politik in Bezug auf die Automobilindustrie der 1950er Jahre verband die bevorzugende Unterstützung von SEAT, das zum Unternehmen nationalen Interesses erklärt worden war, mit einer sehr zurückhaltenden

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­ olitik der Lizenzierung. Zur Förderung dieses „nationalen Champions“ P verwendete der Staat eine große Anzahl ökonomischer Hilfsmittel, unter de­ nen besonders Steuerbefreiungen, Krediterleichterungen und die direkte Ka­ pitalbeteiligung von Bedeutung waren. Hinter dieser Bevorzugung stand das vorrangige politische Anliegen der Industrialisierung des Landes. Die Verfol­ gung dieses Ziels erklärt auch die starke Einschränkung des Imports und die Unterwerfung von Investition unter Investment-Lizenzen, die individuell und nur tröpfchenweise erteilt wurden. Auf diese Weise blieb der Binnen­ markt den ansässigen Produzenten vorbehalten. Im Gegenzug waren die Un­ ternehmen dazu verpflichtet, in ihre Autos einen hohen Prozentsatz an im Inland gebauten Komponenten einzubauen. Der staatliche Einfluss auf die Automobilindustrie betraf auch die Preisge­ staltung. Vom Ende des Spanischen Bürgerkriegs bis Oktober 1966 wurden die Automobilpreise von der Oficina Oficial de Precios festgelegt, die sich allerdings an den Vorschlägen der Hersteller orientierte. Seit Oktober 1966 wurden die Preise dann nicht mehr dekretiert, sondern reguliert; d. h. die Unternehmen konnten ihre Preise nun selbst gestalten, mussten sie aber der Oficina Oficial de Precios mitteilen und eine zweimonatige Einspruchsfrist akzeptieren. Die Preise mussten nun nur noch mitgeteilt werden und konn­ ten erhoben werden, sofern nicht innerhalb von zwei Monaten von der ­Oficina Oficial de Precios widersprochen wurde. Dieses System galt bis No­ vember 1973, dann wurde ein rigides System autorisierter Preise eingeführt. Eine vollständige Preisliberalisierung erfolgte erst im Februar 1980. Als Fol­ ge dieser Preispolitik lagen in den 1950er Jahren die Verkaufspreise deutlich unter den Gleichgewichtspreisen, was zu langen Wartelisten für den Kauf von Autos führte. So war in dieser Zeit die Nachfrage immer größer als das Angebot. SEAT und FASA sahen sich also nicht mit dem Problem des Ab­ satzes ihrer Waren konfrontiert, sondern vielmehr mit einem Kapazitäts­ problem. Bis 1957 entwickelten sich die Produktionskapazitäten der beiden Unternehmen parallel. Das staatlich beherrschte Unternehmen produzierte in dieser Zeit doppelt so viele Autos wie das Privatunternehmen. Doch ab 1958, mit Beginn der Produktion des Modells 600, setzte sich SEAT zuneh­ mend von FASA ab und übernahm die Führung der spanischen Automobil­ industrie: SEAT wurde zum Massenhersteller mit mehr als 20 000 produzier­ ten Einheiten pro Jahr – eine Zahl, die FASA erst 1962 erreichte (Grafik 1). Zwischen 1959 und 1972 erlebte die spanische Automobilindustrie eine Phase spektakulären Aufschwungs mit einem durchschnittlichen Wachstum von 24% pro Jahr in der Pkw-Produktion. So wurden 1964 über 100 000 und im Jahr 1972 bereits mehr als 600 000 Autos hergestellt. Bis 1965 fiel den ­beiden Unternehmen SEAT (65% der Gesamtproduktion des Sektors) und FASA (30%) die wichtigste Rolle zu. Aufgrund dieser Kapazitätserhöhung konnte Mitte der 1960er Jahre die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage geschlossen werden. Die Produk­ tion von SEAT erhöhte sich in diesem Zeitraum um das 12-fache. Bis 1965

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Citroën Barreiros-Chrysler

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Anmerkung: In dem Schaubild wurden nur die größten Hersteller berücksichtigt, die vor 1972 ihre Produktion aufgenommen hatten. Die Produktion von SEAT umfasst Volkswagen-Modelle (ab dem Jahr 1983), die von Citroën umfasst Peugeot-Modelle (ab 1977) und die von BarreirosChrysler umfasst Modelle von Talbot (ab 1979) und Peugeot (ab 1983). Quelle: Anhang 1.

stellte das Unternehmen die Modelle 600 und 1400–1500 her; im Jahr 1966 brachte es das Modell 850 auf den Markt, 1968 das Modell 124–1430 und 1972 das Modell 127. Zwischen 1966 und 1972 produzierte SEAT mehr als 1,5 Mio. Autos. Die erfolgreichsten Produkte des Unternehmens stellten in diesem Teilzeitraum die Modelle 600 (31% der Gesamtproduktion), 850 (35%) und 124–1430 (24%) dar. Diese Prozentzahlen zeigen eine bemerkens­ werte Diversifizierung der Produktpalette. Diese günstige Entwicklung der Produktion wirkte sich jedoch nicht auf die Rentabilität aus. Die Gewinn­ spanne von SEAT war in diesen Jahren zwar positiv, sie lag aber bei unter 5% (Anhang 3), was auf lange Sicht die Möglichkeiten zur Eigenfinanzierung begrenzte. Unter den Ursachen für diese unbefriedigende Gewinnsituation sind folgende Fakten von besonderer Bedeutung: zum einen, dass die Preise der behördlichen Genehmigung unterworfen waren und zum anderen, dass das Industrieministerium eine restriktive Preispolitik verfolgte. Hinzu kam die Lizenzgebühr, die pro verkaufter Einheit an FIAT bezahlt werden muss­ te; die so entstehenden Kosten waren in den 1950er Jahren für SEAT dank einer Gewinnspanne von 15% noch finanzierbar, Mitte der 1960er Jahre je­ doch verschlechterte sich die Situation dramatisch, so dass der Jahresgewinn praktisch von den Lizenzgebühren an FIAT geschluckt wurde. Im Jahr 1967 erhöhte FIAT seinen Anteil an SEAT auf 36% des Kapitals, während das INI seinen Anteil auf einen ähnlichen Prozentsatz reduzierte.

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Die Voraussetzung für diese Anteilsverschiebung war eine Verdoppelung des Grundkapitals auf 1,8 Mrd. Peseten. Allerdings reichte diese Kapitalerhöhung nicht aus, um die Produktion des Modells 124 zu finanzieren. So sah sich das Unternehmen ein Jahr später gezwungen, Schuldverschreibungen in Höhe von 2 Mrd. Peseten zu emittieren und zusätzlich den Kreditrahmen bei ame­ rikanischen und europäischen Banken zu erhöhen. Trotz der engen Kapital­ decke kaufte man im Jahr 1969 ein Grundstück in der ­Metropolregion Barce­ lona (Martorell), um die Möglichkeit einer zukünftigen Erweiterung sicher­ zustellen. Zur Sicherung der künftigen Entwicklungschancen von SEAT akzeptierte FIAT drei Bedingungen, die SEAT als Voraussetzungen betrachte­ te: eine Exportquote von 20% der Produktion, wofür es SEAT sein Vertriebs­ netz zur Verfügung stellte; eine Reduzierung der pro Fahrzeug gezahlten Lizenz­gebühr und die Schaffung eines Entwicklungszentrums in Martorell. Diese Zugeständnisse von FIAT lassen sich durch folgende drei Faktoren ­erklären: Erstens war das Interesse von FIAT an einem Erfolg des Unter­ ehmens durch die Erhöhung der Kapitalbeteiligung deutlich gestiegen. Zwei­ tens machte die innenpolitische Situation in Italien – mit dem „heißen Herbst“ des Jahres 1969 – die spanischen SEAT-Werke als Produktionsstandort beson­ ders attraktiv. Drittens gilt es die kompromisslose Haltung der spanischen Regierung zu bedenken, den inländischen Anteil an der Produktion zu vertei­ digen. Als Ergebnis wurde SEAT, mit einer im Jahr 1970 erreichten Export­ zahl von 30 000 Einheiten, erstmals zu einem Netto-Exporteur von Autos. Hauptziel von FASA wurde, in den späten 1950er Jahren, die inländische Herstellung von Motor und Getriebe, mit der im Jahr 1956 NMQ (Motor) und ISA (Getriebe) beauftragt worden waren. Die ersten Getriebe kamen Anfang 1959 in Valladolid an. Auf die Motoren musste man bis Ende 1960 warten. Doch da NMQ nur in der Lage war, etwa 60% des Bedarfs zu lie­ fern, sah sich FASA gezwungen, weiterhin Motoren aus dem Ausland zu im­ portieren. Dieser gescheiterte Versuch einer Nationalisierung der Kompo­ nentenproduktion veränderte das Kräfteverhältnis innerhalb der FASA. Als sich Anfang 1959 zeigte, dass NMQ den Motor immer noch nicht liefern konnte, wurde Renault erstmals in den Verwaltungsrat aufgenommen. Im Jahr 1961 erwarb die Banco Ibérico mit französischer Unterstützung die sich im Besitz der Banco Santander befindlichen FASA-Aktien. Innerhalb kurzer Zeit verdreifachte sich das Aktienkapital und umfasste schließlich 120 Mio. Peseten. Im Jahr 1963 trafen die neuen Leiter von FASA die weit reichende strategische Entscheidung, die Produktion von Motor, Getriebe und Karos­ serie zu vernetzen. So wurden 1964 FAMESA (für die Motorenherstellung) und FACSA (zur Herstellung der Karosserien) gegründet. Bei diesen Firmen handelte es sich um einhundert-prozentige Töchterunternehmen der FASA, die im industriellen Komplex von Valladolid angesiedelt wurden. Darüber hinaus erwarb FASA das gesamte Kapital von ISA, das mit der Getriebepro­ duktion beauftragt war. Den für diese Entwicklung notwendigen technischen und finanziellen Aufwand konnte die Banco Ibérico allein jedoch nicht leis­

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ten. So entschied sich Renault, die Kontrolle von FASA zu übernehmen, das sich innerhalb kurzer Zeit zum Haupt-Produzenten seiner Autos außerhalb Frankreichs entwickelt hatte. Anfang 1965 erwarben die Franzosen 49,9% des Kapitals und gliederten FASA so in ihren Konzern ein. Das neue Unter­ nehmen FASA-Renault vereinigte zum ersten Mal die Produktion und das Vertriebsnetz. Seit diesem Zeitpunkt war die Finanzierung weiterer Investiti­ onen gesichert und somit eine rasante Entwicklung des Unternehmens mög­ lich. Zwischen 1959 und 1972 erhöhte FASA-Renault seine Produktion um das 16-fache und stellte insgesamt mehr als 700 000 Fahrzeuge her. Während man zunächst nur das Modell Dauphine fertigte, wurde ab dem Jahr 1964 außer­ dem das Modell R4, gefolgt von den Modellen R8 (1965), R10 (1966), R6 (1969), R12 (1970) und R5 (1972) auf den Markt gebracht. Im Jahr 1972 be­ trug die jährliche Produktion knapp 140 000 Einheiten, von denen die Mo­ delle R8 und R12 jeweils 27%, und die Modelle R4 und R6 jeweils 22% aus­ machten. Die Erweiterung der Produktpalette wurde durch eine Ausweitung des Vertriebsnetzes begleitet, was sich als Erfolgsstrategie herausstellte. So verdoppelten sich zwischen 1965 und 1972 die Verkaufsstellen und Vertrags­ werkstätten auf 604 Standorte. In der Entwicklung zunehmenden Wettbe­ werbs stiegen die Marktanteile von FASA-Renault in Spanien zwischen den Jahren 1969 und 1972 von 19% auf 24% (Anhang 2). Da jedoch die Ver­ kaufspreise durch die Regierung eingefroren wurden – während gleichzeitig die Produktionskosten und Gehälter anstiegen – sanken die Gewinnspannen sowohl bei Seat als auch bei FASA aber während dieser Zeit (Anhang 3). Da die FASA eine sehr hohe Gewinnmarge besaß, konnte es diese Einbußen ver­ kraften. Der Großteil der Investitionen war für den Aufbau einer zweiten Montagefabrik in Valladolid sowie für die Modernisierung der Motoren- und Getriebeherstellung durch die Installation zweier Transferstraßen bestimmt. Die modernisierte Motorenproduktion sollte im Jahr 1971 mit einer täg­ lichen Kapazität von 1 500 Einheiten in Betrieb genommen werden und ein Gesamtexportvolumen von 800 000 Einheiten im Zeitraum zwischen 1971 und 1976 ermöglichen. Der Export von Komponenten verbesserte die Wett­ bewerbsfähigkeit von FASA-Renault weiter. Die Exportzahlen von komplet­ ten Fahrzeugen stiegen erst im Jahr 1971 an, als Renault sich für den Kauf von täglich 50 Einheiten des Modells R4 entschied und diese nach Frankreich importierte. Das nach Produktionsvolumen dritterfolgreichste Unternehmen war zu dieser Zeit Barreiros Diesel SA (Barreiros), ein Familienunternehmen, das 1954 auf Initiative des Galiciers Eduardo Barreiros zur Herstellung von ­Diesel-Motoren und Nutzfahrzeugen in Villaverde (Madrid) gegründet wor­ den war.9 Im Jahr 1957 wurde die Banco de Vizcaya Minderheitsaktionär des 9 

Ciuró, “Historia”, S. 372–381. Gimeno: “Automóvil”, S. 478–479. José Luis García Ruiz/ Manuel Santos Redondo: ¡Es un motor español! Historia empresarial de Barrei-

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Unter­nehmens und stellte bis 1967 die wichtigste Finanzierungsquelle dar. 1958 betrug das Aktienkapital 200 Mio. Peseten, wobei ein Teil für die Grün­ dung von Tochtergesellschaften zur Komponentenherstellung verwendet wur­ de. Eine Krise, die durch eine kostspielige Verkaufsförderung im Jahr 1962 heraufbeschworen worden war, lieferte das Unternehmen dem amerikanischen Hersteller Chrysler aus. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Unternehmen über 45 000 Motoren, 9 000 Lastwagen und ebenso viele Traktoren hergestellt. Der Pkw-Produktion hatte es sich jedoch nie gewidmet. Die Vereinbarung mit Chrysler über die Herstellung und den Verkauf von Kraftfahrzeugen wurde im Dezember 1963, durch den Verkauf von 40% des Grundkapitals des Un­ ternehmens Barreiros, geschlossen. Sie sah vor, dass in Villaverde die Modelle Dodge Dart (Luxusklasse) und Simca 1000 (Mittelklasse) produziert werden sollten. Die Pläne von Barreiros und Chrysler stellten sich jedoch als allzu optimistisch heraus. Die anfänglich vorgesehenen Verkaufszahlen von 21 000 Dodge Darts und 62 000 Simca 1000 für das Jahr 1966 wurden mit tatsächlich 6 000 bzw. 35 000 verkauften Modellen verfehlt. Der Einstieg der Amerikaner kam zu einem Zeitpunkt, als sich der spanische Markt im Übergang von der Angebots- zur Nachfrageorientierung befand. Unter diesen verschärften Wett­ bewerbsbedingungen stellten sich die Unternehmen FASA-Renault und be­ sonders SEAT, mit ihren höheren Produktionsraten und dem größeren Er­ fahrungsschatz, als deutlich wettbewerbsfähiger heraus. Das Hauptproblem von Barreiros war sein geringer Umsatz. Die allzu op­ timistischen Prognosen brachten ernste finanzielle Schwierigkeiten mit sich. Im Oktober 1966 bekam das Unternehmen, dank der Vermittlung durch Chrysler, von der Londoner Privatbank S.G. Warburg & Co. einen kurzfris­ tigen Kredit über 10 Mio. Dollar bewilligt. Doch Mitte 1967 kam Chrysler zu der Einschätzung, dass man zusätzliche 35 Mio. Dollar brauchte, um die notwendigen Investitionen in Produktion und Vertrieb realisieren zu kön­ nen. Die Amerikaner sahen sich folglich zur Übernahme der Unternehmens­ leitung gezwungen. Ende 1967 übernahm Chrysler 77,2% des Grundkapitals des Unternehmens Barreiros und führte zwei Jahre später eine Kapitalerhö­ hung in Höhe von 2,7 Mrd. Peseten durch, wobei das Kapital sofort einzu­ zahlen war. Diese Forderung erschwerte es der Familie Barreiros ihren Anteil an dem Unternehmen zu halten. Weil der galicische Geschäftsmann keine Chance hatte, sich dieser Entscheidung zu widersetzen, entschloss er sich seine Beteiligung an der Gesellschaft, die seinen Namen trug, zu beenden. Im Jahr 1969 erhöhte Chrysler seinen Anteil auf 86% des Aktienkapitals und im Jahr 1972 dann sogar auf 98%. Das Unternehmen, das seit 1967 Verluste er­ wirtschaftet hatte, konnte sich erst im Jahr 1972 wieder erholen. In der Zwi­ schenzeit war aus „Barreiros Diesel“ „Chrysler España“ geworden.

ros, (Síntesis), Madrid 2001, S. 63–212. Hugh Thomas, Barreiros. El motor español, (Planeta), Barcelona 2007, S. 1–336.

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Mitte der 1950er Jahre begann sich auch Citroën für Spanien als Standort einer neuen Produktionsstätte zu interessieren.10 Im August 1955 bat Pedro González Bueno das Industrieministerium um die Zustimmung zum Bau ei­ ner Produktionsanlage für das Auto Citroën 2CV. Die Regierung genehmigte diese Einrichtung im Frühjahr 1956, verlangte jedoch eine inländische Pro­ duktionsquote von mindestens 60% innerhalb der ersten vier Jahre und ­beschränkte die jährliche Anzahl an Fahrzeugen, die Citroën frei auf dem spanischen Markt verkaufen konnte, auf 10 000 Einheiten. Darüber hinaus produzierte Fahrzeuge sollten exportiert werden. Entsprechend umfasste die Citroën-Lizenz, neben der Bereitstellung der Marktrechte, der Patente, der Herstellungsverfahren und der technischen Unterstützung, auch den Export von Fahrzeugen und Teilen. Entgegen der üblichen Praxis berechtigte der Ministerrat das Mutterunternehmen zu einer Beteiligung von 45% am Kapi­ tal des Citroën Hispania, sofern das Kapital des Tochterunternehmens min­ destens 100 Mio. Peseten erreichte (das Doppelte der Erstinvestition) und 80% für Anlageinvestitionen angewendet würden. Im September 1956 gab Citroën bekannt, dass sich das zukünftige Unternehmen Citroën Hispania in der Freizone des Hafens von Vigo (Pontevedra) ansiedeln würde. Die ersten Autos wurden hier 1961 produziert, und noch vor Ende des Jahres 1965 überschritt man eine jährliche Produktion von 10 000 Einheiten. Der Bin­ nenmarkt stellte für Citroën Hispania bis weit in die 1970er Jahre hinein den größten und fast den einzigen Markt dar. Zwischen 1961 und 1972 produ­ zierte das Unternehmen rund 225 000 Autos. Ende 1964 unterzeichnete das Unternehmen NMQ mit dem Fahrzeugher­ steller British Motor Corporation (BMC) eine Vereinbarung über die Lizenz­ vergabe für die Herstellung der Pkw-Modelle Morris und Mini.11 Ziel war es, möglichst schnell eine Produktion von jährlich 85 000 Fahrzeugen zu er­ reichen. Zu diesem Zweck wurde die Firma Automóviles de Turismo Hispano Ingleses SA (AUTHI) gegründet. BMC verzichtete darauf, sich bei diesem Unternehmen finanziell zu beteiligen. Durch dieses Vorgehen versuchte Ruiz de Huidobro, ehemaliger Vizepräsident und Geschäftsführer von FASA, dem Unternehmen NMQ nach dem Scheitern bei FASA Arbeit zu beschaffen. Die Fabrik von AUTHI wurde in Landaben bei Pamplona (Navarra) errich­ tet, nachdem die Provinzregierung bestimmte Anreize, wie Steuererleichte­ rungen und die Überlassung von Grundstücken, zugesagt hatte. Die indus­ 10 

Gimeno: “Automóvil”, S. 417–420. Lebrancón: “Recinto”, S. 269–389. Sánchez: “Renault y Citroën”, S. 307–328. Xoán Carmona/ Jordi Nadal: El empeño industrial de Galicia, (Fundación Pedro Barrié de la Maza), 2005, S. 331–349. Jordi Nadal / Xoán Carmona: Galicia Industrial (c. 1750–2005), (Fundación Pedro Barrié de la Maza), 2005, S. 113–134. 11  Gimeno: “Automóvil”, S. 421–422. Pablo Gimeno / Ramón Roca: Authi y los Minis españoles, (Dossat), Madrid 1997, S. 32–52. Joseba De la Torre: Industria del automóvil y desarrollo económico regional: la experiencia de Navarra (1955–1980), in: Investigaciones de Historia Económica, 9 (2007), S. 109–140.

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trielle Produktion begann hier im April 1967 mit der Serienfertigung von täglich 450 Autos. Vom ersten Tag an sah sich AUTHI mit einer beachtlichen Einschränkung der Produktionskapazitäten konfrontiert, wahrscheinlich auf­grund eines dürftigen Anfangskapitals von 20 Mio. Peseten. Das geringe Volumen der Serienproduktion – in den ersten drei Jahren der Tätigkeit wur­ den durchschnittlich 18 000 Fahrzeuge pro Jahr hergestellt – machte das Un­ ternehmen wenig wettbewerbsfähig und erschwerte es, die Marktanteile zu steigern; es erreichte seinen Höchststand im Jahr 1968 mit mageren 6,7%. Deshalb befand sich das Unternehmen 1969 in einer unhaltbaren Situation. Huidobro, der bereits unfähig gewesen war, das Projekt der FASA voran zu bringen, scheiterte erneut und sah sich gezwungen, dem britischen Automo­ bilhersteller British Leyland Motor Corporation (BLMC), der zwischenzeit­ lich BMC übernommen hatte, den Eintritt in das Projekt zu erleichtern. Im Jahr 1970 übernahm BLMC, durch den Erwerb von 50% der NMQ, das Management des Unternehmens AUTHI. Im Juni desselben Jahres er­ weiterte AUTHI sein Kapital um 1,387 Mrd. Peseten, von denen NMQ die Hälfte in Form von Sachanlagen (das Motorenwerk in Corrales de Buelna) sowie 229 Mio. Peseten und BLMC den Rest beitrugen. Einen Monat später gab das Unternehmen Anleihen in Höhe von 1,5 Mrd. Peseten aus. Obwohl das Produktionsvolumen zwischen 1970 und 1973 auf einen Spitzenwert von 40 000 Einheiten anstieg, gelang es auch dem neuen Besitzer nicht, AUTHI in ein wettbewerbsfähiges Unternehmen zu verwandeln. BLMC unternahm einen letzten Versuch, das Unternehmen mit Hilfe einer Kapitalerhöhung in Höhe von 2,259 Mrd. Peseten in die Gewinnzone zu bringen. Tatsächlich hatte das Unternehmen allerdings in all den Jahren seiner Tätigkeit hohe Ver­ luste erlitten, und es machte nicht den Anschein, dass sich daran mittelfristig etwas ändern würde. Ende des Jahres 1974 entsprachen die Verluste etwa 70% des Unternehmensvermögens. Daraufhin stellte AUTHI im Februar 1975 die Zahlungen ein und wurde wenige Monate später von SEAT über­ nommen.12 Während seiner aktiven Jahre hatte AUTHI nie mehr als 7% zur spanischen Autoproduktion beigesteuert. Dieser niedrige Wert basierte zum einen auf zu hohen Produktionskosten; zum anderen wurde er durch den spanischen Teilhaber, der seine Unfähigkeit bereits zuvor bei einem anderen Unternehmen der Branche unter Beweis gestellt hatte sowie auch durch den ausländischen Partner, BLMC, der seinerseits auf dem Heimatmarkt um das Überleben kämpfte, verursacht. Häufiger wurde die These vertreten, dass AUTHI versucht habe, auf dem spanischen Markt technisch überholte Mo­ delle zu platzieren, deren Lebenszyklus bereits erschöpft war. Entscheidend war jedoch sicherlich, dass die Autos viel teurer waren als ihre direkten Kon­ kurrenten. 12  Jordi Catalan: La primera crisis de SEAT: el veto a General Motors y la compra de AUTHI a British Leyland (1972–1976), in: Investigaciones de Historia Económica 9 (2007a), S. 141–172.

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Der Schlüssel für den Start der spanischen Automobilindustrie lag in der erfolgreichen Umsetzung einer strategischen Entwicklungspolitik. Das Ziel dieser Politik war der Vorbehalt des Binnenmarktes für die heimischen Pro­ duzenten.13 Bis Mitte der 1960er Jahre lag die Nachfrage weit über den Pro­ duktionskapazitäten der ansässigen Unternehmen, also hauptsächlich SEAT und FASA. Im Gegenzug zum Marktvorbehalt wurden die Automobilher­ steller verpflichtet, einen hohen Prozentsatz an im Inland hergestellten Kom­ ponenten zu integrieren. Dies ermöglichte es, die wichtigen Spillover-Effekte innerhalb der Branche auszunutzen. Der Vorteil, der sich durch den Markt­ vorbehalt ergab, wurde allerdings durch die rigide Preispolitik des Staates kompensiert, die zu einer kontinuierlichen Absenkung der realen Kfz-Preise führte. Obwohl man Citroën, Chrysler und British Leyland den Zutritt zum spanischen Markt gewährte, hatten diese Projekte nur ein begrenztes Poten­ tial. Im Jahr 1963 wurde für die Autoproduktion ein Minimum von 70 000 Einheiten pro Jahr festgelegt, welche im Dezember 1965 auf 250 000 erhöht wurde. Damit war der Zutritt zum spanischen Markt für Volkswagen, wel­ ches durch den Nutzfahrzeughersteller Industrias del Motor, SA (IMOSA; mit Sitz in Vitoria-Gasteiz) die Erlaubnis beantragt hatte, jährlich 125 000 Einheiten des Käfers zu produzieren, de facto blockiert. Im Juli 1964 wurde diese Politik noch verschärft, indem auf dem Verordnungswege festgelegt wurde, dass die in Spanien hergestellten Autos zu mindestens 90% aus inlän­ dischen Komponenten bestehen mussten. Die Autoren des hier vorliegenden Beitrags halten die erfolgreiche Anwendung dieser Industriepolitik für den entscheidenden Faktor im Entwicklungsprozess der spanischen Automobil­ industrie zwischen 1953 und 1972. Obwohl man diese Politik während des gesamten Zeitraums beibehielt, gab es Mitte der 1960er Jahre eine Veränderung der Marktbedingungen. Zu­ nächst schloss sich die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage. Darüber hinaus erhöhte sich die Zahl der Konkurrenten. Dennoch kontrollierte SEAT am Ende dieses Zeitraums die Hälfte und FASA-Renault ein Viertel des spa­ nischen Marktes (Anhang 2). Aufgrund der hohen und unerfüllten Nachfra­ ge nach Pkw, die sich bis in die 1960er Jahre aufgestaut hatte, erwartete man, 13  Simon Reich: The Fruits of Fascism, (Cornell U. P.), Ithaca 1990, S. 107–327. HaJoon Chang: The political economy of industrial policy in Korea, in: Cambridge Journal of Economics 17 (1993) S. 131–157. Rhys Jenkins: The political economy of indus­ trial policy: automobile manufacture in the newly industrialising countries, in: Cambridge Journal of Economics 19 (1995), S. 625–645. Catalan: “Creación”, S. 113–155. Ha-Joon Chang: Kicking away the ladder. Development strategy in historical perspective, (Wimbeldon), London 2002, S. 49–133. Fernandez-de-Sevilla: “FASA”, S. 115– 144. Mario Cimoli / Joseph E. Stiglitz / Giovanni Dosi (Hrsg.): Industrial Policy and Development, (Oxford U. P.), Oxford 2009, S. 1–174. Jordi Catalan: Strategic policy revisited: The origins of mass production in the motor industry of Argentina, Korea and Spain, 1945–87, in: Business History, 52(2) (2010), S. 207–230. Tomàs Fernándezde-Sevilla: Renault in Spain: From assembly to manufacture, 1961–72, in: Business History, 52(3) (2010b), S. 471–492.

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dass die Aufnahmekapazität des spanischen Marktes praktisch unbegrenzt sei. Aber sobald der Nachholbedarf befriedigt war, musste man feststellten, dass die Nachfrage die gesamte, zügig aufgebaute Produktionskapazität der Branche nicht absorbieren konnte. In dieser Situation mussten die Unterneh­ men beginnen, Strategien zu entwickeln, die auf den Ausbau des Vertriebs­ netzes und eine Diversifizierung des Sortimentes zielten. Zwischen 1963 und 1967 erhöhte SEAT sein Vertriebsnetz von 300 000 m² auf 650 000 m²; FASARenault erweiterte das seine zwischen 1967 und 1972 von 400 000 m² auf 925 000 m². Im Jahr 1972 produzierte SEAT fünf Grundmodelle und bereite­ te die Markteinführung eines neuen Kleinwagens mit Frontantrieb vor: das Modell 127. Für FASA-Renault waren die Aussichten ebenfalls günstig. Im Jahr 1969 hatte man mit dem Modell R12 einen erfolgreichen Mittelklasse­ wagen in den Markt eingeführt und im Jahr 1972 präsentierte das Unter­ nehmen einen weiteren künftig erfolgreichen Kleinwagen, das Modell R5. Zur Produktpalette des Unternehmens zählten außerdem drei weitere Basis­ modelle.

Die Öffnung des Binnenmarktes und die politische ­Transition in Spanien 1972–1985 Die Industriepolitik ab 1972 bis zum Eintritt Spaniens in die EWG im Jahr 1986 unterschied sich stark von der Politik der zwei vorangegangen Jahr­ zehnte. Die Unterzeichnung des Präferenzabkommens zwischen Spanien und der EWG im Jahr 1970 bedeutete eine Senkung der Zölle auf spanische Pkw-Exporte in den Ländern der Gemeinschaft auf 3,3% im Jahr 1974. Nach dieser Einigung sahen die Automobilhersteller Ford und General Motors (GM) in Spanien eine interessante Plattform für die Produktion von Mittel­ klasse-Modellen im europäischen Markt. Das Interesse der amerikanischen Konzerne führte dazu, dass sich die Re­ gierung in Bezug auf diesen Sektor neu orientierte, was sich besonders in der Bewilligung der „Ford-Dekrete“ ausdrückte.14 Das erste Dekret vom 30. No­ vember 1972 senkte für die neuen Hersteller die Mindestforderung an in Spa­ nien hergestellten Komponenten von 90% auf 50%, führte eine Untergrenze für Investitionen von 10 Mrd. Peseten ein, verpflichtete zu einem Export von mindestens zwei Dritteln der Produktion und begrenzte die Verkäufe auf dem Binnenmarkt um 10% des Vorjahresvolumens. Hingegen wurde für die bereits ansässigen Hersteller der zwingend vorgeschriebene Verwendungsan­ 14 

Catalan: “Creación”, S. 137–150. García Ruiz: “Evolución”, S. 147–152. Carreras / Estapé-Triay: “Spanish”, S. 123–150. Miguel Pérez Sanchó: La industria del automóvil en la Comunidad Valenciana: el caso de Ford España in: José Luis García Ruiz (Hrsg.): Sobre ruedas. Una historia crítica de la industria del automóvil en España, (Síntesis), Madrid (2003) S. 127–166. Tolliday: “Origins”, S. 208–228. Catalan: “Strategic”, S. 218– 226.

Die staatliche Industriepolitik in Spanien

271

teil an in Spanien produzierten Komponenten direkt an das Exportvolumen dieser Unternehmen gekoppelt (wurde mehr exportiert, durften auch ver­ stärkt im Ausland produzierter Komponenten verwendet werden). Bei den für den heimischen Markt bestimmten Einheiten, die den Großteil der Pro­ duktion ausmachten, wurde der zuvor festgelegte Prozentsatz beibehalten. Die zweite Verordnung vom 23. Dezember 1972 ermöglichte den Auto­ mobilherstellern bestimmte Sonderrechte, wie die Erlaubnis Land zu enteig­ nen, Steuererleichterungen und die Abschreibungsmöglichkeit von Anlagen innerhalb von fünf Jahren. Im Gegenzug musste eine Produktion von 500 Einheiten pro Werktag bis zum Jahr 1976, Anlageinvestitionen in Höhe von mindestens 7 Mrd. Peseten und ein Exportanteil von mindestens 20% er­ reicht werden. Diese Politik wurde im Jahr 1979 mit der Verkündung des „Opel-Dekrets“ bekräftigt, welches für die neu niedergelassenen Konstrukteure einen Pro­ zentsatz an inländisch hergestellten Komponenten von 55%, eine Mindest­ produktion von 600 Fahrzeugen pro Tag und eine Exportquote von 65% festlegte. Für die bereits ansässigen Hersteller reduzierte man nun im Gegen­ zug den Mindestanteil an inländischen Komponenten von mindestens 90% auf 60%. Trotz der Folgen des Ölpreisschocks steigerte die spanische Automobilin­ dustrie zwischen 1972 und 1980 ihre Pkw-Produktion von 600 000 auf eine Mio. Einheiten. Die Industrie kompensierte den Nachfragerückgang auf dem Binnenmarkt durch eine starke Exportsteigerung. Dieser Produktionssteige­ rungsanstieg wurde besonders durch eine Output-Erhöhung bei FASA-Ren­ ault und durch den Eintritt von Ford in den spanischen Markt ermöglicht. FASA-Renault erhöhte seine Jahresproduktion um fast 200 000 Einheiten und positionierte sich so im Jahr 1980 mit 33% der Gesamtproduktion der Branche erstmals als größter spanischer Automobilhersteller. Die Produk­ tionszahlen von Ford betrugen zwischen 1977 und 1980 jährlich rund 250 000 Einheiten, was 25% des gesamten Sektors ausmachte. Der Erfolg dieser bei­ den Unternehmen basierte auf zwei Modellen: dem R5 und dem Ford Fiesta. Als Vorbild für letzteres Fahrzeug diente das in den 1970er Jahren hergestell­ te Erfolgsprodukt SEAT 127. SEAT blieb bis 1979 größter Fabrikant auf dem spanischen Markt, obwohl das maximale Produktionsvolumen von 361 272 Einheiten bereits im Jahr 1974 erreicht wurde (Grafik 1).15 Der Anteil an der gesamtspanischen Pro­ duktion erlebte einen anhaltenden Rückgang von 55% im Jahr 1972 auf 28% im Jahr 1980. Die Hauptursache für diesen Rückgang bei SEAT war der Ford Fiesta, der dem damaligen Hauptprodukt aus Barcelona, dem Modell 127, zu 15 

Solé: “SEAT”, S. 59–97. Catalan: “Creación”, S. 137–150. Catalan: “SEAT entre l’INI”, S. 27–36. Eulàlia Solé: De la independència a la unió amb Volkswagen 1980–1990, in: L’Avenç. Revista d’Història i Cultura 285 (2003), S. 37–43. Catalan: “Primera”, S. 141– 172. Tappi: “Impresa”, S. 135–164.

Jordi Catalan / Tomàs Fernández-de-Sevilla

Grafik 2: Zulassungen der größten Hersteller in Spanien, 1961–85 (Anteil in % an ­ esamtzulassungen) G 60 SEAT SEAT

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große Konkurrenz machte. Darüber hinaus ließen sich die Verluste von SEAT auf die Schwierigkeiten von FIAT auf den internationalen Märkten und den mangelnden Erfolg der größeren Modelle zurückführen. Die Unter­ nehmen Citroën/Peugeot in Vigo mit mehr als 100 000 Einheiten im Jahr 1976 und Chrysler/Talbot in Madrid mit einem Maximum von 99 000 Ein­ heiten im Jahr 1978 vervollständigten die spanische Automobilproduktion. Auch in Bezug auf den Verkauf innerhalb Spaniens war SEAT bis 1979 Marktführer, obwohl der Anteil von 53% im Jahr 1972 auf 30% im Jahr 1979 sank. FASA-Renault erreichte im Jahr 1980 mit einem Anteil von 35% die Führung (Grafik 2). Während der ersten Hälfte der 1980er Jahre bis zum Beitritt Spaniens zur EWG erhöhte die spanische Automobilindustrie ihre Pkw-Produktion von 1,1 auf 1,4 Mio. Einheiten. Dieser Produktionszuwachs wurde durch die Niederlassung von Opel in Spanien und den Aufwärtstrend von SEAT er­ möglicht. Im Jahr 1986 produzierten beide Unternehmen mehr als 300 000 Einheiten, wobei ihr Angebot hauptsächlich auf Modellen der unteren Mit­ telklasse basierte: dem Opel Corsa und dem SEAT Ibiza – beides Automobi­ le, die auf dem Markt eine überragende Nachfrage erfuhren. Der spanische Pkw-Markt erreichte mit insgesamt 506 000 Erstzulassun­ gen im Jahr 1981 seinen Tiefpunkt, die gleiche Anzahl wie im Jahr 1972 (An­ hang 2). Doch im Jahr 1986 hatten die Erstzulassungen, mit einem Anstieg auf 689 000 registrierte Einheiten, die Krise schließlich überwunden und er­ lebten einen neuen Rekordwert. Auch wenn die Erholung der Binnennach­ frage es SEAT ermöglichte mit dem Modell Ibiza seine Erträge zu erhöhen, 19

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Quelle: Anhang 2.

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273

spielten auch die Exporte eine mindestens genauso entscheidende Rolle und machten im Jahr 1986 schließlich 55% des Gesamtumsatzes aus. Dieser Ex­ porttrend war im Fall von Ford und Opel sogar noch stärker ausgeprägt. Im Gegensatz dazu sah sich FASA-Renault mit einem Rückgang seiner Export­ fähigkeit konfrontiert, was sich auf eine schwere Krise der französischen Muttergesellschaft in den 1980er Jahren zurückführen lässt. Trotz der Erho­ lung der Binnennachfrage lässt sich daher der Erfolg des Automobilsektors innerhalb des genannten Jahrfünfts in erster Linie auf die starke Exportorien­ tierung, die sich durch den Eintritt Spaniens in die EWG erhöhte, zurückzu­ führen. Im Jahr 1970 hatte SEAT geplant, in Martorell (Barcelona) eine zweite ­Fabrik mit einer Jahreskapazität von mehr als 250 000 Fahrzeugen zu er­ richten.16 Allerdings wurde dieses Projekt vom Ministerium für Industrie und INI gestoppt. Von Seiten des Ministeriums schlug man SEAT die Mög­ lichkeit einer Fusionierung mit schlecht aufgestellten Unternehmen wie Cit­ roën, AUTHI oder Chrysler vor. Im April 1973 trat die Regierung in Kon­ takt mit GM und schlug den Erwerb des in die Krise geratenen Unterneh­ mens AUTHI vor. SEAT stellte sich gegen den Eintritt von GM in den spanischen Markt und zeigte sich bereit, AUTHI unter vier Bedingungen zu erwerben: ein realistischer Preis für die Anlagen, Unterstützung aus öffentli­ chen Mitteln, Gewissheit über das endgültige Verbot eines Eintritts von GM in den spanischen Markt und die Möglichkeit, die Anlagen anderweitig zu nutzen.17 AUTHI hatte drei Tätigkeitsbereiche: der Bau von Fahrzeugen in Landaben (Navarra), die Herstellung von Motoren in Los Corrales de Buel­ na (Cantabria), und die Produktion von Sitzen in Santpedor (Barcelona). Im Jahr 1969 hatte sich FIAT noch fest gegen den Erwerb von AUTHI gestellt. Das Unternehmen weigerte sich jetzt weiterhin, die Fabrik in Cantabria zu kaufen, aber akzeptierte den Erwerb der Fabrik in Landaben, weil es damit verhinderte, dass GM in Spanien Fuß fassen konnte. Im März 1975 ließ SEAT BLMC ein Festangebot zukommen: 1,1 Mrd. Peseten für Landaben und 150 Mio. Peseten für Santpedor. SEAT setzte zwei der vier festgelegten Bedin­ gungen durch: der vorgeschlagene Preis und die Zusage der öffentlichen ­Finanzierung für den Großteil der Investition. Allerdings erhielt das Unter­ nehmen nicht die Befugnis, das Werk in Landaben neu auszurichten und be­ fand sich so in einer belastenden Situation deutlicher Überkapazitäten und außer Kontrolle geratener Arbeitskosten, die zwischen 1969 und 1974 von 15% auf 27% der Gesamtkosten gestiegen waren. Zudem gelang es SEAT zwar zunächst den Eintritt von GM in den spanischen Markt zu verhindern, doch dieser Erfolg war nicht von Dauer. Der Kauf von AUTHI hätte ein gutes Geschäft in einer Zeit steigender Nachfrage sein können. Doch Mitte 1975 zeigte sich die Konjunktur deutlich 16  17 

Catalan: “SEAT del Desarrollo”, S. 160–183. Catalan: “Primera”, S. 141–172.

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Grafik 3: Umsatzrendite der wichtigsten Hersteller, 1953–85 (Gewinn/Umsatz in %) 50 FASA

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Quelle: Anhang 3.

rezessiv und SEAT hatte nunmehr mit unübersehbaren Überkapazitäten zu kämpfen. Das Jahr 1976 wurde erstmals mit einem Verlust abgeschlossen, Gewinne wurden erst 1988 wieder erzielt (Abbildung 3). Demzufolge FIAT als Teilhaber den Entschluss SEATs, die Fabrik in Landaben zu kaufen, in erster Linie akzeptiert, um GM vom spanischen Markt fern zu halten. Die italienische Führung bei SEAT wurde im Jahr 1978 bekräftigt, als auf­ grund der außer Kontrolle geratenen Verluste bei SEAT das INI der FIAT eine vollständige Übernahme des Unternehmens vorschlug.18 FIAT und die Holdinggesellschaft unterzeichneten im Juni 1979 eine erste Vereinbarung, in der sie sich verpflichteten, einen Umstrukturierungsplan sowie eine vollstän­ dige Integration von SEAT in die FIAT Gruppe voranzutreiben. Für die Ita­ liener sollten sich hierdurch kurzfristig drei Probleme lösen: die Aufhebung behördlicher Eingriffe in die Preisgestaltung der Autos, eine Flexibilisierung der Beschäftigung entsprechend den Veränderungen in der Nachfrage und eine Gesundung der Finanzlage. Trotzdem lagen die ausgewiesenen Verluste von SEAT im Jahr 1979 bei 15 Mrd. Peseten. Im selben Jahr verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Niederlassung von Opel in Spanien erlaub­ te. Das Ausmaß der Verluste und die Unzuverlässigkeit der Regierung ver­ 18 

Seidler, “Ole”, S. 19–37. Solé, “SEAT”, S. 59–88. Catalan: “SEAT entre l’INI”, S. 27– 36. González de la Fe, Pedro: SEAT en la encrucijada, (1972–2002), in: José Luis García Ruiz (Hrsg.): Sobre ruedas. Una historia crítica de la industria del automóvil en España, (Síntesis), Madrid 2003, S. 95–126. Tappi: “Impresa”, S. 135–164.

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anlassten FIAT daraufhin, auf eine Kapitalerhöhung zu verzichten, die ihren Einfluss auf SEAT gefestigt hätte. Im Mai 1981 überließ FIAT der INI schließlich alle seine Anteile an dem spanischen Unternehmen. In den 1970er Jahren musste FASA-Renault zwei große Probleme in An­ griff nehmen, die zum Umsatzverlust auf dem heimischen Markt und dem Markteintritt von Ford hinzukamen: Preiskontrolle und Arbeitskämpfe.19 Die Strategie des Unternehmens war es, die industrielle Kapazität zu steigern, um durch bessere Nutzung des Skaleneffekts an Wettbewerbsfähigkeit zu gewin­ nen, durch einen umfassenden Ausbau des Vertriebsnetzes die Durchdringung des spanischen Marktes zu intensivieren, und die begrenzte Inlandsnachfrage durch eine Exportoffensive zu kompensieren. Mitten in einem stark inflatio­ nären Kontext bereitete das System der autorisierten Preise wahres Kopfzer­ brechen. Die Niedrigpreispolitik für Autos verhinderte es, dass Kostensteige­ rungen weitergegeben werden konnten. Verschärft wurde diese Situation auch durch die sozialen und arbeitsmarktpolitischen Konflikte, die zwischen Sep­ tember 1974 und Januar 1976 besonders virulent waren. Allein in dieser Zeit wurden vier große Streiks geführt. Zwischen 1970 und 1978 stieg die Lohn­ summe von 17% auf 28% der Gesamtkosten. Das Ergebnis war eine Verrin­ gerung der Unternehmensgewinne und eine daraus resultierende Abnahme der Fähigkeit zur Eigenfinanzierung von Anlageinvestitionen und des Aus­ baus des Vertriebsnetzes. FASA-Renault schloss den Dreijahreszeitraum 1974 bis 1976 mit Verlusten. Die Gewinne stellten sich erst nach Ende der Arbeits­ kämpfe und nach der Einführung freier Preisgestaltung in der Branche zwi­ schen Dezember 1976 und Oktober 1977 wieder ein. Und obschon die Preis­ liberalisierung nicht einmal ein Jahr lang andauerte, schloss das Unternehmen bereits ab 1977 mit schwarzen Zahlen ab (Grafik 3). Arbeitskonflikte, die Erlös-Kosten-Lücke und die induzierten Finanzie­ rungsprobleme betrafen auch das Investitionsprogramm von FASA-Renault erheblich. Das Unternehmen hatte das Jahrzehnt mit starken Investitionsplä­ nen begonnen, wie beispielsweise die zweite Montagefabrik in Valladolid und das Projekt einer dritten, 30 km entfernten Fabrik in Palencia. Die Inbetrieb­ nahme von Valladolid II konnte den täglichen Produktionstakt von 380 Ein­ heiten im Jahr 1970 auf 910 Einheiten im Jahr 1975 erhöhen. Doch ab 1974 verzögerten sich diese Projekte, was zu einer Stagnation der Produktions­ kapazität führte, die drei Jahre lang andauern sollte und erst durch die Inbe­ triebnahme des Werks in Palencia überwunden wurde. Die neue Anlage er­ möglichte ab 1978 eine Produktion von täglich mehr als 1 000 Einheiten und verbesserte dadurch die Versorgung des inländischen Marktes und die Ex­ portzahlen. 19  Charron: “FASA-Renault: Un caso”, S. 50–53. Charron: “FASA Renault: Innovation”, S. 256–275. Tomàs Fernández-de-Sevilla: Responses to a Crisis: FASA-Renault in Spain During the 1970s, in: Documents de Treball de la Facultat d’Economia i Empresa E11/261 2011, S. 13–24.

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Jordi Catalan / Tomàs Fernández-de-Sevilla

FASA-Renault versuchte durch eine kontinuierliche Expansion seines Ver­ triebsnetzes einen größeren Anteil auf dem spanischen Markt zu gewinnen: Zwischen 1972 und 1980 vergrößerte sich das Unternehmen von 600 auf 1 200 Verkaufsstellen. Durch diese Politik konnte das Unternehmen im Jahr 1980 35% des spanischen Marktes gewinnen. Darüber hinaus glich FASARenault die zurückgehenden Verkaufszahlen auf dem Binnenmarkt mit ei­ nem starken Anstieg der Exporte aus, die von 10 000 Einheiten im Jahr 1972 auf 125 000 Einheiten im Jahr 1980 stiegen. Dank der vollständigen Integra­ tion des Unternehmens FASA-Renault in die Renault-Gruppe war das Ziel der Auslandsverkäufe vor allem Frankreich. Der Umsatz von FASA-Renault, sowohl auf dem spanischen als auch auf den ausländischen Märkten, beruhte auf dem Erfolg des Modells R5, das für die Bedürfnisse in einem sich in der Krise befindenden Europa das passende Auto war. Die Rückkehr Fords nach Spanien ermöglichte dem Unternehmen den Zugang zu dem einzigen großen europäischen Markt, auf dem es bisher nicht vertreten war und gleichzeitig die Nutzung Spaniens als Export-Plattform für die Fahrzeuge der Kleinwagen- und Kompaktklasse. Als Standort für die Ford-Werke zog man das Umland der Städte Valencia und Zaragoza in ­Betracht, obwohl es in der Literatur heißt, dass die US-Firma nie in die ara­ gonesische Provinz gehen wollte und sie diese Option nur nutzte, um von den valencianischen Behörden zusätzliche Vorteile zu erhalten.20 Ford baute ­einen Industriekomplex für die Herstellung von Motoren (HCS) und Autos, einschließlich der Werke für Karosserie, Lackierung und Endmontage. Die Herstellung des Motors begann im Jahr 1975, die der Autos ein Jahr später. Das Produktionssystem erlebte keine größeren Veränderungen, bis man 1995 den Zuliefererkomplex Parque de Proveedores baute. Bis dahin hatten die Aktivitäten des Unternehmens in Spanien wenige Multiplikatoreffekte er­ zeugt, da sich Ford aufgrund einer Änderung in der Gesetzgebung den Großteil der Komponenten von seinen europäischen Werken liefern ließ. Das von Ford für seine Produktion in Valencia gewählte Modell war der Fiesta, dessen weltweite Markteinführung auf den Zeitpunkt der Eröffnung des Montagewerks fiel. Bis 1980 war der Fiesta das einzige in Valencia pro­ duzierte Modell. Danach wurde die Produktion durch die Modelle Escort (1981) und Orion (1983) erweitert. Im Jahr 1978 erreichte das valencianische Werk eine Produktion von 268 000 Einheiten, die hauptsächlich jenen euro­ päischen Markt belieferte, der seine Nachfrage auf Autos mit niedrigem Ver­ brauch richtete. Die Verkäufe des Fiestas in Spanien verringerten sich nach dem im Jahr 1979 erreichten Höchststand von fast 76 000 Einheiten (Markt­ anteil von 11%) kontinuierlich auf 26 000 Einheiten im Jahr 1986 (Anteil von 4%) – und das trotz einer im Jahr 1984 auf den Markt gebrachten moderni­ 20  Pérez Sanchó: “Industria”, S. 127–166. Tolliday, “Origins”, S. 208–228. Jordi Oltra: Les entranyes de la Ford, in: Papers d’Història de Catalunya, (Universitat de Barcelo­ na), Barcelona 2008.

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sierten Version. Der Grund dafür war, dass nach den Jahren des Erfolges, mit den Modellen Opel Corsa und SEAT Ibiza, zwei attraktive Konkurrenten in den Markt eintraten. Die Exporte, die fast ausschließlich nach Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien geliefert wurden, erreichten im Jahr 1980 ein Maximum von 209 000 Einheiten. Bis zum Jahr 1986 waren die Ex­ porte jedoch auf 115 000 zurückgegangen. Ford erreichte seinen höchsten Marktanteil in Spanien im Jahr 1982 mit 15%, was auf die Vermarktung wei­ terer zusätzlicher Modelle zurückzuführen ist, unter denen der Ford Escort eine besondere Rolle einnahm. Nach mehreren erfolglosen Versuchen führten neue, im Jahr 1977 be­ gonnene Verhandlungen im Jahr 1979 schließlich zur Verabschiedung eines ­neuen Dekrets über die Regelung des Sektors, zugeschnitten auf GM. Die Ankunft der GM-Gruppe in Spanien konkretisierte sich im Juni 1979 mit der Gründung des Unternehmens GM España, das von der Muttergesellschaft GM (73,5%) und dem Tochterunternehmen Opel (26,5%) gehalten wurde.21 Das Interesse GMs an Spanien war vergleichbar mit dem Fords. Es hatte die Absicht, die Modellpalette durch den Opel Corsa, einen Kleinwagen mit Aus­ sichten auf eine hohe Nachfrage, zu erweitern. Das neue Opel-Werk wurde in Figueruelas (Zaragoza) erreichtet, ein Gebiet, das sowohl in der Nähe der französischen Grenze als auch in gleicher Entfernung zum Atlantik und zum Mittelmeer liegt. Außerdem war es mit einer guten Infrastruktur ausgestattet und die Region besaß eine Tradition in der Metallverarbeitung. Die Serien­ produktion des Modells Corsa – welches die Spezialisierung der Fabrik war – begann im August 1982 mit einem Umfang von täglich 1 200 Einheiten in­ nerhalb von zwei Schichten. Das gesamte Investitionsvolumen betrug mehr als 100 Mrd. Peseten, von denen 10% aus staatlichen Subventionen stamm­ ten. In den folgenden zwei Jahrzehnten war die Herstellung in erster Linie für den Export bestimmt. Im Jahr 1983 erreichte das Unternehmen eine Pro­ duktion von 245 000 Einheiten, zwei Jahre später 275 000 Einheiten. Die Ex­ porte des Corsas gingen vor allem nach Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Das Unternehmen schrieb erst ab 1987 schwarze Zahlen, doch von da an warf es bis zum Jahr 2000 beträchtliche Gewinne ab. Im September 1976 übernahm Peugeot die Kontrolle über Citroën und die Unternehmensgruppe PSA Peugeot Citroën wurde geboren, in der die Auto­ nomie der beiden Marken erhalten blieb.22 Ein Jahr später begann man in der Citroën-Fabrik in Vigo mit der Produktion des Peugeot 504, der wenige Jah­ 21  Luis Germán: Made in GM. Veinte años de Opel en España (1982–2002), in: José Luis García Ruiz (Hrsg.): Sobre ruedas. Una historia crítica de la industria del automóvil en España, (Síntesis), Madrid 2003, S. 167–190. 22  Jean-Louis Loubet: Citroën, Peugeot, Renault et les Autres, (Le Monde), Paris 1995, S. 181–214. Jean-Bernard Layan: Transformación y resurgimiento de los fabri­ cantes franceses: Renault y PSA, in: Economía industrial 315 (1997), S. 139–150. JeanLouis Loubet: Histoire de l’automobile française, (Seuil), Paris 2001, S. 373–418. JeanLouis Loubet: El automóvil francés y la globalización. PSA Peugeot Citroën y Re­

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re später die des Modells Peugeot 505 folgte.23 Die kombinierte Herstellung der Modelle von Citroën und Peugeot ermöglichte in dem galizischen Werk zwischen 1976 und 1984 eine Jahresproduktion von rund 100 000 Einheiten (Grafik 1). Seinerseits begann der Automobilhersteller Chrysler in der Mad­ rider Fabrik im Jahr 1975 die Produktion der Modelle Chrysler 180, Chrys­ ler Diesel und Chrysler 21. In jenem Jahr lag das Output von Chrysler bei 67 000 Autos, ergänzt durch weitere 7 000 Lastwagen und 5 000 Traktoren. Zwei Jahre später begann man mit der Produktion des Chrysler 150. Die Übernahme von Chrysler Europa durch die Unternehmensgruppe PSA Peu­ geot Citroën im August 1978 markierte die Gründung des neuen AutomobilUnternehmens Talbot, das sich aus der Vereinigung von Simca (Chrysler Frankreich), Rootes (Chrysler UK) und Chrysler Spanien herausbildete. Im selben Jahr erreichte die spanische Tochtergesellschaft eine Produktion von 99 000 Autos. Doch bereits ein Jahr später fiel diese Produktionszahl auf 66 000 Einheiten der Modelle Talbot 150, Talbot 1200 und Talbot Horizont. Die Situation veränderte sich im Jahr 1983, als sich PSA entschied die Pro­ duktionsanlagen zu modernisieren, indem es neue Produktionslinien des Dieselmotors Peugeot XUD und des Getriebes BE1 aufbaute. Der eigent­ liche Aufschwung für die in Madrid ansässige Fabrik kam allerdings erst im Folgejahr mit dem Produktionsbeginn des Modells Peugeot 205, das dem Unternehmen 1985 einen Ausstoß von mehr als 90 000 Einheiten und 1986 von 100 000 Einheiten ermöglichte. Im Jahr 1981 gab FIAT SEAT vollständig auf. Ein Jahr später unterzeich­ nete das INI mitten in einer dramatischen Umsatz- und Ergebniskrise eine erste Vereinbarung mit Volkswagen (VW). Das Abkommen über die indust­ rielle und kommerzielle Zusammenarbeit, Lizenzierung und technische Hilfe zwischen SEAT und VW wurde am 30. September 1982 getroffen; eine Betei­ ligung der Deutschen an dem spanischen Unternehmen wurde nicht mit ein­ geschlossen. SEAT sollte jährlich rund 120 000 Einheiten der Fahrzeuge von VW fertigen, und davon jährlich 50 000 Einheiten des Modells Polo über das Vertriebsnetz von VW ins Ausland exportieren. Im Gegenzug vermarktete VW seine Fahrzeuge und die von Audi über die SEAT-Händler in Spanien. Im Jahr 1984 führte SEAT mit dem Modell Ibiza sein Hauptprodukt der neuen Ära auf dem Markt ein und leitete so die Erholung von der großen, seit den 1970er Jahren durchlittenen Krise ein. In den frühen 1980er Jahren umfasste die Überlebensstrategie für SEAT fünf Punkte:24 die Reduzierung nault, in: Revista de Historia Industrial, 37 (2008), S. 123–151. Jean-Louis Loubet: La Maison Peugeot, (Perrin), Paris 2009, S. 412–434. 23  Carmona / Nadal: “Empeño”, S. 338–342. 24  Seidler: “Ole”, S. 27–77. Solé: “SEAT”, S. 73–97. Francisco Llorente: Las estrategias de los fabricantes de automóviles. El caso SEAT, 1980–1995, in: Joan Roca (Hrsg.): La formació del cinturó industrial de Barcelona, (Proa), Barcelona 1997, S. 275–277. Gon­ zález de la Fe: “SEAT”, S. 102–114. Solé: “Independència”, S. 63–90. Catalan, Jordi: La SEAT del Ibiza, 1981–2010: fuerza de una marca, resistencia de un distrito, in: Jordi

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der Kosten, ein Aufschwung des Exports, die Einführung und das Design neuer Produkte, der Zugang zu externen Technologien und Verkaufsnetzen, sowie eine umfangreiche Verwendung von öffentlichen, durch das INI be­ reitgestellten Subventionen. Die Kostenanpassung geschah vor allem durch die Reduzierung der Belegschaft. Im Jahr 1977 wurde eine Höchstzahl von 32 140 Beschäftigten erreicht. Indem man den Belegschaftsabbau mit Vorru­ hestandsregelungen und befristeten Arbeitsverhältnissen verknüpfte, konnte die Belegschaft im Jahr 1984 um 24% auf 23 610 Mitarbeiter reduziert wer­ den. Im Laufe des Jahres 1981 gab SEAT bekannt, dass es die Markteinführung eines eigenen Modells vorbereitete, das sowohl für den Inlandsmarkt als auch für den Export bestimmt war. Die Produktion des neuen Modells Ibiza be­ gann im April 1984. In diesem Modell, entworfen von Giorgetto Giugiaro, verbaute man Porsche-Motoren, die unter Lizenz von SEAT selbst gefertigt wurden.25 Bereits im Jahr 1985 wurde der Ibiza mit 68 000 Einheiten zum meistproduzierten Modell von SEAT. Die Verlustübernahme durch die öf­ fentliche Hand in der ersten Hälfte der 1980er Jahre resultierte in allmäh­ lichen Kapitalerhöhungen durch INI von 12 Mrd. Peseten im Jahr 1979 auf 42 Mrd. in 1984. Die Schuldenübernahme belief sich auf insgesamt 185 Mrd. Peseten. Außerdem flossen direkte Subventionen durch das INI in Höhe von insgesamt 67 Mrd. Peseten an das Unternehmen. Es wird geschätzt, dass sich die Gesamtkosten der Sanierung von SEAT zu Lasten des spanischen Haus­ halts zwischen 256 und 280 Mrd. Peseten bewegten. Ohne die staatliche Unter­stützung wäre SEAT mehrfach unter der Schuldenlast zusammenge­ brochen. Doch ab 1985 begannen die seit 1981 angewendeten Sanierungs­ maßnahmen Wirkung zu zeigen. Kurz gesagt, gelang es dem staatseigenen Unternehmen SEAT innerhalb von nur fünf Jahren zwischen 1981 und 1985, nicht nur die Tendenz zu steigenden Umsatzverlusten abzuwenden, sondern sich auch dank des Erfolgs des Modells Ibiza als unabhängige Marke auf dem Weltmarkt zu positionieren. Die Exportzahlen der von SEAT hergestellten Autos erhöhten sich von 100 000 Einheiten im Jahr 1981 auf 200 000 im Jahr 1985. Sobald SEAT saniert worden war, privatisierte die zu der Zeit regieren­ de spanische sozialistische Arbeiterpartei PSOE im Jahr 1986 das Unterneh­ men und initiierte damit eine neue Periode in der Geschichte des Unterneh­ mens. 1986 kaufte VW 75% der Anteile von SEAT und vier Jahre später er­ warb das Unternehmen die restlichen 25%. SEAT entwickelte sich zur dritten Marke der VW Gruppe. Nach einem Jahrzehnt rasanter Entwicklungen hatte sich FASA-Renault 1980 als in den Produktions- und Verkaufszahlen führender Automobilher­ Catalan/ José Antonio Miranda /Ramon Ramon-Muñoz (Hrsg.): Distritos y clusters en el sur de Europa, (LID), Madrid 2011, S. 259–267. 25  Seidler: “Ole”, S. 39–48. Solé: “SEAT”, S. 99–115. Catalan: “Strategic”, S. 220–226. Díaz Ruiz: “SEAT”, S. 63–90. Catalan: “SEAT del Ibiza”, S. 260–267.

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Jordi Catalan / Tomàs Fernández-de-Sevilla

steller in Spanien etabliert.26 In den folgenden fünf Jahren verlor FASA-Ren­ ault jedoch diese Spitzenposition, und das, obwohl es – im Gegensatz zu den anderen Produzenten – in all den Jahren Gewinne erzielte (Grafik 3). Nach dem Erreichen des Produktionshöchststandes von 340 000 Autos im Jahr 1980 sank die jährliche Produktion unter 300 000 Einheiten und erreichte im Jahr 1984 schließlich einen Tiefpunkt von 240 000 verkauften Autos. Der Marktanteil von FASA-Renault unter den Automobilproduzenten sank von etwa 30% während der drei Jahre zwischen 1980 und 1982 auf knapp unter 20% im Zeitraum zwischen 1984 und 1986. Die Hauptursache für diesen Rückgang lag in dem Zusammenbruch des Exports. Während FASA-Renault zwischen 1980 und 1983 im Durchschnitt noch 120 000 Einheiten pro Jahr exportiert hatte, lag die Ausfuhr zwischen 1984 und 1986 nur noch bei durch­ schnittlich 75 000 Einheiten. Dieser Exportrückgang lässt sich auf einen ent­ sprechenden Rückgang der Käufe durch das französische Mutterunterneh­ men zurückführen. Auf dem spanischen Markt fiel der Verkaufsrückgang geringer aus und die Erholung setzte hier schneller wieder ein; so verkaufte man 215 000 Einheiten im Jahr 1986. Dennoch erfuhr FASA-Renault auf­ grund des Erfolgs der Konkurrenzmodelle Corsa und Ibiza einen leichten Rückgang des Marktanteils in Spanien (Grafik 2). Das Unternehmen litt un­ ter der nachlassenden Attraktivität des Modells R5, das lange Zeit ein Ver­ kaufsschlager gewesen war. FASA-Renault reagierte mit dem weiteren Ausbau des Vertriebsnetzes: Von 1980 bis 1985 wurden die Verkaufsstellen und Vertragswerkstätten von 1 173 auf 1 650 und die dort beschäftigte Belegschaft von 13 000 auf 19 000 Menschen erhöht. Hinzu kam eine wachsende Bedeutung der Werbung in der Kostenstruktur des Unternehmens: Zwischen 1980 und 1986 stieg diese von 0,7% auf 1,7% des Umsatzes. Diese zusätzlichen Kosten im Vertrieb wurden durch eine Senkung der Personalkosten ausgeglichen: Die Beleg­ schaft in den Fabriken wurde von 22 000 auf 19 000 Arbeiter reduziert, was eine Senkung der Arbeitskosten in der Kostenstruktur von 28% im Jahr 1977 auf 18% im Jahr 1985 bedeutete. FASA-Renault konnte im gesamten Zeit­ raum zwischen 1980 und 1986 jedes Jahr Gewinne erzielen. Mit einem jähr­ lichen Umsatz von über 15 Mrd. Peseten traten besonders die Jahre 1982 und 1986 hervor. In den Jahren 1982, 1983 und 1986 befand sich zudem die Um­ satzrendite bei über 5% (Grafik 3). Aus diesem Grund war die Situation von FASA-Renault zum Zeitpunkt des spanischen Beitritts zur EWG wenig be­ sorgniserregend, während das Hauptproblem vielmehr die Krise darstellte, in der sich die Muttergesellschaft befand.27 26  Charron: “FASA-Renault: Un caso”, S. 53–59. Charron: “FASA Renault: Innova­ tion”, S. 261–267. Fernández-de-Sevilla: “Responses”, S. 13–20. 27  Loubet: “Citroën”, S. 264–293. Charron: “FASA Renault: Innovation”, S. 267–295. Loubet: “Renault”, S. 284–333. Loubet: “Histoire”, S. 401–436. Fridenson: “Cadres”, S. 124–133. Fridenson: “Corporate”, S. 165–174.

Die staatliche Industriepolitik in Spanien

281

Fazit In diesem Beitrag analysieren wir, wie sich Spanien vor dem Beitritt in die EG zu einem Massenhersteller von Automobilen entwickelte. Die wichtigsten Ursachen für den Start der Automobilindustrie in Spanien waren ein für Im­ porte praktisch verschlossener Markt, eine begrenzte inländische Konkurrenz und ein hoher Prozentsatz an im Inland produzierten Komponenten. Die Ab­ schottung des Binnenmarktes führte dazu, dass fast das gesamte inländische Angebot Abnehmer fand. Eine begrenzte Anzahl von Unternehmen begüns­ tigte die Nutzung von Skaleneffekten. Die Forderung nach einem hohen Pro­ zentsatz an inländisch produzierten Teilen rief erhebliche externe Effekte auf die gesamte Industriestruktur hervor. Unsere Ergebnisse zeigen, dass der wichtigste Grund für die Entwicklung der Automobilindustrie in Spanien die Umsetzung von strategischen Maßnahmen zur Förderung der Industrialisie­ rung gewesen zu sein scheint. Diese Maßnahmen charakterisierten den gesam­ ten Zeitraum von 1948 bis 1972, der als Startphase der spanischen Automobil­ industrie angesehen werden kann. Insbesondere der Schutz des heimischen Marktes wurde ein wesentliches Element dieser genannten Maßnahmen. Mit der Verabschiedung der „Ford Dekrete“ im Jahr 1972 wurde mit den strategischen Maßnahmen der vergangenen zwei Jahrzehnte gebrochen. Hatte man den Binnenmarkt zuvor als Motor für den Aufbau der Automobilindus­ trie betrachtet und zu einer Produktion mit im Inland hergestellten Kompo­ nenten verpflichtet, betrachtete man nun die ausländischen Märkte als Trieb­ kraft für die künftige Entwicklung. Der Hauptgrund für diese Änderung war das Interesse von Ford und GM an einer Niederlassung in Spanien. Dieses Interesse resultierte aus der Unterzeichnung des Präferenzabkommens mit der EWG, das eine Reduktion der Zölle für spanische Autos in den Gemein­ schaftsstaaten mit sich brachte. Um Ford entgegenzukommen, genehmigte die Regierung nicht nur dessen Niederlassung in Spanien, sondern forderte zu­ dem vom neuen Hersteller nur noch einen Mindestprozentsatz von 50% an im Inland produzierten Komponenten. Die Verabschiedung des „Opel De­ krets“ im Jahr 1979 bekräftigte diese Politik und bereitete die Liberalisierung der Einfuhren von Komponenten und fertigen Fahrzeugen nach Spanien vor. Die Öffnung des Binnenmarktes manövrierte SEAT in eine schwere Krise, welche den Verzicht auf einen nationalen Vorreiter bedeutet; letztendlich ge­ riet die gesamte Automobilindustrie unter ausländische Kontrolle. Ford und Opel konzentrierten den Großteil ihrer Produktionen auf die Europäische Gemeinschaft und bildeten so eine neue Industrie-Struktur heraus; und auch die anderen Hersteller, angeführt durch FASA-Renault und das sich in einer Krise befindliche SEAT, wurden entsprechend neu ausgerichtet. Der Bei­ trittsprozess in die EG und die Veränderungen des strategischen Verhaltens gestalteten die neue Rolle, die Spanien in der Automobilbranche einnahm: Das Land entwickelte sich zu einem Produzenten, der sich auf für den Ex­ port bestimmte Modelle des unteren Kleinwagen- und Kompaktsegments

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Jordi Catalan / Tomàs Fernández-de-Sevilla

spezialisierte. Dieses neue Entwicklungsmuster implizierte den Verzicht auf eine Verbesserung der eigenen Technologie und auf das Beibehalten einer Marke unter spanischer Kontrolle.

Anhang Anhang 1: Pkw-Produktion in Spanien nach Herstellern SEAT 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986

1 345 2 551 7 641 10 502 14 353 22 157 28 440 31 116 36 596 40 695 47 313 76 161 87 651 120 877 158 294 175 751 218 275 280 280 254 322 335 340 358 504 361 272 328 806 342 886 346 777 284 570 294 815 293 536 204 847 240 005 223 887 255 324 306 049 318 303

FASARenault 732 1 669 3 999 5 533 7 585 7 779 7 826 8 819 15 158 22 083 25 747 30 316 39 084 53 187 58 616 58 983 75 063 87 612 100 926 126 491 166 003 166 771 192 759 201 557 224 550 235 329 255 430 324 680 269 029 296 107 283 172 214 786 224 049 231 405

Quelle: Catalan (2000).

Citroën PSA

1 345 3 835 4 035 8 160 17 514 24 373 15 325 23 834 23 876 26 981 36 923 41 567 52 098 69 671 92 783 108 721 94 435 98 934 72 891 84 836 74 495 94 498 112 221 98 506 73 367 70 156

Chrysler Ford PSA

48 218 27 546 31 886 36 627 36 979 25 263 62 962 86 510 76 097 66 655 82 453 94 435 98 934 72 891 65 756 58 909 53 052 54 094 86 207 95 850 101 072

Opel

AUTHI Andere

14 645 21 020 15 789 18 570 31 401 34 199 43 318 30 763 15 121 17 506 213 268 260 939 227 493 260 005 248 045 222 026 221 912 262 099 254 906 256 873

21 812 246 340 259 971 277 101 304 090

2 782 1 443 1 387 2 389 2 218 2 565 920 1 445 2 119 1 409 211 424 33 57 25 4

283

Die staatliche Industriepolitik in Spanien Anhang 2: Zulassungen auf dem spanischen Markt nach Herstellern (%) SEAT 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986

56,9 47,3 48,5 56,7 54,3 47,1 51,9 54,3 58,8 55,2 54,1 53,0 51,0 50,1 47,3 48,3 38,6 35,7 30,4 26,0 27,1 26,4 22,6 17,4 12,7 12,2 Dodge

1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979

0,0 0,0 0,0 0,0 0,5 2,6 1,0 0,4 0,7 0,4 0,5 0,5 0,4 0,2 0,2 0,1 0,0 0,0 0,0

Renault

Citroën

Peugeot

23,9 25,9 27,9 25,1 24,9 21,2 20,6 19,2 19,4 21,3 22,7 24,1 24,2 26,3 27,1 25,5 27,2 27,8 29,9 35,2 32,1 32,0 31,2 28,5 29,8 25,8

2,8 7,8 7,3 6,3 10,9 8,4 6,3 6,8 5,9 6,2 6,4 5,6 6,1 8,1 9,6 10,3 11,6 11,0 10,5 6,6 5,9 6,2 6,3 7,0 5,7 5,2

0,9 1,1 1,0 0,8 0,7 0,6 0,4 0,4 0,3 0,4 0,4 0,4 0,4 0,3 0,3 0,3 0,3 1,5 2,5 3,6 3,7 3,1 2,6 7,8 8,6 9,2

Simca O,6 0,9 0,6 0,6 0,5 14,3 10,8 9,3 7,5 8,7 6,4 7,8 9,4 8,9 10,1 9,5 8,1 5,2 3,4

Talbot

2,8

Ford 1,2 1,5 1,3 1,0 0,9 0,5 0,5 0,4 0,4 0,3 0,2 0,2 0,3 0,2 0,2 1,7 9,2 10,2 11,0 12,3 13,7 15,3 13,2 14,6 13,4 14,4

Chrysler Morris 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 1,3 2,0 2,9 6,7 6,0

0,6 0,5 0,6 0,4 0,2 0,1 4,2 3,5 3,1 4,5 5,1 4,3 3,3 2,1 1,1 0,1 0,1 0,1 0,1

Opel 0,4 0,7 0,6 0,6 0,7 0,4 0,4 0,3 0,3 0,2 0,2 0,2 0,1 0,1 0,1 0,2 0,1 0,1 0,1 0,1 0,7 3,1 9,6 9,6 11,9 14,6 FIAT 2,1 2,0 0,9 0,9 0,7 0,5 0,4 0,4 0,4 0,3 0,3 0,3 0,2 0,2 0,2 0,2 0,1 0,1 0,3

Volkswagen 0,8 1,2 1,1 0,9 0,9 0,7 0,6 0,5 0,5 0,4 0,4 0,4 0,4 0,3 0,3 0,2 0,2 0,2 0,5 0,9 0,7 0,5 0,9 5,2 8,2 7,0 Zulassungen (absolut) 69 126 83 068 91 195 126 967 159 292 250 673 290 027 309 880 377 767 399 171 432 669 506 453 595 176 575 723 572 188 619 677 662 859 654 033 620 652

284 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986

Jordi Catalan / Tomàs Fernández-de-Sevilla 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0

0,1 0,1 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0

9,6 10,5 7,8 8,1 4,7 3,5 1,4

0,1 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0

0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0

0,3 0,2 0,1 0,4 0,8 1,0 2,4

574 149 505 716 535 733 550 436 522 229 575 052 689 051

Quelle: Eigene Berechnung nach DGT, Anuario Estadístico General, 1961–1986.

Anhang 3: Umsatzrendite ausgewählter Hersteller (Gewinn/Umsatz) FASA-Reanult 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

19,8 14,5 10,8 42,1 39,7 42,2 33,8 39,2 29,0 29,3 24,3 21,7 21,4 20,0 13,6 12,7 4,4 3,7 3,0 –0,5 –1,1 –1,8 2,9 1,7 3,0 3,3 2,8 8,3 5,4 0,4 0,2 6,8 6,1 4,3

SEAT 6,3 10,4 15,3 16,6 15,5 13,3 8,5 11,8 11,4 11,7 9,7 7,2 6,7 5,2 4,2 3,2 2,8 2,9 2,2 2,7 2,8 0,8 0,1 -0,6 0,5 –10,8 –13,4 –17,8 –19,7 –21,1 –25,7 –20,7 –17,6 –11,8 –1,6 0,3

Barreiros

Ford

19,8 19,4 15,4 20,7 20,7 22,7 20,0 22,8 23,3 –97,3 –25,5 –61,1 –145,6

–11,55 0,16 1,44 0,36 0,48 5,87 6,77 2,49 6,66 5,01 7,97 9,47 8,69

Quelle: Eigene Berechnung nach SEAT, Memorias, verschiedene Jahrgänge; FASA-Renault, ­Memorias, verschiedene Jahrgänge; García Ruiz/Santos (2003): S. 344 und Oltra (2008).

Anna Engbert

Industrielle Beziehungen in der ­Automobilindustrie Die Daimler-Benz AG 1949–1966/67 Einleitung Die Bedeutung der Automobilindustrie lässt sich für die Entwicklung der bundesdeutschen Volkswirtschaft nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges nicht hoch genug einschätzen.1 Diese hohe Prägekraft wurde aus zeitge­ nössischer Perspektive eher der Montanindustrie zugeschrieben, die lange als Führungssektor galt. Die deutsche Automobilindustrie nahm bis in die 1950er Jahre gemessen an der internationalen Automobilproduktion im Vergleich zu den USA, Frankreich und Großbritannien eine für den Weltmarkt weniger bedeutende Position ein. Während für die amerikanische, franzö­ sische und britische Automobilindustrie auch nach 1945 eine langfristige Dominanz prognostiziert wurde, konnte jedoch insbesondere die britische Automobilindustrie ihrer Stellung nicht gerecht werden. Die Absatzzahlen der ­britischen Automobilindustrie entwickelten sich gegenüber dem allgemeinen Trend rückläufig und die bundesrepublikanische Automobilproduktion wuchs entgegen den Erwartungen im Verhältnis zum Durchschnitt überproportional und erlebte in dieser Phase einen beispiellosen Aufschwung.2 Dies betraf nicht nur den Binnenmarkt, sondern seit dem KoreaBoom 1951 auch die Exportmärkte: 1956 konnten die deutschen Hersteller im europäischen Vergleich eine Vorreiterrolle einnehmen – eine Position, die sie bis heute behauptet.3 Ein Grund für diese überaus positive Entwicklung bestand in dem in der Bundesrepublik geltenden institutionellen Rahmen.4 Die deutschen Unternehmen agierten in einer dichten legislativen Struktur bezüglich der industriellen Beziehungen. In der detaillierten staatlichen Re1 

Vgl. hierzu vor allem Harm G. Schröter: Von der Teilung zur Wiedervereinigung, in: Michael North: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage, München 2005 u. Volker Wellhöner: „Wirtschaftswunder“, Weltmarkt, Westdeutscher Fordismus. Der Fall Volkswagen, Münster 1996. 2  Vgl. Internationale Übersichten, die Weltproduktion von Kraftwagen, in: Verband der Automobilindustrie (Hrsg.): Tatsachen und Zahlen aus der Kraftverkehrswirtschaft (TuZ). Frankfurt 1953–1959. Vgl. Beitrag Clausager in diesem Band, S. 205–230. 3  Vgl. TuZ. 4  Für den hier fokussierten Untersuchungsgegenstand sei exemplarisch auf das im Jahr 1952 verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz verwiesen.

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Anna Engbert

gelung der Mitbestimmung und Mitwirkung der Arbeitnehmer unterschied sich das bundesrepublikanische System der Industriellen Beziehungen grundlegend von dem der meisten anderen Industrieländer.5 Die Ausgestaltung des gesetzlichen Rahmens für die industriellen Beziehungen war in der Nachkriegszeit für die deutsche Bevölkerung ein zentrales Thema. So lässt sich dieses Stadium in der historischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland nicht nur als Wirtschaftswunderzeit6, sondern auch als Zeitalter der Mitbestimmungsbestrebungen7 und deren gesetzlichen Verankerungen bezeichnen. Obwohl die Einrichtung der betrieblichen Mitbestimmung bis zur Gewerbenovelle im Jahr 1891 zurückreicht und mit dem Betriebsrätegesetz in der Weimarer Republik eine wesentliche Erweiterung fand, beginnt mit dem Inkrafttreten des Montanmitbestimmungsgesetzes 1951 eine Neuerung des deutschen Systems der industriellen Beziehungen. Ziel dieser Regelung war es, einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat zu schaffen, der das Unternehmen kontrollierte. Dies sollte eine korporative8 Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern initiieren, indem die Unternehmen durch einheitliche Verpflichtungen gegenüber ihren Arbeitnehmern verbindlich gebunden waren. Mit der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahre 1952 nahm der von den Gewerkschaften, politischen Parteien und Arbeitgeberverbänden geführte Kampf um das Ausmaß der gesetzlichen Regelung zur Mitbestimmung in der jungen Bundesrepublik sein vorläufiges Ende. Über den beschlossenen und verabschiedeten Entwurf des Betriebsverfassungsgesetzes heißt es in einer Aufzeichnung zum Thema Mitbestimmung des Bundeswirtschaftsministeriums: Wenn man versuchen will, Sinn und Zweck des Betriebsverfassungsgesetzes in einem Satz zu umreißen, so ließe sich sagen: Dieses Gesetz ist eine Kodifizierung der betrieblichen Mitbestimmung der Arbeitnehmer in sozialen Fragen; eine wirtschaftliche Mitbestimmung ist dagegen nur sehr begrenzt vorgesehen. Dabei muss man sich selbstverständlich darüber im Klaren sein, dass die vielfältigen Möglichkeiten, die das 5  Zur Andersartigkeit des britischen Systems der Industriellen Beziehungen siehe beispielsweise Adolf M. Birke: Die Englische Krankheit. Tarifautonomie als Verfassungsproblem in Geschichte und Gegenwart, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 30. Jahrg., 4. Heft, Oktober 1982, S. 621–645 und Hildegard Waschke: Großbritanniens Arbeitsbeziehungen im Wandel, Köln 1983. 6  Vgl. zum Begriff des Wirtschaftswunders Michael von Prollius: Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945, Göttingen 2006, S. 91; Werner Abelshauser: Die Langen Fünfziger Jahre – Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 1949– 1966, Düsseldorf 1987, S. 15; Niels Beckmann: Käfer, Goggos, Heckflossen. Eine retrospektive Studie über die westdeutschen Automobilmärkte in den Jahren der beginnenden Massenmotorisierung, Vaihingen 2006, S. 37. 7  Siehe hierzu exemplarisch die Einschätzungen zeitgenössischer Soziologen bei: Anthes, Jochen et. al.: Mitbestimmung – Ausweg oder Illusion? Hamburg 1972, S. 7. 8  Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der sozialpolitischen Ordnungskonfiguration des deutschen korporatistischen Modells siehe beispielsweise die Ausführungen von Wolfgang Streeck, Korporatismus in Deutschland. Zwischen Nationalstaat und Europäischer Union Frankfurt 1999.

Industrielle Beziehungen in der Automobilindustrie

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Gesetz der Mitbestimmung in sozialen Fragen eröffnet, zu ganz erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen führen können.9

Was in dieser zeitgenössischen Darstellung aus dem Wirtschaftsministerium über die wirtschaftliche Mitbestimmungsmöglichkeiten der Arbeitnehmervertretung bereits Anklang fand, bewerteten die Gewerkschaftsvertreter höchst kritisch. So brachte das neue Gesetz die geforderte und erhoffte Ausweitung der Montanmitbestimmung auf die übrigen Industriezweige mit ­ihrer paritätischen Besetzung des Aufsichtsrates nicht mit sich. Vielmehr galt in allen anderen Wirtschaftsbereichen, also auch in der Automobilindustrie, die so genannte ‚Drittelparität‘, derzufolge der Arbeiternehmerseite lediglich ein Drittel der zu besetzenden Sitze im Aufsichtsrat eines Unternehmens ­zustand.10 Da zur Beschlussfassung im Aufsichtsrat eine einfache Mehrheit genügte, war es den Kapitaleignern jederzeit möglich, gegen die Stimmen der Arbeitnehmerseite Entscheidungen zu treffen. Folglich herrschte in der Auto­mobilindustrie zwar ein geringerer institutionell verankerter Grad von Unternehmensmitbestimmung als in der Montanindustrie vor, dennoch war auch diese schwächere Form der Mitbestimmung eine Eigenheit des bundesrepublikanischen Systems der industriellen Beziehungen. Somit existierte für die westdeutschen Industrien, insbesondere für die Automobilbranche, ein einzigartiger gesetzlicher Kontext zur Kontrolle eines Unternehmens. Im Folgenden wird am Beispiel der Aufsichtsratsmitbestimmung bei dem ältesten und traditionsreichsten deutschen Automobilendhersteller, der Daimler-Benz AG die Anwendung des geltenden Rechts für diese Ebene des Unternehmens punktuell rekonstruiert und der Frage nachgegangen, wie ­sowohl Kapitaleigner als auch Arbeitnehmervertreter die ihnen durch das Betriebsverfassungs­gesetz offerierten Handlungsspielräume nutzten. Hierzu wird in einem ersten Schritt geprüft, mit welcher Haltung die Kapitaleigner und die Arbeitnehmervertreter der drittelparitätischen Mitbestimmung gegenüberstanden. Anschließend soll heraus­gearbeitet werden, welche Handlungsstrategien die Kapitaleigner aus den neu geschaffenen gesetzlichen ­Rahmenbedingungen ableiteten, um ihre Machtposition zu behaupten. Im Gegenzug soll auch der Frage nachgegangen werden, welche Strategien die Arbeitnehmervertreter verfolgten, um die neuen Rahmenbedingungen zu ­ihren Gunsten zu nutzen und ihre Interessen durchzusetzen. Für die Untersuchung bietet sich der Zeitraum von der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, deren Grundgesetz die Weichen für die Aus9 

Aufzeichnung zum Thema Mitbestimmung vom 6. Oktober 1965, Bundesarchiv Koblenz, Wirtschaftsministerium, B 102/932279. 10  Zur Entwicklung der Mitbestimmung in Deutschland siehe exemplarisch die Ausführungen von Horst Thum: Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung von den Anfänge 1916 bis zum Mitbestimmungsgesetz 1976, Köln 1991. Zur Geschichte der Montanmitbestimmung siehe exemplarisch die Studie von Gloria Müller: Strukturwandel und Arbeitnehmerrechte. Die wirtschaftliche Mitbestimmung in der Eisenund Stahlindustrie, Essen 1991.

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gestaltung der industriellen Beziehungen stellte, über die Implementierung des Betriebsverfassungsgesetzes bis zur Rezession 1966/67 an. Dabei wird nicht nur die spezifisch deutsche Entwicklung der Mitbestimmungsgesetzgebung berücksichtigt, sondern gleichermaßen auch die beispiellose Prosperitätsphase der deutschen Wirtschaft und, daran geknüpft, die der bundesdeutschen Automobilindustrie. Innerhalb des Zeitraums von 1949 bis 1966/67 lassen sich im Hinblick auf die Wirtschaftsentwicklung zwei Phasen klar voneinander abgrenzen. Die erste Phase umfasst die Periode des wirtschaftlichen Aufbaus (1949 bis 1955) und die zweite Phase den Zeitraum des Wachstums bis zur Rezession (1955 bis 1966/67). Den erkenntnisleitenden Fragestellungen wurde vor allem auf Grundlage der Auswertung unternehmensinterner, archivarischer Quellen nachgegangen. Dabei konnte auf Berichte über die Sitzungen des Aufsichtsrates und des Vorstandes der Daimler-Benz AG zurückgegriffen werden, die wertvolle Ansatzpunkte für die Analyse der Beziehungen zwischen den Gremien und den jeweiligen Gremienteilnehmern bieten. Einschränkend muss an dieser Stelle daraufhin hingewiesen werden, dass die Art des Protokollierens der Vorstandssitzungen ab dem Jahr 1953 einer Veränderung unterlag. So heißt es im Bericht über die im Februar abgehaltene Vorstandssitzung: Bezüglich der Vorstandssitzungs-Protokolle hat Herr Dr. Könecke den Vorschlag gemacht, sie nicht mehr so ausführlich zu halten, sondern sie so zu fassen, dass das Ergebnis der Unterhaltung festgehalten ist.11

Neben den genannten Überlieferungen existieren bei der Daimler-Benz AG für den Zeitraum von 1955 bis 1967 Protokolle des Präsidiums des Aufsichtsrates, welche Einblicke in die internen Taktiken der Kapitaleigner erlauben.12 Über diese, weitestgehend die Arbeitgeberseite betreffenden Überlieferungen hinaus sind bei der Daimler-Benz AG Berichte über die Betriebsversammlungen vorhanden, die eine Annäherung an die Motive und Interessenlagen der Arbeitnehmerseite ermöglichen. Der Aufsatz ist in vier Teile untergliedert: In einem einleitenden Abschnitt wird die Begrifflichkeit „Industrielle Beziehungen“ definiert. Anschließend erfolgt die Erläuterung der für die Bundesrepublik gültigen gesetzlichen Rahmenbedingungen der industriellen Beziehungen, um darauf aufbauend die Aufsichtsratsmitbestimmung bei der Daimler-Benz AG zu analysieren. Die Untersuchung erfolgt hier auf Grundlage des vorliegenden Quellen­ materials. In einer Schlussbetrachtung werden die wesentlichen Ergebnisse unter Rückgriff auf die erkenntnisleitenden Fragestellungen zusammengefasst.

11 

Protokoll der Vorstandssitzung am 24. Februar 1953, Archiv Daimler, Vorstand. Zur Einschätzung der Teile des Gesamtuntersuchungszeitraums tangierenden Quellenlage siehe auch die Einschätzungen Nils Beckmanns, vgl. Beckmann, Käfer, S. 34f. 12 

Industrielle Beziehungen in der Automobilindustrie

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Der Begriff „Industrielle Beziehungen“ Der Terminus „Industrielle Beziehungen“ ist in der deutschen Sprache ein Kunstbegriff, weil es sich hier um die wörtliche Übersetzung der englischen Begrifflichkeit „Industrial Relations“ handelt, welche relativ frei von unerwünschten Konnotationen bleibt. Eine gängige Bestimmung dieses Kunstbegriffes entwickelte der Soziologe Müller-Jentsch, der die industriellen Beziehungen definiert als jene eigentümliche Zwischensphäre im Verhältnis von Management und Belegschaft, von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, deren eigentlicher Gegenstand friedliche oder konfliktorische Interaktionen zwischen Personen, Gruppen und Organisa­ tionen sind, sowie die aus solchen Normen resultierenden Verträge und Institutionen.13

In Anlehnung daran werden hier die industriellen Beziehungen als inter­ dependentes Beziehungsgeflecht von Arbeitnehmervertretern und Arbeit­ gebervertretern auf Unternehmensebene begriffen, welches der kollektiven Regelung des Arbeitsverhältnisses von abhängigen Beschäftigten dient. Gleichwohl sollen darüber hinaus auch die sozioökonomischen, dynamischhistorischen Entwicklungen reflektiert werden, denen die obige Definition wenig Aufmerksamkeit schenkt. Der mögliche Handlungsrahmen der Aushandlungsprozesse zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern wird dabei durch das Netz staatlich vorgegebener institutioneller Regelungen abgesteckt. Die Interaktionen, in die die Verhandlungspartner im Rahmen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Austauschprozesse eintreten, sind im unterschiedlichen Maße von dem Wunsch nach Zusammenarbeit oder offener Konfrontation getragen. Die Charakterisierung der unternehmensspezifischen Beziehungskultur insgesamt kann sich damit auf der Skala zwischen grundsätzlich kooperativ und im Grundsatz konfliktorisch bewegen. Alle Handlungen unterliegen einem dynamisch-historischen Entwicklungsprozess. Der deutsche Kunstbegriff bewegt sich demnach im Spannungsfeld der Komposita Handlungsrahmen, Handlungsträger und Handlungsstrategie.

! 13 

Walther Müller-Jentsch: Soziologie der Industriellen Beziehungen, Frankfurt 1986, S. 17.

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Dieses Spannungsfeld wird im Folgenden exemplarisch anhand der Aufsichtsratsmitbestimmung bei der Daimler-Benz AG analysiert. Bekannt sind der durch das Betriebsverfassungsgesetz abgesteckte Handlungsrahmen und die sich durch die drittelparitätische Mitbestimmung ergebenden Handlungsträger im Aufsichtsrat. Skizziert werden soll daher die in diesem Feld verfolgte Handlungsstrategie der Akteure.

Gesetzliche Rahmenbedingungen der Industriellen ­Beziehungen (1945 bis 1966/67) In der historischen Forschung wird immer wieder betont, dass der hohe Grad der Verrechtlichung14 und Institutionalisierung als typisches Charakteristikum für das bundesrepublikanische System der Industriellen Beziehungen gelten kann. Ziel war es, in der Nachkriegszeit mit der Implementierung dieser bundesrepublikanischen institutionellen Besonderheit eine Kontrolle über die Macht der Unternehmen zu schaffen und die Kooperation von ­Kapital und Arbeit durch den Abbau von Fremdbestimmung bzw. den Aufbau von Selbstbestimmung zu fördern.15 In diesem Zusammenhang wird die Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat als deutsche ­Spe­zialität des Systems der Industriellen Beziehungen hervorgehoben, da die Arbeit­nehmer durch ihre gewählten Vertreter so an Planungs- und Ent­ scheidungsprozessen im Unternehmen beteiligt sind.16 Grundlage bildete §76 Abs. 1 des im Jahr 1952 verabschiedeten Betriebsverfassungsgesetzes. Hier hieß es: Der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft […] muss zu einem Drittel aus Vertretern der Arbeitnehmer bestehen.17

Diese Abbildung skizziert die Stellung und das Verhältnis der Arbeitnehmer­ vertreter und Arbeitgebervertreter im Aufsichtsrat. Detail die Bestellung und Abberufung des Vorstandes, die regelmäßige Entgegennahme von Vorstandsberichten zur künftigen Geschäftspolitik sowie zu grundsätzlichen Fragen des Unternehmens, die Überwachung der Ge-

14  Verrechtlichung im deutschen Kontext wurde hier in Anlehnung an Müller-Jentsch definiert als enge rechtliche Bindung an ein dichtes Netz prozeduraler Regelungen, vgl. Walther Müller-Jentsch: Das deutsche Modell der Industriellen Beziehungen auf dem Prüfstand, Bochum 1995, S. 25. 15  Siehe hierzu beispielsweise Bericht der Sachverständigenkommission zur Auswertung der bisherigen Erfahrungen bei der Mitbestimmung (Biedenkopf-Kommission) BT-Drucksache VI334, S. 18ff. 16  Zu den Beweggründen und den geführten Diskussion die zur gesetzlichen Verankerung der Mitbestimmung im Nachkriegsdeutschland führten siehe exemplarisch Müller 1991 und Thum 1991. 17  §76 Abs. 1 BetrVG.

Industrielle Beziehungen in der Automobilindustrie

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Unternehmensleitung

Abbildung: Der Aufsichtsrat nach dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952.18

Wahlorgane

Kontrollorgan

Vorstand

Aufsichtsrat

Hauptversammlung

Arbeitnehmer des Unternehmens

schäftsführung durch Informations- bzw. Prüfungsbefugnisse, die Einberufung der Hauptversammlung und das Recht der Zustimmungsverweigerung bei bestimmten Geschäften.19 Anhand der Abbildung (§73 Abs. 1 BetrVG) und unter Berücksichtigung des §111 Abs. 1 AkG wird ersichtlich, dass durch die Unternehmens­mitbestimmung im Unter­suchungszeitraum und darüber hinaus die einseitig ausgeübten Leitungsbefugnisse und die Verfügungsrechte der Kapitaleigner beschränkt werden sollten. In welchem Ausmaß die Befugnisse und die Rechte der Arbeitgebervertreter tatsächlich durch die Teilnahme und das aktive Stimmrecht der Arbeitnehmervertreter bei den Aufsichtsratssitzungen begrenzt wurden, soll anhand dieser Analyse geprüft werden.

Aufsichtsratsmitbestimmung bei der Daimler-Benz AG Nach Inkrafttreten des Betriebsverfassungsgesetzes vertrat der Vorstand des Unternehmens generell die Auffassung, dass eine ablehnende Haltung gegenüber den Regelungen zur Mitbestimmung für das Verhältnis zwischen Ka­ pital und Arbeit im Unternehmen nicht förderlich sei. Dieses betonte der Vorstandsvorsitzende Fritz Könecke bei seiner Neujahresansprache im Jahr 1954: Sie wissen alle, dass der Vorstand dieses Hauses und nicht zuletzt ich das im vergangenen Jahr vom Gesetzgeber eingeführte Betriebsverfassungsgesetz inhaltlich bejaht ha18  19 

Skizze nach Thum 1991, S. 174. §111 Abs. 1 AkG.

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ben, dass wir uns vorbehaltlos auf seinen Boden gestellt haben und dass wir freudig die Möglichkeit, die dieses Gesetz dem Einsichtigen bietet, für eine Vertiefung des Zusammengehörigkeits­gefühls nutzen.20

Diese Äußerung Köneckes zur positiven Einstellung des Vorstandes gegenüber dem Betriebsverfassungsgesetz wird dadurch gestützt, dass es bei der Daimler-Benz AG bereits seit 1947 vier Betriebsratsmitgliedern gestattet war, an den Sitzungen des Aufsichtsrates als Gäste ohne aktives Stimmrecht teilzunehmen.21 Im Zuge der Implementierung des Betriebs­verfassungsgesetzes wurde dann den Arbeitnehmervertretern durch §76 Abs. 1 ein Stimmrecht bei Entscheidungen zugestanden. So machte das Gesetz im Bereich der Mitbestimmung im Aufsichtrat Anpassungen an die bisherigen Verhältnisse notwendig. Auf Basis des Gesetzes war es den im Aufsichtsrat vertretenden Betriebsräten möglich, in den Entscheidungsprozess einzugreifen, aktiv mitzuwirken und bei den zu tätigenden Entscheidungen formal mitzubestimmen, wobei für die Kapitalseite weiterhin jederzeit die Möglichkeit bestand, die Arbeitnehmervertreter zu überstimmen. Von dieser Möglichkeit wurde jedoch im Aufsichtsrat der Daimler-Benz AG während des gesamten Untersuchungszeitraums kein Gebrauch gemacht. Alle wichtigen Beschlüsse im Aufsichtsrat wurden einstimmig, d. h. ohne Enthaltung oder Gegenstimme der Arbeitnehmer getroffen.22 Einerseits lässt dieses auf fruchtbare Diskussionen im Vorfeld der Abstimmungen schließen, andererseits zeigt es auch, dass es den Kapitaleignern offenbar wichtig war, Beschlüsse zu fassen, die von den Arbeitnehmern bzw. ihren Vertretern mitgetragen werden konnten. So wurde negativen Reaktionen der Belegschaft gegenüber den getroffenen Entscheidungen vorgebeugt. Dies lässt wiederum den Schluss zu, dass die Arbeitnehmervertreter trotz Drittelparität über einen gewissen Grad von Macht verfügten und so aktiv die Ziele der Unternehmenspolitik mitbestimmen konnten. Diese erweiterten Rechte bewertete der Betriebsrat rund drei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes folgendermaßen: Man kann verschiedener Meinung sein, über die Nützlichkeit der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat […]. Wir leben in einer Demokratie, und mag sie auch noch nicht so geformt sein, wie wir es wünschen, aber hier ist es möglich, Stück um Stück durch eigene Kraft zu erringen, im Gegensatz zu einer Diktatur […]. Das ist immerhin der große Unterschied, und wir sollten diese Gremien, wenn sie bestehen, wenn sie auch nicht zu unserer Befriedigung ausfallen […] nicht nur verdammen […], sondern wir sollten 20  Bericht über die Betriebsversammlung am 10. März 1954, Archiv Daimler AG, Könecke 36.1 21  Siehe hierzu die Darstellungen im Bericht über die Aufsichtsratssitzung am 12. Juni 1953, Archiv Daimler AG, Aufsichtsrat. 22  Siehe hierzu die Darstellungen in den Protokollen der Aufsichtsratssitzungen der Jahre 1953 bis 1967, Archiv Daimler-Benz AG, Aufsichtsrat. Auch Osswald greift diesen Aspekt in seiner Sozialgeschichte der Daimler-Benz AG auf. Siehe hierzu die Darstellungen in Richard Osswald: Lebendige Arbeitswelt. Die Sozialgeschichte der Daimler-Benz AG von 1945 bis 1985, Stuttgart 1986, S. 58.

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versuchen, dass bestmögliche dabei zu erreichen. Dann glaube ich auf diesem Gebiet ein wesentliches Stück weiterzukommen.23

Eine weitere Neuerung durch das Gesetz bestand darin, dass neben unter­ nehmens­internen Arbeitnehmervertretern auch unternehmensexterne Vertreter durch die Belegschaft in den Aufsichtsrat gewählt werden konnten. Diese Kann-Vorschrift hatte lediglich zur Bedingung, dass der Aufsichtsrat dabei aus mehr als sechs Mitgliedern zu bestehen hatte und infolgedessen mehr als zwei Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat gewählt werden mussten. Dieser Neuerung, die Unternehmenskontrolle auch durch unternehmensfremde Funktionäre der Gewerkschaften ausüben zu lassen, stand der Vorstand unter dem Vorstandsvorsitzenden Heinrich Wagner offenbar zunächst kritisch gegenüber. Dies brachte Wagner in seinem Redebeitrag während einer im Dezember 1952 abgehaltenen Sitzung des Vorstandes zur Sprache: Wir sollten es fertig bringen, dass kein Fremder in den Aufsichtsrat kommt.24

Hierin zeigt sich deutlich die ablehnende Haltung der Kapitaleigner gegenüber diesem Aspekt der drittelparitätischen Mitbestimmung. Dieses kommt auch in den Aus­führungen des Vorstandsmitgliedes Walter Gaßman zum Ausdruck: Das Betriebsverfassungsgesetz, wie es jetzt im Wortlaut vorliegt, ist in langwierigen Verhandlungen und in einer Kampfabstimmung im Bundestag, bei der es im Wesentlichen um das Mitbestimmungsrecht ging, zustande gekommen. Das Gesetz beschränkt sich auf die innerbetriebliche Verfassung und ist bemüht, die Gewerkschaften draußen zu halten.25

Während also die Mitbestimmung grundsätzlich positiv bewertet wurde, bezog sich diese Haltung anscheinend ausschließlich auf die Mitbestimmung durch unternehmensinterne Funktionäre. Externe Arbeitnehmervertreter – wie Funktionäre der Gewerkschaften – waren der Arbeitgeberseite zunächst ein Dorn im Auge. Die unterschiedliche Haltung des Vorstandes gegenüber internen und externen Arbeitnehmervertretern kann auf ihre unterschiedliche Funktion zurückgeführt werden. Die Unternehmensleitung präferierte die Besetzung der Mandate durch Betriebsangehörige, da diese nicht nur die betrieblichen Abläufe und Besonderheiten besser verstanden, als die mit ­diesen Zusammenhängen weniger vertrauten externen Gewerkschaftsfunk­ tionäre. Vielmehr baute der Vorstand auch auf die Loyalität der internen Arbeitnehmervertreter zu ihrem Unternehmen und darauf, dass im Zweifel die

23  Bericht über die Betriebsversammlung am 3. August 1955, Archiv Daimler AG, Könecke 36.1. 24  Bericht über die Vorstandssitzung am 03./04. Dezember 1952, Archiv Daimler AG, Vorstand. 25  Bericht über die Vorstandssitzung am 03./04. Dezember 1952, Archiv Daimler AG, Vorstand.

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Betriebsangehörigen in ihrem Entscheidungsverhalten das Wohl ihres Unternehmens über allgemeine Positionen der Gewerkschaften stellen würden. Auf Seite der Arbeitnehmer zeigte sich ein weniger klares Bild. Für die ­interne Besetzung der Mandate sprach das oben angedeutete größere Wissen um interne Vorgänge im Unternehmen. Diese Kenntnisse gaben den Betriebsangehörigen im Aufsichtsrat einen Positionsvorteil auch gegenüber den Vertretern der Kapitalseite. Als Delegierte der Anteilseigner waren diese in der Regel Betriebsfremde oder ehemalige Vorstände des Unternehmens, die jedoch mit den aktuellen betrieblichen Vorgängen nicht mehr en detail vertraut waren. Dafür brachten diese Vertreter ihre langjährige Erfahrung in führenden Positionen der Wirtschaft ein und verfügten hieraus über einen guten Überblick zu übergreifenden ökonomischen Zusammenhängen, die sie für die Beratung des Vorstandes nutzen konnten. Dieses Wissen fehlte jedoch meist den Betriebsangehörigen im Aufsichtsrat. Um sicherzustellen, dass die Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat bei diesen Diskussionen in den Sitzungen des Gremiums nicht völlig außen vor blieb, bot sich aus Sicht der Arbeitnehmer die Berufung betriebsfremder, aber ökonomisch vorgebildeter Gewerkschaftsfunktionäre in den Aufsichtsrat an. Gleichzeitig stellten die Gewerkschaften ihrerseits hierdurch sicher, dass die grundsätzliche Linie der organisierten Arbeitnehmer in den jeweiligen Aufsichtsräten vertreten wurde. Für die Arbeitnehmerseite resultierte aus diesen Überlegungen heraus ein komplexer Nominierungsprozess für die Besetzung der Mandate. Es musste für die Besetzung der numerisch knappen Anzahl an Mandaten der Arbeitnehmerseite nicht nur die Hierarchie innerhalb des Betriebsrats und ein Proporz zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Belegschaft und der Unternehmensstandorte angemessen berücksichtigt werden, sondern auch noch ein geeigneter Kandidat der Gewerkschaften berufen werden. Trotz der oben zitierten Bekundungen standen der Vorstand und die Vertreter der Kapitalseite im Aufsichtsrat der Teilhabe durch die Betriebsräte und insbesondere durch betriebsfremde Gewerkschaftsfunktionäre skeptisch gegenüber. Der wesentliche Kritikpunkt war, dass vertrauliche Informationen über die Situation des Unternehmens und seine künftige Entwicklung über die Vertreter der Arbeitnehmerseite in die Öffentlichkeit diffundieren könnten. Ferner eröffnete sich durch die zurückhaltende Informationspolitik auch eine Möglichkeit, die Handlungsspielräume der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsratssitzungen einzuschränken. Auf der anderen Seite bestanden die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat auf der Position, dass nur durch vollständige Information eine wirksame Kontrolle der Unternehmensführung gewährleistet werden könne. Dies fasste der Daimler Betriebsrat Hässler anlässlich einer im Dezember 1950 abgehaltenen Betriebsversammlung wie folgt zusammen: Die Frage steht vor dem Betriebsrat, denn die Entscheidung wird auch von ihm verlangt, wenn es darum geht Verschlechterungen für die Arbeiterschaft und für die Angestellten anzunehmen, dann muss er auf der anderen Seite die Gelegenheit haben,

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Einsicht zu nehmen in die Betriebswirtschaft, um sich selbst ein Urteil bilden zu können: Was ist Wahrheit und was ist nur vorgetragen. Am Montag habe ich Herrn Gen. Dir. Haspel erklärt, als mir verschiedene Dinge gesagt wurden, bitte schön, so, wie ich die Sache ansehe, glaub ich nicht dass das, was mir vorgetragen wurde, stimmt. Ich glaube es erst dann, wenn die Unterlagen vorgelegt werden, um dem Betriebsrat die Möglichkeit zu geben, zu überprüfen, dass alles, was vorgetragen wird, auch den Tatsachen entspricht.26

An der im Zitat monierten zurückhaltenden Informationspolitik gegenüber den Arbeitnehmervertretern hielt die Unternehmensleitung auch nach Inkrafttreten des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 1953 weiterhin fest. Dies belegt die Tatsache, dass den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmerseite weiterhin die Einsicht in die Protokolle der Gremiensitzungen verwehrt wurde. Erst im Juni 1958 unterbreitete der Aufsichtsratsvorsitzende Hermann Josef Abs den Vorschlag, zukünftig die Niederschriften der Sitzungen allen Mitgliedern des Gremiums zuzuleiten; dieser Antrag wurde befürwortet. Sein Vorschlag reduzierte zwar die Informations-Asymmetrie zwischen Kapitalseite und Arbeitnehmerseite, ermöglichte jedoch den Arbeitnehmervertretern weiterhin nicht, sich anhand vorab verteilter Unterlagen intensiv auf die Sitzungen vorzubereiten. Dieses Manko brachte ein Vertreter der Arbeitnehmer zum Ausdruck. Seiner Ansicht nach waren „die den Aufsichtsratsmitgliedern vor der Bilanzsitzung gegebenen Informationen und Unterlagen nicht ausreichend“. Er bemängelte, dass „insbesondere […] der Prüfungsbericht noch nicht zugegangen“ sei und gab zu Protokoll, dass deshalb die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat „nicht in der Lage [gewesen seien], in der heutigen Sitzung zu dem vorgelegten Jahresabschluss Stellung zu nehmen.“27 Die rechtzeitige Versorgung mit den relevanten Informationen blieb auch in den Folgejahren ein steter Quell der Auseinandersetzung. So mahnte ausweislich des Protokolls der Arbeitnehmervertreter Karl Hauff auf der Aufsichtsratssitzung im April 1965 an, dass der Bericht des Vorsitzers zur Geschäftslage an die Herren des Aufsichtsrates ca. 2 Tage vor der Aufsichtsratssitzung zum Versand gebracht wird, damit den Herren solcherart Gelegenheit geboten wird, sich im Detail mit dem umfangreichen Zahlenwerk, welches ein derartiger Bericht enthalten muss, vorweg auseinanderzusetzen.28

Die Auseinandersetzung um die Frage der Informationspolitik der Unternehmensleitung gegenüber den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat zeigt, dass es letzteren im Laufe der Jahre zwar schrittweise gelungen war, zentrale Unterlagen und Dokumente zur Verfügung gestellt zu erhalten. Doch mussten sie bis zum Ende des Untersuchungszeitraums um die recht26  Bericht über die Betriebsversammlung am 06. Dezember 1950, Archiv Daimler AG, K. C. Müller/ Personal und Soziales. 27  Bericht über die Sitzung des Aufsichtsrats am 12. Juni 1958, Archiv Daimler AG, Aufsichtsrat. 28  Bericht über die Sitzung des Aufsichtsrats am 27. April 1965, Archiv Daimler AG, Aufsichtsrat.

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zeitige Bereitstellung der Informationen kämpfen, die zur strukturierten Vorbereitung der Sitzungen unabdingbar waren. Die Politik der kleinen Schritte machte es der Unternehmensleitung möglich, zwar vordergründig ein konziliantes Verhältnis zur Arbeitnehmervertretung zu wahren, aber dennoch so weit und lange wie möglich, den durch das Betriebsverfassungsgesetz geschaffenen rechtlich-institutionellen Rahmen zu begrenzen. Nachdem der Aufsichtsrat der Daimler-Benz AG nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges zunächst auf zehn Sitze erweitert worden war, wurde das Gremium zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Betriebsverfassungs­ gesetzes auf acht Mitglieder reduziert.29 Die Reduzierung von zehn auf acht Personen erfolgte durch die Nichtbesetzung freigewordener Sitze. Nach Inkrafttreten des Betriebsverfassungsgesetzes musste den Bestimmungen folgend der Aufsichtsrat bei der Neuwahl zu einem Drittel mit Arbeitnehmervertretern besetzt werden.30 Die naheliegende Lösung, zu den nunmehr acht Vertretern der Kapitalseite weitere vier der Arbeitnehmerseite hinzuzustellen, wurde nicht gewählt. Um die Anzahl der Gesamtmandate nicht allzu sehr auszudehnen, verzichtete die Kapitalseite auf zwei weitere Mandate, wodurch die Arbeitnehmervertreter mit drei Mandaten in das Gremium einzogen. Hierdurch konnte maximal ein unternehmensexterner Gewerkschaftsvertreter in den Aufsichtsrat gewählt werden.31 Die annähernde Beibehaltung der ursprünglichen überschaubaren Aufsichtsratsgröße sollte einerseits bewirken, dass zukünftige Entscheidungsfindungs­prozesse der neuen und heterogenen Gruppe in dem mitbestimmten Kontrollorgan nicht durch eine hohe Anzahl an Meinungsvertretern träge und unnötig kompliziert wurden, andererseits sollte sie den geforderten Proporz der verschiedenen Interessengruppen sicherstellen. Auf dieses Vorgehen einigte sich der Vorstand unter dem neuen Vorstandsvorsitzenden Fritz Könecke in seiner Sitzung im April 1953, indem Könecke den Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Rummel in einem Brief bat, die Zahl der Aktionärsvertreter auf sechs zu reduzieren.32 Rummel ging mit dem Vorschlag Köneckes bzw. des Vorstandes d´accord und erklärte in diesem Zusammenhang in der im Juni 1953 abgehaltenen Aufsichtsratssitzung, dass diese die letzte Sitzung sei, in der die Vertreter des Betriebsrates noch als Gäste teilnehmen würden. Zukünftig würde der Aufsichtsrat aus sechs die Kapitalseite vertretenden Mitgliedern und, entsprechend den Be29  Siehe hierzu die Darstellungen in den Geschäftsberichten der Daimler-Benz AG der Jahre 1948/49 und 1950; des Jahres 1951; des Jahres 1952 und des Jahres 1953, Archiv Daimler AG, Geschäftsberichte. 30  Siehe zu diesem Aspekt auch die Darstellungen bei Wilfried Feldenkirchen: „Vom Guten das Beste“ Von Daimler und Benz zur DaimlerChrysler AG. Band 1: Die ersten 100 Jahre 19883-1983, München 2003, S. 245. 31  Siehe hierzu die Aufzeichnungen über die Vorstandssitzung am 25. November 1952, Archiv Daimler AG, Vorstand. 32  Siehe hierzu den Bericht über die Vorstandssitzung am 13. April 1953, Archiv Daimler AG, Vorstand.

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stimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes, drei Arbeitnehmervertretern bestehen.33 Bei den durch die Arbeitnehmerseite gewählten Vertretern handelte es sich um Ernst Schäfer, den Betriebsratsvorsitzenden des Werkes Sindelfingen als Vertreter der Arbeiter, Heinrich Lücker, den 2. Betriebsrat des Werkes Gaggenau als Vertreter der Angestellten und das Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft Metall Heinrich Brümmer als externen Gewerkschaftsvertreter.34 Die Wahl dieser drei Personen aus dem Kreis der Belegschaft spiegelt das Bestreben der Arbeitnehmerseite wider, neben den beiden Belegschaftsgruppen aus verschiedenen Werken auch einen externen Gewerkschaftler im Aufsichtsrat zu verankern. So wurde ein gleichmäßiges Verhältnis der verschiedenen Interessengruppen sichergestellt. Im Jahr 1955, rund drei Jahre nach Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes wurde die bestehende Teilnehmerzahl des Aufsichtsrates von neun auf zwölf Mitglieder angehoben. Die Prozesse der Entscheidungs­ findung in einer Gruppe mit Interessen­vertretern unterschiedlicher Parteien hatten sich in dieser Zeit bewährt und waren offenbar nicht wesentlich komplexer geworden, verglichen mit denen in Zeiten homogen besetzter Aufsichtsräte. Deshalb mussten zugunsten der Quandt-Familie und der FlickGruppe, denen aufgrund des Erwerbs größerer Aktienpakete der DaimlerBenz AG jeweils ein Sitz im Aufsichtsrat zustand, keine Kapitaleigner ausscheiden, wie es noch zwei Jahre zuvor der Fall war. So wurden Friedrich Flick und ebenso Herbert Quandt vor dem Hintergrund der Größe ihres Aktienbesitzes an der Daimler-Benz AG in den Aufsichtsrat gewählt. Dieses kündigte der Vorsitzende des Gremiums Rummel im Juni 1955 im Rahmen einer Sitzung an.35 Entsprechend der gesetzlichen Regelung sei der Gesamtbetriebsrat bereits durch den Vorstand über die beabsichtigte Erweiterung des Aufsichtsrates informiert worden und konnte infolgedessen rechtzeitige Vorkehrungen für die Zuwahl eines weiteren Belegschaftsvertreters treffen, so Rummel. So trat in das auf zwölf Personen gewachsene Gremium als vierter Arbeitnehmer­vertreter der Betriebsrat des Werkes Mannheim, Ludwig Hurm ein.36 Mit der Zuwahl Hurms in den Aufsichtsrat der Daimler-Benz AG bestätigte sich die Strategie der Arbeitnehmerseite, in der Vertretung im Aufsichtsrat ein möglichst breit gefächertes und gleichmäßiges Verhältnis der einzelnen Interessengruppen abzubilden. Nicht nur dieses Argument spricht für die Zuwahl eines unternehmensinternen Vertreters aus einem bis dato 33 

Bericht über die Aufsichtsratssitzung am 12. Juni 1953, Archiv Daimler AG, Aufsichtsrat. 34  Siehe hierzu die Darstellungen im Geschäftsbericht der Daimler-Benz AG 1953, Archiv Daimler AG, Geschäftsberichte. Darüber hinaus aber auch die Ausführungen bei Osswald 1986, S. 58. 35  Siehe hierzu den Bericht über die Aufsichtsratssitzung am 03. Juni 1955, Archiv Daimler AG, Aufsichtsrat. Des Weiteren auch bei Feldenkirchen 2003, S. 245. 36  Siehe hierzu die Darstellungen im Geschäftsbericht der Daimler-Benz AG für das Jahr 1955, Archiv Daimler AG, Geschäftsbericht.

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noch nicht repräsentierten Standort gegenüber der Verpflichtung eines weiteren Gewerkschaftlers. Rund ein Jahr später wurde die Mitgliederzahl des Aufsichtsrates von zwölf auf fünfzehn erhöht. Im Protokoll einer im Juni 1956 durchgeführten Aufsichtsratssitzung hieß es hierzu lediglich: Herr Abs berichtet über die Absicht den Aufsichtsrat auf 15 Mitglieder zu erhöhen, es wird demzufolge beschlossen, in die vom Aufsichtsrat genehmigte Tagesordnung für die Hauptversammlung am 25. Juni 1956 als Punkt 4) aufzunehmen: „Zuwahl zum Aufsichtsrat“ damit die Hauptversammlung über den Antrag auf Erhöhung der Aufsichtsratsmitglieder auf 10 Aktionärsvertreter und 5 Arbeitnehmervertreter entscheiden kann.37

Die Erweiterung der Aufsichtsratssitze kann als Reaktion des Unternehmens auf die Steigerung des Aktienkapitels der beiden Großaktionäre Flick und Quandt gewertet werden. So gelang es 1956 der Flick-Gruppe etwa 40 Prozent und der Quandt-Familie etwa 15 Prozent der Anteile des Unternehmens durch Zukäufe zu erlangen.38 Daraufhin wurden von der Kapitalseite jeweils ein weiteres Familienmitglied der Quandts und eines der Flicks in den Aufsichtsrat berufen. Die Erhöhung der Anzahl der Aufsichtsratssitze bedeutete gleichzeitig die Zuwahl eines weiteren Vertreters der Arbeitnehmerschaft. Von der Arbeitnehmerseite wurde der Betriebsrat des Werkes Stuttgart-Untertürkheim, Ludwig Becker in den Aufsichtsrat gewählt.39 Somit waren von den fünf Werken der Daimler-Benz AG die vier traditionsreichen Werke Sindelfingen, Gaggenau, Mannheim und Stuttgart-Untertürkheim im Aufsichtsrat vertreten und es wurde eine breite Repräsentation der zum Unternehmen gehörenden Mitarbeiter sichergestellt. Eine Diskussion über die Möglichkeit, dass durch diese Erweiterung ein weiterer unternehmensexterner Gewerkschaftsfunktionär als Vertreter der Arbeitnehmerseite in das Gremium einziehen könnte, ist in den Akten nicht dokumentiert. Bis zum Ende des Untersuchungszeitraums, dem Rezessionsjahr 1966/67 blieb die Größe des Aufsichtsrates von fünfzehn Mitgliedern, bestehend aus zehn die Kapitalseite vertretende und fünf die Arbeitnehmerseite vertretende Mitglieder, konstant. Eine Veränderung bestand lediglich in der Zusammensetzung der repräsentierten Werke. So wurde in Folge des Erwerbs der AutoUnion durch die Daimler-Benz AG im Jahr 1959 nach dem Ausscheiden des Mannheimer Betriebsrates Ludwig Hurm 1961 ein Betriebsrat des Stammwerkes Ingoldstadt bis zum Verkauf der Auto-Union an die Volkswagen-

37  Bericht über die Sitzung des Aufsichtsrates am 01. Juni 1956, Archiv Daimler AG, Aufsichtsrat. Siehe zur Erhöhung des Aufsichtsrates von 12 auf 15 Mitglieder auch den Bericht über die Betriebsversammlung vom 19. Juni 1956, Archiv Daimler AG, Könecke 12.1. 38  Siehe hierzu auch die Darstellungen bei Feldenkirchen 2003, S. 245. 39  Siehe hierzu die Darstellungen im Geschäftsbericht der Daimler-Benz AG des Jahres 1956, Archiv Daimler-Benz AG, Geschäftsberichte.

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werk AG im Jahre 1965 in den Aufsichtsrat gewählt.40 Dies spiegelt abermals die von der Arbeitnehmerseite verfolgte Proporz-Strategie wider.

Schlussbetrachtung Die betriebliche Mitbestimmung über den Aufsichtsrat als Teil des spezifisch deutschen Systems der industriellen Beziehungen förderte die Mitverantwortung der Arbeitnehmer an wesentlichen strategischen Entscheidungen des Unternehmens Daimler-Benz AG, da die Arbeitnehmer durch ihre gewählten Vertreter an den grundsätzlichen Planungs- und Entscheidungsprozessen im Unternehmen seit Inkrafttreten des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 beteiligt waren. Die im Zuge der Mitbestimmung getroffenen Beschlüsse vereinigten unterschiedliche Sichtweisen und eine Vielzahl von Argumenten der verschiedenen Interessengruppen. Hierdurch gewannen die Entscheidungen deutlich an Qualität. Der Entscheidungsfindungsprozess wurde komplexer und dauerte mitunter länger, die Umsetzung der Beschlüsse erfolgte jedoch reibungsloser, weil zuvor bereits in einer offenen Diskussion die Argumente aller Parteien ausgetauscht werden und dadurch alle Akteure sowie die durch sie repräsentierten Gruppen Beschlüsse besser mittragen konnten. Die Form der Teilhabe der Arbeitnehmer an der Unternehmenskontrolle über das Ins­ trument Mitbestimmung im Aufsichtsrat bewährte sich auch im Beispiel Daimler-Benz AG, bei dem die Beschlüsse, die seit der Implementierung des Betriebsverfassungsgesetzes bis zum Rezessionsjahr 1966/67 im Aufsichtsrat durch die Kapitaleigner und Arbeitnehmervertreter stets einstimmig getroffen wurden. Nach ersten positiven Erfahrungen mit der Beschlussfindung bei einer Anzahl von neun Aufsichtsratsmitgliedern wurde der Aufsichtsrat der Daimler-Benz AG in den ersten Jahren der drittelparitätischen Mitbestimmung schrittweise auf eine Mitgliederzahl von fünfzehn Personen vergrößert. Ein weiteres Kennzeichen für die Demokratisierung des Unternehmens bestand darin, dass die Arbeitnehmervertreter bestrebt waren, ein gleichmäßiges Verhältnis der verschiedenen Interessensgruppen sicherzustellen. So war im Aufsichtsrat neben den Vertretern der einzelnen Werke des Unternehmens auch stets ein externer Gewerkschaftler im Aufsichtsrat der Daimler-Benz vertreten. Durch diese Mischung aus internen und externen Arbeitnehmer­vertretern wurde einerseits das spezifische, betriebliche Expertenwissen in das Gremium eingebracht, andererseits aber auch auf der Arbeitnehmerseite Wissen zu übergreifenden ökonomischen Zusammenhängen verankert und sichergestellt, dass die im Aufsichtsrat vertretene Linie der Arbeitnehmer der grundsätzlichen Linie der Gewerkschaften nicht zuwiderlief.

40 

Siehe hierzu die Ausführungen in den Geschäftsberichten der Daimler-Benz AG der Jahre 1957 bis 1967, Archiv Daimler AG, Geschäftsberichte.

Rüdiger Gerlach

„Das geschlossene System ökonomischer Hebel“ Die Erfolgsbeteiligung der Beschäftigten im Automobilbau im DDR-BRD-Vergleich 1950–1980 Die Idee einer Erfolgsbeteiligung, mit der die Beschäftigten am gemeinsam erwirtschafteten Betriebsergebnis partizipieren sollten, gewann in den 1950er Jahren sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland an Bedeutung. Das Konzept war nicht neu, schien aber gerade in der Aufbau- und Wirtschaftswunder­ zeit auf fruchtbaren Boden zu fallen.1 Zum einen erschien eine Beteiligung der Beschäftigten an den wirtschaftlichen Erträgen des von ihnen geschulterten industriellen Wiederaufbaus moralisch angemessen und personalpolitisch sinnvoll. Zum anderen stand die Erfolgsbeteiligung in dieser Phase im Zusammenhang mit dem Systemwettbewerb der zwischen den beiden deutschen Staaten ausgetragen wurden. Ideologen beider Lager warben schließlich damit, dass die Arbeiter einen gerechten Anteil, an dem von ihnen erwirtschafteten Mehrwert, erhalten sollten. Der Fall der Automobilindustrie, welche die Wirtschaftswunderzeit der 1950er und 1960er Jahre praktisch verkörperte, ist für den Vergleich von Erfolgsbeteiligungen in den konkurrierenden Systemen besonders geeignet. Der VW-Käfer und der Trabant wurden zu Symbolen industriellen Aufschwungs, womit sich die Frage stellt, wie und in welchem Maße Volkswagen und Sachsenring ihre Beschäftigten an diesen Erfolgsgeschichten partizipieren ließen. Wie Hans Pohl und Horst A. Wessel anmerken, ist der Begriff der Erfolgsbeteiligung nicht klar definiert. Je nach Interpretation können auch weite Teile der betrieblichen Sozialleistungen, wie Pensionskassen, Vermögensbildungsmaßnahmen oder Zuschüsse zu den Betriebskrankenkassen als Erfolgsbeteiligungen gewertet werden. Um eine Vergleichbarkeit zwischen Ost und West zu ermöglichen, werden hier ausschließlich über den Arbeitslohn hi­ nausgehende Zahlungen an die Beschäftigten betrachtet, welche unter Bezugnahme auf die wirtschaftliche Leistung des Unternehmens, einer Gruppe 1 

Ein wissenschaftlicher Diskurs über die Gewinnbeteiligung der Arbeiter wurde in Deutschland im Jahr 1835 durch den Tübinger Staatswissenschaftler Robert Mohl angestoßen. Robert Mohl: „Über die Nachtheile, welche sowohl den Arbeitern selbst als dem Wohlstande und der Sicherheit der gesamten bürgerlichen Gesellschaft, von dem fabrikmäßigen Betriebe der Industrie zugehen und über die Notwendigkeit ­gründlicher Vorbeugungsmittel“, Tübingen 1835. Zur Ideengeschichte der Gewinnbeteiligung: Ulrich Engelhardt: „Verschmelzung der Interessen“ statt „unseliger Konflikte zwischen Kapital und Arbeit“? Zur Konfliktprophylaxe im frühindustriellen Betrieb: Das erste „Industrial-Partnership“-Experiment in Deutschland (1867–1873), in: Archiv für Sozialgeschichte 21(1981), S. 97–178, S. 100–123.

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oder eines einzelnen Mitarbeiters gewährt wurden. Diese traten unter anderem als Gewinnbeteiligungen, Prämien, Erfolgsprämien, Sonderzahlungen oder Gratifikationen in Erscheinung. Die Partizipation der Belegschaft am Betriebsgewinn galt dabei sowohl der Schaffung von Leistungsanreizen als auch „sozialreformerischen und sozialpartnerschaftlichen Programmen“.2 In der frühen Bundesrepublik wurde die Erfolgsbeteiligung als zeitgemäßes Mittel zur Überwindung sozialer Spannungen und zur Steigerung des volkswirtschaftlichen Leistungsvermögens gepriesen. Aus sozialethischer Sicht sei es geboten, die Arbeiter und die Kapitalgeber, nach Abzug des „Marktlohns“ und des „Marktzinses“, zu gleichen Teilen an dem geschaffenen Mehrwert des Unternehmens zu beteiligen, um dem gesellschaftlichen Ziel „sozialer Versöhnung“ näherzukommen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht galt es den persönlichen „Mehreinsatz“ und die „unternehmerische Initiative“ der Beschäftigten, welche über die arbeitsvertraglich geregelte Tätigkeit hinaus erbracht wurde, zu fördern und zu belohnen, um die „schöpferische Mitwirkung“ der Beschäftigten zum Wohl des Unternehmens zu beflügeln.3 Interessanterweise entwickelte sich parallel auch in der DDR ein System von Erfolgsbeteiligungen. Dabei bediente man sich nicht unähnlicher Argumente wie in der BRD, allerdings mit einer etwas anderen ideologischen Färbung: Da der Gegensatz von Arbeit und Kapital im Sozialismus überwunden worden sei und „jeder nach seinen Fähigkeiten“ und „nach seiner Leistung“ entlohnt werden sollte, seien zusätzliche soziale Leistungen und leistungsunabhängige Löhne nicht mehr zeitgemäß. Erfolgsbeteiligungen waren, wie der Leistungslohn, nach dem Prinzip der „materiellen Interessiertheit“ anzuwenden. Von der Herstellung eines möglichst direkten Zusammenhangs zwischen Mehrleistungen des Einzelnen und seiner materiellen Lage erhoffte man die Partizipation der Beschäftigten am Wiederaufbau zu stimulieren und die volkswirtschaftliche Leistung als Ganzes zu verbessern.4 2  Einen Überblick über die Problematik der Erfolgsbeteiligungen aus historischer Sicht bieten Hans Pohl und Horst A. Wessel in ihrer Einführung zu: Vera Stercken / Reinhard Lahr: Erfolgsbeteiligungen und Vermögensbildung der Arbeitnehmer bei Krupp. Von 1811–1945, Stuttgart 1992, S. 1–18. 3  Beispielhaft sei auf eine Reihe Franz Spiegelhalters in der Zeitschrift „Der Arbeit­ geber“ verwiesen: Franz Spiegelhalter: „Zur Gewinnbeteiligung“, in: Der Arbeitgeber, 1951, Nr. 8, S. 14–18, „Zur Gewinnbeteiligung II“, in: Der Arbeitgeber, 1951, Nr. 10, S. 20–21, „Zur Gewinnbeteiligung III: Der gesamtwirtschaftliche Aspekt“, in: Der Arbeit­geber, 1951, Nr. 12, S. 14–17, „Zur Gewinnbeteiligung IV: Sozialer Friede und soziale Sicherheit“, in: Der Arbeitgeber, 1951, Nr. 13, S. 26–31, „Die Praxis der Gewinnbeteiligung“, in: Der Arbeitgeber, 1951, Nr. 14, S. 34–39. 4  Vgl. Lexikon der Wirtschaft. Arbeit, Berlin 1968, Lemma „Hebel, ökonomische“, S. 333–334, „Interessiertheit, Prinzip der materiellen“, S. 359. Birgit Wolf: Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch, Berlin 2000, S. 144. Der alte sozialistische Grundsatz „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“ wurde in der Verfassung der DDR verankert. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 (in der Fassung vom 7. Oktober 1974), Kapitel 1, Absatz 2, Satz 3.

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Der Blick auf die Erfolgsbeteiligung im Volkswagenwerk5 und im VEB Sachsenring, beziehungsweise seinen Vorgängern,6 ermöglicht zum einen zu hinterfragen, welche Anwendung die Erfolgsbeteiligungssysteme unter den spezifischen wirtschaftlichen Bedingungen des Automobilbaus fanden. Zum anderen erlauben die Vergleichsobjekte systemimmanente Faktoren und Pfad­abhängigkeiten bei der Entwicklung der Erfolgsbeteiligungssysteme in DDR und BRD zu untersuchen. Beide Betriebe standen prototypisch für den wirtschaftlichen Wiederaufbau auf der Grundlage fordistischer Massenproduktion, mit seiner jeweiligen spezifischen Ausprägung.7 Sie gerieten „nach dem Boom“8 in den späten 1960er und frühen 1970er Jahre unter erheblichen Anpassungs- und Modernisierungsdruck. Schließlich standen sie seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mustergültig für die getrennten ökonomischen Entwicklungswege in Ost und West – der Innovationsschwäche der DDR-Industrie und dem gelungenen Strukturwandel in der BRD.9

Der Erfolgsbeteiligungsgedanke Heinrich Nordhoffs Der Generaldirektor des Volkswagenwerkes Heinrich Nordhoff machte die Erfolgsbeteiligung nach dem Urteil seiner Biographin Heidrun Edelmann zum „Herzstück der sozialen Betriebspolitik im Volkswagenwerk“.10 Ganz vom Leistungs- und Prosperitätsgedanken der Wirtschaftswunderzeit einge5 

Mit Volkswagen und Volkswagenwerk wird hier die Gesellschaft bezeichnet, welche die inländischen Volkswagenwerke leitete. Diese firmierte als Volkswagenwerk GmbH, 1938 bis 1960, als Volkswagenwerk AG, 1960–1985, und als Volkswagen AG, seit 1985. Seit 1953 war diese Gesellschaft Teil des Volkswagen Konzerns. Zur Unternehmensentwicklung: Manfred Grieger, Ulrike Gutzmann, Dirk Schlinkert (Hrsg.): Volkswagen Chronik. Der Weg zum Global Player, Wolfsburg 2008. 6  Der VEB Sachsenring ging aus dem 1948 enteigneten Horch Werk in Zwickau hervor. VEB HORCH Kraftfahrzeug- und Motorenwerke Zwickau firmierte seit 1957 als VEB Sachsenring Kraftfahrzeug- und Motorenwerk Zwickau. Am 1. Mai 1958 wurde Sachsenring mit dem Audi Werk Zwickau, welches als VEB Automobilwerk Zwickau (AWZ) firmierte, im VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau vereinigt. 7  Vgl. Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 370–376. Volker Wellhöner: „Wirtschaftswunder“ – Weltmarkt – westdeutscher Fordismus. Der Fall Volkswagen, Münster 1996. 8  Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008 und André Steiner: „Bundesrepublik und DDR in der Doppelkrise europäischer Industriegesellschaften. Zum sozialökonomischen Wandel in den 70er Jahren“, in: Zeithistorische Forschungen, Online Ausgabe, 2006, Nr. 3. 9  Vgl. Reinhold Bauer: Pkw-Bau in der DDR. Zur Innovationsschwäche von Zentralverwaltungswirtschaften, Frankfurt 1999. 10  Heidrun Edelmann: Heinz Nordhoff und Volkswagen: Ein deutscher Unternehmer im amerikanischen Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 155–157.

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nommen, postulierte er, dass ein sozialer Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nur auf der Basis des gemeinsam erzielten wirtschaftlichen Erfolgs möglich sei.11 Gerade im Hinblick auf die wenig motivierenden Produktionsverhältnisse im Volkswagenwerk schienen ihm zusätzliche Maßnahmen geboten, um die Beschäftigten vom Sinn des gemeinsamen Schaffens zu überzeugen: „Es ist nun einmal so, daß jede Fabrikation größeren Stils zu einer weitgehenden Aufgliederung des Arbeitsprozesses zwingt. Das führt leicht zu einem Zerfall der Zusammengehörigkeit und zum Verlust der Einsicht in den Sinn und den Zusammenhang der Arbeit.“12 Die Erfolgsbeteiligung sollte das in einem fordistisch organisierten Großbetrieb beinahe zwangsweise aufkommende Motivations- und Identifikations­ problem beheben: „Was über die gewiß ungewöhnlich hohen freiwilligen Sozialleistungen hinaus und zu den vielen Maßnahmen, die wir ergriffen haben, um die wirkliche Zusammengehörigkeit dieses Werkes mit allen seinen Mitarbeitern zu erreichen, und vor allem auch ­jedem das Gefühl zu geben, daß seine Arbeit, wie es schon in der Schrift heißt, des Lohnes Wert sei, noch offen blieb, das ließ sich nach unserer aus vielem Nachdenken geborenen Überzeugung nur erreichen, wenn jeder in diesem Volkswagenwerk Beschäftigte ganz besonders in diesem Jahre auch in irgendeiner Weise am Ertrag der gemeinsamen Arbeit beteiligt wird, … .“13

Für die genaue Form der Erfolgsbeteiligung lag aber noch kein Konzept vor. Ebenso wenig gab es bei Volkswagen eine Tradition, an der man sich hätte orientieren können. Sonderzahlungen erfolgten im Werk bereits in der Zeit des Nationalsozialismus in Form von Weihnachtsgratifikationen, 14 die aber traditionell weniger leistungsbezogenen, denn einen sozialen Charakter hatten. In der ersten Hälfte der 1950er Jahre fand eine schrittweise Institutionalisierung der Erfolgsbeteiligung bei Volkswagen statt. Zunächst erfolgte sie in Form von Sonderzuwendungen für das Erreichen von Produktionsjubiläen. Nordhoff lobte bereits 1949 eine solche Zahlung, in Form einer „einmaligen freiwilligen Urlaubszuwendung“ von 25 DM, aus Anlass des 50 000sten Wa11  In seinen Reden beschwor Nordhoff gerne das Vorbild der USA in denen klassenkämpferisches Denken nicht existiere und sich alle Beteiligten „dem gemeinsamen Ziel des Fortschritts verpflichtet fühlen“. Vortrag „Industrielle Wirtschaftsführung“ anlässlich der Übernahme des Lehrauftrags an der Technischen Universität Braunschweig am 29. November 1955, in: Heinrich Nordhoff: Reden und Aufsätze. Zeugnisse einer Ära, Düsseldorf 1992, S. 180. 12  Ebd. S. 141. Vortrag vor der schwedischen Handelskammer in Stockholm am 13. März 1953 mit dem Thema „Initiative und Verantwortung des Unternehmers in der freien Wirtschaft“. 13  Ebd. S. 160–161. Ansprache bei der Pressekonferenz aus Anlass der Produktion des 500 000. Volkswagens am 4. Juni 1953. 14  Hans Mommsen, Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996, S. 418.

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gen aus. Zusätzlich wurden 500 Fahrräder verlost. Bereits hier verwies Nordhoff auf den gemeinschaftsstiftenden Aspekt und die Leistungsbezogenheit dieser Zuwendung: „Ich fand keinen besseren Weg, der Anerkennung ihrer hervorragenden Arbeit Ausdruck zu geben und meines Zugehörigkeitsgefühls innerhalb dieser geschlossenen Mannschaft, die man Volkswagenwerk nennt.“15 1950 folgte eine „Leistungsprämie“ für den 100 000sten Wagen in Höhe von einem Drittel eines Monatseinkommens. Für den 250 000sten Wagen wurde 1951 eine weitere Erfolgsbeteiligung ausgeschüttet, die aber wegen der schlechteren Wirtschaftslage nur noch ein Sechstel eines Bruttomonatslohns betrug. 1952 beinhaltete das Weihnachtsgeld eine Sonderzahlung von 30 bis 40 DM. 1953 wurde für den 500 000sten Wagen eine weitere Zuwendung zwischen 50 und 120 DM pro Beschäftigtem angewiesen. 16 Erst 1954 wurden jährliche Erfolgsprämien, in Höhe eines vom Vorstand festzusetzenden Prozentsatzes des jeweiligen Bruttoverdienstes, eingeführt. Der Berechnungssatz sollte sich an der Höhe der Dividende orientieren. Die Idee war, dass Arbeit und Kapital im gleichen Maße von dem Unternehmenserfolg profitieren sollten: Wenn die Generalversammlung für das Jahr 1953 nun eine Dividende von 4% aussetzt, die wir als ordentliche Kaufleute für Rechnung dessen, den es angeht, akkumulieren, wäre es dann nicht sinnvoll, einfach und klar für jeden, wenn die gleichen 4% auf die Lohn und Gehaltssumme im gleichen Zeitraum an all unsere Mitarbeiter in diesem Jahr so sichtbaren Erfolges verteilt würden? Was der eine mit seinem Geld beiträgt, das hat der andere mit seiner Arbeit zum gemeinsamen Erfolg beigetragen. (…) Ich bin dem Beirat unseres Werkes (…,) dankbar für die Zustimmung zu diesem Plan, den die Geschäftsleitung aus freien Stücken, aus eigenem Entschluß, gefaßt hat, (…). Dieses ist kein Entschluß, für den wir in irgendeiner Form bedankt sein wollen, keine Wohltat und kein Geschenk, sondern nach meiner festen Überzeugung eine Maßnahme der Gerechtigkeit und des sinnvollen Ausgleiches, mit der die absolute Gemeinsamkeit unserer Arbeit, unserer Erfolges und unseres Schicksals in diesem Werk dokumentiert wird, und zwar durch Taten, nicht durch Reden.17

So einprägsam Nordhoffs Beteiligungssystem auch war, einer absoluten „Gleichbehandlung von Arbeit und Kapital“ fehlte die Basis, weil die Bruttolohnsumme nicht dem gezeichneten Kapital der Gesellschaft entsprach. In der Praxis behielt sich der Vorstand vor, die Erfolgsprämie nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Bereits 1955 wurde die Gewinnausschüttung deutlich erhöht, ohne dass der Berechnungssatz der Erfolgsbeteiligung angehoben wurde. 15  Nordhoff (1992), S. 72. Rede aus Anlass der Fertigstellung des 50 000. Volkswagens am 13. Mai 1949. Der Brauch Fahrzeuge zu verlosen wurde auch bei späteren Produktionsjubiläen beibehalten, soll aber nicht näher untersucht werden. 16  Jahresberichte 1949–1954, Vorstandsbereich Personal, Unternehmensarchiv Volkswagens (UVW) 69/701/1949–1954. 17  Nordhoff (1992), S. 161–162. Ansprache bei der Pressekonferenz aus Anlass der Produktion des 500 000. Volkswagens am 4. Juni 1953.

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1960 setzte sich schließlich das Verfahren durch, dass die Bemessungsgrundlage für die Erfolgsbeteiligung die Hälfte des Dividendensatzes betragen sollte. Diese „Regel“, auf die man sich in den 1970er Jahren immer wieder berufen sollte, wurde bis 1964 praktiziert. Tabelle: Volkswagen Entwicklung der Erfolgsprämien und ausgezahlten Dividenden 1954 bis 1971.18

1954 1955–1956 1957 1958 1959 1960–1962 1963 1964 1965–1969 1970 1971

Erfolgsbeteiligung in % des Bruttoarbeitsentgeltes

Dividende in %

4% 4% 4% 4% 4% 6% 6%+1% 8% 8% 8% 8%

4% 9% 10% 12% Über 100% Kapitalerhöhung 12% 14% 16% 20% 19% 18,5%

Die Erfolgsbeteiligung avancierte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zur wichtigsten freiwilligen Zusatzleitung des Unternehmens. Während sie deutlich schneller stieg als das durchschnittliche Arbeitsentgelt der Beschäftigten, verloren andere, nicht leistungsabhängige Zusatzzahlungen, wie das Weihnachtsgeld, an Bedeutung.19 Nordhoff war überzeugt, dass die Erfolgsprämie ihre Funktion nur erfüllen könnte, wenn es sich um eine freiwillige Leistung des Werkes handelte, die keinen Rechtsanspruch der Belegschaft begründete. Er verwies dementsprechend darauf, dass die Geschäftsleitung für diese Regelung verantwortlich war und nicht etwa die Arbeitnehmervertreter. Auf den Aspekt der Freiwilligkeit wies Nordhoff auch in späteren Jahren explizit hin: Es sei unter keinen Umständen eine rechtliche Verpflichtung einzugehen, die gegebenen-

18  Vorstand und Gesamtbetriebsrat der Volkswagen AG (Hrsg.): Das Buch. Für uns in Braunschweig, Emden, Hannover, Kassel, Salzgitter, Wolfsburg, Wolfsburg 1984, S. 314. Geschäftsberichte des Volkswagenwerkes 1953–1971 und Personalberichte des  Volkswagenwerkes 1953–1971, UVW 69/701/1953–1968, 69/704/1, 69/705/1, 69/707/1. 19  Das durchschnittliche Weihnachtsgeld pro Beschäftigten erhöhte sich zwar zwischen 1953 und 1965 von 141 auf 185 DM. Gemessen an der Entwicklung der gesamten Personalaufwendungen hatte sich sein Anteil von 2,4% auf 1,3% fast halbiert. Personalberichte des Volkswagenwerkes 1953–1965, UVW 69/701/1953–1965.

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falls später zu einer „schwierigen Situation“ führen könne.20 Um zu verhindern, dass aus den Erfolgsprämien vor Gericht einklagbare Gewohnheitsrechte wurden, die im Falle wirtschaftlicher Schwierigkeiten nicht gesenkt werden könnten, wurden sie unter dem ausdrücklichen Hinweis auf die Freiwilligkeit dieser Leistungen gewährt.21 Selbstredend wurde auch eine tarifvertragliche Regelung der Erfolgsbeteiligung ausgeschlossen, da diese der Natur der Erfolgsbeteiligung nach dem Verständnis des Vorstandes widersprach. Auf die Forderung der Gewerkschaften, die „Prämie“ im Manteltarif zu „legalisieren“, hieß es: „Die Herren sind sich darüber einig, daß eine solche Zusage in Hinblick darauf, daß das jeweilige Geschäftsergebnis nicht vorher übersehbar ist, nicht gemacht werden kann.“22 In Anbetracht der ­guten Geschäftsentwicklung gab es aber in der Ära Nordhoff keinen Grund von der Möglichkeit einer Kürzung der freiwilligen Leistung Gebrauch zu machen. Bemerkenswert ist, dass Nordhoff die Erfolgsprämie gegen die Bedenken der Bundesregierung durchsetzte. Während die Einführung von Erfolgsbeteiligungen in deutschen Unternehmen in den Wirtschaftswunderzeiten nicht ungewöhnlich war, gerieten Nordhoffs Pläne, wegen der besonderen Bedeutung des Volkswagenwerkes, in die Kritik, so dass sich sogar das Bundeskabinett veranlasst sah, sich mit diesem Fall zu befassen. Die Kabinettsmitglieder hatten eine geteilte Meinung bezüglich der Erfolgsbeteiligungen. Nach Ansicht des Arbeitsministers böten sie die Möglichkeit, die Arbeiter „durch Beteiligung am Eigentum oder Gewinn an den Betrieb zu binden.“ Der größte Teil des Kabinetts sah aber vor allem die ­Risiken einer solchen Regelung: Erstens bestehe die Gefahr, dass die Re­ duzierung der Erfolgsprämie in schlechten Zeiten zur „Enttäuschung“ der Belegschaft führen könne. Zweitens seien Werke in der Umgebung dann gezwungen, ebenfalls Prämien zu gewähren, wodurch zusätzliche Belastungen entstünden. Drittens „sei der Gedanke unwirtschaftlich und seine soziale Auswirkung fragwürdig. Wenn ein Betrieb so starke Überschüsse erziele, dann müsse er die Preise herabsetzen, damit die Vorteile auch der Gesamtheit zugute kämen.“ Viertens hätte es eine präjudizierende Wirkung, wenn private Unternehmen dem Beispiel nicht folgen könnten, „werde die Forderung zur Verstaatlichung einen günstigen Ansatzpunkt haben“. Schließlich stimmte das Kabinett der Prämie für das Jahr 1953 unter der Bedingung zu, dass es sich um eine einmalige Maßnahme zum Produktionsjubiläum handelte und dass „kein Präjudiz und keine Beziehung zwischen 20 

Protokoll über die Sitzung des Vorstandes 15 am 8. November 1962, 12. 11. 62, UVW 373/455/2. 21  „Bei der Gewährung der Erfolgsprämie handelt es sich um eine einmalige, freiwillige Zahlung der Volkswagen AG, auf die kein Rechtsanspruch besteht.“ Interne Mitteilung, Erfolgsprämie für das Jahr 1963, 14. 5. 1964, UVW 2174. 22  Protokoll über die Sitzung des Vorstandes 5 am 9. April 1964 vom 13. 5. 64, UVW 373/455/2.

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dem Prozentsatz für die Dividende und der Höhe der Ausschüttung an die Werksangehörigen geschaffen werden“ dürfe.23 Eine im Jahr 1951 initiierte Umfrage unter den westdeutschen Großbetrieben macht die Skepsis der Unternehmen bezüglich der Erfolgsbeteiligung deutlich. Nur 36 Betriebe bejahten die Idee einer Erfolgsbeteiligung, während 288 diese ablehnten.24 Eine weiterführende Untersuchung aus dem Jahre 1957 wies auf einen Trend zur Einführung von Beteiligungssystemen hin. Besondere Vorteile hätte die Dividendenbeteiligung, wie sie auch Volkswagen anwendete. Dieser wurde eine besondere psychologische Wirksamkeit zugeschrieben, weil sie den Beschäftigten die „Gleichwertigkeit“ von Arbeit und Kapital vor Augen führe, durch die Einfachheit ihrer Berechnung allgemein nachzuvollziehen sei und nicht die Gefahr von Verlustbeteiligungen bestand. So sei es nicht ungewöhnlich, dass Unternehmen ihre Abschluss- und Weihnachtsgratifikationen oft durch Dividendenbeteiligungssysteme ersetzten oder die Gratifikationen in solche Systeme integriert wurden.25 Das Volkswagenwerk war sicherlich kein Pionierunternehmen bei der Einführung der Erfolgsprämie. Aufgrund der öffentlichen Resonanz bei der Einführung von Erfolgsprämien bei Volkswagen ist aber davon auszugehen, dass das Werk ein positives Signal für die weitere Verbreitung von Erfolgsbeteiligungen setzte.26

Konflikt um die Erfolgsprämie Volkswagens 1966–1975 Im Jahr 1966 zeichnete sich für das Volkswagenwerk das Ende der langen Wachstumsperiode ab. Auch wenn das Unternehmen selbst von der Rezes­ sion 1966/67 weniger betroffen war als andere Unternehmen, stellte sich für den Vorstand nun erstmals die Frage, ob man Erfolgsbeteiligungen nicht der Geschäftslage entsprechend anpassen müsste. Diesen Plänen widersetzten sich aber die Arbeitnehmervertreter. Die Zeiten des „fordistischen Wachstumspaktes“ in denen der Vorstandsvorsitzende als Garant sozialer Verbes­ serungen galt und die Arbeitnehmervertreter zur Kooperation und Unterordnung gezwungen waren, endeten abrupt als sich die Geschäftsaussichten 23 

298. Kabinettssitzung am 23. Juni 1953, TOP [J.] Beteiligung der Werksangehörigen am Gewinn der Volkswagenwerke, Bundesarchiv Online (BAO) URL: http:// www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/0001/k/k1953k/kap1_2/kap2_36/para3_24.html (30. 4. 2011). 24  Der Arbeitgeber, 1951, Nr. 8, S. 14–18, Nr. 10, S. 20–21, Nr. 12, S. 14–17, Nr. 13, S. 26–31, Nr. 14, S. 34–39. 25  Der Arbeitgeber, 1957, Nr. 12, S. 413–419, Nr. 13/14, S. 457–461. 26  Typisch für die Berichterstattung der Zeit, über die sozialen Innovationen des Volkswagenwerkes ist folgender Artikel: „In König Nordhoffs Reich“, in: Der ­Spiegel, 1955, Nr. 33, S. 16–26. Zur Erfolgsbeteiligung siehe S. 23.

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verschlechterten. Im Zeichen schwindender Verteilungsspielräume fiel dem Betriebsrat und der IG-Metall die Aufgabe zu, die sozialen Errungenschaften der VW-Arbeiter gegen Sparmaßnahmen des Vorstandes oder Begehrlichkeiten der Aktionäre zu verteidigen. 1965 plante der Vorstand eine großzügige Dividende an die Aktionäre auszuschütten, um eine geplante Kapitalerhöhung zu unterstützen. Die Erfolgsbeteiligung für die Belegschaft sollte allerdings stabil gehalten werden. Die Dividende wurde von 16 auf 20% erhöht, die Erfolgsprämie verblieb allerdings auf 8% der Lohn und Gehaltssumme.27 Damit war die seit 1960 praktizierte „Regel“, dass die Bemessung der Erfolgsbeteiligung die Hälfte der Dividende betragen sollte, außer Kraft gesetzt. Der Vorstand hielt die Aussetzung der Erhöhung für angemessen, weil im selben Jahr die Zahlung eines tariflichen Urlaubsgeldes vereinbart wurde.28 Die Entscheidung wurde aber von den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat scharf kritisiert: „Herr Brenner [(Vorsitzender der IG-Metall)] hält die Zahlung einer ungekürzten Dividende im Hinblick auf die Beschäftigungslage im Unternehmen für eine psychologische Belastung der Belegschaft; daran ändern auch die hier zur Begründung dieser Ausschüttung vorgebrachten Gesichtspunkte nichts.“ Weiterhin hieß es: „Herr Bork [(Vorsitzender des Betriebsrates Volkswagens)] hält den Vergleich zwischen Dividendenausschüttung und Höhe der Erfolgsprämie nur dann für stichhaltig, wenn man von der ursprünglichen Relation zwischen Dividende und Prämie ausgehe, die 2:1 betragen habe. Erst wenn die Dividende einmal auf 16% heruntergehe, ergebe sich eine Wechselbeziehung zwischen Ausschüttung und Erfolgsprämie.“29 Noch war die Verhandlungsposition der IG-Metall Funktionäre nicht stark genug, um ihre Forderungen durchzusetzen. Schließlich handelte es sich bei der Erfolgsprämie um eine freiwillige Leistung, die ihrem Einfluss entzogen war. Sie erreichten erst nach dem Ausscheiden Heinrich Nordhoffs mit der teilweisen Regelung der Erfolgsprämie im Manteltarifvertrag einen wichtigen Schritt zur Sicherung der Prämie. Das Ziel der Gewerkschaft, freiwillige Sozialleistungen in die Tarifverhandlungen einzubeziehen und sie so zu einem verbrieften Recht der Belegschaften zu machen, schien mit dem „politischen Rückenwind“ der Ära Brandt zunehmend durchsetzbar zu sein. Im Jahre 1970 forderte die IG-Metall die tarifliche Regelung der Erfolgsprämie Volkswagens und setzte sich in Verhandlungen gegenüber den Arbeit­ gebervertretern durch. Anspruch erhielten nun alle Beschäftigten, die in dem der Prämie zugrundeliegenden Geschäftsjahr Einkommen von Volkswagen 27 

Protokoll über die Sitzung des Vorstandes 5 am 14. April 1966 vom 29. 4. 1966, UVW 373/455/1. 28  Vorlage zur Vorstandssitzung am 25. 1. 1972 Überblick über die Tarifsituation, Frerk, 21. 1. 1972, UVW 373/164/1. 29  Protokoll der 19. Sitzung des Finanzausschusses des Aufsichtsrats am 27. 2. 67, UVW 373/790/1/2.

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erhielten und zum 30.6. des Auszahlungsjahres Werksangehörige waren. „Die Höhe des Betrages sowie Einzelheiten über die Art und Weise der Zahlung“ wurden nicht fest geregelt, sondern sollten „im Einvernehmen mit den Betriebsräten festgelegt“ werden. Erst wenn eine Einigung nicht zustande kam, waren die „Vertreter der Tarifparteien hinzuzuziehen.“ Im Protokoll zum Manteltarifvertrag wurde allerdings festgelegt, dass die Prämie 1970 in der Summe mindestens der Prämie 1969 entsprechen sollte. Mit der tarifvertraglichen Regelung entfiel auch der bis 1969 bei der Auszahlung der Erfolgsprämie beigefügte Hinweis, „dass die Zahlung ohne Rechtsanspruch erfolge“.30 Damit wurde aus einer freiwilligen Leistung des Unternehmens ein Rechtsanspruch. Ein weiterer Konflikt bahnte sich aber im Zusammenhang mit der Unternehmenskrise der frühen 1970er Jahre an. Die Geschäftsleitung plante die Erfolgsbeteiligungen zu reduzieren und stärkere Anreize für die Beschäftigten zu setzen, die bei der derzeitigen Handhabung der Prämie nicht mehr gegeben sei. Sie sollte möglichst nach Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffelt, nach Anzahl der Ausfalltage des Beschäftigten differenziert und insgesamt verringert werden. Nur 38% der Betriebsangehörigen, die über 10 Jahre im Unternehmen beschäftigt waren, sollten dieselbe Erfolgsbeteiligung wie im Vorjahr erhalten.31 Die Auseinandersetzung um die Erfolgsprämie führte dem Management vor Augen, dass die Entscheidungshoheit über die ehemals „freiwillige Leistung“ längst nicht mehr alleine in seinen Händen lag. Der Personalleiter Volkswagens machte gegenüber dem Vorstand deutlich, dass die Arbeitnehmervertreter die Erfolgsprämie mittlerweile auch auf der Ebene der Tarifverhandlungen durchsetzen könnten: „Wenn es nicht gelinge, mit den Betriebsräten ein Einvernehmen über die Höhe des als Erfolgsprämie zur Verfügung zu stellenden Betrages zu erzielen, sei zu befürchten, dass der Tarifvertrag mit dem Ziel der Festlegung eines garantierten Betrages gekündigt werde.“32 Zwar wurde die Staffelung der Erfolgsbeteiligung nach der Betriebszugehörigkeit und die Reduzierung der Erfolgsprämie von 8% auf 5,25% des Jahreseinkommens zunächst vom Betriebsrat akzeptiert: Zum einen war aber „erkennbar, daß innerhalb des Betriebsrates die Tendenz bestehe, von der Staffelung herunter zu kommen.“ Zum anderen machten die Arbeitnehmervertreter deutlich, dass sie der Reduzierung der Prämie nur in diesem besonderen Fall zugestimmt hatten, um Entlassungen wegen der schlechten Geschäftslage zu verhindern.33 Die Bezugnahme auf das Verhältnis von Erfolgs30  Vorlage zur Vorstandssitzung am 25. 1. 1972 Überblick über die Tarifsituation, Frerk, 21. 1. 1972, UVW 373/164/1. 31  Protokoll über die 9. Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 13. 3. 1972, UVW 373/164/3. 32  Ebd. 33  Protokoll über die 11. Sitzung des Vorstands der Volkswagenwerk AG am 7. 4. 1972, UVW 373/164/3, Protokoll der 63. Aufsichtsratssitzung am 26. 4. 1973, UVW 373/832/1.

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prämie und Dividende unterblieb in dieser Diskussion. Die Dividende auf die Volkswagenaktien für das Geschäftsjahr 1971 fiel auf 9% und wurde ­zunächst nicht wieder angehoben. Im Rahmen der Krise 1974/75 entfiel die Dividende ganz.34 Für die Arbeitnehmervertreter machte es nunmehr auch keinen Sinn mehr, sich auf das althergebrachte Verhältnis Dividendensatz und Erfolgsprämie zu berufen. Als der Vorstand 1973 verlangte, die Erfolgsprämie auf niedrigem Niveau zu belassen und erst nach einer zweiten Gesprächsrunde eine geringfügige Erhöhung des Satzes auf 5,75% anbot, kam es zum Eklat zwischen den „Sozialpartnern“. Die im Manteltarifvertrag vorgesehene einvernehmliche Einigung über die Höhe der Erfolgsprämie mit dem Betriebsrat ließ auf sich warten und der Vorstand wurde seitens der Belegschaft unter massiven Druck gesetzt.35 In der Folge kam es zu mehreren spontanen Arbeitsniederlegungen, deren Schaden vom Vorstand mit einem Produktionsausfall von 1 806 Fahrzeugen beziffert wurde. Die verspätete Einigung sah Sonderzahlungen von 84% des Monatseinkommens in den Jahren 1973/1974 und 96% im Jahr 1975 anstelle der üblichen Prämien vor. Die Arbeitnehmerseite ging gestärkt aus dieser Machtprobe mit dem Vorstand hervor. Der Vorstandsvorsitzende Rudolf Leiding betonte, im Hinblick auf die Kosten der Erfolgsbeteiligung für das angeschlagene Unternehmen, seine „Auffassung, dass die Belegschaft sich keinen guten Dienst erwiesen habe, als sie mit Gewalt eine höhere Zu­ sage erstritten habe“, musste aber klein beigeben. Die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat stellten sich hingegen auf die Position, dass sie nur die berechtigte Position der Arbeitnehmer durchsetzten, das gewohnte Verhältnis zwischen Prämie und Dividende wiederherzustellen.36 Tatsächlich stand der Streit über die Erfolgsprämie am Anfang eines Machtkampfes zwischen dem Vorstandsvorsitzenden und den Arbeitgebervertretern, der mit der Abberufung Rudolf Leidings sein Ende fand.37 Der Machtzuwachs der gestärkt aus dieser Konfrontation hervorgegangenen Arbeitnehmer­vertreter ließ praktisch keinen Spielraum mehr für freiwillige Leistungen der Geschäftsführung, stattdessen wurde Volkswagen nun ein Pilot­betrieb für gewerkschaftliche Lohn- und Sozialpolitik. Hierbei sei da­ rauf verwiesen, dass es sich um einen volkswagenspezifischen Fall handelte. Da die Arbeitnehmervertreter, gestützt von den SPD geführten Regierungen des Bundes und des Landes Niedersachsen, über eine beträchtliche Macht im Aufsichtsrat verfügten, hatten sie eine erhebliche bessere Verhandlungsposi34 

„Sozialbericht 1976“, in: Autogramm, 1977, Nr. 7, S. 1–8, S. 2. Protokoll über die 5. ordentliche Betriebsversammlung von 5. Juli 1973, UVW 119/1196. 36  Protokoll der 63. Aufsichtsratssitzung am 26. 4. 1973, UVW 373/832/1. Zum Konflikt über die Erfolgsprämie siehe auch: Günther Koch: Arbeitnehmer steuern mit. Belegschaftsvertretung bei VW ab 1945, Köln 1987, S. 151. 37  Vgl. Werner Widuckel: Paradigmenentwicklung der Mitbestimmung bei Volkswagen, Wolfsburg 2004, S. 18. 35 

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tion gegenüber dem Vorstand als es bei anderen Automobilbauern in dieser Zeit der Fall war.38

Von der Erfolgsbeteiligung zur Sonderzahlung Nachdem die Gewerkschaften 1975 das Niveau der Sonderzahlung wieder auf 96% eines monatlichen Bruttoeinkommens gebracht hatten, forderten sie angesichts der besseren wirtschaftlichen Situation Volkswagens und der allgemeinen Tarifsituation zusätzliche Leistungen für ihre Klientel. Der Vorstand Volkswagens versuchte diesem Trend, Einmal- und Extrazahlungen zur Regel zu machen, entgegenzuwirken: „Dabei werde es darauf ankommen, die Einmal-Zahlung gegen künftige Ansprüche „abzuschotten“. Es böte sich an, „über die Einmal-Zahlungen keinen Tarifvertrag zu schließen, sondern den Weg einer für diesen einmaligen Fall geltenden Vereinbarung mit dem Tarif-Partner zu wählen.“ Gleichzeitig wurden aber berechtigte Zweifel an der Verhinderung der „Präjudiz Wirkung der Vereinbarung“ geäußert.39 Der Vorstand konnte nicht verhindern, dass regelmäßige Aufschläge auf die Sonderzahlungen und die Weihnachtsgratifikationen zu festen Bestandteilen der Tarifverhandlungen, und praktisch zu Gewohnheitsrechten wurden. Die IGMetall sorgte nun dafür, dass Sonderzahlungen regelmäßig erhöht und bei guter Geschäftslage entsprechende „Extras“ ausgeschüttet wurden.40 Für den Vorstand waren die Sonderzahlungen nicht mehr als ein weiterer Verhandlungsgegenstand mit den Gewerkschaften, von deren Gewährung kaum ein motivierender oder leistungssteigernder Effekt für die Belegschaft ausging. Im Gegenteil: Die hohen Sonderzahlungen wurden als Wettbewerbsnachteil Volkswagens gegenüber der Konkurrenz, besonders den Wettbewerbern aus dem Ausland, angesehen. Der Finanzvorstand rechnete 1977 mit einem Nachteil von mindestens 200 DM vom Verkaufspreis pro Wagen aufgrund des „Bereichs Weihnachtsgeld- und Sonderzahlungsregelungen“ – ein Trend, der sich nach seiner Ansicht noch weiter verstärken werde. Die Alternative zur Deckelung der Sonderzahlungen war aber ein Konflikt mit der Belegschaft beziehungsweise der IG-Metall, welchen der Vorstandsvorsitzende Toni Schmücker nicht riskieren wollte: „Herr Schmücker macht deutlich, daß bei aller Anerkennung der gegen eine Einmal-Zahlung sprechenden rationalen Gründe der emotionale Sprengstoff (…) berücksichtigt werden müsse.“41 38  Die Presse beschäftigte sich sehr intensiv mit den Machtverhältnissen im Aufsichtsrat Volkswagens. Exemplarisch sei hier folgender Artikel zum Sturz Leidings erwähnt: „Gearbeitet wie ein Berserker“, in: Der Spiegel, 1974, Nr. 53, S. 22–26. 39  Protokoll der Vorstandssitzung Nr. 32 am 27. 9. 1977, UVW 373/200/3. 40  Günther Koch: Stabilität und Wandel der Belegschaftsvertretung im Volkswagenwerk Wolfsburg, Göttingen 1985 (Dissertation Universität Göttingen), S. 241–242. 41  Protokoll der 32. Sitzung des Vorstandes am 27. 9. 1977, UVW 373/200/3.

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Ungeachtet der wirtschaftlichen Ergebnisse des Volkswagenwerkes, die im Vergleich zu anderen Automobilbauern zurückfielen, setzten die Gewerkschaften überproportionale Steigerungen der Sonder- und Weihnachtsgeldzahlungen durch. Die Weihnachtszuwendungen stiegen zwischen 1976 und 1982 durchschnittlich jährlich um 11,5%. Ähnlich verhielt es sich mit den Sonderzahlungen, die in dieser Zeit im Schnitt um 11,2% stiegen. Abbildung 1: Volkswagen: Durchschnittliche monatliche Arbeitsentgelte und jährliche Sonderzuwendungen pro Beschäftigtem.42

Die Einführung des gesetzlichen Erfolgsbeteiligungssystems im Zwickauer Automobilbau Im Zwickauer Automobilbau unterschied sich die Erfolgsbeteiligung bereits systembedingt von dem Modell Volkswagens. In der Planwirtschaft der DDR bedurfte die Gewährung solcher Erfolgsbeteiligungen zunächst gesetzlicher Grundlagen, die in der Regel durch den Ministerrat, die SED und den FDGB beschlossen wurden. Die Verteilung der Prämienmittel erfolgte unter der Beteiligung der Wirtschaftsbürokratie von der staatlichen Plankommission, über die Industrieministerien, Kombinate und Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB) bis hin zu den Volkseigenen Betrieben (VEB). Obwohl die maßgeblichen Akteure andere waren als in Westdeutschland, waren die Motive der Leistungsprämien ähnlich. Bei Sachsenring stand die 42  Errechnet aus: Geschäftsberichte der Volkswagen AG 1966–1982, Volkswagenwerk AG: Menschen im Mittelpunkt. Sozialbericht der Volkswagenwerk Aktiengesellschaft für das Jahr 1981, Wolfsburg 1982, Personalberichte Volkswagens 1966–1976, UVW 69/701/1966–1968 und 69/704–712. Über das Weihnachtsgeld liegen in einigen Jahren keine Angaben vor.

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Idee, die Leistungsbereitschaft jedes einzelnen Beschäftigten zu stimulieren, bald im Vordergrund des Prämienwesens. Gerade im Kontext der hochgesteckten ökonomischen Entwicklungsprogramme der SED, zu denen im Rahmen des zweiten Fünfjahresplans auch der Aufbau der Kleinwagenproduktion in Zwickau gehörte, sei „der materiellen und moralischen Anerkennung für gute Arbeitsleistungen eine große Bedeutung“ zugekommen, wie die Betriebsparteiorganisation Sachsenrings später herausstrich.43 Hierbei galt es, neben besonderen individuellen Leistungen, die Beteiligung der ­Beschäftigten an Initiativen und Wettbewerben zu belohnen. Ziele waren Kostensenkungen und die sparsame Verwendung von Finanzmitteln, die Entwicklung und Einführung neuer technischer Methoden, die Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch Automatisierungs-, Arbeitsgestaltungs-, und ­Rationalisierungsmaßnahmen, Verbesserungen der Qualität der Produkte, die Qualifizierung der Beschäftigten und schließlich der „Kampf um die volle Ausnutzung der Arbeitszeit und gegen die Vergeudung von materiellen und finanziellen Mitteln“.44 Daneben versuchte man aber auch die Beschäftigten besser in die Planung und Umsetzung der Betriebspläne einzubeziehen. Sie sollten bei Planerfüllung oder Übererfüllung des Betriebes belohnt, beziehungsweise für die Planuntererfüllung bestraft werden. Im Zwickauer Automobilbau erfolgte die Einführung und institutionelle Ausgestaltung leistungsabhängiger Prämien schrittweise, in Reaktion auf die staatlichen Vorgaben. In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre hatten die Sonderzahlungen an die Belegschaft noch eindeutigen Gratifikationscharakter. 1946 floss über ein Drittel der gesamten „Aufwendungen für soziale Leistungen“ des Audi Werkes Zwickau, abzüglich der Lehrlingslöhne, bezahlten Urlaubs und Feiertage, in die Weihnachtsgratifikation, welche damit die bedeutendste soziale Leistung darstellte. Ein Jahr später gab es eine erste Prämie von insgesamt 1 100 Reichsmark zum einjährigen Bestehen des Betriebs. Das entsprach 3,5% der „Aufwendungen freiwilliger sozialer Leistungen“. Der Hauptteil (48%) dieser Aufwendungen floss aber weiterhin in die Weihnachtszuwendungen.45 Solche sozialen, bewusst leistungsunabhängig gestalteten Zahlungen waren in den 1940er Jahren für Betriebe der DDR nicht ungewöhnlich.46 Besonders die Weihnachtsgratifikation galt aber als überkommenes kapitalistisches Überbleibsel, deren Zweck es gewesen sei „die Arbeiter 43  Betriebsparteiorganisation der SED des VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau: Automobilbauer einst und jetzt, Berlin 1976, S. 136, 155. 44  Lexikon der Wirtschaft. Arbeit, Berlin 1968, Lemma „Wettbewerb, Sozialistischer“, S. 634–635. 45  Fragen zur Überprüfung und Beratung der Betriebe zu Befehl 234, Audi Werk Zwickau, 7. 1. 1958, Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz (SSAC) 31076/75. 46  Jörg Roesler: Die Herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR. Aufgaben, Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftsplanung in der zentralgeleiteten volkseigenen Industrie während der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, Berlin 1978, S. 70.

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zu besänftigen und über die Tatsache der Ausbeutung hinwegzutäuschen“. Zudem widerspräche die „gleichmacherische Weihnachtsgratifikation“ dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Auf „Beschluss“ des FDGB wurde sie Anfang Dezember 1950 offiziell verboten, was zu nicht unerheblichen Protesten der Arbeiter führte.47 1950 wurden bei Audi und Horch bereits keine Weihnachtszuwendungen mehr ausbezahlt. Stattdessen wurden nun Erfolgsbeteiligungen aus dem eigens für Prämien, Sozialleistungen und Rationalisierungsmaßnahmen eingerichteten Direktorenfonds vergeben. Teil I dieses zweiteiligen Fonds umfasste „Einzel- und Kollektivprämien im Rahmen betrieblicher und überbetrieblicher Wettbewerbe“, aber auch Mittel für kulturelle und soziale Zwecke. Teil II des Fonds beinhaltete im Wesentlichen Prämienmittel zur gezielten Förderungen von Rationalisierungsmaßnahmen, zum Beispiel für Erfindungen und Verbesserungsvorschläge, produktionssteigernde und qualitätsverbessernde Wettbewerbe sowie freiwillige Normenerhöhungen.48 In den 1950er Jahren entwickelte sich bei den Zwickauer Automobil­ bauern langsam ein komplexes System von Prämien. Neben dem Erreichen von Produktionszielen wurden unter anderem tatsächliche individuelle oder ­kollektive Mehrleistungen, Materialeinsparungen, freiwilligen Normenerhöhungen, unbezahlten Überstunden und Aufbauleistungen, das Erringen von Wanderfahnen im sozialistischen Wettbewerb sowie technische und organisatorische Verbesserungsvorschlägen prämiert. Prämien eigneten sich daneben aber auch, um die Erziehung der Arbeiter nach den Vorstellungen der SED voranzutreiben. Neben der Arbeitsleistung spielte auch das „gesellschaftliche und kulturelle Engagement“ der Arbeitskollektive eine Rolle bei der Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel. Für die Arbeiter bedeutete das, dass Prämien nun auch an der Erfüllung von Kulturplänen, der Anzahl der Theaterbesuche, der Teilnahme an Sportveranstaltungen und der Beteiligung an den Massenorganisationen der DDR bemessen wurden. Sönke Friedreich stellte hierzu fest, dass Arbeiter Sachsenrings, die an den gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten nicht teilnahmen, auch keine Gelder aus dem Kulturfonds erhielten, ihren Anteil an der Prämie dann aber „wegen guter Arbeit“ forderten.49 Das kulturelle und ge-

47  Der Arbeitgeber, 1952, Nr. 24, S. 1000–1001. Bis die Weihnachtsgratifikation verschwunden war, vergingen noch einige Jahre. Noch im Dezember 1952 gab es Streiks im Zusammenhang mit der Überführung von Weihnachtsgeldern in Prämienzahlungen. Vgl. Wilfried Lübeck: „Der 17. Juni 1953 in Magdeburg ‚wenn die Freunde nicht dagewesen wären, wäre es zu einer Niederlage gekommen‘“, in: Hermann-Joseph ­Rupieper (Hrsg.): „… und das Wichtigste ist doch die Einheit.“ Der 17. Juni 1953 in den Bezirken Halle und Magdeburg, Münster 2003, S. 106–139. S. 106–107. 48  Roesler (1978), S. 70. 49  Sönke Friedreich: Arbeit und Organisationskultur in der Zwickauer Automobilindustrie nach 1945, Leipzig 2008, S. 265.

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sellschaftliche Engagement war also für die Höhe der individuellen Prämien bei Sachsenring in der Regel nicht entscheidend. Das Erreichen ökonomischer Ziele, vor allem der im Plan festgelegten Produktionszahlen, blieb das zentrale Kriterium für die Bemessung der Prämien. Neben der möglichst leistungsbezogenen Vergabe der Prämien sollten die hierfür zur Verfügung stehenden Mittel grundsätzlich aus dem Betriebsgewinn entnommen werden, um gute Ergebnisse zu honorieren und schlechte Ergebnisse zu bestrafen. Dabei orientierte sich der Gesetzgeber am sowjetischen Direktorenfonds, der den Betrieben ermöglichte, große Teile der plan- und überplanmäßigen Betriebsgewinne für Prämien und soziale Verbesserung für die Belegschaften zu verwenden. Das Problem war allerdings, dass in der frühen Planwirtschaft der DDR zunächst keine wirkliche Gewinn­ ermittlung in den Betrieben möglich war.50 Erst die Einführung der wirtschaftlichen Rechnungsführung zum 1. Januar 1952 ermöglichte es, die Prämien an Rentabilitätskriterien zu knüpfen. Die den Betrieben zur Verfügung stehenden Prämien waren nun grundsätzlich an die Planerfüllung gebunden. Der oben genannte Direktorenfonds (Teil I) konnte um 50% reduziert werden, wenn der Betrieb seinen Plan nicht erfüllte.51 Bereits 1952 drohte dem Audi Werk eine Kürzung des Direktorenfonds. Die Geschäftsleitung reagierte mit deutlichen Abstrichen der ebenfalls aus dem Fonds finanzierten betrieblichen Sozialeinrichtungen, bemühte sich aber, die Prämien möglichst konstant zu halten.52 Zwei Gründe sprachen für die vorrangige Behandlung der Prämie. Zum einen galt es, wie die Geschäftsleitung betonte, „die gesetzlichen Verpflichtungen auf dem Gebiet der Prämienauszahlung – für Wettbewerbe und dergleichen – zu realisieren.“53 Zum anderen wurden die Prämien in den Betrieben nicht immer nach Leistungsgesichtspunkten vergeben, sondern hatten, entgegen der Intention des Gesetzgebers, weiterhin den Charakter von Zusatzlöhnen oder Sozialleistungen, die nicht ohne weiteres zu streichen waren, ohne den Betriebsfrieden zu stören.54 Das Dilemma, dass die betrieblichen Sozialeinrichtungen vernachlässigt wurden, um den Beschäftigten die gewohnte Prämie zu sichern, wurde mit der Schaffung des Betriebsprämienfonds gelöst. Dem seit 1957 fast ausschließlich für Prämien zur Verfügung stehenden Fonds, wurden bei der Erfüllung des Gewinnplanes Mittel in Höhe von 2,5% des Lohnfonds, welcher die Bruttoarbeitsentgelte enthielt, zugeführt. Für die Erfüllung der Produk­ tionspläne standen weitere 1,5% zur Verfügung. Bei Planüber- oder Planun50 

Roesler (1978), S. 69–70. Roesler (1978), S. 71–73. 52  Schriftwechsel, Werkleiter AUDI Werk Zwickau mit dem Bundesvorstand FDGB, Zentralvorstand IG Metall, Ministerium für Maschinenbau, Hauptverwaltung Automobilbau, 10. 9. 1951 und 1. 8. 1952. SSAC 31076/136. 53  Schreiben, Audi Werk Zwickau an Ministerium für Maschinenbau, HV Fahrzeugbau, Abt Arbeitskraft, Berlin, 10. 9. 1951, SSAC 31076/139. 54  Vgl. Roesler (1978), S. 77–79. 51 

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tererfüllung wurden Zu- beziehungsweise Abschläge auf die Sätze angewendet. So konnte der Prämienfonds zunächst auf bis zu 6% der Lohn- und Gehaltssumme steigen. Hier wurden klare ökonomische Anreize für die Beschäftigten gesetzt, die den „Erfolg“ ihres Betriebs so direkt durch niedrigere oder höhere Prämien zu spüren bekommen sollten.55 So mussten die Beschäftigten Sachsenrings 1959 geringe Abschläge auf die Prämienzahlungen hinnehmen. Durchschnittliche jährliche Produktionssteigerungen um ca. 25% in der ersten Hälfte der 1960er Jahre sicherten ihnen aber in der Regel hohe Prämien. Über ein Drittel des zur Verfügung stehenden Prämienfonds wurde auf Grundlage von Planübererfüllungen oder Planerweiterungen gebildet. Die Ausschüttungen aus dem Fonds lagen zwischen 1960 und 1965 in der Regel bei 5 bis 6% des Lohnfonds. Abbildung 2: Sachsenring: Ausgezahlte Prämien im Verhältnis zum Lohnfonds 1959–1969.56

Um den Zusammenhang zwischen Prämierung und wirtschaftlicher Leistung zu unterstreichen, wurde die Prämienvergabe in der DDR in sogenannten Betriebskollektivverträgen geregelt. Diese wurden in der volkseigenen Industrie der DDR mit großem propagandistischem Aufwand zwischen der Betriebsgewerkschaftleitung und der Betriebsleitung unter der „Beteiligung“ der Belegschaft „ausgehandelt“.57 Die Betriebskollektivverträge der Zwickauer Automobilbauer enthielten von Jahr zu Jahr immer minutiösere Aufstellungen, an denen der Arbeiter erkennen konnte, welche Leistungen für zusätzliche Prämien erforderlich waren.58 Das Prinzip der „materiellen Interessiertheit“ erfuhr in der Ära der wirtschaftlichen Reformen der 1960er Jahre einen Bedeutungsgewinn.59 Noch 55 

Vorlage W-Besprechung am 3. 4. 58, Audi Werk, SSAC 31076/196. Eigene Berechnungen: aus Statistiken Sachsenrings, SSAC 31076/1562. 57  Lexikon der Wirtschaft. Arbeit, Berlin 1968, Lemma „Betriebskollektivvertrag“, S. 167–168. 58  Betriebskollektivverträge 1951–1958, Audi Werk, SSAC 31076/109. 59  Steiner, André: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999, 369–370. 56 

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am Anfang der 1960er Jahre wurde staatlicherseits beklagt, dass die Prämien in erster Linie am Bruttoarbeitsentgelt der Beschäftigten bemessen wurden und nicht nach deren individueller Leistung.60 Auch Sachsenring sah sich nun regelmäßigen Ermahnungen ausgesetzt, die Prämien auch wirklich nach dem Leistungsprinzip einzusetzen. So wurde bereits in der Direktive der VVB Automobilbau zur Übergabe des Volkswirtschaftsplans 1962 darauf verwiesen, unbegründete Prämien, ebenso wie noch nicht leistungsgebundene Lohnbestandteile, verstärkt mit „exakte[n] Kennzahlen“ zum Beispiel für die Qualität der Erzeugnisse oder dem Materialverbrauch zu verbinden.61 Die Direktive zum Volkswirtschaftsplan 1964 forderte: „Die Verwendung des Prämienfonds muss so verändert werden, dass eine leistungsgerechte Prämierung garantiert wird.“ In diesem Zusammenhang sollten Prämien in ein „geschlossene[s] System ökonomischer Hebel“ überführt werden – nach dem Grundsatz: „Was der Gesellschaft nützt, nützt auch dem Einzelnen.“62 Diesem Prinzip entsprechend wurde in der Prämienordnung Sachsenrings 1965 zum Beispiel die Senkung von Ausfallstunden mit 3 Mark und die Senkung der Fertigungszeit des Trabants pro Minute mit 400 Mark honoriert. Für die Bewertung der individuellen Leistungen sollte das sogenannte Haushaltsbuch der Beschäftigten herangezogen werden, in dem alle von dem Beschäftigten zu beinflussenden Leistungskennzahlen abgerechnet werden sollten.63 Hinreichend motivierte Beschäftigte oder Arbeitskollektive, die eigene Pläne zur Überbietung betrieblicher Kennzahlen oder zum Erreichen bestimmter ökonomischer oder gesellschaftlicher Ziele einbrachten, konnten für ihre Initiativen auf zusätzliche Zuwendungen aus dem Prämienfonds hoffen. In der Praxis fanden die Betriebe der DDR aber auch immer wieder Möglichkeiten, das Leistungsgebot zu umgehen und die Prämie „egalitaristisch“ an die Beschäftigten auszuschütten, was auch im Falle Sachsenrings nicht anders gewesen sein dürfte.64

Erfolgsbeteiligungen in der Modernisierungskrise ­Sachsenrings 1966–1975 Am Ende der 1960er Jahre zeichnete sich in der DDR eine Struktur- und Modernisierungskrise ab. Sachsenring stand beinahe mustergültig für das

60 

Roesler (1978), S. 230. Direktive zur Übergabe des Volkswirtschaftsplans 1962 vom 30. 3. 62, SSAC 31076/ 886. 62  Staatliche Aufgaben und Direktiven zum Volkswirtschaftsplan 1964 VVB Generaldirektor Lang, 25. 11. 1963. SSAC 30918/811. 63  Betriebsprämienordnung, Sachsenring, 1965, Stadtarchiv Zwickau (StAZ) HdRA 424. Lexikon der Wirtschaft. Arbeit, Berlin 1968, Lemma „Haushaltsbuch“: S. 332. 64  Steiner (1999), S. 298–299. 61 

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Scheitern der Modernisierungsbemühungen in der Planwirtschaft.65 Seit 1964 blieben Produkte und Produktionseinrichtungen Sachsenrings weitgehend unverändert. Modernisierungsversuche scheiterten an der Bereitschaft der Politik, die hierfür nötigen Mittel bereitzustellen. Der Betriebsprämienfonds stellte ungeachtet dieser Probleme und des Politikwechsels von Ulbricht zu Honecker weiterhin ein zentrales Instrument dar, die „materielle Interessiertheit“ der Beschäftigten anzusprechen. Der mangelnden Umsetzung des Leistungsprinzips in den Betrieben versuchte man per Gesetz beizukommen. Mit den Neureglungen des Prämienfonds 1964, 1967 und 1971, die eine stärkere Orientierung am Nettogewinn vorsahen und den übergeordneten Behörden mehr Kompetenzen bei der Festlegung der Prämienmittel einräumten, wurden weitere Schritte in Richtung „Ökonomisierung“ und besserer staatlicher „Steuerung“ der Prämien unternommen.66 Die Berechnungsgrundlage für die Prämien bei Sachsenring war zwischen 1964 und 1966 ein staatlich vorgegebener Prozentanteil des Nettogewinns der zwischen 7 und 14% lag. Seit 1967 legten die Wirtschaftbehörden die Berechnungsgrundlage für die Prämien als Gesamtbetrag für das jeweilige Planjahr fest. Die Höhe der tatsächlichen Zuführungen wurde von immer ausdifferenzierteren Kennzahlen abhängig gemacht. Belohnt wurden neben dem Gewinn die Überbietung der geplanten Produktionsmenge, Einsparungen an Material und Energieträgern und der Export von Waren. Darüber hinaus wurde die Erfüllung besonderer Aufgaben und Zielstellungen durch den Betrieb mit zusätzlichen Zuführungen durch die übergeordneten Behörden honoriert.67 Die Erfüllung der Planzahlen sollte nun über eine wirksame zentrale Prämie zum Jahresende abgerechnet werden. Hierzu wurde 1967 die sogenannte Jahresendprämie eingeführt, die gewinnabhängig war, allen mindestens ein Jahr im Betrieb Beschäftigten zugutekam und auf der Basis der Monatseinkommen ausgeschüttet wurde.68 Die Jahresendprämie beanspruchte bei Sachsenring in der Regel zwischen 70 und 80% des gesamten Prämienfonds. Prämien für Rationalisierungsmaßahmen, Neuerungsvorschläge und sozialistische Arbeitsgemeinschaften, welche in der Mitte der 1950er Jahren zeitweilig die Hälfte der Prämienmittel beanspruchten, verloren gegenüber den Prämien für die Planerfüllung beziehungsweise Übererfüllung an Bedeutung. 1972 wurden nur noch gut vier Prozent des Prämienfonds Sachsenrings für die direkte Belohnung von Innovationen der Belegschaft verwendet.69 Zur Sicherung der Produktionsmenge wurden bei Sachsenring deutliche Gewinnzuschläge bei Planübererfüllung, beziehungsweise Gewinnabschläge 65 

Hierzu: Bauer (1999). Vgl. Ingrid Deich, Wolfgang Kohte: Betriebliche Sozialeinrichtungen, Opladen 1997, S. 28–29. Zu den Ökonomisierungsbestrebungen: Steiner (1999), S. 290–291. 67  Betriebsprämienordnungen Sachsenrings 1964–1968, SSAC 31076/740. 68  Steiner (1999), S. 299–300. 69  Aufstellung des Prämienfonds Sachsenrings 1972, undatiert, SSAC 31076/6716. 66 

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bei Untererfüllung verhängt, was sich dann wiederum auf die Prämien auswirken musste. Besonders brisant war dies in der Ersatzteilproduktion. Mitte der 1960er Jahre wurde eine deutliche Unterversorgung mit Ersatzteilen für den Trabant spürbar. Dadurch dass die Produktionsmenge an Personenkraftwagen den Bedarf bei Weitem unterschritt und die Fahrzeuge dementsprechend lange in Betrieb waren, stieg die Nachfrage nach Ersatzteilen stark an. Zur Sicherung der Ersatzteilversorgung stellte die VVB Automobilbau deutliche Gewinnzuschläge bei Erfüllung der Produktionsmenge, von 0,5% des Fahrzeugpreises (IAP) und weitere 500 000 Mark für den Prämienfonds in Aussicht. Im Falle der Nichterfüllung drohte dem Betrieb allerdings eine Kürzung des Gewinns um 10%, mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Prämierung.70 In der Hoffnung einen „ökonomischen Hebel“ zur Erhöhung der Leistungsbereitschaft der Beschäftigten gefunden zu haben, wurden Regelungen in Kraft gesetzt, mit denen sich die durchschnittlichen Pro-Kopf-Prämien in der volkseigenen Industrie deutlich erhöhten.71 Andererseits führte die Nichterfüllung der Pläne oder fehlender Betriebsgewinn konsequenterweise zu Abschlägen bei der Prämierung. So mussten die Beschäftigten Sachsenrings im Jahr 1967 eine Halbierung der Prämien gegenüber dem Vorjahr hinnehmen. 1973 erreichte die Ausschüttung aus dem Prämienfonds allerding auch knapp 11% des Lohnfonds: Abbildung 3: Sachsenring: Durchschnittliche jährliche Prämien und monatliche Löhne pro Beschäftigtem.72

70 

Protokoll der Werksdirektorendienstbesprechung Nr. 8/64 vom 25. 7. 1964, SSAC 31076/792. 71  In der Automobilbaubranche stiegen die durchschnittlichen jährlichen Prämien pro Beschäftigtem von 350 Mark (1965) auf 680 Mark (1970). Protokoll Betriebsdirektorendienstbesprechung (BDD) 11/70 am 30. 12. 1970, SSAC 31076/819. 72  Eigene Berechnungen: aus Statistiken Sachsenrings, SSAC 31076/1562.

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Während sich die Löhne und Gehälter nur langsam entwickelten, wurde die Prämie für das Einkommen der bei Sachsenring Beschäftigten immer wichtiger. Seit 1971 überschritt die jährliche Ausschüttung pro Beschäftigtem ein durchschnittliches Monatseinkommen. Die verstärkte Einbeziehung planwirtschaftlicher Kennzahlen für die ­Berechnung der Prämienmittel führte aber auch zu Problemen, sobald die volkswirtschaftlichen Pläne wegen „Planungsfehlern“, neuen politischen Leitlinien oder wirtschaftlichen Veränderungen nicht mehr realisierbar ­waren.73 Je komplexer die Endprodukte waren, desto anfälliger waren die Betriebe gegenüber „Störungen“, wie zum Beispiel Lieferengpässen. So war der Erfolg oder Misserfolg der Automobilbauer von erfüllbaren staatlichen Planvorgaben und von den tatsächlich zur Verfügung stehenden Material­ lieferungen, Vorprodukten und Produktionsmitteln abhängig, weniger von der Leistungsbereitschaft des einzelnen Arbeiters. Solange die Prämien, vor allem die immer wichtigere Jahresendprämie, gesichert waren, ergaben sich keine Probleme. Konflikte gab es aber, sobald diese gefährdet war. So drohten 1971 bei Sachsenring Gewinnabschläge wegen der verspäteten Auslieferung von Ersatzteilen, obwohl in einigen Produktionsbereichen an 46 von 51 zur Verfügung stehenden Samstagen und an 27 von 52 Sonntagen gearbeitet wurde, um den Planrückstand aufzuholen. In einem Fertigungsbereich fielen in diesem Zusammenhang 100 Überstunden pro Beschäftigtem an. Die Probleme lagen aber, wie der Betriebsdirektor gegenüber der VVB Automobilbau erklärte, nicht im Betrieb sondern bei den Zulieferern. Die Beschäftigten hätten kein Verständnis dafür gezeigt, dass ihr Mehraufwand mit Gewinnabschlägen bestraft werde. Für die Leiter stelle sich somit das Problem, dass die Bereitschaft der Beschäftigten zu Mehr­ arbeiten unter diesen Umständen kaum zu gewinnen wäre.74 1973 führte die Untererfüllung der Kennziffer Export zu einer verringerten Bildung des Betriebsprämienfonds. In einem Schreiben des Betriebsdirektors an die VVB bezüglich drohender Reduzierungen des Betriebsprämienfonds im Jahr 1973 hieß es: „Diese Sachlage können wir unseren Werktätigen nicht zumuten und deshalb müssen wir auf eine Änderung bestehen.“ Daher „fordert SZ [(Sachsenring Zwickau)] bei Erfüllung des Gegenplans eine Mindesterhöhung des Betriebsprämienfonds um 800 000 Mark.“75 In der Regel sprangen die übergeordneten Behörden in diesen Fällen ein und erlaubten entweder zusätzliche Zuführungen in den Prämienfonds oder füllten ihn durch „Mittel aus dem Staatshaushalt“ auf. Bittschriften des Betriebsdirektors an die VVB Automobilbau zur Sicherung der Prämien wur73 

Zur Disfunktionalität der Pläne: André Steiner: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004. 74  Schreiben, Hipp Sachsenring an Sonntag, 12. 1. 1971, SSAC 31076/819. 75  Schreiben, Probleme des VEB AWZ, die 1973 einer Klärung zuzuführen sind, Uhlmann 8. 5. 1973 SSAC 31067/1493.

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den zur Regel. 1973 konnte eine gleichhohe Jahresendprämie wie im Jahr 1972 nur mit 627 000 Mark des Ministeriums gesichert werden. Auch für 1974 fehlten wieder 250 000 Mark. Der Fehlbetrag nach den geltenden Zuführungsbedingungen stieg 1975 auf zwei Millionen Mark. Der Betriebsleiter unterstrich seine Bitten nach staatlichen Zu­schüssen, in dem er implizit die negativen Effekte geringerer Prämien auf die Leistung der Beschäftigten prognostizierte: „Ich sehe mich z. Z. außerstande, diese Situation der Belegschaft in voller Offenheit darzustellen, weil ich der Auffassung bin, dass dieser Fonds keine echte Stimulierung der von unserem Betriebskollektiv geforderten Leistungen ist.“76 Je mehr „Fehler“ das planwirtschaftliche System produzierte, desto schwerer fiel es, das Leistungsprinzip den Betrieben gegenüber durchzusetzen. Die Sicherung der Jahresendprämie war zunehmend von Ausnahmegenehmigungen der übergeordneten Behörden abhängig.77 Aber auch diese verfügten nur über begrenzte Mittel. Mitte der 1970er Jahre galt für Sachsenring offiziell: „Die gesetzlichen Regelungen für die Planung, Bildung und Verwendung des Prämienfonds enthalten keinen Rechtsanspruch auf jährlich gleich hohe Sonderzuführungen zum Prämienfonds.“ Die Möglichkeiten des Ministeriums zur Zuführung von Prämienmitteln würden „schwanken, so dass in besonders krassen Fällen auch Auswirkungen auf die Höhe der Jahresendprämie nicht vermeidbar sind.“ Allerdings stellte das zuständige Ministerium der Betriebsleitung in Aussicht einen Antrag an die „Operativgruppe Prämienfonds“ zu stellen, um Härtefälle zu verhindern.78

DDR – Konflikt um die Erfolgsprämie Seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre beschleunigte sich der wirtschaftliche Niedergang der DDR. Für Sachsenring bedeutete das, dass eine Modernisierung der Produktion und die Einführung des Trabantnachfolgers immer unrealistischer wurden. Stattdessen galt es, die Fahrzeugproduktion trotz fehlender Investitionen und veralteten Produktionsanlagen stetig zu erhöhen, um die staatlicherseits geforderten Produktionsmengen zu sichern. Für die Belegschaft bedeutete das vor allem höheren Arbeitsdruck und schlechtere Arbeitsbedingungen.79

76 

Schreiben Hipp Sachsenring an Sonntag VVB Automobilbau, 28. 2. 75, SSAC 31076/2049. 77  Geschäftsbericht Sachsenring 1979, S. 31, SSAC 31076/5700/3. 78  Schreiben Kleiber Ministerrat Ministerium für Landmaschinen und Fahrzeugbau an Hipp Sachsenring, 5. 5. 75, SSAC 31076/2049. 79  Zur Überalterung der Produktionsanlagen und zu den Arbeitsbedingungen: Friedreich (2008), S. 141–147 und S. 240–243.

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In dieser und ähnlichen Situationen entfachte sich in vielen Betrieben der DDR ein Konflikt um die Prämien.80 Die Wirtschaftsverwaltung sah die hohen, durch staatliche Mittel gestützten Prämien als ökonomische Belastung und strebte eine Deckelung der Kosten zugunsten einer erfolgsorientierten Lohnpolitik an: „Seit den späten siebziger Jahren war man mit den lohnpolitischen „Reformen“ dazu übergegangen, den Anteil der Prämienzahlungen am effektiven Gesamtlohn zu verringern. Künftige Lohnsteigerungen sollten sich auf den „Grundlohn“ beschränken, bei klarer Orientierung auf die härteren Kennziffern der Rationalisierung. Die Neuregelung von 1982 sah vor, die Jahresendprämie auf dem gegenwärtigen Stand einzufrieren, statt wie ­bisher ihre Entwicklung an die des durchschnittlichen Monatslohns zu knüpfen.“81 Ähnlich wie bei Volkswagen waren die ursprünglich leistungsorientierten Prämien in der DDR zu Gewohnheitsrechten der Beschäftigten geworden, wie der FDGB feststellen musste: „Bei den Eingaben zu Prämierungen zeichnet sich vor allem eine steigende Tendenz zu Fragen der Gewährung und Höhe der Jahresendprämie ab. So erwarten die Werktätigen nach wie vor eine Berechnung ihrer Prämie nach dem Monatsverdienst, ­obwohl dies mit der seit 1982 geltende Prämienverordnung bei der Einführung der Produktivlöhne keine Berechnungsgrundlage mehr ist.“82

Selbst geringfügige Senkungen der Jahresendprämie wurden von Sachsenring gegenüber dem IFA Kombinat PKW als Gefährdung des Betriebsklimas dargestellt. So wurde 1980 seitens des zuständigen Ministeriums eine Jahresendprämie von 775 M pro Kopf bestätigt, beantragt waren aber 795 Mark. So klagte die Betriebsleitung: „Eine Reduzierung der JEP um M 20,– pro Beschäftigtem würde sich also negativ auf das Betriebsklima auswirken, (…).“83 Prämiensenkungen führten nach Klenke in den 1980er Jahren nicht nur zu vermehrten Eingaben der Beschäftigten, sondern zu drastischen Maßnahmen, wie der Ablehnung der sonst „obligatorischen Zustimmung“ zum Betriebskollektivvertrag, Austritten aus dem FDGB und sogar „Warnstreiks“. Im Falle Sachsenrings sind solche Extremfälle nicht bekannt, dennoch galten ­gerade die unmittelbaren Produktionsbereiche Sachsenrings als latente Un­ ruheherde, in denen spontane Unwillensbekundungen der Arbeiter keine Seltenheiten waren. Bedenken des Betriebsdirektors über die negativen Aus80 

Olaf Klenke: „Auf ‚Minderungen der Jahresendprämie reagieren die Werktätigen sehr sensibel‘. Die SED, die Arbeiterklasse und der Konflikt um die Jahresendprämie in den 80er Jahren“, in: Horch und Guck, 2003, Nr. 43, S. 12–18. 81  Ebd. 82  FDGB-Bundesvorstand, Büro des Vors., Sekretariatsinformation, Information der Abteilung Arbeit und Löhne und der Rechtsabteilung des Bundesvorstandes des FDGB über die Entwicklung und den Inhalt der Eingaben und Rechtsauskünfte im Jahr 1984, S. 5, SAPMO BAB, DY 34/13836. Zitiert aus: Klenke (2003). 83  Schreiben Hipp Sachsenring an Salzmann IFA Kombinat PKW, 5. 2. 1980, SSAC 31076/2049.

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wirkungen von Prämienkürzungen dürften also nicht ganz unbegründet gewesen sein.84 Sachsenring zählte nicht zu den Schwerpunktbetrieben der DDR, stand also folglich bei der Verteilung staatlicher Mittel in der zweiten Reihe. Stützungen der Prämien wurden zwar mindestens bis 1982 gewährt, die Gesamthöhe der Jahresendprämie wurde aber für das Jahr 1981 auf 800 Mark begrenzt.85 Trotz der Eingaben des Betriebes stagnierte die Jahresendprämie seit 1977 und pendelte sich in der ersten Hälfte der 1980er Jahre bei durchschnittlich 800 Mark ein. Erst 1987 erfolgte wieder eine Erhöhung der Jahresendprämie auf 837 Mark. Damit verlor die Jahresendprämie in Relation zu den Löhnen langsam an Bedeutung. Nachdem sie in der Mitte der 1970er Jahre beinahe ein Monatseinkommen erreicht hatte, betrug sie 1986 nur noch 80% desselben. Der gesamte Prämienfonds lag 1986 nur noch bei 108% eines durchschnittlichen Monatseinkommens – damit hatte er seit dem Jahr 1973 deutlich an Bedeutung verloren.86 Abbildung 4: Sachsenring: Monatslohn, Prämienfonds und die im Prämienfonds enthaltene Jahresendprämie pro Beschäftigtem, 1975–1986.87

84 

Klenke (2003). Sönke Friedreich: „Unpolitische Arbeiter? Zum Einfluß politischer Fragen auf Differenzierungsprozesse der Arbeiterschaft eines sozialistischen Betriebes“, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2007, Nr. 1, S. 26–39, S. 35. 85  Geschäftsberichte und Statistiken Sachsenrings SSAC 31076/5700, 5701, 2049. Zur Stützung der Prämien: Klenke (2003). 86  Vgl. Abbildung 2. 87  Errechnet aus: Geschäftsberichte Sachsenrings, SSAC 31076/5144, 5700, 5701, Statistiken Sachsenrings SSAC 31076/2049, 5152, 2080. Die Jahresendprämien 1984 und 1985 wurden aus den Informationen aus SSAC 31076/2080 geschätzt.

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Zusammenfassung Der Gedanke, die Automobilarbeiter am Erfolg der Betriebe partizipieren zu lassen, gewann in der Boom- und Aufbauphase an Bedeutung. Beide Betriebe richteten vergleichsweise früh Prämiensysteme ein. Die Höhe der gesetzlich geregelten Prämien bei Sachsenring und der freiwilligen Erfolgsprämien Volkswagens zeigen, gemessen an den Bruttolöhnen, einen vergleichbaren Verlauf. Abbildung 5: Volkswagen und Sachsenring: Verhältnis der ausgezahlten Prämien und Sonderzahlungen im Verhältnis zu der Bruttosumme des Arbeitsentgeltes in den betreffenden Jahren, 1959 bis 1982.88

Bei Volkswagen wurde in den 1950er Jahren eher das gemeinschaftsstiftende Moment der Erfolgsbeteiligung betont, während in der DDR allgemein eher auf ihre leistungsfördernde Wirkung verwiesen wurde. Diese Zielstellungen der Erfolgsbeteiligungssysteme widersprechen auf den ersten Blick den ideologischen Grundlagen der Systeme – dem Leistungsprinzip der Marktwirtschaft und dem Prinzip der Kollektivierung im Sozialismus. Aus Sicht der wirtschaftlichen Praxis erscheinen sie aber logisch. Dem Management Volkswagens war in der Zeit des Wirtschaftsbooms vor allem daran gelegen Mitarbeiter zu gewinnen, die trotz der schlechten Arbeitsbedingungen im Automobilbau mit dem Unternehmen verbunden blieben. Zugleich galt es, den Betriebsfrieden zu sichern, um eine möglichst reibungslose Produktion zu gewährleisten. Die unklaren Besitzverhältnisse des Volkswagenwerkes und Nordhoffs Konzept der Betriebsgemeinschaft be-

88 

Die Daten wurden aus den bereits oben verwendeten Quellen entnommen.

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günstigten die Funktion der Erfolgsprämie als gemeinschaftsstiftendes Instrument. Die „materielle Interessiertheit“ wurde gerade in der Planwirtschaft, in der die Verfügungsrechte über die volkseigene Industrie beim Staat zentralisiert waren, zu einem wichtigen Steuerungsinstrument, um wirtschaftlich sinnvolles Verhalten auf allen Ebenen der Wirtschaft, bis hin zu den Betrieben und den einzelnen Arbeitern zu stimulieren. Sachsenring war, wie viele Betriebe in der DDR, in der Situation mit wenigen Beschäftigten und knappen Ressourcen die staatlich vorgegebenen Ergebnisse erzielen zu müssen. Die bestmögliche Nutzung des Faktors Arbeit war eine grundlegende Voraussetzung für das Erreichen der hochgesteckten wirtschaftlichen Ziele der DDR. Da es vielfach an negativen Sanktionsmöglichkeiten, wie der Kündigung eines Arbeitnehmers, mangelte, wurden vor allem Anreizsysteme geschaffen, welche die Leistung der Beschäftigten stimulieren sollten. Der Nutzen beider Modelle lag aus Sicht der Automobilbauer vor allem in der Überwindung der Probleme des fordistischen Produktionssystems. Prämien waren der materielle Beleg für die Sinnhaftigkeit moderner Arbeitstechniken und fortschreitender Rationalisierungsmaßnahmen. Systembedingt verlief die Institutionalisierung der Erfolgsbeteiligungssysteme etwas anders. Volkswagen bemaß die Prämie am Dividendensatz des Unternehmens. Grundlegend handelte es sich aber um eine freiwillige Leistung der Geschäftsleitung, auf die kein Rechtsanspruch bestand. Eine Differenzierung der Prämienausschüttungen erfolgte in der Regel nur nach dem jeweiligen Arbeitseinkommen. Im Falle Sachsenrings war die Bildung und Verwendung der Prämien an staatliche Vorgaben und die Erfüllung der Planziele des Betriebs gebunden. Die Beschäftigten wurden nominell in die Entscheidungen zur Prämienvergabe einbezogen, wodurch nicht nur der Schein der Mitbestimmung, sondern vor allem das Interesse der Beschäftigten an den Planaufgaben aufrecht erhalten werden sollten. Gleichzeitig forderte der Gesetzgeber aber auch eine differenzierte, leistungsbezogene Ausschüttung der Prämie an die Beschäftigten, die aber in den Betrieben nur zögerlich eingeführt wurde. Die Partizipation der Beschäftigten am Betriebsergebnis funktionierte aber nur reibungslos, solange die Betriebe erfolgreich waren und konstant hohe und steigende Prämien sichern konnten. Mit dem Ende der wirtschaftlichen Aufschwungphasen in Ost und West in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurden die Erfolgsbeteiligungssysteme instabil. Das Management Volkswagens versuchte im Zeichen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Prämien zu senken oder wenigstens zu deckeln. Demgegenüber traten die Arbeitnehmervertreter auf, die sich nun als Hüter der sozialen Errungenschaften der Belegschaft profilieren konnten. Im Laufe des Konfliktes wurde die Erfolgsbeteiligung immer weiter tariflich fixiert, womit sie von einer freiwilligen Leistung des Unternehmens zu einem Rechts­ anspruch wurde, aber gleichzeitig auch ihren leistungsbezogenen Charakter

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verlor. Gerade in der Unternehmenskrise zwischen 1973/1975 wurden die zu Sonderzahlungen gewordenen Prämien deutlich erhöht. In der DDR stellte man die Prämie weiterhin als adäquates Mittel für die Förderung der “materiellen Interessiertheit“ der Beschäftigten dar. Das Problem bei Sachsenring war aber, dass die Planerfüllung in erster Linie von den Faktoren abhing, welche die Beschäftigten nicht durch ihre Leistung beeinflussen konnten. So fühlten sich die Beschäftigten bei Prämienkürzungen schlimmstenfalls um ihre redlich verdiente Erfolgsbeteiligung betrogen. Um das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit aufrechtzuerhalten und den Betriebsfrieden zu wahren, beantragte die Betriebsleitung Sachenrings staat­ liche Sonderzuführungen zur Sicherung der Prämien. Mit der Verstetigung staatlicher Stützungsmaßnahmen wurde das auf wirtschaftlichen Kennzahlen basierende Erfolgsbeteiligungssystem ad absurdum geführt. Auch bei Sachsenring stiegen die Prämien trotz ökonomischer Unzulänglichkeiten deutlich an. Aus Erfolgsbeteiligungen wurden spätestens in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Gewohnheitsrechte der Beschäftigten. Bei Volkswagen mutierten die Erfolgsprämien zu Sonderzahlungen, die nun fester Bestandteil der Tarifverhandlungen waren. Zwar erfolgte ein erheblicher Ausbau der Sonderzahlungen, faktisch handelte es sich aber um ein zusätzliches Arbeitsentgelt, von dem man sich keinen besonderen Effekt mehr auf die Belegschaft erhoffen konnte. Für die Unternehmensleitung war die regelmäßige Erhöhung der Sonderzahlung ein teures soziales Zugeständnis, um den Konflikt mit der im VW-Werk mächtigen IG-Metall zu vermeiden. Im Zeichen des ökonomischen Niedergangs wurden die wichtigsten ­Prämien für die Beschäftigten Sachsenrings auf staatliche Order zunächst ­gebremst und in den 1980er Jahren weitgehend eingefroren. Von der Betriebsleitung Sachsenrings wurden Prämienkürzungen als Gefahr für den ­Betriebsfrieden angesehen, welche zu nicht unerheblichen Konflikten mit der Belegschaft führten konnten. Man versuchte, die zum Gewohnheitsrecht gewordene Jahresendprämie unabhängig von der wirtschaftlichen Situation zu stabilisieren. Leistungssteigernde Impulse gingen von der Prämie nicht mehr aus, stattdessen ging es nur noch um den Erhalt des Betriebsfriedens unter der Bedingung schwindender finanzieller Mittel. Auch wenn Prämien bei Sachsenring und Volkswagen anders gestaltet waren, die Geschäftsentwicklung der Betriebe unterschiedlich verlief und Akteure beziehungsweise industrielle Beziehungen von Grund auf verschieden waren, zeigt der Blick auf die Automobilbauer doch systemübergreifende Gemeinsamkeiten der Partizipationssysteme. In beiden Betrieben galt es in den 1950er Jahren scheinbar überkommene soziale Zuwendungen an die ­Belegschaft durch moderne und gerechtere Partizipationsformen am Betriebsergebnis zu ersetzen, von denen man sich einen positiven Effekt auf die Leistungs- und Kooperationsbereitschaft der Beschäftigten erhoffte. Die Höhe der Erfolgsbeteiligungen sollte sich nach objektiv nachvollziehbaren

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ökonomischen Kennzahlen richten, wobei darauf Wert gelegt wurde, dass nicht nur Zu- sondern auch deutliche Abschläge möglich sein sollten. Die Idee einer echten Partizipation der Beschäftigten erwies sich in Planund Marktwirtschaft als nicht funktional. Keines der Beteiligungssysteme ging so weit, die Beschäftigten zu wirklichen Teilhabern des Betriebes zu machen. Die Berechnungsgrundlagen der Erfolgsbeteiligung waren zwar aus Sicht der Betriebsleiter nachzuvollziehen, für die Beschäftigten blieben diese aber meist unverständlich. In der Konsequenz wurden die flexibel angelegten erfolgsabhängigen Beteiligungen von den Belegschaften zunehmend als fixe Lohnbestandteile betrachtet. Aus dieser Perspektive ist es kaum verwunderlich, dass die Beschäftigten auch in der Krise die gewohnte Prämie für ihre Arbeitsleistung forderten. In beiden Betrieben zogen sich die Arbeitnehmer auf die Position zurück, dass sie schließlich auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten ihre Leistung erbracht hatten und schlechte Betriebsergebnisse auf Grund von Planungs- beziehungsweise Managementfehlern nicht zu verantworten hätten. So scheiterte die Idee, das Verhalten der Arbeitnehmer, besonders ihre Arbeitsbereitschaft, durch Erfolgsbeteiligungen im Sinne der Geschäftsleitung positiv beeinflussen zu können, sowohl an der Gestaltung der Beteiligungssysteme als auch an der mangelnden Bereitschaft der Arbeiter sich auf die grundlegende Bedingung einzulassen, im Falle wirtschaftlicher Schwierigkeiten auf die zum Gewohnheitsrecht gewordene Erfolgsprämie zu verzichten. Diese grundlegenden Schwierigkeiten bei der Nutzung von Erfolgsbeteiligungssystemen scheinen systemübergreifender Natur zu sein. Das bedeutet aber nicht, dass die Idee der Erfolgsbeteiligung als gescheitert gelten muss. Erfolgsbeteiligungssysteme boten immer wieder vielversprechende Lösungsansätze für betriebliche Problemstellungen. Eine historische Studie, auf epochen-, system-, und branchenübergreifender Ebene, welche die Motivation zur Einführung von Erfolgsbeteiligungen, die Konstruktion von Beteiligungssystemen, ihre systemspezifischen Besonderheiten und die Pfadabhängigkeiten, die einmal getroffene Entscheidungen auf diesem Feld nach sich zogen, in den Blick nimmt, bleibt daher ein Desiderat der Forschung.

Thomas Haipeter

Arbeit und Kapital in der deutschen Automobil­ industrie Kontinuität und Wandel der industriellen Beziehungen Einleitung: Die Automobilindustrie als Kern der deutschen industriellen Beziehungen Die Automobilindustrie spielte in den entwickelten politischen Ökonomien der Nachkriegszeit eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der in­ dustriellen Beziehungen. In den Ländern, in denen Automobilunternehmen entweder ihren Stammsitz hatten oder zumindest Produktionsstätten unter­ hielten, waren die organisierten Interessenvertretungen von Kapital und Ar­ beit der Automobilindustrie Schrittmacher der „Institutionalisierung des Klassenkampfs“1 zwischen Kapital und Arbeit in den 1950er und 1960er Jah­ ren, und zwar sowohl hinsichtlich der Beziehungsmuster zwischen den kol­ lektiven Akteuren als auch hinsichtlich der Regulierung von Arbeitsstan­ dards. Die großen Automobilfabriken der Endhersteller waren – und sind nach wie vor – die wichtigsten Stätten der gewerkschaftlichen Organisations­ macht und Vorzeigebetriebe der Durchsetzungsfähigkeit der betrieblichen Mitbestimmung, die dort vorherrschenden Arbeitsbeziehungen haben die Wahrnehmung der Systeme der industriellen Beziehungen entscheidend ge­ prägt, und die dort ausgehandelten und erkämpften Arbeitsstandards hatten eine unbestrittene Vorreiterfunktion für andere Branchen und Segmente der Wirtschaft. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang neben der tariflichen Lohnpolitik die große Bedeutung der Branche in den Konflikten um die Ein­ führung der 40-Stunden-Woche in den 1960er Jahren (die 1967 zu ihrer Ein­ führung in der Metallindustrie führten; im Haustarifvertrag von Volkswagen beispielweise war die 40-Stunden-Woche schon mehrere Jahre zuvor veran­ kert worden) oder im Konflikt um den Lohnrahmentarifvertrag II des Tarif­ gebietes Nordwürttemberg/Nordbaden, auf den an anderer Stelle noch kurz eingegangen wird. In Deutschland gibt es zwar traditionell keine Verbandsstrukturen, die speziell auf die Automobilindustrie zugeschnitten sind; die überbetrieblichen Arbeitsbeziehungen und Arbeitsregulierungen sind auf dem aggregierten Branchenniveau der Metall- und Elektroindustrie angesiedelt. Innerhalb der Metall- und Elektroindustrie galt und gilt aber, dass die Automobilindustrie

1 

Theodor Geiger: Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln 1949.

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und die dort artikulierten und ausgefochtenen Interessen für die Interessen­ verbände von Kapital und Arbeit und ihre Strategien und Beziehungsmuster eine zentrale Bedeutung hatten und haben. Schließlich stehen und fallen die Auswahl der Pilotbezirke, Forderungen und Konfliktstrategien der Gewerk­ schaft bei Tarifauseinandersetzungen mit der Mobilisierbarkeit gewerkschaft­ licher Organisationsmacht, und diese ist in den Betrieben der Automobilher­ steller am größten. Die industriellen Beziehungen beschränken sich aber nicht auf die über­ betriebliche Ebene. In den deutschen industriellen Beziehungen spielt die ­betriebliche Ebene aufgrund der „Dualität“ von Tarifautonomie und Be­ triebsverfassung2 eine eigenständige Rolle. Betriebsräte sind zumindest ­formal keine Betriebsorganisationen der Gewerkschaften. Zwar konnten die Gewerkschaften die Betriebsräte zu guten Teilen kolonialisieren und einen Prozess der „Vergewerkschaftung“ der Betriebsräte einleiten, ablesbar an durchschnittlichen gewerkschaftlichen Organisationsgraden der Betriebsräte um 80%3. Allerdings bedeutete dies nicht, dass die Betriebsräte sich als wei­ sungsabhängige Exekutoren gewerkschaftlicher Entscheidungen verstanden hätten oder verstehen würden. Das Kräfteverhältnis war und ist ein anderes. Schmidt und Trinczek sprechen sogar von einer Beziehungsasymmetrie zu­ gunsten der Betriebsräte, die sich darauf gründet, dass die Betriebsräte die vitale Funktion der gewerkschaftlichen Mitgliederwerbung im Betrieb aus­ üben und sie deshalb gewissermaßen die Lebensader der Gewerkschaften versorgen. Dem lässt sich hinzufügen, dass die Betriebsräte zugleich für die Mobilisierung der im Betrieb vorhandenen Organisationsmacht der Gewerk­ schaften unverzichtbar sind; gegen einen skeptischen Betriebsrat können die Gewerkschaften kaum auf wirkungsvolle Unterstützung in einem Arbeits­ kampf hoffen. Deshalb sind die Gewerkschaften gut beraten, ihre tarifpoliti­ schen Strategien mit den Betriebsräten in Tarifkommissionen abzustimmen. Grundsätzlich gilt außerdem, dass die Bedeutung eines Betriebsrates für die Gewerkschaft mit der Größe des Betriebes und des Unternehmens steigt, in dem er gewählt ist. Dies wiederum hat zur Folge, dass die Betriebsräte der großen Automobilbetriebe, und insbesondere die Betriebsratsvorsitzenden der Unternehmenszentralen, die zumeist auch Vorsitzende der Gesamt- und Konzernbetriebsräte sowie der Europäischen Betriebsräte sind, in ihren Ge­ werkschaften als Akteure mit großer Machtfülle auftreten konnten und dies typischerweise auch heute noch tun. Wenn es also im Binnenverhältnis von Gewerkschaft und Betriebsrat zu den von Fürstenberg schon 1958 angedeu­

2  Walther Müller-Jentsch: Soziologie der industriellen Beziehungen. Eine Einführung, Frankfurt 1997 (2. Aufl.). 3  Rudi Schmidt / Rainer Trinczek: Der Betriebsrat als Akteur der industriellen Bezie­ hungen, in: Walther Müller-Jentsch (Hrsg.): Konfliktpartnerschaft. Akteure und Insti­ tutionen der industriellen Beziehungen, München 1999, S. 103–128.

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teten Solidaritätsproblemen gekommen sein sollte4, dann müsste ihre Trag­ weite im Falle der Automobilbetriebsräte zumindest der Endhersteller und der großen Zulieferer besonders spürbar gewesen sein. Insgesamt also sind Interaktions- und Regulierungsmuster von Kapital und Arbeit in der Automobilindustrie gleichermaßen Eckpfeiler und Triebkräfte der industriellen Beziehungen in Deutschland. Dies gilt ­sowohl für die Ent­ wicklung und Festigung des „deutschen Systems“ bis in die 1970er und 1980er Jahre als für den Prozess seines Wandels ab den 1990er Jahren. Seit­ dem aber ist das System der industriellen Beziehungen, bis in die 1990er hi­ nein ein ­stabiler und wandlungsfähiger Kernbestandteil der deutschen „koor­ dinierten Marktökonomie“, von Erosionstendenzen gezeichnet. Flächentarif­ verträge und Mitbestimmung der Betriebsräte haben einen Bedeutungsverlust erlitten oder zumindest einen nachhaltigen Bedeutungswandel erfahren. Die Organisationskraft der Arbeitsmarktverbände erlahmt zusehends. Die Reich­ weite der Flächentarifverträge nimmt ab. Tarifliche Öffnungsklauseln ermög­ lichen Abweichungen von den tarifvertraglichen Mindestnormen. Betriebs­ räte geraten unter Konzessionsdruck in betrieblichen Bündnissen. Und schließlich wird der Zusammenhalt der Arbeitsnormen zwischen den Bran­ chen schwächer, sodass Tarifkonkurrenz gefördert wird. Die Entwicklungen der industriellen Beziehungen der Branche stehen in enger Wechselwirkung zum Wandel der Produktionsmodelle. Dass die in der Branche entwickelten Aushandlungs- und Regulierungsmuster eine so große Strahlkraft aufgewiesen haben, lag auch und vor allem daran, dass die Auto­ mobilindustrie die Kernbranche der industriellen Massenproduktion war und dass sich dort zwischen den kollektiven Akteuren, ihren Orientierungen und den vom Produktionsmodell geprägten Handlungsbedingungen ein ­seltenes „Entsprechungsverhältnis“ gebildet hat5. Und auch der Wandel der ­industriellen Beziehungen seit den 1990er Jahren steht in engen Beziehungen zu Veränderungen des Produktionsmodells, die üblicherweise mit dem Be­ griff der Globalisierung beschrieben werden und die sich in der Automobil­ industrie als Vorreiterbranche dieser Entwicklung besonders deutlich nieder­ schlagen. Mit der Globalisierung werden einschneidende Veränderungen der industriellen Beziehungen verbunden6. Das in diesem Zusammenhang ange­ führte Argument lautet, dass Unternehmen durch die Möglichkeiten der Ver­ lagerung der Produktion und der Entfaltung interner Standortkonkurrenz einen neuartigen Druck auf Gewerkschaften und Betriebsräte ausüben kön­ 4 

Friedrich Fürstenberg: Der Betriebsrat – Strukturanalyse einer Grenzinstitution (1958), in: Friedrich Fürstenberg: Arbeitsbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel, München 2000, S. 19–30. 5  Alain Lipietz: Akkumulation, Krisen und Auswege aus der Krise. Einige methodi­ sche Überlegungen zum Begriff der Regulation, in: Prokla 58 (1985), S. 109–137. 6  Wolfgang Streeck: Industrielle Beziehungen in einer internationalisierten Wirtschaft, in: Ulrich Beck (Hrsg.): Die Politik der Globalisierung, Frankfurt/Main 1998, S. 169– 202.

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nen, der es ihnen erlaubt, Flächentarifvertragsnormen formell oder informell zu unterschreiten oder möglicherweise sogar ganz aus dem Tarifsystem aus­ zuscheiden. Die Globalisierung aber war und ist im exportorientierten in­ dustriellen Produktionssegment der deutschen Wirtschaft am stärksten wahr­ nehmbar, und in diesem Segment ist die Automobilindustrie neben dem Ma­ schinenbau die wichtigste Branche. Und tatsächlich lässt sich feststellen, dass die betriebliche Regulierungsebene an Bedeutung gewinnt, die Tarifkonkur­ renz sich ausweitet, Abweichungen von Tarifnormen erlaubt werden, Kon­ zessionen auf betrieblicher Ebene inzwischen vielfach an der Tagesordnung sind und sich die Regelungsstandards entlang der Wertschöpfungskette aus­ differenzieren. Darüber hinaus aber lassen sich auch neue Ansätze einer zu­ mindest punktuellen Revitalisierung der industriellen Beziehungen erkennen, die sich auf die Fähigkeit der Gewerkschaft stützen, neue Wege zur Stärkung ihrer Organisationsmacht zu finden. Auf diese Weise können sich im Kon­ text der Globalisierung auch Perspektiven für eine Erneuerung der industri­ ellen Beziehungen entwickeln, die dann freilich einige ihrer altbekannten Eigen­schaften nicht mehr aufweisen würden. Im weiteren Verlauf dieses Artikels sollen der angerissene Wandel der in­ dustriellen Beziehungen und die Wechselwirkungen zu den Veränderungen des Produktionsmodells in der deutschen Automobilindustrie genauer in den Blick genommen werden. Dabei werden zunächst kurz die Entwicklungs­ linien skizziert, die das Gesicht der Automobilindustrie und ihres Systems der industriellen Beziehungen bis in die 1990er Jahre hinein geprägt haben. Der zweite Abschnitt widmet sich den Veränderungen des Produktions­ modells seit den 1990er Jahren, die im Kern als globale Reorganisation der Wertschöpfungskette charakterisiert werden können. Der dritte Abschnitt diskutiert die Auswirkungen des Wandels auf die industriellen Beziehungen und die damit verbundenen Herausforderungen für Arbeitsstandards und Arbeitsbeziehungen. Abschließend wird der Entwicklungspfad zusammen­ fassend bewertet, den das System der industriellen Beziehungen in der Auto­ mobilbranche bis heute durchlaufen hat. Dieser lässt sich durchaus als Lehr­ stück über institutionellen Wandel und die Rolle begreifen, die dabei sozialen Akteuren zukommt, die in institutionell geprägten Situationen handeln und durch ihr Handeln den Gang der Dinge bestätigen − oder auch verändern.

Entwicklungslinien der Automobilindustrie und der ­industriellen Beziehungen bis in die 1980er Jahre Seit ihrem Erstarken in den 1950er Jahren bildete die Automobilindustrie das Herzstück der fordistischen Massenproduktion in Deutschland7. Die Arbeit 7  Volker Wellhöner: „Wirtschaftswunder“, Weltmarkt, Westdeutscher Fordismus. Der Fall Volkswagen, Münster 1996.

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in den Fabriken auch der Produzenten von Luxusfahrzeugen8 war geprägt vom Takt der Fließbänder und den Zeit- und Bewegungsstudien der Ratio­ nalisierungsexperten des Industrial Engineering, die durch die Trennung von Ausführung und Disposition, die Zerstückelung der Arbeit in repetitive Tä­ tigkeiten und die systematische Durchleuchtung der einzelnen Arbeitsschrit­ te Rationalisierungspotenziale in der Produktion zu finden suchten. Die Un­ ternehmensfunktionen vom Einkauf bis zum Vertrieb waren streng getrennt, die Organisation wies vielstufige Hierarchien auf, und die vertikale Integra­ tion der Wertschöpfung bei den Endherstellern war hoch. In diesem Rahmen gab es im Detail Unterschiede zwischen den einzelnen Endherstellern in der Ausrichtung ihrer Produktionssysteme9. Während VW auf eine Einprodukt­ strategie setzte, die sich an den Erfolgen Fords in der Frühphase der automo­ bilen Entwicklung orientierte, verfolgten Massenhersteller wie Opel oder Ford eine „sloanistische“ Strategie der Massenproduktion mehrerer Modelle mit inkrementellen Produktverbesserungen. Andere Hersteller wie Mercedes und BMW konnten sich nicht als Massenproduzenten durchsetzen, entwi­ ckelten aber in Reaktion darauf eine Strategie der qualitätsorientierten Pro­ duktion höherwertiger Produkte, in die sich auch Porsche als Produzent von Sportfahrzeugen einreihte. Eine Besonderheit der deutschen Variante der Massenproduktion in der Automobilindustrie bestand in der Qualifikationsbasis sowohl der Beschäf­ tigten als auch der Manager. Zwar dominierten in den ersten beiden Nach­ kriegsjahrzehnten in der Automobilproduktion angelernte Beschäftigte ohne berufsfachliche Ausbildung. Mit dem Ausbau der dualen Berufsbildung seit den 1960er Jahren aber konnten die Unternehmen – und insbesondere die sich in der Ausbildung stark engagierenden Großunternehmen − einen stei­ genden Anteil qualifizierter Beschäftigter in der Produktion – und vor allem in den indirekten Bereichen wie Instandhaltung oder Qualitätssicherung – einsetzen. Die Manager wiederum wiesen in stärkerem Maße technische In­ genieursqualifikationen auf als eine betriebswirtschaftliche Ausbildung. Die Technikorientierung des Managements spiegelte sich seit den ersten Krisen der Branche Ende der 1960er Jahre vor allem in zwei Entwicklungen wider: der starken Orientierung an einer technologischen Rationalisierung als Stra­ tegie zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit sowie der wachsenden Be­ deutung der Entwicklung der Fahrzeugtechnologie in den Produktstrategien der Unternehmen. Die deutschen Unternehmen hatten zwar in den 1950er Jahren eine starke Weltmarktorientierung entwickelt, doch die Internationalisierung erfolgte in 8 

James P. Womack / Daniel T. Jones / Daniel Ross: Die zweite Revolution in der Automobilindustrie. Konsequenzen aus der weltweiten Studie des Massachusetts Ins­ titute of Technology, Frankfurt 1991. 9  Robert Boyer / Michel Freyssenet: Produktionsmodelle. Eine Typologie am Bei­ spiel der Automobilindustrie, Berlin 2003.

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erster Linie über den Export von in Deutschland gefertigten Fahrzeugen. Das einzige Unternehmen mit nennenswerten ausländischen Produktionska­ pazitäten war VW10. Sowohl bei VW als auch bei Ford und Opel (GM), den deutschen Töchtern amerikanischer Unternehmen, diente die Internationa­ lisierung der Produktion nur in geringem Maße zum Aufbau international integrierter Produktionsstrukturen. Vielmehr bestanden zwischen den Kon­ zernmüttern und ihren nationalen Tochtergesellschaften nur geringe Verbin­ dungen, da die Produkte zumeist getrennt für die regionalen Märkte entwi­ ckelt wurden und die Entscheidungsautonomie des lokalen Managements hoch war. Im Verhältnis zu Standorten in weniger entwickelten Ländern kam noch ein erhebliches technologisches Gefälle hinzu, das sowohl die Produkte als auch die Produktionsanlagen betraf. Die Automobilindustrie war aber nicht nur Vorreiter der Verbreitung der industriellen Massenproduktion in Deutschland, sondern auch der Entwick­ lung eines fordistischen Lohnverhältnisses11, das sich durch branchenbezoge­ ne Flächentarifverträge – die von der IG Metall abgeschlossen wurden und daher für die gesamte Metallindustrie galten –, hohe übertarifliche Leistun­ gen der Unternehmen, starke Gewerkschaften mit hohem Organisationsgrad und mächtige Betriebsräte auszeichnete. Diese Entwicklung vollzog sich in den 1950er und 1960er Jahre in der Folge teilweise streikintensiver Arbeits­ kämpfe um Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen (aber auch der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall), in denen sich sowohl das Muster perio­ disch wiederkehrender Tarifverhandlungen als auch die verbandliche Zentra­ lisierung der Tarifpolitik bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden all­ mählich durchsetzte. Ein wichtiger Punkt dabei war die auf dieser Grundlage entstandene Koppelung von Lohn- und Produktivitätsentwicklung, die über lange Jahre für ein Entsprechungsverhältnis zwischen Massenproduktion und Massenkonsum sorgte. Die Tarifvereinbarungen der Metall- und Elek­ troindustrie gewannen wegen der Stärke der Gewerkschaft und der Be­ deutung der Branche rasch eine Leitbildfunktion für die anderen Branchen der deutschen Wirtschaft (Markovits 1986). Innerhalb der Metallindustrie wiederum spielten die großen Automobilunternehmen eine Schlüsselrolle bei der Formulierung von Tarifstrategien und -forderungen der Verbände, so­ wohl innerhalb der Gewerkschaft als auch innerhalb der Arbeitgeberverbän­ de. Die Metallindustrie war Schrittmacher bei der Erhöhung der Löhne und (neben der Druckindustrie) der Verkürzung der Arbeitszeiten, und diese Funktion wurde von der Automobilindustrie stark beeinflusst. Die Organi­ sationsmacht der IG Metall war nirgends vergleichbar stark. Sie stützte sich 10  Thomas Haipeter: Mitbestimmung bei VW. Neue Chancen für die betriebliche In­ teressenvertretung? Münster 2000. 11  Alain Lipietz: Akkumulation, Krisen und Auswege aus der Krise. Einige methodi­ sche Überlegungen zum Begriff der Regulation, in: Prokla 58 (1985), S. 109–137.

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auf eine hohe Produktionsmacht in der komplexen Arbeitsteilung der Massen­produktion, die auch durch kleinere Aktionen und Streiks gefährdet werden konnte12, und einen außergewöhnlich hohen Organisationsgrad der Gewerkschaften. Die Fabriken der Endhersteller ähnelten mit gewerkschaft­ lichen Organisationsgraden bis über 95% Closed Shops, die als „Post-Entry Closed Shops“ zu bezeichnen sind13, bei denen neu eingestellten Beschäftig­ ten vom Betriebsrat die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft mehr oder weni­ ger dringend empfohlen wurde. Der konkrete Organisationsgrad hing jeweils vor allem vom Größenverhältnis zwischen Arbeitern – die besser organisiert waren – und den durchschnittlich schwächer organisierten Angestellten ab. Zugleich waren die Betriebsräte der Großunternehmen in der Lage, in erheb­ lichem Umfang übertarifliche Leistungen zu vereinbaren. Deshalb auch ­waren die Betriebsräte der Automobilhersteller und der großen Zulieferer darauf bedacht, die Tradition betrieblich von ihnen ausgehandelter zweiter Lohnrunden in den Betrieben zu wahren und sich nicht auf eine betriebsnahe Tarifpolitik einzulassen, die in der IG Metall in den 1960er und 1970er Jah­ ren diskutiert worden war und die darauf beruht hätte, übertarifliche betrieb­ liche Leistungen als Tarifvertrag durch die IG Metall zu verhandeln; auf diese Weise sollte nicht nur der „Wage Drift“ tariflich abgesichert werden, sondern auch der gewerkschaftliche Einfluss im Betrieb gestärkt werden. Vielfach ge­ lang es den Betriebsräten zudem auch, Einfluss auf die tayloristische Ratio­ nalisierung in der Produktion zu nehmen und über die Stellschraube der Leistungsregulierung zumindest im Bereich des Leistungslohnes mit der Festlegung von Normalleistungsnormen für eine humanere Variante des Tay­ lorismus zu sorgen. Dies verhinderte allerdings nicht, dass sich in den 1960er und 1970er Jahren vor allem aufgrund der Erfahrungen in der Automobilin­ dustrie kritische Einschätzungen bei Gewerkschaft und Betriebsräten zum Taylorismus mehrten. Kritik am Taylorismus und die Forderung nach Verkürzung der Wochen­ arbeitszeit prägten die Tarifpolitik der IG Metall in den 1970er Jahren. Zwar konnten Gewerkschaft und Betriebsräte bei der Kritik am Taylorismus durchaus einige Erfolge in der Frage des Rationalisierungsschutzes und der Leistungsregulierung verbuchen. Von besonderer Bedeutung war hier bei­ spielsweise der Lohnrahmentarifvertrag II, der 1973 nach einwöchigem Streik im Tarifbezirk Nordwürttemberg/Nordbaden abgeschlossen wurde und in dem Mindestarbeitsbedingungen für Fließbandarbeit beispielsweise durch Festlegung von Mindesttaktzeiten und Erholzeiten festgelegt wurden; bei der Forderung nach neuen Organisationsformen biss die Gewerkschaft aber weitgehend auf Granit bei den Unternehmensleitungen, von einigen eher kosmetischen Maßnahmen wie Pilotprojekten zu Qualitätszirkeln einmal ab­ 12 

Beverley J. Silver: Forces of Labour. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin 2005. 13  Colin Crouch: Trade Unions: The Logic of Collective Action, Glasgow 1982.

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gesehen. Ende der 1970er Jahre wurde die Arbeitszeitverkürzung zur zentra­ len tarifpolitischen Forderung erhoben und schließlich mit dem Einstieg in die 35-Stunden-Woche im Jahr 1984 auch erfolgreich umgesetzt. Anders als bei zuvor ausgehandelten Arbeitszeitverkürzungen stand nun nicht mehr der Aspekt des Zeitwohlstands für die Beschäftigten im Vordergrund, sondern die Beschäftigungssicherung durch Umverteilung des Arbeitsvolumens. Da­ ran lässt sich erkennen, dass sich spätestens in den 1980er Jahren die Vor­ zeichen für die Gewerkschaft grundlegend gewandelt hatten: Nicht mehr die Partizipation der Beschäftigten am scheinbar unaufhaltsamen ­wirtschaftlichen Wachstum, sondern die Beschäftigungssicherung unter den Vorzeichen von Wachstumsschwäche und Rationalisierung bildete von nun an die Konstante ihrer Tarifpolitik. Diese Tendenz sollte sich im Zuge der Reorganisationen der 1990er Jahre nicht nur fortsetzen, sondern nochmals deutlich verstärken.

Die globale Reorganisation der Wertschöpfungsketten In den 1980er Jahren hielten bei den Endherstellern erste Veränderungen an der Massenproduktionsstrategie Einzug. Sie waren eine Reaktion auf sinken­ de Wachstumsraten und eine Intensivierung der Konkurrenzbeziehungen zwischen den Unternehmen, die nicht zuletzt durch den Aufstieg der japani­ schen Automobilindustrie angeheizt worden war. Die wichtigsten Elemente dieser Veränderungen waren in Deutschland die Strategie der technologi­ schen Rationalisierung der Endhersteller, der vermehrte Einsatz von Fach­ arbeitern in der Produktion zur Bedienung der automatisierten Anlagen (der als wichtigstes Beispiel einer „Re-Professionalisierung“ der Produktions­ arbeit betrachtet wurde14), die ersten Ansätze neuer Organisationsstrategien in Pilotform wie Qualitätszirkel und – gegen Ende der 1980er Jahre – auch Gruppenarbeit sowie schließlich die Strategie der technologischen Aufwer­ tung der Produkte verbunden mit einer Differenzierung der Produktpalette. Aufgewertete Produkte sollten Preisaufschläge durch Übergang zur Quali­ tätskonkurrenz in höheren Marktsegmenten ermöglichen, die wiederum die Finanzierung der fortschrittlichen Produktionstechnologien und der qualifi­ zierten Arbeitskräfte sicherstellen sollten. Es war diese Logik der Automo­ bilproduktion, die dem in der Wissenschaft entwickelten und dann lange Zeit als Kernmerkmal nicht nur der Automobilproduktion in Deutschland be­ trachteten Konzept der „diversifizierten Qualitätsproduktion“ als Grundlage diente15.

14  Horst Kern / Michael Schumann: Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion, München 1984. 15  Wolfgang Streeck: Social Institutions and Economic Performance. Studies in In­ dustrial Relations in Advanced Capitalist Economies, London 1992.

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Allerdings ist bei genauerer Betrachtung festzustellen, dass die Wirklich­ keit in den Automobilunternehmen diesem Konzept in den 1980er Jahren nie entsprochen hat. Dies lag vor allem daran, dass die Qualifikationen der Be­ schäftigten in weit geringerem Umfang als unterstellt genutzt worden waren. Verantwortlich dafür waren vor allem zwei Gründe: die Aufrechterhaltung sowohl der tayloristischen Prinzipien der Arbeitsorganisation in der direkten Produktion als auch der Prinzipien der funktionalen Versäulung der Organi­ sation und der vielstufigen Hierarchien. Der erste Grund sorgte dafür, dass das Produzentenwissen der Beschäftigten nicht systematisch zur Verbes­ serung der Organisationsstrukturen eingesetzt wurde, der zweite hatte zur Folge, dass in der Organisation kaum funktionsübergreifende Prozesse – zwischen direkter und indirekter Produktion oder zwischen Entwicklung und Produktion – entstehen konnten. Die 1980er Jahre sind deshalb auch als „verlorenes Jahrzehnt“ des Organisationswandels in der deutschen Industrie bezeichnet worden16. Nicht zuletzt deshalb geriet die deutsche Automobilindustrie nach dem Ende des Wiedervereinigungsbooms zu Beginn der 1990er Jahre in die tiefste Krise ihrer Geschichte, die mit den beeindruckenden Erfolgen der japani­ schen Automobilindustrie zusammenfiel. So war es nicht verwunderlich, dass die Prinzipien der japanischen „Lean Production“ auch bei deutschen Auto­ mobilherstellern schnell als „Best Practice“17 betrachtet wurden. Tatsächlich orientierten sich viele der dann durchgeführten Reorganisationsbemühungen an der Lean Production; doch hat zugleich jeder Hersteller unterschiedlich auf die Krise reagiert und unterschiedliche Teilelemente der Lean Production mit anderen Organisationsmodellen vermischt. Während in einigen Unter­ nehmen der Schwerpunkt zunächst vor allem auf Prozessen der Kontinuier­ lichen Verbesserung (KVP) lag (ein Beispiel hierfür ist VW), spielten in ande­ ren Unternehmen Gruppenarbeit (Mercedes) oder die Verringerung der Fer­ tigungstiefe (GM) eine zentralere Rolle. In jedem Fall nicht übernommen wurden die langfristigen Beschäftigungsgarantien des japanischen Produkti­ onsmodells. Die Beschäftigungsstabilität blieb zwar auch in den deutschen Automobilfabriken und bei den Zulieferern hoch, doch musste sie vermehrt von den Interessenvertretungen der Beschäftigten mit materiellen Konzessio­ nen der Arbeitsstandards bezahlt werden. Darauf ist noch zurückzukom­ men. Trotz aller Differenzen zwischen den Unternehmen lassen sich drei Kern­ bereiche der Reorganisation ausmachen, die überall in mehr oder weniger 16 

Ulrich Jürgens / Frieder Naschold: Arbeits- und Industriepolitische Entwicklungs­ engpässe der deutschen Industrie in den neunziger Jahren, in: Wolfgang Zapf / Mei­ nolf Dierkes (Hrsg.): Institutionenvergleich und Institutionendynamik, Berlin 1994, S. 239–270. 17  James P. Womack / Daniel T. Jones / Daniel Ross: Die zweite Revolution in der Automobilindustrie. Konsequenzen aus der weltweiten Studie des Massachusetts Ins­ titute of Technology, Frankfurt 1991.

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ausgeprägter Form anzutreffen sind. Dies sind die interne Reorganisation der Unternehmen, die Globalisierung der Produktion und die Reorganisation der Zulieferbeziehungen. Alle drei Bereiche zusammen ergeben das Bild ­einer globalen Reorganisation der Wertschöpfungskette, von der erhebliche Auswirklungen für die Entwicklung der industriellen Beziehungen in der Branche ausgegangen sind. Im Rahmen der internen Reorganisation wurden Hierarchieebenen abge­ schafft und Führungsspannen ausgeweitet. Diese Maßnahmen wurden ver­ bunden mit der Dezentralisierung operativer Entscheidungen in Geschäftsein­ heiten, die als eigenständige „Profit Center“ oder als „Business Units“ geführt werden. In den Geschäftseinheiten werden nun – in unterschiedlicher Ausprä­ gung und Intensität – auch die vormals streng getrennten und segmentierten Unternehmensfunktionen zusammengeführt und in einheitliche Prozesse zu bündeln versucht. Im Gegenzug dazu wurde die strategische Entscheidungs­ kompetenz in den Konzernzentralen zentralisiert und auf neue Weise an fi­ nanzwirtschaftliche Zielvorgaben und Renditeziele gekoppelt18. Diese Finan­ zialisierung ist besonders ausgeprägt bei den amerikanischen Konzernen GM und Ford, hat aber auch bei Daimler Chrysler und Volks­wagen deutliche ­Spuren hinterlassen19. Auch bei BMW − und vor der Übernahme durch VW bei Porsche − ist zu beobachten, dass Renditevorgaben ambitionierter gestaltet und konsequenter umgesetzt werden, auch wenn sie weniger unmittelbar mit Finanzmarkterwartungen begründet werden. Zwar blieb die Profitabilität der Unternehmen trotz dieser Maßnahmen – und mit Unterschieden – gemessen an den üblichen Finanzmarktstandards allenfalls medioker20, dennoch aber haben sie auch nach der Finanzmarktkrise nach wie vor Bestand. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Reorganisation ist die Steigerung der internen und der externen Flexibilität. Bei der internen Flexibilität steht ein­ deutig die Flexibilisierung der Arbeitszeit im Vordergrund. Deutsche Auto­ mobilunternehmen bilden eine Avantgarde der Arbeitszeitflexibilisierung sowohl im nationalen21 als auch im internationalen Vergleich22. Nicht von ungefähr ist das weit verbreitete Leitbild des vor allem durch die Flexibilität der Arbeitszeitregime mit dem Markt „atmenden Unternehmens“ in der Au­ 18  Jürgen Kädtler / Hans-Joachim Sperling: Worauf beruht und wie wirkt die Herr­ schaft der Finanzmärkte auf die Unternehmen?, in: SOFI-Mitteilungen 29 (2001), S. 23–43. 19  Thomas Haipeter: Chancen und Risiken der Mitbestimmung – das Beispiel Volks­ wagen: Praxisbericht, in: Industrielle Beziehungen 9/3 (2002), S. 319–342. 20  Darauf verweisen Julie Froud / Colin Haslam / Johal Sukhdev / Karel William: Cars after Financialisation; A Case Study in Financial Under-Performance, Con­ straints and Consequences, in: Competition and Change 6/1 (2002), S. 13–41. 21  Thomas Haipeter / Steffen Lehndorff: Regulierte Flexibilität? Arbeitszeitregulierung in der deutschen Automobilindustrie, in: WSI-Mitteilungen 55/12 (2002), S. 649–655. 22  Steffen Lehndorff: Fabriken mit langem Atem – Der Wandel in der betrieblichen Arbeitszeitorganisation in der europäischen Automobilindustrie, in: WSI-Mitteilun­ gen 54/6 (2001), S. 373–383.

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tomobilindustrie entwickelt worden23. Demgegenüber spielt die funktionale Flexibilisierung eine geringere Rolle; innovative Formen der Gruppenarbeit mit hoher Polyvalenz und Autonomie blieben weitgehend auf hoch automa­ tisierte Bereiche beschränkt24. Die in den 1990er Jahren und später von Her­ stellern wie Ford, GM oder Daimler Chrysler eingeführten „standardisierten Produktionssysteme“ sind zumeist an japanischen Formen der Gruppenar­ beit orientiert, lassen häufig aber auch Spielraum für die konkrete Ausgestal­ tung der Arbeitsorganisation25. Restriktive Formen der Gruppenarbeit und kontinuierliche Verbesserungsprozesse sind nun verbreiteter Standard26. Neben der internen Flexibilität stieg aber auch die Bedeutung externer Flexibilität durch Leiharbeit an. Deren Zunahme konnte durch Betriebsräte und Gewerkschaften zwar teilweise noch begrenzt werden. Leiharbeit spielte zunächst insbesondere in ostdeutschen Automobilwerken eine wachsende Rolle27. So hatte BMW für sein Leipziger Werk eine Leiharbeitsquote von 30% mit der IG Metall ausgehandelt, wobei in diesem Unternehmen – wie auch bei Ford – vereinbart wurde, dass Leiharbeiter nach den Tarifverträgen der Metall- und Elektroindustrie zu bezahlen sind28. Im Aufschwung der Jahre 2006 bis 2008 wurden nach Angaben der IG Metall rund 50% der Neu­ einstellungen in der Metall- und Elektroindustrie durch Leiharbeit abge­ deckt; zugleich war die Leiharbeit als Flexibilitätspuffer in besonderer Weise von der Finanzmarktkrise betroffen. Viele Endhersteller und Zulieferer der Automobilindustrie entließen bei Einbruch der Krise die bei ihnen beschäf­ tigten Leiharbeiter zur Sicherung der Stammbeschäftigung. Im jüngsten Auf­ schwung lebt die Leiharbeit in der Branche wieder im alten Stil auf, und mit ihr auch ein strategisches Einsatzkonzept von Leiharbeit, das neben den Fle­ xibilitätspotenzialen vor allem auf Kosteneinsparungen der Leiharbeit durch Verdrängung von Stammbeschäftigten setzt29. 23 

Peter Hartz: Das atmende Unternehmen. Jeder Arbeitsplatz hat einen Kunden, Frankfurt 1996. 24  Michael Kuhlmann: Modellwechsel? Die Entwicklung betrieblicher Arbeits- und Sozialstrukturen in der deutschen Automobilindustrie, Berlin 2004. 25  Ulrich Jürgens: Aktueller Stand von Produktionssystemen – ein globaler Über­ blick, in: Angewandte Arbeitswissenschaft 176 (2003), S. 16–24. 26  Ulrich Jürgens: Globalization and Employment Relations in the German Auto ­Industry, in: Roger Blainplain (Hrsg.): Globalization and Employment Relations in the Auto Assembly Industry. A Study of Seven Countries, Bulletin of Comparative Labour Relations, Austin 2008, S. 49–72. 27  Christoph Scheuplein u. a.: Im Windschatten beschleunigt: Die Automobilindustrie in Ostdeutschland 1995–2006, Frankfurt 2007. 28  Ulrich Jürgens: Globalization and Employment Relations in the German Auto ­Industry, in: Roger Blainplain (Hrsg.): Globalization and Employment Relations in the Auto Assembly Industry. A Study of Seven Countries, Bulletin of Comparative Labour Relations, Austin 2008, S. 49–72. 29  Hajo Holst / Oliver Nachtwey / Klaus Dörre: Funktionswandel von Leiharbeit – Neue Nutzungsstrategien und ihre arbeits- und mitbestimmungspolitischen Folgen, in: OBS Arbeitsheft 61, Frankfurt 2009.

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Die Globalisierung als zweiter Entwicklungstrend ist ablesbar nicht nur am Exportanteil der Produktion, der von 55% in 1994 auf knapp 76% in 2010 gesteigert wurde, sondern auch und vor allem am Auslandsanteil der Produktion, der im selben Zeitraum von 32% auf rund 53% zunahm30. Vor­ aussetzung dafür war ein Anstieg der Auslandsinvestitionen, der in den teil­ weise spektakulären Übernahmen von SEAT und Škoda durch VW (zu de­ nen später noch Bentley und Lamborghini hinzukamen), von Rover durch BMW oder Chrysler durch Daimler-Benz seinen Ausdruck fand. Hinzu kam der Ausbau alter oder die Errichtung neuer Auslandswerke bei allen Endher­ stellern. Auch die amerikanischen Unternehmen Ford und GM vergrößerten ihre Produktionskapazitäten außerhalb Deutschlands in Europa, wobei Ford seinen europäischen Hauptsitz nach Deutschland verlegte. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ und den Bei­ tritt osteuropäischer Länder in die EU. Neben China und den USA findet heute der Kapazitätsaufbau deutscher Automobilunternehmen fast aus­ schließlich dort statt. Die Globalisierung erfüllte vor allem drei Funktionen für die Unterneh­ men. Die erste war die Marktöffnung, die gerade für die osteuropäischen und ostasiatischen Märkte eine wichtige Rolle spielte, weil davon auszugehen war, dass Produzenten ohne Produktionsstandbeine in den entsprechenden Regi­ onen dort langfristig am Markt nicht würden Fuß fassen können. Deshalb versuchten sich die deutschen Hersteller als „Global Players“ zu positionie­ ren, die in allen wichtigen Marktregionen der Welt präsent sind31. Die zweite Funktion war die Schaffung integrierter Produktionsstrukturen in globalen Produktionsnetzwerken. Dazu wurden die bestehenden Auslandsstandorte technologisch und organisatorisch modernisiert. Auf diese Weise wurde eine neuartige Produktionsflexibilität zwischen Standorten geschaffen. Die daraus resultierende globale Integration der Produktionsstrukturen kann als wich­ tigster Unterschied zwischen traditioneller Internationalisierung und neuer Globalisierung der Produktion betrachtet werden. Damit eng verbunden ist die dritte Funktion der Globalisierung, die interne Konkurrenz zwischen Produktionsstandorten. Die Standortkonkurrenz enthält die beiden Aspekte des wechselseitigen Lernens durch Diffusion von Innovationen sowie der Kosten-, Produktivitäts- und Qualitätskonkurrenz um Produkte, Produk­ tionsvolumen, Investitionen und Beschäftigung32. Der zweite Aspekt steht insbesondere bei den Massenherstellern VW und Opel (weniger bei Ford), 30 

VDA (Verband der Automobilindustrie): Auto Jahresbericht 2010, Frankfurt 2010. Ludger Pries: Auf dem Weg zu global operierenden Konzernen? BMW, DaimlerBenz und Volkswagen – Die drei Großen der deutschen Automobilindustrie, Mün­ chen 1999. 32  Ludger Pries / Markus Hertwig: Einleitung: Die Automobilindustrie: Eine High­ tech-Branche mit Zukunft in Deutschland und Europa? in: Ludger Pries / Markus Hertwig (Hrsg.): Die deutsche Automobilindustrie im globalen Wandel. Altindustrie im Rückwärtsgang oder Hightech-Branche mit Zukunft?, Berlin 2005, S. 7–14. 31 

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aber auch bei Daimler im Vordergrund und wird durch interne Ausschrei­ bungsverfahren der Konzernzentralen um die Produktion neuer Produkte systematisiert. Auf die Ausschreibung eines neuen Produktes können sich alle dafür in Frage kommenden Standorte des Unternehmens bewerben, und der oder die Standorte – je nach geplantem Gesamtvolumen der Produktion – bekommen den Zuschlag, die das kostengünstigste Angebot machen ­können oder deren Kosten zumindest nicht deutlich von anderen Standorten unterschritten werden. Der Produktionszuschlag ist gleichbedeutend mit ­Investitionen und Beschäftigungssicherung. Die Reorganisation der Wertschöpfungsketten als dritter Entwicklungs­ trend umfasst drei Aspekte: die Reduzierung der Wertschöpfungstiefe bei den Endherstellern, die Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Un­ ternehmen und die Globalisierung der Produktion auch der Zulieferer. Die Reduzierung der Wertschöpfungstiefe ist eine einheitliche Strategie der End­ hersteller. Anders als in der fordistischen Vergangenheit sollen nun nur noch möglichst wenige Funktionen und Produktionsstufen als Kernkompetenzen von den Endherstellern selber ausgefüllt werden, weil erstens Zulieferer teil­ weise mit geringeren Arbeitskosten operieren, da sie weniger übertarifliche Lohnbestandteile zahlen oder aus dem Flächentarifvertrag ausgestiegen sind oder von diesem abweichen; weil zweitens Zulieferer positive Skaleneffekte erzielen, indem sie identische Komponenten an mehrere Hersteller verkau­ fen; weil drittens auf diese Weise die Investitionsverantwortung und das ­damit verbundene Risiko auf die Zulieferer übertragen werden kann und weil viertens schließlich viele Entwicklungsabteilungen der Endhersteller wegen der wachsenden Produktvielfalt ihre Kapazitätsgrenze erreicht haben, sodass sie Entwicklungsaufgaben auf Zulieferer oder auf externe Entwicklungsbü­ ros verlagern müssen. Die Reduzierung der Eigenfertigung der Endhersteller hat in den letzten Jahren rasche Fortschritte gemacht. Zwischen dem Ende der 1980er Jahre und der Mitte der ersten Dekade des neuen Jahrtausends ist die Wertschöpfungstiefe bei allen Herstellern von etwa 40–50% auf nur noch 35% gesunken33; ein weiterer Rückgang auf noch 23% wird bis 2015 erwar­ tet34. Es versteht sich, dass die Reduzierung der Fertigungstiefe einen starken Anpassungsdruck auf die internen Komponentenfertigungen der Endherstel­ ler erzeugt. GM und Ford haben – durchaus mit begrenztem wirtschaft­ lichem Erfolg – große Teile ihrer Komponentenfertigung als „Spin Offs“ ausgegründet (Delphi, Visteon), GM trieb über einen längeren Zeitraum den Verkauf ganzer Werke voran (Opel Kaiserslautern), und auch bei VW war 33 

Susanne Gmeiner: Konzentrationsprozess in der Automobilindustrie. Konsequen­ zen für das Verhältnis zwischen Hersteller und Zulieferer, Aachen 2005. 34  Mercer Management Consulting / Frauenhofer Institut für Produktionstechnik und Automatisierung / Frauenhofer Institut für Materialfluss und Logistik: Future Automotive Industry Structure (FAST 2015) – die neue Arbeitsteilung in der Auto­ mobilindustrie, Frankfurt 2004.

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bis vor kurzer Zeit der Verkauf oder die Schließung von Komponentenwer­ ken in der Diskussion. Die Auslagerungsmöglichkeiten der Endhersteller – auch als Outsourcing bezeichnet – beruhen entscheidend auf der Modularisierung der Produkte. Diese eröffnet die Möglichkeit, ganze Baugruppen von Komponenten ein­ schließlich der dafür notwendigen Entwicklungsleistungen an Zulieferer aus­ zulagern35. Im Umkehrschluss heißt dies, dass die Zulieferer ihrerseits neue Kompetenzen integrierter Entwicklungen erwerben müssen. Dies gelingt typischer­weise nur wenigen und großen Zulieferern, die sich auf diese Weise als Systemlieferanten positionieren können, in direktem Kontakt zu den Endherstellern stehen und mit diesen teilweise eng kooperieren. Zwar gibt es noch Zulieferer, die Einzelkomponenten direkt an die Endhersteller liefern. Typischer aber ist die Herausbildung einer Zuliefererkette, die sich durch die Beziehungen zu den Endherstellern definiert. An ihrer Spitze stehen die ­Systemlieferanten, denen auf der zweiten Stufe Lieferanten folgen, die den Systemlieferanten zuliefern und so weiter. Die Bedeutung der großen – auch als Mega-Lieferanten bezeichneten – Zulieferer nimmt deutlich zu. Lag ihr Anteil an der Gesamtproduktion der Zulieferer 1993 noch bei 22%, so war er in 2000 bereits auf 43% gestiegen36. Die Kooperation zwischen End- und Systemherstellern beschränkt sich aber nicht nur auf die Abstimmung der ­Module und ihrer Entwicklung, sie bezieht sich auch auf die Integration der Logistik sowie die räumliche Integration. Just-in-Time-Anlieferung ist in­ zwischen Standard37, und die passgenaue Anlieferung von Komponenten fördert auch die räumliche Integration von Zulieferern und Endherstellern, die sich in Deutschland vor allem in der Form von Industrieparks vor den Toren der Endhersteller vollzieht38. Nicht zuletzt deshalb sehen sich Systemund Direktlieferanten der Erwartung ausgesetzt, zumindest mit Lagern an den internationalen Standorten der Automobilunternehmen präsent zu sein, um die Anlieferung Just-In-Time zu gewährleisten. Aber auch Zulieferer der zweiten oder dritten Stufe bauen Auslandskapazitäten auf, abhängig vor al­ lem von der Unternehmensgröße39. Die Reorganisation der Wertschöpfungs­ kette ist inzwischen unlösbar mit ihrer Globalisierung verbunden. 35  Ulrich Jürgens: An Elusive Model – Diversified Quality Production and the Trans­ formation of the German Automobile Industry, in: Competition and Change 8/4 (2004), S. 412–423. 36  Ulrich Jürgens: Industriegovernance und Produktionskonzepte, in: Weert Canzler / Gert Schmidt (Hrsg.): Das zweite Jahrhundert des Automobils. Technische Innova­ tion, ökonomische Dynamik und kulturelle Aspekte, Berlin 2003, S. 15–42. 37  Steffen Lehndorff: Zeitnot und Zeitsouveränität in der just-in-time Fabrik. Ar­ beitszeitorganisation und Arbeitsbedingungen in der europäischen Automobilzulie­ ferindustrie, München 1997. 38  Ulrich Jürgens: Industriegovernance (Anm. 35). 39  Steffen Kinkel / Gunther Lay: Automobilzulieferer in der Klemme. Vom Spagat zwischen strategischer Orientierung und Auslandsorientierung, in: Ludger Pries / Markus Hertwig (Hrsg.): Deutsche Automobilproduktion im globalen Wandel. Alt­

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Trotz der gewachsenen Kooperation hat sich der Preisdruck auf die Zulie­ ferer verschärft. Die Marktmacht der Endhersteller scheint ungebrochen. Nach Kinkel und Lay sind 43% aller Systemzulieferer der ersten Stufe in ­einer Marktsituation, die vorwiegend durch Preiskonkurrenz gekennzeichnet ist, und nur 23% resp. 20% sehen sich in einer Situation der Qualitäts- resp. Innovationskonkurrenz. Die Endhersteller schüren den Preiskampf auf zu­ mindest fünf Wegen. Erstens erwarten sie Produktivitätsverbesserungen von den Zulieferern während eines Produktzyklus und legen dafür verbindliche Zielgrößen fest. Zweitens wird vorausgesetzt, dass neue Produkte deutlich kostengünstiger angeboten werden; geschieht dies nicht, droht der Wechsel des Zulieferers. Drittens wurden generell die Kontraktzeiten mit den Zulie­ ferern verkürzt mit dem Ziel, die Konkurrenzprozesse zu stärken. Viertens intervenieren die Endhersteller in zunehmendem Maße in laufende Kontrak­ te. Und fünftens gehen die Endhersteller inzwischen davon aus, dass ein ­Zulieferer Produktionsstätten in Billigstandorten hat und unterstellen in den Preisverhandlungen Mischkalkulationen, die Arbeitskostenvorteile osteuro­ päischer Standorte einbeziehen.

Wandel des Tarifsystems Die globale Reorganisation der Wertschöpfungsketten lässt für die Prägekraft und die Verbreitung von Arbeitsstandards und für die sie tragenden Akteure in der Automobilindustrie wenig Gutes erwarten. Entwicklungen wie Stand­ ortkonkurrenz und Verlagerungsdrohungen, der Einsatz von Leiharbeit, Auslagerungen und die kostenorientierte Restrukturierung der Zulieferbe­ ziehungen laufen sämtlich darauf hinaus, eine Konkurrenz über Arbeitskos­ ten zu verstärken, die unvermeidlich zu Infragestellungen und Verschlechte­ rungen der Arbeitsbedingungen und Arbeitsstandards – und auch einer ge­ ringeren Verbindlichkeit dieser Standards – zu führen scheint. Nicht mehr die großen Automobilfabriken geben den Takt bei der Entwicklung der Ar­ beitsstandards vor, sondern kleinere Zulieferunternehmen, ausländische Bil­ ligstandorte oder Leiharbeitsfirmen. Die Gefahr eines Race-to-the-Bottom konkurrierender Arbeitsstandards liegt auf der Hand. Doch kommt es dazu tatsächlich? Und wie reagieren die Akteure der industriellen Beziehungen darauf? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sich die Institutionen der Regulie­ rung tariflicher Arbeitsstandards mit der Globalisierung auf den ersten Blick wenig verändert haben. Der von den Tarifparteien für Tarifregionen ausge­ handelte Flächentarifvertrag ist nach wie vor die wichtigste Regelungsebene der Arbeitsstandards in der Automobilindustrie. Entgelte, die Arbeitszeit­ industrie im Rückwärtsgang oder Hightech-Branche mit Zukunft?, Berlin 2005, S. 59– 74.

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dauer oder Entgeltgrundsätze und -gruppen werden weiterhin auf dieser Ebene – oder „Arena der Aushandlung“40 – der industriellen Beziehungen bestimmt. Insofern findet der gesetzlich geregelte Tarifvorrang in der Auto­ mobilindustrie als Teilbranche der Metall- und Elektroindustrie auch seine praktische Umsetzung. Jenseits dieser Kontinuität des formalen Tarifvorrangs aber haben sich deutliche Veränderungen vollzogen, die mehrheitlich in engem Zusammen­ hang zur oben beschriebenen Reorganisation der Wertschöpfungsketten ste­ hen. Dies gilt zunächst einmal für die Tarifstandards selber. Zwar konnte die Gewerkschaft in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends weiterhin Tarif­ lohnerhöhungen erzielen, die annähernd den Verteilungsspielraum aus ­Produktivitätsentwicklung und Inflation ausschöpften und damit in der ­Logik des fordistischen Lohnkompromisses standen41. Doch setzen sich die Tariflohnsteigerungen nicht mehr automatisch in Effektivlohnsteigerungen der Branchenbeschäftigten um, sei es, weil in vielen Unternehmen der Wage Drift durch Abbau übertariflicher Leistungen – insbesondere im Rahmen betrieblicher Beschäftigungsbündnisse und Tarifabweichungen, hierauf wird noch eingegangen – verringert wird oder sei es, weil in der Branche verstärkt Leiharbeiter eingesetzt werden, die ein deutlich unter den Tarifstandards der Metallindustrie liegendes Lohnniveau erreichen. Auch auf Seiten der tarif­ lichen Arbeitszeitverkürzung sind keine Fortschritte mehr erzielt worden. Seit der letzten Stufe der Arbeitszeitverkürzung 1995 fanden keine weiteren tarif­lichen Arbeitszeitverkürzungen statt (und sind auch nicht entfernt am Ho­rizont erkennbar), die ein Zurückbleiben der Löhne hinter Inflation und Produktivität hätten rechtfertigen können. Vielmehr ist es einigen Unter­ nehmen inzwischen gelungen, in Ergänzungstarifverträgen die Arbeitszeit wieder auf 40 Stunden auszudehnen, und in Betrieben mit hohen Anteilen hochqualifizierter Beschäftigter können die Arbeitszeiten auch nach Flä­ chentarifvertrag auf 40 Stunden für die Hälfte der Beschäftigten ausgeweitet werden. Diesen problematischen Entwicklungen stehen aber auch tarifpolitische Innovationen gegenüber. Dazu gehört die Reform der Entgeltrahmentarif­ verträge (ERA) in der Metall- und Elektroindustrie, die über mehr als ein Jahrzehnt verhandelt worden war. In den im Zeitraum 2004 und 2005 einge­ führten Entgeltrahmentarifverträgen werden nicht nur die Entgeltgrundsätze und -tabellen von Arbeitern und Angestellten zusammengeführt, sondern zugleich die Eingruppierungsschemata insgesamt erneuert, an neue Anforde­ rungen der Arbeitsorganisation wie Kommunikation oder Einsatzflexibilität

40  Walther Müller-Jentsch: Soziologie der industriellen Beziehungen. Eine Einfüh­ rung, Frankfurt 1997 (2.Aufl.). 41  Reinhard Bispinck: Tarifpolitischer Jahresbericht 2010: Beschäftigungssicherung und gedämpfte Lohnentwicklung, in: WSI-Mitteilungen 64/3 (2011), S. 123–130.

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angepasst und mit neuen Formen der Leistungsregulierung verbunden42. Der ERA wird als Beispiel für ein tarifliches Positivsummenspiel betrachtet, weil die Beseitigung von Statusdifferenzen und die Modernisierung von Eingrup­ pierungs- und Leistungskriterien im Interesse sowohl der Gewerkschaft als auch der Arbeitgeber liegen kann. Im Umkehrschluss aber bedeutet dies auch, dass der ERA nur durchgesetzt werden konnte, weil er die Interessen der Arbeitgeber auch berücksichtigt. Und in der Tat wird er von den Arbeit­ gebern als Instrument der Reduzierung des betrieblichen Entgeltvolumens zu nutzen versucht43. Auch die zweite Innovation im Bereich der Arbeitsregulierung, die Flexi­ bilisierung der Arbeitszeitregulierung44, birgt Ambivalenzen. Sie dient zwar in erster Linie den Interessen der Unternehmen an einer Erhöhung der inter­ nen Flexibilität, sie kann aber auch Interessen der Beschäftigten an einer au­ tonomeren Gestaltung der Arbeitszeit entgegenkommen. In ihren Ursprün­ gen war die Flexibilisierung eine Konzession der Gewerkschaft an die Ar­ beitgeber, und bis heute gilt in der Branche die Flexibilität der Arbeitszeiten als einer der wichtigsten Konkurrenzvorteile deutscher Produktionsstandor­ te. Nicht von ungefähr nahm die Automobilindustrie eine Vorreiterstellung bei der Einführung von Arbeitszeitkonten als wichtigstem Regelungsinstru­ ment schwankender Regelarbeitszeiten ein, und in der Automobilindustrie wurden auch die ersten Langzeitkonten – Pioniere waren das Zeitwertpapier und der Beschäftigungscheck von VW – eingeführt. In der Automobilindus­ trie waren die Arbeitszeitkonten auch jeweils Gegenstand von Betriebsver­ einbarungen der Betriebsparteien. Zumindest für diese Branche lässt sich da­ her von einer „regulierten Flexibilität“ 45 sprechen, und in den meisten Fällen gelang es den Betriebsräten – wenn auch teilweise nach Lernprozessen –, die Arbeitszeitkonten mit starken Mitbestimmungsrechten auszustatten, wobei sie aber vielfach einer Ausweitung der Wochenendarbeit zustimmen muss­ ten46. Im Vergleich sind die Schichtsysteme der deutschen Automobilfabri­ ken die flexibelsten Europas (Lehndorff 2001).

42 

Christian Brunkhorst / Oliver Burkhard / Manfred Scherbaum (Hrsg.): Eine neue ERA. Tarifverträge für die Zukunft, Hamburg 2006. 43  Reinhard Bahnmüller / Werner Schmidt: Auf halbem Weg – Erste Befunde zur ERA-Umsetzung in Baden-Württemberg, in: WSI-Mitteilungen 60/7 (2007), S. 358– 364. 44  Thomas Haipeter / Steffen Lehndorff: Regulierte Flexibilität? Arbeitszeitregulie­ rung in der deutschen Automobilindustrie, in: WSI-Mitteilungen 55/12 (2002), S. 649– 655. 45  Hartmut Seifert: Zeitkonten: Von der Normalarbeitszeit zu kontrollierter Flexibili­ tät, in: WSI Mitteilungen 2 (2001), S. 84–90. 46  Thomas Haipeter / Steffen Lehndorff: Regulierte Flexibilität? Arbeitszeitregulie­ rung in der deutschen Automobilindustrie, in: WSI-Mitteilungen 55/12 (2002), S. 649– 655.

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Mit der flexiblen Arbeitszeitregulierung wurde ein Prozess der Verbetrieb­ lichung47 der Arbeitsregulierung eingeleitet. Zunächst in ihrem Windschatten hatte sich in der Krise der frühen 1990er Jahre eine zweite Form der Verbe­ trieblichung entwickelt, die Betrieblichen Bündnisse für Arbeit. Betriebliche Bündnisse sind „Tauschpakete“48, in deren Rahmen materielle Konzessionen der Beschäftigten gegen Gegenleistungen der Unternehmen – unter denen die Beschäftigungs- und Standortsicherung oder Investitionszusagen hervor­ stechen – getauscht werden. Die Konzessionen der Beschäftigten können sich auf Fragen der Arbeitszeitflexibilisierung, der Arbeitszeitverkürzung, der Lohnsenkung oder auch der betrieblichen Rationalisierung beziehen. Ausgehend vom Pionier betrieblicher Bündnisse, dem Tarifvertrag zur Stand­ ort- und Beschäftigungssicherung des Jahres 1993 bei Volkswagen49, hatten sich betriebliche Bündnisse in der Automobilindustrie rasch ausgebreitet. Mitte der 1990er Jahre hatten dann die Tarifvertragsparteien auf überbetrieb­ licher Ebene Tarifvereinbarungen zur Standort- und Beschäftigungssicherung abgeschlossen, die den Betriebsparteien die Möglichkeit eröffneten, in ver­ schiedenen Stufen Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich zu verein­ baren. Heute dürfte es nur noch wenige Unternehmen in der Automobilindustrie geben, die kein betriebliches Bündnis aufweisen oder dies zumindest in der Vergangenheit einmal abgeschlossen haben. Sofern damit Absenkungen ­materieller Standards der Beschäftigten verbunden sind, betreffen diese in der Mehrzahl der Fälle übertarifliche Leistungen; für die Endhersteller in der Automobilindustrie gilt dies bislang durchgängig50. Aber auch bei ihnen ist insbesondere der Neuaufbau von Kapazitäten an alten oder neuen Standor­ ten in Deutschland mittlerweile ohne umfangreiche materielle Konzessionen nicht mehr zu haben, wie die Beispiele Auto 5000 bei VW oder das BMW Werk in Leipzig zeigen, die beide außergewöhnlich flexible Arbeitszeitrege­ lungen mit Lohnniveaus (und im Falle BMWs auch einer hohen akzeptierten Leiharbeitsquote) kombinieren, die deutlich unterhalb der Standards der al­ ten Werke liegen. Betriebliche Bündnisse sind eine direkte Reaktion auf die Globalisierung der Wertschöpfungsketten. Standortsicherung gewinnt an Attraktivität nur 47  Rudi Schmidt / Rainer Trinczek: Der Betriebsrat als Akteur der industriellen Be­ ziehungen, in: Walther Müller-Jentsch (Hrsg.): Konfliktpartnerschaft. Akteure und Institutionen der industriellen Beziehungen, München 1999, S. 103–128. 48  Heiko Massa-Wirth: Zugeständnisse für Arbeitsplätze? Konzessionäre Beschäfti­ gungsvereinbarungen im Vergleich Deutschland – USA, Berlin 2007. 49  Markus Promberger u. a.: Beschäftigungssicherung durch Arbeitszeitverkürzung. 4-Tage-Woche bei VW und als Freischichten im Bergbau: Mehr als nur zwei Beispiele, Berlin 1996. 50  Ulrich Jürgens / Martin Krzywdzinski: Globalisierungsdruck und Beschäftigungs­ sicherung – Standortsicherungsvereinbarungen in der deutschen Automobilindustrie zwischen 1993 und 2006, in: WZB Discussion Papers SP III 303 (2006).

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in einer Umwelt der Standortkonkurrenz. Die Beschäftigten müssen Kon­ zessionen anbieten für den befristeten Fortbestand alter Sicherheiten. Dies ist ein deutliches Indiz für die Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Unternehmen und Interessenvertretungen. Grundsätzlich können bei den betrieblichen Bündnissen eher produktivitäts- und eher lohnkostenorientier­ te Bündnisse unterschieden werden51. Insbesondere bei den eher lohnkosten­ orientierten Bündnissen mehrten sich seit Ende der 1990er Jahre die Fälle, in denen es über den Abbau übertariflicher Leistungen hinaus auch zu einer Unterschreitung der Tarifnormen kam, sei es durch Ausdehnung der Flexibi­ litätsspielräume, sei es durch Verlängerungen der Arbeitszeit oder sei es durch Absenkungen der Entgelte unter die Standards der Flächentarifverträ­ ge. Es steht zu vermuten, dass sich solche Entwicklungen in der Automobil­ industrie vor allem auf den unteren Stufen der Wertschöpfungskette feststel­ len lassen oder in Bereichen bei Endherstellern oder Systemzulieferern, die einer besonderen Konkurrenz der Arbeitsstandards ausgesetzt sind. Die wilde Dezentralisierung der betrieblichen Bündnisse fiel zusammen mit einer wachsenden Zahl von Sanierungsvereinbarungen (in Ostdeutsch­ land auch als Härtefälle bezeichnet), die von der Gewerkschaft mit Unter­ nehmen abgeschlossen wurden, die sich in einer akuten Krisensituation be­ fanden52. Diese Vereinbarungen beruhten auf Härtefallregelungen (seit 1993 für die ostdeutschen Tarifgebiete) und Sanierungsklauseln (seit 1995 für west­ deutsche Tarifgebiete) in den Flächentarifverträgen, die erstmals die Grund­ lagen für Tarifabweichungen schufen. Die Tarifabweichung unterscheidet sich dadurch von der wilden Dezentralisierung, dass die Tarifvertragspartei­ en Tarifunterschreitungen selber aushandeln oder doch wenigstens absegnen und damit legitimieren. Allerdings waren die Sanierungsvereinbarungen zu­ nächst weit davon entfernt, von den Tarifparteien auch effektiv kontrolliert zu werden. Die Arbeitgeberverbände bemühten sich um eine solche Kon­ trolle nicht, und bei der IG Metall blieben sowohl die Zuständigkeiten für die Aushandlung von abweichenden Tarifvereinbarungen als auch die Infor­ mationen über Zahlen und Umfänge dieser Vereinbarungen diffus. Mit der Pforzheimer Tarifvereinbarung des Jahres 2004 wurde schließlich der Anwendungsbereich der kontrollierten Dezentralisierung auf alle Fälle er­ weitert, in denen die Sicherung und der Aufbau von Beschäftigung sowie die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit und der Investitions- und Innovations­ bedingungen behandelt werden53. Die Gewerkschaft sah sich aus zwei Grün­ den zu dieser Erweiterung abweichender Tarifvereinbarungen gezwungen: 51 

Britta Rehder: Betriebliche Bündnisse für Arbeit in Deutschland. Mitbestimmung und Flächentarif im Wandel, Frankfurt 2003. 52  Wolfgang Schroeder: Das Modell Deutschland auf dem Prüfstand. Zur Entwick­ lung der industriellen Beziehungen in Ostdeutschland, Wiesbaden 2000. 53  Thomas Haipeter: Tarifabweichungen und Flächentarifverträge: Eine Analyse der Regulierungspraxis in der Metall- und Elektroindustrie, Wiesbaden 2009.

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Zum einen hatte die damalige Bundesregierung mit der Androhung eigener Gesetzesinitiativen den Druck auf die Tarifvertragsparteien verstärkt, die Mög­ lichkeiten betrieblicher Abweichungen von den Flächentarifvertragsnormen auszuweiten. Und zum anderen hatten die Kontrollprobleme der Gewerk­ schaft über die wilde Dezentralisierung und die Tarifabweichung auf der Grundlage der Härtefall- und Sanierungsklauseln ein bedrohliches Ausmaß angenommen, sodass sie nach Wegen suchte, die Tarifabweichung besser in den Griff zu bekommen. Mit der Pforzheimer Vereinbarung wurde deshalb von der Gewerkschaft ein neuer Umgang mit der Tarifabweichung angestrebt. Die Praxis der Tarifabweichung nach Pforzheim hatte zunächst gravieren­ de Probleme der Kontrolle betrieblicher Tarifkonflikte aufgezeigt. Ein Bei­ spiel neben anderen dafür war der Konflikt um die Produktionsstandorte der Handysparte von Siemens, wo die Betriebsräte im Vorhinein Absprachen mit der Unternehmensleitung getroffen hatten und es der Gewerkschaft in den Verhandlungen kaum mehr gelang, Verbesserungen bei den materiellen Kon­ zessionen der Beschäftigten oder den Gegenleistungen des Unternehmens zu erzielen. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen hat die IG Metall schließlich Koordinierungsrichtlinien für die Tarifabweichung entwickelt, die zumindest eine Kontrolle der Entscheidungs- und Informationsprozesse ermöglichten sollten, die mit den abweichenden Tarifvereinbarungen verbunden waren. Die Koordinierungsrichtlinien griffen tatsächlich so weit, dass die wilde ­Dezentralisierung und die Intransparenz der Sanierungsvereinbarungen weit­ gehend gebannt und in kontrollierte Bahnen überführt werden konnten. Der Preis dafür war freilich ein rascher Anstieg der offiziellen Tarifabweichun­ gen. Von 2004 bis 2006 wurden in der Metall- und Elektroindustrie insge­ samt rund 850 abweichende Vereinbarungen abgeschlossen, was bezogen auf das Jahr 2006 und abzüglich ausgelaufener Vereinbarungen einer Abwei­ chungsquote von gut 10% aller in den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie organisierten Unternehmen entspricht. Nach den Angaben des VDA54 wurden in 2004 30% der insgesamt rund 170 abweichenden Tarifvereinbarungen der Metall- und Elektroindustrie in der Automobilbranche getroffen, bei einem Anteil der Betriebe der Automo­ bilbranche an allen Betrieben der Metall- und Elektroindustrie von unter 6% und einem Beschäftigtenanteil von gut 22%55. Dies spricht dafür, dass die Automobilindustrie einen überproportionalen Anteil an den Abweichungen in der Metall- und Elektroindustrie aufweist, was sich nicht zuletzt aus ihrer globalen Reorganisation und der damit verbundenen Intensität der Standort­ konkurrenz erklären ließe. Aus Interviews ist ferner bekannt, dass sich Tarif­ unterschreitungen zwar entlang der Wertschöpfungskette finden, dass sie aber auf den unteren Stufen der Zulieferindustrie mit deutlich weitgehende­ ren Konzessionen verbunden sind. Bei den Endherstellern sind die materiel­ 54  55 

VDA (Verband der Automobilindustrie): Auto Jahresbericht 2005, Frankfurt 2005. Eigene Berechnungen; Daten unter: www.gesamtmetall.de.

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len Konzessionen im Rahmen betrieblicher Beschäftigungsbündnisse bislang, wie bereits angemerkt, noch konform mit den Tarifnormen, auf den unteren Stufen der Wertschöpfungskette nicht selten jedoch nicht. Verantwortlich da­ für ist zum einen die Tatsache, dass die Großunternehmen an der Spitze der Wertschöpfungskette zumeist noch übertarifliche Leistungen aufweisen, die gekürzt werden können, bevor eine Unterschreitung von Tarifvertragsnor­ men zur Debatte steht. Zum anderen wächst der wirtschaftliche und vertrag­ liche Druck auf Kostensenkungen mit der Entfernung von den Endherstel­ lern auf den unteren Stufen der Wertschöpfungskette, auf denen zudem ­zumeist die Betriebsgrößen geringer sind und die Präsenz der Gewerkschaft im Betrieb schwächer ist. Anders als noch vor wenigen Jahren bestehen ­zudem die Endhersteller nicht mehr darauf, dass die Unternehmen ihrer Wertschöpfungsketten tarifgebunden sind. Insgesamt ist mit der Zunahme der Abweichungen entlang der Wertschöpfungskette also eine Fragmentierung von Arbeitsstandards verbunden, die zuvor ein tariflich einheitliches Mindestniveau aufwiesen. Fragmentierungen weiten sich aber auch innerhalb der Belegschaften der Endhersteller – oder der großen Zulieferer – aus. Ein wichtiger Grund dafür sind die oben bereits angesprochenen wachsenden Anteile von Leiharbeit­ nehmern, die bei einigen Endherstellern nicht mehr nur als Flexibilitätspuffer eingesetzt werden, sondern teilweise auch Stammbelegschaften substituieren und damit als Faktor der Kostensenkung dienen. Eine zweite Fragmentie­ rungslinie ist mit den Dienstleistungstarifverträgen begründet worden, die inzwischen bei den meisten Endherstellern für Unternehmensbereiche abge­ schlossen worden sind, die nicht den Kernfunktionen der Automobilferti­ gung und ihrer Organisation zugerechnet werden und bei denen durch Aus­ lagerung die Personalkosten dadurch gesenkt werden können, dass die aus­ gelagerten Bereiche – als selbständige Unternehmen oder übernommen durch ein anderes Unternehmen – entweder Dienstleistungsbranchen mit niedrige­ ren Tarifstandards zugeordnet werden oder als Unternehmen keinem Arbeit­ geberverband beitreten und sich damit ganz der Tarifbindung entziehen. In dieser Situation schloss und schließt die IG Metall Dienstleistungstarifverträ­ ge ab – die üblicherweise längere Arbeitszeiten oder geringere Entgelte vor­ sehen – mit dem Ziel, die Tarifkonkurrenz zu anderen Branchen zu begren­ zen, das Vertretungsmonopol der IG Metall aufrecht zu erhalten und die Einbindung der betreffenden Beschäftigtengruppen in die sonstigen Rege­ lungen der Flächentarifverträge (und auch der Betriebe) zu erhalten. In die­ sen Verträgen versucht die Gewerkschaft zudem durchzusetzen, dass sich die Unternehmen dazu verpflichten, auf Auslagerungen in diesen Bereichen zu verzichten und aktives In-Sourcing (also die Wiedereingliederung bereits ausgelagerter Bereiche) zu betreiben56. 56 

Hubert Dünnemeier: Dienstleistungstarifverträge – ein Instrument zur Verhinde­ rung von Outsourcing und Tarifflucht, in: Reinhard Bispinck (Hrsg.): Verteilungs­

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Flexibilisierung, betriebliche Bündnisse mit teilweise fließendem Übergang zur wilden Dezentralisierung und schließlich Tarifabweichungen lassen sich als Stufen eines Rückgangs der Prägekraft interpretieren, den die überbe­ trieblichen Arbeitsstandards der Flächentarifverträge noch auf die betriebli­ che Arbeitswirklichkeit ausüben können. Diese Entwicklung wird erklärbar, wenn der Blick auf die Verschiebung der Machtrelationen zwischen den Ak­ teuren der industriellen Beziehungen gelenkt wird, die sich als Ergebnis der Globalisierung vollzogen hat.

Wandel der Tarifvertragsparteien Die Probleme der Flächentarifverträge sind vor allem darauf zurückzufüh­ ren, dass die Tarifvertragsparteien einen relativen Machtverlust hinnehmen mussten. Dies gilt sowohl für die Gewerkschaft als auch für die Arbeitgeber­ verbände der Branche – beide sind heute weit schwächer als früher. Der ent­ scheidende Grund dafür ist die gewachsene Stärke der Unternehmen, die aus ihren neuen Handlungsoptionen im Rahmen der globalen Reorganisation er­ wächst und die in der Dezentralisierung im System der Arbeitsbeziehungen ihren Ausdruck findet. Wegen ihrer Verhandlungsstärke können sich die Unter­nehmen besser gegen die Gewerkschaft im Betrieb durchsetzen und müssen sich weniger auf die Arbeitgeberverbände als Repräsentanten ihrer Arbeitsmarktinteressen verlassen57. Die Arbeitgeberverbände spüren die wachsende Verhandlungsmacht ihrer Mitglieder nicht nur an der Forderung nach Dezentralisierung der Tarifver­ träge, sondern auch an der stark rückläufigen Bindung der Betriebe an die Verbände. Von 1990 bis 2006 ist der Organisationsgrad der Metallarbeitge­ berverbände nach Beschäftigten in Westdeutschland um mehr als 20 Prozent­ punkte auf nur mehr 56,5% zurückgegangen; in Ostdeutschland fiel der Organisations­grad zwischen 1991 und 2006 gar um mehr als 48% Prozent­ punkte auf noch 17,4%. Auf diesen Rückgang antworteten die Arbeitgeber mit der organisationspolitischen Strategie der Gründung von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung58 (OT-Verbände). Die OT-Verbände haben sich inzwischen fest etabliert. So sind in Vorreiterregionen wie Bayern bereits mehr als doppelt so viele Unternehmen im OT-Verband organisiert wie im alten Arbeitgeberverband. Bezogen auf die Beschäftigtenzahlen hingegen ste­ kämpfe und Modernisierung. Aktuelle Entwicklungen in der Tarifpolitik, Hamburg 2008, S. 139–150. 57  Franz Traxler: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände: Probleme der Verbands­ bildung und der Interessenvereinheitlichung, in: Walther Müller-Jentsch (Hrsg.): Kon­ fliktpartnerschaft: Akteure und Institutionen der industriellen Beziehungen, München 1999 (3. Aufl.), S. 57–78. 58  Thomas Haipeter / Gabi Schilling: Arbeitgeberverbände in der Metall- und Elektroin­ dustrie: Tarifbindung, Organisationsentwicklung und Strategiebildung, Hamburg 2006.

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hen die OT-Verbände noch weit hinter den Tarifverbänden zurück, weil sie als Sammelbecken für Unternehmen mit kleiner Betriebsgröße dienen. Trotz der organisationspolitischen Erfolge sind die OT-Verbände aber auch aus Arbeitgeberverbandssicht nicht uneingeschränkt positiv zu sehen, drücken sie doch zugleich ein wachsendes Problem der Verbände aus, die ­Interessen ihrer Mitglieder noch zu integrieren und in einheitliche tarifpoliti­ sche Strategien zu übersetzen. Die Automobilindustrie ist ein gutes Beispiel für das damit verbundene Organisationsproblem. Die wachsenden Macht­ asymmetrien und der zunehmende Kostendruck entlang der Wertschöp­ fungskette haben dazu geführt, dass es immer schwieriger wird, die Interes­ sen der Unternehmen zu harmonisieren und einheitliche Tarifziele zu finden. Dass der Verband der Automobilindustrie als Wirtschaftsverband der Bran­ che schon in seinem Jahresbericht von 2006 die Zunahme der Differenzen zwischen Endherstellern und Zulieferern öffentlich beklagt hat, spricht für sich. Die Fragmentierung der Arbeitsstandards ist eng verbunden mit einer Fragmentierung der kollektiven Interessen und ihrer Organisation. Für die IG Metall sieht die Lage keinesfalls besser aus. Auch ihre Position gegenüber den Unternehmen hat sich verschlechtert. Dies ist zum einen als Ausdruck der eigenen Schwäche zu interpretieren, die mit allgemeinen Ent­ wicklungen wie der inneren Tertiarisierung der Industrie oder dem generel­ len Bedeutungsverlust der Gewerkschaften als gesellschaftliche Reformkraft zu tun hat. Eine wichtige Ursache dafür dürfte zum anderen aber auch in dem Umstand zu suchen sein, dass die Gewerkschaft als Folge der globalen Reorganisation weniger Verhandlungserfolge für ihre Mitglieder vorweisen kann und zudem die Beschäftigungssicherheit in den Vordergrund des Mit­ gliederinteresses rückt, für deren Erreichung Tarifverträge als Hindernis er­ scheinen können. Diese Entwicklungen können jedoch die Tatsache nicht in Abrede stellen, dass die Automobilindustrie noch immer die Vorzeigebran­ che der IG Metall ist. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt bei über 70%59 und ist damit höher als in jeder anderen Branche der deutschen Wirt­ schaft. Allerdings übersetzt sich, anders als früher, vor dem Hintergrund von Standortkonkurrenz und Verlagerungsdruck der Organisationsgrad nicht mehr ungebrochen in Organisationsmacht. Deshalb versucht die Gewerk­ schaft mit neuen betrieblichen Strategien verlorenen Boden zumindest teil­ weise wieder gut zu machen. Die Revitalisierung der Gewerkschaft soll über eine Stärkung der Betriebspolitik und der betrieblichen Organisationsgliede­ rungen erfolgen60. Das derzeit wichtigste in diesem Rahmen diskutierte Kon­ zept ist die betriebsnahe Tarifpolitik bei Verhandlungen von Abweichungen. 59  Isabella Biletta / Barbara Gerstenberger: Company Adaptability and Worker Par­ ticipation in the Automotive Industry, in: European Foundation: Foundation Focus Issue 1 (2005), S. 12–13. 60  Berthold Huber / Oliver Burkhard / Hilde Wagner (Hrsg.): Perspektiven der Tarif­ politik. Im Spannungsfeld von Fläche und Betrieb, Hamburg 2006.

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Gerade dezentrale Tarifverhandlungen im Rahmen der Tarifabweichung ­werden als Chance betrachtet, die Mitglieder stärker als zuvor in die Tarif­ auseinandersetzung einzubeziehen und an der tariflichen Willensbildung zu beteiligen. Dadurch erhofft sich die IG Metall, als Organisation für Mitglie­ der wieder an Attraktivität zu gewinnen Die Ergebnisse mehrerer Forschungsprojekte des Autors zeigen, dass die betriebsnahe Tarifpolitik bei Tarifabweichungen tatsächlich zur Stärkung von Organisationsmacht und Organisationsgrad beiträgt61. Verantwortlich dafür sind insbesondere die Verfahren der Mitgliederbeteiligung, die in diesem Zu­ sammenhang von der Gewerkschaft entwickelt wurden und die weitgehend als betriebliche Praxis bei Tarifabweichungen etabliert werden konnten. Mit­ gliederbeteiligung findet dabei statt sowohl als bevorzugte Information der Mitglieder auf Mitgliederversammlungen und als Wahlen der betrieblichen Tarifkommissionen durch die Mitglieder und Einbeziehung einzelner Mit­ glieder in die Tarifkommissionen als auch durch Abstimmungen auf Mitglie­ derversammlungen darüber, ob über eine Tarifabweichung verhandelt wer­ den soll und ob ein Verhandlungsergebnis akzeptiert wird. Auf diese Weise gewinnt die Gewerkschaft nicht nur deutlich an Legitimität gegenüber den Mitgliedern in den Auseinandersetzungen, sondern stärkt durch die Beteili­ gung auch die Mitgliederbindung. Und die Bevorzugung der Mitglieder in diesen für die Arbeitskraftinteressen der Beschäftigten zentralen Fragen führt zudem dazu, dass die Gewerkschaft an Attraktivität auch für die Nicht-Mit­ glieder gewinnt. Bei einem großen Automobilzulieferer konnten zum Bei­ spiel im ausgelagerten Bereich der Konzernzentrale mit 1 000 Beschäftigten rund 200 neue Mitglieder gewonnen werden, und dies, obwohl dort zuvor überhaupt nur 50 Beschäftigte gewerkschaftlich organisiert waren. In einem Produktionswerk eines anderen Automobilzulieferers konnte im Zuge der Aushandlungen zu Tarifabweichungen der gewerkschaftliche Organisations­ grad von etwa 20% auf gut 40% verdoppelt werden und zudem ein Ver­ trauensleutekörper aufgebaut werden, den es dort zuvor nicht gab. Dies sind Beispiele unter mehreren, die zeigen, dass es der Gewerkschaft offenbar ge­ lungen ist, in der tarifpolitischen Defensive von Tarifabweichungen eine neue Betriebspolitik zu entwickeln, die ihre Organisa­tionmacht in den Betrieben stärkt.

Wandel der Mitbestimmung Den Betriebsräten kommt im Wandel der industriellen Beziehungen der Au­ tomobilindustrie eine Schlüsselrolle zu. Standort- und Beschäftigungssiche­ rung wird zu ihrer wichtigsten Aufgabe. Die Zeiten, als sich die Betriebsräte 61  Thomas Haipeter: Erneuerung aus der Defensive? Gewerkschaftliche Perspektiven der Tarifabweichung, in: WSI-Mitteilungen 63/6 (2010), S. 283–290.

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weitgehend darauf beschränken konnten, die Umsetzung von Tarifverträgen und die Einhaltung arbeitsrechtlicher Standards zu kontrollieren, sind vor­ bei. Die Veränderungen begannen bereits in den frühen 1980er Jahren, als die Betriebsräte der Branche mit einer forcierten Automatisierung der Produk­ tion und ersten Experimenten neuer Organisationsformen konfrontiert wur­ den. Zumindest die Betriebsräte der Endhersteller reagierten darauf offensiv mit dem Versuch, die Entwicklungen dadurch zu kontrollieren, dass sie sie mitgestalten. Daraus erwuchsen Forderungen nach einer Ausweitung der Mit­bestimmung auf Technologieeinsatz und Arbeitsorganisation, verbunden mit dem Ruf nach partizipativen Organisationsformen. Die populäre Be­ zeichnung des Betriebsrats als Co-Manager62 verdankt sich ganz wesentlich diesem Rollenwandel, der zuerst in der Automobilindustrie stattfand. Mit der Reorganisation der Wertschöpfungsketten aber hat sich der Cha­ rakter des Co-Managements zu wandeln begonnen. Weniger die partizipative Ausrichtung der Arbeitsorganisation stand nunmehr im Zentrum der Mit­ bestimmung, sondern vorrangig die Probleme der Beschäftigungssicherung in globalen Produktionsnetzwerken und in neuen Formen der Arbeitsteilung mit den Zulieferern. Damit konnte zum einen ein erheblicher Zugewinn an faktischen Einflussmöglichkeiten bei der Entwicklung von Produkt- oder Produktionsstrategien verbunden sein. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür findet sich bei VW, wo für Werke und Geschäftsbereiche Standortsymposien stattfinden, auf denen langfristige Entwicklungsperspektiven und -strategien zwischen Betriebsrat, Standortmanagement und Konzernleitung diskutiert werden63. Zum anderen allerdings hatte diese Entwicklung die Kehrseite der Einbeziehung der Betriebsräte in das betriebliche Produktivitäts- und Kos­ tenmanagement. Der Betriebsrat wurde zu einem Akteur der Rationalisie­ rung, weil unter den neuen Rahmenbedingungen die Verbesserung der Kon­ kurrenzfähigkeit zur wichtigsten Grundlage der Beschäftigungssicherung wurde. Heutzutage ist es für Betriebsräte in Automobilfabriken selbstver­ ständlich, an der Entwicklung von Kostensenkungskonzepten und ihrer Um­ setzung aktiv mitzuarbeiten. Der Rollenwandel der Betriebsräte ist mit vielen neuen Anforderungen an ihre Qualifikation verbunden64. Es liegt auf der Hand, dass dies den Betriebsräten der großen Automobilwerke mit ihren umfangreichen Ressourcen leichter fällt als Betriebsräten in kleineren Unter­ nehmen auf den unteren Stufen der Wertschöpfungskette, die weder die Res­ sourcen noch die Verhandlungstraditionen kennen, die für eine erfolgreiche Interessenvertretungspolitik unter den neuen Rahmenbedingungen erforder­ lich sind. Deshalb ist zu erwarten, dass sich die angesprochene Tendenz der 62 

Walther Müller-Jentsch: Soziologie der industriellen Beziehungen. Eine Einfüh­ rung, Frankfurt 1997 (2.Aufl.). 63  Thomas Haipeter: „Mitbestimmung bei VW“ (Anm. 10). 64  Thomas Haipeter: Arbeits(zeit)politik zwischen Innovation und Eigensinn, in: Ar­ beit 15/2 (2006), S. 73–84.

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Fragmentierung auch auf der Ebene der betrieblichen Mitbestimmung fort­ setzt. Allerdings gibt es auch hier neue strategische Ansätze der Gewerkschaft, unter ihnen vor allem die Kampagne „Besser statt billiger“, die ursprüng­ lich im Bezirk NRW der IG Metall entwickelt worden war 65 und die seit einiger Zeit auf Vorstandsebene der IG Metall übernommen und als bun­ desweite Kampagne ausgedehnt wurde. In dieser Kampagne stehen die Unter­stützung und Förderung der Betriebsräte in ihrer Auseinandersetzung mit Managementstrategien im Zentrum; Workshops, gewerkschaftsnahe Beratung oder die wechselseitige Unterstützung der Betriebsräte in Bran­ chennetzwerken sollen die Betriebsräte befähigen, erstens Managementkon­ zepte zu problematisieren und zu hinterfragen, und zweitens eigene Alter­ nativkonzepte zu entwickeln und zu verhandeln, die auf langfristige Inno­ vations- und Beschäftigungsperspektiven abzielen. Auch dabei – und hierin besteht eine direkte Beziehung zur betriebsnahen Tarifpolitik der Tarifab­ weichungen (eine zweite Beziehung besteht darin, dass Tarifabweichungen häufig den Anlass für Besser-Initiativen der Betriebsräte darstellen) – sollen die Beschäftigten als Experten ihrer Arbeit nach Möglichkeit intensiv betei­ ligt werden. Erste Erfahrungen mit der Kampagne legen die Einschätzung nahe, dass die Handlungslogik der Kampagne in NRW einen erheblichen Breiteneffekt erzielt hat, dass die Handlungskompetenzen der Betriebsräte dadurch gestärkt werden können und dass damit die Betriebsräte im Ein­ zelfall tatsächlich erheblichen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Betriebe nehmen können66. So oder so sieht sich aber auch eine mit Blick auf Beschäftigungssicherung oder die Ausweitung der Mitbestimmungsmöglichkeiten erfolgreiche Mitbe­ stimmung der Betriebsräte mit dem grundlegenden Problem konfrontiert, einem Dauerdruck der internen Standortkonkurrenz ausgesetzt zu sein, des­ sen Rahmenbedingungen von der Unternehmensleitung gesetzt werden und von lokalen Interessenvertretungen nicht beeinflusst werden können. Eine wirksame Beteiligung an der Gestaltung der Rahmenbedingungen ist in glo­ balisierten Unternehmen nur im Rahmen einer internationalen Kooperation der Interessenvertretungen möglich. Zwar kann auch ein starker deutscher Gesamtbetriebsrat in einem Unternehmen mit nach wie vor bedeutender deutscher Produktionsbasis Verhandlungserfolge erzielen oder die Informa­ tionsflüsse für ausländische Betriebsräte verbessern. Aber er hat kaum Ein­ fluss auf die Strategien der ausländischen Standorte und der dortigen Interes­ 65 

Lowell Turner: Institutions and Activism: Crisis and Opportunity for a German Labor Movement in Decline, in: Industrial and Labor Relations Review 62/3 (2008), S. 294–312. 66  Antonio Brettschneider / Tabea Bromberg / Thomas Haipeter / Steffen Lehndorff: Konzepte gegen die Krise? Chancen und Ambivalenzen betrieblicher „Besser“-Strate­ gien für Arbeitspolitik und Interessenvertretungen, in: WSI-Mitteilungen 63/9 (2010), S. 451–457.

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senvertretungen. Sollten diese versuchen, mit Kostensenkungsstrategien In­ vestitionen und Produktionskapazitäten an ihre Standorte zu lenken, stünde er dem weitgehend machtlos gegenüber und müsste trotz ­seiner Stärke in ­einen Unterbietungswettlauf einwilligen, der seine Verhandlungserfolge lau­ fend in Frage stellt. Nicht von ungefähr sind deshalb Europäische Betriebsräte (EBR) in der Automobilindustrie so verbreitet wie in kaum einer anderen Branche67. In allen deutschen Automobilunternehmen wurde frühzeitig die Einrichtung europäischer Betriebsratsgremien vereinbart, entweder freiwillig, bevor die Richtlinie 1994 erlassen worden war, oder in der freiwilligen Phase nach Art. 13 der Richtlinie, die im September 1996 auslief. VW war das erste deutsche Unternehmen überhaupt, das einen EBR gegründet hatte, und VW und Daimler sind auch – neben Renault – die einzigen Unternehmen, bei denen es bislang Weltkonzernbetriebsräte gibt. Auch mit Blick auf die An­ zahl der Treffen oder die Ausstattung mit finanziellen und personellen Res­ sourcen gehören die EBR der Automobilindustrie zur Avantgarde ihrer Art. Beruhend auf der Bedeutung der deutschen Produktionsstandorte, aber auch auf der zumeist überlegenen Professionalität der deutschen Betriebsräte ­sowie ihrer Nähe zur Leitungsebene ihrer Unternehmen, prägen in den deutschen Automobilunternehmen die deutschen Automobilbetriebsräte das Klima der europäischen Arbeitsbeziehungen, sorgen für die Informa­ tionsflüsse zu den anderen Interessenvertretungen und organisieren Solida­ rität durchaus auf wirksame Weise68. Die Gefahr, dass Solidarität vorwie­ gend dort mobilisiert wird, wo sie deutschen Standortinteressen nützt69, scheint dabei nicht mehr besonders virulent zu sein; mittlerweile haben in allen „deutschen“ EBR Lernprozesse der Entwicklung enger Kooperationsund Koordinationspraktiken stattgefunden70. Abhängig vom tatsächlichen Regulierungsbedarf, der durch unternehmensinterne Standortkonkurrenz und Restrukturierungsprogramme bestimmt wird, haben dabei die EBR – wie im Fall von GM − ein erstaunlich hohes Aktivitätsniveau entwickelt und die Grenze von Informations- und Beratungsgremien zu Verhandlungs­ gremien überschritten.

67 

Axel Hauser-Ditz / Markus Hertwig / Ludger Pries / Luitpold Rampeltshammer: Transnationale Mitbestimmung? Zur Praxis Europäischer Betriebsräte in der Auto­ mobilindustrie, Frankfurt 2010. 68  Für VW: Michael Helbig: Die Richtlinie über Europäische Betriebsräte in der An­ wendung: Das Beispiel Volkswagen, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 21/2 (1999), S. 244–261. Für BMW: Michael Whittall: The BMW European Works Council: A Case of European Relations Optimism?, in: European Journal of Industrial Relations 6/1 (2000), S. 85–108. 69  Bob Hancké: European Works Councils and Industrial Restructuring in the Euro­ pean Motor Industry, in: European Journal of Industrial Relations 6/1 (2000), S. 35– 39. 70  Axel Hauser-Ditz: „Transnationale Mitbestimmung?“ (Anm. 56).

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Zusammenfassung: Wandel und Kontinuität der industriellen Beziehungen in der deutschen Automobilindustrie Die industriellen Beziehungen in der deutschen Automobilindustrie haben sich im Zeitraum seit den 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts grundle­ gend und auch kontinuierlich gewandelt. In den 1950er und 1960er Jahren haben sich Tarifparteien und Betriebsräte als Akteure konstituiert und all­ mählich stabile Verhandlungs- und Regulierungsmuster ausgebildet, die sich beispielsweise durch starke Interessenverbände von Kapital und Arbeit, die klare Trennung von tariflicher und betrieblicher Regulierungsebene, rituali­ sierte und periodisch wiederkehrende Lohnverhandlungen um quantitative Ziele der Beteiligung am wirtschaftlichen Wachstum, starke Betriebsräte, die neben der Tarifkontrolle und der Mitgliedersicherung übertarifliche Leistun­ gen aushandeln konnten, den fordistischen Lohnkompromiss oder auch durch die Lohnführerschaft der Metallindustrie – und in ihr der Automobil­ industrie – auszeichneten. Diese Muster erscheinen zwar in ihrer Form teil­ weise bis heute stabil, haben sich aber dennoch in ihren Inhalten stark verän­ dert und sind zudem durch neue Muster ergänzt worden, die ihre Funktions­ weise nicht unberührt lassen. So kamen in den 1970er und 1980er Jahren qualitative tarifpolitische Themen auf, und die Beschäftigungssicherung durch Arbeitszeitverkürzung wurde zum zentralen Konfliktgegenstand der Tarifpolitik. Und in den 1990er Jahren schritt die Verbetrieblichung der Ar­ beitszeitregulierung voran, in Beschäftigungsbündnissen wurden übertarifli­ che Leistungen wieder abgebaut und in Tarifabweichungen und Dienstleis­ tungstarifverträgen sogar unterschritten, abgesehen vom Ausbau externer Flexibilität durch den Einsatz von Leiharbeit. Diese Entwicklungen stehen offensichtlich in enger Wechselwirkung zu Veränderungen im Produktionsmodell der Automobilindustrie. Wurde das Erstarken der kollektiven Akteure oder die produktivitätsorientierten Tarif­ abschlüsse in den 1950er und 1960er Jahren durch die Tatsache stark begüns­ tigt, dass die Automobilindustrie die zentrale Branche der wirtschaftlich er­ folgreichen industriellen Massenproduktion in Deutschland war, so steht die Schwächung der Akteure und der Bindekraft der Arbeitsregulierung offen­ sichtlich in enger Beziehung zur globalen Reorganisation der Wertschöp­ fungsketten, die seit den 1990er Jahren in allen Automobilunternehmen fest­ stellbar ist. Die Folgewirkungen dieser Entwicklungen auf die industriellen Beziehun­ gen können dabei sowohl als nicht-intendierte als auch als beabsichtigte Fol­ ge der Reorganisation betrachtet werden. Auf der einen Seite reagieren Un­ ternehmensleitungen, die ihre Produktion ins Ausland verlagern oder die ihre Renditeziele an den Finanzmarkterwartungen ausrichten, zu einem ­guten Teil auf neuartige Bedingungen einer intensivierten Konkurrenz um Kunden und Kapital. Standortkonkurrenz beispielsweise kann dem wechsel­

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seitigen Lernen dienen und Antrieb für beschleunigte Innovation sein; Druck auf Arbeitsstandards muss damit nicht verbunden sein. Auf der anderen Seite aber können die damit verbundenen Veränderungen auch dazu genutzt wer­ den, die Arbeitsstandards zwischen unterschiedlichen Standorten in Konkur­ renz zu setzen und Gewerkschaften zu Konzessionen zu bewegen. Diese beiden Aspekte der Entwicklung sind kaum trennbar, und faktisch spielen sie häufig zusammen. Die Reorganisation der Wertschöpfungskette ist nicht nur, aber immer auch als Versuch der Unternehmen zu werten, sich von einge­ spielten Arbeitsstandards und auch von den Interessenvertretungen der Ar­ beitnehmer zu befreien, ähnlich wie zuvor die Gewerkschaften umgekehrt die Managementstrategien der Massenproduktion zunächst vorbehaltlos ak­ zeptiert hatten, weil sie ihnen eine Stärkung ihrer Verhandlungspositionen versprachen. Vor dem Hintergrund des kontinuierlichen Wandels fällt es schwer, von einem „Modell“ oder „System“ der industriellen Beziehungen in der Branche im Sinne eines kohärenten Zusammenhangs von Merkmalen und eines bruch­ losen Entwicklungspfades zu sprechen. Natürlich ist es aus soziologischer Sicht sinnvoll, bestimmte Merkmale der industriellen Beziehungen zu stili­ sieren, um soziale Muster erkennen und analysieren zu können. Dabei muss man sich aber vor Augen halten, dass die üblicherweise als „deutsches Mo­ dell“ bezeichneten und nicht zuletzt anhand der Metallindustrie herausgear­ beiteten Aspekte wie die Verrechtlichung, die Dualität der Verhandlungsare­ nen Tarifautonomie und Betriebsverfassung oder die Zentralität und die In­ termediarität der kollektiven Akteure als Interessenvermittler zwischen Mitgliedern und Systeminteressen71 letztlich nur einen relativ kurzen Zeit­ raum von Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre als Beschreibung wirk­ lich abdecken. Zuvor waren Zentralität und Intermediarität umkämpft – ­­sowohl zwischen den Interessenverbänden von Kapital und Arbeit als auch zumindest innerhalb der Gewerkschaft zwischen Befürwortern und Gegnern einer betriebsnahen Tarifpolitik und einer beteiligungsorientierteren gewerk­ schaftlichen Betriebspolitik72. Seit den späten 1990er Jahren gilt wiederum ähnliches; die Interessenverbände lösen sich von ihrem intermediären Pro­ gramm, und zudem verschwimmen die Konturen der Dualität mit den Ent­ wicklungen der Verbetrieblichung und der zunehmenden Tarifabweichungen zusehends. Die Analyse der aktuellen Entwicklungen der industriellen Beziehungen wird mithin zu einem guten Teil von der Wahl des Standpunktes aus mitent­ schieden, den man bezüglich der Frage eines Modells und seiner inhaltlichen Bestimmung einnimmt. Denn dieses Modell dient unwillkürlich als Refe­ 71 

Walther Müller-Jentsch: Auf dem Prüfstand: Das deutsche Modell der industriellen Beziehungen, in: Industrielle Beziehungen 2/1 (1995), S. 11–24. 72  Andrei S. Markovits: The Politics of the West German Trade Unions. Strategies of Class and Interest Representation in Growth and Crisis, Cambridge 1986.

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renzpunkt für die Bewertung der Entwicklungen. Grundsätzlich können mit Streeck und Thelen73 und in kritischer Abgrenzung zu Pfadabhängigkeits­ analysen fünf idealtypische Verlaufspfade institutionellen Wandels unter­ schieden werden, die es ermöglichen, jenseits von „Critical Junctures“ auch inkrementellen Wandel in die Betrachtung einzubeziehen: erstens die An­ lagerung („Institutional Layering“) neuer institutioneller Muster an vorhan­ dene Institutionen, womit häufig Anpassungen an neue Bedingungen und Herausforderungen verbunden sind, die der Funktionsweise der bisherigen Institutionen nicht entsprechen; zweitens die Konversion von Institutionen („Institutional Conversion“) durch Ausrichtung vorhandener Institutionen auf neue Ziele; drittens die Ablösung einer Institution („Displacement“) durch andere Institutionen, begünstigt durch Handlungslogiken, die nicht durch die bestehenden Institutionen abgedeckt sind und die möglicherweise ältere Institutionen reaktivieren; viertens das langsame Abdriften von Institu­ tionen („Drift“) im Angesicht veränderter Umweltbedingungen, die in den Funktionsweisen der Institutionen nicht abgebildet werden und deren Wir­ kungen durch Nicht-Entscheiden von institutionellen Anpassungen verstärkt werden; und schließlich fünftens die Erschöpfung einer Institution („Exhaus­ tion“) durch abnehmende Erträge oder Grenzen des Wachstums, die zu ­einem langsamen Zusammenbruch der Institution führen. Wenn man das deutsche Modell der späten 1970er und frühen 1980er Jahre als analytischen Bezugspunkt wählt, liegt es zunächst nahe, die seitdem zu beobachtenden Veränderungen als Drift oder Erschöpfung zu deuten. In die­ ser von Streeck74 ausgeführten Sichtweise folgt der Wandel einer Logik der Liberalisierung, die sich durch die Schwächung der nicht-privaten und nichtmarktförmigen Institutionen der industriellen Beziehungen auszeichnet, die bislang für die Unternehmen Zwangscharakter hatten und in deren Rahmen Normendevianz auch effektiv sanktioniert werden konnte. In dieser Lesart sind Unternehmen wilden Tieren ähnlich, die mühsam domestiziert werden müssen und die bei der ersten Gelegenheit darauf drängen, zurück in die Freiheit des Kapitalismus zu flüchten. Marktferne Institutionen könnten die­ sen Drang zwar eine Weile begrenzen und kanalisieren, aber irgendwann würden sie sich, wie die deutschen industriellen Beziehungen derzeit, er­ schöpfen. Erschöpfung und Liberalisierung bedeuten demnach zwar nicht die völlige Deregulierung der industriellen Beziehungen; Regulierungen be­ stehen fort, beruhen aber nicht mehr auf marktfernen Institutionen mit Zwangscharakter. Allerdings werden sich nur noch Regulierungen erhalten, 73  Wolfgang Streeck / Kathleen Thelen: Introduction: Institutional Change in Ad­ vanced Capitalist Economies, in: Wolfgang Streeck / Kathleen Thelen (Hrsg.): Beyond Continuity. Institutional Change in Advanced Political Economies, Oxford 2005, S. 1–39. 74  Wolfgang Streeck: Re-Forming Capitalism. Institutional Change in the German Political Economy, Oxford 2010.

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die freiwillig von den Marktakteuren – den Unternehmen also – abgeschlos­ sen werden, weil sie ihnen Vorteile der Kooperation versprechen. Zentrales Beispiel dieser marktnahen und voluntaristischen Regulierungen sind für Streeck betriebliche Beschäftigungsbündnisse, in denen die Unternehmen temporäre Zusagen zur Beschäftigungssicherung machen, dafür aber den ­Betriebsräten Konzessionen bei Lohn- oder Arbeitszeitstandards abringen können. Diese Deutung hat ein hohes Maß an Plausibilität auf ihrer Seite. Ohne Zweifel sind sowohl die kollektiven Akteure als auch die kollektivvertrag­ lichen Regulierungen der industriellen Beziehungen in der Automobilindus­ trie und anderswo heute weit weniger umfassend und weit weniger präge­ kräftig, als sie dies noch vor zwanzig Jahren waren. Und betriebliche Beschäf­ tigungsbündnisse, besonders in der Form von Tarifabweichungen, können als neue Regulierungsformen betrachtet werden, die von den Unternehmen durchgesetzt worden sind, weil sie ihnen vorteilhaft erscheinen und von den Interessenvertretungen nicht haben verhindert werden können, obwohl diese für sie unvorteilhaft sind. Dennoch ist diese Deutung problematisch. Ihr Problem besteht darin, dass sie einen aktuellen Prozess als Muster definiert, in die Zukunft verlängert und daraus einen Endzustand ableitet, auf den sich die Entwicklung zubewegen wird. Damit aber werden die Fähigkeiten kol­ lektiver Akteure weitgehend ignoriert, Probleme wahrzunehmen und darauf mit neuen Handlungsentwürfen zu reagieren, die zumindest solange beste­ hen, wie diese Akteure noch in der Lage sind, erkennbaren Einfluss auf die Entwicklung von Institutionen zu nehmen und den Gang der Dinge in einem nicht antizipierbaren Ausmaß zu verändern. Darauf aber finden sich in der Erschöpfungsthese keine überzeugenden Hinweise. Die empirischen Befunde der industriellen Beziehungen in der Automobilindustrie bieten ein anderes Bild. Zu stark ist die Gewerkschaft noch als Bewahrerin des Flächentarifvertrags auch in der kontrollierten De­ zentralisierung, und zu einflussreich sind die Betriebsräte noch als Akteure der Beschäftigungssicherung auch in der Standortkonkurrenz. Zwar sind die Interessenvertretungen der Beschäftigten geschwächt, sie sind aber noch weit davon entfernt, handlungsunfähig zu sein. Die Erschöpfung als möglicher zukünftiger Zustand des Systems der industriellen Beziehungen ist deshalb nur als Ergebnis eines langsamen Verfalls der Gegenmacht und zahlreicher Abwehrkämpfe der Interessenvertretungen zu denken. Vor allem aber ist nicht auszuschließen, dass die Akteure des Systems strategische Perspektiven entwickeln, die ihre Handlungsmacht wieder erhöhen und zu einer Erneue­ rung der industriellen Beziehungen führen könnten. Die Gewerkschaft bei­ spielsweise hat eine „strategische Wahl“75, an deren Ende durchaus auch eine – zumindest partielle – Stärkung der gewerkschaftlichen Organisationsmacht 75  Ulrich Brinkmann u. a.: Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung? Um­ risse eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2008.

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stehen könnte, die wiederum zu einer Festigung von Arbeitsstandards führen kann. In der Automobilindustrie bietet dazu erstaunlicherweise vor allem die Dezentralisierung der Aushandlungen im Rahmen der Tarifabweichung Ansatz­punkte. Insbesondere die dabei von der Gewerkschaft entwickelten neuen Strategien einer betriebsnahen Tarifpolitik und beteiligungsorientierter Verfahren scheinen ihre Attraktivität für Mitglieder zu erhöhen und ihre Konfliktfähigkeit gegenüber den Arbeitgebern zu steigern. Darüber hinaus können die Betriebsräte die EBR als europäische Verhandlungsgremien für die Stärkung ihrer nationalen Mitbestimmung nutzen. Allerdings hat eine dergestalt betriebene Rückgewinnung der Handlungs­ macht betrieblicher und gewerkschaftlicher Interessenvertretungen Folge­ wirkungen für die Muster der industriellen Beziehungen. Dies gilt zum einen für die Muster der Sozialintegration in der Branche. War in der Vergangen­ heit die Automobilindustrie eine Vorzeigebranche für das Modell der „Konfliktpartnerschaft“76, das sich durch die wechselseitige Inkorporierung der Interessen der Verhandlungsparteien auszeichnete, so können Tarifab­ weichungen als einseitige Aufkündigung der Konfliktpartnerschaft durch die Unternehmen gewertet werden. Sofern die Gewerkschaft darauf mit dem Versuch reagiert, die eigene Organisationsmacht und Konfliktfähigkeit in den Betrieben wieder zu stärken, kann sich daraus ein Anstieg der Konflik­ tintensität ergeben, der dem System der industriellen Beziehungen in der Au­ tomobilindustrie einen neuen Charakter verleiht. Zum anderen beziehen sich die Folgewirkungen aber auch auf die Vertretungsstrukturen und -strategien der kollektiven Akteure. Mit der Dezentralisierung der Tarifverträge und der Gründung von OT-Verbänden haben die Arbeitgeberverbände sich zu einem guten Teil von ihrem intermediären und zentralisierten Handlungsprogramm verabschiedet. Und auf Seiten der Gewerkschaft weisen betriebsnahe Tarif­ politik und demokratische (im Falle der Tarifabweichungen) sowie fachliche (im Falle von „Besser statt billiger“) Beteiligung der Beschäftigten in eine ähnliche Richtung sinkender Intermediarität und wachsender Ausrichtung an Mitgliederinteressen77. Gemessen am Modell der industriellen Beziehungen aus den 1980er Jahren ist diese Entwicklung zunächst als Verlust von Repräsentations-, Handlungsund Bindefähigkeit zu werten. Die Interessenverbände sind demnach immer weniger in der Lage, Interessen von oben zu definieren, zu vermitteln und verpflichtungsfähig zu machen, und die Kollektivnormen verlieren angesichts der Verbetrieblichung an Bindekraft. Verlässt man jedoch diesen Standpunkt 76  Walther Müller-Jentsch (Hrsg.): Konfliktpartnerschaft. Akteure und Institutionen der industriellen Beziehungen, München 1999 (3. Aufl.). 77  Thomas Haipeter: Einleitung: Interessenvertretungen, Krise und Modernisierung – über alte und neue Leitbilder, in: Thomas Haipeter / Klaus Dörre (Hrsg.): Gewerk­ schaftliche Modernisierung, Wiesbaden 2011, S. 7–30; Klaus Dörre: Intermediarität und gewerkschaftliche Identität, in: Industrielle Beziehungen 12/2 (2005), S. 207–212.

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und besinnt sich auf den kontinuierlichen Wandel in den industriellen Bezie­ hungen, verändert sich das Bild. Denn dann treten die neuen Entwicklungen stärker als Veränderungen mit offenem Ausgang in den Blick. Verantwortlich dafür wären sowohl Entwicklungsstränge wie die betriebsnahe Tarifpolitik, die im historischen Prozess zunächst verlorengegangen waren, dann aber ­unter neuen Vorzeichen wiederentdeckt wurden, als auch neue Handlungs­ entwürfe wie die Stärkung der Betriebsräte in betrieblichen Auseinander­ setzungen um die Unternehmensstrategie. Dass aus diesen inkrementellen Entwicklungen eines Tages die Konturen eines neuen Modells der industriel­ len Beziehungen erwachsen, ist zwar keinesfalls sicher, es ist aber eben auch nicht auszuschließen. Möglicherweise sind auch neue Inkohärenzen Teil die­ ses Modells, zu denen sowohl die aufgezeigten Fragmentierungen entlang der Wertschöpfungskette gehören könnten als auch, mit Blick auf die deutschen industriellen Beziehungen als Ganzes, eine wachsende Segmentierung der in­ dustriellen Beziehungen78 in stärker, schwächer oder gar nicht mehr kollektiv regulierte Bereiche. In diesem Szenario würde die Automobilindustrie nach wie vor zu den stark regulierten Bereichen gehören, aber ihre Bedeutung als Leit- und Vorreiterbranche für die Entwicklung von Beziehungsmustern und Arbeitsnormen weitgehend verlieren.

78 

Gerhard Bosch / Thomas Haipeter / Erich Latniak / Steffen Lehndorff: Demonta­ ge oder Revitalisierung? Das deutsche Beschäftigungsmodell im Umbruch, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 59/3 (2007), S. 318–339; Kathleen Thelen: Institutional Change in Advanced Political Economies, in: British Journal of Industrial Relations 47/3 (2009), S. 471–498.

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Automobile Symbole im Umbruch Automobilkritik und Symbolproduktion am Ende des Booms 1965–1975 Mit dem Aufstieg des Automobils zum Massenverkehrsmittel in den 1950er und 1960er Jahren wurde auch die symbolische Bedeutung des Automobils populär, den technischen und gesellschaftlichen Fortschritt zu repräsentieren. Doch gegen Ende der Boom-Phase geriet das Automobil in deutliche Kritik. Staus, Verkehrstote, spürbare gesundheitliche Folgen verdeutlichten immer stärker die negativen Auswirkungen und Fehlentwicklungen der Motorisierung. Innerhalb kürzester Zeit avancierte das Automobil zum Hauptfokuspunkt der Fortschrittskritik einer sich gegen Ende der 1960er entwickelnden ersten Umweltbewegung. Das Paradesymbol der Modernität entwickelte sich zum Antisymbol der Modernitätskritiker. Unter dieser massiven Kritik verblasste der symbolische Mehrwert des Automobils zunehmend, der in den Jahren der Massenmotorisierung maßgeblich für die Verbreitung des Massenkonsumguts beigetragen hatte. Dieses sich verstärkende „disenchantment“1 der automobilen Symboliken, wie Flink den Prozess der Symbolabnutzung beschrieb, die Absatzkrisen der Industrie 1966/67 und im Zuge der ‚Ölkrise‘ von 1973/74, aber auch betriebswirtschaftliche Problemstellungen drängten die Automobilproduzenten, ihr Engagement in der Marktforschung zu verstärken und vermehrt zu konzeptionalisieren. Die Auto-Konzerne gingen nach und nach dazu über, das Marketing in ihren Unternehmen zu implementieren,2 um die Bereiche Marktforschung und Werbung sowie Entwicklung und Produktion stärker auf die neuen Bedürfnisse des Marktes anzupassen. Im Folgenden wird am Beispiel der bundesdeutschen Automobilproduzenten BMW und Mercedes-Benz dargestellt, dass dieses unternehmerische Handeln – die Ausweitung der Marktforschung mit der Analyse unterschiedlicher Image-Ebenen im Zusammenspiel mit der in den Firmen unterschiedlich stark ausgeprägten Umsetzung des Marketing-Ansatzes – ebenfalls als Gegenmaßnahme auf die nachlassende Wirkung der symbolischen Bedeutungen des Automobilismus zu deuten ist. Eine gezielte Produktion bzw. Unterstützung von Symboliken durch Marketing-Mechanismen sollte die Motiva1 

James J. Flink: The Car Culture, Cambridge und London 1975, S. 191. Ingo Köhler: Marketing als Strukturmodell. Der organisatorische Wandel in der deutschen Automobilindustrie der 1960er bis 1980er Jahre, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 53 (2008), S. 216–239.

2 

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tionen der Massenmotorisierungszeiten in die Phase des gesättigten Marktes übertragen.

Automobile Symbole in der öffentlichen Kritik Die Boom-Phase der 1960er kann als „Goldene Zeit“3 des Automobilismus bezeichnet werden, wie dies der alteingesessene Motorjournalist und Zeitgenosse Fritz Busch selbst in einem Artikel nach der Jahrtausendwende resümierte. Nicht nur, dass die Politik die Weichen für eine automobile Republik mit Straßenbauprogrammen, Autobahnen und Kilometerpauschalen4 für eine massenhafte Verbreitung des Autos vorbereitete, auch die öffentliche Meinung stand ganz im Zeichen des Automobilismus: Zum 75-jährigen Jubiläum im Jahre 1961 formulierte es die größte unabhängige Automobilzeitschrift ‚auto motor und sport‘ pathetisch: „Seit kaum mehr als einem halben Jahrhundert kann sich der Mensch durch das Automobil zum Herrn von Privilegien machen, die während unzähliger Jahrtausende ein Vorrecht der Götter waren.“5 So wird das Automobil als die Realisierung und Popularisierung des Phaetons, dem Gefährt der Götter,6 nicht zur zum Objekt einer Konsumdemokratisierung, sondern auch der Säkularisierung erhoben, mit dem die Verbreitung der individuellen Mobilität großer Bevölkerungsschichten hergestellt wurde. Selten erfuhr das Automobil eine ähnlich hohe Aufladung und Stilisierung. Doch liegt das Zitat von Simsa im Trend der frühen 1960er Jahre. Auch im links-kritischen Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘ finden sich die Spuren der gesellschaftlichen Überhöhungen der Epoche, so wird „die Formgestaltung des Automobils“ zur „neue[n] Kunst des Maschinenzeitalters“7 erhoben oder über den „Autobahn-Mythos der Deutschen […] [, der] sich mangels beständiger Nationalheiligtümer ins deutsche Selbstbewusstsein einbetoniert hat“8, berichtet. 3  4 

Fritz B. Busch: Wie es damals wirklich war, in: Motor Klassik 2004/2, S. 40. Zur Unterstützung der privaten PKW-Nutzung erhöhte die Bundesregierung 1954 die Kilometer-Pauschale auf 25 Pfennig pro gefahrenen Kilometer. Da die steuerliche Anrechenbarkeit sehr günstig im Vergleich zu den realen Unterhaltungskosten war, wurde hiermit ein steuerlicher Anreiz zur Motorisierung gesetzt. Siehe hierzu: Dietmar Klenke: Bundesdeutsche Verkehrspolitik und Motorisierung. Konfliktträchtige Weichenstellungen in den Jahren des Wiederaufstiegs, Stuttgart 1993, S. 133. 5  Paul Simsa: Nur 75 Jahre? Das Automobil – Junge Lösung eines alten Problems, in: auto motor und sport 1961/7, S. 33. 6  Die mythische Aufladung des Automobils durch die Konstruktion einer Verbindungslinie Götterwagen-Mythos der Griechen zieht sich vom Beginn der Automotorisierung bis zum Bau des Volkswagens Phaeton im Jahre 2002. Siehe hierzu: Dirk Schlinkert: Konjunkturen eines Mythos. Der Weg des Phaëthon in das kulturelle Gedächtnis der Antike und Moderne, in: Lutz Raphael / Ute Schneider (Hrsg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt am Main 2008, S. 109–128. 7  „An der Blechfront“, in: Der Spiegel 1963/32, S. 50. 8  „Tempo 20“, in: Der Spiegel 1963/34, S. 24–34.

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Doch so ungetrübt wie diese Zeilen das automobile Verhältnis zwischen Fahrer und Gefährt erscheinen lassen, so lassen sich durchaus auch in diesen frühen Jahren der Massenmotorisierung bereits kritische Töne finden. So konstatiert der Redakteur der ‚auto motor und sport‘, Alexander Wurm, bereits 1961: Was Autos betrifft, ist man freilich auch dort schon vom Fortschrittspathos abgekommen – sie sind wie überall Objekte der Straßenverkehrsordnung. In den Diskussionen um Verkehrstote, Unfallursachen, Verkehrsstrafen, Geschwindigkeitsbegrenzungen erhalten wir […] die geschichtliche Kehrseite der von Daimler und Benz auf der einen Seite geprägten Medaille9.

Zu Beginn der 1960er Jahre war die Mehrzahl der Meinungen in den öffentlichen Debatten jedoch weit davon entfernt, die Automobilisierung der Bevölkerung in Frage zu stellen: Größere Bauprogramme für Autobahnen, der autogerechte Ausbau der Innenstädte, eine behutsame Regulierung des Verkehrs, die Stärkung der individuellen Verantwortung des Fahrers sowie die technische Weiterentwicklung der Automobile mit aktiver und passiver Sicherheit sollten die immer deutlicher zu Tage tretenden negativen Auswirkungen abdämpfen.10 Gegen Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre dynamisierte sich jedoch die bereits vorhandene Kritik an der automobilen Gesellschaft. Nur 20 Jahre nach dem euphorischen Artikel Simsas zum 75-jährigen Jubiläum des Automobils konstatiert die ‚auto motor und sport‘ in der ersten Ausgabe des Jahres 1971 den Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung des Automobils deutlich: Nicht nur die Gesetze werden schärfer, auch die ideologische Schelte gegen das Auto nimmt zu. Motorisierung wurde vom Zauber- zum Schimpfwort, zumindest in solchen Ländern, wo sich niemand mehr über zusätzliche Verkehrsdichte freuen kann, oder wo das Auto zur heiligen Kuh geworden ist […]. Die Schelte kann man hinnehmen – einige hunderttausend Autos weniger könnten das Dasein auf den Straßen nur angenehmer machen. Nur ist das schwer zu erreichen. Denn das Auto ist zwar etwas Schlechtes, aber es gibt nichts Besseres.11

Die ‚auto motor und sport‘ deutet an, dass eine ideologische Auseinander­ setzung über die Vor- und Nachteile der automotorisierten Gesellschaft entbrannte.12 Die Schlagzeilen des ‚Spiegels‘ aus dem gleichen Zeitraum verdeutlichen, dass das Problemempfinden in den öffentlichen Debatten über 9 

Alexander Wurm: Ehrwürdiger Schrott. Reflexionen zur Automobil-‚Geschichte‘, in: auto motor und sport 1961/7, S. 22. 10  Siehe hierzu: Dietmar Klenke: „Freier Stau für freie Bürger“. Die Geschichte der bundesdeutschen Verkehrspolitik 1949–1994, Darmstadt 1995, S. 63–76 und Kurt Möser: Geschichte des Automobils, Frankfurt am Main 2002. 11  Kommentar, in: auto motor und sport 1971/1, S. 9. 12  Siehe zum Klimawandel in der Automobilbranche: Stephanie Tilly: „Die guten Zeiten … sind vorbei.“ Zum Verhältnis von Automobilindustrie, Politik und Automobilverband in den 1970er Jahren, in: Morten Reitmayer und Rutz Rosenberger (Hrsg.): Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 209–232.

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die Auswirkung des hohen Motorisierungsgrades in der Bundesrepublik immer stärker wurde und zeigen die Thematiken der Automobilkritik schematisch auf: 1970 berichtete das Hamburger Nachrichtenmagazin im Artikel „Glatt überrollt“13 mit harschen Worten über die Verkehrs- und Unfallproblematik in der Bundesrepublik, ein paar Monate später griff man den Club of RomeBericht mit dem Titelthema „Morgen kam gestern“14 auf und verband die Analyse zur Endlichkeit der Ressourcen mit den ökologischen und gesundheitlichen Folgen der Industrialisierung sowie der Motorisierung zu einem düsteren Zukunftsszenario. Mit Artikeln über „Das Gemetzel, das wir Verkehr nennen“15 (1971), „Überall Geschubse und gereiztes Klima“16 (1973) und „Einer klebt hinterm andern“17 (1974) griff das Hamburger Magazin die weiterhin stark diskutierte Stau- und Verkehrstotenproblematik prominent auf. Die Erfahrung des Öl-Preisschocks von 1973/74 verschärfte zunächst den Ton. So sah der Spiegel das „Ende der Überflussgesellschaft“18 kommen, da „Mit knappen Vorräten sorglos geaast“19 worden war und verallgemeinerte so die schlechten Zukunftsaussichten der Automobilbranche auf einen ganzen Gesellschaftsentwurf. Das Automobil gerierte somit zum Antisymbol für die Modernitätskritiker; zu einem Fokuspunkt für eine umfassende, auch gesellschaftspolitische Kritik. So stellte Reinhard Seiffert in der ‚auto motor und sport‘ 1972 fest, dass „das Auto […] im Vordergrund [steht], an ihm reagiert die Gesellschaft ihr schlechtes Gewissen ab, das im Grunde nicht nur wegen der Autos, sondern noch mehr wegen vieler anderer Dinge schlecht sein muß.“20 Bei einer ‚Bunte‘-Befragung gaben 1971 die Befragten das Automobil vor der Industrie als größten störenden Faktor an und forderten direkt nach einer verstärkten Aufklärungsarbeit die Befreiung der Innenstädte von den Automobilen als politische Maßnahme. Erst an dritter Stelle firmierte die Bestrafung von Umweltverschmutzern.21 War das Auto noch zu Beginn der 1960er Jahren der „Pulsschlag des Fortschritts“22 gewesen, entwickelte sich das Automobil innerhalb kürzester Zeit zum Hauptfokuspunkt der Fortschrittskritik einer sich gegen Ende der 13 

„Glatt überrollt“, in: Der Spiegel 1970/27, S. 46–58. „Morgen kam gestern“, in: Der Spiegel 1970/41, S. 74–96. 15  „Das Gemetzel, das wir Verkehr nennen“, in: Der Spiegel 1971/27, S. 32–48. 16  „Überall Geschubse und gereiztes Klima“, in: Der Spiegel 1973/19, S. 54–81. 17  „Einer klebt hinterm andern“, in: Der Spiegel 1974/4, S. 28–43. 18  „Folge der Ölkrise: Ende der Überflussgesellschaft“, in: Der Spiegel 1973/47, Titelblatt. 19  „Mit knappen Vorräten sorglos geaast“, in: Der Spiegel 1973/47, S. 25–29. 20  Reinhard Seiffert: Verzerrte Projektion. Reagiert unsere Gesellschaft ihr schlechtes Umweltgewissen an den Autos ab?, in: auto motor und sport 1972/6, S. 34. 21  Walter Thorbrügge: Wer nicht zahlen will, muß sterben, in: Bunte 1971/13, S. 27. 22  Alexander Wurm: Ehrwürdiger Schrott. Reflexionen zur Automobil-‚Geschichte‘, in: auto motor und sport 1961/7, S. 22. 14 

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1960er entwickelnden ersten Umweltbewegung.23 So erfuhr die Kritik an den konkreten Folgen der automotorisierten Gesellschaft eine Generalisierung und avancierte zum stellvertretenden Symbol der negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen, welche die industrialisierte und konsumorientierte Massengesellschaft mit sich brachte.

Den Markt im Blick: Daimler-Benz Besonders brisant musste eine solch bedrohliche Trendwende in der Wahrnehmung des Automobils den Herstellern erscheinen. So beklagte VW-Chef Leiding 1973 im ‚Spiegel‘ eine „zur Mode gewordene Verteufelung und Verketzerung des Automobils“24. Doch schon zuvor, hatten die Unternehmen dank ihrer in den vorausgehenden Jahren implementierten Marktforschungsinstrumente einen recht genauen Eindruck erhalten, dass der Markt stark in Bewegung geraten war. So standen die Analyse der Mentalitätsveränderungen und deren Konsequenzen auf die Firmenpolitiken im Fokus der Marktforscher. Bereits 1960 führte man bei Daimler-Benz erste psychologische Marktuntersuchungen durch. Seit 1962 sprach man intern von einer „kontinuierlichen qualitativen Beobachtung der Öffentlichkeit“25. Jedoch fokussierten die Darstellungen eher entweder auf die Prognose von Absatzzahlen, Beobachtung der Marktkonkurrenz, Sozialanalysen der Kundschaft oder an kleinteiligorientierten Befragungen geringeren Umfangs hinsichtlich der Rezeption einzelner Produkte und ihrer Marktverortung. Seit 1969 war man bei Daimler-Benz dazu übergegangen, umfassende Image-Studien zum Marken-, Produkt- und Fahrerimage erstellen zu lassen. Diese wurden als Ergänzung zu den bisherigen Studien etabliert. Die Image-Studien wurden im Zwei- bis Dreijahres-Rhythmus fortgeführt und konnten somit vergleichend Entwicklungen fortzeichnen.26 Durch die von externen Instituten wie Contest, Infratest oder dem Institut für Marktpsychologie durchgeführten Umfragen sollten insbesondere die Kaufargumente der potentiellen Mercedes-Benz-Kunden stärker offen gelegt werden, aber auch allgemeine Tendenzen des Marktes verstanden werden. Begleitet wurden diese Bemühungen durch die Gründung eines hochrangigen „AK Image“, der am 13. Mai 1970 zum ersten Mal tagte. Dieser setzte 23 

Siehe hierzu: Uekötter, Frank: Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2011, S. 80ff. 24  „Überall Geschubse und gereiztes Klima“, in: Der Spiegel 1973/19, S. 55. 25  DB-Archiv, Ordner Werbung Image DBAG 1968–1970, Heinz Schmidt : Das „Stern-Image“ in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1968, S. 2. 26  DB-Archiv, Ordner Werbung Image DBAG 1968–1970, Marktforschungsbericht 27/70: Repräsentativ-Untersuchung über das Mercedes-Benz-Image auf dem PKWSektor im Inland, S. 2.

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sich aus den Vorständen Verkauf Inland, Export, Öffentlichkeitsarbeit und Wirtschaftspolitik zusammen.27 Mit dieser Koordinationsebene sollten die Erkenntnisse aus der Marktforschung stärker in die Arbeitsabläufe des Vorstands integriert werden und eine koordinierte Umsetzung vorbereitet werden. So resümierte der Arbeitskreis in seinem ersten Protokoll: Zwischen diesen Bereichen [Modellpolitik, Gestaltung des Angebots, Verkaufsmethoden, Kundendienst, Reden und Interviews, Presseveröffentlichungen, Pressearbeit, PR-Aktionen, Verkaufsförderungsmaßnahmen, Werbung, Ausstellungen, Haus- und Kundenzeitschriften, Anmerkung MN] muß eine Koordination in Bezug auf die Imagebildung (oder Image-Umbildung) stattfinden. Ohne stur über eine[n] Kamm zu scheren, muß eine bestimmte Form der Übereinstimmung erreicht werden, die ohne Lenkung kaum zu erreichen sein wird.28

Wie das Zitat und der appellative Charakter andeutet, war die Unternehmenslenkung auf Grundlage der Marktforschung zu diesem Zeitpunkt nicht unumstritten. Ingo Köhler hat in seinem Aufsatz zum „Marketingmanagement als Strukturmodell“ auf die Komplexität und die Schwierigkeiten in der deutschen Automobilindustrie und insbesondere den Branchenführenden Mercedes-Benz und Volkswagen hingewiesen, das Marketing in entscheidender organisatorischer Position im Vorstand zu verankern und mit entsprechenden Kompetenzen auszustatten. Erst mit der Reorganisation der Vorstandsbe­ reiche 1973 bei Daimler-Benz konnte der Funktionsbereich Marktforschung innerhalb des neugebildeten Ressorts „Unternehmensplanung und Organisation“ unter Edzart Reuter vorsichtig aufgewertet werden. Eine gleichberechtigte Integration in die Unternehmensstruktur erfolgte erst ab 1984.29 Wie die Gründung des AK Image 1970 zeigt, waren die Stuttgarter früher als bisher in der Forschung30 angenommen, dazu übergegangen, Käufermo­ tivationen und -einstellungen durch marktpsychologische Untersuchungen

27  DB-Archiv, Ordner Werbung DBAG Image/Marktforschungsberichte, Schreiben vom 20. Juli 1970 zu „Die Imageproblematik von Daimler-Benz auf der PKW-Seite im Inland“, S. 1. 28  DB Archiv, Ordner Werbung Image DBAG 1968–1970, Protokoll vom 13. Mai 1970, S. 4. 29  Ingo Köhler: Marketing als Strukturmodell. Der organisatorische Wandel in der deutschen Automobilindustrie der 1960er bis 1980er Jahre, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 53 (2008), S. 216–239. 30  Köhler nimmt die Gründung eines Arbeitskreises zur Bewältigung der Folgen des Ölpreis-Schocks im Herbst 1973 als Ausgangspunkt organisatorischer Bestrebungen, dem Marketing stärkeren Einfluss in der Unternehmensführung einzuräumen. Jedoch lassen sich diese Ambitionen bereits mit dem 1970 gegründeten AK Image nachwiesen. Unterstützt muss die These Köhler werden, dass insbesondere Krisenstäbe für die Implementierung der neuen Managementphilosophie eine entscheidende Funktion inne hatten. Vgl. Ingo Köhler: Marketing als Strukturmodell. Der organisatorische Wandel in der deutschen Automobilindustrie der 1960er bis 1980er Jahre, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 53 (2008), S. 226–227.

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analysieren zu lassen. Aufgrund der Quellenlage muss offen bleiben,31 welche Wirkung die Aktivitäten und Erkenntnisse der Vorstandsvertreter von Verkauf Inland, Export, Öffentlichkeitsarbeit und Wirtschaftspolitik innerhalb des Arbeitskreises zum damaligen Zeitpunkt entfalteten. Wie noch gezeigt wird, mangelte es nicht an Vorschlägen, die nicht nur die Werbung, sondern auch die Produktgestaltung umfassten. Ausgangspunkt dieser Institutionalisierung war vermutlich eine Zusammenstellung aus dem Jahre 1968, die von der Leitung der Abteilung „Marktforschung und Absatzplanung“ – in Person Heinz Schmidt – angefertigt worden war. Das Dokument wies auf die negativen Aspekte des Markenund insbesondere des Fahrerimages von Mercedes-Benz hin. Schmidt begründete den Bericht „mit dem Ziel, die Bedeutung qualitativer Markterkenntnisse für die moderne Unternehmensführung darzustellen [und] daß dabei vielleicht die eine oder andere überholte Vorstellung korrigiert werden kann“32, dies sei ein „sicher […] wünschenswerter Nebeneffekt“33. Das Begleitschreiben des Unternehmensmanagers deutet auch die Stoßrichtung an. So schlägt Schmidt nicht nur vor, die Presse über die Forschungsergebnisse zu informieren, sondern insbesondere auch den Vorstand über die Thematik „bei einer günstigen Gelegenheit“34 in Kenntnis zu setzen. Beunruhigt durch das Resultat der Untersuchungen, jedoch aber sicherlich auch aus eigenem organisatorischen Interesse heraus, die Machtposition innerhalb des Unternehmens zu verbessern, drängte Schmidt auf eine stärkere Wahrnehmung der Vorstandsebene. Hier hatte er mit einiger Resistenz zu rechnen: Das Selbstverständnis des Unternehmens mit „Traditionsbewusstsein“ und einer Fixierung auf eine „eigene Philosophie“, lediglich dem „technischen Fortschritt und damit dem Wohl der Menschheit verpflichtet“35 zu sein, wie dies die ‚auto motor und sport‘ 1973 kritisch bemerkte, machte eine Umorientierung von der Ingenieursperspektive auf den Konsumenten problematisch. Doch die gesellschaftlichen Veränderungen und auch die für MercedesBenz negative Entwicklung der Produktwahrnehmungen und -präferenzen wurden als derart eklatant wahrgenommen, dass ein Ignorieren unmöglich schien. Schmidt wies in seiner Zusammenstellung von 1968 darauf hin, dass „in der Zeit eines Käufermarktes […] ohne Zweifel jedes Unternehmen auf völlig-verlorenem Posten [steht], das nicht die Aussichten und Wünsche

31  Das Unternehmensarchiv von Daimler besitze eine 40-jährige Sperrfrist für Vorstandsakten. 32  DB-Archiv, Ordner Werbung Image DBAG 1968–1970, Heinz Schmidt: Das „Stern-Image“ in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1968, S. 1. 33  Ebd. 34  DB-Archiv, Ordner Werbung Image DBAG 1968–1970, Schreiben von Heinz Schmidt vom 31. Oktober 1968, S. 1. 35  Günter Ogger: Die Marketing Konzeptionen der deutschen Autoindustrie, in: auto motor und sport 1973/11, S. 68.

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­seiner potentiellen Kunden kennt und berücksichtigt.“36 Die zunehmende Konkurrenz durch europäische, amerikanische und japanische Automobilhersteller sowie die sich ankündigende Marktsättigung verursachten einen deutlichen Druck auf die Hersteller. Umso wichtiger erschien es, die Wahrnehmungen und Bedürfnisse der Kundschaft ernst zu nehmen. Die aufgelegten Studien zeigten ein ambivalentes Bild. So attestierte der Kunde Daimler-Benz ein „sehr profiliert[es]“ Firmenimage mit „überwiegend positive[n] Merkmalen“ wie „Firma mit Weltgeltung, sehr bekannt / gut fundiertes deutsches Unternehmen / solide, traditionsreich, konservativ (im guten Sinn) / Liefert Qualitätsprodukte“37, jedoch dokumentierten die Marktforschungen aber auch negative Seiten des Images, die nach Meinung von Schmidt „auch von unhaltbaren Vorurteilen“ geprägt wurden. Beispiele für diese Wahrnehmung waren „Wenig dynamisch, konservativ (im negativen Sinn) / Arroganz („auf hohem Ross“) / Nicht kulant, unpersönlich“38. Doch besonders belastend, insbesondere als kaufhemmend angesehen, wurde das Fahrerimage durch die DB-Marktforschung bewertet: „Der ‚typische Mercedes-Fahrer‘ wird bisher in der Öffentlichkeit häufig negativ gesehen. Er gilt als rücksichtslos, autoritär, arrogant. Angeblich ist er ein älterer und ‚unsport­ licher‘ Herr.“39 Als Ursache für dieses negative Fahrerimage wurde besonders die „SaureTrauben-Reaktion“40 angeführt: ein Begriff aus der Psychologie zum Umgang mit Frustration. Er besagt, dass ein verfehltes Ziel, im Nachhinein schlecht geredet wird, um das eigene Streben nach diesem zu relativieren. Schmidt folgerte daraus, dass insbesondere „nicht ganz statussichere, labile Fahrer“41 von diesem Image abgeschreckt werden, einen Mercedes anzuschaffen. Aus diesem Grund wendete er sich auch verstärkt Lösungsmechanismen aus Unternehmenssicht zu. Die Einführung der neuen Modelle 200 bis 250, so folgerte der Stuttgarter Marktforscher, führten dazu, eine jüngere Klientel anzusprechen, da diese Typen „etwas von der alten ‚Exklusivität verloren haben, daß sie ‚schlichter‘, ‚einfacher‘ geworden und dennoch in ­Bezug auf die Technik Daimler-Benz-perfekt und sicher geblieben sind“.42 Die Aufgliederung des Typenprogramms wies somit Schmidt als Hauptempfehlung zur Durchbrechung des Image-Problems aus, da die neuen Typen es erlauben, ohne eine vollständige Identifizierung mit dem alten Fahrer-Image, einen Mercedes-Benz zu fahren.

36 

DB-Archiv, Ordner Werbung Image DBAG 1968–1970, Heinz Schmidt: Das „Stern-Image“ in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1968, S. 2. 37  Ebd. 38  Ebd., S. 3. 39  Ebd., S. 5. 40  Ebd., S. 6. 41  Ebd. 42  Ebd., S. 11.

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Die Image-Studie von 1969, die insbesondere für den neuen AK Image als Arbeitsgrundlage diente, wies darüber hinaus auf ein weiteres Problem hin, welches nicht nur den Absatzzahlen, aber auch dem Image des DaimlerBenz-Konzerns Probleme bereitete: BMW gelang es ab Mitte der 1960er Jahre mit gezielter, einheitlich ausgerichteter Marktpolitik den Marktführer Daimler-Benz in die Defensive [zu drängen] und eine für BMW günstige Polarisierung der beiden Marken zu erreichen. Besonders bedenklich ist, daß in dieser Auseinandersetzung die Jugend heute eher auf der Seite der ‚jugendlichen, sportlichen‘ Marke BMW steht.43

Die auf Grundlage einer Umfrage vom Frankfurter Contest-Institut angefertigte Studie öffnete somit den begrenzten Unternehmensblick, den Schmidt in seiner Zusammenstellung noch hatte, auf eine gesamtgesellschaftliche Problematik. Jugendlichkeit und Sportlichkeit waren bedeutsame Kaufargumente geworden, die in der Form bei Mercedes-Benz nicht vorgefunden wurden. Außerdem attestierte Contest „antiautoritäre Tendenzen der Gegenwart“44, die sich in die Zukunft fortsetzen würden. Die „bekannten Angriffe auf Autorität und Establishment“45 – ein unverkennbarer Bezug auf die Studentenbewegung – wirkten für die Marktforscher in einer ähnlichen Art und Weise wie die „Sportlichkeit“. Beide Tendenzen liefen konträr zum konservativen und von Repräsentation geprägten Firmen-Image des Stuttgarter Konzerns. Die Studie empfahl daher auch „kurzfristig […] planvolle[…] Reaktionen“46 und schlug neben einer deutlichen Akzentuierung der positiven Aspekte in Werbung und Verkaufsargumentation vor, auch in Konstruktion und Produktion einzugreifen. Dies war ein klarer Versuch, die Unternehmenssteuerung im Sinne des Marketings umzusetzen. So wurde gefordert, die Vierzylinder, die in den kleinen Typen 200 bis 250 verwendet werden, mit einem leistungsfähigeren Motor auszustatten. Damit sollte die sportliche Wirkung dieser günstigeren Einstiegsvarianten erhöht werden und der Jugendlichkeits- und Sportlichkeitswelle entgegengekommen werden. Eine neue Qualität in der Betrachtung der symbolischen Bedeutungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft erreichten die Marktforschungsberichte vom 5. Februar 1974 und 14. Februar 1975, die zwar weitestgehend auf Untersuchungen vor dem Öl-Schock basieren (1971, 1972 und Sommer 1973), jedoch aufgrund der Bearbeitungszeit bereits – so beim Marktforschungsbericht aus dem Jahr 1975 – auch auf eine Nachuntersuchung im Herbst 1974 zurückgriffen. Beiden Studien gemeinsam war, dass sie die aktuell öffentlich diskutierten und zu Beginn des Beitrags erwähnten Debat-

43  DB-Archiv, Ordner Werbung Image DBAG 1968–1970, Marktforschungsbericht 27/70: Repräsentativ-Untersuchung über das Mercedes-Benz-Image auf dem PKWSektor im Inland, S. 1. 44  Ebd. 45  Ebd., S. 11. 46  Ebd.

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tenthemen aufnahmen und versuchten, diese hinsichtlich der Entwicklung der drei Image-Ebenen (Marke, Produkt, Fahrer) einzubeziehen, aber auch den Bezug zum Automobilismus – als Wertkomplex Automobil gelöst von Marken und Typen – zu setzen. Als so genannte Zukunftsprobleme oder Problemkreise wurden die Verkehrssicherheit, Umweltgefährdung (Schadstoffausstoß), die Verteuerung der Automobilhaltung und das Zusammenspiel von Individualverkehr mit ÖPNV aufgeführt. Darüber hinaus wurden lediglich in der 1974er Studie noch der wartungsarme Pkw und die allgemeine Verteufelung des Automobils, in der vergleichenden Studie von 1975 auch die Repräsentationsfunktion des Automobils thematisiert.47 Während in der 1974-Studie die Umweltproblematik ganz im Geiste der Verteuerung der Energiepreise gesehen wurde, zog der 1975er Marktforschungsbericht auf Grundlage der 1972er Studie die Perspektive weiter: Die Gefährdung der Umwelt „provozierte die starke Ablehnung des Auto­ verkehrs und rechtfertigte aus der Sicht des Publikums die nachhaltigsten Eingriffe und Restriktionen – ein Ergebnis, das während der ‚Sportlichkeitswelle‘ noch undenkbar gewesen wäre.“48 Diese Aussage implizierte jedoch, dass der Umweltgedanke auf Grundlage der 1974-Befragung nicht mehr den gleichen Stellenwert einnahm. Ungemindert relevant schien in beiden Marktforschungsberichten die Frage nach der Sicherheit zu sein: So wurde ein hohes Interesse in der Bevölkerung an dieser Frage attestiert. Als Auswirkungen auf das Automobil wurden steigende Sicherheitsvorschriften, aber auch eine höhere Priorität der Verkehrserziehung gesehen. Über die Wirksamkeit dieser Maßnahmen herrschte wohl eher Zweifel. So beschrieben die Marktforscher 1972 eine fatalistische Einstellung. Die zunehmende Verteuerung des Autofahrens durch Treibstoffpreise, Besteuerung und Versicherung wurde als kritisch für den Automobilismus angesehen.49 Nicht verwunderlich verstärkte sich diese Einschätzung, als die Perspektiven der Post-Öl-SchockUmfragen einbezogen wurden. Als Ergebnis wurde insbesondere im Marktforschungsbericht von 1975 gefolgert, dass bereits schon vor 1972 die Haltung der Menschen zum Automobil ambivalent war: „Einerseits wachsende Erkenntnisse über die Umweltproblematik, bewußtes Wissen um die Unfallgefahren und ferner effektiv erlebte Verkehrsbehinderungen infolge hoher Verkehrsdichte – anderseits starke emotionale Bindungen des Menschen an sein Auto und (last not least) tatsächlich vorhandener Verkehrsbedarf.“50

47 

Siehe DB Archiv, Ordner Marktforschung DBAG 1973–1975, Marktforschungsbericht 6/74: Der PKW-Markt in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin, S. 87–90 und DB Archiv, Ordner: Marktforschung DBAG 1975–1976, Marktforschungsbericht 2/75: Der PKW in der öffentlichen Meinung, S. 3. 48  DB Archiv, Ordner: Marktforschung DBAG 1975–1976, Marktforschungsbericht 2/75: Der PKW in der öffentlichen Meinung, S. 5. 49  Ebd. 50  Ebd., S. 3.

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Die Auswertungen der 1973-Daten ergänzten diese Problematik, dass insbesondere die Repräsentationsfunktion des Automobils gelitten habe. So folgerte infratest: „Vieles spricht dafür, daß der Prestigewert des Automobils in den letzten Jahren zurückgegangen ist und einer zunehmenden Rationalität in der Begegnung mit dem Automobil Platz macht.“51 Die Marktforscher von Daimler-Benz ergänzten dazu, dass die Repräsentation nicht unbedingt daher weniger eine Rolle spielte, jedoch, dass diese durch die gesellschaftliche Situation überdeckt wurde: Während die Prestigefunktion in Kritik gestanden habe, erhielt die Funktion der individuellen Unabhängigkeit stärkere Akzeptanz.52 Ähnlich beurteilte die 1974er Image-Studie die Exponierung des Automobils als „Gegenstand der gesellschaftspolitischen Diskussion“ kritisch, da das Auto damit zur „Zielscheibe heftiger Angriffe“ geworden war. Jedoch wurde die auch von der 1975er Studie attestierte „Ambivalenz“ nicht nur als nachteilig angesehen: „Das Auto wird insgesamt davon profitieren, wenn es nüchterner gesehen wird – wenn es etwas von dem überhöhten Stellenwert verliert, der ihm in der Vergangenheit zugeschrieben wurde. Gerade die emo­ tionslose Betrachtung wird den unbestreitbaren Nutzen des PKW für alle noch deutlicher werden“53 lassen. Diese Einschätzung entsprach der erstmals in derselben Studie bei Daimler-Benz vorgenommenen Unterscheidung zwischen Grund- und Zusatznutzen eines Konsumguts. Während der Grundnutzen als technisch-objektiv messbar angesehen wurde, beim Automobil die Transportfunktion, oblag der Zusatznutzen der subjektiven Einschätzung. Die Studie unterschied grundlegend drei Symbole der Zusatznutzung: Diese wurden in den drei Allegorien Pferd (persönliches Verhältnis, Sport, individuelle Freiheit), Haus (Geborgenheit, Individualität) und Titel (Repräsenta­ tion) ausgedrückt.54 Die Stuttgarter Marktforscher stellten zu Beginn der 1970er Jahre ein allmähliches Abklingen des emotional geprägten Zusatznutzens fest. Fußend auf einer Betrachtung der Marktforschung von 1970, dass besonders Mercedes-Benz-Fahrer „verhältnismäßig nüchtern [sind, so hat der Benz-Fahrer] seltener ein Gefühl der persönlichen Beziehung zum Auto als zum Beispiel BMW oder auch Opel-Fahrer“55. Überzeugt von dem rational nachvollziehbaren Grundnutzen, den Daimler-Benz mit hoher Qualität und Solidität bot, wurde erhofft, dass insbesondere die Anfeindungen der Sportlichkeitswelle gegenüber Mercedes-Benz ein Ende haben würden. 51 

Ebd., S. 4. Ebd,, S. 5. 53  DB Archiv, Ordner Marktforschung DBAG 1973–1975, Marktforschungsbericht 6/74: Der PKW-Markt in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin, S. 90. 54  Ebd., S. 90. 55  DB Archiv, Ordner Werbung Image DBAG 1968–1970, Marktforschungsbericht 27/70: Repräsentativ-Untersuchung über das Mercedes-Benz-Image auf dem PKWSektor im Inland, S. 6. 52 

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Dementsprechend empfahlen die Marktforscher die Image-Stärken der Produkte nicht nur in der Werbung besser darzustellen, sondern auch faktische Fortentwicklungen vorzunehmen: „Die Aufrechterhaltung eines hohen, durch Entwicklung und Produktion garantierten Qualitätsniveaus ist zur ­Sicherung der Marktstellung ‚des Mercedes‘ von jeher – und erst recht in der Zukunft – unabdingbare Voraussetzung.“56 Insbesondere sah die Marktforschung bei den Diesel-Varianten Handlungsbedarf, da angenommen wurde, dass die Wirtschaftlichkeit der Fahrzeuge aufgrund nachlassender Motor­ lebensdauer und wachsender Besteuerung zukünftig sänke. Mit den Marktforschungsberichten von 1974 und 1975 erhielt die Betrachtung der Image-Situation eine neue Qualität. Neben die Analyse der eigenen Marke, Produkte und des Fahrertypus trat die Beobachtung der gesell­ schaftlichen Wahrnehmung des Automobils, ihrer engen Verknüpfung zu politischen Entscheidungen (Straßenbau, ÖPNV, Besteuerung, Umwelt­ politik) und wirtschaftlicher Zusammenhänge (Öl-Schock). Aus der neuen Perspektive von symbolischen Zusammenhängen mit einer analytischen Unter­scheidung von Grund- und Zusatznutzen erwuchsen neue Handlungsmaximen und Empfehlungen für die Unternehmenssteuerung. Worin liegen die Gründe für diese qualitative Entwicklung? Zum einen sicher­lich in der Krisenerfahrung von 1973 und 1974. Die Erkenntnis, sich nicht mehr nur auf die eigene Ingenieurleistung verlassen zu können und nun stärker von Krisen respektive Zyklen abhängig zu sein, verstärkte das Bedürfnis nach Expertise über den Markt. Eng verknüpft mit diesem Punkt ist die organisatorische Aufwertung, welche die Marktforschung durch die stärkere Implementierung des Marketings im Unternehmen erhalten hatte. Wie bereits erwähnt, erfolgte 1973 eine erste vorsichtige Einflusssteigerung der Abteilung. Jedoch waren die Studien, auf denen die Marktforschungsberichte beruhten, teilweise bereits vor dieser Aufwertung in Auftrag gegeben worden. Dies lässt den Schluss zu, dass auch aus der Abteilung selbst heraus das Interesse bestand, den Blickwinkel langsam von Käuferanalysen und rein quantitativen Marktbeobachtungen, über unternehmensorientierte ImageBetrachtungen zum Einbezug der gesamtgesellschaftlichen Analyse des Auto­mobilismus zu öffnen. Hier spielten sicherlich die subjektiv wahrgenommenen gesellschaftlichen Veränderungen und die zunehmende Kritik am Automobil, aber auch die sich verbessernde Marktposition des Konkurrenten BMW eine wesentliche Rolle. Überdies entsprach diese Erweiterung im Tätigkeitsbereich dem steigenden Geltungsbedürfnis der Abteilung, die sich als zukünftige Konzernsteuerung empfand. Dieser deutlich zum Ausdruck gebrachte Anspruch wurde somit auch durch allumfassende Forschungstätigkeiten dokumentiert.

56  DB Archiv, Ordner Marktforschung DBAG 1973–1975, Marktforschungsbericht 6/74: Der PKW-Markt in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin, S. 91.

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Markt- und Zukunftsforschung bei BMW Früher als in Stuttgart war der Münchener Konkurrent im Bereich der Marktforschung tätig geworden. Kennzeichnend waren dort die großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen BMW seit Ende der 1950er Jahre steckte. Paul Hahnemann, seit 1961 erster Vertriebschef in München, fasste die damalige Situation kurz zusammen: „Es war einmal eine bayrische Autofabrik, die stellte, als alle Welt kleine Autos verlangte, einen großen Repräsentationswagen her. Und als dann später alle Kunden Mittel­wagen haben wollten, da brachten sie einen Kleinwagen heraus.“57

Das kleine ‚Märchen‘, welches Hahnemann seiner Auskunft nach von einem Banker auf einer Feierlichkeit zugetragen wurde, verdeutlicht die gegen Ende der 1950er Jahre auftretenden Probleme bei BMW, die Konsumenten in geeigneter Form mit den entsprechenden Produkten anzusprechen. Bereits 1957 erkannte der frisch bestellte Vorstandsvorsitzende Heinrich RichterBrohm diese Problematik und versuchte durch die Initiierung von neuen Aktivitäten, die Marktforschung zu systematisieren und mehr Informationen über die Märkte und Absatzmöglichkeiten der hauseigenen Produkte zu erhalten. Florian Triebel wies in seinen Studien zu diesen ersten Jahren der Marktforschung bereits nach, dass aufgrund der Arbeiten zum „Bericht über die BMW Aktiengesellschaft“, die Marktforschung eng in die Entwicklung von Produkten eingebunden wurde und zunehmend eine Markt- statt einer Produktorientierung im Konzern Raum griff.58 1964 erweiterte die Marktforschung in München die Palette der Instrumente um eine umfassende Image-Studie, die von Prof. Dr. Bernt Spiegel vom Mannheimer Institut für Marktpsychologie als externem Gutachter angefertigt wurde.59 Die Image-Studie, die aufgrund zeitlicher Limitationen 57 

BMW Archiv, UA 713, Vortrag vom 6. September 1967 zum Thema „Gründe des Aufstiegs von BMW seit 1960“, S. 19. 58  Florian Triebel: Marktforschung bei BMW 1957–1961, in: Christian Kleinschmidt und Florian Triebel (Hrsg.): Marketing. Historische Aspekte der Wettbewerbs- und Absatzpolitik, Essen 2004, S. 67–83 und Florian Triebel: Vom ‚Marketingloch‘ zur Wiederentdeckung der sportlichen Mittelklasse. Vom Produktregime zur Marketingorientierung bei BMW, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2010/1, S. 37–63. 59  Der Marktpsychologe Bernt Spiegel war 1949 Mitbegründer des Mannheimer Instituts für Marktpsychologie, lehrte in den 1950ern als Dozent an der Wirtschaftshochschule Mannheim, war von 1963 bis 1968 Universitätsprofessor in Göttingen, bevor er als freiberuflicher Unternehmensberater u. a. für BMW, Daimler-Benz und Porsche endgültig in die freie Wirtschaft wechselte. Laut BMW Unterlagen gilt „Spiegel als Mitbegründer der neueren Marktpsychologie in Deutschland“ und entwickelte das „psychologische Marktmodell“. Die enge und bedeutende Zusammenarbeit beendete BMW 1974, da sich die Zusammenarbeit als „nicht mehr optimal“ darstellte. Der anschließende Verweis auf Spiegels Tätigkeiten für die beiden Stuttgarter Konkurrenten dürfte ein weiteres Element für die Beendigung der Beratung darstellen. Siehe hierzu: BMW Archiv, UA 713, Interner Vermerk zu Prof. Dr. Bernt Spiegel vom 10. Januar 1979.

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zunächst auf drei konzentrierte Bereiche begrenzt wurde, sollte das seit Anfang der 1960er Jahre neue Typenangebot auf die Marktplatzierung hin untersuchen, entscheidende Anstöße für die weitere Gestaltung der Produkte, aber auch für die Marktpositionierung geben. Aus diesem Grund untersuchte Spiegel im Wesentlichen drei Aspekte: Das Image von BMW, die psychologischen Bedingungen für das zukünftige Typenprogramm und schließlich die Benennung der Typen.60 Die Ergebnisse dieser ersten umfassenden Image-Studie für BMW waren maßgeblich für die Konzernpolitik der nächsten Jahre, insbesondere für die Platzierung der zweiten und kleineren „02er“-Reihe, die das Bild des Konzerns gegen Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er prägte. So attestierte Spiegel dem Unternehmen ein angesichts „des vergleichsweise geringen Marktanteils und der jahrelangen BMW-Misere […] ein bemerkenswert günstiges Ergebnis.“61 Die Stärken lagen deutlich auf einer wahrgenommenen liebenswürdigen, aber gediegenen Eleganz, einer Beschwingtheit und einer unprätentiösen Kultiviertheit. Vor allem die unprätentiöse Exklusivität im Image kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wenn BMW als mittlerer Automobilhersteller die allgemeine Krise der Branche in den nächsten 10 Jahren selbständig überlebt, dann vor allem aufgrund (und ­unter Ausnutzung) dieser Exklusivität.62

Besonderes Augenmerk legte der Marktpsychologe auf die Abgrenzung zum Image des Mitbewerbers aus Stuttgart. In Abgleichung beider Image-Profile beschrieb Spiegel eine durch die Positionierung der „neuen Klasse“ gefundene Zukunftsstrategie der Motorenwerke. Der später berühmt gewordene Terminus „Nische“ findet sich dann auch recht schnell: Der 1800er befindet sich immer deutlicher in einer Mercedes-Benz-Nische. Diese Nische ist mit anderen Worten nichts anderes als eine psychologische Marktlücke. Eine Lücke, die definiert ist durch besondere Exklusivität ohne Protzigkeit und die geschaffen wird von Daimler-Benz selbst, vor allem auch durch die große formale Ähnlichkeit der kleineren Typen mit den größeren bei verhältnismäßig großer Häufigkeit.63

Die konsequente Fortführung der Lücke oder Nische durch die Münchener Produkte in Abgrenzung zum Marktführer wurde zur Empfehlung der Image-Studie. Nicht bei den Klein- und Großwagen wurde die Chance der Marktpositionierung gesehen, sondern in der Entwicklung und Vermarktung von Mittelklasse-Wagen. Insbesondere machte Spiegel darauf aufmerksam, dass im Sinne der Nische, eine neue Definition von Mittelklassewagen anzustreben sei. So folgerte der Unternehmensberater, daß Mittelklasse ein falscher Ausdruck ist, einem falschen Denkschema entspricht. Die Wagen dieser Klasse müssen – auch werksintern! – gewissermaßen als verkleiner60 

BMW Archiv, UA 713, Bernt Spiegel: Gutachten für die BMW AG, Speyer 1964, S. 3. Ebd., S. 7. 62  Ebd., S. 11. 63  Ebd., S. 21. 61 

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te, geschrumpfte, komprimierte Großwagen verstanden werden. Der BMW-Fahrer sieht sich selbst nicht als Mittelklasse-Fahrer, will aber häufig auch nicht GroßwagenFahrer sein. Insofern war die in der Werbung gebrauchte Formulierung ‚die neue Klasse‘ zweifellos besonders günstig.64

Drei Jahre später sah der BMW Vertriebsvorstand Paul Hahnemann in einer Rede über „Die Gründe des Aufstiegs von BMW seit 1960“65 die Voraus­ setzung des unternehmerischen Erfolgs des Münchener Produzenten in der konsequenten Verfolgung der Nischenstrategie, die durch die oben dargestellten Marktanalysen herausgearbeitet und zur Grundlage der Firmenphilosophie angepriesen worden waren. Die Image-Studie hatte zunächst eine klare Kenntnis über das Leitbild des Unternehmens erbracht. Auf Grundlage dieses Leitbilds und in Abgrenzung zur Konkurrenz konnten die neuen Produkte vom BMW 1800 bis zum 2000 TILUX im Markt positioniert werden. So bestimmten die Marktforschungen Spiegels laut Hahnemann66 die Firmenpolitik nicht unwesentlich: „In diesen Lücken oder Nischen des Marktes siedelten wir uns mit unseren Erzeugnissen an. Die erkannten Wünsche des präsumtiven Käufers bestimmten Form, Größe, Eigenschaften und Preise unseres Produktes.“67 Inwieweit die Marktforschungen konkrete Unter­ nehmensentscheidungen maßgeblich inspirierten, kann aufgrund der Forschungslage noch nicht abschließend bewertet werden, jedoch deutet die Wertschätzung des Vertriebsvorstands gegenüber Spiegels Ergebnissen an, dass das positive Ergebnis der Marktforschungen einen maßgeblichen Einfluss auf die Fortführung der Strategie besaß. Die Zusammenarbeit zwischen Spiegel und seinem Mannheimer Institut mit der Marktforschung der Münchener wurde in den Folgejahren eng fortgeführt. Mehrere Einzelstudien zu Typen, deren technischer und optischer Gestaltung sowie zur möglichen Markt-Positionierung wurden in Auftrag gegeben. Das Ausmaß der Kooperation lässt sich anhand der Etatanforderung für das Jahr 1973, die vor den Auswirkungen des Ölpreis-Schocks gestellt worden war, erahnen: Von insgesamt 186 400 DM Etatanforderung für die gesamte Abteilung Marktforschung und Statistik bei BMW entfielen 115 000 DM auf die Zusammenarbeit mit Bernt Spiegel als Einzelperson sowie institutionell mit seinem Institut in Mannheim. Ein Anteil von insgesamt 62% des Gesamtbudgets. Diese wurden für Einzelberatungen sowie die Fortführung der Image-Studie durch Spiegel selbst und für weitere zwei Studien, die vom Institut für Marktpsychologie ausgeführt wurden, zur Beurtei-

64 

Ebd., S. 24. BMW Archiv, UA 713, Vortrag vom 6. September 1967 zum Thema „Gründe des Aufstiegs von BMW seit 1960“, S. 22. 66  Die Neuorientierung des Unternehmens und Ausrichtung auf die Nischen brachte dem Vertriebschef den Spitznamen „Nischen-Paule“ ein. 67  BMW Archiv, UA 713, Vortrag vom 6. September 1967 zum Thema „Gründe des Aufstiegs von BMW seit 1960“, S. 25. 65 

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lung des Typ BMW 520 und einer langfristigen Studie zur psychologischen Marktsegmentierung potentieller BMW Käufer angesetzt.68 Trotz dieser engen Kooperation kam es jedoch erst 1972 zu einem erneuten marktpsychologischen Gutachten, welches vergleichend die Entwicklung der Image-Situation von BMW von 1964 bis 1972 aufarbeiten sollte. Zunächst stand die Fortschreibung der Image-Elemente der BMW Marke im Vordergrund. Hier zeigten sich die Ergebnisse, die die Marktpositionierung der letzten Jahre nach sich zogen: Entgegen der noch 1964 festgestellten „freundlichen und liebenswürdigen Ausrichtung, konnte 1972 ein „ruppi­ gere[r]“ Zug festgestellt werden, in diesen Zusammenhang spielt auch hinein, dass BMW deutlicher als „schnell“ und „sportlich“ wahrgenommen werden. Die Kultiviertheit der Münchener Personenwagen, die in der 1964er Studie festgestellt worden war, wurde nur noch am Rande wahrgenommen. Auch in Sachen Qualität und Verarbeitung sowie technischem Fortschritt mussten Abstriche im Verlauf der acht Jahre verzeichnet werden. Wobei das Triebwerk weiterhin durch eine besondere Hochwertigkeit hervorstach.69 Ergänzt wurden diese Untersuchungen mit theoretischen Erläuterungen zum wissenschaftlichen Image-Begriff. Spiegel machte hierbei auf den Konstruktionscharakter der Image-Vorstellungen aufmerksam. Jedoch müssten diese Wahrnehmungsaspekte eine konsequente Relevanz für die Produktgestaltung entfalten: Das Image eines Gegenstandes ist damit dessen eigentliche psychologische Realität. […] Deshalb kann die Marktpsychologie ohne Zögern den Leitsatz formulieren: Nicht die objektive Beschaffenheit einer Ware ist die Realität in der Marktpsychologie, sondern einzig die Verbrauchereinstellung.70

Mit dieser Forderung trug Spiegel dem Marketing-Paradigma Rechnung, in dem er die Umorientierung der Unternehmenspolitik auf den Konsument und den wahrgenommenen Bedeutungsebenen forderte und diesem Fokus einen Vorrang zur bisherigen Konzentration auf das Produkt und die Produktion einräumte. Darüber hinaus führte Spiegel in der Studie die Betrachtung ein, dass sich der Kauf eines Automobils in ein „selbständiges Ziel“ oder ein „Ersatzziel“71 einteilen ließe. Diese Perspektive, so erläutert der Autor, sei 1964 noch nicht in die damalige Studie eingeflossen. Im Großen und Ganzen formulierte Spiegel damit eine ähnliche Einteilung, wie die Daimler-Benz-Marktforschung sie 1974 mit dem Grund- und

68  BMW Archiv, UA 1483, Etatanforderung – Marktforschung und Statistik 1973 vom 16. Oktober 1972, S. 1. 69  BMW Archiv, UA 713, Bernt Spiegel: Marktpsychologisches Gutachten zur Entwicklung der Image-Situation der Bayrischen Motoren Werke AG von 1964 bis 1972, Mannheim 1972, S. 26–29. 70  Ebd., S. 19 71  Ebd., S. 52.

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Zusatznutzen umschrieb. Jedoch blieb Spiegel noch sehr stark an konkreten Modellen verhaftet. So unterschied Spiegel zwischen dem Automobiltyp eines ‚Anti-Autos‘, welches häufig nur als Beförderungsmittel diente, und dem Auto mit eigener Faszination, welches meist ein „hochgradig gepflegte[r] Klein- und Mittelklassewagen mit zahlreichen nach und nach dazugekauften Extras und mit Zusatzausstattungen zur äußerlichen Individualisierung“ darstellte, der „fast ausnahmslos Ersatzziele“72 abdeckte. Die Empfehlungen Spiegels zur Weiterentwicklung der Produkte und des Markenimages fußten dann auch auf diesen Erkenntnissen. So favorisierte der Mannheimer Marktpsychologe die unternehmerische Orientierung auf Automobile mit einem hohen Zusatznutzen bzw. Ersatzziel-Charakter. Hierzu sollten diese in Spiegel-Terminologie zu einer „noblen Rasse“73 weiterentwickelt werden. Diese zeichnete sich durch gediegene Eleganz, exklusiven hohen Anspruch, eine Betonung der Nicht-Großserie, der Individualität, des Nicht-Amerikanischen, des Nicht-Modischen, des Technisch-Sachlichen und Aufwendigen, der Faszination der Marke, der Sportlichkeit, aber auch der Kultiviertheit und Beherrschtheit aus.74 Spiegel führte somit das in der 1964-Studie vorgeschlagene Nischen-Profil fort, welches damals in Abgrenzung zum Stuttgarter Mitkonkurrenten konstruiert worden war. Die Erfolge der vergangenen Jahre bestätigten die Weiterentwicklung der Firmenstrategie. 1975 wurden die umfassenden Image-Studien durch die Institutionalisierung eines neuen Marktforschungsinstruments bei BMW erweitert. Eine kontinuierliche Image-Betrachtung sollte Schwachstellen der Großstudien, die nur im Abstand einiger Jahre durchgeführt werden konnten, ergänzen. Die kontinuierliche Image-Betrachtung basierte somit auf vielen Kleinstu­ dien, die über den Untersuchungszeitraum bzw. mit Spiegels Worten „im zeitlichen Längsschnitt über einen ganzen Untersuchungszeitraum“75 verteilt waren und unterschiedlichste Aspekte der Image-Problematik abdeckten.76 Spiegel sollte auf dieser Grundlage bereits 1974 eine erste Analyse vorlegen, die aufgrund des Ölpreis-Schocks verschoben werden musste, um keine zu deutliche Verfälschung durch die krisenhafte Situation zu erhalten. Doch trotz einer zeitlichen Entzerrung von einem Jahr beurteilte der Marktforscher bei der Vorlage des Dokuments 1975 die Auswirkungen als beeinflussend: Zu diesem Zeitpunkt [dem Öl-Schock] setzte ein tiefgreifender Bewußtseinswandel ein, der noch in vollem Gang ist. Der Schock als solcher ist zwar abgeklungen, es ist

72 

Ebd., S. 54. Ebd., S. 60. 74  Ebd. 75  BMW Archiv, UA 713, Bernt Spiegel: Kontinuierliche Image-Betrachtung, Mannheim 1975, S. 3. 76  Ebd., S. 2–4. 73 

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aber noch nicht zu erwarten, daß der von ihm ausgelöste Bewußtseinswandel auch nur annähernd zu einem neuen stationären Gleichgewicht geführt hat.77

Es ist zu vermuten, dass auch die Auswirkungen des Ölpreis-Schocks der Grund waren, die kontinuierliche Image-Studie um eine Zukunftsstudie als „motivationspsychologisch aufgebaute Kulturgeschichte des Automobils“78 zu erweitern. Hierzu verwendete Spiegel die bis dahin wenig bekannte ­Delphi-Methode. Diese beim US-Militär entwickelte Methode sieht Interviews mit einem überschaubaren Kreis von Experten zu den gleichen Fragestellungen vor. Spiegel wendete sich in diesem Fall an Praktiker und Theoretiker der Universitäten und Fachhochschulen. Die Ergebnisse der Interviews werden abgeglichen, die Gemeinsamkeiten extrapoliert und in die Zukunft projiziert.79 Kernthese der Zukunftsstudie stellte die „Aufspaltungstheorie“ dar. Sie ging davon aus, dass zukünftig, ein beliebiger Automobiltyp nicht mehr sowohl das „Nutz“- als auch das „Lust“-Prinzip befriedigen würde: In gleicher Weise [wie bei der Antibaby-Pille], so ist zu erwarten, werden sich im ­Sinne der ‚Aufspaltungstheorie‘ Personentransport und Fahrvergnügen immer mehr voneinander trennen, so wie es im Prinzip ja bereits angelegt ist, nur noch konsequenter, nämlich im Extremfall bis zu einer nahezu völligen Verselbständigung.80

Dabei umfasste Spiegel in Übereinstimmung mit den Kategorien Grund- und Zusatznutzen, die bei Daimler-Benz Verwendung fanden, das Fahrvergnügen als Zusatznutzen, der auch die symbolischen Bedeutungen und Bedürfnisse wie Geltung, Kompensation, Schutz, Kinästhetik und Wettbewerb, wie dies in der Studie ausgeführt wird,81 umfasste. So prognostizierte die Studie die Entwicklung von Automobiltypen, die eher zur Befriedigung des „Nutz“oder des „Lust“-Aspektes dienen würden. Als Konsequenz aus dieser Theorie empfahl Spiegel dem Münchener Hersteller drei Elemente einer zukünftigen Unternehmenspolitik:82 Zunächst sollte BMW verstärkt auf sportliche Wagen setzen. Die zu erwartenden Gewinnmargen in diesem Bereich würden höher liegen als bei der reinen Befriedigung der Transportfunktion. Darüber hinaus setzte die Fokussierung auf den Lust-Faktor bei der zukünftigen Entwicklung voraus, dass die Produkte den hohen Qualitätsansprüchen genügten, daher sollte BMW verstärkt die Höherwertigkeit auch nach außen über das ‚Styling‘ dokumentieren. Letztlich ging Spiegel davon aus, dass es aufgrund der Fortführung der Geschwindigkeitsbeschränkungen über den Ölpreis-Schock hinaus nötig 77 

Ebd., S. 5. Ebd., S. 8. 79  Ebd., S. 10–11. 80  Ebd., S. 20. 81  Ebd., S. 14–16. 82  Ebd., S. 24–31. 78 

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sein würde, die hohe Motorleistung der „Lust“-Automobile durch so genannte „Motodrome“ – kommerzielle Rennstrecken für Privatfahrer – zu rechtfertigen. Sie böten den BMW Fahrern auch in Zukunft die Chance, die Motorisierung vor sich selbst und einer kritischen Gesellschaft zu rationalisieren.

Resümee: Produktion der Symbole Zwei Produzenten, zwei unterschiedliche Positionierungen in den Märkten, zwei teilweise unterschiedliche Analysen über die gesellschaftlichen Veränderungen in der Beziehung zum Automobil. Während die Marktforscher bei Daimler-Benz eine neue Nüchternheit als Trend beobachteten, die kritische Ambivalenz gegenüber dem Automobil als eine Kontinuitätslinie von der Phase vor dem Ölpreis-Schock wahrnahmen und in diesem Zusammenhang das Nachlassen von symbolischen Bedeutungen wie zum Beispiel der Repräsentationsfunktion ganz im Sinne des von Flink festgestellten „disenchant­ ments“83 begriffen, sahen die Studien aus München eher eine Entkopplung der beiden Funktionsebenen des Automobils und damit einhergehend eine wachsende Bedeutung der Komponenten des emotionalen und subjektiven Zusatznutzens; im Besonderen auch der Repräsentation. Zwar stellte man in der BMW Marktforschung eine relevante Bewusstseinsänderung aufgrund der ‚Öl-Krise‘ fest, diese wurde jedoch lediglich als temporäre Erscheinung interpretiert. Wie kommen diese Unterschiede in der Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung zustande? Es ist recht wahrscheinlich, dass die unterschiedlichen Methodiken beider entscheidenden Studien hierfür Verantwortung tragen. Während man bei Daimler-Benz mehrere klassische und rezent durchgeführte Meinungsumfragen als Grundlage für die Image-Studien benutzte, wurde für die BMW Zukunftsstudie die Delphi-Methode mit einer Expertenbefragung als Grundlage gewählt. Damit gewann man in München einen von der Aktualität entrückten Blick auf längerfristige Prozesse, während die Studien aus Stuttgart stark an den tagespolitischen Diskussionen der Gesellschaft verhaftet blieben. So löst sich der scheinbare Gegensatz schnell auf: Am Anfang der 70er Jahre stellte man in Stuttgart ein deutliches Abklingen der hohen symbolischen Bedeutung des Automobils fest. Angesichts der Intensität der gesellschaftlichen Debatte um die sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Folgen der Massenmotorisierung sowie zum Ölpreis-Schock der bedrohten Energieversorgung der Industrienationen entwickelten die Automobilfahrer Rationalisierungsprozesse, die zu einer feststellbaren emotionsloseren Ein-

83 

James J. Flink: The Car Culture, Cambridge und London 1975, S. 191.

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stellung zum Automobil sowie einer Betonung der besonderen Transportqualitäten des PKW führten. Langfristig ging jedoch der emotionale Mehrwert des Automobils nicht verloren, sondern die Entkopplung des Grundnutzens vom Zusatznutzen schritt weiter voran. Spiegel belegte dies in seiner Studie mit der steigenden Verbreitung von „Spezialautomobilen“84 wie Gelände- und Sportwagen deren Grundnutzen im Transport nicht mehr im Vordergrund des Kaufs und der Benutzung stehen würde. Gemeinsam ist den Untersuchungsperspektiven beider Häuser die Aufwertung der Marktforschung mit psychologischen Analysen zu Produkt, Fahrer und Marke sowie des Wertkomplexes um das Automobil. Hiermit nahmen die Marktforscher, die im Auftrage von BMW und Daimler-Benz die Marktsituation und -mechanismen verstehen wollten, die Fortentwicklung der Methodik und Forschungsinteressen innerhalb der akademischen Psychologie seit Ende der 1950er Jahre maßgeblich auf. Diese deutete zunehmend die Konsumgewohnheiten der Verbraucher als abhängig von psychosozialen Bedürfnissen.85 Beide Firmen entwickelten aus der Krise des jeweiligen Unternehmens heraus die innovative Kraft, neue Wege in der Konzernausrichtung zu gehen. Dabei erzeugten die unterschiedlichen Ausgangslagen der beiden Hersteller eine gewisse Zeitverschiebung, den nötigen internen Handlungsdruck zur Entwicklung der Unternehmensstrategie aufzubauen. Aus der Absatzkrise bei BMW und dem wahrgenommenen negativen Image bei Mercedes-Benz erkannten die Hersteller die Wichtigkeit, den Wandel der öffentlichen Wahrnehmung der eigenen Produkte jedoch auch der allgemeinen gesellschaftlichen Bedeutung des Automobils in den Blick zu nehmen. Aufgrund der zeitlich vorgelagerten Modellkrise in München erfolgte diese Erkenntnis in der ersten Hälfte der 1960er Jahre und somit früher als beim langjährigen Branchen-Primus in Stuttgart. Dort reagierte man erst gegen Ende der 1960er Jahre mit der Betrachtung marktpsychologischer Fragen. Dies erfolgte erst, nachdem man den Absatz der Münchener Wagen zunehmend kritischer sah und dies auf ein negatives Image der eigenen Produkte zurückführte. Dabei verband sich bei Mercedes-Benz die Diskussion des eigenen Produktimages sehr eng mit der zunehmend kritisch geführten gesellschaftlichen Debatte über die Folgen des Automobilismus. Eine Aufnahme dieser aktuellen Aspekte in die Marktforschungstätigkeit lässt sich daher auch ausgeprägter in Stuttgart als in München verorten. Letztere nahmen die zunehmend kritische Debatte um das Automobil in einem bereits laufenden marktpsychologischen 84  BMW Archiv, UA 713, Bernt Spiegel: Kontinuierliche Image-Betrachtung, Mannheim 1975, S. 17 85  Nepomuk Gasteiger: Der Konsument. Verbraucherbilder in Werbung, Konsumkritik und Verbraucherschutz 1945–1989, Frankfurt am Main und New York 2010, S. 68ff.

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Forschungsprozess auf. Dies könnte auch ein Grund dafür sein, dass die Ausführungen Spiegels zur „Aufspaltungstheorie“ eine größere Distanz zu den konkreten gesellschaftlichen Diskussionen besaßen. Die gleichzeitige Beauftragung von Bernt Spiegel als Unternehmensberater bei BMW und Daimler-Benz verweist auf die Verquickung beider Prozesse und deutet auch einen Transfer der Fachexpertise an. Leider lassen sich aus dem vorliegenden Material keine Rückschlüsse über ein Ausmaß und den Inhalt der Kompetenzübertragung ziehen. In beiden Häusern durchliefen die Forschungsinteressen der Marktforschungsabteilungen zeitversetzt unterschiedliche Stadien: Aus der zunächst statistischen Analyse des Marktes entwickelte sich die Beobachtung des Marken-, Produkt- und Fahrerimages. Als nächste Entwicklungsstufen fokussierten die Marktforschungen der Produzenten den Blick zum einen auf den Konkurrenten, zum anderen auf den Gesamtmarkt und die damit verbundenen gesellschaftlichen und politischen Debatten sowie der Dynamisierung symbolischer Bedeutungsebenen. Doch darüber hinaus einte beide Hersteller auch die Erkenntnis, dass diese symbolischen Zusammenhänge über die neue Unternehmensphilosophie „Marketing“ gesteuert werden müssten: Über Werbe- und PR-Maßnahmen, aber auch über das von Spiegel so genannte „technische Marketing“86: wie zum Beispiel die Entwicklung von Karosserie, Motorleistung, Innenraum­ design nach Maßgabe der Kundenerwartung bzw. auch ihrer symbolischen Erwartungen. In den Marktforschungsabteilungen beider Konzerne wurde somit der Anspruch erhoben, Einfluss auf die gesamte Unternehmenssteuerung und das Marketing als Instrument zur Umsetzung der marktpsychologischen Erkenntnisse zu nehmen. Wie bereits beschrieben, vollführte sich aufgrund der Absatzkrise diese Entwicklung beim Münchener Automobilhersteller im Lauf der 1960er Jahre; die Stuttgarter begannen den Prozess der Marketingimplementierung ab dem Ende der 1960er Jahre. Dabei lassen sich für den Untersuchungszeitraum die Rückkopplungen der Marktforschung in die Entwicklung lediglich bei BMW deutlich feststellen: Gerade hier lag der Erfolg des Unternehmens, selbst nach Meinung der Konzernspitze.87 Mit dem Eintreten Hahnemanns als Vertriebschef in das Unternehmen konnte zu Beginn der 1960er Jahre ein so genanntes „kleines Marketing“ geschaffen werden, welches die Vertriebsbereiche Marktforschung, Verkaufs-Statistik, Verkaufs-Förderung, Werbung, PR-Maßnahmen 86 

BMW Archiv, UA 713, Bernt Spiegel: Marktpsychologisches Gutachten zur Entwicklung der Image-Situation der Bayrischen Motoren Werke AG von 1964 bis 1972, Mannheim 1972, S. 11. 87  Siehe hierzu spätere Reden des Vertriebschefs Hahnemann zum Erfolg der Marke: BMW Archiv UA 933/2, Vortrag von Paul G. Hahnemann vor dem Marketing-Club Köln-Bonn e. V. am 17. April 1975, S. 13–14 und Rede Paul G. Hahnemanns zum ­Baden-Badener Unternehmergesprächs am 7. Oktober 1968 zum Thema „Absatzwirtschaftliche Überlegungen des Unternehmers“, S. 20–21.

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und die Presseabteilung umfasste.88 Durch den Erfolg der Strategie erwarb die Steuerung des Unternehmens über die Verbindung von Marktforschungsund Marketingelementen eine hohe Akzeptanz, die auch eine spätere Fortentwicklung der Unternehmensphilosophie im Zuge des gesellschaftlichen Klimawandels gegenüber dem Automobil erleichterte. Bei Daimler-Benz führte man aufgrund des Unternehmensstolzes, der durch den langen wirtschaftlichen Erfolg genährt worden war, einen anderen Umgang mit dem Thema. So schreibt Günter Ogger in der ‚auto motor und sport‘ zur Beurteilung der Produktpolitik beim Stuttgarter Hersteller: „Selbstverständlich würden die Mercedes-Verkäufer nie zugeben, daß so etwas Nebensächliches wie die Konkurrenz ihre Modellpolitik beeinflußte […] [jedoch] Fazit: Alle reden vom Marketing, bei Daimler macht man es.“89 Auch wenn diese zugespitzte Darstellung eher rhetorischer Natur war und Köhler die Probleme der organisatorischen Verankerung des Marketings dargestellt hat,90 deutete auch Horst-J. Wendt, Werbeleiter in Untertürkheim, in einem Bericht der Zeitschrift ‚Werben und Verkaufen‘ aus dem Jahre 1970 an, dass auch bei Daimler-Benz mit einer Phasenverschiebung zum Münchener Konkurrenten „ein System wissenschaftlich-mathematischen Marketings kommt – als Ersatz für Sozialismus.“91 Es obliegt weiteren Forschungen he­ rauszustellen, wie sich der Perspektivwandel in der Unternehmensführung konkret vollzog. Damit versuchten die Automobilproduzenten in den Prozess der Symbolentwicklung als aktiver Akteur einzutreten. Dem Disenchatment oder der zunehmenden Nüchternheit im Umgang der Gesellschaft mit dem Automobil, den die Marktforscher von Daimler-Benz zu Beginn der 1970er mit den heiß geführten gesellschaftlichen Debatten um Verkehrskonzepte, -sicherheit und Umweltimplikationen verbanden, traten BMW wie auch Daimler-Benz mit proaktiven Maßnahmen in der Entwicklung wie auch in der Vermarktung entgegen: ob durch die Besetzung der entdeckten Nischen mit den ­Modellen der 5er (1972), 3er- (1975) und 7er-Reihen (1977) von BMW sowie deren konsequenten Bewerbung92 mit dem Slogan „Aus Freude am Fahren“, welcher erstmals „eine produktübergreifende, markenadäquate kommunika88  BMW Archiv UA 933/2, Rede Paul G. Hahnemanns zum Baden-Badener Unternehmergesprächs am 7. Oktober 1968 zum Thema „Absatzwirtschaftliche Überlegungen des Unternehmers“, S. 3–4. 89  Günter Ogger: Die Marketing Konzeptionen der deutschen Autoindustrie, in: auto motor und sport 1973/11, S. 68. 90  Ingo Köhler: Marketing als Strukturmodell. Der organisatorische Wandel in der deutschen Automobilindustrie der 1960er bis 1980er Jahre, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 53 (2008), S. 216–239. 91  „Auf der Suche nach dem Verhältnis zur Öffentlichkeit“, in: Werben und Verkaufen 26/1970, S. 22. 92  So führte Hahnemann das gute Abschneiden von BMW während der 1966/67er Konjunkturdämpfung auf die konsequente Hinwendung zur Nische durch Produkte und Bewerbung zurück. Siehe BMW Archiv UA 933/2, Rede Paul G. Hahnemanns

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tive Klammer“93 schuf, oder durch die Angebotserweiterung durch Fortentwicklung der kleineren Modelle W114/115 bei Mercedes-Benz, um eine symbolische Verjüngung und die Bindung neuer zumeist jüngerer Kundenkreise zu erreichen. Mit der Entwicklung des Firmenimages in Bezug auf die Marke, das Produkt und die Fahrerschaft ließen die Unternehmen eine wirkungsmächtige Symbolindustrie erstehen. War der Zauber des Automobils, um in den Worten Flinks zu bleiben, in den frühen Jahren der Motorisierung noch selbsttragend, bedurfte es nun, angesichts der hohen Konkurrenz auf dem Markt, der Entwicklung der Konsumentengesellschaft, aber auch des Gegenwinds aufgrund der Debatten um die Verkehrskonzepte und der Umweltpolitik einer unterstützenden Begleitung mit neuer Qualität. Aus Unternehmenssicht reagierte man hier nur auf die Bedürfnisse des Marktes, um die eigene Position zu sichern bzw. zu entwickeln. Durch das nach und nach implementierte Unternehmensprinzips des Marketing konnten nun neben die Werbung, die bereits in den frühen Jahren der Automobilisierung symbolische Bedeutungen immer wieder aufgriff und reproduzierte, auch die Produktgestaltung und -entwicklung einbezogen werden.

zum Baden-Badener Unternehmergesprächs am 7. Oktober 1968 zum Thema „Absatzwirtschaftliche Überlegungen des Unternehmers“, S. 20–21. 93  Florian Triebel: Vom ‚Marketingloch‘ zur Wiederentdeckung der sportlichen Mittelklasse. Vom Produktregime zur Marketingorientierung bei BMW, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2010/1, S. 62.

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Markenkultur im Autoland Zur Diskursgeschichte der VW Golf-Markenfamilie Die kulturelle Relevanz des Automobils Die Automobilbranche insgesamt – also nicht nur die Hersteller, sondern auch Zulieferer und nachgeordneten Betriebe und Dienstleister mit eingeschlossen – war und ist zweifellos der wichtigste Industriezweig und Arbeitgeber Deutschlands (Tilly 2008). Noch deutlicher wird dies, rechnet man die ökonomische, politische und kulturelle Bedeutung des Verkehrssystems hinzu, das in Deutschland seit dem 20. Jahrhundert ja primär auf Automobilität ausgerichtet ist und in all diesen Hinsichten allenfalls von den Vereinigten Staaten übertroffen wird (Claessens 1966; Holtz Kay 1997; Kuhm 1997). Vor diesem Hintergrund dürfte es kaum überraschen, wenn dem technischen Artefakt „Automobil“ nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten hohe Aufmerksamkeit entgegengebracht wird (Barthes 1964; Ross 1972; Belk 1988, 2004; Gartman 2004; Mellström 2004; Urry 2004; Schulz 2006). So kann gerade für deutsche Verhältnisse von einer „Autokultur“ gesprochen werden, die dieses Land seit langem prägt (Hickethier et al. 1974; Ruppert 1993; Burkart 1994, 1996). Überdies befinden sich Individualismus und Auto­mobilismus in einem wechselseitigen Steigerungsverhältnis. Nichts symbolisiert individuelle Mobilität als Ausdruck von Modernität besser als Automobilität (Canzler 2000; Brandon 2002; Carrabine/Longhurst 2002; Featherstone 2004; Bull 2004; Jensen 2006). Die Freiheit des einzelnen, sich jederzeit überall hinbewegen zu können, kann nirgends so uneingeschränkt erlebt werden wie durchs Auto − so die Ideologie, sieht man von Autolärm, Luftverschmutzung, Parkplatzsuche, Straßenstaus, Verkehrsunfällen und anderen Kalamitäten ab (Schmidt 1997; Canzler 1999; McCarthy 2007). Betrachtet man daraufhin den Automarkt als solchen, insbesondere die enorme Produkt- und Markenvielfalt, gibt es eine ganze Reihe von Fahrzeugen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts überragende Bedeutung erlangt haben (Gottschalk/Kalmbach 2003). Einige wenige Automarken vermochten im Sinne David Riesmans und Howard Roseboroughs (1966) sogar Standards für die Lebensführung zu setzen, weil deren Besitz und Gebrauch als In­ begriff für gesamtgesellschaftliche Inklusion, Teilhabe, Zugehörigkeit angesehen wurden (Miller 2001). Nicht ohne Grund konstatierte James Flink (1988: 188) schon für die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts: „During the 1920s automobility became the backbone of a new consumer-goods-oriented society and economy that persisted into the present.“

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So stellte das Modell T von Ford, umgangssprachlich „Tin Lizzy“ genannt, hierfür sicherlich das Urmodell dar, von dem mehr als 15 Millionen Exemplare zwischen 1908 und 1927 gebaut wurden. Weiterhin dürfte der VW Käfer, von dem zwischen 1938 und 2003 insgesamt 21 529 464 Exem­ plare verkauft wurden, von diesem Schlage sein. Freilich ging die Hochzeit des VW Käfer schon Ende der 1960er Jahre zur Neige. Dies belegen die ­sinkenden Absatzzahlen ab 1967, und eine Rekonstruktion des damaligen Diskussionsverlaufs im Unternehmen spiegelt den Ernst der Lage nochmals sehr deutlich (Grieger 2008). Schließlich trug noch die Ölkrise 1973, die ja für die gesamte Automobilbranche eine Art Zäsur bedeutete, ihren Teil dazu bei (Tilly 2008). Besonders markant zeigte sich dies, um gleich bei Volkswagen zu bleiben, als sich der Konzern Ende der 1960er Jahre die Frage vorlegte, wie es um ein Nachfolgemodell für den VW Käfer bestellt sei, das diesen unerwarteten Umständen angemessen Rechnung tragen könnte (Grieger 2008). Denn im Zuge solcher strategischer Überlegungen entwickelte Volkswagen ein Automobil, 1974 fertiggestellt und ausgeliefert, das als unmittelbare Reaktion auf die Ölkrise verstanden werden kann (obgleich schon Jahre vorher geplant): der VW Golf, mit dem eine ganz neue Fahrzeugklasse, die Kompaktklasse, aus der Taufe gehoben wurde. Vor allem aber besaß dieses Auto, von dem bislang − inzwischen in der siebten Generation und über die gesamte Marken­familie hinweg − weltweit 29 758 719 Fahrzeuge produziert wurden (Stich­tag: 31. Dezember 2012), das Zeug dazu, in die eben aufgemachte Reihe Standard setzender Automobile mit einbezogen zu werden. Bestes Beispiel hierfür ist das Buch „Generation Golf“ von Florian Illies (2000). Die Beschäftigung mit solchen Bestsellern der Automobilbranche ist bemerkenswert, weil sich an diesen Erfolgsmodellen die kulturelle Relevanz des Automobilismus besonders gut ablesen lässt. Denn gerade für den VW Golf, dem meistverkauften Auto Europas, kann behauptet werden, dass es sich dabei nicht nur um ein Stück Technik und viel Marketing handelt, sondern dass dieses Automobil Kult geworden ist, wie es für das Vorgängermodell schon festgestellt wurde (Volkswagen 2003: 47ff.). Besonders bei solch berühmten, aber auch weniger bekannten Marken spricht die Markenforschung inzwischen von „cultural branding“, „brand culture“ oder „Markenkultur“ (Holt 2004; Schroeder/Salzer-Mörling 2005; Halley et al. 2008; Heun 2009). Obgleich diese Labels konzeptionell noch sehr zu wünschen übrig lassen, wird damit doch zu recht betont, dass sich um manche (Auto)Marke eine eigenständige (Sub)Kultur entwickeln kann, die nicht bloß das jeweilige Unternehmen, sondern auch dessen Kunden sowie andere „stake holder“ umfasst, etwa die Fachpresse. Von daher erfordert eine sozialwissenschaftliche Untersuchung der Markenkultur eines bestimmten Produktes, sich tendenziell mit der ganzen Polyphonie und Polysemie dieses Phänomens auseinanderzusetzen und es entsprechend phänomenologisch-hermeneutisch zu erschließen.

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Ausgehend von diesem Befund stellt sich die Frage, was eigentlich unter „Markenkultur“ zu verstehen ist. Ohne hier weiter in Details einsteigen zu können, soll in Anlehnung an den Begriff der Unternehmenskultur von Edgar H. Schein (1985: 13f.) davon ausgegangen werden, dass jede Marken­ kultur drei Ebenen umfasst: Ausgehend von der „hardware“ einer Markenkultur, die sich durch das Merkmal guter Sichtbarkeit auszeichnet, wie Artefakte, Rituale, Mythen, geht es auf einer zweiten Ebene, die empirisch schon ungleich schwerer zu beobachten ist, um Werte und Normen und auf einer dritten Ebene um gewisse Grundannahmen, so genanntes „taken for granted“-Wissen, das die fundamentalen Axiome einer Markenkultur umfasst und sich direkter Beobachtbarkeit zumeist entzieht. Freilich bleibt die Frage, wie Markenkultur empirisch beobachtet werden kann. Diesbezüglich wird hier die Auffassung vertreten, dass themenspezifische Kommunikations­ prozesse, speziell die Beobachtung gewisser Diskursfelder, einen forschungspragmatisch aussichtsreichen Zugang versprechen. Im Folgenden soll am Beispiel der schon erwähnten VW Golf-Markenfamilie aufgezeigt werden, wie eine solche Markenkultur diskursiv strukturiert sein kann, unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftlichen Umstände, die darauf immer wieder spürbar Einfluss nehmen können. ­Materialiter wurde auf Texte und Graphiken Bezug genommen, die drei Adressanten bzw. Akteuren innerhalb der VW Golf-Markenkultur zugerechnet werden können: erstens dem Hersteller, also der Volkswagen AG, indem bestimmte Anzeigenmotive untersucht wurden; zweitens der Fachpresse, die durch Fahrberichte und vergleichbare Stellungnahmen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf diese Markenkultur ausübt; und drittens den Kunden, die sich mittels Leserbriefen in Fachzeitschriften und Clubmagazinen, zunehmend häufiger auch in Internetforen, sehr rege an diesem öffentlichen Austausch beteiligen und zweifelsohne bedeutsam sind, wenn es um die Kulturbarmachung einer so bekannten Marke wie den VW Golf geht. Der Gang der eigentlichen Untersuchung von Michael Friedemann startete damit, zwei synchron angelegte Diskursanalysen durchzuführen. Die erste Analyse bezog sich auf die erste Generation des VW Golf I, hergestellt zwischen 1974 bis 1982, die zweite auf die fünfte, die sich von 2003 bis 2008 hinzog. Anschließend wurden die Befunde beider Diskursanalysen nochmals diachron miteinander verglichen. Der räumliche Bezugspunkt ist Deutschland.1 Ziel der hier vorgelegten Darstellung ist es hingegen, einen ersten Eindruck davon zu vermitteln, welche Normen, Werte, Grundannahmen die

1 

Dieser Beitrag stützt sich materialiter auf die Dissertation „Markenhistorie aus diskursanalytischer Sicht – Implikationen für die Markenpositionierung“ von Michael Friedemann, eingereicht an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg.

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Markenkultur des VW Golf im Zeitverlauf bislang umfasst hat, wobei die historisch-gesellschaftlichen Begleitumstände von besonderem Interesse sind. Außerdem geht es darum, Kontinuitäten, aber auch Diskontinuitäten herauszustellen, um exemplarisch aufzuzeigen, dass eine Markenkultur zumeist durch mehrere Perspektiven geprägt ist, die keineswegs immer kongruent sein müssen, schon gar nicht über eine längere Zeitspanne hinweg. Diesen Befund kennt man aus den „cultural studies“ zu Genüge (du Gay et al. 1997). Im Ergebnis sollte klarer werden, was man sich unter einer „Markenkultur“ eigentlich vorzustellen hat − sicher nicht umfassend angelegt, auch nicht ohne weiteres verallgemeinerbar, aber doch so aussichtsreich, dass klarer wird, wie nächste Schritte aussehen könnten, um eine systematisch angelegte, methodisch kontrollierte Untersuchung von Markenkulturen in Angriff nehmen zu können. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Zuerst wird der diskursanalytische Zugang kurz dargelegt. Sodann werden Ergebnisse der beiden synchronen Vergleiche der Beiträge der bereits erwähnten drei untersuchten Diskursteilnehmer (Unternehmen, Fachpresse, Kunden) für die erste und die fünfte VW Golf-Generation präsentiert. Anschließend sollen Resultate des diachronen Vergleichs zur Sprache kommen. Eine Zusammenfassung und Endbewertung beschließen den Beitrag.

Die VW Golf-Markenkultur als eigenständiges ­Diskursuniversum Zur Ermittlung der VW Golf-Markenkultur wurde die Wissenssoziologische Diskursanalyse herangezogen (Keller 2007, 2008). Zentral ist für diese Methode die (Re)Konstruktion der Deutungsmuster, die von empirisch existenten Wissensgemeinschaften verwandt werden. Der Begriff des Deutungsmusters bezeichnet dabei eine bestimmte Form der Organisation von Wissen, bestehend aus bestimmten Elementen, die auf die soziale und natürliche Umwelt der alltäglichen Lebenswelt solcher Wissensgemeinschaften bezogen sind (Lüders/Meuser 1997).2 Darüber hinaus hebt das Wort „Muster“ das Typische hervor: Es handelt sich um allgemeine, mehr oder weniger verbindliche Deutungsfiguren, die in konkreten Deutungsakten und Handlungsweisen zum Einsatz kommen und sich dabei in unterschiedlicher Art und Weise 2  Lüders und Meuser lehnen sich in ihren Ausführungen zu diesem Konzept an die Phänomenologie nach Schütz an. Sie verstehen Deutungsmuster als Interpretationsschemata, durch die sich die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit vollzieht. Diese Schemata sind aber keine individuellen, sondern vielmehr kollektive Typisierungen. Darüber hinaus wirken Deutungsmuster auch handlungsgenerierend. Sie besitzen normative Geltungskraft und unterschiedliche gesellschaftliche Reichweiten.

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sprachlich-material manifestieren können. Außerdem sind damit häufig mehrere, durchaus heterogene Wissens- und Deutungselemente und bewertende Bestandteile verknüpft. Ein Deutungsmuster verknüpft folglich unterschiedliche Bedeutungselemente zu einem kohärenten, nicht unbedingt auch konsistenten Deutungsfeld. Angewandt auf den vorliegenden Fall, d. h. die Untersuchung der VW Golf-Markenkultur im Zeitvergleich, wurde angenommen, dass die entsprechenden Deutungsfelder heterogen besetzt sind. Ihnen liegt somit eine multiple Akteurskonstellation zugrunde. Denn aus der bisherigen Markenforschung war nicht nur bekannt, dass Bedeutungen bezüglich einer bestimmten Marke nicht per se vorliegen, sondern erst im Rahmen des kollektiven, durchaus kontrovers diskutierten Gebrauchs der Marke entstehen und insofern kommunikativ reproduziert werden, sondern dass daran häufig auch mehrere, sozialstrukturell unterschiedliche Akteure beteiligt sind (du Gay et al. 1997: 84f.; Hellmann 2003, 2011). Durch die systematische Beleuchtung dieser Markenbedeutungen wird Markenkultur daher als ein komplexes, gemeinschaftlich geteiltes System markenspezifischer Bedeutungen, Beziehungen und Handlungen sichtbar (Hallay et al. 2008). In diesem Zusammenhang stellt sich noch die Frage, wie eventuelle Kontinuitäten und Diskontinuitäten innerhalb eines längeren Zeitverlaufs methodologisch adäquat erfasst werden können. Da es aus forschungsökonomischen Gründen nicht möglich war, den gesamten Zeitverlauf von 1974 bis heute lückenlos-ganzheitlich zu erfassen, wurden zwei Zeiträume ausgewählt, um die jeweiligen Zustände der VW Golf-Markenkultur in diesen Zeiträumen miteinander zu vergleichen: die erste VW Golf-Generation von 1974 bis 1982 und die fünfte von 2003 bis 2008. Das Auslassen der zweiten, dritten und vierten VW Golf-Generation wirft natürlich Probleme auf, die nur durch Hilfsannahmen zu lösen sind. So wird davon ausgegangen, dass die Deutungsmuster strukturell daraufhin miteinander verglichen werden können, dass gleiche, d. h. schon bekannte, gleichermaßen benutzte, wie ­ungleiche, d. h. andere, neue Deutungselemente identifiziert werden können. Diese ahistorische, zeit-indifferente Verteilung von gleichen wie ungleichen Deutungselementen wird dann insofern verzeitlicht, als gesagt wird, dass gleiche Deutungsmuster auf Kontinuitäten hinweisen (mitnichten darstellen), während ungleiche Deutungsmuster auf Diskontinuitäten verweisen. Einlösbar ist dieses Hypothesengerüst nur, indem die bislang ausgelassenen VW Golf Generationen II, III und IV nachträglich in die diskursanalytische Unter­suchung mit einbezogen werden. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt also darauf, gewisse Übereinstimmungen und Unterschiede anzusprechen, die beim synchronen wie diachronen Vergleich der beiden Diskursfelder, die bezüglich des VW Golf I und des VW Golf V konstruiert wurden, zu Tage traten. Zuvor jedoch sollen nochmals die besonderen Zeitumstände schlaglichtartig beleuchtet werden, unter denen der VW Golf I das Licht der Welt erblickte.

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Der VW Golf I: Die Ölkrise als Hypothek Wie nachgewiesen werden konnte, lassen sich erste Überlegungen für ein Nachfolgemodell des VW Käfer bis in das Jahr 1967 zurückverfolgen, als die Absatzzahlen erstmals einbrachen. Gleichwohl dauerte es noch einige Jahre, bis konkrete Pläne geschmiedet und erste Maßnahmen ergriffen wurden (Grieger 2008). Wobei von diesem Absatzeinbruch mehr oder weniger sämtliche Automobilhersteller betroffen waren (Köhler 2007; Tilly 2008). Insofern waren diese Jahre insgesamt durch eine gewisse Krisenstimmung gekennzeichnet. Dann kam die Ölkrise 1973. Obgleich dieses Ereignis ­gesamtgesellschaftliche Auswirkungen hatte, immerhin erlangte der ein Jahr zuvor veröffentlichte Bericht „The Limits to Growth“ des Club of Rome dadurch erst symbolträchtige Aufmerksamkeit, war doch die Automobilbranche davon in aller erster Linie betroffen. Die damals erlassenen Fahrverbote sprechen Bände, die Bilder leergefegter Autobahnen sind noch heute markante Merkzeichen. Angesichts dieser Situation sahen sich die Automobilhersteller noch stärker im Zugzwang. Worauf es plötzlich ankam, war das verstärkte Heraus­ stellen von Argumenten, die den Autos günstigen Verbrauch, ökonomische Vernunft und Wirtschaftlichkeit bescheinigten. Nur so glaubte man unter Beweis stellen zu können, dass man die Zeichen der Zeit erkannt hatte. Als Volkswagen Anfang der 1970er Jahre daher begann, das Nachfolgemodell des VW Käfer zu konzipieren, übten diese Zeitumstände entscheidenden Einfluss aus. Was es brauchte, war ein Auto, das dem Zeitgeist entsprach. Und die Jahre 1973/74 waren dafür besonders prägend, auch für die Produktion, vor allem aber das Marketing (Köhler 2007). Insofern kann man sagen, dass dem VW Golf I von Anbeginn eine besondere Verantwortung mit in die Wiege gelegt wurde. Diese Umstände haben auf das Diskursfeld, das mit der Einführung des VW Golf I entstand, erheblichen Einfluss gehabt. Dies lässt sich für die Werbung, die Fachpresse und die Kunden gleichermaßen nachweisen. Wobei hier der Werbung ein wenig mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, da sie den Diskurs anfangs maßgebend bestimmt hat. Die Unternehmenskommunika­ tion besaß gewissermaßen einen kleinen Vorsprung, der von der Fachpresse und den Kunden erst über die folgenden Jahrzehnte aufgeholt wurde. 1. Die Werbung zum VW Golf I Zum Zwecke der synchronen Rekonstruktion des Diskursfeldes „VW Golf I“ wurden, soweit es das Unternehmen betraf, insgesamt 69 Anzeigen analysiert. Die Anzeigenmotive und -texte umfassten dabei eine nicht unbeträchtliche Spannweite verschiedenster Aussagen, Anspielungen, Assoziationen, die bei der Auslobung des VW Golf I in Anschlag gebracht wurden.

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Besonders verbreitet waren Mitteilungen, die den hohen Gebrauchsnutzen des VW Golf I thematisierten. So lautete ein Anzeigentext aus dem Jahre 1977: „Denn auch seine Innenausstattung gehört zum Komfortabelsten, was in dieser Klasse angeboten wird. Viel Platz für ihre Familie, viel für Ihre ­Bequemlichkeit und viel Sicherheit.“ Außerdem wurden seine kompakten Außenmaße und die hohe Fertigungsqualität hervorgehoben. Daneben waren es vor allem Argumente der Verbrauchseffizienz und Wirtschaftlichkeit, mit denen das neue Automobil beworben wurde. Als Beispiel hierfür sei eine Passage aus einer Werbeanzeige desselben Jahres angeführt: „Trotzdem ist der Golf nicht das Auto für Großverdiener. Sondern alles in allem der vernünftigste Gegenwert, den man zur Zeit für Geld bekommt.“ Hierzu passt auch, dass der VW Golf I als ein klassenloses Fahrzeug, weil es für alle Käuferschichten attraktiv ist, und damit als ein klassenübergreifendes Fahrzeug präsentiert wurde. So heißt es in einer Anzeige aus den Jahren 1977/78: „Aber die meisten werden ihn gekauft haben, weil er alles ist: Ein wirtschaftliches, spritziges, geräumiges, komfortables, praktisches, sicheres und gut verarbeitetes Auto.“ Schließlich wurde in Werbeanzeigen für den VW Golf I GTI noch herausgestellt, dass dieser Sport­ wagen eine einzigartige Synthese aus Fahrspaß und Vernunft darstelle, wie es für Sportwagen zur damaligen Zeit völlig unüblich war. Folgende Text­ passage, einer Anzeige aus dem Jahre 1979 entnommen, zeigt dies sehr deutlich: Kraftwerk. Manche mögen’s heiß. Und deswegen bauen wir den Golf GTI. Das ist der Golf in seiner kräftigsten Ausgabe. Sein Einspritzmotor leistet mühelos 81 KW (110 PS). Er spurtet aus dem Stand in 9 Sekunden auf 100. Und schafft spielend 182 km/h Spitze. Diese kraftvolle Leistung würde manchem exotischen Kraftwagen gut zu Gesicht stehen. Aber er kann mit Sicherheit noch mehr. Durch seine innenbelüfteten Scheibenbremsen ist er jederzeit in der Lage, sich in wenigen Sekunden wieder in den Stillstand zu versetzen. Und sein Breitspur-Fahrwerk mit den breiten Felgen und den superbreiten Stahlgürtelreifen sorgt auf allen Straßen für optimale Sicherheit. Das Größte ist jedoch sein Verbrauch. Der ist im Vergleich zur gebotenen Leistung erstaunlich günstig: Nach DIN bescheidene 8,0 l Super auf 100 km. Im Golf GTI ist halt eine preiswerte Kraft am Werk.

Die Emotionalität des VW Golf I GTI wurde im Rahmen der Werbeanzeigen zusätzlich verstärkt, indem er stets in Bewegung, dynamisch präsentiert wurde, wie die folgende Werbeanzeige von 1978 zeigt (Abb. 1, Quelle: Archiv DDB): Mit Blick auf die VW Golf I-Werbung kann gesagt werden, dass diese sich durch einen sehr sachlichen Umgang mit dem Produkt auszeichnete. Die gesellschaftliche Situation dieser Zeit forderte rationale Fahrzeuge mit ebensolchen Botschaften, und die VW Golf I-Werbung versuchte häufig, genau dieser Anforderung gerecht zu werden. Neben der geforderten Wirtschaftlichkeit von Automobilen ergab sich in dieser Zeit zusätzlich die Möglichkeit der Wettbewerbsdifferenzierung durch das Aufzeigen der Egalitäts- und Komforteigenschaften dieses Automobils. Es ist daher wenig überraschend,

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Abbildung 1: Werbeanzeige VW Golf I GTI

© Volkswagen AG, Fotograf: Heinz Kastrop

dass hoher „Gebrauchsnutzen“ und hohe wirtschaftliche „Vernunft“ die Bedeutungsangebote dominierten. 2. Die Fachpresse über den VW Golf I Wechselt man damit zu entsprechenden Stellungnahmen der damaligen Fachpresse, ausgesucht wurden insgesamt 37 Artikel, tauchen beinahe sämtliche Motive wieder auf, die schon für die VW Golf I-Werbekampagnen angesprochen wurden.3 Hervorgehoben wurde immer wieder dessen „Wirtschaftlichkeit durch geringe Unterhaltskosten. Der Golf ist der Maßstab und wird es wohl auch bleiben.“ (Gute Fahrt 11/1983: 12) Zugleich kam das Motiv „Solider Fahrspaß“ relativ häufig zur Sprache, insbesondere wenn es um den VW Golf I GTI ging, und trotz der hohen Absatzzahlen, immerhin Europas meist verkauftes Auto in nur wenigen Jahren, konnte man auch lesen: Er ist aber dennoch kein ‚Allerweltsauto‘. Wäre er das, dann würde er konventionell aussehen und hätte ein Stufenheck wie viele andere Autos auch. Beim Golf wurde das Kunststück fertiggebracht, in einer Zeit der inflationär ausufernden Zahl der Autoformen ein Auto zu bauen, das anders ist. […] Er ist nicht ausgesprochen schön – freilich auch nicht häßlich, sondern bei aller Originalität in Linienführung und Detailgestaltung perfekt. (Gute Fahrt 11/1977: 24)

3  Als Quellen wurden hier „Auto, Motor und Sport“ (AMS, http://www.auto-motorund-sport.de/) und „Gute Fahrt“ (http://www.gute-fahrt.de/) ausgewählt.

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Ferner wurde auf gewisse Kontinuitäten mit dem VW Käfer hingewiesen, schon allein dadurch, dass der VW Golf I in der Nachfolge des VW Käfer steht: „Der Käfer setzte nicht nur bezüglich der Verkaufszahlen Maßstäbe, sondern auch, was Zuverlässigkeit und Anspruchslosigkeit angeht. Gerade an den letzten Kriterien wird auch der Golf gemessen“ (AMS 16/1975: 30) − mit positiven Befunden. So wurde einmal ganz lapidar formuliert: „Er ist ein allgegenwärtiges Auto geworden wie der Käfer.“ (Gute Fahrt 6/1981, S. 15) Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Fachpresse im Umgang mit dem VW Golf I vor allem die wirtschaftliche Vernunft in den Mittelpunkt stellte. Im Zuge der Ölkrise 1973/74 waren Deutungen dieser Art ­wenig überraschend. Die gesellschaftliche Situation dieser Zeit postulierte Vernunft in allen Lebenssituationen. Allerdings spielten im Umgang mit dem Automobil auch Emotionen eine Rolle.4 Von daher wurde gerade der VW Golf I GTI zu einem bedeutsamen Teil der Beiträge der Fachpresse zum VW Golf I-Diskurs. 3. Kunden urteilen über den VW Golf I Geht man schließlich auf die Kunden ein, wofür insgesamt 22 Leserbriefe ausgewählt wurden, trifft man die bisherigen Interessensschwerpunkte zwar erneut an, aber in anderer Rangfolge.5 Denn die meisten Beiträge beschäftigten sich mit der „Ikone GTI“, da der VW Golf I GTI gerade für die Kunden in kürzester Zeit zu einem Star am Autohimmel aufstieg. So heißt es in einem Leserbrief aus dem Jahre 1976: Man kann dem Volkswagenwerk zu den neuen GTI-Modellen nur gratulieren. Namentlich der Golf tritt nicht mit reißerischer Optik, sondern vielmehr in gefälliger Funktionalität auf. Ganz im Gegensatz zu seinen unmittelbaren Markt-Konkurrenten, dem Kadett GT/E und dem Escort RS 2000, denen er überdies in den gebotenen Leistungen durchaus überlegen ist − und das mit etwa 400 cm3 geringerem Hubraum. Einem ausführlichen Test in Gute Fahrt sehe ich mit gespanntem Interesse entgegen.6

Im Anschluss daran folgten aber auch schon die Motive „Ökonomische Vernunft“ und „Wirtschaftlichkeit“, wie das folgende Zitat belegt, das sich auf den VW Golf I bezieht: „Meiner Meinung nach der vernünftigste Wagen, den VW je gebaut hat. Er sollte für die deutsche Automobilindustrie ein Vorbild modernen Fahrzeugbaus sein.“7 Dabei wird die gelobte Verbrauchseffizienz sogar auf den VW Golf I GTI angewandt: „Ich fahre bereits meinen zweiten GTI, der, ebenso wie der erste, Verbrauchswerte zwischen 7,4 und 8,5 l/100 km erreicht und das bei zügiger Fahrweise, im gemischten Betrieb. Auch im 4 

Vgl. Desmet et al. 2000: 111; Sheller 2004; Algesheimer et al. 2005: 20; Diez 2006: 45. Als Quellen wurden hier „Auto, Motor und Sport“ (AMS, http://www.auto-motorund-sport.de/) und „Gute Fahrt“ (http://www.gute-fahrt.de/) sowie die beiden Internetforen DoppelWOBber.de und GolfV.de ausgewählt. 6  Leserbrief (Reichrath) „Für und wider Kleinkraftwerke.“ (Gute Fahrt 10/1976: 6). 7  Leserbrief (Hörner), Gute Fahrt 11/1974, zum Thema Golf vs. Käfer. 5 

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Winter wurden 9 l/100 km kaum überschritten.“8 Schließlich sei noch erwähnt, dass immer wieder der Vergleich mit dem VW Käfer angestrengt wurde, was man das Beschwören einer Art „Familientradition“ nennen könnte, wie es in folgender Äußerung anklingt: „Das neue, moderne Auto bringt aber auch noch Dinge mit, die dem Käfer zum Erfolg verhalfen“.9 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass auf Seiten der Kunden die Thematisierung von Leidenschaft und Universalität im Umgang mit dem VW Golf I vorherrschten. Die Schwerpunkte lagen in emotionalen Deutungen, aber auch solchen, die einen universellen Anspruch des VW Golf I zur Sprache brachten. Darüber hinaus gab es die Thematisierung vor allem wirtschaftlicher Vernunft und eines ausgeprägten Gebrauchsnutzens. Und insgesamt ist festzustellen, dass Tonalität und Stilistik der Kunden- wie Fachpressebewertungen durch die Vorreiterrolle der Werbekommunikation weitgehend präjudiziert waren. Der VW Golf V: Tradition und Innovation halten sich die Waage Springt man von dieser ersten VW Golf-Generation knapp 30 Jahre in die Zukunft, und zwar in das Jahr 2003, als die fünfte Generation des VW Golf eingeführt wurde, liegt es auf der Hand, aufgrund der langen Erfolgsgeschichte des VW Golf und veränderter Zeitumstände ganz andere Bedeutungen, Ideen und Verbindungen zu erwarten, die von den drei „Akteuren“ Unternehmen, Fachpresse und Kunden in den damaligen Diskursprozess eingespeist wurden. Zeichnete sich das Diskursfeld von 1974 bis 1982 noch durch eine paradoxe Kombination aus Emotionalität und Rationalität aus, weil der VW Golf I Kompaktheit, Verbrauchseffizienz und Wirtschaftlichkeit, durch den VW Golf I GTI und das VW Golf I Cabrio aber auch Spaß und Sportlichkeit symbolisierte, hat man für das Jahr 2003 von ganz anderen Voraussetzungen auszugehen. So waren die Jahre vor und während der Einführung des VW Golf V durch eine schleppende Wirtschaftskonjunktur gekennzeichnet, verbunden mit einer spürbaren Kauf- und Konsumzurückhaltung − insofern durchaus krisengeplagt, wenngleich nicht ganz so gravierend wie zu Beginn der 1970er Jahre. Erst 2005 kam es zum Aufschwung. Zugleich waren die Ansprüche der Konsumenten über die Jahrzehnte erheblich gestiegen. Man erwartete Sicherheit, Komfort, reichlich Ausstattung und Umweltverträglichkeit bei moderaten Preisen. Überdies hatte der Erlebnisfaktor an Gewicht gewonnen. Alles wurde zur Marke aufgebauscht, Image und Ästhetik hatten sich inzwischen zu Leitwerten der Konsumkultur ausgewachsen. Schließlich sah gerade Volkswagen sich durch eine Reihe von Konkurrenzunternehmen in seinem Stammarkt, der Kompaktklasse, bedroht, weil dieser Markt die höchsten Ab8  9 

Leserbrief (Junge) „Der Beste der Golf-Klasse“ (Gute Fahrt 12/1980: 8). Leserbrief (Dünner), Gute Fahrt 11/1974, zum Thema Golf vs. Käfer.

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satzzahlen versprach und jeder nunmehr alles im Angebot bereit halten wollte: Autohersteller als Vollsortimenter sozusagen. Zudem hatte die VW GolfKlasse an Einzigartigkeit und Faszination eingebüßt, nicht zuletzt weil Design und Erscheinungsbild des VW Golf IV nicht mehr recht zu begeistern vermochten. 1. Die Werbung zum VW Golf V Hinsichtlich der Werbekampagnen, die Volkswagen für die Einführung des neuen VW Golf V durchführte, wurden sieben Werbeanzeigen ausgewählt. Im Vordergrund standen dabei die drei Motive „Fahrdynamik“, „Wirtschaftlichkeit“ und „Innovation“. Um mit dem Motiv „Fahrdynamik“ anzufangen, wurden die Anzeigen dieses Mal nicht bloß für den VW Golf V GTI, sondern auch schon für das Basismodell durch schnelle Bewegungsabläufe bestimmt. Dadurch sollte das dynamische Moment des VW Golf V-Fahrens herausgestellt werden, wie die folgende Abbildung zeigt (Abb. 2, Quelle: Archiv DDB): Abbildung 2: Werbeanzeige VW Golf V von 2003/04

© Volkswagen AG, Fotograf: Holger Wild

In gewisser Weise kann gesagt werden, dass das Merkmal der Sportlichkeit, das in besonderem Maße für den ersten VW Golf GTI von 1976 galt, ab 2003 auf alle Modelle der entsprechenden VW Golf V-Markenfamilie übertragen wurde. Freilich galt dies vor allem für den VW Golf V GTI selbst, wie der Text einer Anzeige aus dem Jahre 2005 zeigt:

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1976 wurde ein Mythos geboren, jetzt kehrt er zurück: mit FSI-Turbomotor und 147 kW (200 PS), Sportfahrwerk, ABS, ESP und ASR, 17“ Leichtmetallrädern und 225er Breitreifen, Heckspoiler, Top-Sportsitzen vorn und der Klimaanlage ‚Climatic‘. Denn wie bei seinen vier Vorgängern, haben wir auch beim neuen GTI eine ganz besondere Leidenschaft verwirklicht: maximalen Fahrspaß. Jetzt bei Ihrem Volkswagen Partner.

Gleichrangig wurden aber auch die Motive „Sicherheit“ und „Wirtschaftlichkeit“ herausgestellt. Neu war hingegen, dass Volkswagen mit dem VW Golf V einen gewissen Überlegenheitsanspruch verband, insofern als der Eindruck erweckt wurde, dieses Fahrzeug könne ohne Weiteres mit höheren Klassen in direkte Konkurrenz treten. Außerdem wurde der neuen Modellreihe eine weitere Komponente hinzugefügt, die man als „Leidenschaft“ bezeichnen könnte. Ausschlaggebend hierfür war insbesondere die Aussage „Für Jungs, die damals schon Männer waren.“, bezogen auf jene Generation, die als Kinder Ende der 1970er Jahre mit dem VW Golf I GTI groß geworden war. Die Aussage wurde jeweils illustriert durch kleine Videoclips, Photos oder Bilder, die auf die damalige Lebenswelt „richtiger Jungs“ im Vorschulalter verwiesen. Vom Bildaufbau handelte es sich stets um einen roten VW Golf V GTI in schneller Bewegung, durch den das sportliche Moment des VW Golf GTI V-Fahrens herausgestellt werden sollte. Hinzu kam ein weiteres Bildmotiv, von der Aufmachung her wie eine Originalaufnahme aus der damaligen Zeit, die einen kleinen Jungen zeigte, der schon von früher Kindheit an ein sehr männertypisches Verhalten an den Tag legte. Dieses Motivbündel der VW Golf GTI V-Anzeigen unterstrich Emotionalität und Dynamik gleichermaßen (Abb. 3, Quelle: Archiv DDB). Im Unterschied zur ersten VW Golf-Generation verfolgten die Beiträge, die sich qua Werbung dem Unternehmen Volkswagen AG zurechnen lassen, eine gleichberechtigte Thematisierung dynamischen und sicheren Fahrverhaltens aufgrund höchster Innovativität der Marke VW Golf V. Agilität im Sinne eines dynamischen Moments des VW Golf-Fahrens stand eindeutig im Vordergrund. Gleichzeitig sollte der Bezug zur Oberklasse intensiviert werden. 2. Die Fachpresse über den VW Golf V Die ausgewählten Beiträge der Fachpresse zur Einführung der fünften VW Golf-Generation, insgesamt 43 Artikel an der Zahl, verfolgten demgegenüber eine etwas andere Strategie. So wurde vor allem darauf geachtet, in welchem Maße die fünfte Generation in der Tradition der bisherigen VW Golf-Geschichte stand. Beständigkeit, Konstanz, Verlässlichkeit waren Aspekte, die hier vorrangig thematisiert wurden. Weiters ging es um die technische Überlegenheit dieser neuen Generation, die keineswegs den Vergleich mit höherklassigen Fahrzeugen zu scheuen bräuchte. So wurde etwa von „einem Phaeton im Miniaturformat“ (AMS 16/2003: 15) gesprochen. Aber auch die Wirtschaftlichkeitserwägungen kamen nicht zu kurz. Herausragend war übrigens

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Abbildung 3: Werbeanzeige VW Golf V GTI von 2003/04 © Volkswagen AG, ­Fotograf: Alex Rank

die Wirkung des VW Golf V GTI auf die Fachpresse. Hier überschlugen sich die Lobeshymnen geradezu. Alles in allem kann gesagt werden, dass die Fachpresse das Bewährte und Vernunftorientierte sowie die Überlegenheit der fünften VW Golf-Genera­ tion hervorhob. Zum Ausdruck kam auch der Wunsch nach Konstanz, be­ zogen auf Motive wie „Solidität“ und „Wirtschaftlichkeit“ oder auch „Fahrspaß“, seit jeher mit dem VW Golf verbunden. Speziell der VW Golf V GTI wurde von der Fachpresse wiederum als würdiger Nachfolger des VW Golf I GTI gedeutet und löste eine besondere emotionalisierende Wirkung auf die Fachpresse aus. Von daher kann festgestellt werden, dass sich die Beiträge der Fachpresse zu den Werbeanzeigen vergleichsweise eigensinnig verhielten, mit Ausnahme der Bedeutungsangebote zum VW Golf V GTI. Sie war stark ­retrospektiv ausgerichtet und glich ihre Deutungen mit bereits etablierten Bedeutungsinhalten zu vorherigen VW Golf-Modellen ab.

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3. Die Kunden über den VW Golf V Kommt man schließlich auf die Beiträge der Kunden zu sprechen, insgesamt 37 wurden dazu ausgewählt, so orientierten sich diese in erster Linie an Merkmalen wie Anschaffungskosten, Sicherheit, Wirtschaftlichkeit. Daneben wurde Fragen der Traditionspflege und Beständigkeit hohe Aufmerksamkeit geschenkt. So wurde der VW Golf V als würdiger Nachfolger der bisherigen VW Golf-Modelle wahrgenommen. Insgesamt kam eine hohe Markenloyalität zum Vorschein, wie man an folgendem Zitat ablesen kann: „Ich denke, daß der Golf immer Käufer finden wird. Viele haben ja ihr ganzes Autofahrerleben mit ihm verbracht und alle Generationen gefahren.“10 Oder auch: „Eines ist klar: Golf war Golf, ist Golf, wird Golf sein. Wiedererkennungsfaktor: 100 Prozent.“11 Zugleich hat die Skepsis auf Seiten der Kunden erheblich zugenommen, insofern als auch ein Bruch mit der Tradition bemängelt wurde, Kritik an den hohen Anschaffungskosten oder Zweifel an der Wirtschaftlichkeit der fünften VW Golf-Generation vorgebracht wurden. Dies ging bis zu Aussagen, die eine klare Ablehnung der fünften Generation beinhalteten. Ausgenommen hiervon war durchweg der VW Golf V GTI, der sehr viel positiven Zuspruch erhielt. So schrieb ein Kunde: „GTI-Fahren ist ein Glaubensbekenntnis und ein GTI ist ein GTI […] Ein richtiger GTI-Fahrer fährt den GTI, weil es ein GTI ist“.12 Hierzu gehört auch, dass dem VW Golf V GTI eine Höherklassigkeit bescheinigt wurde: „Der 5er hält echt schon mit Mercedes mit, mindestens mit der C-Klasse.“13 Außerdem wurden immer wieder die Zuverlässigkeit und vielseitige Einsetzbarkeit des VW Golf V betont. Insgesamt herrschte bei den Kunden ein wirtschaftlichkeitsorientierter und kritischer Umgang mit der fünften VW Golf-Generation vor. Aus Sicht der Kunden empfahlen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wirtschaftliche Vernunft, wie es schon im Zeitraum der ersten VW Golf-Generation der Fall gewesen war. Aber auch emotionale Aspekte waren bedeutsam für die Kunden. Jedoch konzentrierte sich die emotionalisierende Wirkung vor allem auf den VW Golf V GTI. In den Hintergrund rückten dagegen tech­nische Aspekte des VW Golf V – trotz ihrer prominenten Thematisierung in der VW Golf V-Werbung. Einen weiteren Kern bildete die kritische Reflexion, bis hin zur Rejektion. So wurde zwischen den Kunden sehr kon­ trovers über den VW Golf V diskutiert, was auf eine Diversifikation der Kunden und damit die Bildung einzelner Subgruppen hinweist. Dies zeigte 10  Aussage in Thread/Beitrag (5): DoppelWOBber.de, „Diskussion – Beerbt der Polo den Golf? Ist die Generation Golf tot?“ aus 2004. 11  Leserbrief „Und ewig grüßt das Golfgetier“ (AMS 17/2003: 106). 12  Aussage in Thread/Beitrag (20), GolfV.de, „Welchen Wagen soll ich nehmen?“ aus 2005. 13  Aussage in Thread/Beitrag (8), DoppelWOBber.de, „Erste Erfahrungen“ aus 2004.

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sich anhand verschiedener Themenschwerpunkte. Zum Beispiel gab es Deutungen, die gegen eine Individualisierung des VW Golf V gerichtet waren, wie auch solche, die das befürworteten. Die zunehmend kritische Reflexion von Bedeutungsinhalten schloss einen intensiven Austausch zwischen den Kunden mit ein. Meinungen zum VW Golf V wurden kollektiv gebildet. Die Bedeutungsangebote des Unternehmens rückten dabei zusehends in den Hintergrund. Auf die Fachpresse hingegen nahmen die Kunden teilweise Bezug. Allerdings wurden die Argumente der Fachpresse niemals unreflektiert übernommen, sondern stets im Kreise der Kunden zur Diskussion gestellt. Hilfreich war hierbei die zunehmende Digitalisierung des Lebens via Internet, die zu einem steigenden Informationsniveau führte und die Kommunikation zwischen den Kunden beschleunigte und vereinfachte. Auffallend ist somit, dass sich die Beiträge der Kunden – wie es bereits bei der Fachpresse zu beobachten war – zu den unternehmensseitigen Bedeutungsangeboten weitgehend autonom verhielten. Hingegen wurden Deutungen der Fach­ presse von den Kunden durchaus berücksichtigt. Von daher macht es den Eindruck, als ob die VW Golf V-Kunden von einem überlegten Konsum ­angeleitet wurden. Vergleich der Diskursfelder VW Golf I und VW Golf V Nachdem die beiden Diskursfelder VW Golf I und VW Golf V jeweils getrennt dargestellt wurden, sollen diese noch kurz miteinander verglichen werden. Das VW Golf I-Diskursfeld kann als eine „Chronik emotionalisierter Vernunft“ bezeichnet werden.14 Es weist auf eine emotiv-vernunftorientierte Markenkultur hin. Das VW Golf V-Diskursfeld erweist sich hingegen als eine „Chronik der Pluralität von Moderne und Tradition“ und weist auf eine kritisch-reflektierende, emotiv-vernunftorientierte Markenkultur hin.15 14  Die VW Golf I-Debatte in der BRD wurde als „Chronik emotionalisierter Vernunft“ bezeichnet, weil die Untersuchung gezeigt hatte, dass Emotionalität allein nicht hinreichend war, sondern als notwendigen Faktor vernunftorientierte Sachlichkeit erforderte. Als Beispiel dafür kann die Einführung des VW Golf I GTD herangezogen werden: Ein als vordergründig wirtschaftlich angebotenes und gedeutetes DieselFahrzeug in der Verpackung des emotionalisierenden VW Golf I GTI. 15  Auf Grundlage der empirisch rekonstruierten Diskurse zum VW Golf V erfolgte die Konstruktion des entsprechenden Diskursfeldes. Untersuchungsobjektübergreifend lässt sich das VW Golf V-Diskursfeld in der BRD als „Chronik einer Pluralität von Moderne und Tradition“ bezeichnen. Über sechs Jahre hinweg stritten zwei Diskurse über den VW Golf V, einerseits im Rahmen einer kritisch-retrospektiven Reflexion als bewährtes emotiv-vernunftorientiertes Fahrzeug, andererseits im Sinne einer zukunftsgerichteten Sichtweise als technisch innovatives und dynamisches Objekt. Diese zwei Diskurse, die das Diskursfeld des VW Golf V aufbauten, beruhten insgesamt auf folgenden elf Deutungsmustern: Vernunft, Gebrauchsnutzen, Understatement, Überlegenheit, Beständigkeit, Innovativität, Individualisierung, Leidenschaft, Dynamik, Skepsis und Abneigung.

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Innerhalb des VW Golf I-Diskursfeldes wurde darüber diskutiert, ob die Marke VW Golf eher vernunft- oder emotionsorientiert war.16 Als Ergebnis dieses kollektiven Aushandelns der Markenbedeutung wurde eine Übereinkunft gefunden, welche die emotionalen Aspekte eines VW Golf I durch sachliche Vernunft einrahmte. Entsprechend dominierte ein vernunftorientierter Sachlichkeits-Diskurs17 und beeinflusste den ebenfalls vorhandenen Emotionalitäts-Diskurs18 nachhaltig. Beim VW Golf V verhielt es sich anders. Der diachrone Vergleich der Diskursfelder verdeutlicht vor allem die Dauerhaftigkeit des VW Golf I-Diskursfeldes und damit der VW Golf I-Markenkultur. Diese vermochte sich offenbar bis in die fünfte VW Golf-Generation zu behaupten, soweit es die Kundensicht betrifft. So konnten innerhalb des VW Golf V-Diskursfeldes zwei Diskurse festgestellt werden, wobei einer dieser Diskurse – bezeichnet als kritisch fortgesetzter emotiv-vernunftorientierter Diskurs19 – im Grunde 16  Ein Beispiel ist folgende Aussage: „Man kann dem Volkswagenwerk zu den neuen GTI-Modellen nur gratulieren. Namentlich der Golf tritt nicht mit reißerischer Optik, sondern vielmehr in gefälliger Funktionalität auf. Ganz im Gegensatz zu seinen unmittelbaren Markt-Konkurrenten“ (Leserbrief Reichrath: „Für und wider Kleinkraftwerke.“, in: Gute Fahrt 10/1976: 6). 17  Der vernunftorientierte Sachlichkeits-Diskurs bestand aus fünf Deutungsmustern, die ihn strukturierten. Die zugehörigen Deutungsmuster wurden als Vernunft, Gebrauchsnutzen, Überlegenheit, Understatement und Innovativität bezeichnet. Dieser Diskurs handelte vom VW Golf I als rationales, vernunftorientiertes, nicht polarisierendes Fahrzeug, das als technisch überlegen angesehen wurde und über einen hohen wahrgenommenen Gebrauchsnutzen verfügte. Sämtliche Deutungsmuster dieses Diskurses standen stets in einem engen Zusammenhang mit dem Deutungsmuster Vernunft. 18  Der Emotionalitätsdiskurs wurde aus vier Deutungsmustern aufgebaut, die ihn strukturierten. Die zugehörigen Deutungsmuster wurden als Leidenschaft, Individualisierung, Skepsis und Beständigkeit bezeichnet. Dieser Diskurs handelte vom VW Golf I als emotionalisierendem Fahrzeug, das die nach der Krise wieder langsam aufkommenden Individualisierungswünsche im Rahmen der Nachfragerdifferenzierung bedienen konnte, dabei aber auch Bewährtes, Vertrautheit und Konstanz in einer Zeit des Wandels und der Veränderung anbot. 19  Dieser kritisch fortgesetzte emotiv-vernunftorientierte Diskurs wurde aus acht Deutungsmustern aufgebaut, die ihn strukturierten. Die zugehörigen Deutungsmuster wurden als Skepsis, Abneigung, Beständigkeit, Vernunft, Gebrauchsnutzen, Understatement, Leidenschaft und Individualisierung bezeichnet. Dieser Diskurs war stark geprägt durch die Markenverwender. Er handelte vom VW Golf V als bewährtes emotiv-vernunft-orientiertes Fahrzeug. Sämtliche Deutungsmuster dieses Diskurses standen stets in einem engen Zusammenhang mit dem Deutungsmuster Beständigkeit, welches von zentraler Bedeutung für diesen Diskurs war. Auffällig an diesem Diskurs ist ferner, dass er die VW Golf I-Markenkultur fortführte, indem er sich durch bereits aus der VW Golf I-Debatte bekannte Diskursstränge strukturierte. Neben dieser ­retrospektiven Sichtweise war die kritische Reflexion von Bedeutungsinhalten durch die Kunden innerhalb dieses Diskurses besonders ausgeprägt. Dieser Umstand wies auf einen überlegten Konsum der VW Golf V-Kunden hin. So gab es auf der einen Seite eine retro­spektiv geprägte Diskussion, die vornehmlich die vernunftorientierten Aspekte der Marke VW Golf hervorhob. Auf der anderen Seite gab es eine retrospektiv geprägte Diskussion, die hauptsächlich die emotiv-orientierten Aspekte der Marke

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das VW Golf I-Diskursfeld widerspiegelte und somit die VW Golf 1-Markenkultur weiterführte. Dieser Diskurs fand vornehmlich seitens der Kunden statt, die sich im Rahmen dieses Diskurses auf die ihnen historisch über­ lieferten Bedeutungen bezogen und damit die VW Golf-Markenkultur im Zeitverlauf weitertransportierten. Der zweite Diskurs, bezeichnet als innovationsorientierter Technik-Diskurs,20 war an die VW Golf I-Markenkultur kaum anschlussfähig, weil er wesentlich von neuen Bedeutungsangeboten des Unternehmens geprägt war.21 Für die Kunden besaß er aufgrund seiner mangelnden Anschlussfähigkeit an historische Bedeutungsinhalte nur wenig Relevanz.22 Folglich polarisierte der VW Golf V stark, und es entstanden unterschiedliche Ansichten über die Bedeutungen der Marke VW Golf zwischen Unternehmen und Kunden. Vor diesem Hintergrund kann festgestellt werden, dass „Vernunftorientierung“ und „Emotionsorientierung“ im Zeitverlauf die Schwerpunkte der VW Golf-Markenkultur darstellten, die zugleich einen Korridor aufspannten, innerhalb dessen sich die unternehmensseitig angebotenen Bedeutungen der Marke VW Golf bewegen mussten, um durch die Kunden keine Ablehnung zu erfahren (Hellmann 2003: 318ff.). Denn die VW Golf-Markenkultur wurde im Zeitverlauf durch eine zunehmend kritisch reflektierende Sichtweise geprägt, in der den kollektiv entwickelten Bedeutungen der Kunden ein besonderer Stellenwert zugewiesen wurde.23 Dieser Sachverhalt war vor allem VW Golf thematisierte und darüber hinaus vernunftorientierte Aspekte kritisch reflektierte. Aufgrund der engen Verbundenheit beider Diskursstränge mit dem Deutungsmuster Beständigkeit kann nicht von zwei unterschiedlichen Diskursen gesprochen werden, wie es im VW Golf I-Diskursfeld der Fall war. Vielmehr handelte es sich um zwei Diskursstränge des kritisch fortgesetzten emotiv-vernunft-orientierten Diskurses. Als „kritisch“ wurde dieser Diskurs vor allem deswegen beschrieben, weil das übergreifende Deutungsmuster Beständigkeit durch einen kritisch reflektierenden Standpunkt der Markenverwender geprägt war. 20  Der innovationsorientierte Technik-Diskurs wurde aus drei Deutungsmustern aufgebaut, die ihn strukturierten. Die zugehörigen Deutungsmuster wurden in der vorliegenden Arbeit als Innovativität, Dynamik und Überlegenheit bezeichnet. Dieser Diskurs handelte vom VW Golf V als dynamisches und revolutionäres Fahrzeug, das durch innovative Technik als Grundlage dynamischen Fahrverhaltens bei hoher Sicherheit überzeugte. Dieser Diskurs war stark geprägt durch die Bedeutungsangebote des Unternehmens. 21  Hierbei handelte es sich um die Deutungsmuster Innovativität und Dynamik, die diesen Diskurs schwerpunktartig prägten. Auf Seiten der Markenverwender besaßen diese Deutungsmuster jedoch nur wenig Relevanz. 22  Ein Beispiel hierfür ist folgende Aussage: „Mir ist der Golf auch zu groß und zu teuer geworden, womit er sich auch ein bißchen vom Ursprung des Golf entfernt.“ (Aussage in Thread/Beitrag (5): DoppelWOBber.de, „Diskussion − Beerbt der Polo den Golf? Ist die Generation Golf tot?“ aus 2004). 23  Ein Beispiel hierfür ist folgende Aussage: „Gut finde ich auch, daß er sich vom ‚normalen‘ Golf abhebt. Beim 4er konntest du kaum den GTI von anderen Modellen unterscheiden.“ (Aussage in Thread/Beitrag (1): DoppelWOBber.de, „Golf GTI“ aus 2004).

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dem gestiegenen Informationsniveau geschuldet. Nichtsdestotrotz ist die VW Golf-Markenkultur in ihrer Grundausrichtung weitgehend unverändert geblieben, sie besitzt inzwischen also ein beträchtliches Beharrungsvermögen (Hystereseeffekt) – sofern man der Hypothese folgt, dass das Aufspüren gleicher wie ungleicher Deutungselemente bei diesen beiden Diskursfeldern Anzeichen dafür ist, dass die VW Golf-Markenkultur über die Jahrzehnte hinweg gleichermaßen Kontinuitäten wie Diskontinuitäten aufweist.

Vorarbeiten zu einer systematisch angelegten Markenkulturforschung Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags war die Annahme, dass nicht nur das Automobil als solches, sondern auch einzelne Marken der Automobilbranche Kultstatus erlangen und kulturwissenschaftlich analysiert werden können. Als Beispiele wurden das Modell T von Ford, der VW Käfer und der VW Golf genannt. Wobei eine solche kulturelle Aufwertung einzelner (Auto)Marken häufig durch bestimmte Zeitumstände begünstigt wird. Speziell an der Modellreihe des VW Golf wurde dann aufzuzeigen versucht, dass und inwiefern von einer „Markenkultur“ gesprochen werden kann − „Markenkultur“ hier verstanden als eigenständiges Diskursuniversum, an dem mehrere Adressanten/Akteure („stake holder“) beteiligt sind, indem sie ihre Sicht der Dinge, ihre Bedeutungen, Erwartungen, Bewertungen bezüglich einer bestimmten (Auto)Marke öffentlich kundtun und damit Einfluss nehmen darauf, wie über diese Marke gesellschaftsweit kommuniziert wird. Als Quellen für eine empirisch orientierte Kulturforschung wurden textlich fassbare Stellungnahmen ausgewählt und ausgewertet, die im vorliegenden Fall dem Unternehmen Volkswagen, der einschlägigen Fachpresse und VW Golf-Kunden zugerechnet werden konnten. Wie der diachrone Vergleich zeigen sollte, waren die Bewertungen der ersten VW Golf-Generation durch Volkswagen, die Fachpresse und die Kunden weitgehend deckungsgleich, aufgrund des überwältigenden Einflusses der Werbung, während die Bewertungen der fünften VW Golf-Generation zwischen dem Unternehmen einerseits und der Fachpresse bzw. den Kunden ­andererseits doch erhebliche Unterschiede aufweisen. Diese Unterschiede, ­welche sich schon zwischen den am Markendiskurs Beteiligten ergaben, vor allem jedoch im zeitlichen Abstand an Bedeutung gewannen, machen deutlich, dass die Vorherrschaft gewisser Bedeutungen, Erwartungen und Bewertungen mitnichten nur eine Frage der Vorherrschaft des jeweiligen Unternehmens ist. Dynamik und Differenzierung könnten im Zeitverlauf sogar noch zunehmen. Markenkultur ist demnach weit mehr, als es ein Unternehmen allein aus seiner Sicht, wie groß es auch sein mag, wahrzunehmen imstande ist. Wobei hier der Fokus, wie erwähnt, lediglich auf textlich fassbare Stellungnahmen von drei Adressanten gelegt wurde − eine systematisch angelegte

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Markenkulturanalyse würde demgegenüber auf wesentlich mehr Quellen und Akteure zugreifen müssen, mit deutlich höherem Aufwand. Was in diesem Zusammenhang noch bedacht werden sollte, ist die Möglichkeit, dass sich Kunden deutlich stärker beteiligen, als dies hier durch Leser­briefe und vereinzelte Forenbeiträge manifest wurde. Schaut man etwa auf die neuere „brand community“-Forschung, entdeckt man, dass gerade bei Automarken gewisse Vergemeinschaftungseffekte zwischen den Kunden, und sei es nur vorübergehend, doch erstaunlich verbreitet sind (Aaker 1996; Algesheimer et al. 2005; Leigh et al. 2006; Hewer/Brownlie 2007; Lüdicke/ Giesler 2007; Hallay et al. 2008; Heun 2009; Hellmann/Raabe 2011). Die Untersuchung dieses Phänomens, so diffus es momentan noch erscheinen mag, dürfte sicherlich helfen, die Bedeutung von Markenkulturen in einer Gesellschaft, die immer mehr traditionale Institutionen der Vergemeinschaftung zu verlieren droht, noch besser zu erfassen und auf seine Relevanz hin zu bewerten, nicht bloß für die Automobilbranche.

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Luminita Gatejel

Die Hassliebe zum sozialistischen Automobil Zur Alltagsbewältigung in Planwirtschaften „Was macht mehr Kummer – noch kein Auto zu haben oder endlich eins zu besitzen?“1 Diese Aussage bringt die alltägliche Erfahrung sozialistischer Bürger mit dem eigenen Wagen genau auf dem Punkt. Trotz der einsetzen­ den Massenmotorisierung im Ostblock in den 1960er Jahren blieben private Automobile für viele Bürger über weite Jahre hinweg nur ein schöner Traum. Somit kann man die persönlichen Geschichten sozialistischer Autobesitzer sauber in eine Vorgeschichte, die Zeit des Wartens, und eine Zeit danach als Autobesitzer einteilen. Als diese nach jahrelanger Wartezeit das lang ersehnte Auto nach Hause fahren durften, veränderte sich ihr Leben grundsätzlich. Selbst Teil der automobilen Gesellschaft zu werden, war im Sozialismus so­ wohl eine hohe Gunst als auch eine große Erleichterung. Mit dem Auto ge­ wann der stolze Automobilist an sozialem Status und konnte seinen Alltag flexibler planen. Gleichzeitig waren die beneideten Autobesitzer jedoch mit unzähligen neuen Sorgen konfrontiert. Das Auto fahrtüchtig zu halten schien zumindest genauso schwierig zu sein wie eines zu ergattern. Denn es man­ gelte an allem: Ersatzteilen, Benzin oder Garagen in den Wohnsiedlungen. Und genau darin bestand das Dilemma eines jeden Automobilbesitzers in ­sozialistischen Gesellschaften: Einerseits ermöglichte ihm ein Eigenwagen den Zugang zu einem „besseren“ Leben, andererseits war er gezwungen, den Großteil seiner Freizeit mit der Instandhaltung des Autos zu verbringen. Die Hassliebe zum Automobil bildet den roten Faden dieses Artikels.2 Er nimmt die alltägliche Erfahrung mit dem eigenen Pkw in spätsozialistischen Gesellschaften unter die Lupe, beispielhaft gemacht an sowjetischen, ostdeut­ schen und rumänischen Bürgern. Die Geschichte wird primär aus der Per­ spektive der Konsumenten erzählt, über deren Hoffnungen und Erwartun­ gen, über deren Glück und Enttäuschungen wird ausführlich Bericht erstat­ tet. Insbesondere werden die Strategien sozialistischer Bürger im Umgang mit einem mangelhaften Konsumangebot festgehalten. In diesem Zusammenhang muss hervorgehoben werden, dass sich die ­Bürger auf das staatliche Konsumangebot einließen, gleichzeitig aber dieses 1 

Überschrift einer Karikatur aus der Zeitschrift „Der Eulenspiegel“: Unbestechlich, aber käuflich, 27 (1972) / 2, S. 15. 2  Die These dieses Artikels ist eine direkte Anspielung auf das berühmte Buch von Wolfgang Sachs: Die Liebe zum Automobil. Ein Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche, Hamburg 19902. Die Geschichte einer wachsenden automobilen Begeiste­ rung gilt grundsätzlich auch für die sozialistischen Länder, aber leider mit einigen Ein­ schnitten bedingt durch die Unzulänglichkeiten von Planwirtschaften.

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„eigensinnig“ umformten.3 Ziel der Untersuchung ist es, spezifische Verhal­ tensmuster sozialistischer Autofahrer herauszuarbeiten. Die Darstellung ist in drei Teile gegliedert: Nach einem einführenden Teil über die Entwicklung der Massenmotorisierung in der DDR, der UdSSR und Rumänien, werden anschließend die letzte Tage nach jahrelanger Wartezeit, die den zukünftigen Besitzer von ihrem Wagen trennten, beschrieben, um dann im letzten Ab­ schnitt den Blick auf die Gestaltung des automobilen Alltags zu richten. Die Wahl einer Erzählperspektive „von unten“ mag, wenn es um sozialisti­ sche Gesellschaften geht, ungewöhnlich erscheinen. Dieses gilt umso mehr, wenn benutzte Dokumente (z. B. Bittschriften oder Beschwerdebriefe) den staatlichen Behörden entstammen. Allgemein lautet die Ansicht, man würde aus diesen Akten mehr über den Staat und die Arbeitsmethoden unterschied­ licher Behörden erfahren als über die Bürger selbst. Einerseits erlernten die Bürger die „Sprache der Macht“, durch die sie ihre persönlichen Anliegen er­ folgreich zum Ausdruck bringen konnten. Als außenstehender Beobachter ist man immer wieder aufs Neue überrascht wie oft, wie ausführlich und aus ­welchen Anlässen an die Behörden geschrieben wurde. Egal, ob man ein ­verlorenes Recht wieder zurückerhalten wollte, materielle Ansprüche erhob, jemanden denunzierte oder einfach einen Bericht ablieferte, diese Eingaben spiegelten einen vielschichtigen Kommunikationsprozess zwischen Staat und Bürgern.4 Die Sprache der Eingaben gestaltete sich äußerst formelhaft, die ver­ wendeten Argumentationsmuster und Erzählstrukturen blieben in den einzel­ nen Briefen sehr normiert. Andererseits sind die Schreiben an die Behörden weit weniger einheitlich als erwartet und neben den Standardsätzen machen sich auch überraschende Behauptungen Platz. Aus einer Tiefenanalyse der zu Papier gebrachten Wünsche ergibt sich die Chance, ein Stück näher an die Menschen heranzukommen. Diese quasi einseitige Auswertung von Eingaben wird durch Memoiren, Tagebücher und literarische Verarbeitungen ergänzt.

Die Massenmotorisierung in der DDR, der UdSSR und ­Rumänien Der Beitrag der sozialistischen Länder zur automobilen Revolution fällt eher bescheiden aus. Die individuelle Motorisierung kam in diesen Staaten nur schleppend voran, obwohl die Werke einiger der berühmtesten Autoherstel­ ler der Zwischenkriegszeit, wie Škoda, BMW und Horch, weiterhin in Be­ 3  Thomas Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftgeschichte der DDR, Köln 1999. 4  Zum Eingabenwesen siehe: Sheila Fitzpatrick: Tear Off the Mask! Identity and Im­ posture in 20th Century Russia, Princeton 2005; Jonathan B. Zatlin: The Currency of Socialism. Money and Political Culture in East Germany, Cambridge 2007, S. 286– 320.

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trieb waren. Gleich nach dem Krieg war die Situation der Automobilindus­ trie auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands na­ hezu katastrophal. Diejenigen Produktionseinheiten, die nicht im Krieg zerstört wurden, gingen entweder in den Staatsbesitz der DDR über oder wurden demontiert und in die Sowjetunion abtransportiert. Ab 1952 ent­ spannte sich die Lage, als die Sowjetunion auf weitere Reparationsleistungen verzichtete. Bis Mitte der 1950er Jahre beruhte die ganze Pkw-Produktion auf den Vorkriegszeitmodellen von DKW und BMW.5 Ein Neuanfang für die Pkw-Produktion in der DDR war das Jahr 1954, als per Beschluss des Ministerrates die Entwicklung zweier neuer Pkw-Typen festgelegt wurde. In Zwickau war die Produktion eines Kleinwagens, der zu­ erst als P 50 bezeichnet und später in Trabant umbenannt wurde, vorgesehen, während in Eisenach ein neuer Mittelklassewagen namens Wartburg 311 vom Band laufen sollte.6 Mit diesem Typenprogramm werden die Weichen für die zukünftige Motorisierung der DDR gestellt. Trotz der anfänglichen Schwie­ rigkeiten schafften es die ostdeutschen Verantwortlichen, eine funktionsfähi­ ge Pkw-Produktion aufzubauen, obwohl in den ersten Jahren die Produk­ tionskapazität recht bescheiden blieb. In Zahlen ausgedrückt, wurden 1950 in Eisenach 3 649 und in Zwickau 3 516 Pkws produziert. Danach stieg die Pkw-Produktion stetig, 1960 erreichten die beiden Standorte eine Stückzahl von 64 071, 1970 waren es schon 126 110 Stück und 1989 schließlich 216 969. Die steigenden Produktionszahlen spiegeln sich auch in dem wachsenden Pkw-Besitz wider, der mit 220 Pkws/1 000 Einwohner im Jahr der Wende der höchste im Ostblock war, aber nach wie vor weit hinter den Werten in Westeuropa lag.7 Für die Sowjetunion gilt, dass die individuelle Massenmotorisierung bis Mitte der 1960er Jahre keine Priorität für die Wirtschaftsplanung hatte. Pkws wurden ausschließlich der politischen Elite zur Verfügung gestellt. Normale Bürger hatten Zugang zu Personenkraftwagen nur durch die staatlichen Mietwagenzentren, die bei weitem den Bedarf nicht decken konnten. Zwar stiegen die Produktionszahlen für Pkws in den zwei sowjetischen Werken in Gorki und Moskau nach Kriegsende konstant, blieben aber trotzdem auf sehr niedrigem Niveau. Nach dem absoluten Tiefpunkt des Jahres 1946 – als nur 6 289 Pkws produziert wurden – steigerte sich die Produktivität auf 113 588 Stück im Jahre 1957 und 185 159 Stück 1964.8 5  Reinhold Bauer: Pkw-Bau in der DDR. Zur Innovationsschwäche von Zentralver­ waltungswirtschaften, Frankfurt am Main 1999, S. 49–62. 6  Bundesarchiv Berlin (BArchB), Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisati­ on der DDR (SAPMO), DC20-I/4/51. 7  Bauer: Pkw-Bau (Anm. 5), S. 317f.; Andrea Söhnchen: Innovative Technologie für den ruhenden Verkehr in Stadtzentren und verdichteten Wohngebieten: eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 14. November 1994 in Jena, Bonn 1995, S. 52. 8  Lewis H. Siegelbaum: Cars for Comrades. The Life of the Soviet Automobil, Ithaca 2008, S. 219.

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Erst Mitte der 1960er Jahre lief ein groß angelegtes Programm zur Moder­ nisierung der Kraftwagenproduktion in der UdSSR an, die den privaten Au­ tobesitz verbreiten sollte. Als Folge wurde in Tol’jatti an der Wolga eine neue Autostadt aus dem Boden gestampft, in der unter Fiat-Lizenz das sowjetische Auto Lada vom Band lief.9 Infolgedessen verdoppelte sich die Zahl der pro­ duzierten Pkws in der UdSSR: Im Vergleich zum Jahr 1964 als 185 159 Pkws produziert wurden, waren es schon 1970 344 000 Stück, und zum ersten Mal wurden 1975 mehr Pkws als Lkws hergestellt. Gleichzeitig stieg der Pkw-­ Besitz von 2% aller Haushalte 1970 auf 10% 1980 und 15% 1985.10 Auch Rumänien machte zur selben Zeit erste Erfahrung mit der Individualmotori­ sierung: Nach der Aufnahme der Produktion des ersten rumänischen Mittel­ klassewagen Dacia –­ eine Renault-Lizenz – stieg zwischen 1970 und 1980 die Pkw-Produktion von 23 604 auf 88 231 Stück. Und während 1965 mit 1,2 Au­ tos verteilt auf 1 000 Einwohner erst das Niveau von 1939 wieder erreicht wurde, so waren es kurz vor der Wende 58 Pkws pro 1 000 Einwohner.11 Die höchsten Produktionszahlen wurden in allen drei Ländern Mitte der 1970er erreicht, Werte die bis zum Fall der Mauer konstant bleiben sollten.12 Die geographische Verteilung der Pkws innerhalb des Ostblocks zeigt, dass Großstädte und vor allem Hauptstädte sichtlich bevorzugt wurden. So wurden z. B. jährlich genauso so viele Pkws den beiden Hauptstädten Lenin­ grad und Moskau zugeschrieben wie für die gesamte Weißrussische Repub­ lik.13 Was die Verteilung auf soziale Schichten anbelangt, so ist deutlich er­ kennbar, dass der Pkw-Besitz ein Politikum war. In allen drei Ländern war die Nomenklatura deutlich bevorzugt, sowohl durch kürzere Wartezeiten als auch durch leichteren Zugang zu leistungsstärkeren Autotypen.14 Weit ver­ breitet war auch, dass private Pkws als Anreiz benutzt wurden, höhere Leis­ tungen von Arbeitern in Schlüsselbetrieben zu belohnen. Aber es gab durch­ aus eine soziale Komponente der Autoverteilung, denn Veteranen in der Sowjetunion bzw. Schwerbehinderten und kinderreichen Familien in der DDR wurden jährlich Autokontingente außerhalb der Wartelisten zur Ver­ fügung gestellt.15 9 

Siegelbaum: Cars (Anm. 8), S. 99. Archivele Nationale Istorice Centrale (ANIC), Fond C.C. al P.C.R., Cancelarie, dosar nr. 105/1966, Stenograma ședinţei Comitelului Executiv al C.C. al P.C.R. din 16. august 1966, o. S.; Siegelbaum: Cars (Anm. 8), S. 238f. 11  Chiriac Vasiliu: Autoturismul in România. Istorie și Tehnica, București 1994, S. 285. 12  Vasiliu: Automobilul (Anm. 11), S. 286; Siegelbaum: Cars (Anm. 8), S. 239; Bauer: Pkw-Bau (Anm. 5), S. 317f. 13  Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Ekonomiki (RGAE), f. 465, op. 1, d. 1606, l. 65. 14  Peter Hübner: Reformen in der DDR der sechziger Jahre: Konsum- und Sozialpo­ litik, in: Christoph Boyer (Hrsg.): Sozialistische Wirtschaftsreformen. Tschechoslowa­ kei und DDR im Vergleich, Frankfurt am Main 2006, S. 529; RGAE, f. 465, op. 1, d. 1579, l. 129, d. 1581, l. 130. 15  Mark Edele: Soviet Veterans as an Entitlement Group, 1945–1955, in: Slavic Review 65 (2006), S. 111–137; BArchB., DL 1/22953, o. S., 13. 03. 1977. 10 

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Mit der „zweiten“ Generation von Pkws­ – produziert nach westlichen Li­ zenzen, den neuen sozialistischen Varianten der Marken Renault und Fiat – ­differenzierte sich das Produktsortiment auf dem innersozialistischen Markt. Auch wenn der Kauf eines Eigenwagens bis zur Wende mit zahlreichen De­ mütigungen verbunden war, hatten die sozialistischen Bürger seit den 1970er Jahren zumindest eingeschränkt die Qual der Wahl. Bis in die 1960er Jahre sah die automobile Hierarchie in der Sowjetunion noch ganz simpel aus: Es gab fünf verschiedene Autotypen sowjetischer Produktion, die unterschied­ lichen Autoklassen angehörten und die für ganz bestimmte soziale Gruppen gefertigt wurden. Ganz unten auf der Skala befand sich die so genannte Mikro­klasse (mikrolitražnyj avtomobil’) repräsentiert vom Zaporožec, spe­ ziell für Invalide gebaut, dann folgte die Kleinwagenklasse (malolitražnyj ­avtomobil’) dargestellt vom Moskvič 410, hergestellt für den Individualver­ kehr, die mittlere Klasse (avtomobil’ srednego klassa) repräsentiert vom ­Volga, für Partei- und Staatsfunktionäre oder berühmte Persönlichkeiten ­reserviert, die Großklasse (avtomobil’ bol’šogo klassa), versinnbildlicht durch den Wagen Čaika, gebaut für hohe Staatswürdenträger und Angestellte der Botschaften und schließlich ganz oben auf der Skala die hohe Klasse (avto­ mobil’ vyšego klassa), ZIL-111, der Staat auf Rädern par excellence, für die höchsten Vorsitzenden von Staat und Partei bei offiziellen Besuchen.16 Hier haben wir eine klare und deutliche Übersicht sowohl über die sowjetische Autoproduktion, als auch über den gesellschaftlichen und politischen Nut­ zen dieser Fahrzeuge. Diese Auflistung von Autoklassen mit ihren zugeschriebenen Nutzern verbarg die Quintessenz sozialistischer Automobilitätsvision: die Reduzie­ rung des Warensortiments auf das absolut Nötigste und die Übersichtlich­ keit. Die Existenz weiterer Produkte mit gleichen oder ähnlichen Charakte­ ristiken, die dieselbe Gruppe von „Kunden“ umwarb, war somit ausgeschlos­ sen. Der Platz eines jeden Wagens in der automobilen Taxonomie sollte auf den ersten Blick erkennbar sein. Ein Wagen für alle war nicht die Grundidee der sowjetischen Mobilität, sondern je ein Wagentyp für jeweils eine ausge­ wählte soziale bzw. politische Gruppe. Der Status der Person hinter dem Lenkrad oder der beförderten Passagiere sollte beim Vorbeifahren sofort er­ kennbar sein. Diese automobile Hierarchie wurde in einer abgeschwächten Form an die Satellitenstaaten weitergegeben. Die DDR-Autoproduktion be­ stand aus dem Jedermann-Wagen Trabant und dem Mittelklassewagen Wart­ burg. Rumänische Fahrzeuge waren der Dacia, ein Mittelklassewagen neue­ rer Herstellung, der ARO, ein Geländewagen hauptsächlich für die Landbe­ völkerung und für abseits gelegene Gegenden bestimmt und der späte Oltcit, ein kleiner, einfacher Zweitürer, erstmalig 1982 nach einer Citroën-Lizenz

16 

Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Novejšej Istorii (RGANI), f. 5, op. 30, d. 262, l. 51.

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produziert.17 Importe aus dem sozialistischen Lager, vor allem aus der Sowjetunion, sollten die eventuellen Lücken auf der automobilen Skala de­ cken. Jedoch gab es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Motorisie­ rungsprogramm in der UdSSR und denjenigen in der DDR sowie in Rumä­ nien. In der Sowjetunion dominierte in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Krieg eine vertikale Versorgung mit Autos. Dagegen maß sich in den beiden Satellitenstaaten der Erfolg der Motorisierung am Anspruch, ein Auto für jeden Bürger bereitstellen zu können. Erst mit Brežnevs Einzug in den Kreml wurde auch hier dieselbe Strategie verfolgt. Der Lada, der als Folge dieser neuen Motorisierungskampagne produziert wurde, passte nicht mehr in die oben genannte automobile Hierarchie. Da er für die breite Masse her­ gestellt wurde, fehlte eine bevorzugte soziale Gruppe als Empfänger. Ab den 1970er Jahren personalisierten sich die vorgegebenen Hierarchien nach Klassen zunehmend. Durch einen verbreiteten Zugang zu Importautos (meisten aus dem sozialistische Ausland und nur selten Westautos) lohnte es sich für die Käufer genau zu überlegen, welchen Wagen man am besten be­ stellen sollte. Das klassische Preis-Leistungsverhältnis beim Erwerb eines Neuwagens war vielen anderen Faktoren untergeordnet. Sicherlich war ein niedriger Preis ausschlaggebend für viele Anwärter wie z. B. Arbeiter ohne Fachausbildung oder Rentner. Für diese Gruppen kamen meistens Autos wie Trabant und Zaporožec in Frage.18 Laut einer Umfrage des Leipziger Mei­ nungsforschungsinstituts wurde das Auto in den 1970er Jahren zum Spar­ wunsch Nr. 1 für die ostdeutsche Bevölkerung. Um ein Auto erwerben zu können, nahm man etliche alltägliche Mängel in Kauf. Vor allem die oben erwähnten sozialen Gruppen verzichteten auf andere Konsumwünsche, wenn sie sich für ein Auto entschieden hatten.19 Aus den Briefen an die jeweiligen Handelsministerien ist zu entnehmen, dass sich die Autowünsche über die Zeit wandelten. Es ist aber nicht immer herauszulesen, dass die neueren und leistungsstärkeren Modelle der zweiten Generation im Vergleich zu den altbekannten Autotypen bevorzugt wurden. Diese neuen Autotypen boten zwar eine Alternative zu den Modellen der späten 1950er Jahre, aber der allgemeine Automangel machte die letzteren weiterhin markttauglich. Grundsätzlich bevorzugten Besserverdiener die leistungsstärkeren Autos, z. B. war der Lada das beliebteste Auto der sowje­ tischen Ingenieure.20 Allgemein ist festzuhalten, dass die einheimischen ­Autos deutlich bevorzugt wurden, weil die sozialistischen Autofahrer gelernt 17 

Vasiliu: Automobilul (Anm. 11), S. 166ff. BArchB, DL1/2292, o. S. (25. 05. 1977), Siegelbaum: Cars (Anm. 8), S. 239. 19  Werner Bischoff: Zu einigen Problemen im Zusammenhang mit der Entwicklung des Motortourismus in der DDR, in: Mitteilungen des Instituts für Marktforschung (MIfMF), 1973/1, S. 17–22, hier S. 17. 20  Siegelbaum: Cars (Anm. 8), S. 241. 18 

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hatten praktisch zu sein. Für die ausländischen Modelle musste man im Schnitt länger warten und die Ersatzteile waren erheblich aufwändiger zu finden. In Verbindung mit den einheimischen Autos schätzte man eine ge­ wisse Vertrautheit mit den älteren Modellen. Weil man die Autos so gut kannte, fiel einem das Improvisieren bei Reparaturmängeln leichter. So bleibt zu konstatieren, dass sich die Mehrheit der zukünftigen Autobesitzer be­ wusst und nicht nur aus Zwang für die einheimischen Modelle entschied.21 Nur wenige westliche Autos fuhren auf sozialistischen Wegen. In diesen fuhren vor allem die Staatswürdenträger. Bekannt war Ceaușescus Vorliebe für Mercedes und amerikanische Limousinen. Die Mitglieder des ostdeut­ schen ZKs ließen sich lieber in Volvos herumfahren. Nur die sowjetische Nomenklatura fuhr einheimische Limousinen.22 Aber man muss nicht so hoch schauen, um kapitalistische Autos zu finden. Als Anfang der 1980er Jahre das Projekt eines Gemeinschaftsautos zwischen der DDR und der Tschechoslowakei scheiterte23, veranlasste die DDR-Regierung den Import von westlichen Autos, um die Bedarfsnot zu lindern.24 Dies hatte zur Folge, dass die alten Dienstautos der höheren und mittleren Staatsangestellten durch das Modell Peugeot 305 ersetzt wurden.25 Zusätzlich dazu konnte eine limi­ tierte Anzahl von VW Golfs und Mazdas in Berlin erworben werden.26 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich seit den 1960er Jah­ ren im automobilen Geschmack und im Autobesitz eine zunehmende Dis­ tanzierung von der oktroyierten Autohierarchie ablesen lässt. Die vorherige automobile Klassengesellschaft wurde allmählich von einer persönlichen ­Bindung zum eigenen Auto ersetzt. Ein Auto zu kaufen, bedeutete nun eine komplizierte Entscheidung, in der auf Preis, Verbrauch und Motorleistung geachtet wurde. Man kann von einer verspäteten „Normalisierung“ des sozi­ alistischen Automarktes und seiner Annäherung an das westliche Konsum­ modell sprechen. Einerseits finden wir dieselben Merkmale, wie in der „sloa­ nistischen“ Tradition, andererseits kommen einige sozialistische Eigenarten zum Vorschein. So läuft z. B. die konstante Vorliebe für die älteren einheimi­ schen Marken dieser Entwicklung entgegen. Auch verhinderte der Mangel eine wirklich individuelle Entscheidung zugunsten eines bestimmten Autos.

21 

BArchB, DL1/22953, o. S. (20. 06. 1977); (10. 07. 1977), DL1/22952, o. S. (27. 03.  1977). 22  Susanne Grosse: Ostalgie im Blaulichtmuseum, in: Stern, 25. 09. 2000, http://www. stern.de/auto/autowelt/ostalgie-im-blaulichtmuseum-vom-rettungswagen-bis-zurstaatskarosse-545108.html (15. 03. 2013); Thomas Kunze: Nicolae Ceaușescu: eine Biographie, Berlin 2000, S. 249–251; Siegelbaum: Cars (Anm. 8), S. 242. 23  Bauer: Pkw-Bau (Anm. 5), S. 250 24  BArchB, SAPMO, DY30/ J IV 2/2 1529, 17. 7. 1973, 45f.; Siehe auch: „Dampf ma­ chen. Ost-Berlin erwägt als Gegenleistung für mehr Bonner Wirtschaftshilfe“, in: Der Spiegel 4/1976 (18. 10. 1976), S. 56. 25  BArchB, SAPMO, DY30/9171 (Büro des Politbüros), 23. 10. 1979, S. 22f. 26  BArchB, DL1/22953, o. S. (14. 03. 1977); SAPMO, DY30/9064, o. S. ( 21. 08. 1981).

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Aber trotz dieser Unzulänglichkeiten entwickelte sich auch im Osten eine lebendige automobile Konsumlandschaft.

Ein glücklicher Tag „Jener Julitag unterschied sich in nichts von anderen Tagen: die Hitze war höllisch. Doch für mich und Serjoža war das ein besonderer Tag: Wir fuhren zum Laden zwecks Kauf eines Žigulis“.27 Zwischen Benachrichtigung und tatsächlichem Autoerhalt vergingen zwei Wochen. Die Zeit dazwischen war eine einzige Qual. Nach einem unglaublich langen und komplizierten Papier­ krieg, nachdem auch die letzten Genehmigungen geholt und die letzten Ge­ bühren bezahlt wurden, erreichten sie schließlich den Moskauer Südhafen. Hier wurden sie mit der Tatsache konfrontiert, dass der Autotransport aus Tol’jatti noch nicht angekommen war und keiner der Angestellten konnte sagen, wann er tatsächlich eintreffen würde. Insgesamt dauerte die eigent­ liche Lieferzeit zwei Wochen, die Frau musste Urlaub nehmen, um tagsüber, manchmal auch nachts, am Südhafen Wache zu halten. Als endlich der Trans­ port ankam, waren Formulare auszufüllen, und nach vielem hin und her, kam sie endlich in Besitz ihres Autos. „Kurz gesagt, um sechs Uhr abends fuhren wir im Žiguli nach Hause, am Steuer der glückliche Serjoža, den ich bei sei­ ner Arbeitsstelle angerufen hatte.“28 Der „glückliche Serjoža“ – nach all dem, was die Familie durchstehen musste, klang es nach bitterer Ironie. Oder war es etwa ernst gemeint? Der Kauf eines neuen bzw. gebrauchten Wagens war das Schlüsselereignis schlechthin im Leben eines sozialistischen Autoenthusiasten in Gesellschaf­ ten mit mangelnder Konsumversorgung. Diese kleine Begebenheit in Mos­ kau des Jahres 1972 beinhaltet eine Variante des bekannten Widerspruchs im Leben sozialistischer Bürger, das uns im Laufe dieses Abschnitts begleiten wird: Fiebrig auf das Auto warten, trotz zahlreicher Hindernisse. Der Tag, an dem nach jahrelangem Warten die Abholbenachrichtigung endlich eintraf, sollte ein großer Tag in ihrem Leben werden, ein Tag des Triumphes schlecht­ hin. Aber das Glück war nur von kurzer Dauer. Zahlreiche Probleme und Hürden, die sich zwischen Käufer und Auto stellten, trübten das Glück. Was in diesem Abschnitt folgt, ist eine detaillierte Beschreibung der vielen kleinen Schritte, die nicht immer gradlinig verliefen, aber letztendlich zu einem Auto­ erwerb führten. Es soll gezeigt werden, wie kompliziert und verworren ein derart einfacher Akt unter sozialistischen Bedingungen war. Die folgenden Ausführungen dienen als Einstieg in das Leben sozialisti­ scher Autoenthusiasten. Hier sollen die Autobenutzer zu Wort kommen. Denn der scheinbar banale Kauf eines Autos vermittelt uns eine Fülle von 27  28 

Natalija Il’ina: My pokupaem avtomobil’, in: Literaturnaja Gazeta, 1972/ 47, S. 12. Il’ina: Avtomobil’ (Anm. 27), S. 12.

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Details zum Alltag unter sozialistischen Bedingungen. Hier treffen zum ers­ ten Mal Auto und Fahrer aufeinander. Für die reibungslose Übergabe der neuen Autos waren unterschiedliche Akteure verantwortlich: staatliche Be­ hörden, Planer, Arbeiter der Automobilindustrie, Verteiler, manchmal er­ gänzt von lokalen Gremien und Meinungsforschern. So bietet der Kauf eines Autos auch einen Quereinblick in das Funktionieren der sozialistischen Plan­ wirtschaften. Die Planbarkeit sowohl der wirtschaftlichen Abläufe als auch der gesellschaftlichen und persönlichen Bedürfnisse waren die zwei Koordi­ naten, an denen sich Volkswirtschaften ausrichteten. Die Zentralisierung der Ressourcen und ihre planmäßige Weitergabe an untergeordnete Instanzen gab den höchsten Planungsbehörden den Vorteil mit Hilfe von Verteilungs­ plänen alle wirtschaftlichen Abläufe unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Fünfjahrespläne und der Bedarf der Konsumenten sollten über die Vertei­ lungspläne in Einklang gebracht werden. Der Versorgungsalltag sah aber entscheidend anderes aus, wie auch die Geschichte von Serjoža zeigt. Viele andere Geschichten können hinzugezo­ gen werden. In manchen Fällen schafften es die frischen Autobesitzer mit ihrem erworbenen Prestigeobjekt nicht einmal bis nach Hause, weil der ­Wagen auf dem Weg kaputt ging. So beklagte sich ein Einwohner des östlich des Ural gelegenen Tjumensker Bezirks, der am 6. März 1974 in der Bezirks­ hauptstadt seinen neuen Wagen VAZ 2103 abholte, dass dieser nach nur 342 km auf der Strecke liegen blieb. Von dort wurde er von einem Freund abge­ schleppt und nicht von einem spezialisierten Service nach Hause gebracht. Nach näherer Prüfung in der Werkstatt wurden Produktionsfehler am linken Reifen und an der Bremsscheibe gefunden. Für weiteren Überdruss sorgte die Tatsache, dass er die Reparaturkosten aus eigener Tasche zahlen musste, obwohl das Auto noch Garantie hatte. Auf seine Anfragen hin verweigerten ihm sowohl das Autohaus in Iminsk als auch die Fabrik in Tol’jatti die Rück­ erstattung der Kosten.29 Auch andere Bürger klagten, dass der Wagen kurz nach dem Erwerb Betriebsschäden aufwies oder in einem mangelhaften Zu­ stand ausgeliefert worden war.30 Die zuständigen Behörden wussten Bescheid von den zahlreichen Pkws, die mit Mängeln die jeweiligen Produktionsstätten verließen. So entdeckte man 1976 eine große Anzahl von Produktionsfehlern beim Automobil Moskvič-2140, nachdem sich viele Bürger in Briefen und bei der Presse be­ schwert hatten und daraufhin eine Untersuchung eingeleitet worden war.31 Ähnlich erging es einer Kontrollkommission in der DDR, die die importier­ ten Automobile aus der Sowjetunion in Empfang nahm. Die 1963 und 1965 eingegangenen Automobile der Typen Volga und Moskvič hatten erhebliche

29 

RGANI, f. 5, op. 67, d. 369, l. 84. BArchB, DL1/22953, o. S. (13. 04. 1977); (25. 05. 1977). 31  RGANI, f. 5, op. 69, d. 1159, l. 15. 30 

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Produktions- und Transportschäden.32 Auch die rumänische Exportfirma „Daciaexport“ erhielt wiederholt Beschwerden aus dem Ausland, die die Qualität der ausgelieferten Pkws und die unzureichenden Serviceleistungen beanstandeten. Geklagt wurde auch über Rückstände bei der Erfüllung der vertraglich festgehaltenen Lieferquoten. 33 Die Lage entspannte sich in den nächsten Jahren kaum. Eine Erklärung dafür ist, dass die höheren Produk­ tionszahlen der 1970er Jahre nur mit Einbußen in der Qualität erzielt werden konnten. Und gerade an der Automobilindustrie kann exemplarisch gezeigt werden, dass sozialistische Planwirtschaften erhebliche Probleme hatten, ver­ tragliche Vereinbarungen pünktlich einzuhalten. Die Abstimmung mit den Rohstoff- und Teillieferanten funktionierte schlecht, was wiederum den Pro­ duktionsablauf im Automobilwerk selbst verzögerte. Diese Produktions­ mängel wurden an den Verbraucher weitergereicht. Aber immerhin hatten diese Bürger ein Auto, auch wenn es sich um einen reparaturbedürftiges handelte. Eine Familie aus der DDR, die auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitete und sich auf der Reise nach Brasilien befand, er­ reichten im kurzen Abstand zwei Briefe: Der erste war die Abholbenachrich­ tigung für den Neuwagen und der zweite beinhaltete die Information, die Familie hätte den Anspruch auf das Auto verloren, weil sie nicht zum ge­ nannten Abholtermin erschienen war. Dass ein Verwandter ihre Abwesenheit zu erklären versuchte, wurde nicht beachtet. Erst eine schriftliche Beschwer­ de bei höheren Instanzen gab der Familie Recht und ein neues Auto wurde ihnen zugeteilt.34 Und ähnlich gestaltete sich der Fall eines Soldaten, der ge­ rade einberufen wurde und somit das Auto nicht selbst abholen konnte. In einem ersten Anlauf durfte seine Mutter auch nicht den Wagen für ihn abho­ len, worauf sie Einspruch einlegte. Leider gibt es keine zusätzlichen Infor­ mationen zum weiteren Verlauf des Falles.35 Und das zeigt noch einmal, dass die Frau, die in Moskau den Südhafen hütete und ihren Urlaub dafür „ver­ schwendete“, dies in durchaus begründeter Weise tat. Zwischen dem ausgefüllten Antragformular für einen Neuwagen und dem tatsächlichen Autobesitz musste sich der zukünftige Besitzer nicht nur mit Geduld wappnen, sondern auch zahlreiche Strapazen in Kauf nehmen. Prob­ leme tauchten auf, wenn die Autoanwärter ihren Arbeitsplatz oder Wohnsitz in einen anderen Bezirk verlegten. Bei der Abholung des Autos musste der Wohnsitz auf dem Antragsformular mit dem aktuellen übereinstimmen. Denn die Zuteilung von Autos war an Regionen gebunden. Auch wenn man offiziell in eine andere Region berufen wurde, lief man Gefahr den Platz in der Warteliste zu verlieren. Und auch hier führte die mangelnde Flexibilität des Verteilungssystems zu einer Benachteiligung derer, die aus privaten oder 32 

BArchB, SAPMO, DY30/IV A2/6.10/238, o. S.  ANIC, secţia Brașov, Comitetul Judeţean de Partid, dosar nr. 2/1975, S. 124. 34  RGAE, f. 465, op. 1, d. 1218, l. 187; BArchB, DL1/22953, o. S. (03. 06. 1977). 35  RGAE, d. 1218, l. 187; BArchB, DL1/22953, o. S. (03. 06. 1977). 33 

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beruflichen Gründen eine Region verlassen mussten. Vor allem in der Sowjet­ union wurden diese Bestimmungen besonders streng gehandhabt. Die be­ troffenen Bürger empfanden diese starren Regeln als Unrecht und bestanden darauf, ein Auto nach der ursprünglichen Einschreibung zu bekommen.36 Allgemein ist festzuhalten, dass das Netz der Autogeschäfte in allen drei Ländern recht dünn war. Über das beste Verkaufssystem verfügte die DDR, was auch dem verhältnismäßig kleineren Territorium und der recht gleich­ mäßigen Bevölkerungsdichte zu verdanken war. Vor dem Bau des Dacias, als die persönliche Motorisierung noch in den Kinderschuhen steckte, existierte in Rumänien nur ein einziges Autogeschäft in Bukarest.37 Mopeds und Mo­ torräder konnte man regulär in den Sportgeschäften finden. Erst der landes­ weite Vertrieb des Dacias führte zur Eröffnung weiterer Autohäuser in den Kreishauptstädten.38 Diese Anordnung benachteiligte die Landbevölkerung, die genötigt war, die Neuwagen in den Kreishauptstädten abzuholen. Das­ selbe ist auch für die UdSSR zu berichten, wo aber die schiere Größe des Landes die Situation vor Ort noch viel hoffnungsloser erscheinen ließ. Der Aufwand, den die zukünftigen Autobesitzer aufbringen mussten, war noch viel größer, weil in vielen Fällen die Distanz zwischen ihm und dem Abholort nicht in einem Tag zurückgelegt werden konnte. Der Mangel an Autover­ kaufsstellen nahe dem eigenen Wohnsitz war auch in anderen sozialistischen Ländern ein Problem. Einem persönlichen Bericht zufolge, konnten Auto­ mobile der Marke „Lada“ in der Volksrepublik Polen nur in der östlich gele­ genen Stadt Lublin abgeholt werden. Dies bedeutete für die Bewohner des westlichen Teils, dass sie per Nachtzug nach Lublin fahren mussten, um dort vor der Öffnung des Geschäftes anzukommen.39 Die Verkaufsinfrastruktur für Automobile kam den Bedürfnissen der Bürger nicht entgegen. Ganz im Gegenteil, die Kunden waren gezwungen, den Autos hinterherzulaufen. Gleich mehrere Probleme konnten in den letzten Tagen vor der Abholung oder bei der Abholung selbst auftauchen. Mehrere Familien betraf das Prob­ lem, dass die Produktion eines Automodells auslief, aber die Herstellung des Nachfolgemodells noch nicht aufgenommen war. Die Wartezeit verlängerte sich dadurch ins Unbestimmte.40 Noch schlimmere Folgen hatte die Ent­ scheidung gegen weitere Importe einer bestimmten Automarke. So wurde 1979 die Einfuhr des Autotyps Zaporožets in die DDR gestoppt. Ein neuer Eintrag für eine andere Automarke konnte von den Betroffenen nur mit viel bürokratischem Aufwand und zusätzlicher Wartezeit erreicht werden. Auch beschwerten sich die Betroffenen über den Preisunterschied, denn der 36 

RGAE, d. 1027, l. 128. Dan Ciachir: Mașinile comunismului, in: http://www.ziua.ro/display.php?data= 2006-04-29&id=198677 (15. 03. 2013). 38  Dacia, o marcă de prestigiu, in: Autoturism 1974/ 2, o. S.  39  Gespräch mit M. M. in Mainz am 19. 11. 2008. 40  BArchB, DL1/22953, o. S. (09. 09. 1976). 37 

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Zaporožets war das billigste Auto, das man in der DDR kaufen konnte.41 Auf diese und ähnliche Protestrufe hatten die Behörden eine Standardant­ wort parat, die sie jeder Verantwortung entledigte: „Entsprechend den gülti­ gen Festlegungen des Ministeriums für Handel und Versorgung der DDR hat die Bestellung eines Pkws lediglich den Charakter einer Vormerkung auf eine künftige Lieferung, aus der sich für den bestellenden Bürger keine vertrag­ lichen Ansprüche – im Sinne eines Kaufvertrages – ableiten lassen.“42 Für Rumänien galt allgemein, dass sich in der Nähe der Ausgabestellen nur in den seltensten Fällen Tankstellen befanden. Dieses hatte zur Folge, dass die zukünftigen Autobesitzer zu derart abgelegenen Orten am Rande der Städte größere Benzinkanister schleppten mussten und auf dem Rückweg im Auto nur hoffen konnten, dass der Treibstoff bis zur ersten Tankstelle reichen würde. Eine andere Herangehensweise an dieses Problem war, den Angestell­ ten des Autogeschäftes zu bestechen, damit er mehr als die vorgesehenen zwei Liter in das neue Auto tankte.43 Als das Auto dann endlich in greifbarer Nähe war, vollzog sich die Über­ gabe blitzschnell. Probefahrten oder eine komplette technische Kontrolle des Kaufgegenstandes wurden selten durchgeführt. So entdeckte man die meisten Mängel erst auf dem Heimweg oder in den nächsten Tagen. Für persönliche Sonderwünsche oder Zusatzausstattung gab es kein Entgegenkommen von Seiten der Mitarbeiter des Autogeschäftes. Auf persönliche Wünsche, wie z. B. eine bestimmte Farbe, wurde in der Regel keine Rücksicht genommen. Die Farben, die gerade eingetroffen waren, sollten die Käufer auch zufrieden stel­ len. Wollte man diese Einschränkung nicht annehmen, war man ggf. gezwun­ gen auf die nächste Lieferung zu warten, was mehrere Monate dauern konn­ te.44 In manchen Fällen reichte aber auch eine kleine Bestechung für den Mit­ arbeiter, damit man sich doch noch eine bestimmte Farbe aussuchen durfte.45 Nur wer mit sehr viel Geduld und Kennerblick das Auto gründlich inspizier­ te, sich nicht in den Vorschriften und bürokratischen Abläufen verlor und an entscheidender Stelle einen Geldschein über den Tresen gleiten ließ, konnte endlich mit dem lang ersehnten Auto nach Hause fahren und ­sicher sein, auch ein fahrtüchtiges Auto gewählt zu haben. Aber wie man aus dem bisher Ge­ schriebenen entnehmen kann, waren solche Glücksfälle eher die Ausnahme. Die letzten Tage, die die Autobegeisterten von ihren Autos trennten, waren für diese eine einzige Qual. Der mikroskopische Blick auf den Endspurt zum eigenen Wagen ergibt ein sehr einseitiges Bild. Im Zeitlupentempo entfalten sich die Hindernisse und Beschwernisse, denen sie permanent unterzogen 41 

BArchB, DG7/616 (30. 07. 1980; 22. 08. 1980). BArchB, DG7/170 (16. 12. 1977). 43  Wurde ersichtlich aus zahlreichen Gesprächen mit den Verwandten der Autorin. Siehe auch http://forum.softpedia.com/lofiversion/index.php/t233647-0.html (15. 03.  2013). 44  BArchB, DL1/22953, o. S. (13. 03. 1977). 45  RGAE, f. 465, op. 1, d. 1028, l. 188. 42 

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wurden. Durch diesen sehr schmalen Fokus offenbaren sich mit einer Fülle von Details die Mängel in der Versorgung und die Willkür der Entscheidun­ gen. Und obwohl es Beschwerdemöglichkeiten gab, waren die meisten Bürger hilflos den eigenmächtigen bürokratischen Entscheidungen ausgeliefert. Aus diesem kleinen Ausschnitt wird ersichtlich, dass die sozialistischen Planwirt­ schaften mit einem immer komplexer werdenden Alltag nicht mehr zurecht­ kamen. Den wachsenden Ansprüchen der Bevölkerung konnten sozialistische Versorgungssysteme nur bedingt entgegenkommen. Selbst einfachste Dinge, wie z. B. nach der Benachrichtigung ein Auto pünktlich auszuliefern oder kleinere Sonderwünsche, konnten nicht befriedigt werden. Das System besaß viel zu wenig Flexibilität, wenn es mit den ­Alltagswünschen des kleinen Man­ nes konfrontiert war. Auf seine besonderen Lebensumständen Rücksicht zu nehmen, dazu schien der Apparat nur in eingeschränkten Maßen fähig. Auch auf Veränderungen von außen, z. B. Schwierigkeiten bei den Importlieferun­ gen, konnten die zuständigen Behörden nicht schnell genug reagieren. Er­ schwerend kam hinzu, dass Entscheidungen zentral getroffen und ihre vollen Auswirkungen auf den einzelnen Käufer nicht durchdacht wurden. Die Be­ troffenen ließen sich aber nicht aus ihrer Bahn lenken und lernten mit den Unzulänglichkeiten des Systems zu leben. Und in einigen Fällen feierten sie sogar kleine Erfolge und brachten stolz ihren neuen Wagen nach Hause.

Autoalltag im Sozialismus Nun waren die Autos endlich bei ihren Besitzern. Die ersten Tage nach dem Autokauf waren auch die glücklichsten für die frischen Automobilisten: Die beiden Architekten hatten fünf Jahre lang Geld gespart und konnten sich nun ei­ nen Dacia kaufen. Der Tag, an dem sie sich diesen Wunsch erfüllen konnten, meinte Elena, war so schön wie ihr Hochzeitstag. So wie damals hatten sie sich lange geküsst und hatten mit den Schwiegereltern und anderen Verwandten angestoßen. Das Auto war quer eingeparkt zwischen dem Lada des Nachbarn und dem dunkelroten Wartburg des Fotografen von nebenan. Der Dacia hatte eine wunderschöne Linie und bei­ de konnten ihn von ihrem Balkon aus bewundern. Er strahlte am hellsten von allen Autos in der herbstlichen Sonne, mehr sogar als der Citroën der Hauptmanns vom zweiten Stock, welchen ein Soldat jeden Tag mit einem Schlauch wusch. Emil Popescu besuchte die Fahrschule. Noch bevor er den Führerschein machte, ging er jeden Tag runter zum Auto, um es zu bewundern und um eventuelle Schmutzflecken zu entfer­ nen, aber mehr noch, um sich in einen der Vordersitze zu legen. Nachdem er die Tür zuklappte und die Geräusche der Welt verschwanden, fühlte sich der Architekt so glücklich an diesem gemütlichen und geschmeidigen Ort, in dem alles da war, nur um ihn zu bedienen. Nicht einmal in ihrem gemeinsamen Bett hat es sich jemals besser gefühlt. Und auch Elena kam gelegentlich runter und beide saßen verzaubert manch­ mal mehr als eine Stunde im Auto wie Zwillinge im Leibe der Mutter.46

46  Mircea Cărtărescu: Arhitectul, in: Nostalgia, București 1997, S. 309–320, hier S. 310f. Nicht nur in Rumänien, sondern auch in den anderen staatssozialistischen Ländern

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Es ist anzunehmen, dass diese Faszination der ersten Tage allmählich nach­ ließ. Was aber gleich geblieben sein wird, ist die Zeit, die die Autobesitzer auf dem Parkplatz verbringen würden. Denn die meiste Zeit verbrachten diese nicht am Steuer ihrer Autos, sondern neben ihrem Gefährt mit auf­ wändigen Reparaturen, beim Mustern und Pflegen des Pkws. Das Auto un­ ter sozialistischen Bedingungen zum Fahren zu bringen, war ein langer und aufwendiger Akt. Der Ursprung vieler Komplikationen war die Garagen­ knappheit. Dieses hatte zur Folge, dass die Autos im Freien vor der eigenen Wohnung geparkt wurden. Diese so genannten Laternengaragen boten we­ der Schutz vor Dieben noch vor Witterung. Aus diesen Gründen gewöhnten sich Autobesitzer an, Autoteile und Zubehör mit nach Hause zu nehmen. So wurden regelmäßig Scheibenwischer und andere abschraubbare Teile des Autos in die Wohnung gebracht. Und auch wenn das viel aufwendiger war, wurde auch meistens nach jedem Benutzen die Batterie aus dem Auto ent­ fernt und in die Wohnung getragen, vor allem im Winter, um sie vor Frost zu schützen.47 Alle Instandsetzungsmaßnahmen wurden auf dem Parkplatz vor der Woh­ nung durchgeführt. Dort wurden die Autos gewaschen und repariert. Um die stillstehenden Autos bildete sich eine besondere Form von sozialer Inter­ aktion, die die Autoenthusiasten zu einer Gemeinschaft zusammenführte. Die Autobesitzer, überwiegend Männer, verbrachten sehr viel Zeit miteinan­ der in der Nähe ihrer Autos. Dieses Beisammensein, jenseits der Familie und der staatlichen Einrichtungen, beschreibt Lewis Siegelbaum als eine besonde­ re Form der Geselligkeit, die zu mehr persönlicher Freiheit führte.48 Wäh­ rend die Männer schraubten und schmierten, ließen sie paradoxerweise die Zwänge und Mängel des Systems hinter sich. Die improvisierten Reparatur­ lösungen, das kollektive Anschieben der Autos waren die kleinen Erfolge, die die Gemeinschaft zusammenwachsen ließ. Die Nachbarn tauschten ­untereinander Wissen, handwerkliche Begabung und Ersatzteile aus, um ­gemeinsam gegen den Mangel anzutreten. Die persönliche Nähe zwischen den Autoenthusiasten ging in manchen Fällen so weit, dass die Autos von Freunden und Nachbarn mitbenutzt wurden.49 Man kann zweifelsohne von einer Subkultur der Autoenthusiasten im Ostblock sprechen. Das Aushandeln der Grenzen zwischen Erlaubtem und Missbilligtem wurde als Teil eines stillen Paktes zwischen Machthaber und Bevölkerung inszeniert: Gehorsam wurde für ein breiteres Konsumangebot

war es weit verbreitet, erst ein Auto zu erwerben und erst dann den Führerschein zu machen. 47  Gespräch mit dem Vater der Autorin am 10. 10. 2007. Siehe auch: Kurt Möser: The­ sen zum Pflegen und Reparieren in den Automobilkulturen am Beispiel der DDR, in: Technikgeschichte 79 (2012), S. 207–226, hier S. 213ff. 48  Siegelbaum: Cars (Anm. 8), S. 248f. 49  Irina Nicolau: O stradă în București, Bukarest 1999, S. 50.

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eingetauscht.50 Die Bestimmungen dieses ungeschriebenen Deals werden von James Millar auch auf die Schattenwirtschaft erweitert. Der Staat gab de facto den Anspruch auf, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens kontrollieren zu wollen und überließ Teile davon der gesellschaftlichen Selbstorganisation. So konnten kleine private Geschäfte legal aufgenommen werden und Aktivi­ täten an der Grenze der Legalität wurden weitgehend nicht geahndet. Das Betreiben, Besorgen und Beschaffen von Mangelwaren und fehlenden Dienst­ leistungen war bis zu einem gewissen Punkt willkommen, weil es genau die Lücken im Versorgungssystem schloss, die die Planwirtschaft nicht bewälti­ gen konnte.51 Die Instandhaltung des Autos verlangte sehr viel von seinen Besitzern: Zeit, Nerven und vor allem viel Geduld. Aber trotz der Mühe war die Liebe zum eigenen Automobil groß. Es war der ganze Stolz des Besitzers; mit größter Hinwendung wurde es für die Reise vorbereitet. Auch nach Jahren des Besitzes wurde das Auto sehr oft und sehr ausgiebig gewaschen und ge­ pflegt.52 Und auch hier gibt es zwei Seiten der Medaille. Einerseits waren die Fahrer gezwungen, sehr viel für ihr Auto zu tun, um die Mängel auszuglei­ chen, andererseits berichten viele Autoenthusiasten, dass sie das gerne taten. In kalten Winternächten war es Gang und Gäbe, das Auto mehrmals in der Nacht zu starten, damit es am nächsten Tag auch fahrtüchtig sein würde.53 Ganz allgemein begann eine Reise nicht mit der Abfahrt, sondern mit der minutiösen Vorbereitung des Autos auf den Augenblick des Starts. Mehrere Stunden verbrachten die Autofahrer rund um ihren Pkw, bis er endlich ab­ fahrbereit war. Alle Funktionen wurden nacheinander kontrolliert und der Wagen immer wieder aufs Neue überprüft. Die größte Hürde war der Start­ vorgang. Man nahm mehrere Anläufe bis der Motor lief. Die Produktions­ mängel, die improvisierten Reparaturen, der Mangel einer Garage hinterlie­ ßen tiefe Spuren. Aber in den schriftlichen und mündlichen Berichten, die ich gesammelt habe, ist nicht immer klar ersichtlich, ob die Vorbereitungen zum Start in all ihrem Aufwand wirklich notwendig waren. Vielmehr hatte die Inspektion des Autos vor der Abfahrt (und nicht nur) einen rituellen Charakter. So entstand eine sehr enge Verbundenheit mit dem eigenen Auto. Diese Nähe zum eigenen Wagen war keineswegs ein exklusiv sozialisti­ sches Phänomen. Nur die Bedingungen, unter denen die Liebe zum Eigen­ wagen zum Ausdruck kam, können als „sozialistisch“ bezeichnet werden. Wie schon erwähnt, war es der Ort, an dem man sich um das eigene Auto kümmerte, der als besonders bezeichnet werden kann. In der unmittelbaren 50 

Dietrich Beyrau: Die befreiende Tat des Wortes, in: Wolfgang Eichwede (Hrsg.): Samizdat: alternative Kulturen in Zentral- und Osteuropa; die 60er bis 80er Jahre, Bremen 2000, S. 26–37, hier S. 28f. 51  James R. Millar: The Little Deal: Brezhnev’s Contribution to Acquisitive Socialism, in: Slavic Review 44 (1985), S. 694–706. 52  Nicolau: București (Anm. 49), S. 51. 53  Siegelbaum: Cars (Anm. 8), S. 236.

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Nähe der Wohnung wurde das Auto wieder fit gemacht. Die Geräusche und Gerüche dieser Vorbereitungen begleiteten das Leben in den Wohnsiedlun­ gen. Weil ihnen kein anderer Ort zur Verfügung stand, verbreitete sich auf den Gehwegen neben den Wohnungen die Subkultur der Freizeitmechani­ ker.54 Eine andere Besonderheit bestand darin, dass das persönliche Automo­ bil eine Mangelware war. Auch wenn man in allen drei Länderbeispielen von einer aufkommenden Massenmotorisierung sprechen kann, waren Eigen­ wagen keine Selbstverständlichkeit. Während er in den westeuropäischen Ländern zu einem alltäglichen Fortbewegungsmittel wurde, blieb der Pkw im Osten ein hoch begehrtes Sonntagsgefährt. Dies erklären auch die Auf­ merksamkeit, die ihm zuteilwurde, und der Stolz, mit dem er der Welt vor­ geführt wurde. Die lange Zeit des Wartens, die Entbehrungen, die die Auto­ besitzer auf sich nahmen, um sich überhaupt ein Auto leisten zu können, wurden in der Besitzphase in eine übermäßige Aufmerksamkeit für den Wa­ gen umgemünzt. So verbrachten Autoenthusiasten weit mehr Stunden mit der Vorbereitung des Autos als hinter dem Steuer, teils gezwungen, teils freiwillig. Aber als es endlich losging, wo fuhren die Insassen hin? Man fuhr das Auto vor allem in den Urlaub. Die konstant steigenden Zahlen des privaten Autokonsums seit Ende der 1950er Jahre veranlasste das Meinungsforschungsinstitut der DDR, flächendeckende Umfragen durchzuführen. 1972 ergab die Auswertung von Umfragebögen in der DDR, dass 45 % der Zeit ein Pkw für Ferien- und Wo­ chenendreisen genutzt wurde, 1968 waren es nur 35 %. Anzumerken ist, dass während dieser Zeit der Anteil von Pkws in Relation zu Haushalten konstant blieb. Außerdem wurde aus den Umfragen ersichtlich, dass der Berufsver­ kehr nicht weiter zugenommen hatte.55 Die Massenmotorisierung beeinflusste die Freizeitgewohnheiten der Au­ tobesitzer. Der motorisierte Massentourismus war somit die wesentliche Neuerung. Sie beruhte auf mehreren Faktoren, darunter auch das Preis-Leis­ tungsverhältnis. Obwohl der Autokauf an sich mit einem großen finanziellen Aufwand verbunden war, fielen danach die Fernreisen mit Familien im Ver­ gleich zu anderen Fortbewegungsmitteln recht günstig aus.56 Als es trotz ei­ nes vereinbarten Abholtermins zu Verzögerungen bei der Auslieferung von Neuwagen kam, brachten die Anwärter ihre Empörung zum Ausdruck und wiesen darauf hin, dass ihre Urlaubsplanung durcheinander gebracht wurde. Für diese und viele andere Familien gehörte das Auto zum Urlaub.57 Dazu trugen die größere Bequemlichkeit und Flexibilität wesentlich bei. Vielfach 54  Kurt Möser: Autobasteln: Modifying , Maintaining, and Repairing Private Cars in the GDR, 1970–1990, in: Lewis Siegelbaum (Hrsg.): The Socialist Car: Automobility in the Eastern Bloc, Ithaca 2000, S. 157–169. 55  Bischoff: Motortourismus (Anm. 19), S. 18f. 56  Bischoff: Motortourismus (Anm. 19), S. 18. 57  BArchB, DL1/22953, o. S.

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wurden nun mehrere Reiseziele nacheinander angesteuert und die Gestaltung der Urlaubstage variierte.58 Dadurch veränderte sich auch der Verlauf der Reisen zunehmend, denn die Autofahrer waren nun in einem geringeren Maße von der Freizeitinfrastruktur am Urlaubsort abhängig. Wie bei allen Freizeitaktivitäten im Ostblock bestimmten Zwang und En­ thusiasmus die Dynamik dieses Bereichs. Der Mangel an einer gut ausgestat­ teten Hotellandschaft bewirkte, dass Camping im Ostblock bis zum Fall der Mauer sehr populär blieb, auch zu einer Zeit, in der es sich im Westen von einem Breitenphänomen zu einem Jugend- und Nischenphänomen verwan­ delt hatte.59 Das Auto war dabei von zentraler Bedeutung, es wurde für die Dauer des Urlaubs zum Haus auf Rädern. Alles Nötige für die Reise wurde im Voraus erworben und in das Auto gepackt. Die meisten Camper waren so gut ausgestattet, dass sie ohne die lokale Versorgung zu Recht kamen. Ohne­ hin wäre auf diese kein Verlass gewesen. Berichte aus den Urlaubsorten er­ zählen von überfüllten Gaststätten und leeren Lebensmittelläden. Allein mit den Bauern und den Verkäufern am Straßenrande wurden kleine Geschäfte gemacht.60 Aber sicherlich fuhr man mit dem Auto nicht nur in den Urlaub. Pkws im Sozialismus waren in großem Maße auch Gütertransportmittel. Voll bepackt wie kleine Lkws halfen sie bei Umzügen, Lebensmittelbelieferungen und ­einer großen Anzahl von ungewöhnlichen Transporten. Die skurrilste ­Geschichte, die die Akten hergaben, war das Beispiel eines rumänischen ­Kolchosenvorsitzenden, der von der Tierfarm frisch geborene Ferkel ent­ wendete, sie in den Kofferraum packte, um sie dann weiter zu verkaufen.61 Auch wenn die Wagen für überdimensionierte und schwere Gegenstände ­ungeeignet waren, stellten die persönlichen Automobile in vielen Fällen die einzigen Fortbewegungsmittel dar, die Privatpersonen zur Verfügung stan­ den. So waren auf sozialistischen Straßen allseits Pkws zu sehen, die bis zum Umkippen beladen waren. In Rumänien wurde diese „Malträtierung“ der einheimischen Dacias auch in den ersten Jahren nach der Wende fortge­ führt.62 Eine andere beliebte und durchaus lukrative Tätigkeit war, den eigenen Pkw als ein unangemeldetes Taxi zu benutzen. Vor Bahnhöfen oder wich­ tigen Straßenkreuzungen parkten die Wagen möglichst unauffällig, jedoch standen die Chancen ganz gut, dass die ruhenden Autos und ihre Fahrer nur 58 

Bischoff: Motortourismus (Anm. 19), S. 21. Bischoff: Motortourismus (Anm. 19), S. 20. 60  Christian Noack: Coping with the Tourist. Planned and „Wild“ Tourism on the Soviet Black Sea Coast, in: Anne Gorsuch / Diane Koenker (Hrsg.): Turiszm: the ­Russian and the East European Tourist under Capitalism and Socialism, Ithaca 2000, S. 281–304, hier S. 292ff. 61  ANIC, fond C.C. al P.C.R., Cancelarie, dosar nr. 140/1970, S. 32. 62  Adrian Oţoiu: Automobile Metempsychoses in the Land of Dracula, in: Joe Kerr / Peter Wollen (Hrsg.): Autopia: Cars and Culture, London 2002, S. 199–208. 59 

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auf Kunden warteten. Es gab die Gelegenheitsfahrer und diejenigen, die sol­ ches regelmäßig betrieben, einen festen Warteplatz und sogar Stammkunden hatten. Diese Aktivität florierte, weil die offiziellen Taxibetriebe im Vergleich zum Bedarf über viel zu wenig Autos verfügten und diese zudem in der Spät­ zeit durch unzureichende Benzinquoten nur begrenzt zum Einsatz kamen.63 In Russland wird diese Praxis heutzutage weiter fortgesetzt; in den beiden anderen Staaten ist sie vollkommen verschwunden. Abgesehen von diesen urbanen Taxifahrten gab es zumindest in Rumänien ein genauso verbreitetes „halblegales Pendeln“. Vor allem jungen Absolventen wurde in den ersten Berufsjahren ein Arbeitsplatz in den Städten verwehrt. Deswegen bemühten sich viele der jungen Stadtbewohner um eine Stelle in möglichst großer Nähe zum Heimatort. Gependelt wurde regulär in einem überfüllten Bus, jedoch gab es eine Alternative dazu: Das Trampen, in den meisten osteuropäischen Sprachen autostop genannt.64 Trampen assoziiert man meistens mit einer ju­ gendlichen Subkultur und ordnet sie der Freizeit zu. In der Volksrepublik Polen wurde das Trampen sogar „institutionalisiert“, man konnte sich so­ wohl als Fahrer als auch als Mitfahrer offiziell als Tramper melden. Über die gefahrenen Kilometer konnte man Buch führen und eine spezialisierte Be­ hörde erstattete den Fahrern, die Tramper mitnahmen, einen Teil des Benzin­ preises. Das war die polnische Antwort auf überfüllte Reisebusse und eine unzureichende Anzahl von Privatwagen. Man trampte selten zum Arbeits­ platz; aber genau dies war der Fall in Rumänien. An der Ausfahrt der Städte warteten an ausgewiesenen Plätzen mit mehr oder weniger Erfolg die Tram­ per auf einen Lift. Für jede Fahrt wurde gezahlt; für den Autobesitzer war es zum Teil ein Zeitvertreib, aber auch eine sichere Einkommensquelle. Regulä­ re Tramper-Pendler kannten die „regulären“ Preise genau, jedoch konnte sich der Mitfahrende schwer gegen einen überhöhten Preis wehren.65 Ein weiteres ungewöhnliches Phänomen war weit verbreitet im Ostblock: An den Wochenenden stieg die Zahl der Pkws auf den schlecht ausgebauten Landstraßen rasch an. Die Autos gehörten in der Mehrheit Städtebewohnern, die ihre Verwandten auf dem Dorf besuchten oder eine Dača aufsuchten. Die miserable Versorgungslage in den Städten trieb diese zurück in die Dörfer, um sich von dort die Grundnahrungsmittel zu holen. Viele dieser Versor­ gungsreisen wurden auch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unternom­ men. Jeder, der jedoch über einen Pkw verfügte, nutzte ihn auch zu diesem Zweck. Vor allem während der Erntezeit belagerten die Städter mit ihren Autos die ländlichen Gegenden. Das Auto war das sichtbarste Zeichen dieser 63  Mircea Nedelciu: Partidă de taxi “sauvage”, in: Ders.: Efectul de ecou controlat. Proză scurtă, Bukarest 2003, S. 254–263. 64  Calin-Andrei Mihăilescu: Cum era? Cam așa… Amintiri din anii comunismului românesc, Bukarest 2006, S. 24. 65  Mark Keck-Szajbel: It’s the Journey, not the Destination: Hitchhiking as Getaway in Communist Poland, unveröffentlichter Vortrag an der National Conference of the American Popular Culture Association, New Orleans, April 2009.

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Belagerung, weil es nach wie vor einen Fremdkörper auf den verstaubten Straßen des Dorfes darstellte. Dabei kam nochmals verstärkt das paradoxe Alltagsleben der Ostbürger zum Ausdruck. Die Nahrungsmittel holten sich die Städter aus der Gartenwirtschaft auf dem Lande und nicht in den modern ausgestatteten Lebensmittelläden, benutzten dafür aber ihren Pkw, der ver­ meintlich als ein Zeichen für das bessere Leben im Spätsozialismus galt.66 Diese sehr rudimentär betriebene Landwirtschaft sicherte für einige Jahre das Überleben im Sozialismus und dadurch zum Teil auch das Überleben des So­ zialismus selbst.

Schlussbetrachtungen Die Geschichte des Automobils im Ostblock weist aus der Perspektive der Konsumenten mehrere Charakteristika auf. In den drei untersuchten Län­ dern hat sich herausgestellt, dass das Leben mit einem eigenen Wagen nicht einfach war. Aber ein Leben ohne einen Pkw bevorzugten Wenige. Daraus leitet sich das erste Spezifikum des sozialistischen Autoalltags ab: Die ambi­ valente Haltung zum eigenen Gefährt. Die Wartezeit, die schlechte Qualität der ausgelieferten Autos, der Ersatzteilmangel und die dürftige Infrastruktur machten das Leben der Besitzer zu einer einzigen Qual. Aber ohne Auto hatten sie noch viel weniger Möglichkeiten gut durch den Alltag zu kommen. Abgesehen davon war das persönliche Automobil nicht nur ein begehrter Konsumgegenstand, sondern auch eine sichere Anlage, besser als ein Spar­ konto. Da wären wir beim zweiten Charakteristikum: Auch nach jahrelanger Nutzung behielt das Auto denselben Preis; für alte Wracks wurden horrende Summen auf dem Gebrauchtwagenmarkt gezahlt. Das Auto brachte seinem Besitzer nicht nur Prestige und praktische Vorteile ein, sondern in dem glücklichen Fall, wenn man wieder die zehn Jahre Wartezeit ausgestanden hatte, spülte das alte Auto die ausgegebene Summe wieder in die Familien­ kassen ein. Mangel und Massenmotorisierung machten den eigenen Wagen bis in die Spätzeit zu etwas Besonderem. Er blieb trotz der Millionenproduktion von Fahrzeugen für seine Besitzer ein Sonntagsgefährt. Und dieses gleich in dop­ pelter Hinsicht: Die Autos wurden einerseits überwiegend für Freizeit- und Urlaubsfahrten benutzt, andererseits wurden sie für diese nie ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand. Diese dritte Eigenschaft der sozialistischen Autowelt führte dazu, dass auf die Pkws besonders geachtet wurde. Sie wurden trotz der schweren Bedingungen ausgiebig gepflegt und geputzt. Die Fahrer scheu­ ten keine Mühe, verzichteten freiwillig auf Freizeit und Schlaf, um das Auto 66 

Alina Radu: Amintiri, in: Radu Pavel Gheo / Dan Lungu (Hrsg.): Experienţa feminină în comunism, Iași 2008, S. 231–243, hier S. 238; Stephen Lovell: Summerfolk: the History of the Dacha, 1710–2000, Ithaca 2003, S. 195ff.

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am Laufen zu halten. Daraus ergibt sich ein weiteres Kennzeichen der sozia­ listischen Autokultur: die enge Bindung zwischen Fahrer und Auto. Es ist schwer zu entscheiden, ob die sozialistischen Bürger ihr Auto so sehr liebten wegen der vielen Zeit, die sie in dessen Nähe verbrachten, oder dieser zum Trotz. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass sie ihr Auto in den meis­ ten Fällen ein Leben lang behielten. Die Besitzer wurden mit ihren Autos alt. Mit der Zeit gewöhnten sich die Fahrer an die Unzulänglichkeiten ihres Au­ tos, und es wurde zu einem treuen Gefährten durch den grauen und trostlo­ sen sozialistischen Alltag. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es durchaus eine besondere sozialistische Art gab, an der automobilen Welt teilzunehmen. Wenn man ge­ nauer auf die alltägliche Nutzung des Autos schaut, dann wird klar, dass die Einordnung der sozialistischen Autokultur als eine verspätete und schäbige Nachahmung der westlichen Modelle zu kurz greift. Selbstverständlich be­ einflusste die westliche private Massenmotorisierung die Autokultur im Os­ ten. Sowohl die Technik als auch viele Nutzungsmuster wurden vom Westen kopiert. Abgesehen davon ist das Auto von einer komplexen Infrastruktur abhängig, die trotz lokaler Abweichungen in den Grundzügen überall die gleiche ist. Das „Sozialistische“ entstand in dem Moment, in dem sowohl die neue Technik als auch bestimmte Verhaltenscodes auf das schon bestehende System der Planwirtschaft stießen. So kamen die oben erwähnten Engpässe und Eigenarten der automobilen Welt im östlichen Teil Europas zustande.

Register Abs, Hermann Josef  295, 298 Adenauer, Konrad  218 Adler  212, 214 AEG  106f., 109 Alfa Romeo  146 Ambi-Budd  215 AMC (siehe American Motors Corporation) American Motors Corporation (AMC)  188, 194, 199, 201 ARO  413 Aston Martin  206 Attlee, Clement  216 Audi  45, 49, 57, 72f., 146, 207, 211, 238, 240, 278, 303, 314–317 Audi NSU Auto Union AG  49, 53, 63f., 66, 69f., 148 Austin  14, 210–212, 214f., 219f., 223f., 227, 339 Austin-Healey  223f. AUTHI (siehe Automóviles de Turismo Hispano Ingleses SA) Auto Union  13, 26, 35, 80f., 211f., 214f., 298 Automóviles de Turismo Hispano ­Ingleses SA (AUTHI)  267f., 273, 282 Backsmann, Horst  50f., 53 Banco de Vizcaya  265 Banco Ibérico  261, 264 Banco Santander  261, 264 Banco Urquijo  258–260 Barreiros (Diesel SA)  265f., 274, 284 Barreiros, Galiciers Eduardo  265 Barreiros-Chrysler  263 Bayerische Motoren Werke AG (BMW)  13, 19, 86, 98, 111–154, 158, 206f., 210, 212, 214, 219, 221, 223, 236, 246, 333, 338–340, 346, 355, 363, 371, 373–385, 410f. Becker, Ludwig  298 Bentley  206, 211, 340 Benz, Karl  1 Berliet  80 Birkigt, Markus  255 Birnbaum, Hans  64 BLMC (siehe British Leyland Motor Corporation) BMC (siehe British Motor Corporation)

BMW (siehe Bayerische Motoren Werke) BMW Kredit Bank  138 BMW Marine GmbH  150 BMW Maschinenfabrik Spandau GmbH  123 BMW Motorrad GmbH  149 BMW Rolls-Royce GmbH  150f. Bonet, Francesc  255 Booz, Allen & Hamilton  102 Borgers AG  155, 162 Borgward  80, 221 Bork, Hugo  33, 309 Bosch  162, 177 Brenner, Otto  309 Brežnev, Leonid Iljitsch  414 Bristol  219 British Leyland Motor Corporation (BLMC)  86, 207, 228, 268f., 273 British Motor Corporation (BMC)  207, 219, 222, 267f. Brümmer, Heinrich  297 Bueno, Pedro González  267 Busch, Fritz  364 Büssing  86 Čaika  413 Carl Daniel Peddinghaus (CDP)  163, 174f. CDP (siehe Carl Daniel Peddinghaus) Ceaușescu, Nicolea  415 Champion  221 Chrysler  187, 197f., 200f., 207, 219, 237, 266, 269, 272f., 278, 283, 340 Chrysler España  266 Chrysler PSA  282 Citroën Hispania  267 Citroën  3, 85, 208, 220, 258, 263, 267, 269, 272f., 277f., 280, 282f., 413, 421 Cripps, Stafford  216–218 Dacia  412f., 418f., 421, 425 Daimler Chrysler  338f. Daimler-Benz AG  13, 18f., 24, 26, 77–110, 113, 131, 145f., 155, 165–167, 176f., 181, 285–299, 340, 367–376, 378, 380–384 Dalton, Hugh  217 Delphi  341 Deutsche Edelstahlwerke (DEW)  171

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Register

Deutsche Forschungs- und Versuchs­ anstalt für Luft- und Raumfahrttechnik (DFVLR)  147 DEW (siehe Deutsche Edelstahlwerke) DFVLR (siehe Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrttechnik) Dixi  210 DKW  211, 214, 219, 221f., 411 Dodge  266, 283 Dornier  106f., 109 Draeger, Rolf  135 Dreyfus, Pierre  261 Eberspächer  163 Echagüe, José Ortiz  260 Ehlers, Siegfried  46, 49, 51f., 54, 60, 69, 71, 73 Erhard, Ludwig  218 Fabricación de Automóviles Sociedad Anónima (FASA)  257f., 260–262, 264f., 267–269, 274 FACSA  264 FAMESA  264 FASA (siehe Fabricación de Automóviles Sociedad Anónima) FASA-Renault  258, 263, 265f., 269–273, 275f., 279–281, 284 Fiala, Ernst  62 FIAT  2f., 12, 85f., 208, 213, 224, 227, 230, 257–261, 263f., 272–275, 278, 283, 412f. Filbinger, Hans  65 Flick, Friedrich  81, 297f. Ford  3, 8, 17f., 25, 28, 42f., 66, 73f., 173, 187, 194–198, 200, 205–227, 232, 234, 237, 239, 244f., 247, 249, 251–253, 256f., 270–277, 281–285, 303f., 308, 326, 332–334, 338–341, 344, 356, 388, 404 Ford Europe  139, 256 Ford Motor Ibérica  257 Ford, Henry  8 Franco, Francisco  257, 259, 261 Franco, Nicolás  261 Freightliner  100, 249 Frerk, Peter  47, 49–52, 54, 56, 58f., 62–64, 68–70, 309f. Frisinger, Håkan  234, 249 Geely (siehe Zhejiang Geely Holding Group) General Motors (GM)   8f., 155, 187, 192, 194, 197f., 200, 205–207, 211–213,

219, 238, 248f., 251, 256, 268, 270, 273f., 277, 281 Gieschen, Wilhelm Hermann  130 Giugiaro, Giorgetto  279 Glas (siehe Hans Glas GmbH) GM (siehe General Motors) Golda, Kurt  113 Goliath  221f. Gutbrod  221f. Gyllenhammar, Pehr G.  235f., 240f., 250 Haaf, Kurt  27 Hahn, Carl Horst  26, 28–33, 36–41, 43 Hahnemann, Paul G.  115, 120, 126f., 130, 375, 377, 383f. Haiber, Erich  130, 136 Hanomag  64, 86f., 90f., 100f., 212, 214 Hansa  216, 220–222 Hansa-Borgward  212 Hans Glas GmbH (Glas)  80, 119–122, 124, 152, 221 Hartwich, Günter  47, 49–51, 58, 61f., 70 Hauff, Karl  295 Healey  219 Hillman  212, 214, 220, 223f. Hispano Suiza  255f. Hitzinger, Walter  81 Hoffman, Maximilian  223 Höhne, Otto  33, 35, 40 Holden  223, 251 Honda  10f., 206 Honecker, Erich  319 Hoppe, Heinz  89 Horch  211, 303, 315, 410 Hudson  188 Huidobro, Eduardo Ruiz de  261, 267f. Humber  212, 220 Hurm, Ludwig  297f. Hurth  150 IBM  37, 183 IG Metall (siehe Industriegewerkschaft Metall) IMOSA (siehe Industrias del Motor, SA) Industrias del Motor, SA (IMOSA)  269 Industrias Subsidiarias de Aviación (ISA)  261, 264 Industriegewerkschaft Metall (IG Metall)  27, 33, 36, 50, 53–55, 60, 62, 64f., 74, 157, 183, 297, 309, 312, 316, 327, 334f., 339, 347–349, 351f., 354 INI (siehe Instituto Nacional de Industria)

Register Instituto Nacional de Industria (INI)  257–260, 263, 273–275, 278f. IRI (siehe Istituto per la Ricostruzione Industriale) ISA (siehe Industrias Subsidiarias de Aviación) Istituto per la Ricostruzione Industriale (IRI)  259 Iveco  92 J.D. Powers  246 Jacob, Otto  155, 164, 166 Jaguar  85, 206f., 215, 219f., 223f. Jeansson, Lennart  241f. Jiménez-Alfaro, Manuel  260 Johansson, Leif  231, 237, 240, 246, 248, 250 Jowett  219f. Karmann  33, 64 KHD  86 Kiesinger, Georg  35 Koch, Hans  130, 137 Könecke, Fritz  80f., 288, 291–293, 296, 298 Kronprinz AG  173 Krupp  86f., 91, 101, 302 Kuenheim, Eberhard von  126f., 129f., 135, 138f., 145 Lada  412, 414, 419, 421 Lamborghini  340 Lanchester  211, 219 Lancia  146 Land Rover  206, 215 Lea Francis  219 Lefaucheux, Pierre  260f. Leiding, Rudolf  45–51, 53–55, 57–61, 311f., 367 Lévy, Raymond  240 Linde AG  147 Lloyd  221f. Loderer, Eugen  54, 64, 67f., 70f. London Taxi  206 López de Arriortúa, José Ignacio  155 Lotus  206 Lotz, Kurt  12, 39–43, 45 Lücker, Heinrich  297 Lutz, Robert „Bob“ Anthony  130, 139, 141 Macks  249 MAN (siehe MAN AG) MAN AG  67, 86, 106, 109, 147

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Mannesmann  163f. Mateu, Damià  255 Maybach  212, 214 Mazda  415 MBB (siehe Messerschmitt-BölkowBlohm GmbH) McKinsey  106 Mercedes-Benz  85, 98f., 155, 207, 212, 215f., 221–223, 225, 246, 333, 337, 363, 367–371, 373f., 376, 382, 384f., 400, 415 Messerschmitt-Bölkow-Blohm GmbH (MBB)  106 MG (siehe MG Rover Group) MG Rover Group  206, 212, 223f., 406 Mini  14, 206, 208, 222, 267 Mitsubishi  238, 243, 249, 251, 256 Mogwitz, Gerhard  52 Monz, Karl  130, 137 Morris  208, 210–212, 214, 219f., 224, 227, 267, 283 Moskvič  413, 417 Motor Ibérica (siehe Ford Motor Ibérica) MTU  106f., 109 Münzner, Horst  46f., 49f., 54, 58, 61 Nash Motors  188 Nissan  11, 206 NMQ (siehe Nueva Montaña Quijano) Nordhoff, Heinrich  25–32, 34–43, 45, 171f., 218, 226, 303–309, 325 NSU  49, 62, 64, 69f., 80, 221 NSU-Fiat  212 Nueva Montaña Quijano (NMQ)  261, 264, 267f. Nuffield Group  212–214, 219f. Obermeyer Project Management GmbH  149 Oltcit  413 Opel  25, 66, 74, 85, 155, 207, 210–219, 221f., 224f., 271–274, 277, 281–283, 333f., 340f., 373 Osswald, Bernhard  130, 147 Paulsen, Julius  167, 171f. Peugeot  3, 146, 206, 238, 256, 263, 272, 277f., 283, 415 Pinafarina  251 Pomeroy, Laurence  217, 221 Porsche  59, 68, 220–223, 238, 279, 333, 338, 375 Praetor Monteerders  122 PSA Peugeot Citroën  277f.

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Register

Quandt, Herbert  113, 297f. Renault  2f., 199, 201, 208, 218, 224, 227, 232, 235, 238–241, 249–251, 258, 260f., 264f., 267, 269, 272, 276f., 280, 283, 355, 412f. Renault Véhicules Industriels (RVI)  240, 249 Reuter, Edzard  103, 105–107, 178, 368 Rheinstahl-Henschel-Hanomag  86 Richter-Brohm, Heinrich  375 Riley  211 Rolls-Royce (siehe Rolls-Royce plc.)  Rolls-Royce plc.  85, 150f., 206, 211 Rootes  207, 211f., 215, 219f., 227, 278 Rover (siehe Rover Group) Rover Group  151, 206f., 212, 215, 219f., 340 Rummel, Hans  296f. RVI (siehe Renault Véhicules Industriels) RWTH Aachen  147 Saab  231, 237 Sachsenring (siehe VEB Sachsenring) SAEAR (siehe Sociedad Anónima ­Española de Automóviles Renault) Saviem  80 Scania  92, 247, 249 Schäfer, Ernst  297 Schiller, Karl  35f. Schmidt, Heinz  367, 369–371 Schmücker, Toni  17, 62–71, 73, 75, 312 Schönbeck, Hans-Erdmann  139, 141 SEAT (siehe Sociedad Española de ­Automóviles de Turismo) Siemens  124, 348 Simca  3, 80, 224, 266, 278, 283 Singer  211f., 219f. Škoda  340, 410 Sloan, Alfred Pritchard  8, 333, 415 Sociedad Anónima Española de Automóviles Renault (SAEAR)  260 Sociedad Española de Automóviles de Turismo (SEAT)  257–284, 340 Sonne, Karl-Heinz  114f. Spiegel, Bernt  115, 375–380, 382f. Staelin, Rolf  85 Standard  211f., 215, 218f., 223, 227 Standard-Triumph  207, 220 Stoewer  212, 214 Strauß, Franz-Josef  35, 38f. Suanzes, Juan Antonio  259 Sunbeam  211f.

Talbot  211f., 263, 272, 278, 283 Tata  87, 206 Taylor, Frederick Winslow  335, 337 Thomée, Friedrich  27, 35, 41, 46, 51, 55f., 59–62, 73 Thyssen  62 Tom Walkinshaw Racing (TWR)  251 Toyota  10f., 206, 208, 243 Trabant  301, 318, 320, 322, 411, 413f. Triumph  207, 211, 219f., 223f. TWR (siehe Tom Walkinshaw Racing) Tyrakowski, Bernhard  33 Ulbricht, Walter  319 Unic  80 Unimog  82 Vauxhall  206f., 212, 214, 220, 224, 227 VDA (siehe Verband der Automobil­ industrie) VEB Sachsenring  17, 301, 303, 313–327 Verband der Automobilindustrie (VDA)  2, 4f., 10, 16, 23f., 80, 114, 116, 129, 147, 159, 168–170, 177–179, 286, 340, 348, 351 Visteon  341 Volga  413, 417 Volkswagen (VW)  2f., 12f., 16–18, 20, 23–75, 81, 151, 155, 167, 171–175, 188, 193, 205–209, 211, 215f., 218–228, 238, 240, 263, 269, 271, 278f., 283, 285, 298, 301–313, 323, 325–327, 329, 332–334, 337f., 340f., 345f., 353, 355, 364, 367f., 387–407, 415 Volkswagen Australasia Ltd.  42 Volkswagen de Mexico S.A. de C.V.  46 Volkswagen of America Inc.  44, 58, 63 Volkswagen of South Africa Ltd.  46 Volvo  15, 85, 92, 231–253, 415 Volvo GM Heavy Truck Corp.  248f. VVB Automobilbau  313, 318, 320–322 VW (siehe Volkswagen) Wanderer  211 Warburg, S.G. & Co  266 Wartburg  411, 413, 421 White Truck Corporation  248  Wirtschaftsverband Eisen-, Blech- und metallverarbeitende Industrie e. V.  179 Wirtschaftsverband Stahlverformung e. V.  179 Wolseley  211f., 220 Wright  256

Register Wychodil, Arnold  88 Zahn, Joachim von  85, 93, 96f., 99, 173, 176–179, 182 Zaporožec  413f., 419f.

433

Zetterberg, Christer  244 Zhejiang Geely Holding Group  321 ZIL  413