Austriaca: Abhandlungen zur Habsburgermonarchie im 'langen' 19. Jahrhundert . Herausgegeben von Matthias Stickler [1 ed.] 9783205209560, 9783205209546


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Austriaca: Abhandlungen zur Habsburgermonarchie im 'langen' 19. Jahrhundert . Herausgegeben von Matthias Stickler [1 ed.]
 9783205209560, 9783205209546

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Harm-Hinrich Brandt

Austriaca

Abhandlungen zur Habsburgermonarchie im langen 19. Jahrhundert Herausgegeben von Matthias Stickler

Harm-Hinrich Brandt

Austriaca Abhandlungen zur Habsburgermonarchie im ›langen‹ 19. Jahrhundert Herausgegeben von Matthias Stickler

Böhlau Verlag wien köln weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; ­detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Umschlagabbildung  : Kaiserliches Wappen der Donaumonarchie (Foto: wikimedia commons) © 2020 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-20956-0

Vorwort des Herausgebers Es gehört zu den Auffälligkeiten, dass es in der Bundesrepublik nur sehr wenige Historiker gibt, die sich mit österreichischer Geschichte bzw. der Geschichte der Habsburgermonarchie beschäftigen. Dies ist umso verwunderlicher, weil Fragen des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher religiöser, ethnisch-nationaler bzw. kultureller Prägungen in der Bundesrepublik schon seit den 1980er Jahren teilweise kontrovers diskutiert werden. Insofern hätte eigentlich die Geschichte des habsburgischen Vielvölkerstaates gesteigertes Interesse in der Fachwelt wie auch in einer historisch interessierten Öffentlichkeit finden müssen. Dies auch deshalb, weil der Zerfall multinationaler Staaten in den 1990er Jahren – v. a. der UdSSR und Jugoslawiens – ähnlich wie nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns 1918, neue Probleme schuf bis hin zur Frage, wie die so entstandenen machtpolitischen Vakua gefüllt werden können. Harm-Hinrich Brandt, der als Sohn bremischer Eltern 1935 in Stuttgart geboren wurde und seit 1945 in der Hansestadt aufwuchs, studierte von 1954 bis 1960 an der Universität Marburg die Fächer Geschichte, Politologie, Philosophie und Germanistik  ; zwei Semester verbrachte er an der Universität Freiburg. Sein wichtigster Lehrer in Marburg war Fritz Wagner (1908–2003). Ab 1961 war Brandt als dessen Assistent zunächst in Marburg, dann, ab 1966, in München tätig  ; 1970 wurde er dort zum Akademischen Rat ernannt. Drei Prägungen erscheinen mir aus dieser Periode wichtig zu sein  : Erstens Brandts Mitarbeit am Neuaufbau eines Seminars für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Marburg, woraus sich ein vertieftes Interesse an diesem historischen Teilfach und dessen theoretischen Grundlagen entwickelte. Zweitens die Redaktion des von Fritz Wagner herausgegebenen Bandes IV des Handbuchs der europäischen Geschichte »Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung«, woraus eine intensive Beschäftigung mit dem frühneuzeitlichen Europa resultierte. Drittens seine selbständige Lehrtätigkeit in München zur deutschen und europäischen Geschichte v. a. des 19.  Jahrhunderts und damit einer Erweiterung des Blicks auf die Epoche, die heute gemeinhin das »lange 19. Jahrhundert« genannt wird. Nachdem Brandt zunächst v. a. zur hessischen Wirtschaftsgeschichte g­ eforscht hatte, wandte er sich seit 1963 erstmals der Geschichte der Habsburgermonarchie zu. Dies hing zusammen mit seinem Habilitationsprojekt über den österreichischen Neoabsolutismus (1848 bis 1860). Diese zweibändige Studie, an der er bis 1975 arbeitete, erschien 1978 in der renommierten Reihe »Schriftenreihe der

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Matthias Stickler

Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften«.1 Sie verknüpft auf breiter archivalischer Basis wirtschafts- und finanzgeschichtliche Fragen mit solchen der politischen und Verfassungsgeschichte. Brandt analysiert den Neoabsolutismus im Lichte seiner Finanzpolitik als administrative und ökonomisch innovative »Modernisierungsdiktatur«. Die durch die immensen Militärausgaben erzeugte Defizitwirtschaft erzwang gleichwohl am Ende den Übergang zu parlamentarischer Budgetkontrolle, wodurch die ungelösten Partizipationsprobleme im multinationalen Reich erneut aktualisiert wurden. Der multiperspektivische Ansatz der Habilitationsschrift sollte seither typisch für viele Veröffentlichungen Brandts wie auch überhaupt für sein Verständnis von Geschichtswissenschaft sein. Im Anschluss an seine Habilitation wurde Brandt 1975 die Lehrbefugnis für Mittlere und Neuere Geschichte verliehen und er zunächst zum Wissenschaftlichen Rat, im Oktober 1978 dann zum Universitätsprofessor (C3) ernannt. Zum 1. Oktober 1980 folgte er schließlich einem Ruf auf den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Würzburg. Mit dem 31. März 2000 wurde er als Ordinarius in den Ruhestand versetzt. In Würzburg lehrte Brandt deutsche und europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter Einschluss der Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, darunter auch immer wieder Themen zur Geschichte der Habs­burgermonarchie. Diese sollten ihn auch in der Forschung nicht mehr loslassen. Er legte seit den 1980er Jahren eine ganze Reihe von Vorträgen und Aufsätzen zur politischen, Sozial- und Verfassungsgeschichte der Habsburgermonarchie vor und profilierte sich auf diese Weise als maßgeblicher Experte zur Geschichte dieses Vielvölkerreichs in der Bundesrepublik Deutschland. In dem 1999 erschienenen, auf jahrelangen intensiven Forschungen fußenden Band »Deutsche Geschichte 1850–1870«2 ordnete Harm-Hinrich Brandt die Geschichte der Habsburgermonarchie in der frühen Ära Kaiser Franz Josephs ein in die Geschichte des Deutschen Bundes und präsentierte auf diese Weise einen überzeugenden historiographischen Gegenentwurf zu älteren, aber auch zeitgenössischen, etwa von den Repräsentanten der Historischen Sozialwissenschaft vertretenen genuin preußisch-kleindeutschen Deutungen der Geschichte Deutschlands im früher so genannten »Zeitalter Bismarcks«. 1 Harm-Hinrich Brandt  : Der Österreichische Neoabsolutismus  : Staatsfinanzen und Politik 1848– 1860, 2 Bde. (=Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 15), Göttingen 1978. 2 Harm-Hinrich Brandt  : Deutsche Geschichte 1850–1870. Entscheidung über die Nation, Stuttgart 1999.

Vorwort des Herausgebers 

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Der vorliegende Band versammelt 14 zwischen 1985 und 2019 entstandene Ab­handlungen Harm Hinrich Brandts zu verschiedenen Aspekten der Geschichte der Habsburgermonarchie. Die Aufsätze haben ihren Schwerpunkt im »langen 19. Jahrhundert« mithin in der Spätphase des Habsburgerreichs, sie bieten in ihrer Gesamtheit einen repräsentativen Querschnitt seines diesbezüglichen historiographischen Schaffens in den vergangenen 25 Jahren. Zu den Themen, die Brandt immer wieder beschäftigten, gehören die Integrationsprobleme der Habsburgermonarchie. Bereits in einem frühen Aufsatz hatte er diese analysiert und zugleich Betrachtungen darüber angestellt, aus welchen Gründen das klassische (westeuropäische) Parlamentarismus-Modell auf die multinationale Habsburgermonarchie nicht anwendbar war. Auch der deutsch-österreichische Liberalismus der »Verfassungspartei«, blieb in seiner parlamentarischen Arbeit Gefangener der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen sowie seiner schmalen sozialen Basis und seiner »josefinischen« Orientierung. Auf der anderen Seite war der völlig anders strukturierte ungarische Parlamentarismus ebenfalls kritikwürdig, da er auf schmaler ethnischer Basis Ungarn in einen magyarischen Nationalstaat verwandeln wollte. Dem später alles beherrschenden Nationalitätenhader widmete Brandt einen Aufsatz, der den 1848 aufbrechenden Nationalismus in einen gesamt-mitteleuropäischen Kontext stellt, dabei seine destruktiven Wirkungen in Österreich hervorhebt. Die späten Aufsätze zu den deutschen Turnvereinen in den Böhmischen Ländern beleuchten diese Nationalitätenkonflikte nochmals von einer spezifischen Seite und geben zugleich Einblicke in das Problem des Antisemitismus. Die alternativen Konzepte österreichischer Historiker zum Phänomen des Neoabsolutismus veranlasste Brandt 2011, in einer Tagung deren grundlegende Probleme nochmals zu diskutieren. Dabei stand nunmehr die Bewertung der Entwürfe zu neoständisch gegliederten Landesbeiräten im Vordergrund, die eine vorsichtige Öffnung zu einer Partizipation der Regierten vorsah. Da das neoständische Kurienmodell später zum Muster für die Repräsentationsorgane der nachfolgenden Verfassungen wurde, kam diesen Entwürfen eine bleibende Bedeutung für den cisleithanischen Parlamentarismus zu und belastete diesen erheblich wegen der extremen Stimmgewichtsdifferenz in den Wahlkurien und den damit verbundenen Manipulationsmöglichkeiten. Diese Dysfunktionalität führte dann regelmäßig zum Rückfall in ein bürokratisches Notstands-Regime. Der der deutschen Staatenwelt insgesamt eigene Vorrang von Verwaltung vor Verfassung im Übergang vom Staatsabsolutismus zur konstitutionellen Monarchie erhielt für Österreich damit eine besondere Brisanz. In seiner Einleitung

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Matthias Stickler

zum Tagungsband, der hier wieder abgedruckt ist, stellt Brandt diese Zusammenhänge und Besonderheiten entsprechend heraus. Die wirtschaftsgeschichtlichen Elemente seiner Habilitationsschrift wurden von Brandt wesentlich ergänzt mit einer Studie zur Entstehung des österreichischen Wirtschaftsbürgertums vom späten 18. Jahrhundert bis 1848, der die höfisch-aristokratischen und gouvernemental-bürokratischen Integrationsmuster hervorhebt und aus den Rahmenbedingungen des europäischen West-Ost-Gefälles der Industrialisierung die Abhängigkeit von staatlichem Zollschutz ableitet, die bis zum Ende der Monarchie die Neigung zu Protektionismus bestimmte. Ebenso vertiefte Brandt seine Einsichten zur notorischen Finanzschwäche im Neoabsolutismus mit einem Rückblick auf die fiskalische Katastrophe der napoleonischen Kriege, die zum »Staatsbankrott« von 1811 führte. Der Schock über die brachiale Beendigung der Papiergeldwirtschaft überdauerte in Österreich bis in die zweite Jahrhunderthälfte  ; die von außen erzwungene Restaurierung der Altschulden gelang nicht wirklich, weil bis 1848 ein ständig neuer Anleihedarf herrschte, der v. a. vom Haus Rothschild bedient wurde. Die Monarchie geriet also bereits hoch belastet in die Zeit der Revolutionskriege und des Neoabsolutismus mit ihrer Fortsetzung der Defizitwirtschaft. Rothschild zog sich zunächst zurück, kehrte aber  – nach vorübergehender französischer Orientierung unter Innenminister Alexander von Bach (Krimkrieg)  – unter Finanzminister Karl Ludwig von Bruck triumphal zurück und gestaltete mit Credit-Anstalt-Gründung und Eisenbahnbau führend den Investitionsschub der späten 1850er Jahre. Ein großer Themenblock der Abhandlungen Brandts betrifft die österreichische Deutschland- und allgemeine Außenpolitik. Diese sieht er eng mit der Person des Kaisers verbunden, der nach dem Tode seines Lehrmeisters Schwarzenberg die Position Österreichs im Deutschen Bund bis zum bitteren Ende zäh verteidigte und 1863 auch persönlich den vergeblichen Versuch unternahm, diesen Bund moderat zu reformieren. Sein Gegner Bismarck, der während seiner Zeit als Bundesbevollmächtigter nicht müde wurde, das »wurmstichige Orlogschiff« mit Hohn und Spott zu überziehen, schwenkte bekanntlich 1878/79 mit dem Zweibund auf eine Defensiv-Position ein, um die Monarchie gegenüber Russland zugleich zu schützen und zu fesseln. Angesichts der militärischen Umtriebe in Wien und Berlin (Präventivkrieg) und des magyarischen Chauvinismus wurde dieses Defensiv-Konzept immer unpopulärer, vor dem Hintergrund französischer Dauerfeindschaft und russischen Drucks die diplomatischen Manöver des Kanzlers immer komplizierter. Auch hegte der Kanzler inzwischen Zweifel an der inneren Festigkeit der Monarchie. Mitarbeiterzeugnissen zufolge wäre er bereit gewesen, äußerstenfalls Österreich-Ungarn

Vorwort des Herausgebers 

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zu opfern. Ob er damit in Berlin durchgekommen wäre, stehe dahin, meint Brandt, der Bismarcks Einschätzungen quellenbasiert noch einmal reflektiert. Die »Waffenbrüderschaft« des Ersten Weltkrieges führte in den verbündeten Monarchien zu einer Wiederaufnahme von Brucks Mitteleuropa-Ideen aus der Ära Schwarzenberg, nunmehr jedoch vornehmlich von reichsdeutscher Seite propagiert. Wie schon unter Bruck gestaltete sich die Bewegung als publizistische Offensive mit variantenreichen, auf die Anbindung Südosteuropas gerichteten Zielen eines »Föderativ-Imperialismus«. Brandt setzt sich in seiner Abhandlung vor allem mit den grobschlächtigen Thesen der DDR-Forschung, aber auch mit den Interpretationen von Fritz Fischer auseinander. Er besteht auf der Eigenständigkeit von Friedrich Naumanns Föderalismus-Konzept, ohne damit das insgesamt sehr vage Projekt retten zu wollen  ; diese wurde mit Kriegsende ohnehin obsolet. Harm-Hinrich Brandt hat die Geschichte der Habsburgermonarchie stets interpretiert als Teil der deutschen Geschichte im europäischen Rahmen. Letzteres implizierte für ihn eine deutliche Abgrenzung von älteren »großdeutschen« bzw. »gesamtdeutschen« historiographischen Traditionen. Im Grunde hat er viele Aspekte der jüngeren US-amerikanischen Forschung zur Geschichte der Habsburgermonarchie vorweggenommen,3 ohne dass dies damals umfänglicher rezipiert worden wäre. Er steht damit in einer heute in Deutschland wie in Österreich selten gewordenen historiographischen Tradition, die den Eigenwert der Geschichte der Habsburgermonarchie betont und diese nicht an einem scheinbaren (nationalstaatlichen bzw. konstitutionellen) »Normalweg« misst. In einer Zeit, in der die europäische Gegenwart unübersichtlicher denn je erscheint, kann diese Perspektive beitragen zu einem inklusiven Blick auf die Geschichte Europas, der dringend notwendig ist. Insofern erscheint es sinnvoll und notwendig, Brandts Aufsätze zur Geschichte der Habsburgermonarchie noch einmal gesammelt herauszugeben. Sie haben nichts von ihrem wissenschaftlichen Wert und ihrer Aktualität eingebüßt. Der Druck der in diesem Band vorgelegten Aufsätze folgte grundsätzlich dem Erstdruck, wobei Druckfehler und Irrtümer korrigiert und die Texte auch sonst gründlich durchgesehen wurden. Neue Forschungsliteratur zu den einzelnen Beiträgen wurde nur in Ausnahmefällen nachgetragen. Würzburg, im Oktober 2019

Matthias Stickler

3 Vgl. Etwa zuletzt  : Pieter M. Judson  : Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918. München 2017 (engl. OA 2016 u. d. T. »The Habsburg Empire. A New History«).

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Inhalt

Parlamentarismus als staatliches Integrationsproblem. Die Habsburger-Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Public Finances of Neo-Absolutism in Austria in the 1850s. Integration and Modernisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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The Revolution of 1848 and the Problem of Central European Nationalities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 84

Liberalismus in Österreich zwischen Revolution und Großer Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

Kaiser Franz Joseph und die österreichische Außenpolitik von 1848 bis 1866. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142

»Wurmstichiges Orlogschiff« ? Bismarcks Einschätzung der Habsburgermonarchie.. . . . . . . . . . . .

186

Ungarn 1848 im europäischen Kontext. Reform – Revolution – Rebellion. Ein Korreferat . . . . . . . . . . . . . . .

208

Das Wirtschaftsbürgertum Österreichs von den Anfängen der Industrialisierung bis 1848.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

Von Bruck zu Naumann. »Mitteleuropa« in der Zeit der Paulskirche und des Ersten Weltkrieges.. .

250

Deutsche Turnvereine in Prag 1861–1914. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

Deutsche Turnvereine in Brünn 1861–1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

332

Die Wiener Rothschilds seit 1820 und die Gründung der Creditanstalt 1855 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Der österreichische ›Staatsbankrott‹ von 1811 – Vorgeschichte und Folgen. Probleme der Kriegslastenbewältigung in einer schwach integrierten Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Verwaltung vor Verfassung. Zum historischen Ort des ›Neoabsolutismus‹ in der Geschichte ­ Österreichs. Einleitung zu einem Tagungsband . . . . . . . . . . . . . . .

438

Der österreichische Reformplan für den Deutschen Bund von 1863. . . . .

459

Erstveröffentlichungen der Aufsätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Parlamentarismus als staatliches Integrationsproblem Die Habsburger-Monarchie

Fragen der Parlamentsbildung und Verfassungsschöpfung pflegen in den Geschichts- und Sozialwissenschaften unter zwei konkurrierenden Gesichtspunkten behandelt zu werden  : einerseits als Resultat der Konfliktaustragung zwischen Regierung und Regierten mit dem Ziel der Regierungskontrolle durch ständische oder repräsentative Versammlungen, der Etablierung von Gewaltenteilung und der Sicherung von Grundrechten  ; andererseits als Vorgang der politischen Integration. Wenn im Folgenden vom Paradigma der Integration ausgegangen wird, so deshalb, weil es – richtig verstanden – kategorial dem Konfliktbegriff übergeordnet ist und diesen mit umgreift. Parlamentsbildung und Parlamentsgeschichte werden unter dieser Voraussetzung als Prozess aufgefasst, in den die Intentionen der Handelnden eingehen, und der diese Intentionen wiederum seinerseits konditioniert.1 Es wird also – am Beispiel der Habsburger-Monarchie – nach den Faktoren gefragt, die die Parlamentsbildung als solche begünstigten, behinderten oder verhinderten, womit die alte Frage nach den Existenzbedingungen und Chancen dieses politischen Gebildes aus einer bestimmten, aber von uns als nach wie vor zentral angesehenen Perspektive angegangen wird.2 1 Zur Präzisierung des Prozess-Begriffes und seiner methodischen Anwendung in der Geschichtswissenschaft im Rahmen einer Theorie der Handlungskonnexe vgl. die klärenden Überlegungen von Christian Meier, Fragen und Thesen zu einer Theorie historischer Prozesse, in  : Historische Prozesse, hg. v. Karl-G. Faber u. C. Meier (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 2), München 1978, S. 11–66, insbes. S. 25–47, 51 ff. 2 Das Schwergewicht des gesch.-wiss. Interesses liegt seit geraumer Zeit auf den ökonomischen und sozialen Faktoren der Integration u. Desintegration der Habsburgermonarchie, denen das Nationalitätenproblem zugeordnet wird. Vgl. Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1848–1913. Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter Franz Josephs  I., Berlin 1972  ; Kristina M. Fink, Die österreichisch-ungarische Monarchie als Wirtschaftsgemeinschaft. Ein historischer Beitrag zu aktuellen Integrationsproblemen, München 1968  ; Ivan T. Berend u. György Ranki, Underdevelopment and Economic Growth. Studies in Hungarian Social and Economic History, Budapest 1979  ; Alois Brusatti (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung (= Die Habsburgermonarchie 1848–1918, hg. v. Adam Wandruszka u. Peter Urbanitsch, Bd. 1), Wien 1973, hier insbes. die Beiträge von Nachum Th. Gross, Herbert Matis, H. Matis /Karl Bachinger, Richard L. Rudolph, Ivan T. Berend/György Ranki, Ákos Paulinyi  ; dort weitere Lit. Zum Nationalitätenproblem als sozialem Schichtungsproblem vgl. unten Anm.  5. Zur Verknüpfung von Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit politischer und Verfassungsgeschichte bei Harm-Hinrich Brandt, Der

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Parlamentarismus als staatliches Integrationsproblem

Den folgenden Ausführungen liegt die soziologische und politologische Verwendung des Begriffs Integration3 zugrunde, wonach vor allem zwischen sozialer Integration und politischer Integration unterschieden wird. Höhere Formen der politischen Integration setzen ein großes Maß an sozialer horizontaler und vertikaler Integration voraus, gemessen an den Kriterien der Arbeits- und Funktionsteilung, der sozialen Mobilität, der Kommunikationsdichte und den Merkmalen mentaler Integration. Als »höhere Form« der politischen Integration ist im Sinne Smends4 vor allem der Übergang von persönlicher zu funktioneller Integration zu werten, im europäischen Horizont manifest im Spannungsverhältnis von Monarchismus und Parlamentarismus. Gerade das der Parlamentarisierung zugrundeliegende Sich-Unterordnen der rivalisierenden politischen Faktoren unter kollektiv zu respektierende Spielregeln der Willensbildung stellt eine (durchaus immer wieder gefährdete) Integrationsleistung von hohem Rang dar, die ohne Basisprozesse der sozialen Integration nicht vorstellbar ist. Dies wird sogleich sichtbar, wenn der Fall des Scheiterns der Parlamentsbildung und dessen Erscheinungsformen in den Blick genommen werden  : Nichtbeschickung, Obstruktion, Sezession. In diesem Sinne ist die Habsburger-Monarchie vor alösterreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde., Göttingen 1978, insbes. S. 997–1029. 3 Begriff und Theorie der sozialen Integration wurden in der Soziologie v. a. von Talcott Parsons entwickelt. Weiterentwicklung des Parsonsschen Ansatzes bei Niklas Luhmann, Differenciation of Society, in  : Canadian Journal of Sociology 2,1 (1977), S.  29–53. Zur Einführung vgl. auch Stefan Jensen, Systemtheorie, Stuttgart 1983. Dagegen die Betonung des Konfliktmoments bei Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, München 1961 u. ö. In der Verfassungslehre wurde der Integrationsansatz von Rudolf Smend entwickelt (ders.: Verfassung und Verfassungsrecht, München 1928). Zur innerjuristischen (z. T. kontroversen) älteren Diskussion vgl. Josef Häußling, Integration, in  : Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Freiburg 61959, Bd.  4, S.  341–346. Das Konzept Smends, Staatsverfassung nicht von den Institutionen und Normen her, sondern als ständig durch die Teilhaber neu zu vollziehende Lebensordnung zu sehen, mag in der Tat für den Verfassungsrechtler instrumentell wenig tauglich zur theoretischen Fundierung seines Geschäfts der Normenauslegung sein  ; insofern ist die Kritik von positivistischer Seite verständlich. Die Vorteile für die empirisch gerichtete Frage nach den politisch-sozialen Rahmenbedingungen für »Erfolg« und ,,Misserfolg« von Verfassungsgestaltung und für Verfassungswandel liegen auf der Hand. In diesem Sinne Wiederaufnahme durch Helmut Schelsky, Über die Stabilität von lnstitutionen, besonders Verfassungen, in  : Jb. f. Sozialwissenschaft 3 (1952), S. 1–21  ; wieder in  : ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf/Köln 1965, S.  33–55. Gegenüber dem ordnungstheoretischen Ansatz von Ernst Rudolf Huber (vgl. dazu jetzt kritisch die eindringliche Rezension der 7 Bände Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 von Hans Boldt in  : Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 252–271) sei betont, dass ich Integration als Prozess-Kategorie verstanden wissen möchte, die den Ordnungsansatz und den Konfliktansatz umgreift. 4 Smend, Verfassungs- und Verwaltungsrecht, op. cit., S. 18 ff.

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lem als eindrucksvolles Negativbeispiel interessant  ; das Studium ihrer Integrationsdefizite wird aus systematischer Perspektive stets relevant bleiben, auch wenn dieses untergegangene Gebilde im historischen Bewusstsein langsam verblasst. Im Sinne der oben entwickelten Wechselbeziehungen wäre zunächst ausführlich über die spezifisch österreichischen Probleme der sozialen Integration zu sprechen, was hier nur in skizzenhaften Andeutungen geschehen kann  : Während sich im ökonomischen Bereich zahlreiche Merkmale eines hohen Integrationsgrades ausmachen lassen, wird der entscheidende Defekt herkömmlicherweise im Bereich der mentalen Integration gesucht und mit der Multinationalität in Verbindung gebracht. Das ist auch richtig bzw. dem historischen Verlauf zunehmend angemessen, insoweit und je mehr Sprache und Fundamentalalphabetisierung für das Kommunikationssystem entscheidend werden und damit einhergehend der ethnische Nationalismus als wichtigstes emotionales Ferment der Stiftung von Gruppenidentität die Religion und Konfession in dieser Rolle ablöst. Man darf jedoch das Faktum der ethnischen Differenz nicht isolieren oder gar zu monokausaler Erklärung verwenden  ; andere Beispiele (Schweiz) zeigen, dass ethnische Differenz die politische Integration nicht behindern muss. Vielmehr ist das Nationalitätenproblem einmal im Zusammenhang mit Herrschafts- und Schichtungsproblemen zu sehen (soziale Emanzipation wird als nationaler Kampf erlebt)  ; zum anderen verwob sich die Multinationalität in der Habsburger-Monarchie mit dem historisch älteren Kronlands-Partikularismus, also einer vorgegebenen politischen Größe, trat in dessen Erbe ein und entwickelte auf diese Weise jene konfliktreiche Mischung von politischen Integrationsproblemen, die für Österreich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zu seinem Untergang charakteristisch ist.5 Die Habsburger-Monarchie war, wie andere europäische Großstaaten anfänglich auch, eine monarchische Union von Ständestaaten,6 hat diese Stufe je5 Diese Wechselbeziehungen für das zentrale deutsch-čechische Verhältnis besonders klar herausgearbeitet von Friedrich Prinz, Die böhmischen Länder von 1848 bis 1914, in  : Karl Bosl (Hg.), Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 3, insbes. S. 80–102, 202–235. Standardwerk unter allseitiger Berücksichtigung der für die Nationalitätenfrage relevanten Faktoren nunmehr Band 3, 1–2 des Sammelwerkes  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, hg. v. Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch, Bd. 3,1–2  : Die Völker des Reiches, Wien 1980. Zur soziologischen Erklärung des Nationalismus als Modernisierungsphänomen vgl. v. a. die Arbeiten von Karl W. Deutsch, insbes. ders., Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, Düsseldorf 1972. Vgl. auch Heinrich August Winkler (Hg.), Nationalismus, Königstein 1978, insbes. Einleitung, S. 5–46. 6 Begriffsprägung von Otto Brunner  ; vgl. ders., Das Haus Osterreich und die Donaumonarchie, in  : Südostforschungen 14 (1955), S. 122–144  ; a.a.O., S. 126. In der rechtswissenschaftlichen Tradition der österreichischen Verfassungsgeschichte stehen  : Ernst C. Hellbling, Österreichische Ver-

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doch weder unter den frühneuzeitlichen Bedingungen des Fürst-Stände-Dualismus (etwa durch Bildung von Generalständen) noch unter den Bedingungen des fürstlichen Absolutismus überwunden und trat auf dieser unvollendeten Stufe der monarchischen Integration in das europäische Zeitalter der konstitutionellen Bewegung ein, die auf der Grundlage fundamentaler Mobilisierungs- und Emanzipationsvorgänge die Frage der Herrschafts-Legitimation in neuer Weise thematisierte. Diese Bewegung konfrontierte das unvollendete Reich mit dem Problem, von der ausschließlich monarchischen zur konstitutionell-parlamentarischen Integration fortzuschreiten, also ein Reich überhaupt erst zu konstituieren, eine zentrale Vertretungskörperschaft zu schaffen, den Monarchen in ein Staatsorgan zu verwandeln und das Verhältnis von Reichsganzem und Reichs­ teilen konstitutionell zu regeln. Um diese Frage wurde von 1848 bis 1867 gerungen  ; die Auseinandersetzungen endeten mit dem Verzicht auf Reichseinheit und Reichsparlament im sog. Ausgleich mit Ungarn. Die mit der Errichtung von zwei Staaten bei starker Stellung des gemeinsamen Monarchen festgeschriebene Kräftekonstellation verhinderte jedoch in der Folge eine weitere Föderalisierung, die zu einer einvernehmlichen Konstituierung des Reiches oder auch nur der westlichen Reichshälfte hätte führen können. Den Čechen wurde eine analoge Anerkennung des »böhmischen Staatsrechts« versagt. Konsequenterweise blieb der cisleithanische Reichsrat in seiner Geltung als Zentralparlament der westlichen Reichshälfte umstritten  ; Phasen seiner Beschickung unter Vorbehalt wechselten mit Phasen seiner Boykottierung durch unterschiedliche politische Gruppen oder seiner Lahmlegung durch Obstruktion. Das konstitutionelle Regierungssystem mit seiner verfassungsrechtlich ohnehin starken Position des Monarchen fiel unter diesen Bedingungen auf das Niveau einer bürokratischen Autokratie zurück. Der Versuch, den Parlamentarismus durch Übergang zum Allgemeinen Wahlrecht wieder funktionsfähig zu machen, scheiterte, da die neuen Wählerschichten und Parteien des vierten Standes überwiegend den vorgegebenen Mustern der nationalen Desintegration folgten. Aus dem hier skizzierten Gesamtprozess soll im Folgenden die für das Konstitutionalisierungsproblem entscheidende Periode von 1848 bis 1871 unter Beachtung der historischen Voraussetzungen eingehender analysiert werden. Daraus ergibt sich eine Perspektive der strukturellen Konsequenzen für die Endphase der Habsburger-Monarchie.

fassungs- und Verwaltungsgeschichte, Wien/New York 21974  ; Wilhelm Brauneder u. Friedrich Lachmayer, Österreichische Verfassungsgeschichte, Wien 1980.

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Wir sagten einleitend, dass die Habsburger-Monarchie wie andere Großstaaten anfänglich auch eine monarchische Union von Ständestaaten war, dass sie aber diesen ausschließlich dynastischen Bezug ihres Zusammenhaltes nie überwunden hat, was sich schon an der Problematik ihres Namens zeigt. Ausdruck dieses Sachverhalts ist die Tatsache, dass die Pragmatische Sanktion von 1713 bis 1918 hin das einzige für den Gesamtverband verbindliche Verfassungsgesetz geblieben ist. Es organisierte den Zusammenhalt des Ganzen im Wege einer allen Ländern gemeinsamen Thronfolgeordnung, und zwar zunächst in der Form eines internen Hausgesetzes, das dann aber von den Ständen aller Länder einzelweise angenommen und sanktioniert wurde und damit in allen Ländern ein Bestandteil des Landrechts wurde, modern gesprochen  : Verfassungsrang erhielt. Der Grund, weshalb sich das Haus Habsburg überhaupt herbeiließ, ein Hausgesetz in dieser Weise den einzelnen Ständen zu unterbreiten, lag in der Notwendigkeit begründet, das Thronfolgerecht in einem Moment, wo es nur weibliche Nachkommen gab, so zu vereinheitlichen, dass das Recht der weiblichen Sukzession künftig in allen Ländern galt, eine Auflösung des Besitzkomplexes also verhindert wurde  ; und hierzu war eben in einigen Ländern, vor allem in Ungarn, eine Verfassungsänderung nötig.7 Die Pragmatische Sanktion organisierte das Reich, wie man hübsch gesagt hat, als einen großen Kronfideikommis.8 Sie besagt in einfacher Formulierung ihres Grundgedankens, dass die Länder inseparabiliter et indivisibiliter vereint bleiben sollten, solange es Habsburger in männlicher und weiblicher Deszendenz9 gab, und dies wurde von dem gemeinsamen Monarchen als jeweiligem Landesfürsten mit jedem Land separat vertraglich geregelt. Wir haben es also mit einem Gebilde zu tun, dessen Existenz unter Absehung von der gemeinsamen Dynastie nicht gedacht werden kann. In diesem Zusammenhang ist nicht ohne Interesse, dass in den Vorverhandlungen zur Pragmatischen Sanktion von ungarischer Seite für einen Moment der Gedanke auftauchte, die Verträge mit der Dynastie durch wechselseitige Unionsverträge der Länder untereinander zu ergänzen (die Ungarn waren damals an einer Garantie der kollektiven Türkenkriegshilfe interessiert)  ; doch hat die 7 Umfangreiche Lit., vgl. die Verfassungsgeschichten von Hellbling und Brauneder [Anm.  6]. Grundlegend Gustav Turba, Die Grundlagen der Pragmatischen Sanktion, 2 Bde., Leipzig/Wien 1911, 1912. 8 Viktor Bibl, Die Tragödie Osterreichs, Leipzig/Wien 1937 [u. ö.], S. 33. 9 Zu den einschränkenden Präzisierungen des Erbfolgerechts und zu den Abweichungen in der ungarischen Fassung, die hier außer Acht gelassen werden, vgl. die Auflistung der z. T. kontroversen Lit. im Artikel »Pragmatische Sanktion« von F. Hauke in  : Österreichisches Staatswörterbuch, hg. v. E. Mischler u. J. Ulbrich, Wien 21906–09, Bd. 3, S. 969–973.

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Dynastie dies vereitelt, so wie sie Tendenzen der Ständeverbrüderung früher und später konsequent bekämpft hat, weil sie darin nach den Erfahrungen der konfessionellen Kämpfe eine antimonarchische Spitze erkannte.10 Ansätze zu einer Entwicklung, die zu Generalständen hätte führen können, hat es im habsburgischen Bereich nicht gegeben. Diese verfassungsrechtliche Stagnation ist freilich nur die eine Seite der Ent­­ wicklung. Auf der anderen Seite steht die absolutistisch-bürokratische Inte­ gration der westlichen Reichshälfte im zentralistischen Sinn unter faktischer Zurückdrängung der Landstände und eines Teiles der ständisch-feudalen Herrschaftsrechte. Sie geht auf Ferdinand II. zurück, war aber im Wesentlichen eine Leistung Maria Theresias und Josefs II. und umfasste zunächst den Komplex der deutschen Erbländer und der böhmischen Länder, dem später die Erwerbungen in Polen und Italien angegliedert wurden. Es gelang freilich nicht, Ungarn in dieses System einzubeziehen  ; das Reich der Stephanskrone blieb ein von der politischen Adelsnation getragener Ständestaat mit intakten ständisch-parlamentarischen Institutionen, gestützt auf die von keiner königlichen Bürokratie berührten Selbstverwaltungsrechte der Komitate. Joseph II. hat versucht, auch Ungarn in das absolutistische System einzubeziehen und die Macht der Adelsnation durch die bürokratische Durchdringung des Landes zu brechen. Der drohende allgemeine Aufstand beendete dieses Experiment und leitete 1791 die Rückkehr zum Status quo ante ein. Diese Erfahrungen sowie das Erlebnis der französischen Revolution bestimmten die Dynastie und die führenden Staatsmänner der österreichischen Restaurations- und Vormärzzeit, den 1890/91 fixierten staats- und verfassungsrechtlichen Zustand nicht weiter zu verändern, weil sie von dem Bewusstsein geleitet waren, dass jede einschneidende Reform den Bestand des komplizierten Gebildes als solchen gefährden würde.11 Danach war die dualistische Reichsstruktur festgeschrieben  : in Ungarn ein magyarisch beherrschter altständischer Parlamentarismus mit einer Beschränkung der monarchischen Gewalt auf eine mehr oder minder eng umschriebene königliche Prärogative  ; im Westen ein bürokratisch-absolutistisch überformtes Länderkonglomerat, wobei die einzelnen Landesverfassungen in ihrer Bedeutung zurückgedrängt, formal aber nach wie vor in Geltung waren, die provinzialen Landstände auch weiterhin nicht unwichtige legislative und administrative Funktionen erfüllten.12 Übrigens 10 Knappe Problemskizze bei Josef Redlich, Das österreichische Staat und Reichsproblem, 2 Bde. in 3, Leipzig 1920, 1926, Bd. 1, S. 1–22. 11 Knapper Überblick bei Hellbling, Verfassungsgeschichte [Anm. 6], S. 318–342. 12 Hierzu unter finanzpolitischem Aspekt Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 2], 1, S. 12–25, mit Lit.

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machten diese Landstände in den letzten Vormärzjahren auch politisch wieder von sich reden, wobei die altfeudalen Frondeure teils Anschluss an die bürgerlich-liberale Bewegung suchten, teils die Sprach- und Kulturbewegung der erwachenden nichtdeutschen Nationalitäten unterstützten.13 Die Revolution von 1848 brachte nun das unter der Decke gehaltene österreichische Staats- und Reichsproblem explosionsartig an die Oberfläche. Die historische Bedeutung dieses Jahres liegt darin, die Integrationsproblematik in ihrer ganzen Schärfe bewusst zu machen, nicht, sie einer Lösung nähergebracht zuhaben. Bei vorübergehender Zurückdrängung des monarchischen Faktors bestimmten zwei bewegende Kräfte das Revolutionsgeschehen auf der verfassungspolitischen Ebene  : die deutsch-bürgerliche Bewegung der akademischen Intelligenz vorab in Wien orientierte sich am westeuropäischen Konstitutionalismus  : verfassungsmäßige Beschränkung der monarchischen Gewalt durch parlamentarische Repräsentation, Gewaltenteilung, Grundrechte. Ähnlich orientierte sich die revolutionäre Bewegung innerhalb der ungarischen politischen Nation, also der magyarischen Gentry und ihrer akademischen Intelligenz. Daneben ereignete sich (neben der Separation des Lombardo-Venezianischen Königreichs) unter ganz anderen kategorialen Rahmenbedingungen das sog. »Erwachen der Völker«, also das Selbstbestimmungsverlangen v. a. der kleineren slawischen Völker. Das Aufeinanderstoßen dieser verschiedenartigen Elemente führte sehr rasch zu kompliziert miteinander verschränkten kriegerischen Auseinandersetzungen.14 Am rigorosesten setzte sich gleich zu Anfang die ungarische politische Nation mit ihren verfassungspolitischen Zielen durch. Sie erreichte schon im April 1848 von der schwachen Wiener Zentralregierung die Bildung einer eigenen, parlamentarisch verantwortlichen ungarischen Regierung, eine Errungenschaft, die die Perspektive der vollen Staatlichkeit Ungarns und der Lösung des Verhältnisses zu Wien im Sinne einer reinen Personalunion in sich barg. Eine Wahlrechtsreform auf Zensusbasis sorgte für eine Modernisierung der ungarischen Ständetafel (des Unterhauses) im Sinne des liberal-konstitutionellen Repräsentationsprinzips.15 Orientierungspunkt dieser ungarischen Staatswerdung 13 Viktor Bibl, Die Niederösterreichischen Stände im Vormärz. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Revolution des Jahres 1848, Wien 1911  ; Hanns Schlitter, Aus Österreichs Vormärz, 4 Bde., Zürich/Leipzig/Wien 1920. 14 Detaillierteste Ereignisgeschichte der Revolution in der Habsburgermonarchie jüngerer Zeit Rudolf Kiszling, Die Revolution im Kaisertum Österreich 1848–1849, 2 Bde., Wien 1948. 15 Deutscher Text der Gesetzesartikel bei Edmund Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, Wien 21911, S. 78–100.

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war der integrale Konstitutionalismus und Nationalismus, wie wir ihn aus der französischen Revolutionsgeschichte kennen und wie er der europäischen Natio­ nalstaatsbildung des 19. und 20. Jahrhunderts zugrunde liegt. Dass die Magyaren nur rund 40 % der Bevölkerung des Königreiches ausmachten,16 lässt diese Nationalstaatsbildung problematisch erscheinen, war aber für das Denken der im Reichstag repräsentierten politischen Nation irrelevant. Die Ideologie der Nationsbildung als eines voluntativen Aktes entsprach durchaus dem westeuropäischen Prinzip des subjektiven Nationalismus  ;17 repräsentationstechnisch wurde diese Fiktion in Ungarn gewährleistet durch die Bindung des passiven Wahlrechts an die Kenntnis der magyarischen Sprache als parlamentarischer Verhandlungssprache. Diese Vorgänge führten 1848 innerhalb Ungarns sehr bald zu Aufstandsbewegungen der nichtmagyarischen Völker, womit der wiedererstarkten Habsburger Militärmonarchie dann 1849 bekanntlich der Hebel in die Hand gegeben wurde, Ungarn zu unterwerfen. In der westlichen Reichshälfte wurde zur gleichen Zeit erstmals die für die weitere Zukunft richtunggebende Grundkonstellation einer weit komplexeren Konfiguration der politischen Kräfte offenbar, die schon aus machtpolitischen Gründen die Durchsetzung eines derart einschichtigen Integrationsmusters wie in Ungarn verbot. (Dabei wird hier von der zusätzlichen Komplizierung des Verfassungsproblems durch die Frankfurter Paulskirche abgesehen). Der letzte Akt der vormärzlichen Regierung hatte darin bestanden, einen vorsichtigen Verfassungswandel über die Berufung vereinigter Landtagsausschüsse einzuleiten, verfassungsrechtlich also an die Kontinuität der Länder und ihrer altständischen Institutionen anzuknüpfen.18

16 Nationalitätenstatistik bei Laszló Katus, Die Magyaren, in  : Die Habsburgermonarchie [Anm. 5], Bd. 3,1, S. 410–488, S. 418. 17 Dazu allg. die Arbeiten von Theodor Schieder, insbes. ders., Typen und Erscheinungsformen des Nationalstaats in Europa, in  : HZ 202 (1966), S.  58–81. Zu Ungarn jetzt die sehr gehaltvolle Darstellung von Ludwig Gogolak, Ungarns Nationalitätengesetze und das Problem des magyarischen National· und Zentralstaates, in  : Die Habsburgermonarchie [Anm. 5] Bd. 3,2, S. 1207– 1303. Grundprobleme der ungarischen Verfassungsstruktur unter sozialgeschichtlichem Aspekt behandelt auch George Barany, Ungarns Verwaltung 1848–1918, in  : Die Habsburgermonarchie [Anm. 5], Bd. 2, Verwaltung und Rechtswesen, S. 306–468. 18 Dazu die Arbeiten von Karl Hugelmann, Die österreichischen Landtage im Jahre 1848, in  : Archiv f. österr. Geschichte 111 (1929), S. 1–495  ; 114 (1938), S. 1–294  ; 115 (1940), S. 1–329  ; ders., Der ständische Zentralausschuss in Osterreich im April 1848, in  : Jb. f. Landeskunde von Niederösterreich, NF 12 (1913), Wien 1914, S. 170–260.

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Über diesen Versuch, der – auch ideologisch – etwa dem preußischen Experiment von 1842 entsprach,19 ging die Märzrevolution hinweg. Hingegen sahen Teile des böhmischen Hochadels in der Situation eine Chance, die historisierende Doktrin des »böhmischen Staatsrechts« zur Geltung zu bringen und die Resultate der absolutistischen Staatsbildung wieder infrage zu stellen. Die parallel zur ungarischen Aprilgesetzgebung von der hochkonservativ geführten böhmischen Bewegung erwirkte »Böhmische Charte«20 eröffnete die Perspektive einer analogen Anerkennung der Staatlichkeit der Länder der Wenzelskrone. Bei prekärer staatsrechtlicher Geltung blieb dieser Akt zwar praktisch folgenlos,21 doch wurde damit eines jener zentralen Themen des Verfassungsstreites angeschlagen, das die Politik der Monarchie bis an ihr Ende beherrschte. Das gouvernemental-liberal geführte Wiener Märzministerium suchte demgegenüber nunmehr die Integrität des theresianisch-josefinischen Zentralstaates monarchisch-bürokratischer Provenienz dadurch zu sichern, dass sie dessen Konstitutionalisierung in der Wahrung des monarchischen Prinzips und also im Verfassungsoktroi zu realisieren suchte.22 Verlaufstypisch entsprach dieser Vorgang von der Problem- und Motivlage her der Entstehung des süddeutschen Konstitutionalismus um 1818 und seinen staatsintegrativen Zwecken.23 Jedoch verhinderte die augenblickliche Schwäche von Dynastie und Zentralgewalt einen Erfolg dieses Versuches, die Revolution frühzeitig durch eine präventive Konstitutionalisierung von oben zu begrenzen und damit zugleich die Resultate der absolutistischen Staatsbildung durch ergänzende repräsentative Institutionen zu bestätigen. Der Wiener Radikalismus erzwang die Ersetzung des Oktrois durch die Berufung einer Konstituante24 und damit den Anschluss an die mitteleuropäische Bewegung dieses Jahres.

19 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, S. 484–490  ; eingehend jetzt Herbert Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus in Preußen, Düsseldorf 1984, S. 551 ff. 20 Text auszugsweise bei Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 1085 f. 21 Zum Gesamtkomplex Friedrich Prinz, Prag und Wien 1848. Probleme der nationalen und sozialen Revolution im Spiegel der Wiener Ministerratsprotokolle, München 1968. 22 Text bei Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 101–110. 23 Huber, Verfassungsgeschichte [Anm. 19], Bd. 1, S. 314–360. Kritisch zu Huber Herbert Obenaus, Finanzkrise und Verfassungsgebung. Zu den sozialen Bedingungen des frühen deutschen Konstitutionalismus, in  : Gerhard A. Ritter (Hg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung, Düsseldorf 1972, S. 57–75. Die integrative Bedeutung betont Karl Möckl, Der moderne bayerische Staat. Eine Verfassungsgeschichte vom aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Reformperiode, München 1979, S. 92 f. 24 Vorgänge bei Rudolf Kiszling, Revolution [Anm. 14], Bd. 1, S. 128 ff.

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Der Wiener/Kremsierer Reichstag war die erste und blieb die einzige Konstituante in der Geschichte der Habsburger-Monarchie. Seine Kompetenz erstreckte sich auf die westliche Reichshälfte mit Ausnahme des Lombardo-Venezianischen Königreichs. Auch wenn undeutlich blieb, ob das Vereinbarungsprinzip oder die uneingeschränkte Volkssouveränität Basis des Konstituierungsaktes sein sollte,25 so unterstellte bzw. fingierte dieser Akt doch unzweideutig die Existenz eines politisch handlungsfähigen cisleithanischen Staatsvolkes, das nunmehr auf der Basis eines fast allgemeinen Männerwahlrechts dem dynastisch und absolutistisch-bürokratisch zusammengefügten Länderkonglomerat erstmals die demokratisch legitimierten verfassungsrechtlichen Grundlagen eines vollentwickelten Staates verleihen sollte. Es gehört zu den bemerkenswertesten Momenten in der Geschichte der Habs­burger-Monarchie, dass der Anlauf in diesem Augenblick jedenfalls innerhalb der Versammlung erfolgreich war. Freilich war die reale politische Basis der Konstituante trotz oder besser gerade wegen des allgemeinen Wahlrechts nicht sehr breit  ; wesentliche politische Kräfte schalteten sich aus dem Prozess aus. So wirkten weder der Hochadel noch die etablierte hohe Bürokratie in nennenswerter Weise mit  ; die Dynastie übte Abstinenz. Die unter sich gelassenen bürgerlichen und bäuerlichen Abgeordneten der cisleithanischen Völker brachten jedoch einen Kompromiss über die Organisation ihres staatlichen Zusammenlebens zustande.26 Die Aufgabe, zu höheren und intensiveren Formen der politischen Integration vorzustoßen, musste dabei notwendigerweise die besonderen Probleme der ethnischen Heterogenität erstmals in aller Schärfe zum Gegenstand der Auseinandersetzung machen. Es zeigte sich bald, dass das dichotomische Schema des Konstitutionalismus, dem der deutsche bürgerliche Liberalismus und demokratische Radikalismus anhing und wonach die Beschränkung der monarchischen Gewalt im Staat durch parlamentarische Kontrolle und Gewaltenteilung im Zentrum der Kern der zu leistenden Verfassungsarbeit war, unter den 25 Die Proklamation vom 16.5.1848, spricht von der »Feststellung der Verfassung durch die konstituierende Reichsversammlung«, lässt also die Frage bewusst offen. Vgl. Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 111 f. 26 Grund1egend für das folgende Anton Springer (Hg.), Protokolle des Verfassungsausschusses im Österreichischen Reichstage 1848–1849, Leipzig 1885. Zum Problem der parlamentarischen Repräsentation und den damit zusammenhängenden Nationalitätenfragen in den Verfassungsbemühungen der Revolutionsjahre insbesondere die Monographie von Peter Burian, Die Natio­ nalitäten in »Cisleithanien« und das Wahlrecht der Märzrevolution 1848/49. Zur Problematik des Parlamentarismus im alten Österreich, Graz/Köln 1962. In der Eindringlichkeit der Analyse unübertrefflich Redlich, Staats- und Reichsproblem [Anm. 10], Bd. 1, S. 221–323.

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österreichischen Bedingungen zu kurz griff. Demgegenüber hoben vor allem die politisch geschulten Führer der Čechen die Unanwendbarkeit des integralen Parlamentarismus auf Österreich hervor und drangen auf föderative Lösungen. Die Čechen ihrerseits rückten in diesem Augenblick von der sonst im Verein mit den Hochkonservativen vertretenen böhmischen Staatsrechtsdoktrin ab und näherten sich dem Gesichtspunkt der ethnischen Föderalisierung.27 Sie gaben damit den besonderen böhmischen Integralismus preis, der bei der ethnisch heterogenen Besiedelung der böhmischen Länder auf dieselben Majorisierungsprobleme unter dem umgekehrten Vorzeichen einer čechischen Präponderanz führte, und öffneten sich so dem Gesamtstaatsgedanken. Der unter dem Eindruck der Frankfurter Ereignisse sich entfaltende Austroslawismus begünstigte diese Tendenz ebenso, wie die militärisch wiedererstarkende Monarchie die im Reichstag vertretenen Parteien zusammenrücken ließ.28 Der Versuch, Cisleithanien unter Schaffung eines Zentralparlaments zu konstitutionalisieren, führte unweigerlich auf das Grundproblem jedes Parlamentarismus, Reichweite und Grenzen des Majoritätsprinzips zu bestimmen. Parlamentarische Integration setzt einen höheren Grad der politischen und sozialen Integration voraus als der monarchisch-bürokratische Obrigkeitsstaat  ; anders ausgedrückt impliziert sie eine spezifische Integrationslast, die in der Akzeptanz des parlamentarischen Abstimmungsverfahrens zum Ausdruck kommt. Dieser Mechanismus der parlamentarischen Willensbildung fußt auf der Bereitschaft der Minorität, die Majorisierung zu akzeptieren und damit auf der Hinnahme des Prinzips, dass die Stimmen nicht gewogen, sondern mechanisch gezählt werden. Dieses Modell setzt die Homogenität des persönlichen Gewichts derjenigen voraus, die an der Willensbildung beteiligt sind, und geht unter dieser Prämisse von der Vorstellung aus, dass im parlamentarischen Verfahren die Majoritäten sich über die jeweils zur Entscheidung stehenden Sachfragen jedesmal durch die freie individuelle Entscheidung jedes Abgeordneten neu bilden, die parlamentarische Willensbildung also grundsätzlich offen ist. Neben das Postulat der Homogenität der Willensträger tritt somit das weitere Postulat, dass einer parlamentarischen Entscheidung nur Verfügbares, nicht aber der Willensbildung Unverfügbares unterworfen werden kann. Insofern die Parlamentsmitglieder Abge27 Dazu Burian, Die Nationalitäten in »Cisleithanien«, op. cit., S.  182 ff.; Redlich, Staats- und Reichs­problem [Anm. 14] 1, S. 270–282. 28 Friedrich Prinz in  : Handbuch Böhmische Länder, Bd.  3 [Anm.  5], S.  41 ff., 51–56. Ausführliche Schilderungen der gesamtpolitischen Situation bei Kiszling, Die Revolution [Anm.  14], 2, S. 297–330.

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ordnete sind, also als Repräsentanten durch Wahlen bestimmt werden, erweitert sich der Geltungsbereich dieser Prinzipien auf die Gesamtheit des Wahlvolkes oder auf die politische Nation. Sobald die entscheidende Voraussetzung, die Homogenität der Willensgemeinschaft, nicht gegeben ist, entfällt die Bereitschaft, sich majorisieren zu lassen, und damit die Möglichkeit der integralen politischen Willensbildung. In einer ständisch gegliederten, nach Besitz und rechtlichem Status differenzierten Gesellschaft fehlt diese Voraussetzung selbstverständlich  ; adäquater parlamentarischer Ausdruck dieses Sachverhalts war in der alteuropäischen Welt die Einteilung der Stände in Kurien oder Häuser, wobei jedes für sich homogen und dem Prinzip der Mehrheitsbildung unterworfen, im Zwischenverkehr dieser Häuser aber die Majorisierung ausgeschlossen war. Der entscheidende Durchbruch zu einer prinzipiellen Durchsetzung der Volkssouveränität mit der Konstruktion eines homogenen Staatsvolkes als politischen Willensträgers vollzog sich bekanntlich in der französischen Revolution.29 Mit diesem Vorgang und seinen historischen Wirkungen im 19. Jh. wurde zugleich unübersehbar, welche Funktion und hohe Bedeutung dem Nationalismus bei diesem Prozess als integrationsstiftende Ideologie zukam.30 Nun ist die extreme Konsequenz dieses Prinzips in der integralen Demokratie, wie sie am reinsten bei Rousseau formuliert wurde, niemals realisiert worden. Das liberal-konstitutionelle Denken war vielmehr von Anbeginn zugleich bestimmt vom Grundrechtsdenken. Hierbei ging es ursprünglich um Schutzbestimmungen gegen herrscherliche Willkür  ; ebenso bedeutsam und zunehmend wichtiger wurde die Funktion der Grundrechte, den Bereich des für die politische Willensbildung Unverfügbaren auszugrenzen, also existenzielle Grundtatbestände außer Abstimmung zu stellen. Bekanntlich gelang es dem bürgerlichen Liberalismus in diesem Rahmen in hohem Maße, die wesentlichen Bestimmungsmerkmale der sozialen Differenzierung (etwa das Eigentum) gegen den Zugriff parlamentarischer Mehrheiten im voll demokratisierten Repräsentativsystem zu immunisieren. Der Bezugspunkt dieser Grundrechtskultur ist nun, wie man weiß, das Individuum in einem prinzipiell als homogen gedachten Staatsvolk. Die Konstituierung eines Vielvölker29 Dazu besonders instruktiv Eberhard Schmitt, Repraesentatio in toto und repraesentatio singulariter. Zur Frage nach dem Zusammenbruch des französischen Ancien régime und der Durchsetzung moderner parlamentarischer Theorie und Praxis im Jahre 1789, in  : HZ 213 (1971), S. 529–576  ; wieder in  : ders. (Hg.), Die Französische Revolution. Anlässe und langfristige Ursachen, Darmstadt 1973, S. 408–463. 30 Dazu kurz mit weiterführender Lit. Heinrich August Winkler, Einleitung von  : Der Nationalismus und seine Funktionen, in  : ders. (Hg.), Nationalismus, Königstein 1978, S. 5–46, insbes. S. 5–16.

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reiches führt hingegen auf das Problem, diese Art des Grundrechtsdenkens vom individualrechtlichen auf einen kollektivrechtlichen Rahmen zu übertragen und damit zugleich bei der Gestaltung des parlamentarischen Verfahrens der partiellen Inhomogenität des Staatsvolkes Rechnung zu tragen. Denn hier entzieht sich eine gruppenbezogene Größe, nämlich die Volks- und Sprachzugehörigkeit, der Entscheidungs-Disposition, weil sie selbst eine existenzielle Vorgegebenheit ist. Infolgedessen kann eine Majorisierung in allen politischen Fragen, durch die Nationalitätenfragen betroffen sind, nicht toleriert werden, da eine numerisch vorgegebene Minderheitenrolle, die ja nicht der politischen Meinungsbildung und individuellen Dispositionsfreiheit unterliegt, unaufhebbar bleibt. Die hieraus erwachsenden verfassungsrechtlichen Probleme sind allgemein geläufig als Minderheitenschutzprobleme.31 Im Falle der multinationalen Habsburger-Monarchie reicht dieses Problem aber sehr viel weiter  : nicht um das Verhältnis eines Staatsvolkes zu Minderheiten handelt es sich  ; vielmehr setzt sich der Staat wenigstens rein quantitativ aus einer Pluralität von Minderheiten zusammen. Die Frage ist hier also, welche politischen Fragen überhaupt der parlamentarischen Behandlung unterworfen werden können, was also den Bestand gemeinsamer Angelegenheiten bildet und mit welcher Reichweite von einem Staatsvolk gesprochen werden kann. Auf parlamentarischer Ebene sind theoretisch zwei Lösungsmodelle denkbar  : die fallweise Aufgliederung des Parlaments in nationale Kurien zur Behandlung einschlägig definierter Materien oder die territoriale Föderalisierung.32 Beide Modelle waren, auf Österreich angewandt, mit erheblichen Problemen behaftet. 31 Erwin Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919, Würzburg 1960, mit grundsätzlichen Ausführungen. Vgl. auch Hans Rothfels, Da erste Scheitern des Nationalstaates in Ost-Mittel-Europa1848/49, in ders.: Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Göttingen 1959, S. 40–53. 32 Zur Behandlung dieses Problems in den Landtagen des Jahres 1848 und im Kremsierer Reichstag bequemer Zugang über Burian, Nationalitäten [Anm. 26] in »Cisleithanien«, passim (vgl. Sachregister, S. 238). Überblick über die späteren Reformpläne bei Rudolf Wierer, Der Föderalismus im Donauraum, Graz/Köln 1960  ; in diesem Zusammenhang auch kursorische Behandlung der Probleme politischer Autonomie der Nationalitäten und entsprechender Pläne zur Umgestaltung der Vertretungskörperschaften. Eindringliche Analyse der Ansätze, aus dem individualrechtlich konzipierten Grundrechtsartikel 19 der Dezemberverfassung Körperschaftsrechte zu entwickeln, sowie der damit einhergehenden Tendenzen zur nationalen Trennung von Behörden und Körperschaften jetzt bei Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848–1918, in  : Die Habsburgermonarchie, Bd. 3,2 [Anm. 5], S. 975–1206, insbes. Abschn. D. In diesem Zusammenhang Analyse der Pläne bzw. der politischen Versuche einer Einführung von Landtagskurien bis hin zum erfolgreichen Ausgleich in Mähren und der Bukowina.

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Aus dem konfessionellen Zeitalter ist für den alten Reichstag des RömischDeutschen Reiches die itio in partes für alle Fragen, die den status confessionis betrafen, als eine analoge Form der Majorisierungsprävention in der damals als existenziell angesehenen Glaubensfrage bekannt  : Eine interessante Konstruktion, die aber dem Missbrauch seitens der Reichsstände unterlag, alle möglichen strittigen Materien als konfessionsrelevant zu interpretieren und damit der Verhandlung zu entziehen.33 Der analoge Versuch einer verfassungsrechtlichen Ausgrenzung nationaler Belange durch eine itio in partes hatte zweifellos die Chance, das Sicherheitsbedürfnis der einzelnen Nationalitäten zu befriedigen, doch waren ähnliche bzw. weit schärfere Dauerkonflikte nicht auszuschließen, da die soziale Dynamik des nach 1848 einsetzenden Industrialisierungsprozesses die Frage der Interpretation des Nationalitäteninteresses immer aufs Neue gestellt hätte. Das Modell der Territorialisierung unterlag demselben Problem. Abgesehen davon, dass große Teile der Habsburger-Monarchie von jeher ethnische Mischzonen darstellten, war es wiederum die Industrialisierung, die erneut erhebliche Wanderungsbewegungen in Gang setzte und verschärft jene Unterwanderungs- und Bedrohungsängste induzierte, die gegen Ende der Monarchie am allermeisten das innenpolitische Klima vergiftet haben.34 Doch darf dieser vorgreifende Hinweis auf später zunehmende Probleme nicht die Einsicht verdecken, dass in einer erfolgreichen Konstituierung im Revolutionsjahr mit ihren konsensstiftenden Wirkungen gewichtige Chancen lagen, die Weichen für einen Prozess positiver politischer Integration zu stellen. Im Verfassungsausschuss des Kremsierer Reichstages erfasste man die Aufgabe des ethnischen Föderalismus überwiegend in territorialen Kategorien. Dabei konkurrierten nun allerdings, und das sollte die Frage bis zum Untergang der Monarchie nachhaltig komplizieren, zwei Vorstellungen von Territorien miteinander  : der Begriff der konkreten historischen Kronländer einerseits und die Idee einer ahistorischen Formierung neuer politischer Einheiten nach der ethnischen Besiedelung andererseits. Träger des historischen Kronlandföderalismus war nach wie vor die konservative Hocharistokratie vor allem Böhmens, die freilich im Kremsierer Reichstag nicht vertreten war. Von entscheidender Bedeutung für die Zukunft wurde jedoch, dass die altčechischen bürgerlichen Politiker dieses 33 Zuletzt dazu ausführlich Martin Heckel, Itio in partes. Zur Religionsverfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in  : ZRG 95  ; Kan. Abtlg. 64 (1978), S. 180–308. 34 Vgl. Friedrich Prinz in  : Handbuch Böhmische Länder, Bd.  3 [Anm.  5], S.  208–227  ; Berthold Sutter, Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897, 2 Bde., Graz/Köln 1960, 1965.

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Konzept von ihren aristokratischen Ziehvätern übernahmen, von wo sie später an die nachfolgenden Parteien der Jungčechen und der Čechischen Demokratie weitergelangten, so dass sich das Postulat der Einheit und staatsrechtlichen Individualität der Länder der Wenzelskrone – gwm. in Nachahmung des ungarischen Vorbildes – wie ein »Leitfossil« durch die čechische Parteigeschichte bis zu seiner erfolgreichen Durchsetzung im Jahre 1918 ziehen sollte.35 Damit wurde nun freilich das Ergebnis der absolutistisch-bürokratischen Staatsbildung seit Maria Theresia wieder infrage gestellt. Auf der Gegenseite formierten sich daher, und das zeichnet sich 1848 bereits ebenfalls deutlich ab, die deutsch bestimmte Zentralbürokratie und die deutsch-liberalen Parteien zur Abwehr der čechischen Forderungen, wobei die Deutsch-Böhmen in beiden Gruppierungen eine bedeutende Rolle spielten.36 Unter diesen Voraussetzungen verdient es nun allerdings hohe Beachtung, dass es den im Kremsierer Verfassungsausschuss zusammensitzenden führenden Vertretern des deutschen und čechischen Bürgertums in Verbindung mit den Repräsentanten der übrigen Nationalitäten gelang, einen Verfassungskompromiss zu schließen, so dass in diesem Gremium in einhelliger Weise ein Verfassungsentwurf37 für Cisleithanien verabschiedet werden konnte. Seine Strukturmerkmale spiegeln deutlich die liberal-demokratische Grundtendenz der Konstituante und lassen erkennen, dass sich die Solidarisierung der Repräsentanten im Willen zur Beschränkung der monarchischen Gewalt vollzog. Die Verknüpfung der Konstruktion ministerieller Verantwortlichkeit bei Unverantwortlichkeit des formal die Exekutive tragenden Kaisers mit der Beschränkung der monarchischen Position in der Legislative auf ein lediglich suspensives Veto musste unverkennbar die Parlamentarisierung der Regierung zur Folge haben. Mit dem Übergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie wurde in entscheidender Weise mit dem »deutschen« Typ des Konstitutionalismus gebrochen, dessen Kern in der Wahrung des monarchischen Prinzips bestand.38

35 Prinz  : Handbuch Böhmische Länder, op. cit., S. 169. 36 Prinz, op. cit., S. 41–47, 77–89. 37 Text bei Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 115–145. 38 In der etwa zeitgleichen Endgestaltung der Paulskirchen-Verfassung vollzog sich derselbe verfassungspolitische Erdrutsch. Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte [Anm. 19], Bd. 2, S. 784–791. Zum Wesen des vom Monarchischen Prinzip getragenen deutschen Konstitutionalismus Huber, op.cit. Bd 1, S. 651–656, Bd. 2, S. 3–26. Zu den damit verbundenen Problemen und Kontroversen vgl. unten Anm. 99.

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Wenn sich so das Schwergewicht der neuen konstitutionellen Integration des cisleithanischen Staates in das zentrale Parlament verlagerte, so bedeutete dies zugleich und vor allem einen Bruch mit allen dynastischen Maximen, die die Formierung der Habsburger-Monarchie bis dahin bestimmt hatten. In dem dem Grundrechtskatalog voranstehenden Obersatz »Alle Staatsgewalten gehen vom Volke aus …« fanden dieser Bruch und der Übergang zur westeuropäischen Integrationsdoktrin auch ihren theoretischen Ausdruck, in der Einführung eines niedrigen Wahlzensus vollzog sich trotz mancher Bedenken39 zugleich die praktische Umsetzung. Auf dieser neugewonnen Basis der parlamentarischen Integration suchte man nun in Kremsier das Problem der Föderalisierung Cisleithaniens zu lösen. Entsprechend der politischen Konstellation im Verfassungsausschuss folgte die Gliederung des Gesamtstaates dabei den Vorgegebenheiten der historischen Länder. Durch die Schaffung von Landtagen als Volksvertretungen, die Zweiteilung der Gesetzgebung unter entsprechender Kompetenzbestimmung und der Bindung der Landeschefs in ihrer Ausführung der Landesgesetze an das Vertrauen der Landtage wurden die Resultate der theresianisch-josefinischen bürokratischen Staatsgestaltung in wesentlichen Punkten zugunsten historisch-föderaler Prinzipien revidiert. Zugleich aber wurde mit der Kreiseinteilung der größeren Länder nach ethnischen Gesichtspunkten und der Übertragung wichtiger Selbstverwaltungsrechte insbesondere in Sprachenfragen an die Kreise ein Korrektiv geschaffen, das die politische Bedeutung der Länder von unten her in Grenzen zu halten geeignet war und das insbesondere dem Schutz der Nationalitäteninteressen Rechnung tragen sollte. Die Gleichberechtigung aller Sprachen wurde auch grundrechtlich verankert. Diese Lösung des Nationalitätenproblems griff freilich zu kurz, weil einmal die Voraussetzung siedlungsmäßiger Abgrenzung keineswegs durchgängig gegeben war, zum anderen deshalb, weil das Nationalitätenproblem hier als Regionalismusproblem aufgefasst wurde. Auf Landes- und Gesamtstaatsebene kamen die Nationalitäten verfassungssystematisch nicht mehr vor  ; hier galt die anationale Fiktion eines undifferenzierten Staatsvolkes nach konstitutionellem Schema als Basis des Parlamentarismus. Dies war der Situation der kreis- und länderübergreifenden Multinationalität des Gesamtstaates zweifellos nicht angemessen. Die Gewährung freier politisch-kultureller Entfaltungsmöglichkeiten an die Nationalitäten als Ganze hätte ihre Anerkennung als Körperschaften auf Länder- und Reichsebene bedingt und Vorkehrungen zum politischen Nationalitätenschutz im Verfahren der parlamentarischen 39 Vgl. Burian, Nationalitäten [Anm. 26], S. 198–212.

Willensbildung zur Folge haben müssen, etwa in Gestalt der Kurienbildung (itio in partes) in bestimmten Fragen.40 Im Verfassungsausschuss ist diese Perspektive von čechisch-konservativer Seite durchaus zur Sprache gebracht, eine Beeinträchtigung des integralen Parlamentarismus aber mehrheitlich abgelehnt worden. Der Ablehnung verfiel auch – und hier aus verfassungspolitischen Gründen mit Recht – die Idee einer kaiserlichen oder ministeriellen Schiedsgerichtsbarkeit in Nationalitätenzwisten.41 Man kann also sehr wohl feststellen, dass auch der Kremsierer Verfassungsausschuss keineswegs voll auf der Höhe der Aufgabe stand, die die Konstitutio­ nalisierung eines Vielvölkerstaates stellte, dass die gefundenen Kompromisse deutsch-zentralistische und slawisch-föderalistische Gegensätze in wichtigen Fragen mehr zudeckten als auflösten, dass schließlich die vorgesehenen Institutionen keine Gewähr dafür geboten hätten, für die ganze Komplexität des Nationalitätenkonflikts späterer Jahrzehnte einen allseitig hinreichenden Lösungsrahmen bereitzustellen. Doch kann sich die Bewertung der verfassungspolitischen Bemühungen von Kremsier nicht auf diesen Aspekt beschränken. Unter prozessgeschichtlichen Erwägungen verdient vielmehr die Tatsache Beachtung, dass in Kremsier ein von den gewählten Vertretern der beteiligten Nationalitäten getragener Verfassungskompromiss überhaupt zustande kam, der die gar nicht selbstverständliche Bereitschaft implizierte, den cisleithanischen Länderverband als einen Staat erstmals auch zu konstituieren, und der in seinen föderativen Bestimmungen immerhin die Richtung wies, in der die spezifischen Probleme der Multinationalität zu lösen waren. Wäre dieser verfassungsgebende Akt erfolgreich gewesen, so hätte er auch auf ideologischer Ebene jene integrativen Wirkungen entfalten können, die von erfolgreichen Gründungsakten als »Gründungsmythen« auszugehen pflegen. Da sich eine solche Konstellation in der Geschichte der Habsburger-Monarchie nie wiederholte, kann man ex post insofern mit Recht von einer »versäumten Gelegenheit«42 sprechen. 40 Erst mit den Versuchen eines čechischen Ausgleichs 1870/71, dann wieder 1890 wurde die Kurienfrage erneut aktualisiert, jedoch ohne einen verfassungspolitischen Erfolg. Ein erster Durchbruch auf Landesebene wurde mit dem mährischen Ausgleich von 1905 erzielt. Dazu jetzt die Analyse von Stourzh, [Anm. 32]. Für die Anwendung auf gesamtstaatlicher Ebene blieb es, solange die Monarchie bestand, bei theoretischen Erörterungen und Entwürfen  ; bekannt v. a. Karl Renner [unter Pseudonym], Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat, T.1  : Das nationale Problem als Verfassungs- und Verwaltungsfrage, Wien 1902  ; ders., Grundlagen und Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen Monarchie, Wien/Leipzig 1906. 41 Vgl. Redlich, Staats- und Reichsproblem [Anm. 10], Bd. 1, S 291–294. 42 Buchtitel von Hanns Schlitter, Versäumte Gelegenheiten. Die oktroyierte Verfassung vom 4. März 1849, Wien 1920. (Hier von mir auf den Kremsierer Reichstrag übertragen.) Die inhaltlichen

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Die unübersehbare antimonarchische wie auch antifeudale Tendenz dieses Verfassungskompromisses war freilich für die wiedererstarkte Dynastie Grund genug, die Möglichkeiten einer Korrektur im Rahmen einer Rückkehr zum Vereinbarungsprinzip gar nicht erst zu suchen, sondern den Reichstag bei nächster sich bietender Gelegenheit beiseitezuschieben.43 Der Anlass zu diesem Schritt ergab sich mit dem Entschluss, die Rückeroberung Ungarns zu einer Beseitigung seiner staatsrechtlichen Sonderstellung und zur Begründung eines österreichischen Gesamtstaates zu nutzen. Die Zuständigkeit der Kremsierer Konstituante erstreckte sich nicht auf Ungarn und Lombardo-Venetien  ; gleichwohl pflegte insbesondere die slawische Seite die Wunschvorstellung, auf der Basis der cisleithanischen Verfassung zu einer Vereinbarung vor allem mit Ungarn zu gelangen und auf diese Weise die parlamentarisch-konstitutionelle Integration des Reiches zu vollenden.44 Diese Idee, deren antimagyarische Tendenz zugunsten der slawischen Nationalitäten Ungarns offenkundig ist, fand freilich keinen Niederschlag in einer entsprechenden verfassungspolitischen Absichtserklärung  ; die Frage einer Konstituierung des gesamten ,,Kaisertums« auf parlamentarischer Basis, deren Schwierigkeit selbstverständlich enorm gewesen wäre, blieb in Kremsier unbehandelt. Die Regierung Schwarzenberg löste nun die verfassungspolitischen Probleme, denen sie sich Anfang März 1849 gegenübersah, durch die Rückkehr zum Verfassungsoktroi, der sich diesmal anders als im April 1848 auf die gesamte Habsburger-Monarchie bezog. Inhaltlich wies die oktroyierte Märzverfassung45 in vielem ähnliche Konstruktionsmerkmale auf wie der Kremsierer Entwurf  – so in der Schaffung von zentralem Reichstag und Landtagen auf der Grundlage direkter und oberhalb eines Zensus allgemeiner Wahlen, in der entsprechenden Teilung der Gesetzgebung bei Vorrang der Reichskompetenz, in der Schaffung regionaGegensätze und Unzulänglichkeiten betont Burian, Nationalitäten [Anm. 26], S. 212 ff. Positive Beurteilung des Kompromisses, des Niveaus der Verhandlungen und ihres Ergebnisses bei Redlich, Staats- und Reichsproblem [Anm. 10] 1, S. 320 ff.; in derselben Tendenz die ältere liberale österreichische Geschichtsschreibung, ihnen folgend die jüngeren Gesamtdarstellungen  : Hugo Hantsch, Die Geschichte Österreichs, 2 Bde. 1951–2 u. ö., 2, S. 336 ff.; Erich Zöllner, Geschichte Österreichs, 1961 u. ö., S. 398 f.; sehr prononciert Robert A. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches 1526–1918, dt. Wien 21982, S. 284 ff. 43 Friedrich Walter (Bearb.), Die Österreichische Zentralverwaltung, 3. Abtlg., Bd. 1, Wien 1964, S. 284–296. 44 Wierer, Föderalismus [Anm. 32], S. 47 ff.; Walter, Österreichische Zentralverwaltung 3,1, op. cit., S. 296–320. 45 Text bei Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 146–201. Hanns Schlitter, Versäumte Gelegenheiten, op. cit.

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ler Selbstverwaltungskörper unter Berücksichtigung ethnischer Gesichtspunkte  ; jedoch brachte sie das monarchische Prinzip mit dem absoluten Vetorecht und einem ausgedehnten Notverordnungsrecht der Krone wieder klar zur Geltung und betonte mit der Einheit und hierarchischen Zentrierung der Verwaltung die klassischen Strukturmerkmale absolutistisch-bürokratischer Staatsbildung, die nunmehr auf Ungarn auszudehnen waren. Österreich vollzog mit dem Oktroi dieselbe Wende, mit der Preußen bereits im Dezember 1848 seine Konstituante liquidiert hatte. Freilich haftete dem österreichischen Vorgehen unter den hier gegebenen verfassungspolitischen Voraussetzungen in weit stärkerem Maße der Charakter des Gewalttätigen an, als dies in Berlin der Fall war  ; entsprechend schärfer stellte sich hier von Anfang an das Problem der Durchsetzbarkeit eines solchen Oktrois. In Preußen war immerhin seine Korrektur und »Heilung« durch ein, wenn auch verfassungsrechtlich problematisches, nachgeschobenes Vereinbarungsverfahren vorgesehen, ein Versprechen, dessen Einlösung dann allerdings nur nach einer staatsstreichartigen Wahlrechtsänderung in mehreren Etappen zu den regierungsseitig gewünschten Resultaten führte.46 In Preußen blieb so die Existenz einer Verfassung und ein Mindestbestand an parlamentarischer Integration gesichert, freilich unter einer bedenklichen und in bekannter Weise folgenreichen Reduktion des konstitutionellen Gehalts wie der sozialen Basis der politischen Partizipation. Im Falle Österreichs hingegen, wo eine nachträgliche Verfassungsrevision durch das erste versammelte Parlament zudem gar nicht erst vorgesehen war, war bei der spezifischen Verschränkung von sozialen und ethnischen Antagonismen mit grundsätzlichen staatsrechtlichen Vorbehalten von vorn herein unklar, wie nach dem Ende des Bürgerkrieges die Unterworfenen auch nur zu einer Beschickung der vorgesehenen neuen Zentralvertretungskörperschaft und damit zu einer Anerkennung der lediglich militärisch vermittelten Gesamtstaatsgründung verhalten werden konnten. Damit wurde schon im Anbeginn der Regierung Franz Josephs das Kardinalproblem der Konstitutionalisierung von oben thematisiert, das die Habsburger-Monarchie bis zu ihrem Ende begleiten sollte  : wie vom »Verfassungsbefehl« zur tatsächlichen Konstitutionalisierung durch explizite Vereinbarung oder implizite Anerkennung fortzuschreiten sei.

46 Dazu neben Huber, Verfassungsgeschichte 3 [Anm 19], Kap. 1,2 u. 4 jetzt Günther Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49–1857/58. Preußischer Konstitutionalismus - Parlament und Regierung in der Reaktionsära, Düsseldorf 1982.

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Unbeschadet der konstitutionellen Überzeugungen eines Teils der Mitglieder des Schwarzenbergschen Koalitionsministeriums,47 insbesondere des am Entwurf Hauptbeteiligten Stadion, gibt es gute Gründe für die Annahme, dass die wichtigsten politischen Entscheidungsträger den Oktroi vom März 1849 von Anfang an nur als taktisches Auskunftsmittel bewerteten, ohne seine Realisierung zu wollen.48 Die Überzeugung von der Unausführbarkeit der Märzverfassung setzte sich in der Regierung jedenfalls schon im Laufe desselben Jahres durch.49 Für eine Berufung der Vertretungskörperschaften wurde nichts getan  ; rechtstaatliche Verhältnisse waren in weiten Teilen des Reiches unter dem militärischen Ausnahmezustand ohnehin suspendiert. Zugleich setzt jedoch die neu motivierte Ministerialbürokratie zu einer durchgreifenden gesellschaftlichen Modernisierung des neugeschaffenen Einheitsstaates an. Sie vollzog damit durchaus die Intentionen der Einheitsverfassung in einem wesentlichen Bereich. Da diese Tendenz sich durchhielt, bedeutete die mit dem Silvesterpatent 1851 vollzogene formelle Rückkehr zum Absolutismus keineswegs zugleich eine allgemeine innenpolitische und sozialpolitische Reaktion. Vielmehr gewann dieser Neoabsolutismus, wenn auch im Einzelnen widersprüchlich, in strukturpolitischen Schlüsselbereichen das Aussehen einer bürokratischen Modernisierungsdiktatur, die die ständische Gesellschaft in eine mobile Eigentümer- und Erwerbsgesellschaft zu verwandeln trachtete. Dies sowie das Konzept einer Gesamtstaatsbildung auf der Basis ausschließlich absolutistisch-bürokratischer und militärischer Integration war nunmehr die Antwort auf die spezifisch österreichischen Erscheinungen staatlicher und sozialer Rückständigkeit in Restauration und Vormärz wie auf die Zerfallserscheinungen der Revolutionszeit. So gesehen weist der Neoabsolutismus Züge eines Nachholprozesses monarchischer Staatsbildung auf, die im mitteleuropäischen Bereich verlaufstypisch dem aufgeklärten Absolutismus bzw. dem Spätabsolutismus der Rheinbundzeit zugehört.50 Doch verweisen die prononciert antirevolutionäre Spitze und der hohe Aufwand an polizeilicher Kontrolle und politischer Repression zugleich auf die Andersartigkeit und die Gefährdungen dieses späten Experiments. Ob bei seinem glücklicheren und dauerhafteren Erfolg die in ihm angelegten Nivellierungstendenzen das staatliche Sonderbewusstsein einzelner Kronländer soweit hätte zerstören 47 Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 2] 1, S. 246 ff. 48 Gegenüber der älteren These der liberalen Geschichtsschreibung vorsichtig Friedrich Walter, Zentralverwaltung [Anm. 43], 3,1, S. 431 ff. 49 Walter, a.a.O., S. 359 ff.,422–435. 50 Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 2] Bd. 1, S. 246–269, Bd. 2, S. 1002 ff.

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können, dass zu einem späteren Zeitpunkt erneut eine gesamtstaatliche Konstitutionalisierung unter günstigeren Voraussetzungen hätte in Angriff genommen werden können, bleibt selbstverständlich eine offene Frage. In Wahrheit bedurfte es aufgrund der österreichischen chronischen Finanzschwäche und der darin liegenden politischen Hebelwirkung nur des Anlasses eines empfindlichen politischen Prestigeverlustes, um das neoabsolutistische System durch die dadurch ausgelösten Erschütterungen zum Einsturz zu bringen.51 Mit dieser Erschütterung kamen all die vielfältigen Probleme des Vielvölkerstaates wieder auf die Tagesordnung, die die 48er Revolution bestimmt hatten und danach vom Neoabsolutismus nur zugedeckt, nicht aber gelöst worden waren. Als gegnerische Kräfte formierten sich die Altfeudalen, die durch den Bürokratisierungsprozess im Bachsehen System aus ihren Herrschaftsrechten verdrängt worden waren, sodann die Nationalitäten, über deren Ansprüche dieselbe zentralistische Einheitsbürokratie hinweggegangen war, insbesondere die politischen Nationen der Čechen und Magyaren.52 Längst waren die čechischen Politiker von ihrer in Kremsier eingenommenen Haltung abgerückt und standen wieder voll auf der Doktrin des Böhmischen Staatsrechts.53 Bei weitem am drückendsten gestaltete sich das Ungarnproblem  : Gegenüber der »Verwirkungstheorie« und der bürokratischen Integration des Landes hatte sich eine Mauer der Ablehnung durch die »liberale Partei« formiert  ; aber auch die habsburgtreuen Magnaten standen gegen das System. Für die Verfassungspolitik der kommenden Jahre wurde bedeutend, dass aus dem breiten Spektrum der politischen Gruppierungen und Kräfte nur zwei Eliten die Chance hatten, zu Wort zu kommen und gegenüber dem Hof ihre Forderungen zu artikulieren. Dies waren einmal die Spitzen der deutschen Reformbürokratie, z. T. 48er Liberale, hochqualifizierte Juristen mit großer Verwaltungserfahrung, Träger der Reformarbeit der letzten Jahre, mächtig, weil ohne sie schon fachlich nicht regiert werden konnte, mit wichtiger Außenverbindung zum übrigen deutschen Großbürgertum in Wirtschaft, Presse, Advokatur und Wissenschaft. Ihr Ziel war die Sicherung des Zentralstaates, dessen wesentliche Nutznießer sie waren, durch konstitutionelle Institutionen, die geeignet waren, ihn von seinen bisherigen Defekten zu heilen und funktionsfähig zu machen, also insbesondere die finanziell untragbare Militärwirtschaft durch Budgetkontrolle abzubauen.54 51 Brandt, op. cit., Bd. 2, Kap 8. 52 Brandt, op. cit., Bd. 2, S. 813–817  ; Redlich, Staats· und Reichsproblem, Bd. 1, S. 460 ff. 53 Prinz, Handbuch Böhm. Länder, Bd. 3 [Anm. 5], S. 61 f. 54 Zum finanzpolitischen Motiv Brandt, Neoabsolutismus, op.cit. Bd. 2, insbes. S. 904–923.

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Auf der anderen Seite stand die hochkonservative Gruppe des böhmischen Hochadels, der sich Exponenten der ungarischen Magnatenpartei anschlossen. Ihre Stärke lag in ihren Verbindungen zum Hof, die nie abgerissen waren. Sie forderten den Abbau der neuen Bürokratie, die Wiedereinsetzung der »natürlichen Autoritäten«, also eine Teilrestauration der Patriomonialgewalt, die Restitution einer modifizierten Ständeverfassung und die Wahrung der Kronlandsrechte. Dieses Programm barg für Ungarn freilich eine entscheidende Problematik  : Hier war mit der Frage der Wiederherstellung der historisch-politischen Individualitäten der gesamte hochbrisante Komplex des ungarischen Staatsrechtes angesprochen und damit der Bestand des Einheitsreiches selbst infrage gestellt. Mit dem Problem der Rechtskontinuität war nämlich zugleich das Problem aufgeworfen, ob an die vormärzlichen Verhältnisse Ungarns oder an die Aprilverfassung von 1848 anzuknüpfen sei, die ja vom Monarchen förmlich sanktioniert worden war und die Perspektive zur Aufrichtung einer bloßen Perso­nalunion in sich enthielt.55 Diesen Aspirationen stand unübersehbar der starke Beharrungswille der Krone gegenüber. Franz Joseph hatte den Vorgängen der Revolution und der Revolutionsbewältigung die Lehre entnommen, dass Österreich konstitutionell nicht zu regieren sei und eine »Repräsentativverfassung […] in Österreich zu den Unmöglichkeiten gehört«. An dieser Überzeugung hielt der Kaiser zu Beginn der Krise in den Jahren 1859/1860 axiomatisch fest, und auch als die Machtverhältnisse ihn späterhin zur Hinnahme konstitutioneller Formen des Regierens nötigten, konnte ihn dies nicht zu einer positiven Einschätzung parlamentarischer Einrichtungen als eines konstruktiven Elements staatlicher Integration bewegen.56 Bei der – militärisch gestützten – starken Stellung der Krone wurde dieser ideologische Vorbehalt für den gesamten Prozess der weiteren Verfassungsgestaltung von wesentlicher Bedeutung. Bekanntlich trat in der Habsburger-Monarchie niemals mehr eine Konstellation wie die des Jahres 1848 ein, wo die Krone als Gestaltungsfaktor praktisch ausfiel und die »Völker«, d. h. ihre parlamentarischen Repräsentanten die Chance hatten bzw. dem Druck unterlagen, über die staatliche Form ihres Zusammenlebens eine direkte Verständigung herbeizuführen. Ab 1860 musste die Krone keine besondere Anstrengung darauf 55 Detaillierteste Behandlung immer noch bei Louis Eisenmann  : Le Compromis Austro-Hongrois de 1867. Etude sur le Dualisme, Paris 1904. 56 Zur Situation Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 2], Bd. 2, S. 817–820, 856 ff., Kap. 8 passim  ; zu den Auffassungen des Monarchen sehr treffend Fritz Fellner, Kaiser Franz Joseph und das Parlament. Materialien zur Geschichte der Innenpolitik Österreichs in den Jahren 1867–1873, in  : MÖStA 9 (1956), S. 287–347.

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verwenden, Konstituanten zu verhindern bzw. ganz allgemein eine Konstellation zu unterbinden, die eine direkte parlamentarische Verständigung über Verfassungsfragen thematisierte, weil die zentrifugalen Kräfte außerordentlich groß waren. Auf diese Weise bestätigte sich die Auffassung, dass der Konstitutionalismus auf die Habsburger-Monarchie unanwendbar sei, in zirkulärer Affirmation fortwährend selbst und wurde mit der Zeit zum empirischen Befund. Unter diesen Prämissen vollzog sich der Verfassungswandel seit 1860 in der Weise, dass die Krone aus ihrer Schlüsselstellung heraus jeweils einzelweise mit der sie aktuell am stärksten bedrängenden Gruppierung verhandelte und jedes Mal diejenigen Konzessionen machte, die zur Stabilisierung der Situation unumgänglich schienen. Da verfassungspolitische Zugeständnisse aus dieser Sicht prinzipiell negativ bewertet wurden, weil sie nur als Beeinträchtigung der dem Gesamtreich einzig angemessenen monarchisch-absolutistischen Regierungsweise und damit als Gefährdung des Reiches angesehen werden konnten, nahm die Verfassungspolitik der Krone den Charakter eines prozedural zähen wie sachlich eklektizistischen Kurierens an Teilen des gesamten Staats- und Reichsproblems an, ohne dieses je als Ganzes in den Griff zu bekommen. Anders gewendet  : die Krone war machtpolitisch nicht in der Lage, den Absolutismus aufrechtzuerhalten, aber zugleich unfähig zu einer konstruktiven Konstituierung des Reiches auf einer neuen Grundlage. Da sie ausschließlich sich selbst als Integrationsfaktor zu Geltung brachte, paralysierte sie auf Dauer die im Parlamentarismus angelegten integrativen Potenzen. Es wird jedoch noch zu zeigen sein, inwiefern dieses Problem, das ganz allgemein eine grundlegende Frage der konstitutionellen Monarchie des deutschen Typs berührt, in der Habsburger-Monarchie recht eigentlich eine existenzielle Dimension erhält. Entsprechend der Schlüsselstellung der Krone und ihrer ideologischen Position, an den 1851 angenommenen Verfassungsgrundsätzen festzuhalten, nahm der 1859 einsetzende verfassungspolitische Wandel inhaltlich wie prozedural die Form einer systemimmanenten Weiterentwicklung des Silvesterpatents an. Ansatzpunkte hierzu boten der 1850/51 eingerichtete Reichsrat57 (funktional ein Kronrat) mit seiner Möglichkeit der periodischen Zuziehung »zeitlicher Teilnehmer«  ; sodann die im Silvesterpatent vorgesehene, aber trotz intensiver Vorar57 Zum Reichsrat Walter, Zentralverwaltung [Anm.  43] 3, 1, 434–558 passim  ; Helmut Rumpler, Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, Einleitungsband  : Ministerrat und Ministerratsprotokolle 1848–1867. Behördengeschichtliche und aktenkundliche Analyse, Wien 1970, S. 32–44  ; zu seiner Rolle im Neoabsolutismus Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 2], passim (vgl. Sachregister, Bd. 2, S. 1174).

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beiten nicht zustande gekommenen »beratenden Ausschüsse« auf Landesebene, bescheidene Landtage auf neoständischer Grundlage.58 Mit einem Oktroi vom 5. März 1860,59 der die Errichtung solcher Landesvertretungen und die periodische Verstärkung des bestehenden Reichsrates aus ihrer Mitte nach Art eines vereinigten Ausschusses (mindestens einmal im Jahr zur Budgetberatung) vorsah, hoffte die Regierung dem liberalen Verlangen nach Finanzkontrolle und dem konservativen Verlangen nach föderativ gestalteter Mitbestimmung ein Ziel zu setzen. Da nun die desolate Finanzlage einen Vertrauen begründenden Akt dringlich machte, wartete man die notwendige Ausarbeitung der Landesstatute nicht erst ab, sondern ließ noch 1860 den ersten verstärkten Reichsrat aufgrund kaiserlicher Ernennungen berufen.60 Bereits dieser Schritt provozierte ein grundlegendes Dilemma der Konstituierung zentraler Repräsentativversammlungen, das die Verfassungsgeschichte der Monarchie von nun an bestimmen sollte. Schon das Zustandekommen einer derartigen Körperschaft war alles andere als selbstverständlich, da mit der Beschickung immer schon die Frage nach der Validität der verfassungsrechtlichen Grundlagen aufgeworfen war und im Sinne einer Fundamentalopposition bereits ein Folgeleisten als implizite Anerkennung von Oktrois zu werten war. Daraus leitete sich die Tendenz der Krone zu einer Politik der Teilkonzessionen bereits im Vorfeld her, um derartigen Konstituierungsakten zum Erfolg zu verhelfen. Im Jahre 1860 war ein großer Teil der in den verstärkten Reichsrat berufenen Magyaren wegen der damit verknüpften staatsrechtlichen Grundfragen nicht zum Eintritt bereit. Um überhaupt ungarische Vertreter zu gewinnen, gab die Regierung in überaus voreiliger Weise einen wesentlichen Teil der neuen Administration preis und lieferte mit der Wiederherstellung der Komitats-Selbstverwaltung der magyarischen Opposition einen wesentlichen Hebel für die spätere Verwaltungsobstruktion und Steuerverweigerung in die Hand.61 Die eintretenden ungarischen Altkonservativen fassten ihre Mission jedoch nicht als eine Anerkennung der neu geschaffenen Institution auf, sondern wer58 Auf die Pläne und vorbereitenden Arbeiten macht aufmerksam Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte [Anm. 6], S. 135 f.; vgl. auch Karl Hugelmann, Der Übergang von den ständischen Landesverfassungen in den österreichischen Ländern zu den Landesordnungen der konstitutionellen Zeit (1848–1861), in  : Jahrb. f. Landeskunde v. Niederösterreich, NF 20 (1926/27). 59 Text bei Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 217–221. 60 Darstellung der Probleme, Motive und Vorgänge bei Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 2], Bd. 2, S. 829, 856 ff., 868 f., 874–890. 61 Redlich, Staats- und Reichsproblem, Bd. 1, S. 466–469, 490–501  ; Brandt, Neoabsolutismus, op. cit. Bd. 2, S. 900–903.

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teten den verstärkten Reichsrat des Jahres 1860 als Unikat und nutzten ihn als einmalige Plattform, um ihre grundsätzliche Kritik an der Politik des letzten Jahrzehnts zu formulieren.62 Für dieses Vorgehen gewannen sie auch ihre hochkonservativen böhmischen Freunde und die Vertreter des deutsch-liberalen Zentralismus, so dass sich die entscheidenden Oppositionsgruppen des Reichsrates in ihrer Zielsetzung, das Gremium in eine Tribüne für die Generalabrechnung zu verwandeln, einig waren und dies in geschickter Verfahrensregie auch durchsetzten.63 Diese Einigkeit, der operativ für den Auflösungsprozess des Neoabsolutismus freilich eine ganz wesentliche Funktion zukam, war inhaltlich rein negativ bestimmt  : den dadurch gewonnenen Freiraum nutzten beide Parteien in dem bekannten Majoritäts- und Minoritätsgutachten zur Darlegung ihrer gegensätzlichen verfassungspolitischen Überzeugungen.64 Wenn Franz Joseph sich in seiner zum Oktober-Diplom führenden Schwenkung nunmehr, nachdem der volle bürokratische Absolutismus aus macht- und finanzpolitischen Gründen nicht mehr aufrechtzuerhalten war, auf die Vorschläge der Altkonservativen einließ, so einmal deshalb, weil die ungarischen Verhandlungspartner sich als Garanten einer »Transaktionspolitik« empfahlen, die das Kunststück fertigzubringen versprachen, das Land nach Wiederherstellung seiner »vormaligen« Verfassung mit der Existenz eines Gesamtstaates und gesamtstaatlicher Institutionen, insbesondere eines Reichsrates, zu versöhnen und den ersten Landtag zu einer dementsprechenden Verfassungsrevision auf dem Vereinbarungswege zu veranlassen. Das andere, die ungarische Frage noch überwölbende Motiv des Kaisers für die Favorisierung der Majorität lag in der Perspektive, mit der Befriedigung bestimmter Autonomiewünsche der Kronländer im Horizont neoständischen Denkens einen Einbruch des eigentlichen Konstitutionalismus in den Ländern und vor allem im Zentrum, wie er drohend hinter den Empfehlungen der deutsch-zentralistischen Minorität stand, zu verhindern und die Substanz des Absolutismus durch die Wahrung einer extensiven monarchischen Prärogative und der Einheit der Bürokratie (wenigstens in Cisleithanien) zu sichern.65 62 Redlich, op. cit., S. 500 ff.; Brandt, op. cit., S. 903 ff. 63 Brandt, op. cit., S. 923–954. 64 Wortlaut der Gutachten mit den zugehörigen Debatten in  : Verhandlungen des österreichischen verstärkten Reichsrates 1860. Nach den stenographischen Berichten, 2 Bde., Wien 1860, Bd. 2, S. 37–44, Debatte S. 44 ff. 65 Brandt, Neoabsolutismus, op. cit. Bd. 2, S. 957–964  ; Redlich, op. cit., S. 575 ff. Dass Franz Joseph kein Föderalist war, hebt mit guten Gründen Fellner hervor in  : ders., Franz Joseph und das Par-

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Die Beachtung dieser Problem- und Motivlage im Zusammenhang mit dem gesamten quälenden verfassungsgeschichtlichen Prozess seit dem Spätsommer 1859 ist notwendig, um das Oktoberdiplom als angeblich »föderative Lösung« des Staats- und Reichsproblems angemessen würdigen zu können. Der Oktroi vom 20. Oktober 186066 stellte sich für Cisleithanien ­überwiegend abermals als eine systemimmanente Weiterentwicklung der neoabsolutistischen Verfassungsgrundsätze dar, während für die ungarischen Länder eine begrenzte Rückkehr zu vorabsolutistischen Rechtsverhältnissen eröffnet wurde. Die kaiserliche Gesetzgebung wurde an die »Mitwirkung« des Reichsrates bzw. der Landtage gebunden, die damit über die Stellung von je nach Materie zuständigen Beratungsorganen nicht hinauswuchsen, auch keinerlei Gesetzesinitiative besaßen. Lediglich für die Aufnahme neuer Steuern und Anleihen erlangte der Reichsrat ein Zustimmungsrecht, womit er von einem vollen Steuerbewilligungsrecht oder gar von einem vollen Budgetrecht weit entfernt war. Über dem im Diplom angesprochenen Bereich der der Gesetzgebung bedürftigen Materien wölbte sich – im Diplom nicht behandelt, aber umso mehr zu beachten – der Bereich der monarchischen Prärogative. Auch hinsichtlich der Berufung des Reichsrats blieb es  – trotz Erhöhung seiner Mitgliederzahl  – bei der im März 1860 festgelegten Kombination von Landtagsvorschlägen und kaiserlicher Auswahl. Die einzelnen Landesstatuten wurden in Cisleithanien, trotz verbaler Anknüpfung an alte Ständeeinrichtungen, ohne weiteres oktroyiert  ;67 die hier vorgesehenen Vertretungskörper folgten einem neoständischen Vierkurienprinzip bei starker Berücksichtigung von Klerus und Adel, schwacher Berücksichtigung von Bürger- und Bauernstand auf der Grundlage von Wahlverfahren, die das Wahlgeschäft im Wesentlichen auf lokale Funktionsträger einschränkte. Insgesamt lässt sich das hier intendierte System als eine Ergänzung des zentralbürokratisch organisierten Staates durch Notabeln-Institutionen im Stile der napoleonischen bzw. Rheinbundzeit deuten, wobei im Falle Österreichs die Berücksichtigung der Kronländer eine zusätzliche

lament, MÖStA 9, a.a.O., S. 344 ff. Brauneder (Verfassungsgeschichte [Anm. 6], S. 137 ff., 143 f.) räumt zu recht mit dem alten Missverständnis auf, als sei das Reich durch das Oktoberdiplom föderalisiert worden. 66 Text bei Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 222–238. 67 Nur vier Landesstatute, nämlich für die Steiermark, für Kärnten, Salzburg und Tirol, wurden bereits am 20.10.1860 erlassen und als Paradigmen von deutsch-liberaler Seite sogleich heftig kritisiert  ; weitere Veröffentlichungen unterblieben im Zusammenhang mit der Schwenkung zum Februarpatent. Text des Tiroler Statuts bei Bernatzik, op. cit., S. 238–249.

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historisierende Einkleidung darstellte, ohne dass dadurch die Einheit der Bürokratie beeinträchtigt wurde. Dies alles gilt freilich nur für den theresianisch-josefinischen bürokratisch präformierten Staat diesseits der Leitha, auf den sich die staatsbildende Kraft des Neoabsolutismus nunmehr wieder zurückzuziehen begann. Ungarn gegenüber, dessen Befriedigung der eigentliche politische Kern des Oktoberdiploms ausmachte, wurde hingegen ein Systemwechsel eingeleitet, der die Voraussetzungen für eine Anerkennung des gesamtstaatlichen Oktrois schaffen sollte. Die Wiederherstellung der administrativen und repräsentativen Institutionen des Landes (bei Ausgliederung Siebenbürgens), insbesondere die Erklärung, dass die Landesgesetzgebung entsprechend der alten Verfassung nur gemeinsam mit dem Landtag ausgeübt werden sollte und also zustimmungspflichtig war, bedeutete eine Rückkehr zum Prinzip der verfassungsrechtlichen Kontinuität in Transleithanien und damit zugleich zum verfassungsrechtlichen Dualismus im Gesamtreich. Diese Anerkennung der verfassungsrechtlichen Kontinuität erfolgte aber nur bedingungsweise, insofern das Oktoberdiplom selbst eine reichseinheitliche, durch Grundrechte und Grundpflichten definierte Staatsbürgerschaft bestätigte und daraus folgend dem Landtag entscheidende Kompetenzen wie das Steuerund Rekrutenbewilligungsrecht entzog, um sie einem mit weit geringeren Zustimmungsrechten ausgestatteten Zentralvertretungskörper zu übertragen. Zur Anerkennung dieser neuen Gesamtstaatsverfassung sollte der ungarische Landtag auf dem Vereinbarungswege gebracht werden  ; zugleich wurde damit die Aufgabe verbunden, die Aprilverfassung von 1848 einer entsprechenden Revision zu unterziehen. Der erstberufene Landtag erhielt damit eine konstituierende Funktion, insofern unterschied sich die aus der Berücksichtigung der Rechtskontinuität erwachsende Anerkennung des Vereinbarungsprinzips klar von dem schlichten Oktroi in Cisleithanien. Das Resultat dieser Vereinbarung war jedoch schon im Vorhinein vorgegeben  : die ungarische Verfassung war dem oktroyierten Diplom für die Gesamtmonarchie anzupassen, das als solches nicht zur Disposition stand.68 Fand die oben charakterisierte Grundintention der Regierungspolitik von 1860, den zentralbürokratisch formierten Gesamtstaat durch semiparlamentarische Institutionen auf Notabelnbasis sekundär zu integrieren, an der Notwen68 Text der zum Oktoberdiplom gehörigen Handschreiben zur Regelung der ungarischen Angelegenheiten bei Bernatzik [Anm.  15], S.  228–238. Zur Transaktionspolitik Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 2, S. 964 ff.; 981 ff.; ausführlich Redlich, Staats- und Reichsproblem [Anm. 10], Bd. 1, S. 633–638, dann insbes. 765 ff.

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digkeit einer Sonderbehandlung Ungarns von vornherein ihre Grenze, so zeigt sich an der in sich widersprüchlichen Berücksichtigung des Vereinbarungsprinzips zugleich die verfahrenspolitische Schwäche der gesamten Konstruktion. Diese Verfahrensschwächen hätten sich überbrücken lassen, wenn die relevanten politischen Kräfte in Ungarn, die sich in der Opposition der »liberalen Partei« formierten, sich auf die »Transaktionspolitik« der Altkonservativen eingelassen hätten. Hierzu bestand machtpolitisch keinerlei Anlass, da das Einlenken der Krone zu offensichtlich eine Konsequenz der Schwäche des neoabsolutistischen Systems war. Dieses System aber hatte in der Kürze seines Bestehens und unter den Bedingungen seiner Durchsetzung selbstverständlich nicht vermocht, den magyarischen Willen zur Eigenstaatlichkeit zu brechen, die Erinnerung an die Revolution zu tilgen und eine mentale Disposition zur Akzeptanz des Gesamtstaates auch nur ansatzweise zu induzieren. Zeigte sich in Transleithanien rasch, dass die Altkonservativen im Lande über keinerlei Rückhalt verfügten, so gingen von den ungarischen Vorgängen zugleich destabilisierende Wirkungen auf die Oktoberpolitik in Cisleithanien aus.69 Gerade das Wiederaufleben des verfassungspolitischen Dualismus ließ die konstitutionelle Dürftigkeit der für Cisleithanien und für das Zentrum vorgesehenen Institutionen wie des Verfahrens ihrer Einführung krass hervortreten. Ebenso deutlich war, dass mit der Bevorzugung des Adels und seiner Verankerung im neoständischen Regionalismus eine eigentliche Konstitutionalisierung auf Dauer verhindert und die diese Tendenz tragenden Kräfte des deutsch-liberalen Zentralismus zurückgedrängt werden sollten. Die während der Oktoberpolitik unterschätzte Stärke dieser Kräfte lag in ihrer Verankerung in Bürokratie, Großindustrie und Haute Finance  ; sie besaßen in der weiterhin desolaten Finanzlage nach wie vor einen wirksamen Hebel wie in dem einsetzenden Zusammenbruch der Finanzverwaltung in Ungarn ein zusätzliches Argument, um ihrer Forderung nach Stärkung der zentralparlamentarischen Institutionen Nachdruck zu verleihen.70 Der Kaiser sah sich infolgedessen rasch zu einer Revision des Oktoberdiploms zugunsten des deutsch-liberalen Zentralismus genötigt, die aber auch jetzt nicht zu einem Bruch der gegen den Konstitutionalismus aufgerichteten Dämme führen durfte. Sie hatte auch jetzt in den Bahnen einer systemimmanenten Weiterentwicklung der bisherigen Verfassungsarbeit zu verlaufen und nahm so die 69 Schilderungen der öffentlichen Zustände bei Walter Rogge, Oesterreich von Vilagos bis zur Gegenwart, 3 Bde., Leipzig/Wien 1872, 1873, Bd. 2 passim. 70 Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 2], Bd. 2, S. 964–996.

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Gestalt einer »Vollendung« des Oktoberdiploms an.71 So war auch das Ergebnis dieser Politik, das Februarpatent von 1861,72 keine Verfassung im Sinne konstitutionalistischer Begrifflichkeit, doch wurde in diesem neuerlichen Oktroi mit der zentralistischen Wendung nicht nur die politische Grundlage des Oktoberdiploms verlassen, sondern mit dem Ausbau der Parlamentsrechte ein wesentliches Element des Konstitutionalismus eingeführt. Der Reichsrat erhielt durch die Teilung in Herrenhaus und Abgeordnetenhaus, durch die Vermehrung der Abgeordneten auf 343 sowie durch ihre definitive, nicht mehr kaiserlich zu bestätigende Wahl aus den Landtagen, schließlich durch die Gewährung des Initiativ- und Zustimmungsrechtes in der Gesetzgebung erst eigentlich die volle Eigenschaft eines Parlamentes. Von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung war außerdem die – an eine Bestimmung des Oktoberdiploms formal anknüpfende – Formierung eines »engeren Reichsrats« aus den Abgeordneten der cisleithanischen Länder für die Behandlung der dieser Reichshälfte gemeinsamen Angelegenheiten. Zusammen mit den Verfassungsbestimmungen, die die cislei­ thanischen Landtagsbefugnisse eng begrenzten, und mit der Formulierung eines generellen Kompetenzvorbehaltes zugunsten dieses engeren Reichsrates wurde hiermit die entscheidende zentralparlamentarische Institution für die westliche Reichshälfte geschaffen, die unterhalb der Reichsebene den theresianisch-josefinischen cisleithanischen Staat nun auch konstitutionell integrieren sollte. Dieser cisleithanische Parlamentarismus ruhte freilich weiterhin auf einer sehr schmalen sozialen Basis. Aus dem Oktoberdiplom war die Zusammensetzung des Reichsrates aus Landtagsdelegierten und die Wahl der cisleithanischen Landtage nach einem neuständischen Kurienwahlrecht übernommen worden. Entsprechend der Interessenlage des deutsch-liberalen Bürgertums hatte das Februarpatent lediglich die Kurienquoten so korrigiert, dass nunmehr neben dem großen Grundbesitz das bürgerliche Element über die Handelskammern und die Städtekurie stärker zur Geltung kam. Bei einem insgesamt stark eingeschränkten Wahlrecht der Kurien der Stadt- und Landgemeinden hatten die Stimmen der ländlichen Bevölkerung noch wieder das relativ geringste Gewicht  ; hier wurde mit dem indirekten Wahlverfahren außerdem ein zusätzlicher Filter eingebaut. Bei der Verschränkung von sozialer Schichtung und ethnischer Differenz bedeutete dieses System in den Mischzonen zugleich eine Bevorzugung des deutsch-bürger71 Zur verfassungsrechtlichen Kontinuität Fritz Fellner, Das »Februarpatent« von 1861. Entstehung und Bedeutung, in  : MIÖG 63 (1955). S. 549–564. Politische Analyse bei Redlich, Staats- und Reichsproblem [Anm. 10], Bd. 1, S. 768–808. 72 Text bei Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 255–264.

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lichen Elements gegenüber den Slawen. Da die Beschickung des Reichsrates durch die Landtage wiederum nach einer kurienweise festgelegten Quotierung erfolgte, wurde diese differenzierte Stimmgewichtung der Landtage im Zentrum reproduziert. Inmitten der so bewerkstelligten Austarierung der Gewichte der verschiedenen politischen Kräfte fiel der sehr kleinen mit einem extrem hohen Stimmengewicht versehenen Gruppe des »landtäfligen« großen Grundbesitzes eine Schlüsselrolle zu. Bei einer entsprechenden Pflege der gouvernementalen Gesinnung dieser Wähler bot sich hier der Regierung in Verbindung mit dem Recht der jederzeitigen Auflösung von Reichsrat und Landtagen eine entscheidende manipulative Handhabe der notwendigen Mehrheitsbeschaffung für die Legislation.73 Die in dieser Verknüpfung von Reichsrat und Landtagen liegende Funktionalisierung des Föderalismus zugunsten gesamtstaatlicher Regierungs-, nationaler und Klassen-Interessen ist der zentrale politische Gehalt des Februarpatents. Da die 1861 gefundene Wahlrechtskonstruktion in Cisleithanien im Prinzip bis zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahre 1907 in Geltung blieb, stellte sie für die Möglichkeit parlamentarischer Integration eine der entscheidenden, langfristig wirksamen Rahmenbedingungen dar. Der 1860/61 eingeleitete Versuch einer Konstituierung des Gesamtreiches über den Verfassungsoktroi ist in der Folgezeit an Ungarn gescheitert. Der Landtag weigerte sich 1861, den gemeinsamen Reichsrat zu beschicken, und wurde infolgedessen aufgelöst, Ungarn erneut absolutistisch regiert. Die Position der ungarischen »liberalen Partei« blieb in den nächsten Jahren unverrückbar  : Wiederherstellung der Verfassung nach dem Stand von April 1848  ; volle Anerkennung des ungarischen Staatsrechtes, das hieß  : keine Anerkennung eines Überstaates, sondern nur eine dynastisch vermittelte ewige Union im Sinne der Pragmatischen Sanktion. Vor allen weiteren Unterhaltungen über gemeinsame Angelegenheiten hatte also die Restitution des Staatsrechts mit Königskrönung und Beschwörung der Verfassung durch den König zu geschehen. Die Aprilverfassung wurde jetzt als Konstituierung einer reinen Personalunion interpretiert, die ihre Grundlagen in der Pragmatischen Sanktion habe. Demnach gab es keine gemeinsamen Institutionen und keine ständig gemeinsamen Angelegenheiten, die solche Institutionen bedingten, vielmehr nur gemeinsame 73 Bernatzik, Verfassungsgesetze, op. cit., S.  264–305 mit vollständigem Abdruck der LO und LWahlO f. Niederösterreich als Beispiel. Zur politischen Bedeutung des Schmerlingschen Wahlrechts als Apparat für Mehrheitsbeschaffungen Redlich, Staats- und Reichsproblem, op. cit., Bd. 1, S. 784 ff.; Richard Charmatz, Österreichs innere Geschichte von 1848–1907, 2 Bde., Leipzig/Berlin 1918, Bd. 1  : Die Vorherrschaft der Deutschen, S. 50 ff.; Friedrich Prinz in  : Handbuch Böhm. Länder Bd. 3 [Anm. 5], S. 70–78.

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Angelegenheiten von Fall zu Fall, die dann auf der Basis zwischenstaatlicher Verhandlungen zu lösen waren.74 Die von den Magyaren ausgehende Fundamentalopposition war die geschlossenste und am festesten in einer staatsrechtlichen Doktrin verankerte, aber sie war nicht die einzige. Die čechische Nationalpartei im Bündnis mit den böhmischen Hochkonservativen nahm in den Landtagen den Kampf gegen die dort als Folge des Wahlrechts gegebenen deutschen Mehrheiten auf und beschickte den Reichsrat nur unter einem Rechtsvorbehalt zugunsten des böhmischen Staatsrechts, ab 1863 blieb sie ihm ganz fern. Auch von den Polen wurde das Zentralparlament zeitweilig boykottiert.75 Die Vertreter der deutschen sog. »Verfassungspartei« waren hier infolgedessen überwiegend unter sich, eine Situation, die sie nun unter zusätzlicher Komplizierung der Gesamtlage dazu nutzten, um der Regierung vehemente Gefechte nach dem klassischen dichotomischen Schema der Behauptung und Ausweitung parlamentarischer Rechte gegenüber exekutiver Macht zu liefern.76 Wenn sowohl der weitere als auch der engere Reichsrat fortwährend Rumpfparlamente blieben, so offenbarte sich darin nur die Vergeblichkeit jedes Verfassungsoktrois, der sich mit den vom Oktroi Betroffenen nicht in einem Minimalkonsens über die Grundlagen der Konstituierung trifft. Aus dieser Sackgasse suchte sich die Krone politisch durch die abermalige Schwenkung von den gouvernemental-liberalen zu den feudal-konservativen Kräften zu befreien, die nunmehr mit der Regierung betraut wurden  ; verfassungspolitisch entledigte sie sich der mit dem Februarpatent geschaffenen Rechtslage durch einen einseitigen Akt der Sistierung, der dem einseitigen Akt des Oktrois entsprach. Die am 20.  September 1865 ausgesprochene Sistierung des Gesetzes über die Reichsvertretung von 186177 hatte nun gegenüber Transleithanien einerseits und Cisleithanien andererseits höchst unterschiedliche Konsequenzen, in denen der unterschiedliche verfassungsrechtliche Status der Reichsteile abermals in bemerkenswerter Weise zum Ausdruck kam. Gegenüber Ungarn wurden (nachdem die liberale Partei Verhandlungsbereitschaft über gemeinsame 74 Zum Ganzen Redlich, Staats- und Reichsproblem [Anm. 10], Bd. 2, Abschnitt 1  ; Eisenmann, Le Compromis Austro-Hongrois [Anm. 55]. Die wichtigsten Erklärungen aus der Landtagssession bei Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, 8 Bde., Wien 1902–1914, Repr. Graz 1972, Bd. 1, S. 94–102. 75 Redlich, a.a.O.; Kolmer, Parlament, op. cit., Bd. 1, S. 86–94, 130 ff., 142f., 162f., 173. 76 Kolmer, a.a.O., Bd. 1, S. 75–202 passim (Ministerverantwortlichkeit, Notverordnungsrecht, Periodizität, Verfassungseid, Budgetrecht, Staat und Kirche, Unabhängigkeit der Rechtsprechung). 77 Texte bei Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 315–318.

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Angelegenheiten signalisiert hatte) Oktoberdiplom und Februarpatent zur Disposition gestellt und zum Gegenstand von Verhandlungen zwischen Krone und Landtag bzw. Reichstag gemacht. Dem Vereinbarungsprinzip wurde damit volle Geltung verschafft. Diese Verhandlungen führten, nachdem Franz Joseph zuvor den ungarischen Standpunkt der uneingeschränkten Rechtskontinuität angenommen und eine ungarische Regierung gemäß der Aprilverfassung von 1848 gebildet sowie sich der Krönung unterzogen hatte, 1867 zum sog. »Ausgleich«.78 Cisleithanien hingegen ging mit der Sistierung des Gesetzes über die Reichsvertretung seines zentralen Repräsentativorgans, des engeren Reichsrates, verlustig. Während der Sistierungsperiode war die Regierung zum Vollzug unaufschiebbarer Maßregeln befugt, d. h. es wurde absolutistisch-bürokratisch regiert. Damit verband sich die Intention von Krone und konservativer Regierung, das Februarpatent zu revidieren im Sinne einer Rückbildung der zentralparlamentarischen Institutionen zugunsten einer unangefochtenen Behauptung der monarchischen Prärogative im Zentrum einerseits und eines Ausbaus der Länderrechte unter Anknüpfung an das Oktoberdiplom andererseits.79 Nach Abschluss der Verhandlungen mit Ungarn sollte auch in Cisleithanien dem Vereinbarungsprinzip formell, jedoch bei schwächerer politischer Wirksamkeit, Genüge getan werden  : das Ergebnis dieser Verhandlungen sollte den »legalen Vertretern« der übrigen Länder vor der kaiserlichen Schlussfassung vorgelegt werden – offen war demnach zugleich, in welcher Versammlungsform.80 Dieser Ansatz, den Ausgleich mit Ungarn zugleich zu einem konservativ-föderalistischen Umbau Cisleithaniens zu nutzen, wurde machtpolitisch durch die Niederlage von Königgrätz paralysiert und dann im Zusammenwirken der Exponenten der magyarischen liberalen Partei und der Deutsch-Liberalen unter maßgeblicher Assistenz des neuen Reichskanzlers Beust überspielt,81 freilich um den Preis des Verzichts auf eine effektive Geltendmachung des Vereinbarungsprinzips auf westlicher Seite. Für die Krone und den ungarischen Reichstag bot sich so der Vorteil rascher und reibungsloser Durchsetzung des Ausgleichs. So wurde der bisherige Rechtsstandpunkt verlassen und der »verfassungsmäßige« engere Reichsrat unter manipulativer Sicherung einer deutsch-liberalen Mehrheit wiederhergestellt. Dieser nahm das für Ungarn bereits (jedoch unter Vorbehalt) 78 Zum Ganzen Redlich, Staats- und Reichsproblem, op. cit., Bd. 2, Abschnitt 2, S. 403–680  ; Eisenmann, Le Compromis Austro-Hongrois [Anm. 55]. 79 Redlich, a.a.O., S. 425–445. 80 Bernatzik, Verfassungsgesetze, op. cit., S. 317, 318. 81 Redlich, a.a.O., S. 523–571, 591–616.

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sanktionierte Ausgleichswerk en bloc an.82 Als »Preis« dafür wurde Cisleithanien nunmehr durch ergänzende Verfassungsgesetze als konstitutionelle Monarchie konstituiert.83 Grundrechtskatalog, Normierung der Regierungs- und Vollzugsgewalt, Ministerverantwortlichkeitsgesetz mit der Möglichkeit der Ministeranklage, eine (wenn auch nicht sehr wirkungsvolle) Einengung des Notverordnungsrechts der Exekutive, die Vervollkommnung des Budgetrechts sowie die grundgesetzliche Sicherung der Unabhängigkeit der Rechtsprechung verhalfen klassischen Prinzipien des liberalen Konstitutionalismus nun auch in Cisleithanien Eingang. Doch blieb die Position der Krone nicht nur als Haupt der staatlichen Exekutive, mit ihrem legislativen Vetorecht und einem weiterhin extensiver Anwendung fähigen Notverordnungsrecht stark  ; vor allem sorgte die nunmehr im Bereich der »gemeinsamen Angelegenheiten« verankerte Fülle der monarchischen Prärogative für eine weiterhin deutliche Begrenzung des Parlamentarismus. Im Ganzen folgte Cisleithanien dem »deutschen Typ« der konstitutionellen Monarchie. Vor einer abschließenden Würdigung der 1867 vollendeten und bis zum Ende der Monarchie bleibend festgelegten Verfassungsstrukturen muss noch des letzten – vergeblichen – Versuchs gedacht werden, den soeben konstitutionalisierten cisleithanischen Staat doch noch durch einen historisierenden föderativen Umbau wieder aufzulösen. 82 Dies geschah in der Form paralleler Gesetzgebung, also konstitutioneller (innerstaatlicher) Gesetzesvereinbarung zwischen den legislativen Faktoren Krone und Parlament, nicht durch zwischenstaatlichen Vertrag. Materialiter waren die beiden Legislationsakte freilich sehr ungleichgewichtig, da der Inhalt des Ausgleiches in den Verhandlungen des ungarischen Parlaments mit der Krone festgelegt wurde und vom cisleithanischen Reichsrat nur noch rezipiert werden konnte. Man könnte für Cisleithanien also von einem Quasi-Oktroi sprechen, der politisch durch das Versprechen weiterer Konstitutionalisierung kompensiert wurde. Es ist Hellbling (Das österreichische Gesetz vom Jahre 1867 über die gemeinsamen Angelegenheiten der Monarchie, in  : Peter Berger (Hg.), Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867. Vorgeschichte und Wirkungen, Wien/ München 1967, S. 64–89, S. 67f.) darin zuzustimmen, dass die Gelegenheit zu materiellen Einwänden den Konfliktstoff bis zur Unlösbarkeit vermehrt hätte und es daher ein Akt der Klugheit war, den Reichsrat vor vollendete Tatsachen zu stellen  ; aber gerade hierin liegt ein schwerwiegendes Indiz für die konstitutionelle Schwäche und eigentlich den Mangel an Gehalt eines cisleitha­ nischen »Staates«. Vgl. auch Otto Brunner, Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867 und seine geschichtlichen Grundlagen, in  : Südostdeutsches Archiv 11 (1968), S.  15–24  ; wieder in  : Ernst-W. Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte 1815–1918, Köln 1972, S. 63–75. Zu den Vorgängen Redlich, Staats- und Reichsproblem [Anm. 10], Bd. 2, S. 616–671. 83 Bernatzik, op. cit., S.  367–438. Die wichtigsten Erklärungen und Debattenauszüge bei Kolmer, Parlament und Verfassung [Anm.  74], Bd.  1, S.  253–314. Dazu die politische Würdigung von Gerald Stourzh, Die österreichische Dezemberverfassung von 1867, in  : Österreich in Geschichte und Literatur 12 (1968), S. 1–16.

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In Cisleithanien brachte der ungarische Ausgleich die böhmische Frage mehr denn je in Bewegung. Von der nationalen čechischen Partei wurde dieser Ausgleich aus naheliegenden Gründen abgelehnt.84 Auch an der parlamentarischen Verabschiedung der Dezemberverfassung beteiligten sich die Čechen nicht  ; sie zogen in der Folge auch aus dem Prager Landtag aus und begründeten ihre Haltung 1868 in einer berühmten Deklaration,85 einer Manifestation der böhmischen Staatsrechtsideologie. Ihr Inhalt  : Der Ausgleich mit Ungarn wurde abgelehnt, der Reichsrat für inkompetent erklärt, einen solchen Akt überhaupt vornehmen zu können. Die staats- und verfassungsrechtliche Position Ungarns wurde durchaus anerkannt und daraus der Schluss gezogen, dass ein analoges Verhältnis der Länder der Wenzelskrone zum gemeinsamen Herrscher bestehe, und zwar auf der Basis der Pragmatischen Sanktion als einzig verbindlicher Verfassungsgrundlage. Nur eine Übereinkunft zwischen dem König und der politisch-historischen, auf einer richtigen und gerechten Grundlage vertretenen böhmischen Nation könne aus diesen Verfassungswirren herausführen. Eine solche gerechte Vertretung setze eine Wahlordnung voraus, die sich auf die Gleichberechtigung der beiden das Land bewohnenden Nationalitäten gründe, und das čechische Volk – damit schließt die Erklärung – wünsche mit den deutschen Landsleuten zu einem Übereinkommen zu gelangen »betreffs solcher Institutionen, die eine jede Verkürzung der einen oder der anderen Nationalität im Lande, bewirkt durch die bloße Macht einer Majorität, hintanhalten könnten«. Die Verknüpfung des nationalen Anliegens mit der historisierenden Staatsrechtsdoktrin macht deutlich, wie weit die national-čechischen Politiker sich unter den seitherigen Erfahrungen wieder von der Kremsierer Basis entfernt hatten und welche stimulierenden Wirkungen vom ungarischen Beispiel auf die verfassungsrechtliche Argumentation ausgingen. Der historische Rückgriff stand im Falle Böhmens freilich auf sehr viel schwächeren Füßen als im Falle Ungarns, da er die faktische monarchische und bürokratische Staatsbildung zweier Jahrhunderte ignorierte. Entsprechend vehement war die Abwehrreaktion der deutschen 84 Kolmer, a.a.O., S. 253–314 passim, dann S. 317, 344–350. Prinz in  : Handbuch Böhmische Länder, Bd. 3 [Anm. 5], S. 135–140  ; Jan Havranek, Die tschechische Politik und der Ausgleich von 1867  ; sowie Valentin Urfus, Die Ausprägung der Idee des historischen böhmischen Staatsrechts in den sechziger Jahren des 19. Jahrhundert und der österreichisch-ungarische Dualismus  ; beide in  : Ludovit Holotik (Hg.), Der österreichisch-ungarische Ausgleich 1867, Bratislava 1971, S. 520–544, 545–554  ; vgl. auch Joseph Zacek, Palacky and the Austro-Hungarian Compromise of 1867, a.a.O., S. 555–573. 85 Text bei Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 1087–1091.

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Seite im Lande selbst und des deutsch-liberalen Zentralismus im Ganzen.86 Die beiderseits betriebene Funktionalisierung des Staatsrechts für die eigenen nationalen Belange und die Verlagerung der Auseinandersetzungen auf die Ebene der Verfassungsfiktionen verschütteten den völlig legitimen Kern der čechischen Forderungen, nämlich dem manipulativen Kurienwahlrecht ein Ende zu machen und das Verfassungsrecht, insbesondere die Vertretungskörperschaften so auszugestalten, dass der Schutz der nationalen Belange institutionell gewährleistet wurde. Die durch die Auseinandersetzungen um die Deklaration ausgelöste Erschütterung des liberalen »Bürgerministeriums« gab der Krone nun erneut Gelegenheit zu einem politischen Seitenwechsel zugunsten des konservativen Versuchs, über einen föderalistischen Umbau Cisleithaniens unter Berücksichtigung der böhmischen Forderungen den 1867 etablierten Konstitutionalismus und Parlamentarismus doch noch zurückzudrängen. Das Ergebnis entsprechender Verhandlungen lag 1871 in Gestalt dreier Verfassungs-Gesetzentwürfe vor  ;87 deren wichtigster und die anderen überwölbender, die »Fundamentalartikel«, regelte das Verhältnis des Königreiches Böhmen zum Gesamtverband der Habsburger-Monarchie – analog zum ungarischen Vorgang – auf der Basis der Pragmatischen Sanktion. In diesem Sinne trat Böhmen dem ungarischen Ausgleich bei und genehmigte nachträglich Umfang und Inhalt der dort definierten gemeinsamen Angelegenheiten wie der dazugehörigen Vereinbarungen und Institutionen. Ein cisleithanischer Staat kam in dieser Konstruktion nicht vor. Alle nicht reichs-gemeinsamen Angelegenheiten, die Böhmen betrafen, fielen grundsätzlich in die Kompetenz des böhmischen Landtags und der böhmischen Landesregierung. Hiermit wäre nicht nur die legislative, sondern auch die absolutistisch gewachsene administrative Einheit der westlichen Reichshälfte aufgelöst worden. Um nun die dualistische Konzeption des ungarischen Ausgleichs und damit dessen Bestand nicht zu gefährden, organisierten die Fundamentalartikel die Teilnahme Böhmens an den gemeinsamen Angelegenheiten nicht trialistisch, sondern in einer Art von Subdualismus. Auf derselben Linie eines subdualistischen Konzepts lag die Anerkennung gewachsener gemeinsamer Angelegenheiten Cislei­ thaniens unterhalb der Gesamtreichsebene. Hierfür waren, analog dem ungari86 Prinz in  : Handbuch Böhmische Länder Bd. 3 [Anm. 5], S. 135–140. 87 Texte bei Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 1091–1108. Zur Entstehung und Bewertung Prinz, a.a.O., S. 140–149  ; Elisabeth-Charlotte Büchsel, Die Fundamentalartikel des Ministeriums Hohenwart-Schäffle von 1871. Ein Beitrag zum Problem des Trialismus im Habsburgerreich, Breslau 1941, Repr. Aalen 1982  ; Rudolf Wierer, Die böhmischen Fundamentalartikel vom Jahre 1871, in  : Peter Berger (Hg.), Der österr.-ungar. Ausgleich [Anm. 82], S. 154–168.

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schen Ausgleich, gemeinsame Ministerien, eine anteilige Finanzierung und eine gemeinsame Legislation durch eine aus den Landtagen zu beschickende »Delegierten-Konferenz« vorgesehen. An dieser höchst komplizierten staatsrechtlichen Organisation des Gesamtreiches und der westlichen Hälfte wird doch in klarer Weise die Grundintention deutlich, die Sicherung nationaler Belange nicht im gesamtstaatlichen Rahmen, sondern in dem kleinräumigeren Gehäuse des historischen Landes zu suchen und konsequenterweise höhere Formen gesamtstaatlicher Integration, die sich in dem modernen Konstitutionalismus und Parlamentarismus ausdrückten, zu verhindern. Innerhalb Böhmens hingegen sollte die Demokratisierung des Landesparlaments durch ein die neoständischen Kurien beseitigendes neues Wahlgesetz vorangetrieben und zugleich die Inte­gra­ tionslast für die beiden Nationalitäten durch materielle und institutionelle Garantien kompensiert werden. Insbesondere war eine Gliederung des Landtags in nationale Kurien vorgesehen, die mittels einer itio in partes national nachteilige Gesetze durch eine Sperrminorität blockieren konnten.88 Der böhmische Ausgleich scheiterte an der massiven deutschen Opposition, der die ungarischen Politiker mit dem Hinweis auf die Gefahren für den Bestand ihres Ausgleichs sekundierten, aber auch an der starren Haltung der »altčechischen« Politiker, die die Einschaltung des Reichsrates wegen der darin implizierten Anerkennung der gegenwärtigen Verfassung ablehnten und sich damit einen möglichen Kompromiss verbauten.89 Das Scheitern der Konservativen und die Rückkehr der Liberalen in die Regierung bezeichneten das Ende aller weiteren Umgestaltungsversuche. Angesichts der weiteren konsequenten Abstinenz der Čechen und zeitweilig auch der Tiroler sowie der rumänischen, slowenischen und italienischen Abgeordneten immunisierte sich das System 1873 noch zusätzlich  : Durch den Übergang zur Direktwahl wurde den Landtagen die Möglichkeit genommen, die Beschickung des Reichsrates zu boykottieren. An der sozialen Basis des Zentralparlaments änderte sich dadurch nichts, da die Wahlkurien und mit ihnen das Prinzip der Mandatsquotierung erhalten blieben.90 88 Der Entwurf eines Nationalitätengesetzes bei Bernatzik, Verfassungsgesetze, op. cit., S.  1093– 1097. 89 Büchsel, Die Fundamentalartikel, op. cit., S. 54–72. 90 Daran änderten auch die Wahlreformen von 1882 und 1896 nichts, die wohl den Steuerzensus für die Kurien der Städte und Landgemeinden schrittweise senkten, schließlich (1896) sogar eine fünfte Allgemeine Wählerklasse mit allgemeinem männl. Wahlrecht (und Pluralwahlrecht für alle auch in Klassen 1–4 Wahlberechtigten  !) einführten und damit die Stimmen von Kleinbürgertum und Proletariat zur Geltung brachten. Doch wurden die Differenzen der Stimmengewichtung

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Bis zum Ende der Monarchie blieb die 1867 geschaffene Verfassung die strukturbildende Grundlage des »Reiches« und jeder seiner beiden Hälften. Der Ausgleich von 186791 hatte die Staatlichkeit Ungarns wiederhergestellt und damit das Reich in zwei Staaten zerlegt. »Darüber« wölbte sich der Bereich der gemeinsamen Angelegenheiten mit den zugehörigen gemeinsamen Institutionen. Ob dadurch ein Überstaat im Sinne eines dritten, des Bundesstaates oder nur eine Realunion bzw. gar nur eine völkerrechtliche Staatenverbindung mit gemeinsamen Organen begründet wurde, war seither in der Staatsrechtstheorie diesseits und jenseits der Leitha umstritten,92 wozu wesentlich auch substanzielle Formulierungsunterschiede in den beiderseitigen Grundgesetzen beitrugen.93 Die Frage ist ex post auf der Basis einer statisch gedachten Wesensbestimmung schon deshalb nicht zu entscheiden, weil die ungarische Politik ihrer Auffassung im Lauf der Zeit in den staatsrechtlich relevanten Akten zunehmend Geltung zu verschaffen wusste und damit dank der normativen Kraft des Faktischen einen Wesenswandel in Gang setzte.94 Jenseits staatsrechtlicher Begriffsbildung lässt sich die besondere Natur der Doppelmonarchie historisch durchaus deuten. Sie liegt in der besonderen Position der Dynastie als Quelle der Existenz der Habsburger-Monarchie gemäß der Pragmatischen Sanktion. Insofern es die Dynastie kraft monarchischer Legitimität vermocht hatte, diese Union als Gesamtheit durch die Entwicklung übergreifender Institutionen zur Geltung zu bringen, war der Monarch stets mehr als die in einer Person vereinigte Summe aller Landesfürsten. Die Annahme des Kaisertitels von 1804 bringt diese Selbstinterpretation sinnfällig zum Ausdruck. Insofern konnte er, solange er diese Position dadurch nur noch verschärft. Zu den politischen Implikationen dieses Wahlsystems gehörten neben dem schon genannten hohen Manipulationsgrad (insbesondere über die Stimmen des großen Grundbesitzes) namentlich auch die Behinderung bzw. Verhinderung der Bildung schichtenübergreifender Parteien sowie die wechselseitig sich bedingende Eskalation sozialer und nationaler Gegensätze. Vgl. dazu die Überlegungen von Prinz, in  : Handbuch Böhmische Länder, Bd.  3 [Anm. 5], S. 155–158, 222 f., 225 ff. 91 Zur politischen Bewertung v. a. die beiden Tagungs-Sammelbände von Berger [Anm.  82] und Holotik [Anm. 84]. 92 Vgl. den [parteilichen] Überblick bei Friedrich Tezner, Ausgleichsrecht und Ausgleichspolitik. Ein Appell an das Parlament des allgemeinen gleichen Wahlrechts, Wien 1907. Die zahlreiche staatsrechtliche Lit. in  : Mischler-Ulbrich, Österreichisches Staatswörterbuch 2. Aufl., Bd.  2, Artikel »Gemeinsame Angelegenheiten«  ; Sutter, Badenische Sprachenverordnungen [Anm.  34], Bd.  2, S. 161 ff. Knappe Darstellung bei Hans Lentze, Der Ausgleich mit Ungarn und die Dezembergesetze von 1867, in  : Die Entwicklung der Verfassung Osterreichs, Graz 1963, S. 101 ff. 93 Dazu die Analyse von Hellbling in  : Berger (Hg.), Ausgleich [Anm. 82], S. 64–89. 94 Dazu Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], Abschn. XII  : Das staatsrechtliche Verhältnis zu Ungarn, S. 526–715, insbes. Exkurs zu Stück 170, S. 647 ff.

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behauptete, unter den Prämissen konstitutioneller Theorie auch nicht auf die Qualität eines Staatsorgans jedes Einzelteils, insofern diese jetzt als »Staaten« angesehen wurden, reduziert werden. Andererseits gelang es nicht (oder nur rudimentär und dies in seiner Relevanz umstritten), aus dem Gesamtverband einen Staat im modernen Sinne zu bilden, diesen zu konstitutionalisieren und den Monarchen auf dieser Ebene in ein Staatsorgan zu verwandeln. Zugleich aber behauptete der Monarch auch 1867 erfolgreich die historisch entwickelten Institutionen genuin monarchischer Machtentfaltung als »gemeinsame« Institutionen, und er behauptete zugleich im Rahmen der monarchischen Prärogative eine weitgehende Verfügungsgewalt über sie. Freilich verlangte konstitutionelles Denken nach einer parlamentarischen Kontrolle einer derartigen Machtfülle im militärischen und außenpolitischen Bereich, doch widerstrebte gerade dieser Tendenz die Besorgnis, mit der Entwicklung zentralparlamentarischer Institutionen einen Gesamtstaat zu konstituieren. Die Lösung von 1867, für diese Legislations- und Kontrollaufgaben und die zugehörige Genehmigung des gemeinsamen Ausgabenetats Delegationen95 der beiderseitigen Parlamente vorzusehen, griff zu kurz. Gerade weil durch die Verfahrensordnung, insbesondere das getrennte Tagen, jeder Ansatz zu einer parlamentarischen Integration mit ihren Möglichkeiten der Majorisierung vermieden wurde, konnten die Delegationen keine besondere Schlagkraft als parlamentarischer Widerpart der gemeinsamen Exekutivorgane entwickeln.96 Die Stellung der Krone blieb stark, da Ministerverantwortlichkeit und Ministeranklage nie durch das vorgesehene Ausführungsgesetz geregelt wurden,97 da sie ein legislatorisches Vetorecht behielt und da vor allem der allerhöchste Oberbefehl über die Armee in extensiver Interpretation (Leitung, Führung und innere Organisation) monarchische Prärogative blieb.98 (Schon diese Tatsachen würden es schwermachen, im Monarchen lediglich das gemeinsame Organ eines Staatenverbandes zu sehen.) Das »Reich« (die pragmatisch gemeinsamen Angelegenheiten) als eine Sphäre ausgeprägter monarchischer Prärogative kann also in historischer Perspektive als der Restbestand einer gestalttypisch älteren dynastischen Macht- und Instituti95 Die einschlägigen Bestimmungen im ungar. GA XII/1867 und dem cisleithan. Gesetz über die gemeinsamen Angelegenheiten v. 21.12.1867, Bernatzik, Verfassungsgesetze, op. cit., S. 329 ff., 439 ff. Vergleichende Analyse bei Hellbling in  : Berger (Hg.), Ausgleich [Anm. 82], S. 75 ff. 96 Gute Analyse bei Hans Mommsen, Die Rückwirkungen des Ausgleichs mit Ungarn auf die cisleithanische Verfassungsfrage, in  : Holotik (Hg.), Ausgleich [Anm. 84], S. 353–379. 97 Vgl. Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 447. 98 Dazu Tezner, Ausgleichsrecht und Ausgleichspolitik [Anm. 92], S. 36–42.

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onenbildung angesehen werden, der die Fortentwicklung zum Staat versagt blieb und die sich damit der Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung im Kern entzog, die aber die Basis wirksamer politischer Gestaltungskraft über den durch sie vereinigten Staaten blieb, solange das Prinzip der monarchischen Legitimität noch Geltungskraft besaß. Dieser Restbestand wurde freilich dadurch, dass sein materieller Unterbau alle zehn Jahre aufgrund der jeweils neu zu vereinbarenden Quoten des Finanzbeitrages zur Disposition gestellt wurde, in zunehmendem Maße gefährdet. Unterhalb dieser Sphäre wurden die beiden »Reichs«-Hälften als Staaten im klassischen Sinn konstituiert, die aber von voller Autonomie weit entfernt waren. Durch die Existenz gemeinsamer Angelegenheiten und Institutionen waren zugleich der Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung insofern Grenzen gesetzt, als der wichtige Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik nicht in die Kompetenz der beiderseitigen Regierungen und Parlamente fiel. Schon aus diesem Grund blieb es den Parlamenten verwehrt, Foren der Auseinandersetzung oder gar Willensbildung für die gesamte Politik zu werden. Darüber hinaus verfügte der gemeinsame Monarch als jeweils konstitutioneller Monarch in beiden Staaten über die bereits früher beschriebene starke verfassungsrechtliche Position, die die Entfaltungsmöglichkeit des Parlamentarismus weiterhin eingrenzte. Gleichwohl blieben die Parlamente für die ordentliche Gesetzgebung selbstverständlich unentbehrlich und die Regierungen auf Majoritätsbildung angewiesen. Der in dieser Verfassungskonstruktion implizierte, aus der preußisch­ deutschen Verfassungsgeschichte geläufige latente Verfassungskonflikt99 war prinzipiell auch für die verfassungsrechtliche Lage in Ungarn und Cisleithanien bestimmend, doch traf diese Verfassungskonstruktion in den beiden Staaten auf eine höchst unterschiedliche parlamentarische Tradition. In Ungarn erfüllte das Parlament, freilich unter Einschränkung auf die 1848 bzw. 1867 wahlrechtlich fixierte soziale und nationale, die nichtmagyarischen Nationalitäten missach­ tende Basis eine politisch integrative Funktion. Es lag in der Konsequenz dieser ungebrochenen politischen Kultur, dass faktisch parlamentarisch, d. h. unter 99 Zu den damit verbundenen Problemen und Kontroversen, die seit dem Erscheinen von E.R. Hubers Deutscher Verfassungsgeschichte, Bd. 3, neu belebt wurden, jetzt Günther Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49–1857/58, Düsseldorf 1982, Einleitung S. 11–25, dort die wichtigste Lit.; vgl. zuletzt auch die umfangreiche Rezension von Hubers Verfassungsgeschichte von Hans Boldt in  : GG 11 (1985) [Anm. 3], S. 252–271. Für den deutsch-österreichischen Vergleich Helmut Rumpler, Monarchisches Prinzip und Ministerverantwortlichkeit in Österreich und Preußen 1848–1867, in  : Bericht über den 11. Österreichischen Historikertag in Innsbruck 1971, Horn 1972.

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Beachtung parlamentarischer Koalitionsverhältnisse und unter personeller Berücksichtigung der parlamentarischen Führer, regiert werden konnte. Grundlegende, das Verfassungssystem berührende Friktionen ergaben sich erst in dem Augenblick, als 1905 eine den Ausgleich negierende Fundamentalopposition die Mehrheit errang. Doch ließ sich die parlamentarische Basis der Regierung dadurch wiederherstellen, dass die Opposition mit der königlichen Androhung einer Wahlrechtsänderung zum Einlenken gezwungen wurde.100 Selbstverständlich darf die politische Begrenztheit dieser parlamentarischen Integration nicht verkannt werden. Sie liegt in der Künstlichkeit der gesamten ungarischen Nationalstaatsfiktion begründet, deren Aufrechterhaltung es nicht erlaubte, die soziale und damit ethnische Basis des Parlamentarismus auszuweiten. An dieser Starre ist das System und mit ihm der Staat letztlich zerbrochen. Nur die relative Rückständigkeit der nicht-magyarischen Nationalitäten hatte seine Geltung bis 1918 überhaupt möglich gemacht. In Cisleithanien hatte der Parlamentarismus jedoch von vornherein kaum die Chance eines Gelingens. Der ursprünglich lediglich bürokratisch integrierte Staat vermochte sekundär (so wie etwa die süddeutschen Rheinbundstaaten) keine parlamentarische politische Tradition hervorzubringen, weil er von wichtigen politischen Gruppen als »Staat« gar nicht anerkannt wurde, weil die auf seinem Boden stehenden Klassen zu schwach waren, seiner Konstituierung zur Anerkennung zu verhelfen, und weil auf diese Weise der Krone kein integraler parlamentarischer Wille gegenübergestellt werden konnte, diese vielmehr die maßgebliche Gestaltungsmacht blieb. Allerdings gab es auch in Cisleithanien von 1867 bis 1879 eine (1870/71 unterbrochene) Phase parlamentarischer bzw. parlamentsnaher Regierung auf der Basis integraler zentralparlamentarischer Willensbildung unter deutsch-liberalem Vorzeichen  : Doch blieb der Reichsrat während dieser Periode stets ein Rumpfparlament.101 Gemessen etwa an ungarischen Verhältnissen hatte die das Parlament tragende politische Kraft des deutschen Liberalismus eine noch weitaus schwächere soziale Basis, war die Fiktionalität der Repräsentation aufgrund des Kurienwahlrechtes weit krasser  ; das manipulative Instrumentarium ließ sich zudem auch gegen die Deutschen 100 Knappe Analyse bei Peter Hanak, Hungary in the Austro-hungarian Monarchy  : Preponderance or Dependency  ? Historiographical Survey, in  : Austrian History Yearbook 3,1 (1967), S. 260–302, v. a. S. 284–302  ; Darstellungen  : Arthur J. May, The Hapsburg Monarchy 1867–1914, New York 1950 u. ö., S. 70 ff., 85–89, 252–269, 343–361, 439–441  ; Robert A. Kann, Geschichte des Habsburger Reiches [Anm. 42], S. 328 ff., 406–414. 101 Materialien und Darstellungen zu Regierung und Parlament in dieser Periode in Kolmer, Parlament und Verfassung [Anm. 74], Bd. 1, S. 314–403 und Bd. 2.

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verwenden.102 Da der Liberalismus dauernd unfähig blieb, eine allseitige Anerkennung des Verfassungswerks von 1867 oder seine allseitig anerkannte Modifikation zustande zu bringen, blieben der Krone hinreichend Möglichkeiten, sich der vom Liberalismus ausgehenden unliebsamen gesamtpolitischen und verfassungspolitischen Tendenzen bei nächster Gelegenheit zu erwehren. Der Sturz des Liberalismus als regierender Partei führte 1879 zu einer dauerhaften Rückkehr zum Prinzip der Beamtenregierung  ; d. h. der monarchisch betonte Konstitutionalismus »deutschen Typs« wurde in reiner Form wiederhergestellt. Damit setzten sich die dieser Regierungsform eigentümlichen komplementären Tendenzen durch  : mit der Zentrierung der staatlichen Integrationsleistungen in der monarchisch bestimmten Bürokratie »über den Parteien« ging die Desintegration des Parlamentarismus einher. Diese desintegrativen Momente ergaben sich daraus, dass die Regierung auf legislatorische Parlamentsmehrheiten angewiesen war und den parlamentarischen Gruppen damit proportional zu ihrem »Grenzwert« politische Hebel zur Geltendmachung partikularer Interessen in die Hand gab, ohne dass diese Gruppen eine entsprechende Verantwortung für das Gesamthandeln zu tragen hatten. Die damit verbundene, etwa aus der deutschen Verfassungsgeschichte geläufige103 Integrationsproblematik hatte nun aber in Cisleithanien ganz andere Dimensionen, weil unter den politisch handlungsmächtigen Gruppen wegen der brisanten Verschachtelung der normalen sozialen Konfliktlagen mit den ethnischen Konflikten kein Grundkonsens über die Verfassung herzustellen war. Wenn die Regierung in der vieljährigen Ära des »Kaiserministers« Taaffe keinen Versuch mehr unternahm, die Verfassungsfrage auf parlamentarischer Ebene mit dem Ziel einer solchen Konsensbildung zum Thema zu machen, sondern vielmehr zu der Technik überging, durch partielle administrative Konzessionen unterhalb der Verfassungsebene und außerhalb der parlamentarischen Willensbildung von Fall zu Fall die Voraussetzungen für das legislatorische Überleben im Parlament zu schaffen,104 so machte sie zwar einerseits aus der objektiv gegebenen Not eine Tugend, zugleich aber förderte sie damit den Prozess der Dekomposition des Parlamentarismus noch weiter. Die hierdurch bei den parlamentari102 So insbesondere unter der Regierung Taaffes  ; vgl. William A. Jenks, Austria under the Iron Ring 1879–1893, VirginiaUP 1965, S. 33–37, 116–121. 103 Dazu für Deutschland Eberhart Pikart, Die Rolle der Parteien im deutschen konstitutionellen System vor 1914, in  : ZS f. Politik, NF 9 (1962), S. 12–32  ; wieder in  : Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte [Anm. 82], S. 258–281, insbes. S. 267–273. 104 So vor allem die Versuche, die nationalen Probleme durch Sprachenverordnungen zu lösen. Zum Gesamtkomplex  : Berthold Sutter, Die Badenischen Sprachenverordnungen [Anm. 34].

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schen Fraktionen geförderten Techniken des erpresserischen Gruppenverhaltens gegenüber der Regierung eskalierten bei der zunehmenden Verschärfung der Nationalitätenkonflikte in den nachfolgenden Jahrzehnten folgerichtig zur Obstruktion, also zur erpresserischen Lahmlegung des Parlaments selbst. Diesem Vorgang entsprach der Rückzug der Exekutive auf das Notverordnungsregiment, also die informelle Rückkehr zum bürokratischen Absolutismus.105 Trotz verschiedener ernsthafter politischer Initiativen, die einer gesonderten Erörterung bedürften,106 ließ sich das Staatswesen in den letzten Jahrzehnten seines Bestandes nicht mehr aus dieser verfassungspolitischen Aporie befreien. Es wäre ein methodisch durchaus falsch angewandtes Prozessdenken, wollte man aus diesem Endergebnis auf seine Unausweichlichkeit oder gar auf die wesensmäßige Unfähigkeit der Habsburger-Monarchie bzw. Cisleithaniens zu höheren Formen der staatlichen Integration schließen. Man muss aber sehen, dass die Chancen hierzu bei der nachrevolutionären Konfiguration der Kräfte, nämlich bei der Verschränkung der sozialen und ethnischen Probleme mit dem absolutistischen Konzept des Trägers der Krone, stets gering waren. Die Überzeugung Franz Josephs, dass Österreich konstitutionell nicht regiert werden könne, bekam so die Kraft einer sich selbst erfüllenden Prophetie. 105 Abgesehen von der hierzu notwendigen interpretatorischen Überdehnung von Art. 14, die an analoge Probleme des Notverordnungsregimes nach Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung erinnert, waren der Notverordnungspraxis bestimmte Grenzen durch die Ausgleichsbestimmungen gezogen. Eine nichtparlamentarische Erledigung des Ausgleichs in Cisleithanien war verfassungswidrig und gab der ungarischen Seite entsprechende Hebel in die Hand  ; hierin lagen für die Parteien des cisleithanischen Reichsrates wiederum empfindliche Pressionsmöglichkeiten. Zu den Konsequenzen knapp, aber eindringlich Mommsen, Die Rückwirkungen des Ausgleichs, in  : Holotik [Anm. 96], S. 367–379. Zur Gesamtproblematik von Obstruktion und Notstandsregierung Alfred Ableitinger, Ernest von Koerber und das Verfassungsproblem im Jahre 1900, Wien u. a. 1973. 106 Hierzu zählt vor allem die, bezeichnenderweise von der Krone selbst favorisierte, Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahre 1907, die jedoch die in sie gesetzten Hoffnungen auf eine Überwindung des parlamentarisch und gesellschaftlich festgefahrenen Nationalitätenhaders nicht erfüllte  ; auch die neuen Massenparteien folgten organisatorisch und agitatorisch längst den nationalpolitischen Trennungslinien. Zur Sozialdemokratie, die nach übernationalen Anfängen ebenfalls zerfiel  : Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, Wien 1963. Allg. Bemerkungen zur Parteienfrage Prinz, in  : Handbuch Böhm. Länder, Bd.  3 [Anm.  5], S.  210–227. Zu den Reformansätzen der letzten Vorkriegsjahre Ableitinger, Ernest von Koerber, op. cit.; William A. Jenks, The Austrian Electoral Reform of 1907, New York 1950  ; Johann Christoph Allmayer-Beck, Ministerpräsident Baron Beck. Ein Staatsmann des alten Österreich, München 1956  ; Horst Glassl, Der mährische Ausgleich, München 1967.

Public Finances of Neo-Absolutism in Austria in the 1850s Integration and Modernisation

The emergence of the Austro-Hungarian monarchy is inseparable from the decisive role of the Habsburg dynasty. Within a normative perspective of the formation of modern states, it can be said that this monarchy never developed beyond the stage of monarchic integration.1 The notorious difficulty in giving a name to this amalgamation of territories simply represents the underlying structural disunity of the Habsburg dominions. Was that monarchy therefore a phenomenon sui generis amidst a world of modern states  ? Otto Brunner repeatedly called it a ‘monarchic union of corporative states’,2 considering this a sufficient explanation of its nature, even for the entire nineteenth century. With that description he rightly underlined the overwhelming influence of the dynastic order on the unity of the realm  ; on the other hand, this description seems anachronously to imply the late medieval and early modern concepts of ‘Land and Herrschaft’, disregarding any new process that may have been involved in its development towards a modern state. An examination of the eighteenth and nineteenth centuries reveals many such processes integrating the Habsburg dominions, processes which follow contemporary European outlines but which often occurred sometime later or were concluded prematurely. One could therefore describe the Habsburg monarchy as an unfinished state, thus accepting the general validity of the term ‘state’ in describing the pattern of development. This view will be elaborated in order to clarify the nature of the whole era of so-called neo-absolute government between 1848 and 1860. Maria Theresa and Joseph II subjected their German and Bohemian Hereditary Lands (Erblande) to a process of absolute-bureaucratic modernisation which in its characteristics was similar to the administrative, power-political and economic integration we also find taking place in other European states. Under Joseph II’s reign this modernisation leaped ahead of the rest of Europe in many respects and even assumed some characteristics of a revolution directed from above. In the field of social 1 For the concept of stages of integration, which I follow here, see Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Munich, 1928. 2 Otto Brunner, Das Haus Österreich und die Donaumonarchie, Südostforschungen, vol. 14 (1955), pp. 122–144, esp. p. 126  ; frequently repeated by the same author.

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policy Joseph II aimed at abolishing the manorial and estate systems by decrees and by mobilising the peasant masses against their aristocratic and clerical opponents, which meant in fact a partial expropriation of the landlords. In the constitutional field he not only aimed at destroying the still powerful corporative states within the different Lands and at incorporating the patrimonial self-government into state administration, but, and above all, for the first time a ruler from his dynasty planned to impose the entire system of bureaucratic absolutism within the western half of his dominions on the Kingdom of Hungary. In doing this, however, he went far beyond the limits of his power. Due to the threat of a nation-wide revolt by his nobility, he and even more his brother Leopold were compelled to make far-reaching concessions to the privileged orders and to revoke the reform decrees. Leopold then finally re-established Theresian laws concerning the constitution, administration and social hierarchies.3 This experience deeply upset the court and the leading families, and, combined with the experiences of the French Revolution, they regarded the Josephinian reforms as the main threat to their society and interests. Thus enlightened despotism and revolution were taken to be born of the same mother and considered destructive to the integrity of the monarchy.4 Consequently, the reforms of the Napoleonic era in Western and Central Europe, which had led to another substantial sociopolitical push of modernisation, not only in the countries of the Confederation of the Rhine5 but 3 The problems of benevolent absolutism are discussed by Karl Othmar v. Aretin in his introduction to K.O. v. Aretin (ed.), Der Aufgeklärte Absolutismus, Cologne, 1974, pp. 11–51. For Josef II, see Paul v. Mitrofanov, Josef II. Seine politische und kulturelle Tätigkeit, 2 vols., German trans. Vienna and Leipzig, 1910  ; Elisabeth Bradler-Rottmann, Die Reformen Kaiser Joseph  II., Göppingen, 1973  ; Karl-Heinz Osterloh, Joseph von Sonnenfels und die österreichische Reformbewegung im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, Lubeck, 1970. For agrarian and tax reforms especially see Roman Rozdolski, Die große Steuer- und Agrarrform Josefs II. Ein Kapitel zur österreichischen Wirtsckaftsgeschichte, Warsaw, 1961  ; for Leopold’s policy, see Adam Wandruszka, Leopold  II., vol. 2, Vienna and Munich, 1961, pp. 249–383. 4 For an approach in terms of intellectual history, see Eduard Winter, Romantismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz, Vienna, 1968. 5 Rainer Wohlfeil, ‘Napoleonische Modellstaaten’, in Wolfgang v. Groote (ed.), Napoleon  I. und die Staatenwelt seiner Zeit, Freiburg 1969  ; Helmut Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesell­ schafts­politik im Königreich Westfalen 1807–1813, Göttingen, 1973  ; Elisabeth Fehrenbach, Tra­di­ tio­­nale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoléon in den Rhein­ bundstaaten, Göttingen, 1974  ; Helmut Berding, Das Königreich Westfalen als Modellstaat, Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde, vol. 54 (1985), pp. 181–93. For Bavaria, see Eberhard Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I., 1799–1825, in Max Spindler (ed.), Handbuch der bayerischen Geschichte, vol. 4, Munich, 1974  ; for recently published articles, see Eberhard Weis (ed.), Reformen im rheinbündischen Deutschland, Munich, 1984.

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also in Prussia,6 passed Austria by without any trace. Only since that time we may speak of a gap between Austria on the one side and most of the other states of the German Confederation on the other side, as far as economic, social and constitutional change are concerned. The transformation of this corporative society – with its subtle class hierarchies, with its ties based on property and pre-state power organisations – into a free society with common property rights, with a strict distinction between governmental and private spheres and with guarantees of the rule of law, remained unfinished and blocked until the 1848 Revolution. Above all, the manorial and estate systems were not changed. This meant for Austria that it became backward in exchange economics and productivity, which were both based on the division of labour and differentiation of production. Consequently, the pace of industrialisation slowed down markedly.7 The constitutional consequences led to the fact that in the western half of the empire the patrimonial courts remained untouched and, in addition to government authorities in the crown lands, the old corporative states maintained their strong political and administrative positions. Although the unifying tendencies of the imperial bureaucracy had a major influence on the formation of policy, the Estates of the Lands led more than a shadow existence and the crown lands were in many respects independent. They had laws of their own, different levels of taxation, different limitations of selling estates and different regulations concerning the right of settlement.8 The consequences for the lands of the Hungarian 6 Recent collection of important contributions by Barbara Vogel (ed.), Preußische Reformen 1807– 1820, Königstein, 1980  ; see the survey article of the editor. 7 For administration and constitution, see Fridrich Walter, Die Österreichische Zentralverwaltung, ser. II (1749–1848), 7 vols., Vienna 1931–56  ; Viktor Bibl, Die Niederösterreichischen Stände im Vormärz, Vienna, 1911  ; Hanns Schlitter, Aus Österreichs Vormärz, 4 vols., Vienna, 1920. For social structure and economic consequences, see Karl Grünberg, Die Bauernbefreiung und die Auflösung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien, 2 vols., Leipzig, 1894  ; Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft und ihrer Industrien 1848–1898, 7 vols., Vienna, 1899, especially Grünberg, ‚Die Grundentlastung‘, vol. I, pp.  l-80  ; Jerome Blum, Noble Landowners and Agriculture in Austria 1815–1848, Baltimore, 1948  ; Richard L. Rudolph, The pattern of Austrian industrial growth from the 18th to the early 20th century, Austrian History Yearbook, vol. 11 (1975), pp. 3–43  ; Nachum T. Gross, Industrialization in Austria in the Nineteenth Century, Phil. Diss., Berkeley, 1966  ; Wilhelm Weber (ed.), Österreichische Wirtschaftsstruktur – gestern, heute, morgen, 2 vols., Berlin, 1961  ; Jerome Blum, Transportation and Industry in Austria 1815–1848, Journal of Modern History, vol. 15 (1943), p.  24–38  ; Herbert Matis‚ Technik und Industrialisierung im österreichischen Vormärz, Technikgeschichte, vol. 36 (1969), pp. 12–37. 8 For a short survey including financial consequences, see Harm-Hinrich Brandt, Der Österreichische Neoabsolutismus  : Staatsfinanzen und Politik l848–1860, 2 vols., Göttingen, 1978, vol. I, pp. 12–25.

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Crown were that the king was not only bound to the approval of the Hungarian Reichstag in legislative matters, but beyond his traditional prerogatives there was no royal administration whatsoever. The manorial system and the semi-anarchic county administration (Komitatsverwaltung) remained the foundation of aristocratic power in Hungary. They continued their almost unfettered rule through county assemblies (Komitatsversammlungen), which exercised their right to give binding instructions to their Reichstag deputies, as well as their right to resist so-called unlawful decisions and decrees by central government.9 After the failed attempt to introduce absolute government, the Hungarian nobles had the validity of this legislative complex confirmed in 1790 (later called the Hungarian National Law),10 and the Vienna government took care not to take up that question again. Until 1848 the Austro-Hungarian monarchy was divided into one part which was governed in a pre-absolute way and one part which was governed in an absolute way as far as constitutional law and administration were concerned, but in the latter, western, half of the monarchy one could also find a pre-absolute legacy which could at times dominate public life in one crown land or the other. Now a word on the multi-nationality of the Empire, which, according to historical thought in the nineteenth and twentieth centuries, was the Empire’s single greatest problem. We cannot, however, reduce all the difficulties of the Empire to an ethnic dimension. We can only understand the structural dilemma of the Habsburg monarchy in its full complexity by stressing three interrelated historical facts whose effects either reinforced or paralysed one another. Firstly, the Habsburg monarchy resembled a union of dominions with individual national or provincial legal traditions. Every Land had been constituted by its political aristocratic nation. Secondly, most Lands, and among them the largest and most important ones, were not homogenous ethnically but rather multi-national units. The plurality of Lands and the plurality of races never coincided. Thirdly, these nationalities normally had not the same position but were ranked in a system of social and political subordination. There were master races and servile races, or as they are called, ‘historical and non-historical nations’. The latter had not established a leading class of their own and thus were left without political influence.11   9 For Hungary, see ibid.; Erszébet Andics, Metternich und die Frage Ungarns, Budapest, 1973  ; a good introduction into pre-March conditions is given by George Barany, Ungarns Verwaltung 1848–1918, in Adam Wandruszka (ed.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, vol. 2, Vienna, 1975, pp. 306–468, esp. pp. 312–328. 10 Ernst C. Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2nd edn. Vienna-New York, 1974, pp. 318–323  ; Wandruszka, Leopold II. [note 3], vol. 2, pp. 273–290. 11 Robert A. Kann, The Multinational Empire. Nationalism and National Reform in the Habsburg

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One could envisage a Habsburg policy of working with the liberation movements of the small nations in order to break the powers of the particularistically orientated landed nobility through actively emancipating the peasants in all the nations, thus destroying the Lands for good. This would have been the conclusion of absolute-bureaucratic integration of the Empire on a social-revolutionary basis, and in the second half of the nineteenth century might in the long run have been the basis for a federalisation along ethnic lines. The first steps towards such a policy can be found in Joseph II.’s reign. But after his death there was a freeze in this kind of development, and central government was happy with a policy of maintaining a balance of power, or even of seesaw politics, which supported the cultural wishes of the small nations from time to time but which was never willing to answer the unsolved constitutional question.12 Let us now leave behind this model of absolute-revolutionary integration and ask whether the opposite option, a conservative-corporative integration of the crown-lands might have been possible. This solution would have meant the union of the individual vested interests of the nobilities in the Lands within an assembly like the ‘General Estates’. The corporate basis of such an assembly could later have been transformed into a modern representative body of a central parliament either in an evolutionary way as in Britain or in a revolutionary way as in France. But it must be said that in Austria there had never been any attempt to establish central corporative units or central committees, either because the dynasty did not want to have them or because the dynasty was not able to establish these institutions. Normally, such ideas were initiated by the monarchs themselves when they needed funds or credit for their armies at times of war. During the wars with the Turks we find the first signs of a cooperation among corporative states in the German dominions and in Bohemia, but without the creation of a standing institution.13 Until the Napoleonic Wars the Habsburg dynasty made Monarchy 1818–1918, 2 vols., New York, 1950  ; rev. edn. (German), Graz and Cologne, 1964  ; R.A. Kann, Zur Problematik der Nationalitatenfrage in der Habsburgmonarchie 1848–1918. Eine Zusammenfassung, in Wandruszka (ed.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918 [note 9], vol. 3  ; Vienna, 1980, pp. 1304–1338. 12 For the problems of domestic policy towards nationalities in the periods of restauration and preMarch, see Joseph Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem, 3 vols., Leipzig, 1920, 1926, vol. I, pp.  59–88  ; see Heinrich v. Srbik, Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, 3 vols., Munich 1925, 1954, repr. 1957, vol. I, pp. 423–524, and vol. 2, pp. 1–46  ; see Kann [note 11], particularly the chapters concerning the particular nationalities. 13 For a sketch of this problem, see Redlich [note 12], vol. I, pp. 1–22.

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intensive efforts to use corporative credit to fund their war transactions, but at the same time the dynasty was eager to isolate the different corporative states.14 Only for the year 1816 have we any evidence of a centralist movement, when, again in connection with the strategy for dealing with the financial aftermath of the Napoleonic Wars, Metternich planned to combine corporative committees to form a central Council of the Empire.15 The temporal and factual correlation between his and Hardenberg’s policy in Prussia,16 as well as the constitutional movements in the countries of the former Confederation of the Rhine,17 is astonishing  ; for Austria its failure is also typical. Once we bring into focus the tight functional connection between financial or credit problems and tendencies to parliamentarisation, it is rather exciting to meet an application by the Austrian Hofkammerpräsident (president of the department of finance), in February 1848, to summon a united assembly of corporative states at Vienna in order to save the credit-worthiness of the country (which had begun to vanish under the heralds of revolution) by a parliamentary declaration of liability. For a couple of days the pros and cons of this application were discussed in the light of the implicit political dangers, until the revolutionary actions put an end to this idea. Two reservetions put forward by Metternich in the moment of emergency again show the specific Austrian dilemma  : firstly, such a proposed body could be tempted to play the role of a constitutional assembly and secondly and above all, it might perhaps be possible to force the corporative states in the western half of the monarchy to send delegates to such an assembly, but not the Hungarian Reichstag. The Empire would then have been split into two differently constituted parts  ; the existence of the monarchy would then be endangered.18 Immediately afterwards, the 1848 Revolution broke out, emphasising the extraordinary problems of constitutional movements in the Austrian Empire. 14 Franz v. Mensi, Die Finanzen Österreichs von 1701–1710, Vienna, 1890  ; Adolf Beer, Die Staatsschulden und die Ordnung des Staatshaushaltes unter Maria Theresia, Vienna, 1895, repr. 1972  ; Johann Schasching, Staatsbildung und Finanzentwicklung. Ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Staatskredites in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, Innsbruck, 1954. 15 Egon Radvany, Metternich‘s Projects for Reform in Austria, The Hague, 1971. 16 For this aspect of Prussian reforms, see Ernst Klein, Von der Reform zur Restauration. Finanz­ politik und Reformgesetzgebung des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg, Berlin, 1965. For the following decades, see Herbert Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus in Preußen, Düsseldorf, 1984. 17 Herbert Obenaus, Finanzkrise und Verfassungsgesetzgebung. Zu den sozialen Bedingungen des frühen deutschen Konstitutionalismus, in G.A. Ritter (ed.), Gesellschaft, Parlament und Regie­ rung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, Düsseldorf, 1974, pp. 57–75. 18 For this remarkable episode, see Brandt, Neoabsolutismus [note 8] vol. I, pp. 130–51, esp. 147–51.

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Now on the agenda was not only the power struggle within the state but firstly the struggle for the very existence of the Habsburg monarchy. The breaking away of the Italian provinces, the national revolt of the Czechs in Prague, movements for independence in Hungary, at first legally in the form of union only in the person of the monarchy [Personalunion], then, due to the outbreak of internal struggles in Hungary among the different nations, aimed at complete independence – all these events were signs of an imminent dissolution of the Empire. It was in vain that a constitutional Reichstag at Vienna, later moved to Kremsier, drafted a suitable outline of a constitution for the remaining German, Bohemian and Polish dominions. Court and army were not prepared to accept any restriction on monarchic prerogative whatsoever, and above all they were not willing to give up the unity of the monarchy. Given the sharpening perception of danger and the final military victory over revolt and separatism, the court and armed forces were now ready to break with the old restoration system of simply maintaining balance and stability. They now started to experiment with the readoption of ‘Josephinian’ ideas of absolute-­ bureaucratic integration of the whole Empire, because they wanted to force a process of social modernisation and wanted to catch up with other countries in a very short time. At the same time their predominant aim was to re-establish the Austrian position as a great European power and its leading role in Germany and Italy. The new post-revolutionary regime had two faces. On the one hand, there was the Schwarzenberg ministry, a civilian government which judging by the names of its members expressed the desire for reform.19 For a short period of time they believed it would be possible to draft a constitution for the whole monarchy involving some kind of representative body.20 On the other hand, there was the court and military party, with their anti-revolutionary methods of suppression. In many parts of the monarchy, including all bigger cities, a state of siege 19 For the Schwarzenberg ‘coalition’ ministry, see Walter [note 7], vol. 3, pp. 223–43  ; Helmut Rump­ ler, Ministerrat und Ministerratsprotokolle 1848–1867. Behördengeschichtliche und aktenkund­ liche Analyse, Vienna, 1970, pp. 30–32, with references. Out of the Liberal 1848 cabinets came Alexander Bach ( Justice, then Interior), Philipp Krauss (Finance), Karl Krauss ( Justice)  ; Count Franz Stadion (Interior who was a kind of Austrian ‚Whig‘)  ; Karl Ludwig Bruck (Trade), Triestine merchant and self-made man, had been member of the Paulskirche  ; the liberal-conservative Anton Schmerling ( Justice for a short time) had been one of the most prominent figures in the Frankfurt parliament and government. 20 For the imposed constitution of 4 March 1849, which never came into effect, see Hanns Schlitter, Versäumte Gelegenheiten. Die oktroyierte Verfassung vom 4.  März 1849. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Zürich, 1920  ; for the question of sincerity of governmental policy, see also Walter [note 7], vol. 3, pp. 431–434, and Rumpler [note 19], p. 2.

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was declared and maintained for years, thus substantial parts of the administration of justice and public safety were in the hands of the armed forces. Its central contribution to the salvation of the Empire brought the army its privileged role as a state within a state, a position consolidated by the military inclinations of the emperor.21 At the same time government officials were busy drafting laws to fill in the frame-work of the imposed constitution  : final settlement of relations between landowners and peasants after the legal emancipation of peasants (Grundentlastung )  ; the reorganisation of state authorities, particularly on the lowest level  ; the imposition of the entire western administrative structure on Hungary  ; the organisation of municipalities as self-governing administrative bodies  ; the preparation of representative assemblies for Lands and districts  ; the reform of law and unification of law on the basis of freedom of settlement and disposable property  ; the promotion of free trade  ; the creation of a single economic unit within the monarchy  ; the reform of tariff laws and establishment of low protective duties  ; and the formation of chambers of commerce.22 Behind these different laws we can see the thorough plan of mobilising all productive powers available. Government investment, especially in railway construction, rose by leaps and bounds. Nowhere else can we find more distinct marks of the new, powerful and centralised state than in these building activities.23 The whole reform movement, however, was stopped or abolished by the political reaction of 1851, certainly as far as constitutional matters were concerned,24 and to a lesser degree as far as socio-economic matters were concerned. Thus followed the many strange socio-political contradictions which became a trade-mark of that neo-absolute government. On the whole they did not reconstruct pre-revolutionary (vormärzlich) absolutism but formed a pure bureaucratic centralism which did not care in the least for the traditional interests of the crown lands. This was a severe attack on the regional influence of the old powers, the nobility, and at the same time it left behind all liberal and constitutional thoughts and ignored the traditional Hungarian National and Constitutional Law. It was the Hungarian 21 These aspects were emphasised by the earlier liberal historiography  : Walter Rogge, Oesterreich von Világos bis zur Gegenwart, 3 vols., Leipzig and Vienna, 1872–3, vol. I  ; Heinrich. Friedjung, Österreich von. 1848 bis 1860, 2 vols., Stuttgart and Berlin, 1918, vol. I, chs. 6–8, 12–13  ; Richard Charmatz, Österreichs innere Geschichte von 1848 bis 1907, 2 vols., Leipzig, 1909, vol. I  ; Viktor Bibl, Der Zerfall Österreichs, 2 vols., Vienna, 1922–4, vol. 1. 22 See the survey (with references) in Brandt [note 8] vol. I, chs. 3–4. 23 Brandt, op. cit. vol. I, ch. 4, sects. 2 and 4. 24 For the formal abolition of the 1849 Constitution by the ‘Silvester-Patent’ (31.12.1851) and the reshaping government and administration, see Walter [note 7], vol. 3, pp. 486–579.

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case that made many government officials realise how much had to be done in the fight against feudalism. This caused a renaissance of the Josephinian reform bureaucracy, which meant acts of absolute state formation using the means of the eighteenth century. At the same time this renaissance was a typical Austrian answer to the experiences of the last revolution. They had learnt their lesson, saying that the entire monarchy could not be integrated in a parliamentary way. Reform bureaucracy was the only institution with the power to carry through modernisation, since there was no possibility of the governed taking any part in that movement or controlling it, for such participation was held to be partly impracticable or too dangerous and partly bothersome or superfluous. In this situation the neo-absolute government was immediately placed under an obligation to succeed  ; failure could threaten the very existence of the system as a whole. There was the task of maintaining the newly unified empire by large security forces against internal opposition while at the same time satisfying the material expectations of the leading social classes through economic and social policy, since they were not allowed to take any role in politics. The success of such a policy depended largely on the Empire’s ability to finance itself and on the ability to coordinate all its different actions. This ambitious and expensive reform policy confronted a completely inadequate pre-revolutionary financial system25 and thus immediately generated an exorbitant budget deficit. When trying to cope with the financial difficulties it was realised that there was a structural opposition between the two main groups of supporters of the new system, the army command and the bureaucracy. If under those auspices public finances were to become the touch­stone for this neo-absolute experiment of integrating the Habsburg dominions and of displaying power, then they would have to prove it simultaneously in a material and operational sense. Compelled to finance the new administration and at the same time to pay for infrastructural investments and an expanded army establishment, the government should have been a functional unit capable of coping with the problems of integrative budget planning and of correctly ordering its priorities, free from any pressures of constitutional control. But here the new system showed its crucial frailty. The conflict of interest between military and civilian leaders fell together with the specific shortcomings of the neo-absolute technique of governing. The ‘Silvester Patent’ (proclamation of New Year’s Eve) of 185126 brought the Ministerial Council to an end and reduced its for25 For pre-March finances, see Brandt [note 8], vol. I, ch. I, sect. 3. 26 See footnote 24. The text can be found in Edmund Bernatzik, Die österreichischen Verfassungs­ gesetze mit Erläuterungen, 2nd edn. Vienna, 1911, pp. 208–15.

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mer members to politically irresponsible servants of their master. The emperor alone should again be the only point of reference for the ministers. In the background the Imperial Council (Reichsrat), as some kind of Crown Council, was intended to play an important role as an advisory centre.27 In practice this form of autocratic reign led to a disintegration of government activities that not even the Imperial Council could stop, because the military branch made itself independent. In 1853 the Ministry of War was dissolved and the administration of the army was subordinated to the Army Supreme Command.28 Thus supporting even the civilian ministers’ inclination to talk about the interests of their departments directly with the emperor, this autocratic system of government allowed military policy to be withdrawn from any responsible discussion within the leading administrative circles. Only the emperor was entitled to set the necessary priorities on government policy – a role he could hardly meet if only because of his youth. The new system was at risk from the beginning due to these problems of leadership and coordination, and added to this, it was doubtful whether it was able – in spite of the pre-revolutionary and inadequate financial structure that needed immediate modernisation – to set in train, quickly and permanently, the economic and financial powers of the country needed by the rapidly introduced military- and bureaucratic-power state. The military people around the monarch had high expectations of the development of the empire.29 Young Francis Joseph was probably influenced by them to a great extent. Anyhow, at the end of the Revolution the economic framework seemed promising for the development of social, economic and financial policy. In the same way the first world-wide economic crisis of 1857, and in its wake economic depression, meant a severe challenge to all plans relating to economy and tax policy and led to a first disruption of the self-satisfied autonomy of reform bureaucrats. It prepared the decline of neo-absolute government. This economic development of the 1850s was therefore a significant factor in the political fate of the neo-absolute experiment.30 27 For the Reichsrat, see Walter [note 7], vol. 3, pp. 434–79  ; Rumpler, Ministerrat [note 19], pp. 32– 40. 28 Walter Wagner, Geschichte des K.K. Kriegsministeriums, vol. 1, (1848–66), Graz, 1966  ; Antonio Schmidt-Brentano, Die Armee in Osterreich. Militär, Staat und Gesellschaft 1848–1867, Boppard, 1975, ch. I, sect. I. 29 Optimistic views of Generalquartiermeister (chief of staff ) Feldmarschall Hess and Generaladiu­ tant Grünne  ; see Brandt [note 8] vol. I, pp. 281–283, and vol. II, pp. 752–754. 30 For the economic trends and business cycles in the 1850s, see Brandt [note 8] vol. I, ch. 3, sect. 2  ;

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After 1857 the growing economic conflicts proved that government policy was unable to satisfy the materialistic demands of the most important social classes. This is true, above all, for agriculture. Government not only failed to back the emancipation of the peasants (Grundentlastung) by positive supporting measures but it also obstructed agricultural modernisation by fiscal exploitation of the compensation funds (Grundentlastungfonds)31 and by prohibiting the foundation of banks specialising in mortgages. The opposition of the landlords, already opposed to the bureaucratic unitarian state on political grounds, was thus further fuelled by economic considerations.32 The whole investment and credit policy of government amounted to concentrating all funds in the railway network, to ensure the most rapid expansion possible  ; this was perfectly correct in terms of economic growth strategies but was impossible to justify politically. The original concept of a state-run railway building programme had to be given up because of severe budget deficits. The field was then open to private enterprise, but only foreign capital investors were able to apply for concessions, which were approved by government in view of Austria’s economic backwardness. The Western Europeans asked for and were granted several privileges, such as specially favourable import regulations for goods needed for their work.33 This again was not a mistake in terms of national Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1818–1913. Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter Franz-Josephs I., Berlin, 1972, pp. 83–152. 31 By the Acts of 1848/9 the discharge of the peasants and the corresponding losses of feudal income had to be compensated to an amount of two-thirds of the capitalised value of the feudal rights. The entitled persons received 5 per cent bonds to the amount of their discharge capital, which had to be repaid by lot within forty years. In each crown land a compensation fund was erected for receiving payments of the peasants (50 per cent of the discharge capital within twenty years) and of the revenue offices (the other 50 per cent levied by surtaxes) and for paying interests and repaying the bonds disposed of by lot. In the western part of the realm (German and Bohemian crown lands) the total amount of discharge capital was about 210 million florins. Of this sum, 20 million florins had been payed off up to 1860 by lot and by free purchase, but at the same time 54 million florins which were available thanks to early payment of the peasants, had been transferred to the exchequer (for 5 per cent state bonds) for general state expenditure. See Brandt [note 8] vol. I, pp. 299–301, and tables in vol. 2, p. 1066. 32 Governmental and capitalist interests and activities to penetrate the agrarian-dominated crown lands and the activities of the Bohemian and Hungarian landed nobility in establishing their own regional mortgage banks to maintain economic influence, blocked each other, so that nothing was effected during the decade of Neoabsolutismus. For this complex situation, see Brandt [note 8], vol. I, pp. 301–15. 33 See Brandt [note 8], vol. I, pp. 315–78, and tables vol. 2, pp. 1048–53. From 1839 to 1859, 565 million florins were spent on railway building in Austria, 260 million florins by the state, 305

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economy but gave rise to opposition by Austrian heavy industry, which was left empty-handed.34 Similar difficulties were fostered by liberalising customs tariffs, which, in the economic crisis of l 857/8 drove the textile and iron industries into the camp of the government‘s enemies.35 The minister of finance also fared badly with his taxation policy. Due to poorly resourced tax authorities this amounted to placing the tax burden where it was most easily levied, on agriculture in the form of land taxes and on consumption of basic food stuffs. The early fiscal reforms were substantially influenced by the Revolution and combined the wish for more tax revenue with the socio-political desire for a more evenly shared tax burden. They tried to introduce some kind of income tax in accordance with the British example, which was regarded as the embodiment of a modern, elastic and socially fair system of direct taxation, but which did not fit in with the existing Austrian system of profit tax. Because of the traditional difficulties with inland revenue and various psychological barriers, the concept of income tax quickly degenerated into a surcharge on rates, building tax and trade tax.36 Table 1  : Results of direct taxation (mill. fl.) 1851

1853

1855

1857

Profit taxes

67.1

76.1

82.1

85.8

1859 85.4

Income tax

 3.7

6.4

7.8

9.9

10.8

Source  : Brandt, vol. II, p. 1072.

million florins by private companies. State-run construction began in 1841, some of the private lines were purchased (about 30 mill. fl.). But from 1854 on private enterprise was newly admitted, and the complete state-line system was put up for sale (102.6 mill. fl.). Two main groups of railway companies developed competitively, backed by the house of Rothschild and by the French Credit Mobilier, and established by the investment of French, British and, to a lesser degree, German and Austrian private capital. 34 See Brandt [note 8], vol. I, pp. 323, 352 f., 417–30, 436–38. 35 See Brandt [note 8], vol. I, pp. 412–38. Bruck’s tariff policy was guided by the superior aim to link up Austria with the German Zollverein. See Adolf Beer, Die Österreichische Handelspolitik im 19. Jahrhundert, Vienna, 1891, repr. 1972, chs. 5–7  ; Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848–1881, Cologne and Berlin, 1966, ch. I, sect. 1. 36 For the traditional Austrian system of direct taxation, the profit tax on land, buildings and trade, see Brandt [note 8], vol. I, pp. 62–77. The ‘income tax’ of 1849, child of the 1848 Revolution, was introduced by Philipp Krauss (minister of finance, 1848–51), who had studied the British and some German examples  ; see Brandt, op. cit. vol. I, pp. 442–43, 444–65.

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Commercial income remained under-taxed, as before 1848, since only fairly schematic tax-returns had to be submitted and since the tax authorities scarcely involved themselves in scrutinising balance sheets or double-bookkeeping. Also, annuity income or rents remained almost completely untaxed. Table 2  : Results of profit taxes (mill. fl.)

land tax

1825

1835

1845

1850

1855

1857

1859

36.2

38.6

38.1

47.6

61.8

63.3

60.3

tax on buildings

 3.5

 3.7

 4.5

 6.5

10.8

11.8

14.8

tax on trade

 2.3

 2.4

 2.8

 3.0

 9.5

10.0

10.3

Source  : Brandt [note 8], vol. II, p. 1072.

On the whole the difference in burden between country and city – a characteristic of direct taxation in pre-revolutionary days – actually widened after 1849. Here the most important factor is that the enormous surcharges levied by the compensation funds (Grundentlastungsfonds) and non-state-run regional administrative bodies (mainly municipalities) hit mainly the ratepayers. In addition to this, the peasants of the German and Bohemian countries were further burdened with direct compensation payments (Entschädigungszahlungen). The total level of burden on rural agriculture, which rose to 40 per cent or more of the land-register net profit (Katastralreinertrag),37 did not, however, reach the same level as the real net profits due to lower land-register estimations (Katasterschätzungen), but the development of profit varied regionally and thus undermining the land-register as a stable basis for taxation enlarging the distortion even within agriculture. These distortions may have been overshadowed by high grain prices and good profits in the mid-1850s, but during the depression after 1857 the complaints against excessive tax burdens increased. They showed the government that another increase in rates was impossible without an overall reform of taxation.38 During the decade after the Revolution the Austrian authorities again put most emphasis on indirect taxes in their desire to open new wells of revenue. The 37 Brandt [note 8] vol. I, pp. 291–93. Burdens in per cent of land-register net profit (western half of the realm)  : 21 per cent land tax, 3–5 per cent surtax for compensation of peasant’s discharge, 7 per cent surtax for local government, 8–12 per cent direct payments of the peasants to compensation funds for peasants’ discharge. 38 For the debates before 1857, see Brandt [note 8], vol. I, pp. 542–52.

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abolition of manorial revenue on transfer of property offered the opportunity to expand the hitherto underdeveloped system of stamp taxes on documents and notary business. This newly developed taxation on buying and selling property again proved to be of the greatest fiscal importance in the sector of rural land and house property, because now all estates were subject to taxation. The new system, however, placed a burden on personal property, too, especially on stocks and shares, so that capital intended to finance the state or industry was now being taxed, even if only a little.39 Table 3  : Results of stamp taxes (mill. fl.)

Total amount Taxation of real property transfer

1847

1851

1858

1859

7.3

17.2

32.1

31.3

-

5.4

13.4

11.1

Source  : Brandt [note 8], vol. II, p. 1073, vol. I, p. 493.

In the sector of traditional excises the emphasis lay on production and products. Thus the excise on beer and spirits was transferred from town-gates to the producer,40 an excise on beet sugar was introduced  ;41 the excises on spirits and sugar were constantly increased during the following years.42

39 For the pre-March system, see Brandt [note 8], vol. I, pp. 84–86  ; for the legislation of 1850, see ibid., pp. 478–93, and tables in vol. II, p. 1073. 40 Originally, beer and spirits taxation was part of the general excise on consumption (wine, meat, grain, vegetables, etc.) which was confined to the bigger cities (gate taxation when imported) but which was the main object of revolutionary riots of the poor in 1847 and 1848. Since those events, it was the goal of administration to lower tariffs for vital goods or to modernise techniques of taxation psychologically by transferring tax collection from the gates to the sphere of production. But only a few goods were suitable to this change of taxation. See Brandt [note 8], vol. I, pp. 77–81, 157, 465–68  ; Julius Marx, Die wirtschaftlichen Ursachen der Revolution von 1848 in Österreich, Graz and Cologne, 1965. 41 Before 1848 only the import of cane-sugar had been taxed by toll, whereas taxation of the growing beet-sugar production had been prevented by landlord lobby. After the Revolution, administration was successful in introducing beet-sugar taxation after heavy struggles in 1849/50. The basis of levy was (primitively) the weight of the beet when brought into the sugar factory. See Brandt [note 8], vol. I, pp. 468–76. 42 Tariff per 100 kg sugar-beet (1 fl. = 60 Kreuzer)  : 1849, 5 Kr.; 1853, 8 Kr.; 1855, 12 Kr.; 1857, 18 Kr. Spirits  : Completely modernised tariff system, 1856, with considerable increase in rates, and the number of taxable items.

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Table 4  : Results of excises (gross income, mill. fl.) 1847

1850

1853

1856

1859

Spirits

1.8

3.2

6.9

9.4

11.6

Beer

5.6

7.5

8.1

7.6

13.4

Wine

2.5

2.5

4.9

4.8

5.3

Meat

2.9

2.6

5.0

5.4

5.3

0.1

0.5

1.6

5.4

Other objects

7.8

7.0

4.4

4.9

3.7

Total Amount

20.6

22.9

29.8

33.6

44.5

Sugar

Source  : Brandt [note 8], vol. I, p.478.

In 1857 these fiscal demands went beyond the landlords’ threshold of tolerance. The opposition to fiscal exploitation of agrarian secondary industries rose in the wake of recession and led to surveys. Protests by distillers and producers of sugar formed a substantial part of the widespread economic movement which tried to shake the position of tax authorities at the end of the decade.43 The imposition of the entire Austrian system of taxation on the lands of the Hungarian Crown was one of the most important actions of post-revolutionary reforms. It was hoped to increase inland revenue considerably, and thus bureaucracy was eager to pass all necessary regulations within a few years and tried to carry them out.44 Hungarian burdens were thus brought into line with the burdens on the other parts of the Empire. However, the enormous change in burden, affecting all branches of economic life, involved a considerable objective increase in tax  ;45 subjectively, it was seen as a form of unjust treatment or punishment. A great deal of hardship was caused by the rigorous execution of the new level of taxation by the exchequer, which tried to carry it through within the shortest time possible, fighting any attempts at tax evasion. 43 Brandt [note 8], vol. I, pp. 572–89. 44 For the whole complex, see Brandt [note 8], vol. I, pp. 493–534. 1849 introduction of the Austrian land-register, till 1853 transfer of a modified system of direct taxation  ; 1850 removal of the customs line between the western and the eastern part of the realm and introduction of the excise system and of the fiscal monopoly on tobacco. 45 Growth rate of tax burden per capita and annum 1847–59 in all Austria 5.5 per cent, in the western half, 4.8 per cent, in the Hungarian half, 18.8 per cent. Estimated rate of economic growth within the same time per capita and annum 2–3 per cent. Brandt [note 8], vol. I, p. 535  ; vol. II, pp. 1035–41.

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Public Finances of Neo-Absolutism in Austria in the 1850s

Table 5  : Tax burden per capita (selected crown lands, per annum, in fl.)

Lower Austria and Vienna Upper Austria

1841

1847

1851

1858

1859

17.45

19.65

22.37

26.60

27.15

9.20

9.08

9.35

11.20

11.70

Carynthia

5.75

6.52

7.45

8.77

8.72

Bohemia

5.82

5.72

7.63

10.28

10.21

Lombardy

9.88

9.40

9.42

11.25

-

Hungary

1.43

1.68

4.28

6.28

6.18

Monarchy

4.57

4.97

6.57

8.55

8.33

Source  : Brandt [note 8], vol II, p. 1080.

Table 6  : Arrears of land tax in Hungary (mill. fl.) 1847

1850

1851

1852

1853

1854

1855

1856

1857

1858

1859

6.0

19.7

15.2

10.3

10.4

8.7

7.6

5.4

4.7

5.1

6.0

Source  : Brandt [note 8], vol. I, pp. 77, 533.

In doing so, and by using Hungary for experiments with newly levied excises on wine and meat without regarding political dangers,46 the bureaucracy undermined many of the positive results which could have been expected from the emancipation of the peasants in the eastern part.47 The growing resistance to neo-absolute tax policy was indicated finally by the debates on the reform projects proposed by the minister of finance, Bruck, in 1857 and later. A new system of direct taxation was to abolish income tax (Einkommensteuer) and thus restore the principle of profit tax. This principle, however, was to be flexibly adapted to the real development of profits  ; that is, it was to be index-linked. The most important change to the existing system of taxation was the inclusion of proceeds and capital returns in tax assessments and the introduction of profit tax on labour (Arbeitsertragsteuer) on as many people as possible and, above all, the dissolution of the stable crop yield landregister (Bodenertragskataster), which was to be replaced by a land-register of 46 Beyond the standard of the western half (only big cities) authorities first planned to tax the entire consumption of the whole Hungarian population, then limited this to all places of 2,000 inhabitants and more, which still meant considerably larger taxation (Act of 1850). Several attempts to introduce total taxation in the next years failed under heavy conflicts between the different administrative authorities (Brandt [note 8], vol. I, pp. 509–20). 47 See Brandt [note 8], vol. I, pp. 531–34, with reference to contemporary reports.

Public Finances of Neo-Absolutism in Austria in the 1850s 

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value (Verkehrswertkataster), subject to periodical revisions.48 The possibility of carrying through such far-reaching changes in the system of rates (Bodenbesteu­ erung) was hardly promising, and the tax authorities also wanted to include administrative reorganisation in the reform programme. Bruck wanted to transfer almost all tax assessment and tax collection to regional and local bodies. This political aspect involved tax authorities in long and difficult arguments with the Ministry of the Interior. In addition, strong opposition arose among the landlords, who feared, not without good reason, that the Ministry of Finance mainly wanted to increase rates. Here again they regarded Bruck as an enemy of landed interest.49 Further fierce opposition arose with the proposal to extend the excise on wine and meat to total consumption, which had been tried earlier in Hungary. The arguments surrounding all these plans and the technical and political solutions to the problem of controlling administration, which Bruck offered within the context of his ideas on regional autonomy, offer insights into the socio-political anxieties of the neo-absolute regime, the narrow techniques of taxation at that time and their tight connection with the problems of constitution and administration.50 The failure of Bruck’s plans for tax collection shows very clearly that attempts to increase inland revenue had reached a politically determined limit by the end of the 1850s. A crucial factor was the still basic nature of the taxation techniques, which greatly restricted the government’s political tax reform options. Bruck doubtless favoured the interests of industry and banking. More important was the fact that movable capital and commercial business could hardly be taxed due to a common disapproval of inquisitorial checks of personal financial circumstances, whereas there was an easy access to rates. The relatively well-developed rates’ system was constantly open to further fiscal exploitation. But then political resistance on the part of those taxed stopped all further attempts. In the excise sector, shortcomings in tax collection were added to inadequacies resulting from 48 For reform debates 1857–9, see Brandt [note 8], vol. I, pp. 552–66. In contemporary Europe both systems of land taxation were known, but transition from the one to the other would have rendered forty years’ work on the stable register almost worthless. 49 Opposition of the noble members of the Reichsrat, Brandt [note 8], vol. I, pp.  563–66  ; noble opposition in 1860 on the eve of constitutional change  : ibid., vol. II, pp. 947–52. Introduction of local self-government, the debates about which filled the entire period of neo-absolutism within the ranks of bureaucracy, was one of the intricate problems of domestic policy, because here the future position of the landed nobility was in question. 50 For the attempt to extend excises on wine and meat 10 total consumption, and the failure of legislation, 1857–62, see Brandt [note 8], vol. I, pp. 566–72.

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a poorly developed system of trade. The few articles of mass consumption which were easily taxed without attracting too much attention, because of their locally concentrated industrial production, had already been registered. Given the internal political situation, it was simply impossible to collect the taxes imposed on consumer goods produced and consumed within the home – it would have involved the harassment of almost the entire population. Since any improvement in tax-collecting techniques seemed impossible, Bruck looked for a political solution  : the psychological problems associated with levying taxes should be transferred from the state to the taxpayer, which should, through some kind of ‘self-government’, be responsible for a suitable distribution of charges, even at the price of an administrative step backwards. Not only did the local leading personalities reject this solution, but the whole complex of self-government within the frame of bureaucratic principles of government was contradictory to the whole system and consequently extremely dangerous. The hypothetical question of whether the Austrian national product (without regarding political and tax-levying questions) would have tolerated higher burdens – besides the basic impossibility of creating criteria for objective limits in a historical perspective – cannot be answered due to lack of statistical data  ; but one can make observations about this problem, which suggest a rather negative answer. The annual inland tax revenue rose between 1847 and 1858 by 80 per cent from 150 to 250 million florins. Of that increase a lot can be attributed to the inclusion of revenue from Hungary. When we exclude Hungary arithmetically, we see that in the western half of the realm the average annual growth of inland revenue (about 5 per cent per capita) was substantially higher than the growth rate of production (about 2.5 per cent per capita).51 This means that the fiscal share of the national product was increased. The burden grew in the western half of the monarchy, too. Even if we had judged the possibilities of tax levying more optimistically under the hypothetical condition of better tax laws, we would still have to concede that there would have been no chance of increasing inland revenue to a level necessary to cope with the high annual budget deficits not even in the sector of state consumption (Table 8). The neo-absolute power state itself lived beyond its means, as the failure of its tax policy has shown. Neo-absolute government was not able to justify its existence in financial terms. The budget could not be balanced on the revenue column but only on the expenditure column (i.e. in terms of projected expenditure against actual expenditure). 51 Tax burden  : see table 5 and footnote 45.

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Table 7  : Survey of gross tax revenue in selected years (mill. ft.) Indirect taxes

Year

Direct taxes

Excises

Customs

Salt

Tobacco

1820

49.0

12.0

9.7

22.4

6.1

4.4

1830

47.9

18.6

15.1

28.5

13.0

5.0

1840

46.9

23.1

21.1

31.6

17.0

6.8

1847

48.0

21.6

23.0

35.9

21.2

7.3

1848

25.8

15.3

11.6

14.6

16.7

4.3

1850

58.5

24.2

23.4

30.4

18.0

8.6

1853

82.5

30.6

23.4

34.3

37.5

25.8

1856

91.1

34.5

22.9

41.0

48.1

30.1

1858

95.5

43.1

22.3

41.3

51.5

32.1

Stamps

Source  : Brandt [note 8], vol. 2, pp. 1072, 1073, 1100.

Among the three branches of government expenditure  – national debt, armed forces and civilian administration – the strict payment of interest rates on national debt remained untouched (Table 10), for everyone remembered the so-called national bankruptcy of 1811  :52 According to political criticism by the Conservative opposition, it was the building up of a hypertrophic bureaucracy and harsh absolutism that were mainly responsible for the ruin of imperial finances. After the defeat at Solferino, these Conservatives pushed ahead the dismantling of bureaucratic absolutism and their criticism strongly impressed the emperor (Table 9).53 As the civil ministers saw it (and this is my opinion, too), the central problem of neo-absolutist deficits lay in the exorbitant inflation of the military budget. Although the wars during the years of revolution were to blame at first, later, however, military staff was reduced only reluctantly and never reached its pre-revolutionary level, among other things because of the German conflict of autumn 1850 and the Crimean War.54 Only the combination of foreign and domestic policy makes such a high number of troops understandable. In particular, the continuous 52 Brandt [note 8], vol. I, pp.105–7, with reference to contemporary pamphleteering. 53 For the views of the neo-corporative party in 1860, see footnote 78. 54 For military expenditure, see Table 8. Approximative presence of military persons (i.e. without soldiers on leave)  : 1835  : 330.000  ; 1847  : 350.000  ; 1848–9  : finally 600.000  ; 1850  : 600.000  ; 1851  : 520.000, 1852  : 440.000, 1853  : 426.000  ; 1854–5 (Crimean War)  : 600.000  ; 1855 (October)  : 430.000  ; 1856  : 417.000  ; 1857  : 350.000  ; 1858  : 346.000. Theoretically, state of war was assumed with 600,000  ; stale of peace with 330,000 military persons (combatants and non-combatants). See Brandt [note 8], vol. 2, pp. 603–8.

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watch on Lombardy, Venetia and Hungary made it seem sensible not to return to the former system of frequent grants of leave. Being in a state of constant mobility over years, troops also benefited from higher pay and better food.55 The continuous maintenance of a populous army was not only supported by political but also by internal military reasons. It was common knowledge that the pre-revolutionary armed forces had been rotten. The system of frequent grants of leave and the consequently growing number of unoccupied cadres had led to a deterioration in training. Compared to the draft system, the old inflexible system of conscription and cadres demanded permanently high numbers of soldiers if one wanted to improve the strike power. Field exercises, high agility in personal dispositions and continuous movements of troops and regroupings kept substantial parts of the army constantly on the move and caused substantial expenditure of marching toll, compensation and expenses of all kinds. All changes in staff were subject to increased costs since troops were stationed far away from their recruiting areas to cut off political ties with their homelands.56 If we are to judge these conditions, we must bear in mind that the administration of the whole military budget was carried out under complete isolation from any civilian participation or control. All attempts by the Ministry of Finance to participate through special committees in that detailed work of planning needs and supply in order to break up military autonomy, were put down by the commanders. The Conference of Ministers was unable to act as a directing or integrative institution. The sole institution responsible for balancing different interests remained the emperor himself, but that would have been asking too much of him, even if his impartiality could have been preserved in the face of his close relations with the military people around him.57 But, if we disregard structural shortcomings in leadership, excesses in organisation and possible maladministration of the Austrian army, the armed forces that were set up after the Crimean War on the basis of political and strategic ideas was financially unbearable.58 The crucial dilemma within its structure lay 55 After the end of mobility, new pay regulations secured the new level of income. The pay per capita was approximatively doubled in 1857 compared with 1847. Unlike this, the income of civil servants was not raised over the period. Being the main factor of stability of the neo-absolute regime, the army obtained a kind of insurance premium. For the whole complex, see Brandt [note 8], vol. II, pp. 608–14  ; Schmidt-Brentano [note 28]. 56 For these problems, see Schmidt-Brentano [note 28]  ; sketched also in Brandt, vol. II, pp. 610–25. 57 Wagner [note 28], vol. I, Brandt, vol. II, ch. 6. 58 The Organisationsstatut of 1857 scheduled for an offensive mobile army of 400.000 men (plus 100.000 volunteers in case of need) and a security force at home of 200.000 men in wartime  ;

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in the fact that the display of military might demanded a costly army in peacetime, which, due to its financial consequences and their repercussions on the international prestige of the monarchy, made the basic strategy of security useless. A reduction of peacetime strength while maintaining the drive for greater military efficiency in preparation for the eventuality of war, would have meant a far-reaching reorganisation of the army – specifically, the dropping of stable cadres, the introduction of universal conscription with short-term service, the introduction of reserve officers and a regionalisation of the army following ethnic boundaries, thus abandoning the principle of dislocation. All these military reforms would have been doubtful for reasons of internal security. Military organisation and military finances remained bound by the problems of the Austrian multi-national empire in general and of the neo-absolute government in particular.59 As early as the end of 1858, it became clear to some members of government that these financial problems were a result of the specific shortcomings of neo-absolute rule which had now reached the point where the slightest shake up would have threatened the system’s very survival.60 Parallel to the internal dangers, there was a weakening ability to maintain control in the Italian crisis, which had been set off by Napoleon  III. Austria’s poor performance in 1859 was mainly influenced by the state of its finances. Austrian actions just before the Italian War proves the extent to which the poor financial situation, worsened by the immediate drying up of credit, had crippled the monarchy’s military and political options. Not only the discrepancy between a policy of ultimatum and effective military preparation for an offensive, but also being forced to execute such a policy of ultimatum itself, shows how little this extreme military policy was able to maintain its hegemonial position in Central Europe.61 The early this meant 450.000 men in peacetime, which required a durable peace-budget of 110 mill. fl. (Brandt [note 8], vol. II, pp. 620–23  ; the Organisationsstatut and its consequences are discussed by Schmidt-Brentano [note 28], pp. 129–37. 59 The structural problems are discussed by Brandt [note 8], vol. II, pp. 622–24  ; Schmidt-Brentano [note 28], chs. 1 and 2. 60 For the heavy internal struggles about budget problems and fears of imminent bankruptcy at the end of 1858, see Brandt [note 8], vol. II, pp. 749–60. 61 The policy of ultimatum against Sardinia in March-April 1859 was motivated very strongly by the factor, that, in the given international constellation of powers Austria would not stand a period of full mobilisation without going to war for fear of financial collapse  ; and it was assumed, that exactly this was calculated by the French and Russian policy. At the same time, too little was done in time to provide the southern army with the reinforcement necessary to execute the ultimatum – similarly for financial reasons (Brandt, vol. II  ; pp. 767–777  ; Friedrich Engel-Janosi, L’“Ultimatum”

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military retreat from Crimean War policies62 spotlighted Austria‘s financial malaise, but during the Italian crisis its status as a great power and its financial soundness were questioned. In terms of domestic policy, Austria’s defeat in Italy meant a substantial loss of prestige for absolute government.63 At the same time, opposition ideas and hopes won support, which posed an extremely dangerous political threat to the system, since the government’s position was already shaken by economic attacks, by a chaotic currency situation and by forfeiting national credit. Thus finances were a crucial factor in the question of how many and what kinds of concessions were going to be offered. If the neo-absolute method of government was to be watered down, all centrifugal forces would have to be released immediately, forces that had been placed in custody ten years before in order to make way for a unitary state. Given the specific Austrian situation, any relaxation of the system would bring with it almost insoluble problems relating to the internal balance of power and its constitutional specification, and would call into question the unity of the Empire. In this connection, the compact national Hungarian opposition formed the strongest latent threat to central government. The liberal, predominantly German, central-constitutionalism played a somewhat provocative role rather than one which could be seen to be offering a solution to the problem of constitutional law. This aspect complicated still further the classic conflict between constitutional tendencies of power restriction and the maintenance of the monarchic prerogative, which had been earlier exacerbated by Francis Joseph’s deep commitment to monarchic traditions. Over and above this dualism and problems of nationality and its centrifugal tendencies, there was the political movement of the royalist conservative high nobility, which rallied for a revision of their loss of power and function and which was committed to constitutional ideas of pre-absolute federalism within the historic crown-lands. austriaco del 1859, Rassegna Storica Risorgimento, vol. 24 (1937), pp.  1393–1425, 1563–1600, (including the texts of some council of war protocols). 62 For this complex, see Brandt [note 8], vol. II, pp.  709–12 with critical reference to Paul W. Schroeder, Austria, Great Britain and the Crimean War  : The Destruction of the European Concert, Ithaca and New York, 1972  ; and Winfried Baumgart, Der Friede von Paris. Studien zum Verhältnis von Kriegführung, Politik und Friedensbewahrung, Munich and Vienna, 1972. See also Bernhard Unckel, Österreich und der Krimkrieg, Lubeck, 1969. 63 Brandt [note 8], vol. II, pp. 813–20, with reference to contemporary critics. First vague promises of changes in domestic policy in Francis Joseph’s “Laxenburg Manifesto”, 15 July 1859  ; printed in Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, 8 vols., Vienna, 1902–14, repr. 1972, vol. I, pp. 21–22.

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In 1859 signs of decay within neo-absolute government became apparent, but only the two groups which had easy access to court began exercising political pressure on constitutional development  : the high nobility and the governmental reform bureaucracy. A change in system was not initiated by a broad people’s movement but by the two dominating and, since the build-up of the modern state, competitive leading circles, whose political weights had shifted since 1849. They were forced by the obvious weakness of government to set the course for constitutional change in their direction. Both groups claimed, justly or unjustly, to be protagonists of broad political and economic interests.64 What was the high nobility aiming at  ? The answer is, the deprivation of power of the new bureaucracy and the abolition of the administrative unity of the Empire in favour of home rule for the Länder within the framework of neo-corporative states. In return, it would maintain the monarchic prerogative in central issues (army, foreign policy) and fight against modern constitutionalism. With this programme the Bohemian nobility continued their fight at a constitutional level for economic and political influence, a fight which had already begun in 1858 on economic and tax issues. This group later won additional political power when it allied itself with the Old Conservatives in the eastern half of the monarchy, who promoted themselves as holders of the key to the Hungarian problem, within a united Empire.65 On the other hand, the strength of the German-led reform bureaucracy lay in its connections with finances, trade and journalism of the Viennese centre, and with the German-dominated commercial employers in the Länder in and around the Alps and the German-speaking areas of Bohemia. It was therefore a coalition of those classes who had benefited most from the formation of a unitarian state and who now wanted to stabilise that unitarian state through a change from bureaucratic reformism to bourgeois constitutionalism. They wanted to safeguard the development of economic liberalism with its prospects for unfettered economic expansion.66 The financial weakness of the Empire was both the motive for and means of attaining such constitutional changes. They wanted to save the unitary state from the defects of absolutism, as seen through the eyes of civilian administration and plutocracy, by introducing parliamentary control on military expenditure. This could have been 64 Brandt [note 8], vol. II, pp. 813–20, following the analysis of Redlich [note 12], vol. I, pp. 460–87. 65 Brandt, ibid., and Redlich, ibid. For conservative programmes and policies more details in Walter Goldinger, Von Solferino bis zum Oktoberdiplom, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, vol. 3 (1950), pp. 106–26. 66 Cf. Brandt, ibid., and Redlich, ibid. Description of the bureaucratic and economic bourgeoisie in Georg Franz, Liberalismus. Die deutschliberale Bewegung in der Habsburgischen Monarchie, Munich, 1955.

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Public Finances of Neo-Absolutism in Austria in the 1850s

brought about with the help of cooperation between the Ministry of Finance and the plutocracy by starting fictional troubles on credits.67 The constitutionally minded bureaucracy were thus better equipped to destroy absolutism in the field of finances, but they did not have the answer to the specific Austrian constitutional problems. Against these tendencies, beginning to take shape in the summer of 1859, the emperor intended to stand firm on the substance of an autocratically guided military and bureaucratic unitary state. He wanted to save that system by replacing its staff, by reforms in administration and by giving more influence to the Conference of Ministers. He also wanted to do away with the chronic budget deficits. The main point of reform was the formation of regional self-governing bodies, which were expected to ease the monarchy’s financial burdens and at the same time create new ground for political action. It was also expected to encourage the Hungarians to cooperate with the new state.68 First of all, this ‘reform programme’ needed time. Government needed a lot of staying power in order to preserve the internal consistency of the programme and to maintain the autocracy during the cautious process of change. This kind of policy, however, was severely damaged in the autumn of 1859, when Bruck triggered off a credit-political crisis after he confessed to having secretly overdrawn government bonds.69 This crisis  – together with the inability to cope quickly 67 This sort of combination played an important role in pushing Francis Joseph for constitutional concessions in January–March 1860 and from December 1860 to February 1861  ; see Brandt [note 8], vol. II, pp. 874–84, 970–91. 68 For the new ministry Rechberg-Gołuchowski and its governmental programme, see Brandt, ibd. vol. II, pp. 821–32. For internal proceedings and views, a most interesting source is the private papers and memories of Joseph A. v. Hübner (in French), now partially edited in Maria Cessi Drudi (ed.), Joseph Alexander von Hübner, La Monarchia Austriaca dopo Villafranca. Résumé de l’an 1859 (=Pubblicationi degli Archivi die Stato, vol. 35) Rome, 1959  ; and idem (ed.), Giudizi d’un Diplomatico sull ‘Impero Austriaco Dopo Villafranca’, in La Crisi dell’ Impero Austriaco dopo Villefranca, ed. by Istituto per la Storia del Risorgimento Italiano, Comitato di Trieste e Gorizia, Trieste, 1961. 69 In 1854, during the Crimean War, a great subscription loan – the Nationalanleihe – of 500 million florins had been raised and payed in during the following years, mainly within state boundaries, so that a new open claim to the money market was not possible. Although one of the purposes, restoring of currency by the refunding of paper money to Nationalbank, was not even pursued, payments did not cover the current deficits. From 1857 to 1859 Minister Bruck, only verbally authorised by the emperor [!], secretly extended the amount of Nationalanleihe to 611 million florins  ; the additional issue of bonds was given to the sinking fund in exchange for elder bonds already redeemed by that fund, which were put into circulation again to hide the overdraft. This operation – thought to be typical of uncontrolled absolutist management of administration – was known only by few leading persons, who since 1858 forbade Bruck to publish the results of balancing the budget. In October 1859 Bruck at last made a publication arbitrarily, because advertisement of budget results

Public Finances of Neo-Absolutism in Austria in the 1850s 

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with budget deficits  – led to the abandonment of current neo-absolute policy and marked the beginning of constitutional experiment and concession.70 Bruck himself made extensive use of this financial chaos in order to force the creation of a central representative body, which, although it was installed with only minimal political powers, nevertheless started the decisive internal landslide, because this body made topical the whole complex constitutional problem.71 Since central government was very interested in the formation of a so-called Verstärkter Reichsrat (Reinforced Council of the Empire), concessions were hastily made to the Hungarians which led to the early abandonment of administrative control over the kingdom.72 The threat of internal dangers from Hungary, the Italian complications which were again coming to a head, the problem of internal and foreign military safety and the financial troubles which pervaded all these other problems, constituted a background in the face of which the active political personalities supporting a centralised constitutionalism and the followers of an Old Conservative federalism now gathered. They forced the emperor to abandon the existing system of government.73 In the first phase of this change, had been continued since 1848 and could not be interrupted without causing a sensation, and probably – as I guess now – because he wanted to discredit absolutism and push for constitutional control, being sure that he personally would weather the crisis because of his indispensability. For the whole complex, see Brandt [note 8], vol. II, ch. 6, sects. 5 and 6, and ch. 8, sect. 3. 70 As probably calculated by Bruck, the emperor held on to his minister so as not to be compromised himself, although influential court and government circles finally required Bruck’s removal. Bruck then became head of reform movement, elaborated plans for financial control and in January 1860 required transition to semi-constitutionalism by transforming the existing Reichsrat into a partly representative body. See Brandt [note 8], vol. II, ch. 8, sects. 3 and 4. 71 Imperial Patent of 5 March 1860, Edmund Bernatzik (ed.), Verfassungsgesetze [note 26], pp. 217– 221. The existing Reichsrat was to be reinforced periodically (at least once a year) by deputies of the provincial diets, selected by the emperor. The provincial diets had to be re-established on a neo-corporative base. This reinforced Reichsrat had to give advice on the annual budget and on all legislative matters proposed by government but had no right of decision and no initiative. A further concession of 17 July 1860 granted the Reichsrat the right to vote into being new taxes, new loans and increases in existing taxes (Bernatzik, p. 221.). 72 Restoration of Hungarian self-government, which in consequence led to dissolution of the neo-absolutist administration on the regional and local level and later enabled Hungarians to refuse to pay taxes. See Brandt [note 8], vol. II, pp. 900–903, 967, 993. 73 The background  : complete failure of Bruck’s attempt to place an Austrian loan in London, his loss of prestige, suspicion of him being involved into army-supply corruption, his dismissal and suicide, shocking the Austrian credit  ; Hungarian problems  ; military alarm in view of Italian unification  ; failure of an interministerial commission for budget saving to lower the level of expenses  ; failure of the ministry to present a balanced budget for 1861 to the assembled reinforced Reichsrat. The Reichsrat was dominated by a majority group of conservative nobles and a minority group of cen-

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when the determined financial policy of the minister of finance threatened to lead to a constitutional system74 and when the Hungarian problem was once more in the ascendancy, the emperor fell into line with the conservative nobility, whose programme connected the possibility of peace with Hungary with the maintenance of monarchic prerogative in the centre, which blocked constitutional development by neo-corporative regionalism and supported a money-saving cutback in bureaucracy. The so-called ‚October Diploma‘ of 1860 was the result of such ideas.75 In the second phase, after the failure of conservative policy on Hungary, highlighted by the Hungarian boycott of taxes, the German-dominated centralistic alliance of bureaucratic and constitutional powers successfully insisted that a solution to the everlasting finance and credit problems could only be found in centralised and constitutional institutions. Thus the catalytic power of the financial argument reached so far that, with the ‘February Patent’ of 1861, they found that centralistic solution to the constitutional problem which supported economic and bureaucratic interests combined with public finances.76 The problem of the very existence of the Empire, however, remained entirely unsolved. The survival of the Empire was once more under threat. The years to come were to prove that the new governing social groups and the integrative institution of a central parliament were not sufficient, under the special Austrian conditions, to tie together all the centrifugal ideas and tendencies. These findings specifically relate to Francis Joseph’s axiomatic belief that it was impossible to rule Austria constitutionally.77 A state whose machinery of integration was so inflexible was necessarily in constant danger of extinction. tralist German liberals. In taking the financial disaster as a starting point of their criticism, both groups united in demanding a complete change of policy. They divided themselves at the end of the session in voting two different ‘expertises’ for the emperor which course should be followed in the future. For the whole process from spring to autumn of the year 1860, see Brandt [note 8], vol. II, ch. 8, sects. 5–7  ; Redlich [note 12], vol. I, pp.  500–571. Debates and final resolutions printed in Verhandlungen des österreichischen verstärkten Reichsrates 1860, 2 vols., Vienna, 1860. 74 Bruck’s follower and successor Ignaz v. Plener, pursued a policy of constitutionalising Austria with even more consequence and energy. In cooperation and even conspiring with the Reichsrat-minority and the press, he tried to extort concessions from the emperor by using the pressure of financial disaster. See Brandt [note 8], vol. II, pp. 916–944. 75 For the events leading to the October Diploma (printed in Bernatzik [note 26], pp. 228–38), see Brandt, ibd. vol. II, pp. 944–64. Broad discussion of content and political meaning in Redlich [note 12], vol. I, pp. 572–671. 76 For catalytic function of finance in these processes see Brandt, ibd., vol. II, ch. 8, sect. 8. 77 For the emperor’s reiterated statements, see Fritz Fellner, Kaiser Franz Joseph und das Parlament. Materialien zur Geschichte der Innenpolitik Österreichs in den Jahren 1867–1873, in Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, vol. 9 (1956), pp. 287–347.

Receipts

205.6

227.7

235.3

251.4

258.5

280.4

283.4

286.1

288.1

1851

1852

1853

1854

1855

1856

1857

1858

1859

12.9

15.0

42.2

21.2

120.1

130.3

137.2

126.9

121.4

115.0

114.3

108.0

96.9

81.6

50.4

239.7

120.6

126.9

139.0

212.1

202.5

119.0

117.4

130.5

126.8

148.5

86.5

99.1

75.4

72.3

68.3

59.7

52.6

53.0

40.9

40.3

34.6

33.3

36.0

1.9

145.4

48.9

13.9

36.5

116.4

124.5

50.2

50.7

46.1

53.4

99.3

42.3

157.7

63.9

56.0

57.7

143.2

Without selling railways

26.8

1.3

0.3

0.2

16.8

16.4

33.9

81.5

12.0

24.8

11.5

15.5

20.9

9.7

8.6

9.3

5.9

5.7

10.4

9.5

5.5

33.1

8.2

20.2

31.3

37.6

32.6

28.3

24.3

19.7

19.3

12.5

10.4

11.2

165.6

93.9

56.6

89.7

169.9

162.5

83.1

79.6

71.3

71.6

120.0

62.9

40.6

167.2

51.0

17.3

Contraction 157.4

0.8

7.8

13.3

64.6

32.2

108.7

143.2

46.6

37.8

66.9

81.4

228.8

79.0

153.5

128.6

69.5

100.5

99.2

8.5

9.2

16.1

a) 1848/9  : contributions levied by Austrian army. 1850/1  : war indemnities from Sardinia. 1855–9  : selling of state railways. b) Mainly purchase and construction of railways, interventions at the bourse (1847, 1858). The separate budgets of state property (estates, mines, etc.) are not included, only net delivery of profits is included in ordinary net receipts (first column). c) Paper money created by Nationalbank (issue of notes for credit without bankable cover), or directly by exchequer (assignates). Source  : Brandt, Neoabsolutismus, vol. 2, pp. 1072–1073.

178.2

1850

Ord. net Receipts (tax, National Enterprise Varia)

100.4

Extraord. net receiptsa

1849

Civil Administration 61.0

Military

60.3

Debt service

47.7

Net

9.6

Consolidated redeem

0.4

Profitable investment by central budgetb

110.7

Gross Deficit

155.0

Floating debtc Expansion

1847

Deficit

Receipts, loans

1848

Expenditure

Table 8  : Survey over budget dates in the decade of revolution and neo-absolutism (mill. fl.)

Public Finances of Neo-Absolutism in Austria in the 1850s 

| 81

82

| 

Public Finances of Neo-Absolutism in Austria in the 1850s

Table 9  : Comparison of expenditure for civil administration of the provinces 1847 and 1856

1847

1856

1847

= expenditure per capita (%)

1847

= quota of provincial net receipts (%)

1856

= quota of total provincial expenditure (%)

= growth 1847–56 in  % of

Expenditure (000 fl.)

Grouping of Länder

1847

1856

1856

1.Domestic administration and justice NÖVienna*

1570

2103

34

33

26

7

6

1.31

GermanLä.

3585

5256

47

36

29

15

16

1.29

Bohem.Lä.

1680

5760

243

29

40

5

11

0.83

Galicia

1673

3824

129

27

34

13

19

0.76

Hungar.Lä.

1141

11097

873

39

39

5

16

0.97

Lomb-Ven.

5981

6524

9

36

38

13

13

1.17

22

20

4

5

0.98 1.23

2. Finance  : administration and control NÖ Vienna

1057

1640

55

GermanLä.

2538

5004

97

26

28

11

16

Bohem.Lä.

2544

4613

81

44

32

8

9

0.66

Galicia

2162

3139

45

34

28

17

16

0.63

Hungar.Lä.

726

8114

1018

25

25

3

12

0.59

Lomb-Ven.

3195

3734

17

19

21

8

8

0.72

3. Public security  : police, constabulary NÖ Vienna

348

1190

242

7

15

1

3

0.72

GermanLä.

169

1423

742

2

8

1

4

0.35

Bohem.Lä.

81

1038

1181

1

7

0

2

0.15

Galicia

86

724

742

1

6

1

4

0.14

Hungar.Lä.



3544





11



5

0.26

Lomb-Ven.

1709

1964

22

10

11

4

6

0.38

4. Cult., education, local welfare (=only subsidy to local funds) NÖ Vienna

561

1141

103

12

14

2

3

0.68

GermanLä.

988

1504

52

10

8

4

5

0.37

Bohem.Lä.

192

972

406

3

7

1

2

0.37 0.30

1124

1505

34

18

13

9

8

Hungar.Lä.

Galicia

200

1457

629

7

5

1

2

0.11

Lomb-Ven.

2090

1335

-36

13

8

6

3

0.26

5. Non-profitable public investment  : roads, water, public buildings NÖ Vienna

1212

1379

14

26

17

 5

 4

0.83

GermanLä.

2650

3888

47

27

22

11

12

0.95

Public Finances of Neo-Absolutism in Austria in the 1850s 

1847

1856

1847

= expenditure per capita (%)

1847

= quota of provincial net receipts (%)

1856

= quota of total provincial expenditure (%)

= growth 1847–56 in  % of

Expenditure (000 fl.)

Grouping of Länder

1847

|

1856

1856 0.30

Bohem.Lä.

1295

2115

63

22

15

4

 4

Galicia

1258

1945

55

20

17

10

10

0.38

Hungar.Lä.



5564





17



 8

0.40

Lomb-Ven.

3630

3952

 9

22

23

10

 9

0.76

*NÖ ‘Niederösterreich’ = Lower Austria  ; NÖ Vienna = Lower Austria including Vienna Länder = Provinces/Territories German Lä. = Alpine territories excluding NÖ Vienna Concerning domestic administration and justice in 1847, income and expenditure for patrimonial government should be mentioned but cannot be quantified. In any case, growth is smaller than shown in the table, except for the Italian dominions, with their developed state-­ administration. Attention should be paid to the growth in the cost of public security, which is due mainly to the militarily-organised constabulary. Source  : Brandt, Neoabsolutismus, vol. II, p. 1095.

Table 10  : State of the Austrian debt (mill. fl.) Consolidated debt, capital reduced to 5 % interest level, minus property of sinking fund

Old papermoney debt till to 1816, capital reduced to 1 % interest level

Debt to be redeemed, nominal

Floating debt, nominal, minus cash

Interests, premium and other costs of debt*

Minus receipts of sinking fund

1815

8.8

285.6

17.9







1820

263.8

205.1

33.4



22.3



1830

363.4

122.1

129.1

20.1

35.0



1840

469.2

87.2

147.1

46.1

43.6

8.1

1847

606.7

61.5

129.3

57.9

46.3

10.4

1850

708.9

53.6

124.1

334.7

50.3

10.0

1853

918.5

44.0

168.5

324.0

66.3

13.7

1856

1429.3

36.7

194.5

437.0

82.3

10.0

1859

1674.0

27.8

164.5

372.3

95.7

9.2

* From 1837, the 1816 established sinking fund was out of function  ; its receipts of interests were remitted back for state expenditure. Source  : Brandt, Neoabsolutismus, Vol. II, pp. 1101, 1106, 1107  ; for problems of debt-restoring after the Napoleonic Wars, see ibid., Vol. I, pp. 103–29.

83

The Revolution of 1848 and the Problem of Central European Nationalities

To gain a vantage-point for evaluating the problems of nationalities and nation-­ building in Central Europe, let me begin with some theoretical and general remarks. Constitutional questions should be discussed within the concepts of modernisation, participation and integration. In the most general way Talcott Parsons and his followers developed the theoretical concept of integration  ;1 concerning the special aspects of political integration and state-building I refer to Rudolf Smend’s Integration Theory.2 The German jurist Smend has elaborated stages of integration  ; he differentiates especially between personal and functional integration and considers functional integration to be the higher level.3 In European history this process can be studied in monarchical state-building, which is reinforced by parliamentary ‘games’ of consent and conflict. The stabilising effects of these parliamentary ‘games’ presuppose sufficient homogeneity and communication among the ruling classes represented, so that the rules of parliamentary voting, with its possibility of defeat, will be tolerated and a sense of solidarity within the country (the ‘commonwealth’) can develop. Otherwise there will be obstruction, segregation, separation and partition. In pre-modern Europe these questions of political integration concerned only the nobility, the (noble) clergy and the urban patriciate. Taking a long-term view we can describe European social and cultural history as a process of increasing mobilisation, expanding literacy and the growing participation of all classes of the population, first as the result of religious movements, and then through ‘enlightenment’, which in turn was supported by transition from self-sufficient to exchange economies.4 When these processes encouraged enlarging political par1 Talcott Parsons, The Social System, New York/London 1951  ; Niklas Luhmann, The Differenciation of Society, New York 1982  ; by the same author  : Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984. 2 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Munich, 1928  ; cf. also the article ‘Integrations­ lehre’ in  : Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Stuttgart, Tübingen and Göttingen, 1956, vol. 5, by the same author, including review of critics. 3 The concept of ‘functional integration’ includes all forms of group action with integrative tendency up until the higher levels of decision-making by voting, acceptance of majority-minority rules, elections, representation. 4 For the concept of modernisation cf. Wolfgang Zapf (ed.), Theorien des sozialen Wandels, Cologne and Berlin, 1969  ; especially Karl W. Deutsch, Soziale Mobilisierung und politische Entwicklung,

The Revolution of 1848 and the Problem of Central European Nationalities 

|

ticipation, the question of political integration on the basis of sufficient homogeneity and communication arose at a new level. Western Europe produced the models of both the revolutionary and the evolutionary political integration of the nation, and, at the same time, it produced an appropriate theory. The doctrine of the social contract referred in principle to the whole population of a given commonwealth  ; in further consequence it generated a concept of nation, on the basis of which nation-building could be defined as the result of the state population consenting actively or tacitly to a certain political order. The implicit prerequisite of this concept of nation was that communication was sufficient to produce that degree of homogeneity necessary for a successful process of political integration. Pre-eminently this is always a question of a common language (originally given or successfully introduced by cultural assimilation).5 In the Western European states the establishment of a common language – at least for most of the country – had already been achieved when the extension of political participation was on the agenda  ; minority problems were of secondary importance only. At the beginning of the nineteenth century this concept of a nation-state could hardly be transferred to Central and Eastern Europe because  : 1) dynastic state formation had diverged from ethnic foundations  ; 2) monarchic absolutism had interrupted the beginnings of parliamentary integration either by depriving the estates of their power or by preventing the formation of états généraux in composite realms  ; 3) absolutism had successfully established military and bureaucratic institutions to provide for peace, justice and welfare without the consent of the subjects  ; 4) especially in Eastern and in East Central Europe there were no clear-cut ethnic and language units for several reasons  : settlement was dispersed, social integration of the rural societies was low, because a backward self-contained economy prevailed  ; therefore the assimilatory power of leading languages was insufficient  ; and the low degree of political integration remained on the monarchical stage mentioned above. ibid., pp.  329–50 (first published in Politische Vierteljahresschrift 2, 1961, also in English in  : American Political Science Review 55, 1961, pp. 493–514). 5 The connections between communication processes and nation-building have been elaborated in particular by Karl W. Deutsch, Nationalism and Social Communication. An inquiry into the foundations of nationality, New York/London, 1953. Cf. also Karl W. Deutsch and W. J. Foltz (eds.), Nation-Building, New York 1966  ; Karl W. Deutsch, Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, Düsseldorf 1972.

85

86

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The Revolution of 1848 and the Problem of Central European Nationalities

The problems of political nation and nation-state are different in Central and Eastern Europe, but both spheres overlap  ; and this overlapping is very important to understand the entire complex. In Germany, as in Italy, one ethnic nation was divided into a plurality of dynastic states as a result of late-medieval history. In the east we have three great realms covering a plurality of ethnic nations, namely Russia, the old and weak Ottoman Empire, and the Habsburg Empire  ; additionally there is a fourth state, Prussia, which is predominantly German, but which, by the inheritance of the Teutonic Knights and by the partitions of Poland, belongs to those multinational realms. So the most important German states included both, German and non­ German territories.6 Interacting with these different structures of state-building and society, the modern processes of mobilisation, education and participation generated some different results by comparison with Western Europe. Inevitably the discrepancies between State and society or State and nation manifested themselves and became the key experience of all educated classes. In Germany, due to the situation of the country, a differentiation was made between what was called a political nation (Staatsnation) and what was called a cultural nation, and since the concept of the cultural nation was derived from original ethnic unity, it was considered to be the real nation.7 Following the Romantic doctrine, nation-building was not the result of integration, much less of acts of volition or political processes, but it was the development of a given nucleus or substance which was seen as an objective attribute of every individual member.8 The history of the German national movement is well known and need not be repeated here. Just a few catchwords  : The feeling that the ethno-cultural nation should rightfully claim political unification was generated by the experience of Napoleonic occupation and patriotic liberation and heightened by the memory of medieval political greatness.9 As a matter of fact, the results of Napoleonic and 6 Differentiation between the Western, Central and Eastern European type by Theodor Schieder, Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaates in Europa, Historische Zeitschrift 202, 1966, pp. 58–81  ; Theodor Schieder, Der Nationalstaat in Europa als historisches Phänomen, in  : Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften 19, 1964, pp. 13–29. 7 Eugen Lemberg, Nationalismus, 2 vols., Hamburg 1964  ; vol. I, pp. 86–113, 129  ; short analysis also by M. Rainer Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland, in  : Heinrich August Winkler (ed.), Nationalismus in der Welt von heute, Göttingen 1982. 8 The Romantic concept of nation and its effects in Central and Eastern Europe are sketched in Eugen Lemberg, Nationalismus, vol. I, pp. 165–85. 9 Most significant  : Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, Munich, 1962  ; Fritz

The Revolution of 1848 and the Problem of Central European Nationalities 

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post-Napoleonic state-building meant consolidation, partial modernisation and even semi-constitutional integration not of the nation, but of the dynastic German states  ; these single states being allied only in the German Confederation for the purpose of mutual defence.10 Disappointment at these meager results of the great victory was localised mainly in the national institution of the German universities  ; at first the movement towards national unity was a matter of excitable students and professors, more Protestant than Catholic. It expanded to become a credo of the German educated upper-middle classes, reinforced all the time by the beginnings of economic integration.11 Their political ideas can be described as an amalgam of western-modelled liberal-constitutional goals and nationalism. By 1848 they split into a broad moderate stream and a small radical or republican movement.12 There were similar contemporary phenomena in ltaly13 and, on a different social basis, in Greece, Poland and Hungary.14 Something more needs to be said concerning the Habsburg realm, since it was the most prominent example of an East European multi-national empire, which was none the less deeply involved in the German world. Its complexity is caused by the fact that it was composed of both a plurality of historical states Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815, Munich 1951  ; Werner Conze, Nation und Gesellschaft. Zwei Grundbegriffe der revolutionären Epoche, in  : Historische Zeitschrift 198,1964, pp. 1–16  ; Reinhold Aris, History of Political Thought in Germany from 1789 to 1815, 2nd edn., London 1965. 10 Recent publications on modernisation and integration within the states of the Rhenish Federation and Prussia  : Eberhard Weis (ed.), Reformen im rheinbündischen Deutschland, Munich, 1984  ; Barbara Vogel (ed.), Preußische Reformen 1807–1820, Königstein 1980. Concerning the constitutional system of the German Confederation see Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, vol. 1, 2nd edn., Stuttgart, 1975. 11 Short survey with references  : Wolfgang Zorn, Sozialgeschichtliche Probleme der nationalen Bewegung in Deutschland, in  : Theodor Schieder (ed.), Sozialstruktur und Organisation europäischer Nationalbewegungen, Munich and Vienna 1971, p.  97–119  ; Otto Dann, Natio­nalismus und sozialer Wandel in Deutschland 1806–1850, in  : idem (ed.), Nationalismus und Sozialer Wandel, Hamburg 1978, pp. 77–128. 12 James J. Sheehan, German Liberalism in the Nineteenth Century, Chicago and London 1978  ; more specific by the same author  : Liberalism and Society in Germany 1815–1848, in  : JMH 45, 1973, pp. 583–604  ; good survey over constitutional and national goals of the different liberal and radical groups in  : Huber, Deutsche Verfassungsgeschiche 1 [note 10], vol. 2, chapter 6. 13 Hartmut Ullrich, Bürgertum und nationale Bewegung im Italien des Risorgimento, in  : Otto Dann (ed.), Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978, pp. 129–56. 14 Kurt Georg Hausmann, Adelsgesellschaft und nationale Bewegung in Polen, in  : O. Dann (ed.), Nationalismus, ibd. pp. 23–47  ; Nikephoros P. Diamandouros et al. (eds.), Hellenism and the First Greek War of Liberation (1821–1830). Continuity and Change, Thessaloniki, 1976  ; for Hungary cf. note 25 below.

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The Revolution of 1848 and the Problem of Central European Nationalities

or countries and a plurality of ethnic nationalities, and that both factors overlapped only partially.15 The major units were the so-called Deutsche Erbländer (German hereditary countries  – roughly the present Republic of Austria and the southern Alpine parts, since lost)  ; St Wencislaus’s crown-lands (Bohemia, Moravia, Silesia)  ; St Stephen‘s crown-lands (Hungary, Transylvania, Croatia, Slavonia, Dalmatia)  ; the Polish possessions (Galicia)  ; and the Italian crownlands (Lombardy-Venetia). All these different countries were multinational in themselves, and the nationalities were very often arranged in a social stratification of dominance and subordination as a result of former conquest.16 Thus the Polish nobility dominated Ruthenian peasantry in eastern Galicia, and a similar correlation existed between German or Germanised nobility and Czech or Slovenian peasantry, Hungarian nobility and Slovakian, Serbian or Romanian peasantry. Peasants’ liberation had been postponed since the failure of Josephinian reforms.17 Only the Germans, the Italians and, to a certain degree, the Czechs had developed urban middle classes  ; in the east, towns and boroughs were often dominated by German bourgeoisie  ; the same was true for Italian urbanisation in the Adriatic. Systematic colonisation by the Habsburgs had created German peasant settlements of considerable extent in the Hungarian south. In history and sociology these stratifications have generated the distinction between so called historical or political and so-called non-historical nationalities.18 In this sense historical nations had possessed a ruling class (nobility) and had been able to form a political community (state), even if they had since declined. By that criterion the small Slavic tribes and the Romanians were considered non-historical nations. This distinction is useful for the understanding of feudal crown-land patriotism, the ideology of historical crown-land federation, 15 Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, 2 vols. 2nd edn., Graz and Cologne 1964, revised and enlarged edition of  : The Multinational Empire, New York 1950. For differences between political and ethnic units cf. vol. 1, chapter 1–2. 16 Robert A. Kann, op. cit., vol. 1 passim. General views on ethnic differences combined with social stratification also Friedrich Prinz, Die Böhmischen Länder von 1848 bis 1914, in  : Karl Bosl (ed.), Handbuch der Geschichte der Böhmischen Länder, vol. 3, Stuttgart 1963, pp. 80–102, 202– 35. Authoritative work on social, cultural and legal questions of Habsburg nationalities  : Adam Wandruszka and Peter Urbanitsch (eds.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, vol. 3, parts 1–2, Die Völker des Reiches, Vienna 1980. 17 Roman Rozdolski, Die große Steuer- und Agrarreform Josefs II. Ein Kapitel zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte, Warsaw 1961. 18 Short explanation in Robert A. Kann, Nalionalitätenproblem, [note 16], vol. 1, pp. 50–6.

The Revolution of 1848 and the Problem of Central European Nationalities 

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and the opposition to a federation on the basis of ethnic equality. Political consciousness had frozen, so to speak, at earlier stages of feudal integration.19 The whole ensemble was vaulted by the German dynasty and its practical absolutism and backed by the essential instruments of the army and the bureaucracy  – both formed after German models and held together by the German language. So the Germans felt themselves to be more than a nationality, they were, if not the political nation in the Western European sense of the word, so at least the decisive back bone and governing body of the realm, being at the same time the bureaucratic protectors of the peasant masses.20 However, absolutism ended at the borders of Hungary, after Joseph II had failed to abolish the country’s constitution.21 Here the pre-absolutist rights of the land­lord-dominated diet and local self-government still held sway. As in other parts of Europe, intellectuals were the first to stir up national feelings in the Habsburg countries. In practice they were involved in elementary schooling and mass education. When the great school reforms began in the age of Mary Theresa, the decision to promote elementary education in the respective native languages was a fundamental decision with far-reaching consequences.22 Indeed a practicable alternative, to teach only in German, was not and could not be considered. However, organisation and teaching in the native languages involved first of all discovery and elaboration of those languages, i.e. transformation of dialects into standardised grammar. The Slavic and Romanian intellectuals, very often priests, who worked on this subject, thus became interested in the folklore, mythology and cultural history of their ancestors. So they discovered the ‘history’ of the so-called ‘non-historical’ ethnic groups, i.e. they established their identity in socio-cultural terms and this became a means for their cultural and political emancipation. In doing so they adopted the Romantic theory of the ethnic or cultural nation as the real nation. Herder’s doctrine of “Volksgeist” 19 Friedrich Prinz, Handbuch Böhm. Länder vol. 3 [note 16], p. 169, has demonstrated for the Bohemian case, how the pre-modern originated idea of unity of the historical Land was transmitted from one opinion-leading class to the other till the Czech Social-Democrats like a ‘Leitfossil’ (leading fossil). 20 Recent description of these specifically German bureaucratic-‘liberal’ (‘Josephinian’) ideas and self-assurances by Berthold Sutter, in  : Wandruszka and Urbanitsch (eds.), Habsburgermonarchie, vol. 3 [note 16], part 1, pp. 154–81. 21 Ernst C. Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2nd edn., Vienna and New York, 1974, pp. 302–23 passim. 22 Eduard Winter, Barock, Absolutismus und Aufklärung in der Donaumonarchie, Vienna, 1971. Education and nationalities, ibid., pp. 202–246 passim.

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proved to be the fitting ideology for those small nationalities which were deprived of political power and governmental authority.23 During the 1840s national feeling began to be linked with political ambitions, first of all within the historical nations. In Bohemia the traditional feudal opposition promoted efforts for Czech language and history and looked for political friends among the protagonists of Czech nationalism to win support for more Bohemian autonomy from bureaucratic centralism.24 In Hungary the ‘liberal’ faction of the magnates together with the nationalist gentry and intellectuals set up a parliamentary movement for autonomous political and economic development of the kingdom on the basis of national Magyar integration, proclaiming the Magyars as the only political nation of the realm.25 Ideologically they took over the Western European model of nation-state and nation-building, which was directed against the non-Magyar inhabitants. Representing only 40 per cent of the population the Magyars of course stressed that model from the beginning, and this problem was to persist until the end of the realm in 1918. In 1844 they gained their first success by changing the language of parliamentary debate from Latin to Magyar, which led to heavy opposition from the other representatives  ; a prelude to 1848. The other centres of prominent national movement, namely the Italian Risorgimento and the Polish insurrections, need only be mentioned here without giving further detail. What should be considered in the Polish case is the predominantly noble character of the rebellions (1830/1 against Russia, 1846 against Austria), and the Austrian government in 1846 was very successful in inciting Ruthenian riots against their Polish landlords, in this way checking them and suppressing the movement.26 Compared with the aspirations of the leading nationalities, the national movement of the non-historical nations of the monarchy remained at a rather unpolitical level. But their leaders had already begun to preach resistance against domination, especially in the Hungarian case  ; they normally hoped for Habsburg protection against their immediate masters.27 This aspect leads us to a spe23 Eduard Winter, Romantismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz, Vienna, 1968, pp. 37–70 passim. 24 Friedrich Prinz, Handbuch Böhmischen Länder 3 [note 16], pp.  17–31  ; Hanns Schlittcr, Aus Österreichs Vormärz, 4 vols., Zürich 1920. vol. 2  : Böhmen. 25 Erszébet Andics, Metternich und die Frage Ungarns, Budapest 1973  ; Hanns Schlitter, Aus Österreichs Vormärz, op. cit. vol. 3  : Ungarn. 26 Hanns Schlitter, Aus Osterreichs Vormärz, op. cit. vol. 1  : Galizien und Krakau. 27 For the social aspects of Theresian and josephinian reforms cf. e.g. Robert A. Kann, Geschichte

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cial problem of integration in the Habsburg Monarchy  : dynasty and bureaucracy developed at a very early stage the governmental technique of putting themselves into an arbitrational position through social protection of the lower classes and cultural protection of the small nations.28 Of course we find such tendencies in all European monarchies, but in the Habsburg realm, where the disintegrating factors had a structurally greater meaning, this kind of absolutist-bureaucratic arbitration was appropriate to prevent higher forms of political integration in the long run. If we regard the Revolutions of 1848 as a key event of the nineteenth century, then it must be in the sense that all the major political problems of Central Europe appeared on the agenda, but were not solved. The Revolutions were a kind of catalyst, which brought potential conflicts to the surface, changed the political consciousness of everyone involved and so created new conditions for the decisive political activities of the coming decades. To analyse the national questions at stake I shall first choose the Frankfurt perspective and then turn over to the Viennese perspective, for here the same problems were debated in the greatest detail and at the same time, but with different intentions. In Frankfurt, the seat of the German Federal Council, revolution was transformed very quickly into legal procedure, when the so-called ‘Vorparlament’, a spontaneous convention of liberal leaders with a strongly radical wing, decided not to proclaim itself as a constituent assembly, but to call for general elections, and when corresponding to that the old Council of the German Confederation unanimously ordered such elections for a national constituent assembly to be held in every member state.29 Of course the complicated questions of German constitutional history cannot be discussed here. The most important implication of convoking a constituent assembly was the presumption that there existed a clearly defined German nation as basis of constituent power according to the doctrine of popular sovereignty. On the other hand, the single German states continued to exist undiminished, and the question of how to combine the condes Habsburgerreiches 1526–1918, 2nd edn., Vienna 1982, pp. 162–195. For the small Hungarian nationalities cf. Kann, Nationalitätenproblem [note 15], vol. 1, pp.  274–298, 309–321  ; Galicia  : ibid., pp. 322–335. 28 For the ‘Josephinian’ tradition of the German modelled bureaucracy cf. Kann, Nationalitätenproblem, op. cit., vol. 1, pp. 57–61 with references. 29 For constitutional and parliamentary questions cf. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte [note 10], vol. 2, chapter 9  ; Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850, Düsseldorf 1977, chaps. 1–3.

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stitution-making of the National Assembly with the principle of a constituent interstate convention was only postponed and remained on the agenda.30 In the Paulskirche, the radicals stood firm on the principle of popular sovereignty including its revolutionary consequences  ; while the overwhelming majority, the liberal right and left-centre, held the same beliefs in theory, but looked for practical cooperation with the monarchical state-governments without having any power to coerce dissident states.31 What all the deputies regarded as the natural aim of their work was the transformation of the old Confederation into a real nation-state on a federal basis with a liberal constitution providing for civil rights of all Germans, central government and a central parliament furnished with sovereign competence in military and foreign affairs.32 What they wanted was the formation of Germany as a new great power which could appear on the European stage with commanding force  ; and this would have meant an international revolution more complicated probably than most of them could imagine. This revolutionary aspect already arises with the question of what the extent of the German nation-state should be, and how the nation could be defined in territorial terms. In practice that question arose at the beginning, when the Frankfurt authorities had to decide who should be entitled to elect the national assembly. The first basic decision was that all territories belonging to the German Confederation should be included.33 The boundaries of the Confederation were more or less identical with those of the Holy Roman Empire in 1789. Neither the one nor the other had followed the concept of nation-states. Non-German minorities were included in their boundaries in great numbers  : Poles in Silesia  ; Czechs in Bohemia and Moravia  ; Slovenes in Styria, Carinthia, Carniola and the Littorale  ; Italians in Trieste, Gorizia and Trentino  ; and Dutch in Limburg.34 On the other hand, coherent German settlement could be found in countries outside the boundaries of the Confederation  : so in Schleswig (two-thirds of the popula30 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte vol. 2, op. cit., pp. 619–22, 791–820. 31 Ibid. pp. 792–820. 32 Ibid. pp. 773–842. A concise study in the Revolution of 1848 now Günter Wollstein, Deutsche Geschichte 1848/49. Gescheiterte Revolution in Mitteleuropa, Stuttgart, 1986. Presentation of state of research and discussion in the recent volume of Dieter Langewiesche (ed.), Die deutsche Revolution von 1848/49, Darmstadt 1983. 33 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte vol. 2, op. cit. pp. 606–10. 34 Statistics being uncertain the population of the provinces in question can roughly be specified (in millions)  : Prussian Silesia 3.2 Germans, 0.7 Poles  ; Bohemia-Moravia 4.4 Czechs, 2.5 Germans, 0.1 Poles  ; Styria 0.6 Germans  ; 0.4 Slovenes  ; Carinthia 0.2 Germans, 0.1 Slovenes  ; Carniola 0.4 Slovenes, 0.03 Germans  ; Littorale-Trieste 0.3 Slavs, 0.15 Italians, 0.008 Germans  ; Tyrol 0.5 Germans, 0.3 Italians  ; Limburg 0.25 Dutch.

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tion) under Danish rule, in East and West Prussia and in Posen (Poznan) under Prussian government  ;35 scattered German settlements existed within the entire Habsburg Monarchy outside the boundaries of the German Confederation, as well as in Russian Poland and in many parts of European Russia. The population of most parts of Switzerland was German speaking as it was in northern Lorraine and in the Alsace under French government. The decision of the Frankfurt Diet to define Germany according to the boundaries of the Confederation meant that the Czechs, the Slovenes, some Poles, a lot of Italians and some Dutch were asked to elect deputies for Frankfurt. It followed that the Austrian government was called upon to organise elections in their ‘German’ countries, whereas Hungary, Galicia and Lombardy-Venetia were excluded.36 So the existence and structure of the Habsburg Empire were implicitly questioned from the beginning. In contrast to the treatment of Austria, Frankfurt made an exception in the case of Prussia. Following a requirement of the Berlin government and in harmony with decisions of the provincial diets, the provinces of East and West Prussia were formally included into the German Confederation by a constitutional act of the German Diet, so that elections could be held.37 A bit later the same was done with most parts of the Prussian province of Posen.38 The second exception was made in the case of Danish governed Schleswig, the deputies of which were admitted to the national assembly.39 Nobody in the sphere of political decision-making had the idea to admit representatives of Alsace-Lorraine.40 The major problems which are connected with the boundary questions now should be discussed. They will guide us to the problem of a German nation-state in Europe in general. 35 In millions  : Schleswig 0.2 Germans, 0.1 Danes  ; Eastern Prussia 1.2 Germans, 0.4 Poles, Lithuanians and others  ; Western Prussia 0.6 Germans, 0.5 Poles and others  ; Posen 0,8 Poles, 0.5 Germans and Jews. Carl v. Czoernig, Statistisches Handbüchlein für die Österreichische Monarchie, 3rd edn., Vienna 1861  ; Carl F. W. Dieterici, Handbuch der Statistik des Preußischen Staates, Berlin 1861. 36 Günter Wollstein, Das Großdeutschland der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977, pp. 267–270. For the reservations of the Viennese government against supremacy of Frankfurt decisions cf. Wollstein, p. 268  ; and Friedrich Prinz, Prag und Wien 1848, Munich 1968, pp. 31–3. 37 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte [note 10], vol. 2, pp. 639–41. Act of 11. April, 1848. 38 Ibid. pp. 639–43  ; cf. notes 49–60 below. 39 The formal incorporation of Schleswig into the German Confederation was, however, postponed for fear of international complications. For the whole complex cf. Ibid. pp. 666–673. 40 Rudolf Buchner, Die deutsch-französische Tragödie 1848–1864, Würzburg 1965, pp. 19–36, 50– 58.

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Concerning Alsace-Lorraine a short explanation can be given. There was no irredenta in that country, so that there existed no challenge to Frankfurt coming out of the local situation to deal with the question. Moreover, German activities of course would have touched the integrity of French territory, and this not only would have been dangerous but also contrary to the general line of German liberal foreign policy. In ideological terms the great enemy of European liberty was despotic Russia  ; and if a general war should come out of the Revolutions, it should be a western crusade against Russia, provoked at best by the Polish question. These ideological preferences had been common since the 1830, and also in 1848 the perspective of an alliance with progressive France played its role in Frankfurt and Berlin.41 Nevertheless Pan-German nationalists in the Paulskirche like Ernst Moritz Arndt repeatedly claimed Alsace for Germany in a vague sense for the future.42 Compared to this the Schleswig case generated actual problems which proved to be one of the crucial points of Frankfurt foreign policy. In terms of constitutional and international law the situation of Schleswig was rather complicated. The Danish King governed both Schleswig and Holstein as duke  ; this meant by personal union only. Holstein was a member-state of the German Confederation, Schleswig was not  ; on the other hand both duchies were linked together by an old and rather obsolete medieval treaty of union concluded by the respective provincial estates.43 Contrary to the German national ambitions the Danish nationalists in Copenhagen had for a long time been urging the King to unify Schleswig with Denmark, and in 1848 he gave way and declared the incorporation of this northern duchy.44 Thus, provoking resistance of the German national party, a provisional government of Schleswig-Holstein was established in Kiel, which asked for German help. The German Confederation declared war on Denmark to protect German interests and charged Prussia with military execution. The Prussian occupation caused Russian and British diplomatic intervention. Facing these dangers Berlin arranged an armistice without seriously consulting Frankfurt and postponed the Schleswig-Holstein question to a future treaty.45 These stories are well known  ; here we have to consider the principal position of the national assembly in that national question. Formally the German representatives 41 Cf. notes 5l and 54, below. 42 Günter Wollstein, Großdeutschland [note 36], pp. 248, 296. 43 Constitutional situation and events until the armistice (August/September, 1848), cf. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, vol. 2, op. cit., pp. 660–81. 44 Ibid., pp. 666–7. 45 Ibid., pp. 671–81.

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elected in Schleswig under the provisional government were acknowledged and received as ordinary members in the Paulskirche, the question of constitutional incorporation of that territory was postponed for the time being.46 Unfortunately some of the most important and most influential liberal-­conservative members of the national assembly, those famous political professors and historians, were the most prominent protagonists of the national case in the duchies.47 They argued in favour of the historical boundaries of Schleswig, thus approving of the incorporation of a considerable Danish minority (about one-third of the population), and influenced the assembly not to comply with propositions of partition on ethnic lines, which would have been relatively clear cut. Here the historic argument was used aggressively following the motto in dubio pro Germania.48 The same motto, but with the opposite argument, can be found in the Polish case. The incorporation of East and West Prussia was never questioned by the assembly. A discussion of their German character was never considered necessary, although there were considerable Slavic minorities.49 Much more complicated and disputed was the Posen problem, because here both the whole Polish question and major questions of Germany’s new position and orientation in Europe were at stake. Under the fourth partition of Poland in 1815, i.e. the partition of the Grand Duchy of Warsaw, both Russia and Prussia had promised to preserve Polish nationality, but as an answer to the rebellion of 1830/1 Russification and Germanisation were initiated.50 Since that rebellion enthusiasm for the Polish cause was common to European liberalism in general including the German, especially on the radical left and the left-centre.51 So the Frankfurt Vorparlament regarded it an honorary obligation to proclaim the 46 Cf. note 39  ; Günter Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 41–2. 47 Most prominent among the historians were Friedrich Christoph Dahlmann, Georg Waitz, Johann Gustav Droysen, all of them protagonists of Prussian leadership and the kleindeutsch solution  ; then the brothers Karl Georg C. and Wilhelm Hartwig Beseler, both jurists – the first as Professor of Civil Law, the second chief of provisional Schleswig-Holstein Government, later guardian of the University of Bonn  ; the historian and germanist Andreas Ludwig J. Michelsen, and the germanist Jacob Grimm. 48 So the suggestion of Palmerston for the partition of Schleswig according to ethnic lines was refused both by Copenhagen and the Provisional Government in Kiel respectively. For the whole debate cf. Wollstein, Großdeutschland [note 36], pp. 23–97. 49 Incorporation had been effected legally already on 11 April 1848 by the Federal Diet  ; cf. footnote no. 37  ; for ethnic composition cf. notes 34 and 35. 50 Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, 2nd edn. Frankfurt 1972, pp. 66–109. 51 Eberhard Kolb, Polenbild und Polenfreundschaft der deutschen Frühliberalen. Zu Motivation und Funktion außenpolitischer Parteinahme im Vormärz, in  : Saeculum, 26, 1975, pp. 111–127.

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restitution of Poland as one of the great revolutionary goals imposed by historical justice and expiation.52 In Berlin the Prussian King, under advice from his new liberal ministry, announced a programme of national reorganisation of the Grand Duchy of Posen. A reorganisation board including Polish representatives was established in Posen, imprisoned rebels were amnestied and at once began to form local national committees and to organise national arming.53 In liberal perspective Posen should become the nucleus of a new Poland, its reorganisation would stimulate movements in Russian Poland, Russia would not remain quiet, and by these provocations the formation of liberal Europe against despotism could be strengthened, perhaps even by war, and the great eastern autocratic alliance of the three black eagles would be destroyed forever.54 Now the Prussian King was not the man to risk such a bouleversement des alliances so unfamiliar to Prussian political traditions. Actually the Posen reorganisation caused domestic Polish-German disturbances, provoked armed conflicts and led the German minority to apply for protection in Berlin and Frankfurt.55 On the proposal of the Prussian government the province was divided  ; the parts including a German majority were formally incorporated into the German Confederation by an act of the Frankfurt Diet. Then the Prussian military made itself heard and demanded the city and fortress of Posen for Germany. So in a second formal act not only the fortress, but also the relevant lines of communication were incorporated into Germany, thus including areas with great Polish majorities. So just a small portion remained for national reorganisation, and this, too, for the time being under Prussian military control.56 Politically Polish reorganisation was already dead, when the German parliament assembled. But here the question of recognition of the Posen mandates gave occasion to a great debate on Poland, which proved to be one of the most interesting debates held in the Paulskirche. It was a rear-guard fight, in which the left defended an active pro-Polish policy, for the opportunities of which Posen should remain an unpartitioned nucleus, even if German minorities were excluded from Germany. But the vast majority was quite content with the 52 Wollstein, Großdeutschland [note 36], pp. 109–114. 53 Ibid., pp. 98–109. 54 This new line of Prussian foreign policy was pursued by the Prussian March-Minister of Foreign Affairs, Heinrich A. Baron v. Arnim-Suckow, who hoped for a liberal war of national unification against despotic Russia in the course of an all-western alliance. Wollstein, ibid. p.  102  ; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte [note 10], vol. 2, pp. 576–78, 639–40. 55 Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 114–23, with reference to the extensive older literature. 56 Ibid., pp. 118–35  ; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, op. cit., vol. 2, pp. 641–42.

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fact of partition and accepted it.57 What was remarkable was the opportunistic change of arguments, being in favour of historic unities against ethnic division in the Schleswig case, whereas now unity was rejected for the benefit of the German minority. Even more important was the burgeoning change from liberal ideology to so-called realpolitik. Enthusiasm for Poland now was discredited as sentimental or mawkish, politically wrong because the existence of Poland was against Germany’s vital interests because the Poles would request a return to the boundaries of 1772.58 Above all this ‘healthy’ political egoism was combined with doctrines of historical progress derived from the Hegelian school and with theories of race superiority. In this sense the partitions of Poland were not the result of cruel power-politics, but the burial of a political corpse, murdered by the Polish nobility. The nobles, who alone formed the nation, had proved to be inept both politically and economically  ; they had suppressed the peasantry without ever developing the country. So, according to the laws of history Poland was occupied by the higher developed people, whose administration and colonists could do more for the country and especially for the Polish peasantry than the Polish elite.59 Germany’s civilising mission in the east was the enticing perspective, which opened up in the Paulskirche not only with respect to the Polish question, but still more in the case of Austria now to be dealt with. The most prominent question of national minorities within the German Confederation was the Bohemian case. Following its fundamental decision to include Bohemia, the Vorparlament invited František Palacky, the recognised leader of 57 For the whole debate cf. Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 137–72. Minutes of the debates and votes, 24–28 July 1848 in Franz Wigard (ed.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung in Frankfurt am Main, 8 vols. and register, Frankfurt 1848, vol. 2, p. 1121–1248. Final votes  : motion for postponement and further inquiry  : 333 against, 139 in favour  ; motion for declaration it be an honorary obligation of the German people to restore Poland  : against 331, in favour 101, abstentions 26  ; motion of the reporting committee on questions of international law to acknowledge the partition of Posen effected by the Federal Diet and to recognise the Posen deputies  : in favour 342, against 31, the left protesting by absence. Stenographischer Bericht, vol. 2, 1228–133, 1240–48, 1233–39. 58 Prominent is the famous speech of Wilhelm Jordan, Prussian writer and originally affiliated to the left (Deutscher Hof ) in Stenographischer Bericht, op. cit., vol. 2, pp. 1143–51. Best summary of the debate with critical judgement by Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 135–8. 59 Jordan, ibid. For the importance of history and philosophy of history in political reasoning during the Revolution cf. Karl Georg Faber, Nationalität und Geschichte in der Frankfurter Nationalversammlung, in  : Ideen und Strukturen der deutschen Revolution 1848, Frankfurt 1974, pp. 103–122, especially pp. 110–4.

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the Czech national movement, to join their company when preparing for the national assembly. This gave Palacky the occasion to formulate his famous letter of rejection, in which he stated that Bohemia was part of Austria but not of Germany  ; the links to Germany were only based in feudal dependency of medieval origin and had no constitutional meaning. Never could the Czechs take part in a German nation-state.60 Meanwhile patriotic movements had begun in Bohemia against Viennese autocratic and bureaucratic centralism. In the first phase the three important groups, namely the Bohemian nobility and their conservative Czech allies, the more radical Czech lower-middle classes and students, and the German bourgeoisie of the capital and the cities, co-operated in a common national committee and sent appeals to Vienna for more autonomous self-government for Bohemia, being prepared to acknowledge the equal status of both nationalities.61 But nationalist conflicts began very soon, occasioned by incidents in the streets of Prague and then decisively roused by the Frankfurt question, which operated as a catalyst. The Czech leaders unanimously refused Bohemia’s participation in the elections for the Frankfurt Assembly, whereas the Germans wanted to secure Bohemia’s inclusion by all means. So the Germans left the national committee in Prague.62 The Czech radicals began to speak about the Czechs being the original inhabitants of the country and the Germans being only late immigrants and guests  ; the Sudeten-Germans founded an ‘Association for the protection of German rights in Bohemia’, which became a strong lobby in Vienna and Frankfurt and organised fraternisation meetings with Saxons at the borders.63 The

60 Vorparlament and Bohemian case  : cf. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte [note 10], vol. 2, p. 601, 643  ; Jiři Koralka, Prag-Frankfurt im Frühjahr 1848  : Österreich zwischen Großdeutschtum und Austroslawismus, in  : Heinrich Lutz and Helmut Rumpler (eds.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, Munich, 1982  ; pp. 117–139  ; Prinz, Handbuch Böhm. Länder, vol. 3 [note 16], pp. 41–3. For Palacky now Friedrich Prinz, František Palacky und das deutsch-tschechische Verhältnis aus der Sicht der tschechischen Geschichtswissenschaft unseres Jahrhunderts, in  : Bohemia 18, 1977, pp. 129–143  ; Wollstein, Großdeutschland [note 36], pp. 195– 202. 61 Stanley Z. Pech, The Czech Revolution of 1848, Chapel Hill, 1969  ; Peter Burian, Die Nationalitäten in „Cisleithanien“ und das Wahlrecht der Märzrevolution 1848/9 Graz and Cologne, 1962, pp. 52–59  ; Prinz, Handbuch Böhm. Länder vol. 3, op. cit., part A. Cf. below note 98. 62 Pech, Czech Revolution, op. cit  ; Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 189–202  ; Burian, Nationalitäten, op. cit., p. 64. 63 Wollstein, Großdeutschland, op. cit., p. 195 with references  ; Prinz, Handbuch Böhm. Länder, op. cit., vol. 3, pp. 43–7  ; Burian, Nationalitäten, op. cit., pp. 74–80.

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Viennese government issued the writs of election also in Bohemia as required, but did not enforce participation. So the Czech boycott had the result that 13 constituencies voted regularly, in 7 only a minority did, and 46 constituencies did not vote at all.64 Among the German-Bohemian representatives for Frankfurt there were some extreme nationalists making gloomy speeches about the Slavic flood and about wars of races for survival as a law of history  ; but more of them spoke for national agreement and peaceful settlement.65 It was a Bohemian who introduced the later article 188 of the civil rights catalogue, by which minority rights in language and cultural development were granted.66 Some deputies demanded that Frankfurt should take measures to enforce elections without saying how, but this was rejected.67 In principle the Paulskirche was convinced that Bohemia, situated in the centre, was and should remain a part of Germany. New excitements arose in Frankfurt, when at Whitsun a Pan-Slav congress was assembled in Prague. Organised by the Czech groups this congress in fact united mainly Austrian Slavs, namely speakers for the Czechs, Poles, Ruthenians, Croats and Serbs. Bakunin was the lone but famous speaker for Russia. The congress fulfilled its purpose as a platform for anti-Frankfurt manifestations, some of them quite outspoken. Frankfurt was denied any jurisdiction over the Bohemian countries. Likewise anti-Magyar speeches were made. In contrast to this, the congress hailed the existence of a federated Austria which was expected to become Slavic-orientated by the natural consequence of democratic majorities.68 Close connections between the Slavic deputies and the Czech radicals, especially the students in Prague, added fuel to the general excitement, and following mutual provocations between them and the military, riots erupted at Whitsun, barricades were erected, and fighting began.69 In Frankfurt the national 64 Prinz, Prag und Wien 1848 [note 36], pp. 36–41  ; Burian, Nationalitäten, op. cit., p. 73. 65 Friedrich Prinz, Die Sudetendeutschen im Frankfurter Parlament, in  : (Collegium Carolinum, ed.) Zwischen Frankfurt und Prag, Munich 1963, pp. 103–132. 66 Titus Mareck from Graz (but of Bohemian origin), deputy for Styria, took the Bohemian case for his demand of 27 May 1848, that the National Assembly should make a solemn statement in favour of minority rights, which was supported by the German-Bohemian group and voted almost unanimously on 31 May. Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 205–8. For Art. 188 cf. below footnote 83. For Mareck cf. Prinz, Die Sudetendeutschen, op. cit., p. 118. 67 Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp.  207–10. Sharp nationalistic tendencies against the Czechs in the speech of Ernst Moritz Arndt. 68 Lawrence D. Orton, The Prague Slav Congress of 1848, New York 1978. 69 For history of events see Rudolf Kiszling, Die Revolution im Kaisertum Österreich 1848–1849, 2

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assembly had answered the convocation of the Slavic congress by constituing a committee for Slavic matters, in which sharp anti-Slavic opinions prevailed, and which, when news about the Whitsun riots reached Frankfurt, moved for military intervention in Bohemia by non-Austrian German troops to secure German interests. But the debate on that motion showed very soon that the moderate majority hesitated to follow such a decisive and revolutionary national policy and to interfere with the complicated Austrian situation. So the conservative friends of Austria could carry an address which expressed the expectation that the Austrian authorities would restore order.70 The Viennese government of course wanted to keep Frankfurt out of the whole affair and tried to settle the Prague conflicts by sending a committee.71 But in fact the Austrian military did not pay much attention to its government. The Prince of Windischgraetz, an ultra-conservative noble and commander of the completely intact northern army, took the opportunity to inflict the first considerable defeat on the Revolution by reconquering Prague, suppressing the congress and subjecting all of Bohemia to a state of martial law.72 Many Frankfurt deputies and a lot of newspapers now hailed Windischgraetz as the protector of the Germans, and only a few left-wing members observed the turn of the political tide.73 In Bohemia political life was now suppressed, whereas in Frankfurt the whole question was postponed until the great debate on Austria’s position in the German Constitution. Compared with the Bohemian problem the national disputes in the southeast Slovenian areas were much less spectacular. The Slovenes did not vote for Frankfurt, but they also did not organise protest activities. The few activists concentrated their demands on constitutional change in the mixed provinces

vols., Vienna 1948, vol. 1, pp. 149–56. 70 The reaction of the National Assembly on the Bohemian case from 7 June to 1 July is characterised by Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp.  210–219. Despite sharp nationalistic tendencies of a minority the differences compared to the Posnanian case are remarkable. The soft declaration promoted mainly by the Reichs-Minister of the Interior, Schmerling (a prominent Austrian), and the moderate Austrian deputies was voted ‘by a majority’, Stenographischer Bericht [note 57], vol. 1, p. 676, 1. 7. 1848, without figures. At the time of voting the Assembly was already familiar with Windischgraetz’s victory. 71 F. Prinz, Prag und Wien 1848 [note 36], pp. 68–79. 72 Ibid. pp. 80–95. For history of events cf. Kiszling, Revolution im Kaisertum Osterreich, op. cit. vol. 1, pp. 49–56  ; Paul Müller, Feldmarschall Fürst Windischgrätz. Revolution und Gegenrevolution, Vienna 1931, chap. 3. 73 Wollstein, Großdeutschland, op. cit. p. 218  ; Prinz, Die Sudetendeutschen [note 65], p. 120.

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to gain more equality.74 In the Italian city of Trieste there was a considerable movement sympathising with the Lombardy-Venetian rebellion and hoping to be conquered. But these radical sentiments were not shared by the leading Italian merchants who knew very well that their prosperity depended exclusively on the city’s incorporation into Austria.75 In the Frankfurt Assembly there was no doubt that Trieste had to be maintained as a German port, to secure a stronghold for an active Mediterranean policy. Some deputies even required the extension of the German territory to the entire peninsula of Istria to gain suitable naval bases.76 More dispute arose in the case of Trentino. The Italians of South Tyrol had elected representtatives for Frankfurt for the sole purpose of urging the exclusion of their districts from the German Confederation. Only a leftist minority supported this motion for the sake of Italy  ; the vast majority followed the historical and military arguments of the professors and German Tyrolese that Trentino had to remain within German boundaries.77 Here again we find the opportunistic instrumentalisation of history. One of the parliamentary experts for Italian questions was the historian Friedrich von Raumer, specialist in Hohenstaufen history and of the great times of medieval Imperial domination of Italy. He favoured the concept that the new Germany should have commanding influence in northern Italy, and this meant that Austria should keep hold of its Italian possessions.78 A considerable majority of the national assembly followed him in this view. Certainly there was, as in the Polish case, radical-liberal support of the Lombardy-Venetian rebellion and of Italian national unification, but these factions in Frankfurt were too weak to carry parliamentary declarations 74 For the local activities cf. Burian, Nationalitäten [note 61], pp. 118–51. Cf. note 104 below. 75 Ibid. pp. 151–156. 76 G. Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 235–7. 77 As in the Schleswig, the Posen, and the Bohemian cases, the deputies of the region played a decisive role as opinion leaders in the question of Trentino, too. Against the liberal Italian representatives stood the conservative German-Tyrolese deputies, backed by the Assembly’s committee on questions of international law against any separation of territory belonging to the German Confederation. The German left’s support of the Italian Tyrolese was rather weak and favoured autonomy more than separation. However, the main debate took place (12 August 1848), when Radetzky’s army had reoccupied Lombardy, and the Italian national movement was beaten for the time being (cf. Stenographischer Bericht [note 57], vol. 2, p. 1559 – only ‘majority’ against separation is recorded without figures). For the whole debate see Wollstein, Großdeutschland, op.cit., pp. 223–35  ; for the situation in the Tyrol cf. Burian, Nationalitäten, op. cit., pp. 161–74  ; for the function of ‘historical’ arguments cf. Faber, Nationalität und Geschichte [note 59], pp. 114–6. 78 Theodor Schieder, Das Italienbild der deutschen Einheitsbewegung, in  : idem, Begegnungen mit der Geschichte, Göttingen, 1962, pp. 210–235 (first published in Studi Italiani, 3, 1959), for Raumer and the Paulskirche, ibid. pp. 215–21.

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of sympathy for the Italian cause.79 All such tendencies were completely swept away, when Radetzky’s victories were hailed in August 1848. Now the Pauls­ kirche voted a declaration which recommended to the Italians the formation of an Italian confederacy of which the Habsburgs should be members as kings of Lombardy-Venetia.80 Looking at the panorama of nationality problems from Schleswig to Trentino we realise that most of them concerned Austrian territories. So dealing with them was always overshadowed by the general question of what the future of the entire Habsburg Monarchy should be. In the Paulskirche this serious problem remained in the background for a long time after having been postponed until the general debate on the charter of the Constitution. The solution offered by the constitution committee was implied in the first three articles of their draft. According to these articles the German Reich consisted of the territory of the hitherto existing German Confederation. In the case that a German and a non-German land had the same monarch, these states had to be separated in terms of political law and a purely personal union established  ; the indigenous status of all officials and the authority of Reich legislation had to be guaranteed.81 For Austria this meant that Frankfurt was not prepared to include the entire Habsburg Monarchy (i.e. including Hungary, Galicia, Lombardy-Venetia, Dalmatia) into the German nation-state, because this obviously would have been incompatible with the essence of a nation-state. But Frankfurt was prepared and determined to include the non-Germans within those boundaries, as all the debates hitherto examined had already suggested. Of course this, too, was a violation of national ideas, but in Frankfurt it was justified by historical, geographical, and military arguments.82 All complications deriving from those little shortcomings were expected to be met by the constitutional provision granting minority rights.83 79 G. Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 225–9, 237–42. 80 Ibid. pp. 240–1. 81 Debates in the draft committee, wording of the draft (with minority votes) and reasons  : Johann Georg Droysen (ed.), Die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der deutschen Nationalversammlung, Leipzig, 1849, pp. 314–342, 414–416, 422–431. Debate in assembly, 19–27 October 1848, in Stenogrgphischer Bericht [note 57], vol. 4, pp. 2717, 2722–2727, 2770–2937. 82 The famous ‘Frage an Österreich’ (question towards Austria) has always been one of the central objects of historiography on 1848. For our purposes best recent treatment in Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 266–306. 83 By Article 47 of the Grundrechte national development was granted to the non-Gcrman speaking tribes of Germany, namely equal rights of their languages within their respective areas in Church, education, inner administration, and judicature. Deliberately the draft committee had followed the same definition already chosen by the Mareck declaration of 31 May 1848 [note 66]. The de-

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Dissolving Austria as a unified state meant that there was to be no special Austrian status by reference to its non-German territories, but that Austria should clearly be subject to the central government of the Reich. Foreign policy had to be made in Frankfurt, not partially in Vienna. So far the Constitution wanted to provide for a clear-cut decision for the benefit of a nationally integrated German state with a Great-Power status. But that did not mean that German influence upon the non-German Habsburg possessions should be diminished. This became very clear during the four days’ debate on the initial articles of the draft. The Austrian and the other German conservatives opposed the dissolution of the Habsburg Monarchy, because they were interested in the maintenance of the monarchic sovereignty of the individual German states at the cost of central and constitutional authority. They argued that securing the integrity of Austria as a whole would serve German interests best, because the German character of Austrian government would provide for a maximum of German superiority in the entire realm, which, at the same time, would serve as the most solid basis for further expansion of German influence in South East Europe.84 But the majority of the house and especially the leading liberal-conservative professorial notables were not prepared to disclaim a strong national government.85 So in the right-centre factions the possibility was discussed to found the German Reich without Austria, and a special plan was developed to link this smaller Reich with the entire Austrian Monarchy in a wider confederacy, bound together by a constitutional treaty providing for common institutions.86 But this suggestion, too, only won a minority. The great majority of the national assembly, including the majority of the Austrian representatives, neither renounced strong national bate (15 February 1849, Stenographischer Bericht, op. cit., vol. 7, p. 5207–10) showed unanimous awareness of the importance of minority rights for the construction of the new Reich. Drafts, motives and important debates of the basic rights discussion in Frankfurt printed and commented in Heinrich Scholler, Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche. Eine Dokumentation, 2nd edn., Darmstadt 1982. An earlier view with reference to Paulskirche  : Ludwig Bergstraesser, Ursprung des Minderheitenrechts in Deutschland, in  : Wilhelm Arntz (ed.), Außenpolitische Studien. Festgabe für Otto Köbner, Stuttgart 1930. 84 Recapitulation of the great debate in Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 266–91  ; the conservative arguments, ibid., pp. 269–73, 281–3. 85 Ibid., pp. 278–281, 283. 86 The famous Gagern plan was first presented in open court in the debate of October, but politically pursued only from December 1848 on, when the Austrian government after reconsolidation had refused dissolution and Gagern thereupon had followed Schmerling as Minister-President in Frankfurt. Cf. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte [note 10], vol. 2, pp. 796–807  ; Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 280, 291–306.

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government nor renounced inclusion of German Austria into the coming Reich. So the propositions of the initial draft articles were carried by a vast majority in October 1848.87 But neither did this majority, generally speaking, want to separate the New Germany from the non-German parts of the Habsburg Monarchy completely. The constitutional dissolution of that monarchy could politically be better described as a loosening and a transition to new forms of indirect rule, which was to be secured by means of monarchic personal union.88 The speeches from the different sides of the house showed a broad accord in favour of the penetration of German civilisation, commerce and political influence throughout the entire South East and the Adriatic  ; to a lesser degree northern Italy was also mentioned. German settlement along the Danube should be enforced on the lines already initiated by Mary Theresa  ; many deputies regretted the German mass emigration to the United States and wanted to divert those streams to Hungary.89 The Frankfurt Assembly conceived of the future structure of Europe as a nucleus-satellite model, in which Germany should dominate the smaller nationalities, especially in the South East. The Paulskirche was convinced that the work to be done was establishing the German Reich not only as a European Great Power, but as a hegemonial empire, containing Russia in its present boundaries in the east and leaving France and Great Britain as maritime powers in the west, but gathering in all the rest, especially in the centre and central east.90 There were, too, fanciful ultra-nationalist professors like Arndt and Grimm who proclaimed the future restoration of Switzerland, Alsace-Lorraine and both Netherlands to the German Empire and adumbrated an all-Germanic continental alliance including the Scandinavian states and the Baltic.91 These voices were not representative, but there was general consent concerning the special German role in East-Central

87 Final vote 27 October  : §2 of the draft 340 in favour, against 76  ; §3 of the draft 316 in favour, against 90 (Austrian deputies  : 115 in favour, against 41). Huber, Deutsche Verfassungsgesch. 2, op. cit., p. 798. 88 Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 283–91. Even in 1849, when the conflict between Frankfurt and Vienna escalated and the Prussian King was elected Emperor, the kleindeutsch solution was considered by its protagonists as a provisional stage for the time being towards a larger central European organisation in the future. Ibid. pp. 291–306 passim. 89 Ibid., pp. 287–8. 90 A nucleus-satellite model supported by a great majority covering all factions  : this is the central result of Wollstein’s book. Renewed presentation of these perspectives in concise form  : Günter Wollstein, Mitteleuropa und Großdeutschland. Visionen der Revolution 1848/49, in  : Dieter Langewiesche (ed.), Die deutsche Revolution 1848/49, Darmstadt 1983, pp. 237–257. 91 Wollstein, Großdeutschland, op. cit., pp. 32–3, 47, 56, 127–8, 209–10, 248–9, 296, 316.

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Europe, and thinking and speaking in terms of Great-Power conceptions was widespread. So we can say that the conception of a German nation-state was from the very beginning combined with supra-national imperialistic perspectives. In my eyes the preponderant explanation of this entanglement lies in the historical development of the east German states, especially of the Habsburg Monarchy, and in the lack of clear-cut ethnic units. The difficulties in defining the German boundaries, to say what the German nation was, and to determine a legitimate frame of national integration tempted most of the deputies to seek refuge in attack and to look for a solution by ambitious interpretation of national interests and of German ‘mission’. The general West-East descent of modernisation, civilisation and integration as well as the emerging power vacuum in South East Europe psychologically favoured such tendencies. A supplementary explanation should be found in the character of the Frankfurt experiment. The slogan of the ‘professors’ parliament’ is of course very familiar and might be unjust on the whole  ; but with reference to international relations and foreign policy there were men at work who did not have the experience of a well-trained governing class making political decisions within a given institutional framework. These theorists scarcely perceived the real consequences of their suggestions for the structure of European power distribution. Compared with these goals and claims, the Bismarckian foundation of the Hohenzollern-Reich was intentionally a limited operation. However, the far-reaching consequences of this act led to a vigorous revival of those hegemonial dreams of the Paulskirche in the twentieth century, which Germany then tried to put into political practice.92 The crucial point of the German aspirations in 1848 was the Austrian question. The Paulskirche viewed Austria from the standpoint of German hegemony, whether it be that the realm should be dissolved, or that it should be a German dominated unit. This was also no doubt the perspective of most of the Austrian deputies. The question to be put now is whether there was a chance for a concept to maintain the Habsburg Empire on a specifically Austrian basis, i.e. its reconstruction as a commonwealth sui generis by acknowledging its multinationality. To follow this question let us now take up the Viennese perspective. First some remarks on the complicated revolutionary situation. After the fall of Metternich some moderate old bureaucrats considered as ‘liberal’ were called 92 For Mitteleuropa cf. Henry C. Meyer, Mitteleuropa in German Thought and Action 1815–1945, The Hague 1955  ; for continuity problems Andreas Hillgruber, Deutsche Großmacht- und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1977.

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into government and promised a constitution.93 At the same time the court gave way to a Magyar parliamentary revolution and conceded the establishment of a separate Hungarian Ministry, responsible to the Hungarian Reichstag in Pest. So dualism was deepened and the way opened to a separate Hungarian state, linked with Austria only by personal union.94 By constitutional reforms the Magyar political classes at once began to transform the kingdom into a constitutional nation-state with eligibility bound to the knowledge of Magyar. This led to opposition of Croats, Serbs, and Romanians and subsequently to a Hungarian civil war, which, in the autumn of 1848, gave to Court and military the chance to intervene and to reconquer Hungary.95 In Lombardy-Venetia national rebellion and the intervention of the King of Sardinia led to the retreat of the Austrian army  ; the Viennese government began to negotiate about the cession of Lombardy, but the generals made their own policy, and after having gained the necessary reinforcements, reconquered the territory in August, imposing a state of siege upon the Italian provinces.96 In Galicia there was some temptation for the Polish nobles, but in remembering 1846 all remained calm, especially after the governor had immediately promised peasant liberation to the Ruthenians at the cost of the state.97 In Bohemia, the nobility and the Czech party required the same status Hungary had gained, namely inner autonomy, parliament and government for the united historical crown-lands of St Wencislaus. Being in straitened circumstances, Vienna made appropriate promises in the first days of April, but unlike Hungary a saving clause was made that these be compatible with the future Austrian constitution.98 In the next weeks the conservative Bohemian nobility tried to establish a provisional government in Prague in coalition with the 93 Friedrich Walter, Die Österreichische Zentralverwaltung (ÖZV), part 3  : Von der Märzrevolution 1848 bis zur Dezemberverfassung 1867, vol. 1  : Die Geschichte der Ministerien Kolowrat […], Vienna, 1964, pp. 2–18  ; Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte [note 21], pp. 346–8. 94 Text of Fundamental Laws of April  : Edmund Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, 2nd edn., Vienna 1911, p. 78–100. 95 History of events  : Kiszling, Revolution [note 69], vol. 1, pp.  67–86, 161–74, 217–36  ; vol. 2, pp.  1–119, 161–302. For the problems concerning the application of the national state model to the kingdom of Hungaria cf. Ludwig Gogolak, Ungarns Nationalitätengesetze und das Problem des magyarischen National- und Zentralstaates, in  : Wandruszka and Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie, vol. 3,2 [note 16], pp. 1207–1303. 96 Kiszling, Revolution, op. cit., vol. 1, pp. 86–122, 174–201 97 Ibid., vol. 1, pp. 66–7. 98 Prinz, Prag und Wien 1848 [note 36], pp. 16–30.

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Czechs  ;99 but then the nationality conflicts escalated to the Pentecost rebellion and to military suppression (as already mentioned above), putting an end to all policy-making under the stage of siege. In Vienna itself the weak bureaucratic central government was pressed by several lower-class and student riots, made concessions to all sides and strove to keep a minimum of authority. It was placed in a very difficult position when the Emperor and the Court fled to Innsbruck, later to the fortress of Olmütz, and began to follow an informal separate policy together with the military. In terms of power-politics the most important fact within this entire development was, that – except for Hungary – the Imperial Army in the north and the south, although multinationally composed, remained an intact instrument in the hands of the staff.100 Nevertheless the government did its best to maintain the integrity of the Cisleithanian Habsburg state and to fulfil its promise for a central constitution. In relation to Frankfurt, the order to issue elections for the Paulskirche was obeyed, but from the beginning and repeatedly there­after Vienna formally stated that all Frankfurt decisions and legislation had to be approved by the government if they were to be valid in Austria.101 That meant that the constituent power of the National Assembly, according to the doctrine of people‘s sovereignty, was denied. Against Frankfurt, Vienna drew up its own policy of constitutional integration  ; firstly by convoking the existing provincial diets, which were to elaborate drafts modernising the provincial constitutions, and secondly by providing for a representative system in the centre.102 We have to set aside here the work of the provincial diets, although it would be very interesting to examine how they faced up to the inner-provincial nationality problems.103 In the centre, the government was anxious to produce a fait accompli by quick action  : already at the end of April a constitution for the Austrian Empire except Hungary and Lombardy-Venetia was imposed by decree. This charter followed the classic scheme of  99 Ibid. pp. 31–67  ; Burian, Nationalitäten [note 61], pp. 52–75. 100 The fact that only the army had saved the continuance of the Habsburg realm was one of the basic experiences for the formation of the coming neo-absolutist policy and for the specific self-consciousness of the military. Antonio Schmidt-Brentano, Die Armee in Österreich. Militär, Staat und Gesellschaft 1818–1867, Boppard 1975. 101 Prinz, Prag und Wien, op. cit., p. 33  ; Kiszling, Revolution, op. cit., vol. 1, pp. 123–4. 102 Burian, Nationalitäten, op. cit., pp. 27–8  ; Karl Hugelmann, Der ständische Zentralausschuss in Osterreich im April 1848, in  : Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 12, 1913, Vienna 1914, pp. 170–260. 103 This is the main object of Burian’s book Nationalitäten, op. cit., chap. 3.

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constitutional monarchy by establishing distribution of the functions of power and a two chamber representation on a census basis of members. Reading it you would not get the idea that the state was multinational in composition. It implied the fiction that there was an Austrian political nation only divided into social classes according to the Western constitutional model.104 The decree did not fulfil its purpose of stabilising the political situation  ; intimidated by riots by the radical Viennese students, the government cancelled the charter and issued writs of election for an Austrian constituent assembly based on a broad franchise.105 In these elections all the Cisleithanian nationalities took part, and the Czechs in particular, after their previous frustrations, came around to acknowledge central representative institutions.106 In Austrian history this was a very important moment  ; it was the first and was to be the last constituent assembly the realm ever had. In contrast with the German assembly in Frankfurt, its convocation implied the assumption that the inhabitants of the Austrian countries could act as a political nation, i.e. as a competent sovereign.107 The Frankfurt Assembly and the Viennese Assembly were of course incompatible in terms of the theory of constituent power. In the eyes of the rural constituencies the abolition of the manorial system was the main task of the coming assembly. To this end they elected peasant deputies, many of whom had low educational standards.108 When this truly democratic parliament was opened in July it turned out that about a quarter of the deputies did not understand German. Nobody had paid attention to that possibility before, and consequently conflicting debates marked the opening session. But the representatives in general were very interested in successful proceedings and constructive results, partly for the social legislation just mentioned, partly for stabilising the realm on a federated basis. So a pragmatic and improvised solution of the language question was found, which, however, in historical perspective was in fact detrimental to the classic concept of integrated parlia104 Hellbling, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte [note 21], pp. 348–9  ; Burian, Nationalitäten, op. cit., pp. 28–34  ; Bernatzik, Österreichische Verfassungsgesetze [note 94], pp. 101–10. 105 For events Kiszling, Revolution, op. cit., vol. 1, pp. 128–60. Problems of franchise  : Burian, Nationalitäten, op. cit., pp. 34–40. 106 One of the Czech leaders later confessed, that the Czechs would not have come if they had succeeded to establish the all-Bohemian diet and government, Burian, op. cit., p. 75, note 134. 107 Harm-Hinrich Brandt, Parlamentarismus als staatliches Integrationsproblem  : Die Habs­bur­ ger-­Monarchie, in  : Adolf M. Birke and Kurt Kluxen (eds.), Deutscher und Britischer Parla­ mentarismus/British and German Parlamentarism, Munich 1985, pp. 69–105, here pp. 76–7. 108 Roman Rozdolsky, Die Bauernabgeordneten im Konstituierenden Österreichischen Reichstag 1848/49, Vienna 1976.

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mentary decision-making by debate.109 Under what circumstances multilingual parliamentarism can work is a principal question of political theory, which I can only mention in passing here. The first great task the Reichstag had to cope with was the abolition of the manorial system. In September the assembly could finish legislation on this subject successfully in cooperation with the government.110 Then the entire political life of the capital was disrupted by the radical Viennese October riots. When the Reichstag was convoked again in the small town of Kremsier, the political scene had changed completely. Revolution was under military control, and a new power-conscious government was in office, which was determined only to grant a certain breathing space to the assembly.111 Under these circumstances all factions were interested in a parliamentary success by elaborating a respectable draft of a constitution. The result of the draft committee’s work, the famous Kremsierer Verfassungsentwurf,112 for the first time tried to solve the Austrian federation problem on the basis of equal rights for the nationalities. Two concepts of federation, namely federation of the historic countries or federation of ethnic units, were in competition. The Czech and German conservatives preferred the historic principle, the non-political nations and the Sudeten-Germans demanded ethnic criteria  : But the committee found a compromise  :113 the historic Länder were maintained and even strengthened by making the governors and their councillors responsible to the provincial diets in all matters concerning provincial legislation. This would have meant partial dissolution of the traditional central bureaucratic regime.114 On the other hand the power of the Länder was defined by dividing them into units formed as far as possible in conformity with ethnic settlement and provided with extensive self-government especially in all matters of education, school, language and en-

109 Vivid description in Burian, Nationalitäten, op. cit., pp. 40–7. 110 Course of legislation in Friedrich Prinz, Hans Kudlich 1823–1917, Munich 1962, pp. 88–107. 111 Walter, Österreichische Zentralverwaltung, vol. 3,1 [note 93], pp. 223–43. 112 Text in Bernatzik, Österreichische Verfassungsgesetze [note 94], pp. 115–45. Debates in Anton Springer (ed.), Protokolle des Verfassungs-Ausschusses im Österreichischen Reichstage 1848– 1949, Leipzig 1885. 113 Analysis of debates by Josef Redlich, Das Österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches, 2 vols., Leipzig 1920, 1926, vol. 1, pp. 221–323  ; Burian, Nationalitäten, op. cit., pp. 175–214  ; Kann, Nationalitätenproblem [note 15], vol. 2, pp. 29–45. 114 Kremsier draft, articles 102–109  ; Bernatzik, Österreichische Verfassungsgesetze, op. cit., pp. 123– 4  ; Hellbling, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte [note 21], pp. 349–50  ; Wilhelm Brauneder and Franz Lachmeyer, Österreichische Verfassungsgeschichte, 2nd edn., Vienna 1980, pp. 119–22.

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couragement of national culture.115 Backing this system, the catalogue of civil rights granted equal rights to all languages and nationalities.116 We can see that in Kremsier the nationality problem was conceived as a problem of regionalism. On the higher levels of representation, Landtage and central Reichstag, the existence of nationalities was ignored and the fiction of the one political nation was maintained. This was not adequate to the situation of multinationality. Some Czechs required that the parliaments be partitioned into national divisions for certain types of decision, but this was refused by the majority as incomepatible with the principle of parliamentary decision-making.117 And yet these Czechs had discovered a useful theoretical device. Parliamentary integration as a more intense level of integration produces, so to say, a certain burden of integration, consisting in the principle of majority and its toleration. The main precondition of such a toleration is homogeneity  ; what is not homogeneous cannot produce proper majorities. All parliamentary systems have produced mechanisms to protect essential matters, in which group inequalities are rooted, from the application of the majority principle  ; be it the division of estates into houses, the itio in partes of the old German Diet in all matters concerning denomination status, or a catalogue of basic rights (e.g. property rights) not subject to vote.118 The crucial point of granting equal rights to nationalities in a multinational state is not to apply the majority principle to questions of nationality. This means that the classic parliamentary system is inapplicable to such a situation. To save parliamentarism the constitutional system has to provide for instruments of a national itio in partes and for specific voting modalities concerning certain clearly defined matters. The Kremsier draft was far from such a solution  : the Habsburg Monarchy never could solve this problem, and one may question where in the world such a task has ever been tackled successfully.119 Nevertheless the mere fact that in Kremsier the repre115 Kremsier draft, articles 123–129 in connection with art. 3 and art. 112  ; Bernatzik, Österreichische Verfassungsgestetze, op. cit., pp. 116, 125, 127. 116 Draft of basic rights, art. 21 in connection with art. 139 constitution draft (supreme court). Ibid, pp.  129, 142  ; Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848–1918, in  : Wandruszka and Urbanitsch (eds.), Habsburgermonarchie, vol. 3,2 [note 16], pp. 975–1206, here pp. 975–86. 117 Burian, Nationalitäten, op. cit., pp. 188–90, 196–7. 118 Cf. Brandt, Parlamentarismus [note 107], pp. 77–80  ; Ulrich Scheuner, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in  : Eugen D. Graue and Günther Jakobs (eds.), Rechtsgeltung und Konsens, Berlin 1976, pp. 33–68. 119 Later attempts, especially the introduction of curias in the diets of Moravia 1905, Bukowina 1910, Galicia 1914  : Stourzh in Wandruszka and Urbanitsch, Hahsburgermonarchie 3,2, op. cit.,

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sentatives of the nations were able at all to find a constitutional compromise was such a valuable political achievement that the government would have done well to seek agreement with the constituent assembly. However, constitutionmaking in Kremsier did not include Hungary and Lombardy-Venetia, and the deputies only expressed their hope and expectation that a constitutional agreement covering all parts of the realm could be attained by their accession to it.120 Of course this would have meant a new and even more complicated transaction, especially with the Magyars. But in March 1849 the Imperial government gave up the attempt to create a constitution by agreement and returned to military conquest and autocratic rule. After a period of transition monarchic absolutism was restored formally as well.121 This may lead us to some conclusions about the failure of the Central European Revolution in 1849. Regarding this failure in terms of integration processes, the causes prove to be different in the German and in the Austrian case. In Frankfurt the task was not reforming the constitution of an existing state, but state formation itself. Now, modern European history seems to me to show in general that the normal path of political integration is secondary parliamentarisation of an already established monarchic unit or collective separation from a primary established monarchic unit. There is no example of parliamentary state-building in a void and at the cost of existing sovereign states, and Germany is no exception to that principle. Actually German as well as Italian national unification resulted from conquest or domination by the most powerful state. In Austria, on the other hand, there was a monarchically preformed unit which had not sufficient socio-political homogeneity to enforce parliamentarisation upon the monarch. Between the heterogeneous nationalities there were fields of conflict as well as fields of consent, but the balance between them was so precarious, that active obstetrics practised by a sympathetic dynasty would have been necessary to promote government by consent. The political and mental tradition of the House of Habsburg of course displayed differrent values, and especially in 1848 and 1849 fears of revolutionary deprivation of the dynasty prevailed. So the realm fell back to the niveau of absolutism. Earlier in this paper I made use of the idea that there pp. 1158–60, 1167–86. Description and analysis of the various reform ideas is the main object of Kann, Nationalitätenproblem [note 15], vol. 2. 120 Kremsier draft, article 6  ; Bernatzik, Österreichische Verfassungsgesetze, op. cit., p. 116. For respective aspirations cf. Rudolf Wierer, Der Föderalismus im Donauraum, Graz and Cologne 1960, p. 47. 121 Comprehensive descriptions in Walter, Österreichische Zentralverwaltung 3,1 [note 93], pp. 284–579.

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The Revolution of 1848 and the Problem of Central European Nationalities

is a specific burden vested in parliamentary integration. Sometimes and under certain circumstances dictatorship may provide alleviating functions for conflicting parties unable to tolerate that burden of integration.

Liberalismus in Österreich zwischen Revolution und Großer Depression Allgemeine Bemerkungen Der österreichische Liberalismus fügt sich nach Ideologie, sozialer Basis und zeitlichem Ablauf seines Entstehens, Höhepunktes und Niederganges in der Gesamttendenz, jedoch bei insgesamt schwächerer Ausbildung in das allgemeine europäische Bild. In Abgrenzung zum europäischen Westen hat er mit dem deutschen Liberalismus einige wichtige Besonderheiten gemeinsam, die sich aus den stark etatistisch geprägten Rahmenbedingungen für die gesellschaftlichen und politischen Prozesse ergeben. Besonderheiten, die wiederum den österreichischen vom übrigen deutschen Liberalismus unterscheiden, folgen dem allgemeineuropäischen West-Ost-Gefälle der Entwicklung des Bürgertums  ; sie sind zudem eine Konsequenz aus der Multinationalität des Habsburgerreiches und der mit ihr zusammenhängenden geringeren sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Integration in der Ausgangslage.1 Für den gesamten deutsch-mitteleuropäischen Raum gilt, dass die staatlich-­ politische Integration mit ihren auch gesellschaftlich modernisierenden Komponenten seit dem 18. Jahrhundert monarchisch-militärisch und monarchisch-bürokratisch bewirkt wurde, dass dank monarchischer Machtbehauptung einerseits und bürokratisch gelenkter Modernisierungsleistung andererseits die Führungsund Gestaltungskompetenz dieser Institutionen auch im Übergang zum konstitutionellen Zeitalter niemals ernsthaft bestritten und erschüttert worden ist, und dass daher die Konstitutionalisierung mit der Einführung moderner Vertretungskörperschaften eine sekundäre Ergänzung und leichte Modifikation des gegebenen Systems, nicht aber einen grundlegenden Wandel seiner Struktur be1 Zum Zusammenhang von ökonomischer und kultureller Entwicklung, sozialer ­Mobilisierung, Kommunikation und nationaler Integration immer noch die Arbeiten von Karl W. Deutsch  : Ders., Soziale Mobilisierung und politische Entwicklung, zuletzt in  : Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln 1969, S. 329–350  ; ders., Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, Düsseldorf 1972. Zur Habsburgermonarchie grundsätzlich Richard Georg Plaschka, Arnold Suppan, Horst Haselsteiner  : Zum Begriff des Nationalismus und zu seinen Strukturen in Südosteuropa im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in  : Österr. Osthefte 20 (1978), S. 48–78  ; Robert A. Kann, Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918. Eine Zusammenfassung, in  : Adam Wandruszka u. Peter Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburger-Monarchie 1848–1918, Bd. 3,1 u. 2  : Die Völker des Reiches, Wien 1980, Bd. 3,2, S. 1304–1338.

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deutet. Die Konsequenzen dieser Rahmenbedingungen für die Ausformung der politischen Kultur sind geläufig  : Die aufgeklärt-absolutistische Bürokratie, personell ein Amalgam adeliger und bürgerlicher Staatsdiener mit juristisch-kameralistischer Ausbildung, wird zum wichtigsten Austragungsort gesellschaftlicher Interessenkonflikte  ; hier vollzieht sich in diesem Zusammenhang ein wichtiger Teil der Rezeption von Ideologemen und Theoremen mit der Herausbildung gouvernemental-konservativer und gouvernemental-liberaler (d. h. jeweils etatistisch gebremster) Parteirichtungen. Der umstrittene »Beamtenliberalismus« hat hier seinen Platz als eine Frühform liberaler Bewegung, die im Wesentlichen in dem Einbau wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Elemente des Liberalismus in ein allgemeines Modernisierungskonzept besteht – unter Ausblendung des i.e.S. Politischen und unter der ideologischen Flagge der Trennung von Staat und Gesellschaft.2 Die Einrichtung von Parlamenten bedeutet aus dieser etatistischen Perspektive zunächst lediglich die Erweiterung des bisherigen Terrains der Auseinandersetzungen, ablesbar an der anfänglich weitgehenden Okkupation der Mandate durch Beamte im weitesten Sinne. Daneben ereignet sich im außerstaatlichen gesellschaftlichen Raum die Rezeption und Verarbeitung des politischen Liberalismus, v. a. seines individualistisch-naturrechtlichen Gehalts, im Besitz- und Bildungsbürgertum und in kleineren Teilen des Adels, parlamen­ tarisch manifest in einer zensusbestimmten Bildungsrepräsentanz mit stark juristisch-advokatorischem Einschlag  : eine früh sich latent ausdifferenzierende bürgerliche Opposition. Das verfassungspolitische Hauptresultat, das sich aus dieser Konfiguration der politischen Kräfte und ihrer konfliktreichen parlamentarischen und außerparlamentarischen Interaktion bis etwa zum Ende des zweiten Jahrhundertdrittels ergibt, besteht – bei überwiegender Fernhaltung auch des gemäßigt liberalen Bürgertums von der politischen Macht – in der Bestätigung der Kronprärogativen und des monarchisch-bürokratischen Institutionenstaates bei Einbau legislatorischer Mitwirkungsrechte und Sperrpositionen, sodann besteht es – im Rahmen der konzeptionell weiterhin gültigen Trennung von Staat 2 Im Rahmen der Liberalismusdebatte auf dem Deutschen Historikertag 1974 in Braunschweig ist das Phänomen des »bürokratischen Liberalismus« (nach »politischer Absicht und Funktion vermittelnd zwischen dem Aufgeklärten Absolutismus und dem konstitutionellen Liberalismus« stehend) besonders von Karl-Georg Faber hervorgehoben worden. Vgl. ders., Strukturprobleme des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in  : Der Staat 14 (1975), S. 201–227, Zitat S. 211. Auf der Bielefelder Tagung hat insbesondere Barbara Vogel den Beamtenliberalismus zum Gegenstand der Analyse gemacht. Ihr Beitrag im Tagungsband  : Beamtenliberalismus in der Napoleonischen Ära, in  : Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 45–63. Vf. teilt ihre Linie der Bewertung.

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und Gesellschaft – in der Wesensbestimmung dieses Staates als Rechtsstaat auf individualrechtlichen Grundlagen unter Zurückdrängung polizeistaatlicher Bestände und auch intermediär-korporativer Gewalten älterer Herkunft.3 Die differenzierende Einordnung Österreichs in dieses Schema hat schon angesprochene Phänomene relativer Rückständigkeit sowie die Multinationalität und das darin verwobene Fortleben des Kronland-Partikularismus zu beachten und gewinnt ihren historischen Ausgangspunkt darin, dass die alte monarchische Union von Ständestaaten relativ spät, dann aber unter Josef II. mit vehement antifeudaler Reformtendenz im Sinne moderner Staatlichkeit bürokratisch integriert wird.4 (Dies gelingt nicht gegenüber Ungarn  ; von dessen erheblich abweichenden Verhältnissen wird hier abgesehen.) Der Staatsdienst wird zum wichtigsten Feld bürgerlichen Aufstiegs und einer deutsch bestimmten kulturellen Assimilation, der »Josefinismus« zur bestimmenden Ideologie reformerischer Orientierung, die in der langen Phase des feudalen bzw. gouvernemental-konservativen Rückschlages von 1792 bis 1848 zurückgedrängt wird, aber ›überwintert‹.5 Daneben entwickelt sich, auf der Basis einer insgesamt spärlichen Urbanisierung und inmitten einer weithin bäuerlich-grundherrschaftlich bestimmten 3 Diese Grundtatbestände der deutsch-mitteleuropäischen Verfassungsentwicklung bis zur Reichsgründungszeit bzw. zum österreichisch-ungarischen Ausgleich sind selbstverständlich geläufig. Ihre Relevanz als Rahmenbedingung für das politische Verhalten der Liberalen, insbesondere des gemäßigten Liberalismus, wird, soweit ich sehe, in der gegenwärtigen Liberalismusdiskussion nicht besonders stark beachtet. Für die im Vordergrund des Interesses stehende sozialökonomische Perspektive der Geschichte des Liberalismus gewinnt der etatistische Aspekt  – nicht als konstitutives, wohl aber als modales Element  – jedoch gerade dann an Bedeutung, wenn es um die Begründung der Entwicklungsunterschiede der europäischen Liberalismen geht. 4 Unter Josefinismus wird hier, der österreichischen Tradition folgend, über den kirchenpolitischen und kirchenrechtlichen Aspekt hinaus der Gesamtkomplex der von der Aufklärung getragenen politischen und sozialen Reformen unter Josef  II. verstanden. Zur administrativen Integration Friedrich Walter (Bearb.), Die österreichische Zentralverwaltung, Abteilung 2 (1749–1848), Bd.  1,2, Wien 1950, S.  1–69. Zur Sozialpolitik besonders eindringlich Roman Rozdolski, Die große Steuer- und Agrarreform Josefs II., Warschau 1961. 5 Differenzierender überblick bei Georg Franz, Liberalismus. Die deutschliberale Bewegung in der Habsburgischen Monarchie, München 1955, S. 11–41, 142 ff. Zur Bürokratie die instruktiven zeitgenössischen Schilderungen von Ignaz Beidtel, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung 1740–1848, aus dem Nachlass hg. v. Alfons Huber, 2 Bde., Innsbruck 1896, 1898, Repr. 1968, insbes. Bd. 1, Abtlg. 2 (Kaiser Josef II.)  ; Bd. 2 (Kaiser Franz u. Ferdinand) mit massiver Systemkritik u. Adelskritik passim. Vgl. Waltraud Heindl, Die österreichische Bürokratie. Zwischen deutscher Vorherrschaft und österreichischer Staatsidee (Vormärz und Neoabsolutismus), in  : Heinrich Lutz u. Helmut Rumpler (Hgg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politisch-staatlichen und sozio-kulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa, Wien 1982, S. 73–91.

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Sozial­struktur, ein bürgerliches Unternehmertum ebenfalls deutsch-kulturellen Zuschnitts.6 Beide Bereiche, Staatsdienst und Wirtschaftsbürgertum, stellen ein Assimilationsangebot an nichtdeutsche Aufsteiger dar, sind aber numerisch bei weitem zu schmal, um auch nur im entferntesten ein Integrationsvehikel mit einer ›nationalen‹ Perspektive abgeben zu können. Damit bleibt auch die B ­ asis für einen individualrechtlich orientierten bürgerlichen Liberalismus schwach. Im Gegenteil entfalten sich im Vormärz die Emanzipationsbestrebungen der Nationalitäten gerade in Abwehr josefinischer Überformungstendenzen unter Rückgriff auf identitätsbestätigende Volkstumstheorien mit gelegentlichem demokratischen Einschlag, vor allem aber unter konservativer Patronanz.7 In welcher Weise sich unter den Bedingungen des vormärzlichen Polizei- und Zensurstaates liberales Gedankengut verbreitet und Opposition formiert, ist Gegenstand eines eigenen Tagungsbeitrages.8 Der Neoabsolutismus und seine gouvernemental-liberalen Elemente Die Revolution der Jahre 1848/49 bringt das unter der Decke gehaltene österreichische Staats- und Reichsproblem explosionsartig an die Oberfläche. Ihre historische Bedeutung liegt darin, die Verfassungsfrage in ihrer ganzen Schärfe bewusst gemacht, nicht, sie einer Lösung näher gebracht zu haben. Nach den Märztagen geht der erste Versuch, Cisleithanien durch einen Verfassungsoktroi zu stabilisieren, der aus bürokratisch-josefinischem Geist das Schema der konstitutionellen Monarchie deutschen Typs (starke Stellung des Monarchen, 6 Josef Mentschl, Das österreichische Unternehmertum, in  : Wandruszka u. Urbanitsch (Hgg. ), Die Habsburger-Monarchie [Anm. 1], Bd. 1  : Alois Brusatti (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien 1973, S. 250–277  ; Herbert Matis, Der österreichische Unternehmer, in  : Karl-H. Manegold (Hg.), Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. Studien zur Geschichte. Wilhelm Treue zum 60. Geburtstag, München 1969, S. 286–298. 7 Hierzu die Überblicksdarstellungen zu den politisch-kulturellen Bewegungen der einzelnen Völker bei Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, 2 Bde., Graz/Köln 2 1964, Bd. 1  : Kap. 3,1  ; 4,2  ; 5,1  ; 5,2  ; 7,3  ; 9–13 passim. Grundsätzliche Erwägungen zu den integrationsfeindlichen Wirkungen der deutsch-zentralistischen Bürokratie in der theresianisch-josefinischen Tradition bei Karl Megner, Beamte. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des k.k. Beamtentums, Wien 1985, Kap. 14 (Staatsbeamtentum und Nationalismus). Vgl. auch die knappen und treffenden Bemerkungen bei Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1985, S. 413–421 (Der Sieg der »Nation«). 8 Vgl. Klaus Koch, Frühliberalismus in Österreich bis zum Vorabend der 48er-Revolution, in  : Langewiesche, Liberalismus [Anm. 2], S. 64–70.

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Zentralparlament, hinkende Gewaltenteilung) auf der Basis einer a-national gedachten Zensusrepräsentation nach Österreich überträgt, im aufbrechenden Nationalitätenkampf und im Strudel der Radikalisierung Wiens unter.9 Der zweite Versuch, mittels einer auf breitem Wahlrecht ruhenden Konstituante »die Völker« selbst über ihre bürgerlichen, kleinbürgerlichen und bäuerlichen Repräsentanten zu Partnern eines Verfassungskompromisses zu machen (ein Unikat in der Geschichte Österreichs), führt mit dem Kremsierer Verfassungsentwurf tatsächlich zu einem interessanten Versuch, den klassischen westlichen Konstitutionalismus (diesmal mit Voranstellung des Prinzips der Volkssouveränität, schwächerer Stellung der Krone, egalitären Tendenzen v. a. im Grundrechtskatalog) und seine individualrechtlichen Grundlagen mit dem Gedanken des kollektiven Nationalitätenschutzes auf Selbstverwaltungsbasis zu verknüpfen.10 In historischer Perspektive ist für den Fortgang der Geschichte der Habsburger­ Monarchie aber entscheidend, dass die Konstellation der Kräfte und das Werk des Wien-Kremsierer Reichstages Episode bleiben. Von keiner Seite, namentlich auch vom deutsch-liberalen Bürgertum nicht, sollte in Cisleithanien in der späteren nachabsolutistischen Verfassungspolitik auf den damaligen Ansatz zurückgegriffen werden, um ein liberal-konstitutionelles Verfassungsprogramm auf einer breiten gesellschaftlichen Basis und im Kompromiss mit den Nationalitäten durchzusetzen zu versuchen. In der aktuellen Situation hat der Kremsierer Entwurf keine Chance der Verwirklichung, da die Krone und die Exponenten der maßgebenden politischen Eliten sich an seinem Zustandekommen nicht beteiligen, und da die Krone zugleich die militärische Macht hat, die Erosion der isolierten gouvernemental-liberalen Regierungen abzuwarten und die Radikalisierung für den Konfrontationskurs zu nutzen. Der auf diese Weise formierte Militär- und Machtstaat bedarf jedoch zu seiner Selbsterhaltung der durchgreifenden Modernisierung des rückständigen Reichsgebildes. Über diese dialektische Vermittlung gehen wesentliche Initiativen wieder auf die Reformbürokratie über, und damit kommen spezifisch josefinische Elemente einer liberalisierenden Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik erneut zur Geltung. Als Antwort auf die Revolution und die durch sie ausgelösten Konflikte, Integrations- und Modernisierungsprobleme zeigt der Neoabsolutismus (1849–59) ein Doppelgesicht, das bereits in der Zusammensetzung  9 Harm-Hinrich Brandt, Parlamentarismus als staatliches Integrationsproblem. Die Habsburger-­ Monarchie, in  : Adolf M. Birke u. Kurt Kluxen (Hgg.), Deutscher und Britischer Parlamentarismus, München 1985, S. 69–105, hier S.75 f. 10 Vgl. op. cit., S. 76–83, mit Lit.

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des Ministeriums Schwarzenberg als »Koalitionsministerium« (so zeitgenössisch J. A. v. Hübner11) zum Ausdruck kommt. Einerseits orientieren sich Hof und Militärpartei an einem extensiv ausgelegten Feindbild von »Revolution« für den Aufbau eines polizeilichen und militärischen Repressionssystems gegen jedwede politische Betätigung und politische Öffentlichkeit.12 Man benutzt den Verfassungsoktroi von März 1849 als taktisches Auskunftsmittel, um nach gemessener Zeit zum reinen Absolutismus zurückzukehren (31.12.1851), der sich jetzt freilich von den Resten feudaler Stützen löst und einem nackten Bürokratismus folgt. zugleich wird das Bündnis der katholischen Kirche gesucht  ; diesem Zweck werden im Konkordat von 1855 wesentliche Positionen des josefinischen Staatskirchensystems geopfert.13 Damit verbindet sich andererseits das Bedürfnis nach umfassender institutioneller, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Modernisierung, phasenverschoben etwa der napoleonischen Reformperiode in Deutschland vergleichbar. In diesem Rahmen wird die »josefinische« bürokratische Reformtradition, die in Restauration und Vormärz stillgelegt worden war, reaktiviert  ; damit erfahren die Liberalisierungstendenzen unterhalb der Schwelle des ›Politischen‹, wie dies schon für Josef II. selbst charakteristisch war, eine zeitbedingt modifizierte Wiederbelebung.14 In der ersten Phase des nachrevolutionären einheitsstaatlichen Experiments (1849–1851) wird aus dem Koalitionsministerium heraus unter Führung des freisinnigen Innenministers Graf Stadion der ernsthafte Versuch gemacht, den neuen Zentralismus zugleich konstitutionell zu bestimmen. Obwohl die Verfassung von 1849 unausgeführt blieb, legt sie mit ihrer charakteristischen Verknüpfung von josefinisch-bürokratischer Tradition und Liberalismus einen wichtigen 11 Josef Alexander v. Hübner, Ein Jahr meines Lebens 1848–1849, Leipzig 1891, S. 300. 12 So vor allem der junge Kaiser  ; die Überzeugungen der konstitutionellen Minister sind mehr oder weniger elastisch  ; Schwarzenbergs Haltung ist umstritten. Hierzu zuletzt Helmut Rumpler, Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848–1867, Einleitungsband, Wien 1970, S. 30 ff. 13 Zum Konkordat Erika Weinzierl-Fischer, Die österreichischen Konkordate von 1855 und 1933, Wien 1960  ; Peter Leisching, Die Römisch-Katholische Kirche in Cisleithanien, in  : Wandruszka u. Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburger-Monarchie [Anm. 1], Bd. 4  : Die Konfessionen, Wien 1985, S. 1–247, hier S. 25–34. 14 Charakterisierung des Doppelgesichts des Neoabsolutismus bei Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde. Göttingen 1978, Bd. 1, Kap. 3,1. Die wirtschaftsliberale Komponente des Neoabsolutismus betont auch Herbert Matis, Sozioökonomische Aspekte des Liberalismus in Österreich 1848–1918, in  : Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, Göttingen 1974, S. 243–265  ; vgl. auch ders., Österreichs Wirtschaft 1848–1913, Berlin 1972, Kap.1,2.

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Grundstein für das spezifisch österreichische liberale Denken der nachabsolutistischen Zeit. Stadion wollte den traditionellen Kronland-Föderalismus über die straff hier­archisch organisierte Bürokratie hinaus durch die Schaffung eines a-national konzipierten Reichsparlaments auf der Basis eines Hochzensuswahlrechtes bre­chen, wobei dem Monarchen und seiner Exekutive eine sehr starke Position eingeräumt ist. Komplementär dazu sollte den regionalen und multinationalen Belangen durch den Ausbau von Selbstverwaltungsrechten auf gemeindlicher und bezirklicher Ebene Rechnung getragen werden, wobei spezifisch feudale Ansprüche auf Herrschaftsrestauration unbeachtet bleiben, dafür das Besitzinteresse zur Grundlage der Repräsentativorgane gemacht wird (Dreiklassenwahlrecht). Ein Grundrechtskatalog, innerhalb dessen die Gleichberechtigung der Nationen als individualrechtlicher Anspruch auf Pflege und kommunikative Beachtung von Sprache und Kultur gewährleistet wird, sichert den Rechtsstaat unter Beachtung der spezifisch österreichischen Situation.15 Mit dem formellen Widerruf der unausgeführten Verfassung bleibt als Resultat der nachrevolutionären Formveränderung eine in den Kommunalbereich vordringenden staatlichen Bürokratie, deren Spitzen die Selbstverwaltungspläne und Repräsentationsprobleme angesichts wachsender altkonservativer Interventionen unentschlossen weiterverfolgen und ohne Resultat vor sich herschieben  ; erst ab 1859 werden diese Tendenzen wieder freigesetzt.16 Dafür entfaltet sich die Reformbürokratie im Bereich der materiellen ­Sozialund Wirtschaftsgesetzgebung umso kräftiger, wobei liberale Gehalte deutlich Eingang finden. Der Einbruch des Wirtschaftsliberalismus erfolgt freilich durchaus nicht ungebremst  ; die von Revolutionsfurcht genährte innenpolitische Ruhebedürftigkeit sensibilisiert das autokratische System vielmehr immer dann, wenn die liberalen Tendenzen die materiellen Besitzstände der bäuerlichen und mittelständischen Massen berühren. Aber auch die an Protektionismus gewöhn15 Text bei Edmund Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, Wien 1911, S. 146–201. Analyse bei Hanns Schlitter, Versäumte Gelegenheiten. Die oktroyierte Verfassung vom 4. März 1849. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Zürich 1920. 16 Dazu Jiři Klabouch, Die Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848–1918, Wien 1968, S. 46 ff.; ders., Die Lokalverwaltung in Cisleithanien, in  : Wandruszka u. Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburger-Monarchie [Anm. 1], Bd. 2  : Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975, S. 274–279  ; Friedrich Walter, Österreichische Zentralverwaltung [Anm. 4], Bd. 3,1, S. 552 ff. Zum Problem der Repräsentativorgane in den Kronländern die ältere Arbeit von Karl Hugelmann, Der Übergang von den ständischen Landesverfassungen in den österreichischen Ländern zu den Landesordnungen der konstitutionellen Zeit (1848–1861) in  : Jb. f. Landeskunde Niederösterreichs, NF 20, (1926/27).

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ten Industriellen finden v. a. bei Hofe und bei den Sicherheitsorganen wie schon im Vormärz in Krisenlagen offene Ohren. Die Auseinandersetzungen hierüber verlagern sich in Ermangelung politischer Öffentlichkeit und parlamentarischen Lebens in den innerbürokratischen Bereich. Dabei sitzen die Sozialprotektionisten überwiegend im Innenministerium und im Polizeiministerium sowie in den nachgeordneten Landes-, Kreis- und Bezirksbehörden, die Befürworter einer mutigeren Liberalisierung im Finanz- und im Handelsministerium. (Eine analoge Konstellation bestand bei weit schwächerer Liberalisierungstendenz schon vormärzlich zwischen Hofkanzlei und Hofkammer).17 Die »liberal«-bürokratische Gruppierung wird seit 1849 verstärkt durch Import aus Deutschland  : Der Handels- und Finanzminister v. Bruck, Elberfelder Protestant kleinbürgerlicher Herkunft und Aufsteiger im Triestiner Seeversicherungs- und Reedereigeschäft, bringt einige deutsche Professoren und Journalisten (»fremde Freihandelsapostel«) in österreichische Ämter zur Unterstützung der Öffentlichkeitsarbeit.18 Bruck und sein Anhang sind keine Manchester-Liberalen, sondern Anhänger Friedrich Lists  ; sie verfolgen ein »nationales System« im Sinne staatlich gelenkter ›Erziehungsarbeit‹ durch dosierte zollpolitische Öffnung und gelenkten Kapitalimport zur Mobilisierung unternehmerischer Kräfte und zur Induzierung von Wachstum.19 In dieser Hinsicht bieten sie ein Musterbeispiel für den Interpretationsansatz der »economic backwardness« von A. Gerschenkron.20 Außen17 Hierzu die Darstellungen bei Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 14], Bd. 1, Kap. 4,4 und 4,6  ; zur Behördenkonstellation im Vormärz die Bemerkungen a.a.O. S. 36–40 passim   ; Johann Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie und ihrer Förderung unter Kaiser Franz  I., Wien 1914, S. 105–125. 18 Brucks Leben ausführlich bei Richard Charmatz, Minister Freiherr von Bruck. Der Vorkämpfer Mitteleuropas. Sein Lebensgang und seine Denkschriften, Leipzig 1916. Zu Brucks Protegés Dr. Gustav Höfken, Prof. Lorenz (v.) Stein, Isidor Heller u. Eduard Warrens vgl. Brandt, Neoabsolutismus, op. cit., Bd. 1, S. 281 f. und passim (vgl. Personenregister). Die feindselige Kennzeichnung in einem schutzzöllnerischen Pamphlet von 1859 im Zusammenhang mit der Rezession von 1857–1859, a.a.O. Bd. 1, S. 431. Zur Person Höfkens die stark anekdotische biographische Skizze und Dokumentation von K. Koszyk, Gustav Höfken. Ein Lebensbild aus dem 19. Jahrhundert, in  : Beitrr. z. Gesch. Dortmunds und der Grafschaft Mark 71 (1978), S. 5–71, 72–118. (Gibt Einblick in die journalist. und wiss. Tätigkeit zugunsten Zollverein, Südostexpansion, Siebzigmillionenreich.) 19 Zur List-Rezeption Charmatz, Bruck, op. cit. S.  22 ff. Charakterisierung der Bruckschen Wirtschaftspolitik a.a.O., Kap. 4 passim  ; Matis, Österreichs Wirtschaft [Anm.  15], S.  47 ff., 53 ff., 115 ff.; Brandt, Neoabsolutismus, op. cit., über Personenregister Bd. 2, S. 1187. 20 Alexander Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, New York 1962  ; vgl. auch Herbert Matis u. Karl Bachinger, Österreichs industrielle Entwicklung, in  : Wandruszka u. Urbanitsch, Habsburger-Monarchie, Bd.  1 [Anm.  6], S.  110 ff. Allg. Überlegungen bei Josef

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politisch verficht Bruck ein Programm gesamtdeutsch-gesamtösterreichischer Einigung unter östereichischer Führung mit stark ökonomischem Akzent  : ein deutsch geführtes Mitteleuropa, von zivilisatorischem Sendungsbewusstsein getragen, mit Stoßrichtung Südost über Donauländer und Balkan in die Levante, aber auch mit einer Penetration Italiens. Es handelt sich um Tendenzen eines »liberalen Imperialismus«, der mutatis mutandis im wilhelminischen Deutschland Geltung erlangt und um die Weltkriegszeit nicht zufällig zur publizistischen Wiederentdeckung des »Vorkämpfers« Bruck führt.21 Die tatsächlichen reformerischen Leistungen der allgemeinen Innenverwaltung sowie der Finanz- und Wirtschaftsverwaltung beziehen sich zunächst einmal auf die Erfüllung von Nachholbedarf nach ca. 50jähriger Verschleppung  : Grund­ ent­­­lastung einschließlich der Folgegesetzgebung und Beseitigung patrimonialer Herrschaft, d. h. Herstellung einer rechtlich homogenen Staatsbürgergesellschaft auf der Basis von Freiheit (i.S. privat­rechtlicher Dispositionsfreiheit) und Eigentum, abgesichert durch die neue Institution des Reichsbürgerrechts und das darauf fußende Recht der Niederlassung und des Eigentumerwerbs, für die Juden bezeichnenderweise partiell wieder eingeschränkt. Im Bereich der Finanz- und Wirtschaftsverwaltung wird die Gleichmäßigkeit der Besteuerung hergestellt, der von Zwischenzöllen freie einheitliche Binnenmarkt geschaffen, das außenwirtschaftliche Prohibitivsystem durch das Schutzzollsystem ersetzt und ein Programm planmäßiger Tarifsenkungen eingeleitet, die Einrichtung der Handels­kammern nach Österreich übertragen.22 Das im Handelsministerium vorbereitete Gewerbegesetz hingegen bleibt jahrelang im Gestrüpp innerbürokratischer Auseinandersetzungen und höfischer Bedenken hängen, da über das Prinzip der Gewerbefreiheit keine Einigung zu erzielen ist  ; erst 1859 setzen Handels- und Finanzminister den Gesetzeserlass zugleich als liberales Signal durch.23 Oberhalb dieser Ebene, die v. a. das traditionelle Gewerbe berührt, wird schon ab etwa 1854 eine industriekapitalistische Gründerwelle induziert  : Mit einem Import der Gründer- und Finanzierungsmethoden des Credit Mobilier (Credit-­ Wysocki, Infrastruktur und wachsende Staatsausgaben. Das Fallbeispiel Österreich 1868–1913, Stuttgart 1975, S. 174–184. 21 So der Buchtitel von Charmatz, 1916 [Anm. 18]. Zu Mitteleuropakonzepten in der Paulskirche  : Günter Wollstein, Das »Großdeutschland« der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977, insbes. Kap.7. Zur wilhelminischen Epoche und zur Kontinuität Henry C. Meyer, Mitteleuropa in German Thought and Action 1815–1945, den Haag 1955. 22 Übersicht bei Brandt, Neoabsolutismus, op. cit., Bd. 1, S. 250–260, S. 872 ff., zur Judenfrage auch Bd. 2., S. 872 ff. 23 Op. cit., Bd. 1, S. 258 f., Bd. 2, S. 872 f.

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Anstalt, Eisenbahnprivatisierung und freigiebige Neukonzessionierung sowie Schwerindustrie auf Aktienbasis) und der Gewinnung westeuropäisch-deutschen Investitionskapitals wird ein ansehnlicher Industrialisierungsschub erreicht, der unter Bruck mit interventionistischen Praktiken abgestützt wird. Dabei gelingt es, die traditionell der Staatsfinanzierung zugewandte Wiener jüdische Hochfinanz auch auf die neuen industriewirtschaftlichen Aktivitäten hinzuorientieren. Der fortgeschrittene Teil der schon früher entwickelten Schwerindustrie, Metallverarbeitung und Textilindustrie wird in den Expansionsprozess hineingezogen  ; auch Teile des Großgrundbesitzes profitieren von der steigenden Nachfrage insgesamt und durch den Aufbau landwirtschaftlicher Nebenindustrien (Zucker, Alkohol)  ; Adelige beteiligen sich ferner am industriellen Gründungsgeschäft.24 Mit Bezug auf unser Thema bedeutet diese Reformtätigkeit und Gründerpolitik des Neoabsolutismus in seinen sozialen und ideologischen Konsequenzen die enorme Expansion bzw. überhaupt erst das Entstehen eines industriekapitalistischen Großbürgertums (Bourgeoisie) deutscher bzw. jüdisch-deutscher Provenienz aus überwiegend österreichischer Wurzel, jedoch mit einer ansehnlichen Quote deutschen und westeuropäischen Zuzugs. Um dieses Unternehmertum herum entfalten sich die Schichten der technischen und rechtswissenschaftlichen Intelligenz, insonderheit der Advokatur, der Banken und Börse, der Journalistik mit stark jüdischem Einschlag. Zur Bürokratie bestehen enge Verbindungen mit einer Tendenz zur Verfilzung von Verwaltungsspitzen und Aufsichtsräten. Der Hochadel hat einen beachtlichen Anteil mit häufig dekorativer Funktion. Zentrum dieser Entwicklung ist mit großem Vorsprung Wien, mit einigem Abstand folgen Prag und Brünn, das Prager Becken und das deutsche Nordböhmen, sodann die Orte der alpinen Montanindustrie.25 Anders gewendet folgt der älteren bürokratischen Zentralisierung jetzt die ökonomische Zentralisierung hinsichtlich der unternehmerischen Lenkungsinstanzen, diese wie jene unter deutschen Vorzeichen. Der Industriekapitalismus ist klarerweise Nutznießer des neuen zentralistischen Einheitsreiches und an seinem Fortbestand interessiert. Damit verbinden sich – in Fortführung der älteren Tradition – weiterhin ein Hang zu außenwirtschaftlichem Protektionis24 Op. cit., Bd. 1, Kap. 4 passim  ; Matis, Österreichs Wirtschaft 1848–1913 [Anm. 14], S. 64–282, hier 106–127 passim. 25 Angaben u. Schilderungen bei Franz, Liberalismus [Anm. 5], Abschnitt »Die Träger der liberalen Bewegung« passim  ; ferner Brandt, Neoabsolutismus, op. cit., Kap. 4,4 passim. Zur außerösterreichischen Herkunft auch Mentschl, Unternehmertum [Anm.  6], S.  253 ff. Vgl. auch Matis, Österreichs Wirtschaft 1848–1913[Anm. 14], Kap. 1,3  : Der österreichische Unternehmer. Erscheinungsbild, Repräsentanten und sozialpsychologische Wesenszüge.

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mus und die Abneigung gegen eine Öffnung zum Zollverein, dem man sich nicht gewachsen fühlt. Die Großindustrie folgt Bruck in seinen hochfliegenden Mitteleuropa-Ideen und expansiven Plänen durchweg nicht und behindert ihn wie seine Nachfolger vor allem in Krisen über direkte Interventionen bei Hofe mit sozialpolitischen Argumenten (Arbeitslosigkeit, Revolution, Schutz der vaterländischen Arbeit). Man sucht sich auf dem österreichischen Binnenmarkt einzurichten und diesen entsprechend zu schützen.26 Der Wirtschaftsliberalismus wird nur in seinen binnenwirtschaftlichen Aspekten (Faktormobilität, Rechtseinheit, liberales Arbeitsvertragsprinzip unter Verbot von Koalitionen im Gewerbegesetz von 185927) angenommen. Mit der tendenziell geringen Risikofreude dieser Klasse verbindet sich im mentalen Bereich die Bereitschaft zur Integration in die Residenzkultur bei Teilhabe an der freigiebigen, bisher vornehmlich dem Militär und der Bürokratie zugutegekommenen Nobilitierungspraxis. In letzterer Hinsicht ist eine Verwandtschaft zu preußisch-deutschen Erscheinungen (»Feudalisierung«) zweifellos vorhanden, doch sind die Akzente etwas anders gesetzt  : An die Stelle der Wertschätzung militärischer Reserve-Ränge und anderer Forschheiten tritt die Einschmelzung in die »zweite« Wiener Gesellschaft (Haute Finance, Bürokratie und Bildung) und ihr hochkultiviertes Phäakentum. Der Abstand zur engeren Hofgesellschaft des hohen Reichsadels bleibt signifikant.28 Die Verfassungspolitik 1859–67  : vom semi-konstitutionell verbrämten Absolutismus zur konstitutionellen Monarchie Der exorbitante Militärhaushalt und die dadurch bedingte strukturelle Finanzmisere waren seit 1849 von innerbürokratischer Kritik begleitet worden und führten schon 1858 zu internen Diskussionen um die Institutionalisierung einer 26 Das Auseinandertreten von politischem und ökonomischem Liberalismus ist die zentrale These von Herbert Matis  ; vgl. auch ders., Sozioökonomische Aspekte des Liberalismus in Österreich, in  : Sozialgeschichte Heute [Anm.  14]. Dem ist unter der Präzisierung zuzustimmen, dass die antiwirtschaftsliberalen Vorbehalte des Industriebürgertums sich auf die Außenwirtschaftspolitik beziehen. Für die Zeit des Neoabsolutismus v. a. die Auseinandersetzungen in der Krise von 1857  : vgl. Brandt, Neoabsolutismus, op. cit., Bd. 1, Kap. 4,6. 27 Zum Arbeits- und Sozialrecht vgl. zuletzt die knappe Skizze bei Werner Ogris, Die Rechtsentwicklung in Cisleithanien 1848–1918, in  : Wandruszka u. Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburger-Monarchie [Anm. 1], Bd. 2  : Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975, Abschn. J., S. 630–646. 28 Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1985, S. 341 f.

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Verwaltungs-, Haushalts- und Schuldenkontrolle. Mit der militärischen Niederlage von 1859 und der ihr folgenden politisch-psychologischen Vertrauenskrise verschärft sich diese Debatte und thematisiert die Verfassungsfrage, wobei die Finanzlage (Kreditwürdigkeit) als Katalysator wirkt. Zugleich wird die (durch die absolutistische Herrschaftstechnik nur zugedeckte) Opposition der magyarischen politischen Nation virulent  ; sie stellt diesen Einheitsstaat prinzipiell in Frage.29 In dieser Situation gehen josefinische Bürokratie und Großbürgertum ein Bündnis ein mit dem Ziel, den 1849 errungenen Einheitsstaat dadurch zu sichern, dass man seine Defekte (Militärwirtschaft, Dauerdefizit) durch zentral­ parlamentarische Regierungskontrolle beseitigt, ihn also durch Einfügung konstitutioneller Elemente zu stabilisieren versucht.30 Demgegenüber meldet sich der ungarische und böhmische Hochadel mit einem konservativ historisierenden Föderalisierungsprogramm zu Wort, das dem Monarchen die Aussicht eröffnet, über eine administrative Teilautonomisierung der historischen Länder unter Wiederherstellung traditioneller adeliger Führungspositionen bei Gewährung einer bescheidenen semiparlamentarischen Haushaltskontrolle im Zentrum sowohl die Zustimmung der Magyaren zu gewinnen als auch umfassende monarchische Prärogativen zu sichern, hiermit eine eigentliche Konstitutionalisierung zu verhindern und die 1849 erreichte Staatsqualität des Gesamtreiches zu bewahren.31 Für die weitere österreichische Verfassungsentwicklung ist es, wie schon Redlich32 hervorgehoben hat, von entscheidender Bedeutung, dass im Verlauf der Krise nur diese Exponenten der sozial und ökonomisch herrschenden Klassen – 29 Brandt, Neoabsolutismus, op. cit., Bd. 2, S. 746–760 und Kap. 7–8 passim. 30 Op. cit., insbes. Kap. 8,4–8,8  ; Helmut Rumpler, Der Kampf um die Kontrolle der österreichischen Staatsfinanzen 1859/60. Ein Beitrag zur Geschichte des parlamentarischen Budgetrechts, in  : Gerhard A. Ritter (Hg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, Düsseldorf 1974, S. 165–188. Grundlegend noch immer Josef Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches, 2 Bde. in 3, Leipzig 1920, 1926, Bd. 1, Abschnitte 3 u. 4. 31 Zur hochkonservativen Politik auch Walter Goldinger, Von Solferino zum Oktoberdiplom, in  : MÖSTA 3, 1950, S. 106–126. Wichtig immer noch Louis Eisenmann, Le Compromis Austro-­ Hongrois de 1867. Etude sur le Dualisme, Paris 1904. Zum Oktoberdiplom auch die wichtigen Bemerkungen bei Wilhelm Brauneder u. Franz Lachmayer, Österreichische Verfassungsgeschichte, Wien 31983, S. 137 ff., 143 ff. Zum Monarchen Fritz Fellner, Kaiser Franz Joseph und das Parlament. Materialien zur Geschichte der Innenpolitik Österreichs in den Jahren 1867–1873, in  : MÖSTA 9 (1956), S.  287–347. (Allg. Bemerkungen zum mangelnden Föderalismus a.a.O. S. 344 ff.) 32 Redlich, Staats- und Reichsproblem [Anm. 30], Bd. 1, S. 525 f.

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des adeligen Großgrundbesitzes und der deutschen Bourgeoisie  – Zugang zu dem auf Wahrung seiner Position bedachten Monarchen gewinnen. Alle unterhalb dieser Ebene befindlichen Schichten (»die Völker«, deren Exponenten den Kremsierer Verfassungskompromiss ausgehandelt hatten), sind nicht Verhandlungspartner. Plebiszitäre Erwägungen liegen dem Monarchen vollends fern. Diese Konstellation bedingt daher auch ganz wesentlich die Parteientwicklung Österreichs und die Formierung des politischen Liberalismus. In dem zähen Ringen der Jahre 1860/61 lässt sich der Monarch zunächst auf die Hochkonservativen, nach dem Scheitern des Oktoberdiploms (Finanzen, Ungarn) auf die Gouvernemental-Liberalen ein.33 Das Ergebnis ist eine zentralistische Korrektur des semi-föderalistischen Oktoberdiploms durch das Februarpatent, wobei zugleich die soziale Basis der vorgesehenen Repräsentativorgane in der Gewichtung von dem bevorzugten Großgrundbesitz ein wenig zugunsten des bürgerlichen Besitzes verschoben wird. Das Repräsentativsystem des Februar­patents ruht auf den Landtagen, das Abgeordnetenhaus des Reichsrates entsteht aus deren Delegiertenwahlen. Dieser formal föderative Aufbau wird durch die Gestaltung des Wahlrechtes, das den deutsch-zentralistischen Kräften (jedenfalls im Bereich der deutschen und böhmischen Erbländer und je nach Haltung des Großgrundbesitzes) die besseren Chancen einräumt, entscheidend relativiert. Die Gesetzgebungskompetenz der Länder ist gut entwickelt, doch bleibt die gesamte Exekutive zentralistisch-hierarchisch organisiert. Demgegenüber ist die autonome Landes- und Bezirksverwaltung dürftig ausgestaltet, dafür wird die Gemeindeselbstverwaltung (Gemeindegesetze von 1859/1862) als staatsfreie Sphäre nunmehr voll ausgebaut und mit dem Rückgriff auf Stadions Dreiklassenwahlrecht und das Wahlrecht für juristische Personen auf ein besitzorientiertes Repräsentationsprinzip gegründet. Durch die Einräumung von Virilstimmen in der Gemeindeverwaltung wird der Adel mit der (von ihm seit 1849 bekämpften) Inkorporation der Gutsbezirke ausgesöhnt. Wenngleich diese Konstruktion in den national gemischten Gebieten die deutsch-bürgerlichen Interessen begünstigt, ist aufs Ganze gesehen die Gemeindeselbstverwaltung diejenige Sphäre, in der auch dem nichtdeutschen mittleren und Kleinbürgertum ein politisches Betätigungsfeld eröffnet wird.34 33 Hierzu zuletzt Brandt, Parlamentarismus [Anm. 9], S. 89–93, mit Lit. Die eindringlichste Analyse bei Redlich, Staats- und Reichsproblem, op. cit., Bd. 1, S. 768–808. 34 Zur Gemeindeverwaltung vgl. die Entwicklungsskizze und die Bewertungen bei Jiři Klabouch, Die Lokalverwaltung in Cisleithanien, in  : Wandruszka u. Urbanitsch (Hgg.), Habsburger-Monarchie Bd. 2 [Anm. 27], S. 292 ff.

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Die politisch weit wichtigeren Vertretungskörperschaften auf Landesebene (mit Wirkung auf die Reichsebene) haben nach dem Februarpatent ein hochartifizielles neoständisches Kurienwahlrecht (Virilstimmen, dann Kurie der Grundbesitzer, der Handelskammern, der Städte, der Landgemeinden) zur Grundlage, dessen Differenzierung des Stimmengewichts die des preußischen Dreiklassenwahlrechts noch übertrifft und dessen oligarchisierender Effekt enorm ist. Die Wahlgeometrie dieses ›Schmerlingschen Wunderapparates‹ gibt der Regierung zugleich Möglichkeiten der Manipulation an die Hand, nämlich durch Beeinflussung sehr kleiner, aber extrem stimmengewichtiger Wählergruppen die Zusammensetzung der Landtage und damit des Reichsrates zu steuern. Im Übrigen ist der konstitutionelle Gehalt des Februarpatents eher bescheiden  : kein Grundrechtskatalog, die Position des Parlaments schwach und durch ein stark ausgestaltetes Notverordnungsrecht jederzeit überhaupt zur Disposition gestellt.35 Die Februarverfassung ist das Werk einer gouvernemental-liberalen Gruppe der Zentralbürokratie, die allerdings den ausgeprägten absolutistischen Behar­ rungswillen des Monarchen und die Vorgaben des Oktoberdiploms zu berücksichtigen hatte.36 Ihr Exponent Schmerling als starker Mann der Regierung sieht sich seit 1861 einem Parlament gegenüber, in dem die deutsche sog. Verfassungspartei wunschgemäß die stärkste Position innehat, das jedoch von den Ungarn boykottiert wird. Diesem Boykott aus staatsrechtlicher Fundamentalopposition schließen sich die böhmischen Hochkonservativen und in ihrem Gefolge die später sog. altčechische nationale Gruppe und die polnische Gruppe an, so dass die Verfassungspartei in dem Rumpfparlament beinahe unter sich ist. Gegenüber diesem Fundamentaldilemma des österreichischen »Staats- und Reichsproblems«, das sich in dem Misslingen der parlamentarischen Integration 35 Text bei Bernatzik [Anm. 15], Österreichische Verfassungsgesetze, S. 255–305. Zum Wahlrecht u. seinen Wirkungen Redlich, Staats- und Reichsproblem, op. cit., Bd. 1, S. 784 ff. Für die Landesverfassungen und mit Blick auf die allgemeine Relevanz des Wahlrechts jetzt paradigmatisch  : Georg Schmitz, Die Anfänge des Parlamentarismus in Niederösterreich. Landesordnung und Selbstregierung 1861–1873, Wien 1985. 36 Entstehung des Februarpatents, Konzeptionen, Verhandlungen und die daran beteiligten Spitzenbeamten, insbes. Rolle Hans v. Perthalers und Schmerlings, sowie Verfassungsgehalt ausführlich analysiert in  : Josef Redlich, Staats- und Reichsproblem [Anm. 30], Bd. 1, S. 715–781. Zum Kontinuitätsproblem Fritz Fellner, Das »Februarpatent« von 1861. Entstehung und Bedeutung, in  : MIÖG 63 (1955), S. 549–564. Zum »josefinischen« Charakter der Regierung Schmerling  : Franz, Liberalismus [Anm. 5], S. 143 f. Zur politischen Haltung Schmerlings, in der sich die Tradition der vormärzlichen ständischen Reformpolitik, gouvernemental-zentralistische und gemäßigt konstitutionelle Anschauungen mischen, vgl. die Studie von Paul Molisch, Anton v. Schmerling und der Liberalismus in Österreich, in  : Archiv f. öster. Geschichte 116/1 (1944), S. 1–59.

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manifestiert, hält die liberale Partei am Zentralismus und an der 1861 errungenen Basis der Repräsentation fest, sieht es in dieser Situation gleichwohl als ihre Hauptaufgabe an, eine weitere Konstitutionalisierung der gegebenen Verfassung (Grundrechte, Ministerverantwortungsgesetz, Einschränkung des Notverordnungsrechts) zu erkämpfen und der Regierung vorrangig oppositionell zu begegnen. Diese Vorstöße bleiben ohne Erfolg  ; das ganze Ausmaß der Schwäche des Parlamentarismus zeigt sich in dem Vorgehen des Monarchen 1865, als nach der Entlassung Schmerlings die Verfassung kurzerhand sistiert wird und die Krone autonom den Ausgleich mit Ungarn sucht, ihn 1867 findet und die unabänderliche dualistische Lösung dem wieder einberufenen (engeren) Reichsrat faktisch oktroyiert.37 Die Verfassungspartei richtet sich sehr rasch in der neuen Lage der staatlichen Zweiteilung des Reiches ein und orientiert ihren traditionellen Zentralismus nunmehr am cisleithanischen Staat. Als Preis für ihr Wohlverhalten in der Ausgleichsfrage erwirkt sie eine Transformation des Februarpatents in eine konstitutionelle Verfassung für Cisleithanien  : Die Dezembergesetze enthalten einen Grundrechts­ katalog, die Ausdehnung und Präzisierung der legislativen Befugnisse, eine  – freilich unzureichende  – Einschränkung des Notverordnungsrechts, die strikte Trennung von richterlicher und vollziehender Gewalt und die Errichtung eines Reichsgerichts, die Regelung des Problems der Ministerverantwortlichkeit auf der judiziellen (Ministeranklage), nicht auf der parlamentarischen Ebene (Vertrauensfrage). In der Generallinie folgt die Dezemberverfassung dem »deutschen« Typus der konstitutionellen Monarchie (im Sinne Ernst Rudolf Hubers) mit seinen charakteristischen Vorkehrungen gegen die Parlamentarisierung der Regierung (keine Bindung an das Vertrauen des Parlaments  ; Notverordnungsbefugnisse in Kombination mit einem unbegrenzten Recht zur Parlamentsauflösung bzw. -vertagung) und seiner Immunisierung entscheidender monarchischer Prärogativen im militärischen Bereich und in der Außenpolitik, die unter den besonderen Bedingungen der Doppelmonarchie in die weitgehend den Parlamenten entrückte Sphäre der »gemeinsamen Angelegenheiten« verlagert werden.38 37 Verfassungspolitische Gesamtentwicklung zwischen 1861 und 1867 ausführlich bei Redlich, Staats- und Reichsproblem [Anm. 30], Bd. 2, S. 403–680  ; zum Verfahren von 1867 auch Ernst C. Hellbling, Das österreichische Gesetz vorn Jahre 1867 über die gemeinsamen Angelegenheiten der Monarchie, in  : Peter Berger (Hg.), Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867. Vorgeschichte und Wirkungen, Wien 1967, S. 64–89. Die Verfassungskämpfe des Reichsrates in der Schmerling-Zeit dokumentiert in Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, 8 Bde., Wien 1902–1914, Repr. Graz 1972, Bd. 1, S. 75–202. 38 Vgl. die Würdigung von Gerald Stourzh, Die österreichische Dezemberverfassung von 1867, in  :

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Abweichend von der preußisch-deutschen Entwicklung treten in Österreich ab 1867 parlamentarische Führer der Verfassungspartei (nach bezeichnendem anfänglichem Zögern) als Minister in die cisleithanische Regierung ein.39 Aufs Ganze gesehen sind aber rein parlamentarisch vermittelte Ministerkarrieren auch in der Zeit der liberalen Vorherrschaft zwischen 1867 und 1879 eher die Ausnahme und fast ganz auf die Zeit des sog. »Bürgerministeriums« von 1867 bis 1870 beschränkt. In der Regel entstammen die Minister vielmehr dem leitenden Staatsdienst und hier der gouvernemental-liberalen Gruppierung mit ihren entsprechenden Konnexionen, wobei jedoch häufig ein Abgeordnetenmandat zur zusätzlichen politischen Profilierung gesucht wird. Mit der Leitung der Ministerien werden bevorzugt parlamentarisch erfahrene freisinnige Vertreter des Hochadels betraut.40 (Dieselbe personelle Konstellation unter gouvernemental-konservativen Vorzeichen bestimmt die politisch gegenläufigen Regierungsbildungen.) Von einer tatsächlichen Parlamentarisierung der Regierung ist diese Praxis noch deutlich entfernt, wenngleich die Beachtung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse den Kaiser bei seiner Berufungspolitik gelegentlich zu starkem Lavieren zwingt. Der Monarch bleibt der für die Regierungsbildungen in personeller Hinsicht maßgebende Faktor  ;41 bezüglich der politischen Gesamt­ richtung gelingt es ihm nach zwei kurzlebigen konservativen Schwenkungsversuchen 1865 und 1870 allerdings erst 1879, dann aber nachhaltig, sich von den Österreich in Geschichte und Literatur 12 (1968), S. 1–16  ; Brandt, Parlamentarismus [Anm. 9], S. 95–103. 39 Es handelt sich um den Justizminister Dr. Eduard Herbst, Universitätsjurist und einer der parlamentarischen Führer der Verfassungspartei, der am hartnäckigsten seinen Eintritt an Bedingungen zu knüpfen sucht und dessen Berufung wesentlich mit dem Ziel der Einbindung seiner Fraktion betrieben wird  ; sodann den Advokaten Dr. Karl Giskra (Innenminister), den Advokaten Johann N. Berger (ohne Portef., Sprecherminister), den Direktor der Credit-Anstalt Dr. Rudolf Brestl (Finanzminister), den Universitätsjuristen Dr. Leopold v. Hasner (Unterricht, 1870 kurzzeitig Ministerpräsident). 40 Für die liberale Seite die Brüder Karl und Adolf Fürsten Auersperg, der erstere schon vormärzlich böhmisches Landtagsmitglied, vor seiner Berufung 1861–1867 Mitglied und Präsident des Herrenhauses sowie des böhm. Landtages (Oberstlandmarschall), der letztere vor seiner Berufung 1867–70 böhm. Oberstlandmarschall, dann Landespräsident von Salzburg. Zur Charakterisierung der Ministerien und ihrer Mitglieder immer noch Aloys Czedik, Zur Geschichte der k.k. österreichischen Ministerien 1861–1916, 4 Bde. Teschen 1917, für die Zeit 1867–1878 Bd. 1, S. 74–300. Zu den Brüdern Auersperg vgl. zuletzt die Biographien  : W. Rudolf, Fürst Karl Auersperg (1814– 1890). Ein liberaler österreichischer Staatsmann und Politiker, Diss. phil. [Masch.], Wien 1974  ; Ignaz Klebl, Fürst Adolph Auersperg (1821 -1885). Seine politische Karriere und seine Persönlichkeit, Wien1976. 41 Fritz Fellner, Kaiser Franz Joseph und das Parlament [Anm. 31], a.a.O., S. 299 f.

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Liberalen zu lösen. Das nunmehr installierte langlebige gouvernemental-konservative System Taaffe ähnelt – im Zeichen der »großen Depression« – strukturell und programmatisch deutlich den preußisch-deutschen Verhältnissen der späten Bismarckzeit.42 Für unseren Zusammenhang wichtig bleibt der Hinweis auf die vom Typus des Beamtenministers bestimmte stark gouvernementale Grundierung der Ministerien beider politischer Richtungen. Die Verfassungspartei, ihr soziales und ideologisches Profil Die vorangestellte Erörterung der Verfassungsentwicklung war erforderlich, weil diese Gegebenheiten Erscheinung und Wirksamkeit des politischen Liberalismus in Cisleithanien entscheidend konditionieren. Entsprechend den allgemeinen europäischen Verhältnissen bezeichnet Partei im Rahmen des parlamentarischen Betriebes in unserer Periode die allgemeine ›Richtung‹  ; der Zusammenhalt der liberalen Honoratiorenpolitiker ist locker, von Anfang an organisiert sich die »Verfassungspartei« in verschiedenen Clubs (Fraktionen) und dies erst auf parlamentarischer Ebene. Für die Formierung der Clubs im Abgeordnetenhaus des Reichsrates ist, bei starker Fluktuation und bei insgesamt deutschem Charakter, eine Mischung aus Programmatik und regionaler, z. T. auch beruflicher Herkunft konstitutiv.43 Die soziale Zusammensetzung der verfassungstreu-liberalen Abgeordnetengruppe weist Merkmale auf, die aus dem deutschen Parlamentarismus vertraut sind  : einem hohen Anteil von Staatsbeamten44 steht eine zunächst gleich große und dann wachsende Gruppe von Advokaten und Universitätsjuristen gegenüber, wobei Aufsteiger nicht sel42 Hierzu William A. Jenks, Austria under the Iron Ring 1879–1893, Charlottesville 1965. 43 Zu den Fraktionsbildungen Franz, Liberalismus [Anm. 5], S. 227–251  ; vgl. auch die tabellarische Übersicht bei F. Zeillinger, Staat und Gesellschaft in der Auffassung des österreichischen Liberalismus, Diss. phil. [Masch.] Wien 1949, S. 69. Ab 1861 organisieren sich auf dieser Basis der Kombination landsmannschaftlicher, ideologischer und beruflicher Momente drei Clubs  : bei den »Großösterreichern« (übernational, zentralistisch, am Gesamtreich als Staat festhaltend) herrscht das bürokratische und das Hauptstadtelement vor  ; die »Unionisten« (nach einem Gasthof benannt) umfassen v. a. die deutschen Abgeordneten der böhmischen Länder (ihr Konstitutionalismus und Zentralismus speist sich nicht zuletzt aus der Erfahrung der deutschen Minderheitensituation in Böhmen)  ; bei den steirischen »Autonomisten« (sie treten schon sehr früh für den Ausgleich mit Ungarn ein) ist bereits die deutsch-nationalistische Komponente erkennbar  ; sie entwickeln die relativ stärkste Kontinuität einer separaten Formation. 44 Übersicht bei Kolmer, Parlament und Verfassung [Anm. 37], Bd. 1, S. 62 f., Franz, Liberalismus [Anm. 5], S. 142 ff.

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ten sind. Dem gegenüber ist die unmittelbare Präsenz der Industriellen und die parlamentarische Tätigkeit anderer Freiberufler schwächer  ; hierin manifestiert sich das bekannte Problem der »Abkömmlichkeit«. Eine besondere Bedeutung kommt der kleinen, aber einflussreichen Gruppe des »verfassungstreuen Großgrundbesitzes« mit ihrem Schwerpunkt in den böhmischen Ländern zu, die der Regierung auch in politischen Wechsellagen zu Gebote steht.45 In der Gesamttendenz nimmt während der liberalen Ära der Anteil der Beamten ab und der Anteil der freien Juristen zu, so dass sich das Abgeordnetenhaus dem Typus des französischen Parlamentarismus nähert.46 Im außerparlamentarischen Vorfeld ist die politische Organisation noch schwächer, als im Rahmen des zeitgenössischen europäischen Stils der Honoratiorenpolitik ohnehin zu erwarten ist, weil das Kurienwahlrecht öffentliche Wahlwerbung fast überflüssig macht. Die soziale Basis des parlamentarischen Liberalismus ist denkbar eng, sie liegt in dem in den Handels- und Gewerbekammern organisierten deutsch geführten Großgewerbe, zum Teil im wahlrechtlich bevorzugten Großgrundbesitz, dann in der zahlreicheren Schicht des deutschen bzw. germanisierten Besitz- und Bildungsbürgertums. Es besteht kein Bedürfnis, diese soziale Basis zu erweitern. Während der Kampf um die konstitutionelle Ausgestaltung der Verfassung ab 1861 sogleich aufgenommen wird, gibt es bis 1878 keine nennenswerten liberalen Initiativen zur Änderung des oligarchischen Kurienwahlrechts. Vereinzelte Bemühungen um die Schaffung einer besonderen »Arbeiterkurie« auf der elektoralen Basis regionaler Arbeiterkammern analog den Handels- und Gewerbekammern (als Versuch eines liberalen Brückenschlages zur Arbeiterbewegung durchaus interessant) sind ganz ephemer und parlamentarisch völlig chancenlos.47

45 Zum Spezialproblem des verfassungstreuen Großgrundbesitzes als  – nicht ohne weiteres dem Liberalismus zuzurechnende – parlamentarische Manipulationsmasse der Regierungen vgl. die bei Gerald Stourzh angefertigte, materialreiche ungedruckte Dissertation von Jutta Martinek, Materialien zur Wahlrechtsgeschichte der Großgrundbesitzerkurie in den österreichischen Landtagen seit 1861, Diss. phil. [Masch.] Wien 1977. Zur späteren Instrumentierung gegen die Liberalen in der Ära Taaffe vgl. Jenks, Austria under the Iron Ring [Anm. 42], S. 33–37, 116–121. 46 Zur Gesamttendenz Franz, Liberalismus, op. cit., S.  142–152  ; 163–176 passim  ; knappe Skizze auch bei Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1985, S. 424–428. Die Arbeit von H. Hartmeyer, Die führenden Abgeordneten des Liberalismus in Österreich, Diss. phil. [Masch.] Wien 1949, bietet nur eine brauchbare Datensammlung. 47 Hierzu Wilhelm Brauneder, Projekte zu einer Wählerklasse der Arbeiter in Österreich, in  : K Vý voji Právního Postavení Dêlnické Třídy za Kapitalismu [= Zur Entwicklung der Rechtsstellung der Arbeiterklasse im Kapitalismus], Prag 1984, S. 67–83.

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Die Wahlrechtsänderung von 1873 steht in einem anderen Zusammenhang  : sie schaltet lediglich die Landtage als Zwischenglieder für die Delegation der Reichsratsabgeordneten aus und führt auf der gegebenen Kurienbasis die Direktwahl ein, um die Obstruktion opponierender Landtage zu unterlaufen. Alle späteren Wahlreformen werden von gouvernemental-konservativen Regierungen betrieben.48 Die direkte Parlamentspräsenz von Unternehmern ist nicht sehr groß  ; jedoch vertritt die Verfassungspartei sehr deutlich gewerbliche (Zollpolitik) und kapitalistische (Aktiengesellschaften, Konzessionspolitik) Interessen  ; insbesondere mit ihrem Regierungseintritt wächst in letzterer Hinsicht die Verfilzung, wofür der Spottname »Verwaltungsrätepartei« bezeichnend ist. In der Konsequenz ziehen der Börsenkrach von 1873 und die ihn begleitenden Skandale die Partei personell arg in Mitleidenschaft.49 Insgesamt ist die mentale Tendenzwende der nachfolgenden Depression gerade auch in Österreich dem Liberalismus abträglich  ; wie in Deutschland führt der Weg sehr bald in die konservative Mittelstands- und Sozialpolitik des Interventionsstaates und zum Aufkommen mittelständisch-konservativer und proletarischer Massenparteien, wodurch der Liberalismus in seiner sozialen Basis dauerhaft eingegrenzt bleibt. Bei einer Analyse der liberalen Ideologie wird man zwischen der »josefinisch«-gouvernementalen Linie und dem politischen Liberalismus im eigentlichen, westeuropäisch geprägten Sinne nuancieren müssen. Gemeinsam ist allen Richtungen der Glaube an den modernen Institutionenstaat, der als Rechtsstaat und Verfassungsstaat auf der Grundlage der Trennung von Staat und rechtlich homogener Gesellschaft den Rahmen für die Entfaltung von Freiheit und Fortschritt konstituiert. Das Habsburger-Reich als Gesamtstaat muss als übergeordneter Rechtsgrund für die Existenz der Länder behauptet werden. Der auf originäres historisches Recht sich berufende Kronland-Föderalismus wird abgewehrt  ; dessen Protagonisten, der konservative Feudaladel und seine Klientel, werden als der politische Hauptgegner bekämpft. Dieser Anspruch erstreckt sich zunächst auf den Gesamtstaat  ; die Mehrheit aus Großösterreichern und Zentralisten unterstützt infolgedessen Schmerlings Ungarnpolitik  ; nur die autonomistische Minderheit bezieht schon frühzeitig die Position, auf die sich die Mehrheit ab 1867 gegen eine kleine Minderheit von unentwegten Ausgleichsgegnern dann 48 Zu den Auseinandersetzungen um die Direktwahl Fellner, Franz Joseph u. d. Parlament [Anm. 31], S. 319–333. Übersicht über die späteren Wahlrechtsreformen bei Ernst C. Hellbling, österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Wien 21974, S. 374 ff. 49 Zeitgenössische Schilderung bei Josef Neuwirth, Die Speculationskrisis von 1873, Leipzig 1874/75.

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aus Resignation einlässt. Man richtet sich in der staatlichen Zweiteilung des Reiches ein, hält nunmehr jedoch (nach informeller Entlassung auch Galiziens in eine faktisch weitgehende Autonomie) in dem verbleibenden Cisleithanien umso energischer am staatlichen Zentralismus fest.50 Die Sicherung dieses so bestimmten Staates ist in der Führung durch das deutsche Bildungsbürgertum am besten gewährleistet  ; seine in den bisherigen Kultur-, Verwaltungs- und Wirtschaftsleistungen bewährte Überlegenheit beruft es dazu. So wie seit dem 18.  Jahrhundert die Verwaltung, so soll im nunmehr errungenen Verfassungsstaat auch die parlamentarische Repräsentation vorrangig von dieser Schicht getragen werden. Nach ihrem Selbstverständnis sind die Liberalen übernatio­ nal eingestellt  ; sie fordern diesen Vorrang nicht um der Deutschen, sondern um des Staates willen. Ihr Staatsbegriff ist, worin die rationalistischen Wurzeln sowohl des aufgeklärten Absolutismus wie des Liberalismus mit den besonderen Bedingungen der österreichischen Situation zur Deckung kommen, durchaus a-national. In diesem wesentlichen Punkt unterscheiden sich die Liberalen »Altösterreichs«  – ideologisch, wie man betonen muss  – vom reichsdeutschen Nationalliberalismus. Dabei ist freilich nicht zu übersehen, dass der Deutschnationalismus keimhaft von Anfang an in einigen Sektionen dieses übernationalen Liberalismus und seiner parlamentarischen Präsenz angelegt ist  ; er führt mit der wachsenden Bedrohung der sozialen und nationalen Positionen ab den 1870er Jahren folgerichtig zu entsprechenden nationalistischen Abspaltungen von der traditionellen Verfassungspartei.51 Aus dieser Perspektive ist auch die (ideologiekritisch gesehen  : durchaus raffinierte) Dialektik von wahlrechtlichen Positionen einerseits und nationalitätenrechtlichen Positionen andererseits zu würdigen. Die Aufstellung von Besitz- und Bildungskriterien für die Repräsentationsfähigkeit ist bekanntlich Gemeingut des europäischen Liberalismus, das Zensuswahlrecht das zugehörige Instrument. Die politische Nation soll sich auf einem bestimmten Niveau integrieren  ; das Integrationsangebot ergeht an ›alle‹ mit der Einladung, durch Statuserwerb diese Kriterien zu erfüllen – das ist der politische Sinn der Formel »enrichissez vous«. Es ist bekannt, in welcher Weise die ungarische liberale Partei nach 1867 die Zensuskriterien noch zusätzlich um das Element der Sprachkompetenz berei50 Das liberale Selbstverständnis kommt besonders klar in der Dokumentation und den verbindenden Kommentaren des Verfassers und Herausgebers Kolmer, Parlament und Verfassung [Anm.  37], hier Bde.1 u. 2, zur Geltung. 51 Vgl. oben Anm.  43. Zum Deutschnationalismus immer noch Paul Molisch, Geschichte der deutschnationalen Bewegung in Österreich von ihren Anfängen bis zum Zerfall der Monarchie, Jena 1926  ; für die Anfänge s. 62–71 passim, dann S. 71–106.

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chert, um das Modell des liberalen Nationalstaates in dem multinationalen Königreich Ungarn durchzusetzen.52 In der komplizierten Situation Cisleithaniens hatten die deutschen Josefiner und Liberalen weder die hinreichende soziale Basis noch die aktuelle Macht noch in Einschätzung dieser Lage den Willen, dieses Integrationsmodell anzuwenden. Das Kurienwahlrecht von 1861, das hinter liberale Standards insofern weit zurückfällt, als die Repräsentivorgane nach dem Prinzip der Interessenvertretung organisiert und dementsprechend das Zensusprinzip noch durch das Prinzip fester Mandatsquoten nach neoständischen Kriterien ergänzt wird, ist ursprünglich kein einschichtiges Produkt liberaler Politik, sondern ein Ergebnis der 1860 zunächst zwischen Krone und Adel geführten Verhandlungen, die in der Wende von 1861 nicht mehr umgestoßen, sondern nur noch dahin korrigiert wurden, dass der privilegierten Position des feudalen Grundbesitzes eine privilegierte Position des Großbürgertums (Handelskammern) entgegengesetzt wurde.53 Jedoch richtet sich der Liberalismus bereitwillig in diesem Wahlrecht ein. Nur in gekünstelter Fortführung des ideologischen Ansatzes lässt sich sagen, dass das Integrationsangebot über Statuserwerb für die bürgerliche Seite auch auf dieser Grundlage noch besteht, selbstverständlich in einer extrem oligarchisch eingeschränkten Weise. Der Aufstieg in diese Schicht steht natürlich auch Nichtdeutschen offen  ; dabei ergibt sich die kulturelle Assimilation an die deutsche Tradition im notwendigen Bildungsgang von selbst, es bedarf dazu keiner normativen Vorkehrungen. Man muss nun sehen, dass sich im historischen Erfahrungshorizont die Herausbildung der dem Gesamtstaat zugewandten Oberschichten durch Aufstieg in der Administration, der Wissenschaft, ihnen folgend dann in der Industrie bis zur damaligen Gegenwart in der Tat auf diese Weise vollzogen hat. Dabei soll es für die Liberalen bleiben. Der Mut zur Klientelbildung durch wahlrechtliche Öffnung fehlt ihnen in der multinationalen Situation des Habsburgerstaates durchaus, sehr im Unterschied zur konkurrierenden Klientelbildung durch die Feudalkonservativen (so im Falle der Altčechen) und durch die Klerikalen (so in der bäuerlichen Bevölkerung v. a. der Alpenländer). Die Gegnerschaft zu allen intermediären Gewalten und Institutionen erwächst wiederum aus der gesamteuropäischen liberalen Denktradition, wie sie 52 Dazu Ludwig Gogolák, Ungarns Nationalitätengesetze und das Problem des magyarischen National- und Zentralstaates, in  : Wandruszka u. Urbanitsch, Habsburger- Monarchie, Bd. 3,2 [Anm. 2], S. 1207–1307. Vgl.auch István Diószegi, Der Ausbau des bürgerlichen Staatssystems in Ungarn im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in  : Langewiesche (Hg.), Liberalismus [Anm. 2], S. 484–498. 53 Vgl. die oben Anm. 35 u. 36 angeführte Lit.

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auch der josefinischen Tradition des aufgeklärten Absolutismus entspricht. Insofern liegt der Kampf gegen die Ansprüche der katholischen Kirche – speziell gegen das Konkordat von 1855 – im allgemeinen europäischen Trend. Dazu tritt in der spezifisch österreichischen Situation die Abwehr des vorstaatlichen Ständekorporatismus und des daraus erwachsenden Landes-Partikularismus sowie der damit in Zusammenhang gebrachten Forderung, die Nationalitäten Österreichs als politische Körperschaften zu behandeln und das Nationalitätenrecht auf dieser Grundlage zu entwickeln. Die Lösung, die die Liberalen unter der seit Kremsier tradierten Formel von der Gleichberechtigung aller Volksstämme54 für dieses Problem anboten und auch durchsetzten, bewegt sich im Rahmen des liberalen atomistischen Konzepts des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft und besteht in der grundrechtlichen Verankerung der Gleichberechtigung der Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben als eines individualrechtlichen Anspruchs. Die Formulierung dieses Gleichheitsprinzips in Artikel 19 des Grundrechtskataloges von 1867 ist bewusst allgemein und offen gehalten und wird zudem mit dem Verbot des Sprachenzwanges gekoppelt, wie andererseits in der Verfassung darauf verzichtet wird, die Stellung des Deutschen als Staatssprache in der Verfassung förmlich festzulegen.55 Das geschieht im Vertrauen darauf, dass die offene Struktur des ›Bildungsmarktes‹ und des Kommunikationssystems bei wachsender verkehrswirtschaftlicher Integration die Führungsposition der deutschen Kultur bestätigen und weiter stärken wird. Erst nach der Entmachtung von 1878/79, unter dem Eindruck des zunehmend organisierten Selbstbehauptungswilllens v. a. der Čechen und des wachsenden Streites um Amtssprache und Sprachqualifikation im Staatsdienst, bemühen sich die Liberalen nunmehr – vergeblich – um die Festlegung einer Staatssprache.56 Man wird nicht verkennen dürfen, dass dieses nicht-ethnische Konzept der Bestimmung von Staat und Gesellschaft und von politisch-kultureller Integration zugunsten einer Mehrheits- und Führungsnation seine Entsprechungen im westeuropäischen Liberalismus hat – mit negativen Konsequenzen für ethnische Minderheiten. Seine Anwendung auf Österreich ist freilich besonders unange54 Grundlegend für das cisleithanische Nationalitätenrecht Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848–1918, in  : Wandruszka u. Urbanitsch (Hgg.), Habsburger-Monarchie, Bd. 3,2 [Anm. 2], S. 975–1206. (Auch als selbständige Monographie erschienen). Zur Entwicklung von 1848 bis 1867 a.a.O., S. 975–1010. 55 Zur Entstehung und Bedeutung von Art.19 sowie Grundlegendes zur Problematik der Anwendung  : vgl. Stourzh, op. cit., S. 1011–1041. 56 Zu den späteren legislatorischen Anläufen und Auseinandersetzungen Stourzh, op. cit., S. 1041– 1049.

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messen, weil die multinationale Situation kein Mehrheitsvolk kennt und die nichtdeutschen Nationalitäten nicht durchweg den Status sog. »geschichtsloser« Völker haben. Der liberale Ansatz wirkt daher polarisierend und desintegrativ, weil er die organisierte Abwehr der Nationalitäten im kollektiven Streben nach Emanzipation im Zeichen der eigenen Identitätswahrung provoziert.57 In den vorstehend skizzierten Vorstellungen von Staat, Gesellschaft, Repräsentation und Führungseliten findet sich eine breite Übereinstimmung von josefinischem und bürgerlich-liberalem Denken, die sich aus den Formierungsbedingungen des Habsburgerstaates leicht erklären lässt. Wesentliche Differenzen zwischen josefinischem und liberalem Geist liegen v. a. im Bereich des Verfassungsdenkens im engeren Sinn, also in der Bestimmung des Verhältnisses der Gewalten im Staat und speziell der Position des Parlamentes. Hier manifestiert sich denn auch Konfliktbereitschaft gegenüber Krone und Exekutive, freilich in der von Deutschland her bekannten, eigentümlich gebrochenen Weise, die durch die monarchisch-militärischen und monarchisch-bürokratischen Vorgegebenheiten des konstitutionellen Systems bedingt sind. Man ringt nicht um die Übernahme der Macht im Staate durch das Parlament, sondern um die Gewährleistung einer rechtlich geordneten staatlichen Herrschaftsausübung. An der Behandlung der Ministerverantwortlichkeitsfrage wird dies ganz deutlich  : Im Unterschied zu Preußen und dem Reich gelingt 1867 in Österreich immerhin die Füllung des Verantwortlichkeitsprinzips durch ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz, das jedoch das Problem wie in anderen deutschen Staaten auf die Ebene der Justiz verlagert, indem es für Gesetzesverletzungen die Ministeranklage vor einem Staatsgerichtshof vorsieht.58

57 Vgl. die oben Anm. 1 u. 7 angeführte Lit. Für Verständnis und Beurteilung wichtig die von Robert A. Kann entwickelte Unterscheidung von a-nationalem und über-nationalem Staat, wobei der deutsche Liberalismus in der a-nationalen Tradition des josefinischen bürokratischen Zentralismus steht, die Habsburgermonarchie insgesamt ihre Transformation in einen übernationalen Föderativstaat bis zu ihrem Ende nicht vollbracht hat. (Ders., Die Habsburgermonarchie und das Problem des übernationalen Staates, in  : Wandruszka u. Urbanitsch (Hgg.), Habsburger-Monarchie, Bd. 2 [Anm. 16], S. 1–56, insbes. S. 1–7, 51–56. 58 Friedrich Lehne, Rechtsschutz im öffentlichen Recht  : Staatsgerichtshof, Reichsgericht, Verwaltungsgerichtshof, in  : Wandruszka u. Urbanitsch (Hgg.), Habsburger-Monarchie, Bd.  2, op. cit., S. 663–715  ; zu Ministerverantwortlichkeit und Anklageverfahren S. 666–671. Zu Deutschland vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.  2, Stuttgart 1960 u. ö., S. 69, 72 ff., 836  ; Bd. 3, 1963 u. ö., S. 20 ff., 65 ff., 821 ff. Vgl. auch Helmut Rumpler, Monarchisches Prinzip und Ministerverantwortlichkeit in Österreich und Preußen 1848–1867, in  : Bericht über den 11. österreichischen Historikertagtag in Innsbruck 1971, Horn 1972.

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Im Kampf um die Konstitutionalisierung des Februarpatents zeigt die Verfas­ sungspartei beachtliche Hartnäckigkeit. Dabei ist ein gewisser Mangel an Augenmaß und Pragmatismus unverkennbar, wenn in einer Situation ­absoluter Isolierung des Rumpfparlaments und wachsender Isolierung der ›eigenen‹ Regierung (Schmerling) die systeminterne Opposition in Verfassungs- und Haushaltsfragen zur Hauptaufgabe der Parlamentspolitik erhoben wird.59 Insgesamt haftet dem parlamentarischen Stil der Liberalen etwas Advokatenhaftes an  ; Streitgegenstände, Begriffswelt, Streitformen und Taktik erscheinen, dem vorwaltenden Berufsprofil der Abgeordneten entsprechend, als Übertragungen aus dem Gerichtsprozess in den Bereich des Politischen. Erkennbar entsprechen sozialer Hintergrund, Parlamentsstil und Rolle des Parlaments dem Vorrang des (auch formal-) juristischen Rechtsdenkens vor politischem Machtdenken in der liberalen Partei  ;60 eine Konfiguration, wie sie auch für das preußische Abgeordnetenhaus der Konfliktzeit charakteristisch ist. Die Orientierung am individuell-naturrechtlichen Rechtsstaatmodell spiegelt sich schließlich in den konstruktiven Leistungen, also der ›liberalen Handschrift‹ in der formellen und materiellen Gesetzgebung und dem Ausbau der Institutionen während der Zeit liberaler Regierungsbeteiligung. Chronologischer Rhythmus und inhaltliche Grundtendenzen verlaufen dabei im Wesentlichen parallel zur norddeutsch-/reichsdeutschen Entwicklung. An erster Stelle stehen selbstverständlich die Verfassungsgesetze des Jahres 1867, die kompensatorisch für die Pauschalannahme des Ausgleichs durchgesetzt werden. Die Machtfrage wird dabei  – wie bereits hinlänglich erörtert  – abermals im monarchischen Sinne entschieden  ; unterhalb dieser Ebene aber wird der individualrechtliche Ansatz gegen den neoabsolutistischen Polizeistaat zur Geltung gebracht. Der Grundrechtskatalog folgt (immer noch) dem klassischen westeuropäischen Kanon der »Abwehrrechte«, was zugleich heißt, dass von Ansätzen zur Weiterentwicklung zum sozialen Rechtsstaat (im Unterschied zu 1848/49) keine Rede ist. Die Tendenz zu rechtstechnischer Relativierung durch den Gesetzesvorbehalt ist freilich unübersehbar. Das grundrechtliche Konzept des Staatsbürgers ist auf den cisleithanischen Gesamtstaat bezogen und ist in59 Darstellung und Dokumentation der ersten drei Reichsratsperioden (1861–1865) bei Kolmer, Parlament und Verfassung [Anm. 37], Bd. 1, S. 59–202  ; neben den Club-Programmen, Arbeitsprogrammen und Adress-Debatten vgl. v. a. die Stichwörter zum Verfassungsrecht (Ministerverantwortlichkeit, Notverordnungsrecht, Immunität, Pressefreiheit, Gerichtsorgansation, Geschworenengerichte) sowie zu den Staatsfinanzen. Kritisch zur Parlamentsarbeit Franz, Liberalismus [Anm. 5], S. 227–291. 60 Franz, op. cit., S. 146–152.

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soweit staatspolitisch eine Manifestation des antikorporativen und a-nationalen Unitarismus der Liberalen (funktionell gleichgerichtet dem Grundrechtskatalog Kremsiers und der Paulskirche, im bezeichnenden Kontrast zur bewussten Blockierung von Reichs-Grundrechten durch Bismarck). In den sachlichen Umkreis der Grundrechte gehören das zeitgleich erlassene Vereinsgesetz, Versammlungsgesetz und die Durchführungsgesetze zur Normierung der Grundrechtseinschränkungen. In der Gesamttendenz sind diese Bemühungen vom Kompromiss zwischen individual-freiheitlichem Ansatz und behördlich-polizeilichem Sicherheitsdenken gekennzeichnet. Die Position der Exekutive bleibt stark, wie sich an der Verwendung undefinierter Gefahren-Formeln zur Begründung von behördlichem Präventionshandeln unschwer erkennen lässt.61 Von erheblicher Bedeutung für den rechtsstaatlich orientierten Ansatz der Liberalen wie im objektiven Resultat für die österreichische Rechtsentwicklung ist die Errichtung eines Reichsgerichtes, später ergänzt durch die eines Verwaltungsgerichtshofes, verbunden mit dem jedem Bürger gewährten Recht der Verfassungsklage wegen Grundrechtsverletzungen und der Klage gegen Verwaltungsakte.62 Der darin enthaltene Versuch zur Verrechtlichung politischer Konflikte gewinnt besondere Bedeutung in der Ausbildung des österreichischen Nationalitätenrechts  : Sie ist bei zunehmenden Defekten des Parlamentarismus und der Paralysierung des Gesetzgebungsverfahrens das Produkt höchstrichterlicher Entscheidungen, ein Gebäude, das auf der eher vagen Basis des Grundrechtsartikels 19 errichtet wird. Inhaltlich ist diesem Fallrecht der letzten Jahrzehnte der Monarchie im Übrigen hohes Niveau, übernationale Gesamttendenz und eine ausgleichende Wirkung zu bescheinigen.63 Im Vordergrund der materiellen Gesetzgebung während der Frühzeit der »Bürgerministerien« steht der Kampf gegen das Konkordat von 1855. Die mit der Kirchenfrage verbundenen publizistischen und parlamentarischen Auseinandersetzungen und öffentlichen Aufgeregtheiten überlagern im politischen Bewusstsein in der Periode von 1868 bis 1870 zeitweilig alle anderen Fragen  ; eine 61 Text bei Bernatzik, Verfassungsgesetze [Anm. 15], S. 367–438. Knappe Würdigung der Grundrechte bei Gerald Stourzh, Die österreichische Dezemberverfassung von 1867, in  : Österreich in Geschichte und Literatur, 12 (1968), S. 1–16, a.a.O., S.10 ff. Zur Analyse der Folgegesetzgebung ist auf die staatsrechtliche Lit. der Monarchie von vor 1918 zurückzugreifen. Vgl. Ernst Mischler u. Josef Ulbrich, Österreichisches Staatswörterbuch, 4 Bde., Wien 21904–1909  ; Bd. 3, S. 893 ff. (Art. Persönliche Freiheit), S. 556 ff. (Art. Meinungsäußerung), S. 973 ff. (Art. Preßrecht)  ; Bd. 4, S. 71 2 ff. u. 746 ff. (Art. Vereinsrecht, Versammlungsrecht). 62 Friedrich Lehne, Rechtsschutz [Anm. 58]. 63 Umfassende und eindringliche Analyse von Gerald Stourzh [Anm. 54].

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Erscheinung, die in der Grundtendenz den Kirchen- und »Kultur«-Kämpfen des europäischen 19. Jahrhunderts folgt. In Österreich wird die liberale Position durch die josefinische Tradition und ihrem breiten Rückhalt in Bürokratie, Teilen auch des hohen Klerus und Rechtswissenschaft gestützt (der Akt von 1855 bedeutet hier eher eine bleibende Provokation als eine Schwächung). Infolgedessen erleidet die Konkordatspartei und damit auch die »Hofpartei« mit den Maigesetzen von 1868, der formellen Aufhebung des Konkordats 1870 und den Folgegesetzen bis 1874 eine deutliche Niederlage. Ehe und Schule werden darin wieder den kirchlichen Hoheits- und Aufsichtsansprüchen entzogen, die Gleichberechtigung der anerkannten Konfessionen wird sichergestellt  ; andererseits bleibt die katholische Kirche konsequenterweise frei von den staatskirchlichen Zwängen des alten josefinischen Systems.64 Mit der kirchenpolitischen Gesetzgebung im Zusammenhang steht der Erlass des »Reichsvolksschulgesetzes« von 1869, das über den angesprochenen Aspekt der Wiederverstaatlichung hinaus vor allem auch deshalb interessant ist, weil es abermals eine individualrechtlich-liberale Lösung des Sprachenproblems auf der Basis des Elternwillens anbietet  : Maßgeblich für die vom Hoheitsträger zu gewährleistende Einrichtung einer Schule für lokale Sprachminderheiten ist demnach bei Vorhandensein einer entsprechenden Mindestbevölkerung das Verlangen der Interessenten.65 Die Instrumentalisierung dieser Bestimmung im späteren Sprach- und Nationalitätenkampf (gezielte Wanderbewegungen und das Wirken von Schulvereinen) beruht auf der Ausnutzung eben dieses unter liberalem Vorzeichen gewährten Handlungsspielraumes.66 Unverkennbar liegt das Schwergewicht der legislatorischen Aktivitäten des Liberalismus zur Zeit seiner Regierungsbeteiligung im rechts- und kulturpolitischen Bereich. Wenn die Wirtschafts- und die Steuergesetzgebung demgegen­ über an Bedeutung zurückstehen, so deshalb, weil hier die entscheidenden strukturbildenden Weichenstellungen für die Entfaltung der binnenwirtschaftlich unbehinderten Verkehrswirtschaft und der Faktormobilität schon unter dem Neoabsolutismus erfolgt sind. Außenwirtschaftlich bleiben die Liberalen den industriellen Schutzinteressen verbunden  ; die Durchsetzung gewisser zollpoli64 Hierzu Peter Leisching, Die Römisch-Katholische Kirche [Anm. 13], hier S. 34–63. 65 Leisching, op. cit. S. 49 ff. Zum nationalitätenpolitischen Aspekt Gerald Stourzh [Anm. 54], hier S. 1124–1147. 66 Stourzh, op. cit., Beispiele passim. Zur nationalistischen Praxis auch Friedrich Prinz, Die böhmischen Länder von 1848 bis 1914, in  : Karl Bosl (Hg.), Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 3, Stuttgart 1968, S. 150, 164, 186 f.

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tischer Öffnungen sind ein Erfolg der exportorientierten Großagrarier beider Reichshälften, deren Interessenlage mit der der Ostelbier in dieser Phase noch verwandt ist.67 In bemerkenswertem Kontrast zur Kampfbereitschaft in der Kulturpolitik steht die relative Enthaltsamkeit der Liberalen in Heeresfragen. Strukturell und im gesamten historischen Horizont hat die Machtfrage hierbei in der Position des Monarchen denselben Stellenwert wie in Preußen. Für den Zusammenbruch des Neoabsolutismus ist die exorbitante Militärwirtschaft als Ursache für das unhaltbare Dauerdefizit von ausschlaggebender Bedeutung gewesen, in diesem Zusammenhang wird erhebliche Kritik auch an der exzeptionellen Stellung der Militärverwaltung geübt. Dieser Kritik wird schon 1860 durch die Wiedereinführung eines verantwortlichen Kriegsministers und dann durch die Einbeziehung des Militäretats in die budgetrechtlichen Kompetenzen des Reichsrates entsprochen.68 In diesem Rahmen sind dann die Budgetdebatten der Schmerlingzeit stets von erheblichem Streit um die Militärausgaben und von Spar- und Streichinitiativen bestimmt, ohne dass dabei – im Unterschied zum zeitgleichen preußischen Konflikt – die verfassungspolitische Frage der monarchischen Organisations- und Kommandogewalt thematisiert worden wäre.69 In den Ausgleichsverhandlungen sind es dann die magyarischen Liberalen, die mit einiger Hartnäckigkeit mit der »Nationalisierung« die Verfügungsgewalt über die ungarischen Heereseinheiten anstreben – in der Hauptsache ohne Erfolg.70 Mit der Verlegung der militärischen Kron-Prärogative in die Sphäre der gemeinsamen 67 Liberale Handelsverträge mit England und Frankreich 1865. In der Phase des Aufschwungs bis 1873 wurde die Handelsvertragspolitik jedoch vom Bürgerministerium fortgesetzt. Herbert Matis, Sozioökonomische Aspekte des Liberalismus [Anm. 14], hier S. 250 ff.; vgl. auch ders., Leitlinien der österreichischer Wirtschaftspolitik, in  : Wandruszka u. Urbanitsch (Hgg.), Habsburger-Monarchie, Bd.  1 [Anm.  6], hier S.  40 f.; Leonhard Lang, Hundert Jahre Zollpolitik, Wien 1906, S. 200 ff. 68 Zur Organisation der Militärzentralbehörden in Neoabsolutismus und Übergang zum Konstitutionalismus mit Analyse der politischen Implikationen Walter Wagner, Geschichte des k.k. Kriegsministeriums, Bd. 1  : 1848–1866, Graz 1966  ; zur Wiederherstellung des Kriegsministeriums ebd., S. 156–182. Vgl. auch Antonio Schmidt-Brentano, Die Armee in Österreich, Militär, Staat und Gesellschaft 1848–1867, Boppard 1975, S. 11–33. 69 Schmidt-Brentano, op. cit. Kap. 3, insbes. S. 1 49–158  ; Dokumentation bei Kolmer, Parlament und Verfassung, Bd. 1 [Anm. 37], S. 108 f., 151 ff., 187 ff. 70 Vgl. hierzu Tibor Papp, Die königlich ungarische Landwehr 1868–1914. 1. Die Gesetzesartikel vom Jahre 1868 über die Wehrmacht und die königlich ungarische Landewehr, in  : Wandruszka u. Urbanitsch, Habsburgermonarchie [Anm. 1], Bd. 5  : Die bewaffnete Macht, Wien 1987, S. 634– 644.

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Angelegenheiten wird die Frage der Verfügung über die bewaffnete Macht auch der potentiellen parlamentarischen Einflussnahme weiter entrückt. Die ungarischen Versuche finden auf cisleithanischer Seite keine Parallele. Das Wehrgesetz von 1868, das in Österreich die allgemeine Wehrpflicht einführt, wird im Parlament ohne verfassungspolitische Erschütterungen verabschiedet, auch wenn anfänglich der Versuch, liberale Milizvorstellungen in die Gesetzgebung einzubringen, eine gewisse Rolle spielt. Es gelingt einer schmalen linksliberalen Opposition bei weitem nicht, den Hinweis auf die preußischen Entwicklungen umzusetzen in eine allgemeine Solidarisierung der Verfassungspartei gegen die Wehrgesetzvorlage.71 Die Erfahrungen aus dem Verlauf und Ergebnis des preußischen Verfassungskonflikts und aus den Versuchen der Magyaren sind freilich auch nicht dazu angetan. Erneut zeigt sich hier, dass der österreichische Liberalismus in seiner Gesamtheit noch weniger als der preußische darauf aus war, die von der monarchischen Gewalt definierten Grundlagen des Konstitutionalismus infrage zu stellen. Einige Bemerkungen zum Niedergang der Verfassungspartei in Cisleithanien Der deutsch-österreichische Liberalismus bleibt Gefangener seiner schmalen sozialen Basis, seiner josefinischen Orientierung in zentralen staatspolitischen Fragen und schließlich der verfassungsmäßigen Rahmenbedingungen, die für seine Mitwirkung an den Staatsgeschäften vorgegeben worden sind. Eine Öffnung gegenüber anderen sozialen Schichten und neuen Problemen wird nicht versucht  ; im Umfeld wachsender Mobilisation und Partizipation, die schließlich auch in Österreich zu Wahlrechtserweiterungen führen, nimmt infolgedessen die Reso­nanz des Liberalismus ab. In der Tendenz hat dieser Vorgang im Schicksal der Nationalliberalen in Deutschland, deren parlamentarische Präsenz freilich stärker bleibt, eine Parallele. Vergleichbar ist ferner die Erscheinung, dass auch der österreichische Liberalismus unter Spaltungen leidet. Der Charakter dieser Spaltungen unterscheidet sich jedoch wesentlich von den deutschen Verhältnissen. Linksliberal motivierte Flügelbildungen und Abspaltungen bleiben in Öster­reich schwach  ; Auseinandersetzungen und Erosion haben ihre entschei71 Aus militärischer Sicht Schmidt-Brentano, op. cit., S.  80–97. Grundlegend P. Schweizer, Die öster­reichisch-ungarischen Wehrgesetze der Jahre 1868/69, Diss. phil. [Masch.], 2 Bde., Wien 1980.

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dende Wurzel im zunehmenden Nationalismus und im wachsenden Ungenügen des deutschen Bürgertums an der josefinisch-altliberalen übernationalen Attitüde. Diese Sprengkraft ist in der Verfassungspartei von vornherein angelegt  ; v. a. bei den Autonomisten ist die nationalistische Komponente schon immer deutlich. Das Anwachsen des Deutschnationalismus ist ganz wesentlich ein ethnisches Grenzlandphänomen (Südöstliche Alpenländer und Deutschböhmen)  ; seine Wirkungen sind für das politische Klima und für den Parlamentarismus ausgesprochen destruktiv. Diesem Vorgang entspricht (unter komplementären Vorzeichen) in den böhmischen Ländern die Abspaltung der Jungčechen von den Altčechen im Widerstand gegen deren konservative Orientierung und Bindung an den böhmischen Adel. Die Jungčechen greifen die liberal-demokratische Tradition des Čechentums auf  ; die Genossenschaftsbewegung wird ihr wichtigster institutioneller Hebel zur Politisierung und Organisation des Bauerntums und Kleinbürgertums. Diese liberal-emanzipatorische Tendenz wird jedoch vor allem in den Dienst des Nationalitätenkampfes gestellt und bildet daher ein zusätzliches Moment der gesamtstaatlichen Desintegration.72 Zum deutschen liberalen oder gar nationalen Lager führt keine Brücke. Anders als etwa in Deutschland geht der Niedergang des großbürgerlichen Liberalismus in Österreich einher mit der Paralysierung des Parlamentarismus im Ganzen. Das bürokratische Notverordnungsregime als ultima ratio des staatlichen Zusammenhalts wird auf diese Weise wieder zur maßgeblichen (Rückzugs-) Bastion des josefinisch-liberalen deutschen Großbürgertums.

72 Hierzu Prinz, in  : Handbuch Böhm. Länder, Bd. 3 [Anm. 66], S. 83–89, 150, 157 f. Aus der Perspektive bäuerlicher Interessenpolitik wird dieser Komplex eingehend behandelt bei Peter Heumos, Agrarische Interessen und nationale Politik in Böhmen 1848–1889, Wiesbaden 1979, insbes. S. 35–69.

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Im Jahre 1908 konnte Kaiser Franz Joseph von Österreich, achtundsiebzigjährig, auf eine Regierungszeit von 60 Jahren zurückblicken. Die Vielzahl von Ehrungen und Festveranstaltungen, die das Jubiläumsjahr für den »letzten Monarchen der alten Schule« bereithielt, nahm auch der Greis, ganz Institution geworden, in gewohnt straffer Würde und natürlicher Verkörperung der Herrscherrolle entgegen. Mit tiefer Bewegung aber und nicht ohne innere Erschütterung wohnte er am 7. Mai des Jahres jener Huldigung bei, die der deutsche Kaiser Wilhelm II. für ihn erdacht hatte  ; sie versammelte die Bundesfürsten des kleindeutschen Reiches (fast alle waren erschienen, dazu aus den Hansestädten der Erste Bürgermeister Hamburgs) zu einer eindrucksvollen Gratulationscour im Schloss Schönbrunn. Zweifellos war dieser Auftritt von Wilhelms bekannt hochentwickeltem Sinn für szenische Effekte getragen, doch umschloss die Szenerie einen historischen Gehalt, von dessen Tiefe gerade im Blick auf die geehrte Person wohl jeder der Teilnehmer angerührt worden ist. Die Dimension des elegischen Rückblicks auf die Zerstörung des alten bundesmäßigen Zusammenhangs im »Bruderkrieg« von 1866 verband sich dabei mit dem unausgesprochenen, aber objektiv in der Formation des fürstlichen Aufzugs liegenden Triumph des Hauses Hohenzollern, vor allem aber mit der Dimension des suggestiven Trostes, der in dem Treuebekenntnis zum Bündnis von 1879 und dem damit – in den Augen des alten Kaisers – erneuerten gesamt-mitteleuropäischen Zusammenhalt lag. Insofern lag über der Szene von 1908 bereits ein Hauch von 1914, und es ist psychologisch gewiss kein Zufall, wenn Franz Joseph 1915 gegenüber Generalfeldmarschall Mackensen, den er vor Beginn des serbischen Feldzuges bei sich empfing, mit großer Wärme auf die »herrliche Stunde, vielleicht die allerschönste meines Daseins« zurückkam. Kommt in diesem – gewiss auch situationsgebundenen – Urteil ein gewichtiges Stück Kontinuität des politischen Denkens Franz Josephs zum Ausdruck, so verweist die prononciert monarchische Selbstdarstellung in dem Akt von 1908 darüber hinaus zugleich auf einen strukturellen Aspekt des deutsch-mitteleuropäischen Zusammenhangs. Hier manifestierte sich noch immer ein ideologisches Selbstverständnis der regierenden Häuser, das die Gründung des Deutschen Bundes ebenso wie die des norddeutschen Bundes und kleindeutschen Reiches wesentlich mitbestimmt hatte, nämlich Fürstenbund zu sein.

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Aufruhend auf dem »monarchischen Prinzip« und den monarchischen Prärogativen des deutschen Konstitutionalismus sowie getragen vom höfisch-militärischen Charakter aller Symbolik und Repräsentation des Staatlichen, hielt sich hier gegenüber den realgeschichtlichen gesellschaftlichen und politischen Prozessen des 19.  Jahrhunderts eine Auffassung durch, die ihre Wurzeln in der antirevolutionären Abwehr der Restaurationszeit hatte. Indem Wilhelm II. seine Huldigung gezielt auf dieser Ebene ansiedelte, konnte er Franz Joseph kongenial begegnen  ; denn mehr als jeder andere hatte der österreichische Kaiser diese vorkonstitutionellen und a-nationalen Elemente einer konservativen Herrschaftsauffassung tatsächlich bewahrt, während der letzte deutsche Kaiser, die Umstände der kleindeutschen »Nationalstaats«-Gründung auf seine Weise umsetzend, zwischen diesem älteren monarchischen Gedanken, einem extrakonstitutionellen Cäsarismus und einem nationalistischen Populismus scharlatanesk oszillierte. Darüber hinaus hatte Franz Joseph eine vormärzliche bzw. vor-bis­ marck­sche Auffassung von der defensiven und stabilitätswahrenden europäischen Funktion eines »Fürstenbundes« in sich bewahrt  ; und gerade in diesem Sinn beruhte ein unbeirrbares Vertrauen in den Zweibund  – durchaus in Verkennung der Berliner Dynamik  – auf der Überzeugung, hier einen Ersatz für den verlorenen bundesrechtlichen Zusammenhalt gefunden zu haben und im »festen Zusammengehen mit Preußen« die konservative Stabilität Mitteleuropas im Ganzen und der österreichisch-ungarischen Position in diesem Rahmen zu sichern. Insofern wurde 1908 noch immer ein »deutscher Fürst« geehrt, in einem Wortsinn selbstverständlich, der vor und jenseits aller Nationalbewegung eine prominente Zugehörigkeit zur deutschen Fürstenfamilie meinte. Die Ausgangslage, strukturell und persönlich Wenn die staatsbildenden Vorgänge bis ins frühe 19. Jahrhundert im gesamten deutschen Bereich stark dynastisch orientiert gewesen sind, so gilt dies für die Habsburgermonarchie in besonders ausgeprägter Weise  : ein Länderkomplex, dessen Zusammenhalt unter Absehung vom Herrscherhaus gar nicht gedacht werden konnte, wie dies in der bis 1918 währenden Geltung der Pragmatischen Sanktion zum Ausdruck kommt. Stärker und strukturell abweichend vom übrigen Deutschland aber gilt, dass das Stadium der monarchischen, vasallitisch und später militärisch und bürokratisch vermittelten Integration prospektiv nur schwer überschritten werden konnte  ; im Rückblick zeigt sich, dass intensivere Integrationsstufen der parlamentarisch-repräsentativen Verklammerung bis

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zum Ende nicht gelungen sind. Unter führender Beteiligung Metternichs war nun nach 1814 eine bündische Organisation Mitteleuropas aufgerichtet worden, die diesen Strukturproblemen Österreichs Rechnung trug, die aber ebenso den dynastisch-einzelstaatlichen Interessen des übrigen Deutschland entsprach, zugleich das sozialkonservative Interesse der Führungsschichten aller dieser Staaten mit der bündischen Staatenordnung verknüpfte und diese im Zeichen der antirevolutionären Gefahrenabwehr als wahres deutsches wie europäisches Bedürfnis interpretierte. Der Eindämmung der deutschen Nationalbewegung sowie der Stilllegung eines darauf bezogenen preußischen Ehrgeizes entsprach dabei komplementär die Heranziehung des konservativen Preußen an Österreich zu einer informellen Doppelhegemonie über das Dritte Deutschland. In ihren klaren und unkomplizierten Konturen war die Herausbildung dieser Persönlichkeit und ihrer Wertorientierungen früh vollendet  : Der Sinn für das Erfordernis von Disziplin und autoritärer Führung in allen, namentlich auch den Familienzusammenhalt einschließenden Bereichen der Politik verband sich mit einem früh entwickelten Verständnis für die formalen Attribute der Herrschaftsausübung. Die Ausrichtung der Prinzenerziehung auf die Einübung von Verhaltensregeln, auf die sensible Beachtung von Verhaltenswirkungen bei allen Gelegenheiten der Repräsentation bis hin zum öffentlichen Großauftritt, trug an diesem Erben einer langen Herrschertradition besonders reiche Früchte. Dies deshalb, weil die traditionsbeladene Rollenanforderung hier einem Willen zu ihrer vollkommenen Ausfüllung, ja zu einem entindividualisierenden Aufgehen in ihr begegnete. Unter solchen Voraussetzungen zeigte schon der junge Monarch ein voll ausgeprägtes herrscherliches Selbstbewusstsein. In diesem Herrschaftsverständnis nahm die unbedingte Loyalität der Dynastie gegenüber der katholischen Religion ihren traditionell festen Platz und hohen Rang ein. Unter dem Eindruck der zersetzenden Kräfte des revolutionären Zeitalters erfreute sich die Kirche als Ordnungsmacht – hierin stand der Thronanwärter und junge Kaiser ganz im Banne der mütterlichen Erziehung – gesteigerter Wertschätzung, wurde die kaiserliche Aufgabe, »defensor ecclesiae« zu sein, mit größerer Intensität erfasst. Kennzeichnend schon für den jungen Erzherzog war schließlich die dann lebenslang bewahrte Vorliebe für alles Militärische, die von vornherein über die traditionelle Wahrnehmung repräsentativer Inhaberrechte hinausging und von einer intensiven Teilnahme an den Details des Dienstbetriebes getragen war. Schon die Briefe des Jugendlichen geben einen Eindruck davon, in welch starkem Maße Erfahrungen in der Welt des Truppendienstes und Offizierslebens, der Paraden und Manöver gemacht worden sind.

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Dynastie, Militär und in zweiter Linie auch Kirche und Konfession waren die Größen, deren Geltungsanspruch schon der junge Thronfolger verinnerlicht hatte und die ein Leben lang unverrückbare Orientierungspunkte blieben. Wenn man die habsburgische Auffassung von der Natur ihres Länderbesitzes gelegentlich überspitzt mit dem Begriff des »Kronfideicommiss« gekennzeichnet hat, so mag die darin implizierte Vorstellung einer ›privaten‹ Besitz- und Herrschaftsauffassung begrifflich fehlgehen. Unverkennbar aber ist, dass gerade auch Franz Joseph niemals einen von der Dynastie abgelösten Staatsgedanken entwickelt hat und nach Lage der Dinge auch nicht entwickeln konnte, ebenso wenig wie unter Absehung von der Dynastie eine genuin österreichische ›Staatsraison‹ vorstellbar war. Die gesamte Italienpolitik der Habsburger, in deren Bahnen sich auch Franz Joseph bewegen sollte, wird ohne das Familieninteresse nicht verständlich. Auch die politische Zusammengehörigkeit der deutschen Staatenwelt wurde wesentlich über das gemeinsame monarchische Interesse der deutschen Dynastien und die dynastischen Verflechtungen der deutschen ›Fürstenfamilie‹ erfasst und erfahren. Die Privatbriefe des Thronfolgers wie des Kaisers vermitteln einen lebendigen Eindruck davon, wie stark Leben und Denken von dynastischen Kontakten und Bezügen besetzt waren  ; gerade die deutschlandpolitischen Vorstellungen wurden davon kategorial beherrscht. Wertewelt und Anschauungsweisen Franz Josephs folgten daher schon durch Sozialisation und Erziehung von Anbeginn vormodernen Mustern. Ebenso wie schon der Jugendliche keine Berührung mit den geistigen und wissenschaftlichen Strömungen seines Jahrhunderts, mit Industrie, Technik und kommerzieller Welt gehabt hat, so blieben ihm die emanzipatorischen und partizipatorischen Grundtendenzen seines Zeitalters weitgehend fremd und wegen ihrer desintegrativen Wirkungen auf die traditionelle Struktur der Habsburgermonarchie auch suspekt. Der junge Monarch ist durchaus von den Mitteleuropaphantasien eines Karl Ludwig von Bruck mit ihrem auf den Südosten gerichteten großdeutsch-imperialen Gestus beeindruckt worden – ein jugendlicher Machttraum. Populistische Herrschafts-Methoden lagen ihm gleichwohl auch in seiner Frühzeit vollkommen fern  ; von der Versuchung, Erfolgs- und Prestigepolitik zur Erschließung neuer Legitimationsquellen zu treiben, trennte ihn seine traditionalistische Herrschaftsauffassung. Dem modernen Nationalismus blieb er zeitlebens feindlich gesonnen, gerade auch seiner deutschen Spielart. Wenn er besonders in den Jahren des »Kampfes um die Vorherrschaft in Deutschland« sein Deutschtum und seine Eigenschaft als deutscher Fürst öffentlich und brieflich wiederholt hervorhob, so vor allem, um den traditionellen Rang seines Hauses und Öster­ reichs gegenüber kleindeutschen Tendenzen zu behaupten. Deutsche Politik

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aber war eine Angelegenheit, die die fürstlichen Kabinette miteinander auszumachen hatten, und in der dem dynastischen Gesamtinteresse das entscheidende Gewicht zukam. Franz Josephs starkes Vertrauen in das politische Gewicht der regierenden Fürsten und ihrer Solidarität verführte ihn sehr häufig dazu, die Bedeutung persönlicher Monarchenbegegnungen und -vereinbarungen zu überschätzen und etwa die Stellung von Ministern im Geflecht verfassungsmäßiger Institutionen zu verkennen. Waren die Grundlagen dieser Auffassung vom Selbstherrschertum bereits durch die Erziehung gelegt, so erfuhren sie durch das Schlüsselerlebnis der Revolution von 1848 als der reinen Gegenwelt ihre bestätigende Verfestigung. Die Revolution wurde vom harten Kern der Hofpartei, also der Gruppe um die Mutter Erzherzogin Sophie und den getreuen hochadelig-militärischen Paladinen, die die Armee weitgehend fest in der Hand hatten, in all ihren Erscheinungen ausschließlich als zerstörerische Kraft und als schwere Herausforderung wahrgenommen. Ihr Verdikt galt nicht nur dem Abfall der Nationen und dem Radikalismus der Hauptstadt, sondern auch den gouvernemental-liberalen Kompromisspolitikern, die die Regierungsgeschäfte zu versehen hatten, sowie den parlamentarischen Verfassungsbemühungen, sei es in Wien, sei es in Frankfurt. Die Abtrünnigen der eigenen Familie, Erzherzog Johann und insbesondere Erzherzog-Palatin Stephan, waren in dieses Urteil eingeschlossen. Die Kompromittierung der monarchischen Vollgewalt gegenüber der Revolution, die durch die Versprechungen und Sanktionierungsakte des regierenden, tatsächlich regierungsunfähigen Kaisers Ferdinand eingetreten war, wurde als große Verlegenheit empfunden, die unter den gegebenen Machtverhältnissen freilich nicht zu umgehen war. Der Gefahr weiteren Autoritätszerfalls begegnete der Hof mit dem traditionellen Rezept des Auszugs aus der aufrührerischen Residenz und der Rückeroberung von außen. Erzherzog Franz war in diese Absetzbewegungen einbezogen  ; zeitweilig hielt er sich im Lager Radetzkys auf und brannte darauf, militärischen Lorbeer zu erringen, bis dieser Einsatz als denn doch zu bedenklich und gefährlich abgebrochen wurde. Seine Äußerungen in dieser Zeit lassen mehr denn je die vorrangig militärische Perspektive der Krisenerfahrung erkennen und geben Einblick in ein schlichtes politisches Weltbild, in dem die »Treue und Anhänglichkeit der Gutgesinnten«, die »braven Truppen« und die tapferen Offiziere einerseits und der »schlechte Geist« des Aufruhrs, die »treulosen Wiener« und die »Spitzbuben« von Ministern andererseits die Lager des Guten und des Bösen füllten. Das Erlebnis der Revolution und der militärischen Selbstbehauptung des schwarzgelben Österreich dürften von fundamentaler und bleibender Bedeutung

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für die politische Anschauungswelt des künftigen Kaisers gewesen sein. Hierin traf sich der Jugendliche mit jenen machtbewussten Männern der Hocharistokratie, denen in den Olmützer Spätherbsttagen des Jahres 1848 das Schicksal der Monarchie anvertraut wurde, allen voran den fürstlichen Schwagern Alfred Windischgraetz und Felix Schwarzenberg. Ihre Abwehrhaltung richtete sich gegen einen sehr extensiv interpretierten Komplex von »Revolution«, der das liberal-konstitutionelle und nationale Partizipationsverlangen insgesamt umschloss. Der gemeinsame Wille zur Wahrung der vollen Integrität des Territoriums und der monarchischen Gewalt verband sich aber mit durchaus voneinander abweichenden politischen Perspektiven. Schwarzenbergs machtpolitisches Konzept und sein Scheitern Während der militärische Oberkommandierende altfeudal-legitimistischen Kontinuitätsvorstellungen anhing, setzte der neue Ministerpräsident Schwarzenberg auf eine durchgreifende Modernisierung des nach sozialökonomischen und etatistischen Maßstäben zurückgebliebenen »Kaiserreichs Österreich« zum Zwecke der staatlichen und monarchischen Machtbehauptung nach innen und außen. In Wiederaufnahme josefinischer Traditionen bezog Schwarzenberg gouvernemental-liberale dynamische Fachleute auch aus der revolutionären Bewegung in sein »Koalitionsministerium« ein, die den neuen effizienten Zentralstaat schaffen sollten. Das konstitutionelle Spiel mit dem verfassungsgebenden Reichstag wie mit dem nachfolgenden Verfassungsoktroi vom März 1849 dürfte jedoch (auch im Blick auf die deutsche Frage) von vornherein den Bedürfnissen taktischen Hinhaltens gefolgt sein  ; Schwarzenberg befolgte m.a.W. in Österreich dasselbe Rezept, das er wenig später für den Umgang mit den Bundesverfassungswünschen seiner mittelstaatlichen Alliierten in der deutschen Frage enthüllte  : in schwierigen Zeiten sei man genötigt, »von der Zeit geforderte Bestimmungen und Schlagworte« anzunehmen und eine Weile »mit den Wölfen zu heulen«. In den Rahmen dieser antirevolutionären Tendenzwende gehört nun auch die Abdankung Kaiser Ferdinands und die Thronbesteigung Erzherzog Franz’ unter Übergehung seines Vaters Franz Karl, die seit langem erwogen worden war und nunmehr in Olmütz, nach der militärischen Eroberung Wiens und während des Aufbruchs der Armee zur Rückeroberung Ungarns, am 2. Dezember 1848 mit dem gerade Achtzehnjährigen ins Werk gesetzt wurde. Nach dem Willen des Feldmarschalls Windischgraetz und der für die Willensentscheidung des geistesschwachen Kaisers verantwortlichen Kaiserin Maria Anna wie ihrer Ratge-

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ber sollte der Akt zur Manifestation eines klaren Bruches mit der Revolution gestaltet werden und den Thron aus den Fesseln gegebener Zusagen befreien. Die dementsprechend abgefassten Urkunden wurden freilich unter Schwarzenbergs Regie in letzter Minute redaktionell so verändert, dass ein Versprechen des neuen Monarchen, als konstitutioneller Kaiser regieren zu wollen, dabei herauskam. Die Annahme des Namens Franz Joseph in Erinnerung an den »Volkskaiser« Joseph  II. lag in derselben Linie. In ähnlicher Weise hatte der Ministerpräsident bereits am 27. November in seiner ersten Regierungserklärung vor dem Reichstag ein rückhaltloses Bekenntnis zur konstitutionellen Monarchie abgelegt, demselben Tenor folgte das Thronbesteigungsmanifest vom 2. Dezember. An der Formulierung all dieser Erklärungen hatte der junge Kaiser keinen Anteil  ; halb noch ein Knabe, war er in diesem Augenblick im wesentlichen Figur auf dem Schachbrett der Hof- und Militärpartei im Kampf gegen die Revolution. Doch musste ihm wie den übrigen Beteiligten (mit Ausnahme wohl derjenigen Minister, die ehrlich konstitutionell gesinnt waren) deutlich sein, dass die Notwendigkeit, politisch über die Runden zu kommen, die Verantwortlichen zu erheblicher und nicht unbedenklicher Camouflage trieb. Der Wille des jungen Monarchen, sich hieraus zu lösen, sollte nach der Konsolidierung der österreichischen Position rasch in die Tat umgesetzt werden und dabei erstaunliche Proben eines früh entwickelten Herrscherbewusstseins liefern. Vorerst war der kaiserliche Jüngling, wie es bei seiner politischen Unerfahrenheit auch gar nicht anders sein konnte, ein Lehrling, dem zwar formelle Entscheidungsgewalt zustand, der auch rasch eine intensive Anteilnahme an der hohen Politik entwickelte, der aber doch nur geistig nachvollzog, was der Ministerrat und insbesondere der Premier an politischen Initiativen entfalteten. Während für die Innenpolitik der Thronwechsel von Olmütz zum Ausgangspunkt für die militärische Niederwerfung Ungarns, für die papierene Ausarbei­tung einer zu oktroyierenden Verfassung und für die tatsächliche Einleitung einer administrativen und gesellschaftlichen Modernisierung des Gesamtreiches wurde, nahm die österreichische Außenpolitik vor allem die revolutionäre Herausforderung in der deutschen Frage an. Sie war das Kampffeld Schwarzenbergs und seiner diplo­matischen Mitarbeiter aus der Metternichschule  ; der alte Staatskanzler wirkte aus dem Hintergrund indirekt mit. Die Paulskirche hatte mit ihren Verfassungsbeschlüssen erster Lesung die »Frage an Österreich« im Oktober 1848 endlich auf den Tisch gelegt und dem Kaiserstaat die Auflösung in einen Länderverband mit Personalunion bei Unterordnung der bundeszugehörigen Teile unter die künftige Reichsgewalt zugemutet  ; dahinter bereitete sich die kleindeutsche Alternative einer Ausscheidung Gesamtösterreichs vor. Demgegenüber

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war die österreichische Regierung, wie die Ministerratsprotokolle zeigen, von Anfang an entschlossen, die hergebrachte Position in Deutschland voll zu wahren und durch Einbeziehung der Gesamtmonarchie in den Bund noch weiter auszubauen  ; damit wurde ein Bundesreformprogramm verknüpft, das den Deutschen Bund durch eine trialistische Direktorialverfassung mit Exekutivbefugnissen versehen und damit handlungsfähig machen wollte. Der Ausschluss gewählter Repräsentativorgane (bestenfalls ein Delegiertenparlament war zugelassen) zeigte die antirevolutionäre Stoßrichtung des Ganzen. Ganz in Fortführung der Metternichschen Prinzipien suchte Schwarzenberg in der frühesten Phase seiner Deutschlandpolitik eine Verständigung mit Preußen über dieses Programm und über ein gemeinsames Vorgehen gegen Frankfurt  : Sprengung der Nationalversammlung mit militärischer Gewalt und Oktroi der Reform. Damit hätte sich zugleich Preußen gegenüber der Nationalbewegung dauerhaft diskreditiert und erneut an die vormärzliche Linie konservativer Großmachtsolidarität in der Bundespolitik gebunden. Das preußische Ministerium Brandenburg ergriff jedoch die Chance zu preußischer Hegemonialpolitik und leitete jenes Zusammenspiel mit der Paulskirche ein, das zu den Kampfabstimmungen vom März 1849 und zum Angebot der Kaiserkrone führte, dann zwar infolge der Verweigerung Friedrich Wilhelms zerbrach, danach aber seine Fortsetzung im preußischen Versuch einer gouvernemental gelenkten und die kleindeutsche Nationalbewegung ›versöhnend‹ einbeziehenden engeren Bundesgründung fand. Gegenüber der preußischen verfassungspolitischen und militärischen Initiative in Deutschland musste die österreichische Regierung  – vor dem Hintergrund der Absorption der eigenen Kräfte in Ungarn und Italien – zunächst die Defensive wählen, wobei jedoch mit den deutschen Königreichen, vorab mit Bayern, eine erfolgreiche Widerstandslinie gegen die preußische Unionspolitik aufgebaut werden konnte. Die Hauptlinie der österreichischen Politik  – anti­ revolutionäre Verständigung mit der zweiten Großmacht Preußen – fand vorerst keinen Ansatzpunkt. Doch wurde mit der Anbahnung der Russenhilfe gegen Ungarn schon frühzeitig jene gesamtpolitische Konstellation vorbereitet, die dann den Übergang der Initiative auf Österreich ermöglichte. Das gesamte deutschlandpolitische Vorgehen Schwarzenbergs wird nur vor dem Hintergrund des Revolutionserlebnisses und des dadurch provozierten gesteigerten Sicherheitsbedürfnisses der Dynastie und der traditionellen Führungsschichten Österreichs verständlich. Die Grundprobleme der Stellung ­W iens zum übrigen Deutschland, die das Geschehen bis 1866 bestimmen sollten, traten in der Situation von 1849 voll entwickelt zutage. Sie bildeten das Koordi-

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natensystem, in dem die Anschauungen des kaiserlichen Lehrlings Franz Joseph sich ausprägten. Das Hauptziel war die Wiederherstellung der vormärzlichen Hauptfunktion des Deutschen Bundes  : die defensive Sicherung der Wiener Ordnung von 1815 gegen revolutionäre Erschütterungen von außen und innen. Für die Bundesinnenpolitik lief diese Betonung des traditionellen Sicherheits­ aspekts auf die Wiederaufnahme der hergebrachten Repressionstätigkeit, den »Polizeiverein« hinaus. Europapolitisch sollten die alten Stabilitätsziele durch Einführung eines neuen Elementes gesichert werden  : Der Antrag auf Aufnahme der Gesamtmonarchie in den Bund bedeutete die Ausdehnung der bundesrechtlichen Garantieverpflichtung auf Galizien, Ungarn und Lombardo-Venetien, die alle in der Revolutionsperiode (Galizien 1846) den offenen Abfall riskiert hatten und nur mit äußersten militärischen Anstrengungen und nicht ohne die Peinlichkeit einer russischen Hilfeleistung unter das habsburgische Zepter zurückgeholt werden konnten. Das Bedürfnis, den Bund intensiver als früher für die österreichische Sicherheit zu instrumentalisieren, verrät die Zunahme einer strukturellen Schwäche der österreichischen Position in Europa, die nurmehr mit der Mobilisierung der deutschen Gesamtmacht unter österreichischer Führung und nicht mehr aus eigener Kraft gesichert werden konnte. Gerade deswegen bedeutete die Forderung eine erhebliche Zumutung an die Risikobereitschaft des übrigen Deutschland, vorrangig der preußischen Militärmacht. Sie suchte die Identität des ›deutschen Interesses‹ und des ›österreichischen Interesses‹ in Mitteleuropa von Wien her festzuschreiben. Eine Reorganisation Mitteleuropas auf der Basis eines kleindeutsch-österreichischen Doppelbundes konnte diesen so definierten Interessen Wiens nicht genügen  ; sie war gerade wegen der strukturellen Schwäche bzw. Stützungsbedürftigkeit Österreichs deshalb viel zu gefährlich, weil sie Preußen die Organisation des deutschen Potentials zu seinen Gunsten gestattete, Preußen damit von vornherein zum stärkeren Partner machte und die Erfüllung österreichischer Sicherheitsinteressen völlig in sein Ermessen stellte. Aber auch schon die Einräumung einer preußischen »Parität« im Bund, also die förmliche Konstruktion einer dualistischen Bundesführung, barg ähnlich gefährliche Per­ spektiven in sich, da sie Österreich ohne Rückhalt an den übrigen Bundesgliedern einer preußischen Sperrposition preisgab. Andererseits konnte im Bund nicht auf Dauer gegen Preußen regiert werden. (Sein Ausschluss und die Organisation des Dritten Deutschland unter österreichischer Hegemonie verbot sich politisch-geographisch und mit Blick auf den mit dem Zollverein bereits erreichten wirtschaftlichen Integrationsvorteil Preußens ohnehin von selbst.) Die von Österreich angestrebte erweiterte Sicher-

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heitsgarantie war zudem nur bei Einbeziehung des preußischen Machtpotentials sinnvoll  ; hierzu bedurfte es in einem grundsätzlichen Sinne des Einvernehmens mit Preußen. Ganz in der Tradition Metternichs war es daher das wichtigste Ziel der nachrevolutionären österreichischen Deutschlandpolitik, die Verständigung mit Berlin über eine gemeinsame und zugleich von Österreich her bestimmte antirevolutionäre Stabilitätspolitik wiederzugewinnen. Selbstverständlich setzte dies eine konservative Führung Preußens voraus, die sich im Sinne der Vormärztradition zugleich den politischen Lenkungsanspruch Wiens gefallen ließ. Die Wiederherstellung dieser Grundbedingung stellte für Wien das entscheidende Problem dar, das nun gegenüber der Metternichzeit deshalb so außerordentlich an Schärfe zugenommen hatte, weil die Parole von Preußens deutschem Beruf vor dem Hintergrund einer bereits nachhaltigen Verschiebung des ökonomisch-sozialen Kräftegefüges seit 1848 in ganz anderem Maße das Denken wichtiger Fraktionen der preußischen Führungsschichten ergriffen hatte, als dies noch in der Zeit der Bundesgründung der Fall gewesen war. Die Lösung dieses Dilemmas, das sich aus dem gewachsenen österreichischen Sicherheitsbedürfnis und der Erschwerung der Einbindung Preußens ergab, lag für Wien in einer Reform des Bundes, die seine Exekutivbefugnisse stärkte und in die Hand eines Direktoriums legte, an dem außer den beiden deutschen Großmächten in irgendeiner Weise die Königreiche als die relativ selbstständigsten Exponenten des Dritten Deutschland zu beteiligen waren. Damit war eine Dreieckskonstellation der Kräfte hergestellt, die Österreich gewiss keine Hegemonie bescherte, wohl aber erweiterte Optionen eröffnete, um Preußen notfalls unter Druck setzen zu können. Metternichs Politik hatte diese Spielvariante nur für den äußersten Notfall in Reserve gehalten  ; ihre nunmehr angestrebte verfassungsmäßige Institutionalisierung bedeutete vor allem eine instrumentelle Verschärfung, die geeignet war, durch die glaubhafte Androhung der Majorisierung dem Berliner Rivalen die Opposition zu erschweren und insofern die traditionelle Methode des antirevolutionären Solidaritätsappells zu ergänzen. Wurden die Staaten des Dritten Deutschland auf diese Weise in ihrer bundespolitischen Bedeutung gehoben, so hielt die Instrumentalisierung der Dreiecks-Konstellation im Spiel um die Verständigung mit Berlin für die Regierungen dieser Mittelstaaten doch auch immer wieder böse Überraschungen bereit. Ohnehin gestaltete sich in der nachrevolutionären Situation das Zusammengehen Österreichs mit den Königreichen zur Bekämpfung der preußischen Nationalpolitik nicht problemlos, da die Bundesreformbestrebungen der mittel staatlichen Politiker ebenfalls von konstitutionellen Leitvorstellungen mitgetragen waren, die angesichts der allgemeinen Erwartungen auch gar nicht ignoriert werden konnten.

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Solchen Tendenzen erwies Schwarzenberg lediglich taktische Reverenz, jederzeit bereit, sich ihrer in Gemeinschaft mit einem konservativ gewordenen Preußen zu entledigen. Ähnlich instrumentalisierte Schwarzenberg das wirtschaftliche Mitteleuropaprojekt des österreichischen Handelsministers Bruck, mit dessen Hilfe einerseits der von Preußen beherrschte Zollverein aufgebrochen und auch hier die bundespolitische Dreieckskonstellation eingeführt werden sollte, das andererseits als Propagandawaffe zur Überführung der konstitutionellen Bewegung in ökonomische Bewegung eingesetzt wurde und als Beweis zu dienen hatte, dass doch auch Österreich dem national gestimmten deutschen Bürgertum etwas zu bieten vermochte. Der Gang der österreichisch-preußischen Auseinandersetzung vom Beginn der Radowitzschen Initiative (Mai 1849) bis zur Olmützer Punktation (November 1850) und zum Nachspiel der Dresdner Konferenzen lässt sich von diesen Bedingungen und Zielvorstellungen her begreifen. Sobald Schwarzenberg mit der Unterwerfung Ungarns größere politische Bewegungsfreiheit für Österreich zurückgewonnen hatte, wurde die preußische Herausforderung mit einer zoll- und handelspolitischen Offensive (»Siebzigmillionen-Reich«) und schließlich dem Bündnis mit den süddeutschen Königreichen beantwortet, dem das großdeutsch-großösterreichische Bundesreformprogramm zugrunde gelegt wurde. Im weiteren Horizont der europäischen Konstellationen bot die antikonstitutionelle Festlegung des verbündeten Zaren und dessen Spezialinteresse in der Schleswig-Holstein-Frage die Chance, die russische Macht gegen ein der Nationalbewegung verfallenes Preußen in Stellung zu bringen. Doch war der russischen Regierung keineswegs an einer Minderung der preußischen Macht gelegen  ; es ging ihr vielmehr darum, den gegenwärtigen Kurs der preußischen Politik zu ändern und die vormärzliche Geschäftsgrundlage der konservativen »Heiligen Allianz« bei vermehrtem schiedsrichterlichen Gewicht der russischen Seite wiederherzustellen. Nicht nur war hierdurch der Spielraum einer antipreußischen Politik Schwarzenbergs fixiert  ; dieser war darüber hinaus von Anfang an darauf bedacht, mitteleuropäische Großmachtpolitik gegen die russische Umarmung zu sichern, wozu es wiederum der Wiederherstellung eines besseren Einvernehmens mit Preußen bedurfte. Nun ging es Schwarzenberg auch keineswegs um eine nachhaltige Dezimierung der preußischen Macht. Vielmehr galt es, die national orientierte Gruppe in der preußischen Führung zu stürzen, in Verbindung mit den Konservativen einen möglichst weitgehenden österreichischen Führungsanspruch zur Anerkennung zu bringen und substantielle Konzessionen vor allem hinsichtlich einer förmlichen Parität in der Bundesführung tunlichst zu vermeiden. Der Weg dahin führte über eine Mischung von Drohungen, Anknüpfungsversuchen und kleinen Angeboten begrenzter Macht-

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erweiterung. Die Einsicht in die Inkonsistenz der preußischen Führung und die heftigen internen Konflikte unter den Berliner Fraktionen eröffnete dabei die entscheidende Chance, durch eine Politik der offensiven Pressionen das preußische Lager zu zermürben und die Koalition von großpreußischer und nationaler Partei durch eine wirkungsvolle politische Schlappe nachhaltig zu diskreditieren. Da die preußische Kriegspartei einen hochgradig mit Prestigewerten angereicherten Konfliktkurs riskierte, gelang es Schwarzenberg, den Rivalen mit seiner Ultimatumspolitik – nicht ohne erhebliches Kriegsrisiko – einem peinvollen show-down aussetzen, das für Preußen in der »Schmach von Olmütz« endete. Das Spektakuläre dieses Vorganges, verbunden mit der gezielten Larmoyanz borussischer Legendenbildung über die »Schmach«, die vor allem deren spätere »Tilgung« zu legitimieren hatte, hat schon stets die Historiographie beschäftigt und die Suche nach denjenigen Kräften stimuliert, die den (angeblichen) Kriegswillen des eiskalten Leiters der österreichischen Politik gebremst haben. Gewiss war der Zar nach Bereinigung der holsteinischen Frage nicht nur nicht bereit, in einem reinen Kampf um Macht und Prestige ohne weiteres auf die österreichische Seite zu treten und Preußen herabzudrücken  ; er wollte vielmehr das Duell zugunsten der Wiederherstellung des antirevolutionären Einvernehmens der drei Ostmächte verhindern. Die Vorstellung, als habe Kaiser Franz Joseph persönlich einen widerstrebenden Schwarzenberg zum Gespräch nach Olmütz hinbefohlen und bei dieser Gelegenheit erstmals in emanzipatorischer Weise seine herrscherliche Vollgewalt in einer außenpolitischen Frage gegenüber dem mächtigen Ministerpräsidenten zur Geltung gebracht, findet jedoch in den Akten keinen Anhaltspunkt. Die Annahme einer direkten russischen Intervention in Olmütz ist widerlegt. In Wahrheit geht die Unterstellung, als habe Schwarzenberg von einem Kurs der Unterwerfung Preußens abgebracht werden müssen, fehl. Auch sein Ziel war der gemeinsame antirevolutionäre Kampf im Einvernehmen mit den konservativen Kräften in Berlin  ; dies galt es gegen die Kriegspartei und gegen eine gefährlicher werdende kriegerische Stimmung in der Bevölkerung zu stützen, und hierfür schienen die Aussichten nach den letzten internen Erschütterungen und Personalwechseln gegeben zu sein. Dementsprechend fielen die Vereinbarungen der Olmützer Punktation aus  : Sie liefen auf eine förmliche Desavouierung des Bündnisses mit dem Dritten Deutschland hinaus, dessen lediglich taktischer Einsatz durch Österreich offenkundig wurde. Gemeinsam wollten nunmehr die beiden Großmächte die Rückführung Holsteins und Kurhessens zur monarchischen Ordnung besorgen  ; gemeinsam auch luden sie die Bundesmitglieder zu freien Konferenzen nach Dresden zu Verhandlungen über die künftige Verfassung des Deutschen Bundes ein. Mit

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dem Ingrimm des Geprellten, aber durchaus prophetisch stellte der bayerische Minister von der Pfordten zu Olmütz fest  : »Der Kampf um die Hegemonie in Deutschland ist entschieden und Österreich hat ihn verloren.« Franz Joseph dagegen zeigte sich in seiner Korrespondenz mit dem Zaren und dem königlichen Onkel in Berlin tief befriedigt über die »Wiederherstellung der Einigkeit zwischen den Souveränen, den Erben der glorreichen Überlieferungen von 1813«, versicherte, dass es in seiner Umgebung keine preußenfeindliche Partei gebe, und hoffte auf die einträchtige Vollendung des begonnenen Friedenswerks. Es sollte sich freilich zeigen, dass die österreichische Schwenkung von ­Olmütz und der Versuch eines gemeinsamen Auftretens mit Preußen in Dresden den Kaiserstaat dem Ziel einer an seinen Bedürfnissen orientierten Bundesreform nicht näherbrachte  ; die staatskonservative preußische Führung hatte mit Olmütz den nötigen Spielraum gewonnen, um sich aus der Affäre ziehen zu können. Einigkeit bestand unter den beiden Großmächten darin, jegliche parlamentarische Repräsentation beim Bund zu unterbinden  ; dies jedoch aus höchst unterschiedlichen Motiven  : Preußen, das sich bereits früher jedem russischen und österreichischen Drängen auf Abschaffung seiner eigenen Verfassung verweigert hatte, wollte insgeheim seine Chance wahren und jede diesbezügliche Aufwertung des Bundes vermeiden  ; österreichischerseits war man intern längst von der oktroyierten Gesamtstaatsverfassung abgerückt, hatte dem Zaren bereits entsprechende Ankündigungen gemacht und war nunmehr entschlossen (und bei dieser Lage auch gezwungen), den Bund auf dieselbe antikonstitutionelle Linie zu bringen. Diesem Punkt widmete sich Kaiser Franz Joseph selbst mit besonderer Intensität. In der machtpolitischen Kernfrage, dem Zugeständnis des vollen und förmlichen paritätischen Dualismus in der Bundesleitung als Preis für die Gesamtaufnahme der Habsburgermonarchie, kamen sich die Rivalen auch jetzt nicht näher. Infolgedessen brauchten die preußischen Bevollmächtigten nur die Eifersüchteleien und Statuskonflikte der Mittleren und Kleinen in der Frage der Direktoriumskonstruktion ins Kraut schießen zu lassen und sich der Ausübung gemeinschaftlichen Druckes zu verweigern, um dem gesamten Bundesreformprogramm ein Begräbnis erster Klasse zu sichern. Der Versuch, den preußisch dominierten Zollverein aufzubrechen, konnte bei der gegebenen Inter­essenlage ebenfalls unschwer mit dilatorischen Beschlüssen abgewehrt werden. Da die Westmächte ohnehin scharf gegen die politisch-ökonomische Formierung des mitteleuropäischen Siebzigmillionenreiches Stellung bezogen und auch die russische Politik von ihrer vorübergehend freundlichen Haltung in dieser Frage wieder abgingen, hatte die österreichische Politik keine Chance mehr.

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So vollzog sich die Rückkehr zur alten Bundesverfassung nicht nur gegenüber den nationalen und konstitutionellen Hoffnungen der deutschen Öffentlichkeit, sondern auch im Verhältnis der Bundesmitglieder untereinander weitgehend im Zeichen der Negation  ; davon sollte das Bundesverhältnis künftig deutlich bestimmt sein. Die Einsicht in das gemeinsame, konservativ akzentuierte mitteleuropäische Sicherheitsinteresse in der nachrevolutionären Situation veranlasste Preußen immerhin ersatzweise zu dem Angebot einer befristeten Allianz, die im Mai 1851 auf drei Jahre abgeschlossen wurde und in der die beiden Großmächte einander den Schutz ihres gesamten Staatsgebietes vor jedem Angriff von dritter Seite zusicherten. In der gegebenen Lage lag ihr Wert für Österreich darin, dass Preußen ein begrenztes Engagement für die österreichische Position vor allem in Italien einging  ; der bezeichnende Wunsch Österreichs nach einer Hilfezusage auch für den Fall innerer Aufstände wurde von Preußen in ebenso bezeichnender Weise abgelehnt. Die antirevolutionäre Machtpolitik hatte also Österreich nicht jenen Zugewinn an Sicherheit und Stabilität gebracht, derer der Kaiserstaat gerade angesichts der Dürre und Perspektivlosigkeit seines autoritären Konzepts gegenüber den mit der Revolution geweckten Erwartungen mehr denn je zuvor bedurfte. Der Kern österreichischer Selbstbehauptung und Manövrierfähigkeit lag – angesichts der Unwägbarkeiten der westeuropäischen Politik und auch gegenüber dem hegemonialen Druck des Zaren – in der Organisierung und Solidarisierung des gesamtdeutschen Potentials zugunsten der Habsburgermonarchie und unter ihrer Führung im Zeichen der monarchisch-konservativen Solidarität. Gemessen an diesen Bedürfnissen war das Ergebnis der Schwarzenbergschen Deutschlandpolitik dürftig. Die Frage war, ob der Ministerpräsident und insbesondere der junge Kaiser selbst hinreichende Klarheit über die Zerbrechlichkeit der Position Österreichs in Deutschland und Europa besaßen. Franz Josephs erste Gehversuche Mit dem frühen Tod Schwarzenbergs im April 1852 richtete sich diese Frage nunmehr in erster Linie an den Monarchen. Franz Joseph sah die Lage optimistisch  ; er verband seine Befriedigung über die Erneuerung der monarchischen Solidarität in Mittel- und Osteuropa vor allem mit einem hochgestimmten Zutrauen in die eigene Kraft der verjüngten Habsburgermonarchie, ihrer militärischen Potenz und der Leistungsfähigkeit autokratischer Regierungsformen. Seine Auffassungen wurden vor allem von seiner militärischen Umgebung geprägt. Militärische Präsenz und Ausnahmezustand in weiten Teilen des Reiches bestimmten

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die inneren Verhältnisse in der nachrevolutionären Phase auf Jahre hinaus. Vergrößerung der Armee, erhöhter Sachaufwand, vermehrte Truppenbewegungen und Manöver, Ausbreitung des »militärischen Geistes« in allen Bereichen sollten die Schlagkraft nach innen und außen nachhaltig erhöhen. Daneben wirkten die großenteils aus der Revolutionszeit übernommenen Minister und eine effizient arbeitende Ministerialbürokratie für eine durchgreifende gesellschaftliche und wirtschaftliche Modernisierung des Reiches, wobei ständisches Verfassungsrecht ebenso beiseitegeschoben wurde wie altfeudale Gerechtsame. Die komplementäre Schaffung von Selbstverwaltungs- und Vertretungsorganen auf allen Stufen und insbesondere des zentralen Reichstages aber unterblieb von vornherein. Die Undurchführbarkeit der oktroyierten Verfassung galt sehr früh als ausgemacht, und insbesondere der junge Kaiser machte deutlicher noch als etwa Schwarzenberg aus seiner scharf antikonstitutionellen Haltung kein Hehl. Ab Ende 1850 entfaltete der nunmehr Zwanzigjährige eine bemerkenswerte Initiative, um sich nicht nur von der Verfassung, sondern auch aus der faktischen Bevormundung durch seine Minister zu befreien. Hierbei bediente er sich des Rates des erfahrenen Vormärzbürokraten Kübeck, der die Etappen bis zum Ziel der effektiven Selbstherrschaft sorgfältig plante, und dessen verfassungspolitischem Kurs bis zum förmlichen Widerruf der Verfassung (Silvesterpatent 31.12.1851) Schwarzenberg sich anpasste. Der Tod des Ministerpräsidenten gab dann die Gelegenheit, auch den Ministerrat als Organ zu zerschlagen  ; Franz Joseph betrachtete sich von nun an als sein eigener Ministerpräsident und die Minister als politisch unverantwortliche Diener, denen er in der Folge auch kein Recht auf Demission zugestand. Hatte Kübeck geglaubt, mithilfe des von ihm ausgestalteten Reichsrates – funktionell ein Kronrat – zum eigentlichen Koordinator der Regierungspolitik aufzusteigen, so sah er sich darin getäuscht  : der Wille zur unbedingten Autokratie schob auch dieses Organ in den nächsten Jahren beiseite. Auf diese Weise belud sich der bürokratisch-zentralistische Absolutismus, der in den maßgeblichen gesellschaftlichen Kräften des Reiches ohnedies keinen Rückhalt hatte und die Nationalitäten- und Verfassungsproblematik lediglich zudeckte, zusätzlich mit erheblichen Führungsdefekten. Der junge Monarch, der nunmehr als Erst- und Letztinstanz politischer Willensentscheidung den Ressortegoismen und partikularer Einflussnahme unmittelbar ausgeliefert war, konnte die ihm zugemutete Integrationsfunktion kaum erfüllen  ; Außen- und Militärpolitik, innere Reformpolitik und Finanzpolitik standen unkoordiniert nebeneinander. Insbesondere an der strukturellen Dauermisere der Staatsfinanzen erwies sich in den nächsten Jahren, dass der Großmachtanspruch auf maßgebliche Mitsprache in den europäischen Konflikten aus eigener Kraft nicht einzulösen war, dass aber

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zugleich die angemessene Einsicht in diesen Sachverhalt und die sichere Hand fehlte, um daraus die Konsequenzen für die notwendige Vorsicht und Sorgfalt in den außenpolitischen Bewegungen zu ziehen. Es bedarf keiner besonderen Begründung, dass Franz Joseph die Außenpolitik als das klassische Feld monarchischer Prärogative ansah. Der Tod der übermächtigen und vom kaiserlichen Jüngling uneingeschränkt bewunderten Vaterfigur Schwarzenbergs bedeutete – bei aller augenblicklichen ehrlichen Trauer – von daher auch eine Entlastung. Der Kaiser zögerte nicht, das entstandene Vakuum selbst auszufüllen und mit eindrucksvollem Selbstbewusstsein sogleich zu erklären, dass er selbst die Leitung der Politik in die Hand nehmen und im Geiste des Verstorbenen weiterführen wolle. Auf diese Weise wurde der jugendliche Monarch zwar tatsächlich nicht sein eigener Außenminister, aber der Nachfolger Schwarzenbergs Graf Buol hatte – wie alle Späteren – mit der intensiv wahrgenommenen Richtlinienkompetenz des Monarchen zu rechnen. In der Epoche des Neoabsolutismus wurde die außenpolitische Gesamthaltung Franz Josephs dabei von zwei grundlegenden Fehleinschätzungen getragen  : von einer Überschätzung der Kraft und Stärke Österreichs und von Illusionen bezüglich der österreichischen Stellung im Deutschen Bund. Das Erlebnis der militärischen Siege über die Revolution und der durch kühne diplomatische Härte errungenen Selbstbehauptung, die großartigen Reden der Neugestalter Österreichs über die anstehenden Aufgaben und mitteleuropäischen Zukunftsperspektiven, die dynastische Sichtweise und das hieraus bezogene Vertrauen in die antirevolutionäre Solidarität der konservativen Regierungen  : all das macht dieses Bewusstsein umso mehr erklärbar, wenn man es mit der Erwägung altersbedingten Erfahrungsmangels und jugendlich-optimistischer Unbedachtsamkeit verknüpft. Österreich, der Krimkrieg und der Deutsche Bund Die erste Bewährungsprobe sollte sich sehr bald mit der orientalischen Krise und dem daraus erwachsenden Krimkrieg einstellen, die über den Anlass hinaus erneut die Position Österreichs in der gesamteuropäischen Konfiguration der Kräfte vor dem Hintergrund der deutschen Situation zum Thema machten. Religionsfragen zum Vorwand nehmend, gedachte die russische Führung 1853 die Früchte der neu befestigten Vormachtstellung gegenüber Mitteleuropa zu ernten und die alte Politik der Durchdringung des Osmanischen Reiches wiederaufzunehmen. Die Allianz, mindestens die wohlwollende Neutralität der beiden deutschen Großmächte wurde dabei mit Selbstverständlichkeit gefordert  ; insbeson-

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dere das näher betroffene Österreich unterlag dem werbenden Druck des Zaren, wobei auch der Gedanke einer Ost-West-Teilung des Balkans in Einflusszonen eine Rolle spielte. Auf der anderen Seite machten die beiden Westmächte, der Türkei den Rücken stärkend, mit wachsender Schärfe gegen die russische Politik Front und bescherten den Mittelmächten damit ein Optionsproblem. Konnte Wien demgegenüber auf der von Metternich entwickelten Tradition österreichischer Orientpolitik beharren, die die Integrität des Osmanischen Reiches als europäische Notwendigkeit predigte, das eigene Desinteresse zur Leitlinie erhob und die politische Passivität nicht selten genug mit Einflusslosigkeit bezahlen musste  ? Nur wenige Hochkonservative hielten in dieser Situation aus ideologi­ schen Gründen an der alten Ostallianz fest  ; der Kaiser war mit den maßgeblichen Militärs und dem Außenminister entschlossen, durch aktives politisches Eingreifen vor dem Hintergrund militärischer Kriegsbereitschaft die russische Expansion und Penetration zu durchkreuzen und im Rahmen des europäischen Konzerts das Gewicht des eigenen Einflusses im osmanischen Bereich zu stärken. Da das österreichische Interesse sich dabei auf die Donaumündung richtete, vollzog sich diese Stoßrichtung quer zu den russischen Tendenzen, weshalb auch aus diesem Grund russische Teilungsvorstellungen ausgeschlossen waren. Anti­ revolutionäre Präventionstendenzen, die sich gegen den Balkannationalismus, seine Förderung durch Russland und seine destabilisierenden Rückwirkungen auf die Habsburgermonarchie richteten, verbanden sich in diesem Konzept mit »mitteleuropäischen« Zielsetzungen, die mit der Gleichsetzung des österreichischen und deutschen Interesses an einer auf den Südosten gerichteten Penetra­ tionspolitik zugleich den österreichischen Führungsanspruch in Deutschland umfassender legitimieren sollten. In einem dramatischen persönlichen Briefwechsel mit seinem »väterlichen Freund« Zar Nikolaus, der diesen vergeblich von seinem Expansionskurs abzubringen trachtete, vollzog der junge Monarch nicht ohne Schärfe die Wendung gegen die gefolgschaftheischenden Zumutungen der russischen Politik und zur Formulierung einer eigenständigen österreichischen Position. Ob Franz Joseph sich freilich der Problematik einer aktiven österreichischen Orientpolitik mit scharf antirussischer Spitze im Geflecht der außen- und innenpolitischen Faktoren voll bewusst war, wird zweifelhaft, wenn man etwa die Rechtfertigung liest, die er im Oktober 1854 seiner Mutter gegenüber gab  : »Ich bin übrigens trotz aller politischen Verwirrungen guten Mutes, da nach meiner Ansicht aus dieser orientalischen Geschichte, wenn wir kräftig und energisch auftreten, für uns nur Vorteile entspringen können, denn im Oriente liegt unsere Zukunft, und wir werden Rußlands Macht und Einfluß in jene Grenzen zurückdrängen, aus

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welchen es nur durch die Schwäche [Metternich  !] und Uneinigkeit der früheren Zeit nach und nach vordringen konnte, um langsam und – dem Kaiser Nikolaus vielleicht unbewußt, aber doch sicher – unsern Ruin herbeizuführen. Es ist hart, gegen frühere Freunde auftreten zu müssen, allein in der Politik ist dies nicht anders möglich und im Oriente ist Rußland jederzeit unser natürlicher Feind. Mit der so gefürchteten Revolution werden wir auch ohne Rußland fertig werden [!], und ein Land, welches in einem Jahre 200000 Rekruten ohne Anstand aushebt und ein Anlehen von über 500 Millionen fl im Inland zustande bringt, ist noch nicht gar so revolutionskrank. Vor allem muß man Österreicher sein, und daher freue ich mich, die Person des Kaisers Nikolaus aus dem Spiele lassend, über die Schwäche, die Russland jetzt beweiset.« Diese etwas holzschnittartige Sichtweise verrät doch sehr viel von dem – angesichts der außen- wie der innenpolitischen Verhältnisse leichtfertigen – Kraftgefühl, das das Erlebnis der Schwarzenbergschen Politik in dem jungen Kaiser ausgelöst hatte. Den stärksten Niederschlag fand diese Stimmungslage in den politischen Tendenzen und Träumereien der aktiv im osmanischen Bereich tätigen Gruppe um Bruck, jetzt Internuntius bei der Pforte, Generalquartiermeister Heß, der den militärischen Aufmarsch Österreichs im Osten leitete, und FML Coronini, den Chef der nachmaligen österreichischen Besatzungstruppen in den Donaufürstentümern. Diese Gruppe glaubte, Österreich als Führerin eines festen Bündnisses mit Preußen und dem übrigen Deutschland bei Frontstellung sowohl gegen Russland als auch gegen die Westmächte als unabhängige und gebieterische dritte Kraft ins Spiel bringen zu können, berufen, den Frieden zu diktieren und bei dieser Gelegenheit die eigene machtpolitische und ökonomische Präsenz in den Donaufürstentümern fest zu etablieren. Zweifellos wäre dies eine Politik nach dem Herzen des Monarchen gewesen, doch waren die Grundannahmen der Freunde Brucks, was insbesondere die deutsch-mitteleuropäischen Voraussetzungen betraf, durchaus nicht gegeben, weshalb ihre ständige Kritik an der offiziell en österreichischen Politik denn auch ins Leere stieß. Die tatsächliche Linie Wiens, wie sie von Außenminister Buol konzipiert und vom Kaiser mit Modifikationen getragen wurde, suchte das Gewicht Österreichs ebenfalls gebieterisch, jedoch in einem komplizierten, die Tendenzen der kriegführenden Mächte wie der deutschen Staaten in Rechnung stellenden diplomatischen Spiel zur Geltung zu bringen und dabei mehrere Ziele der österreichischen Machtsicherung gleichzeitig zu verfolgen. Es sollte sich freilich zeigen, dass auch im Rahmen traditioneller, militärisch gestützter Konzertdiplomatie die Kraft Österreichs nicht hinreichte, um Europa aus einer Schlüsselposition heraus die Richtung des Friedensschlusses zu weisen und damit zugleich die eigene Position

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im Orient, in Deutschland und in Italien zu festigen. Anstatt zu führen, waren Franz Joseph und Buol vielmehr weitgehend die Getriebenen und am Ende die Opfer mächtigerer politischer Potenzen, ohne indes diesen Sachverhalt und seine Konsequenzen angemessen zu würdigen. Bis zur englisch-französischen Kriegserklärung an Russland im März 1854 hatten Buol und Franz Joseph, während sie sich (wie übrigens auch Preußen) massivem russischen Druck zur Parteinahme entzogen, vergeblich versucht, auf der Basis verschiedener Vermittlungsvorschläge den Frieden zu sichern. Da auch der Kriegswille der Westmächte nicht zu bremsen war und beide, bei unterschiedlich akzentuierten, aber für Österreich gleichermaßen gefährlichen Plänen europäischer Veränderung, erhebliche Pressionsmittel insbesondere hinsichtlich Italiens in der Hand hatten und rasch auch einsetzten, konzipierte Buol frühzeitig eine bedingte Westoption. Sie sollte die Kriegsziele der Westmächte begrenzen, Russland im Orient eindämmen und zum Frieden zwingen, die Position Österreichs durch Übertragung des russischen Protektorates über die Donaufürstentümer Moldau und Walachei und über Serbien auf die Habsburgermonarchie als Mandatar Europas im Orient stärken, den status quo in Italien durch Zusammenarbeit mit dem Westen festigen und schließlich das deutsche Gesamtpotential zugunsten Österreichs mobilisieren. In Frankfurt und Berlin nämlich sollte die Westallianz den deutschen Staaten die Gefahr der Isolierung bei einem Abseitsstehen vor Augen führen und sie in die orientpolitische Gefolgschaft Österreichs zwingen, unter Anerkennung der Identität österreichischer und deutscher Interessen und der österreichischen Sprecherrolle auf europäischer Ebene. Die deutschlandpolitischen Prärogativen, deren verfassungsrechtliche Absicherung Österreich unter Schwarzenberg vergeblich erstrebt hatte, sollten also jetzt durch die Praxis behauptet werden. Gegenüber den kriegführenden Parteien wiederum sollte die Verfügung über das gesamtdeutsche Potential dem machtpolitischen Auftreten Österreichs den eigentlichen Rückhalt verleihen. Westallianz und deutsches Bündnis waren also in Buols Kalkül wechselseitig aufeinander bezogen. Für die politische Denkweise Franz Josephs war es wiederum bezeichnend, dass er, seinen militärischen Ratgebern folgend, seinen Außen­minister von diesem Balanceakt vorerst zurückhielt und vor allen weiteren Schritten Sicherheit in einem festen preußischen Bündnis suchte. Damit war die komplizierte Frage des mitteleuropäischen Sicherheitsbedürfnisses und einer einvernehmlichen genuin mitteleuropäischen Politik aufgeworfen, die sich sogleich mit dem Problem der seit 1851 weiterschwelenden Machtrivalität in Deutschland verknüpfte. Es gab in der Tat ein starkes gemeinsames, defensiv gerichtetes Sicherheitsinteresse der beiden deutschen Großmächte und des

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übrigen Deutschland, doch deckte seine Reichweite gerade nicht jeden Schritt einer aktiven österreichischen Orientpolitik, der die Gefahr eines Krieges mit Russland in sich barg. Darüber hinaus bot die Situation dem preußischen Eigen­ ständigkeits- und Profilierungsstreben erweiterte Chancen, die die konservative Führung (nach Überwindung interner Richtungskämpfe über ein mögliches Wiederaufrollen der deutschen Frage im Bündnis mit dem Westen) zur Formulierung einer unabhängigen »souveränen Neutralität« und zur Pflege des Drahtes nach Petersburg nutzte. Auch das Dritte Deutschland formierte sich, von der Sorge über die gesamtpolitischen Folgen einer Entfremdung Russlands für das monarchisch-konservative System getrieben, um sein Mitspracherecht geltend zu machen. Die österreichische Politik stand also vor dem Problem, sich die G ­ efolgschaft des übrigen Deutschland zu sichern, ohne die eigene Bewegungsfreiheit einzu­ engen. Kaiser Franz Joseph sah hier gar kein Dilemma. Er war während des Krimkrieges fortwährend von der fixen Vorstellung durchdrungen, dass es die politisch-moralische Pflicht der deutschen Bundesglieder und ein Gebot des deutsch-mitteleuropäischen Interesses sei, der Führung Österreichs zu folgen. Dementsprechend trat die österreichische Diplomatie in Frankfurt und an den deutschen Höfen auf  : gefolgschaftheischend, das Bundesrecht strapazierend, vor den Konsequenzen einer Verweigerung warnend, dabei jede Fesselung der eigenen Politik der freien Hand zurückweisend. Mit ihrer Methode, die zweite deutsche Großmacht und den Deutschen Bund an das österreichische Orientinteresse zu binden und durch eine Politik der vollendeten Tatsachen schrittweise hinter sich herzuziehen, hatte die österreichische Diplomatie nun eine Zeitlang durchaus Erfolg. Mit Preußen kam im April 1854 die Erneuerung der Allianz von 1851 zustande  ; sie gewährleistete die territoriale Integrität des Kaiserstaates und enthielt präzise Festlegungen, freilich nur für diesen Defensivzweck. Gleichwohl riskierten Franz Joseph und Buol daraufhin vor dem Hintergrund eines beachtlichen österreichischen Ostaufmarsches die ultimative Aufforderung an Russland, die von ihm besetzten Donaufürstentümer zu räumen, setzten sich damit ohne Krieg durch, um anschließend das Gebiet – all das ohne Konsultation der deutschen Verbündeten – von österreichischen Truppen besetzen zu lassen und ein Besatzungsregime auch zur Förderung des österreichischen Einflusses einzurichten. Berlin und Frankfurt folgten diesen Schritten  – widerstrebend und unter ständigen Rückversicherungen in Petersburg – durch Unterstützung der Sommation, Aufrechterhaltung der Schutzgarantie und schließlich sogar deren Ausdehnung auf die Okkupationstruppen. Furcht vor Isolierung, der dringende Wunsch, Österreich auf diese Weise von Schlimmerem (der Allianz mit dem Westen) zu-

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rückzuhalten, Zusammenhalten des Deutschen Bundes sowie Hoffnung auf russische Nachgiebigkeit (die dann auch nicht trog) und auf kontinentaleuropäische Friedenswahrung waren hierbei die Motive der deutschen, insbesondere der mittelstaatlichen Politiker und ihres teilweise intensiven persönlichen Engagements. Im Gegensatz zu dem Demonstrationserfolg Wiens in Deutschland stand die Geringschätzung der österreichischen Politik und der österreichischen Macht bei den kriegführenden Westmächten, die entschlossen waren, dem russischen Übergewicht und damit der Autokratie in Europa mit oder gegen die Habsburgermonarchie einen entscheidender Schlag zu versetzen (so vor allem die englischen Whigs) bzw. den konservativen Block diplomatisch zu spalten zur Vorbereitung künftiger Veränderungspolitik (so vor allem Napoleon III.). Hier galt es, Österreich von Russland abzuziehen  ; ein militärischer Beitrag der Habsburgermonarchie wäre gern gesehen worden (auch gegen Bezahlung), nicht aber war man geneigt, den österreichischen Zielvorstellungen und Friedensbemühungen politisches Gewicht zuzumessen und in der Sache zu respektieren. Wie vielsagend in diesem Zusammenhang die Unmutsäußerung Franz Josephs, er sei vom Westen wie ein »Söldnerführer« behandelt worden  ! Die Okkupation der Donaufürstentümer löste als österreichischer Versuch, im Windschatten Beute zu machen, Verärgerung aus  ; italienpolitische Drohungen waren als Pressionshebel stets präsent  ; französische Tauschprojekte (Annexion der Donaufürstentümer gegen Freigabe Lombardo-Venetiens) eröffneten düstere Perspektiven. Außenminister Buol, der diplomatisch mehr und mehr auf westlicher Seite Position bezogen hatte, sah die österreichischen Mitgestaltungschancen bei der bisherigen kaiserlichen Politik der freien Hand trotz Okkupation und militärischer Drohhaltung nicht verbessert. Er erneuerte im Herbst 1854 vor dem Hintergrund der in Deutschland errungenen Position sein Projekt einer förmlichen Allianz mit den Westmächten, nicht um unbedingt in den Krieg einzutreten, sondern um Einfluss auf die Kriegsziele zu gewinnen. Nunmehr war der junge Kaiser beeindruckt und ließ sich – bei heftigem internen Gezerre in den Wiener Führungsgruppen (auch der alte Metternich warnte vernehmlich) – für den Bündnisabschluss (2.  Dezember) gewinnen. Eine österreichisch-französische Vereinbarung über die Wahrung des status quo in Italien für die Zeit des Krieges war der für Österreichs Nöte bezeichnende, wenn auch nur befristet wirksame Nebenertrag. Sie hielt die Westmächte freilich nicht davon ab, gleichzeitig mit der Annahme eines sardinischen Kriegsbeitrages die Aufwertung des italienischen Rivalen zu betreiben. Trotz der von Österreich genau eingegrenzten Allianzziele (Einleitung von Friedensgesprächen auf der Basis eines vereinbarten Zielkatalogs, bei Scheitern

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Vorbehalt weiterer Maßnahmen) kam dem Schritt vom Dezember 1854 doch eine systemsprengende Bedeutung zu  ; Napoleon konnte mit Recht frohlocken. Franz Josephs oben zitierter Rechtfertigungsbrief an seine Mutter verrät, dass der jugendliche Herrscher die Bedeutung der konservativen Ostallianz für sein prekäres autokratisches Regime und für die schwierige Wahrung der politischen Struktur Deutschlands in diesem Moment kaum begriffen hatte. Österreich verfehlte seine mit der Westallianz verknüpften Ziele vollkommen. Zunächst sollte der vor vollendete Tatsachen gestellte Deutsche Bund in erprobter Manier auch in der neuen politischen Stellung nachrücken und der Position Öster­ reichs durch eine gegen Russland gerichtete militärische Demonstration das nötige Gewicht verleihen – gegebenenfalls ohne und gegen Preußen, wodurch das Unternehmen zugleich mit einer innerdeutschen Kraftprobe verknüpft worden wäre. Doch nunmehr hatte Wien den Bogen überspannt  ; die nachhaltige Verärgerung gerade auch der mittelstaatlichen Politiker verschaffte dem preußischen Bundestagsbevollmächtigten Bismarck eine willkommene Gelegenheit, mit einer Frankfurter Erklärung strikter Neutralität nach allen Seiten das Dritte Deutschland mit der preußischen Position genuin deutscher Interessenwahrung zu verbinden und Österreich demonstrativ zu isolieren. Auf europäischer Ebene war die Demontage der österreichischen Stellung noch augenfälliger. Die in Wien auf der auch von Russland angenommenen Basis der sog. Vier Punkte veranstalteten Friedenssondierungen, in denen sich auch Franz Joseph persönlich einsetzte, scheiterten vornehmlich am Siegeswillen des Westens. Parallel hierzu erzwang die österreichische Finanzlage eine völlige Preisgabe der gegen Russland gerichteten militärischen Drohposition. Franz Joseph ließ demobilisieren  ; Österreich verweigerte den Kriegseintritt an der Seite der Westmächte und verabschiedete sich im Sommer 1855 vorerst aus der Krimkriegsdiplomatie. Erst nach der weiteren militärischen Schwächung Russlands brachte der friedenswillige Napoleon III., der seinen europapolitischen Zielen ein gutes Stück näher gekommen war, den Faktor Österreich wieder ins Spiel. Um den Anschluss nicht zu verpassen, gaben sich Buol und Franz Joseph im Einvernehmen mit Frankreich und unter Einbindung Englands nun dazu her, mit einem österreichischen Ultimatum [!] (es war militärisch in keiner Weise abgesichert und brauchte es wohl auch nicht mehr, um den Fallenden zu stoßen) die russische Führung zum Frieden zu zwingen. Damit war das Maß der Demütigungen des geschlagenen Russland durch das am Krieg unbeteiligte Österreich noch nicht voll. Über die bisherigen Friedensbedingungen hinausgehend verlangten und erreichten Franz Joseph und Buol auf dem Pariser Friedenskongress die Abtretung des an die Donau grenzenden Teiles Bessarabiens an die Türkei, womit für die künftige D ­ onau-

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und Balkanpolitik eine wichtige territoriale Voraussetzung geschaffen werden sollte. Die nachhaltige Schwächung der russischen Position am Schwarzen Meer (vor allem durch dessen Neutralisierung) und die österreichisch-russische Entfremdung lag im Programm der Westmächte. In den für das österreichische Orientinteresse darüber hinaus entscheidenden Punkten  : dauerhafte Verhinderung eines konstitutionellen rumänischen Nationalstaates mit seinen destabilisierenden Wirkungen auf die Nationalitäten-Problematik im Südosten des eigenen Reiches, Sicherung der Ansatzpunkte für den eigenen Einfluss in den Donaufürstentümern, erreichte die Kongressdiplomatie Buols nichts Substanzielles, obwohl die Niederhaltung der »Revolution« auf dem Balkan von Franz Joseph zu einer Hauptfrage erhoben worden war. Mit den wirklichen Siegern, den Westmächten, war eine verlässliche konservative Stabilitäts- und Repressionspolitik nicht zu betreiben. Der Abschluss des österreichisch-französisch-englischen Tripelvertrages vom 15. April 1856 zur Sicherung der Unabhängigkeit des Osmanischen Reiches, mit dem Buol seine Politik der Begründung eines neuen europäischen Systems zu krönen glaubte, sollte sich rasch als Totgeburt erweisen. Die Aufwertung Sardiniens auf dem Pariser Kongress, die scharfen britischen Angriffe auf die von Österreich zu verantwortenden Zustände in Italien, die französisch-russischen diplomatischen Einverständnisse in den Verhandlungen, all das gab schon jetzt einen Vorgeschmack davon, wohin die Reise gehen würde. Wenn Kaiser Franz Joseph das Kongressergebnis – auch in privaten Äußerun­ gen – mit großer Befriedigung zur Kenntnis nahm, so realisierte er nicht, wie sehr die existenzsichernde Einbettung der Integrität der Habsburgermonarchie in das europäische Vertragssystem unterminiert worden war, welche Schwächung für die österreichische Sicherheit von der vermeintlichen Umkehr der Allianzen tatsächlich ausging, wie wenig Verlass in dieser neuen Konstellation auf den preußischen ›Partner‹ und auf das System des Deutschen Bundes war, und wie schmal die Voraussetzungen österreichischer Selbstbehauptung aus eigener Kraft waren. Es sollte noch ein Jahrzehnt der Niederlagen und Demütigungen vergehen, bis das politische Selbstbewusstsein des Kaisers mit dem tatsächlichen ›Verkehrswert‹ der Habsburgermonarchie in einem von den Praktiken der »Real­ politik« beherrschten Europa zur Deckung kam. Der italienische Krieg und die deutsche Frage Sehr bald sah Österreich sich der ersten Herausforderung gegenübergestellt, als Napoleon III. im Bündnis mit Cavour und auch im vertraulichen Einverständnis

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mit Petersburg die Italienfrage aufzurollen begann. Die gezielte Inszenierung einer französisch-österreichischen Krise stürzte die österreichische Politik sogleich in ein schweres Dilemma, da der höchst anfällige Zustand der Finanzen und des Staatskredits der Monarchie kein längeres Durchhalten eines politischen Spannungszustandes noch dazu in militärischer Bereitschaft erlaubte. Darauf war das französische Vorgehen auch durchaus berechnet. Der bald von Russland ins Spiel gebrachte Vorschlag eines europäischen Kongresses über Italien komplizierte die Situation weiter, da Verlauf und Ergebnisse einer solchen Veranstaltung für Österreich nur eine Positionsminderung in Aussicht stellten. Berlin begann sich für eine eigenständige Vermittlung in Positur zu setzen und förderte mit England die Kongressidee. Nach der Verfassung des Deutschen Bundes war eine Verpflichtung zum Bundeskrieg für das außerdeutsche Lombardo-Venetien nicht, wohl aber z. B. für das bundeszugehörige Trentino und für Triest gegeben  ; im Falle der bundesfremden Territorien Österreichs war der Kriegsbeistand eine politische Ermessensfrage, deren Verbindlichkeit je nach Zuschreibung von Aggression und Defensive unterschiedlich zu bewerten war. Die preußisch-österreichische Allianz von 1854 war 1857 nicht erneuert worden. In Deutschland löste das französisch-sardische Komplott eine heftige nationale Gemütsbewegung aus  ; die ›öffentliche Meinung‹ sah ganz überwiegend das deutsche Interesse berührt, die Solidarisierung mit Österreich als geboten, und rückt die napoleonische Politik in die Perspektive der säkularen deutsch-französischen Feindschaft in der Tradition des großen Onkels und der Befreiungskriege. Der große Krieg mit Frankreich stand also am Horizont. Auch die preußische Führung, in der mit Beginn der »Neuen Ära« unter Wilhelm I. der deutschlandpolitische Ehrgeiz neu belebt worden war, entzog sich diesen Erwägungen nicht, richtete sich aber mit einer Politik der freien Hand frühzeitig darauf ein, einen bundespolitischen Preis einzufordern und für den Fall des Nationalkrieges am Rhein, dessen militärische Hauptlast auf Preußen fallen würde, dafür zu sorgen, dass der nationale Prozess mit diesem Großerlebnis nicht auf ein österreichisches Geleis gebracht würde. Weit stärker noch (und auch mit relativ mehr Berechtigung) als in der Zeit des Krimkrieges war die Führung in Wien davon durchdrungen, dass Preußen und mit ihm der Bund Österreich aus politischen Gründen einfach folgen mussten. Namentlich Kaiser Franz Joseph lebte intensiv in dieser Überzeugung, vor allem auch weil es sich schlichtweg um die Verteidigung des Rechtes, der Verträge von 1815, gegen den revolutionären Umsturz handelte. »Deutschlands patriotische Haltung«, so schrieb er an seinen Freund Kronprinz Albert von Sachsen,

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»hat imponiert und würde noch viel mehr wirken, wenn Preußen kräftiger und bundesfreundlicher auftreten würde. Ich baue fest auf Preußens gutes Handeln im Augenblicke der äußersten Gefahr, allein daß dieser Augenblick durch kräftiges Aussprechen und deutliches Auftreten vermieden würde, das will man in Berlin nicht begreifen. Da heißt es halt sehr viel Geduld haben.« Wie gering der Spielraum für eine Politik der »Geduld« tatsächlich war, zeigten die heftigen internen Auseinandersetzungen in Wien über die einzuschlagende Taktik  ; sie unterwarfen die Entscheidungskompetenz des immer noch jugendlichen Monarchen einer Zerreißprobe. Gegen die auf Rüstungsmaßnahmen drängenden Militärs stand das Diktat der leeren Kassen und der Kreditverweigerung des Auslandes  ; dem Stillhalteappell des Finanzministers Bruck verliehen die optimistischen Lageberichte des Außenministers Buol über Frankreichs Vorsicht und die Haltung der übrigen Mächte eine trügerische Absicherung. Franz Joseph folgte seinen Zivilministern jetzt ebenso wie bei der abrupten Schwenkung von Mitte April, als dieselbe Meinungsgruppe der Aushungerungsstrategie der Kongressbefürworter mit der blitzartigen militärischen Ausschaltung des hochgerüsteten und vermeintlich isolierbaren Sardinien begegnen wollten. Er entschied sich für das Ultimatum vom 19. April, für das er wie die zögernden Militärs durch Buols Aussicht auf ein festes Auftreten Preußens gegen Frankreich gewonnen wurde. Diplomatisch erwies sich das österreichische Vorgehen als katastrophal, zumal die rasche Exekution des Ultimatums infolge der vorangegangenen Stillhaltepolitik militärisch durchaus nicht hinreichend vorbereitet war. Nach den ersten kriegerischen Misserfolgen entschloss sich Franz Joseph in einer für seine Selbsteinschätzung bezeichnenden Weise, persönlich nach Oberitalien zu gehen und das Kommando zu übernehmen. Parallel dazu setzte, wobei der glücklose Buol als Außenminister durch Graf Rechberg ersetzt wurde, ein intensives österreichisches Werben in Deutschland zur Einleitung des großen Krieges gegen »die Revolution« und zum Sturz Napoleons ein  ; sie mündeten inmitten einer aufgewühlten politischen Stimmung in ein zähes preußisch-österreichisches Feilschen um die Frage des Oberbefehls und die Dispensierung der Bundeskriegsverfassung als Ausdruck der deutschlandpolitischen Positionskämpfe. In Kenntnis dieser Vorgänge mit ihrer Problematik und unter dem Eindruck der seinen Feldherrnglauben nachhaltig erschütternden Niederlage von Solferino ließ Franz Joseph sich auf eine persönliche Begegnung mit Napoleon ein, schenkte den von diesem vorgelegten gefälschten »Beweisen« über ein angebliches preußisch-französisches Zusammenspiel Glauben und schloss in erneuter abrupter Wendung am 11.  Juli den Vorfrieden von Villafranca, der die Lom-

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bardei preisgab, jedoch im Übrigen eine einvernehmliche Stabilisierung Italiens in Aussicht stellte. Franz Joseph, der sich militärisch wie diplomatisch durch eigenes Handeln persönlich stark exponiert hatte, war den Tücken und Fallstricken des politischen Geschäfts der nachrevolutionären Spieler zweifellos nicht gewachsen gewesen. Sehr bald sollte sich zudem erweisen, was von den napoleonischen Zusagen hinsichtlich Italiens zu halten war. Für den dupierten und tief verletzten österreichischen Kaiser geriet die Figur Napoleons III. nunmehr rasch zur Inkarnation des politisch Bösen. »Erzschuft« oder »Spitzbube« lauteten in den nächsten Jahren in vertraulichen Äußerungen die regelmäßig wiederkehrenden Bezeichnungen für den Feind, dessen Bekämpfung in seinen Augen das vorrangige Ziel der konservativen Kräfte zu sein hatte. Zunächst aber, unter dem unmittelbaren Eindruck der Niederlage, richtete der Enttäuschte heftige und auch sehr persönlich getönte Anklagen gegen das treulose Preußen. Öffentlich wurde im sog. Laxenburger Manifest dem Versagen der »ältesten und natürlichsten Bundesgenossen« die Schuld für den frühzeitigen und opfervollen Kriegsabbruch angelastet  ; dem Prinzregenten gegenüber stellte Franz Joseph brieflich fest, Preußen habe eine »große Rechtsverletzung« ruhig geschehen lassen und durch seine Verweigerung des föderativen Beistandes die »Grundlage der deutschen Bundesverhältnisse« infrage gestellt. Dem persönlichen Schlagabtausch des Monarchen folgte eine kräftige, von den Regierungen genährte publizistische Fehde. So verständlich aus der Perspektive seiner Wert- und Ordnungsvorstellungen die Empörung des österreichischen Kaisers sein mochte  ; die politische Situation ließ den Luxus nachträglicher Schuldzuweisungen durchaus nicht zu. Tatsächlich war der Italienische Krieg erst der Auslöser einer umfassenden Bedrohung der habsburgischen Machtposition. Im Innern leitete der Prestigeverlust in Verbindung mit der offenen Flanke der katastrophalen Finanzlage die allmähliche Auflösung des vom Kaiser zäh verteidigten autokratischen Systems ein. Damit traten alle 1848 aufgerührten und seither ungelösten Verfassungsprobleme des Vielvölkerreiches wieder an die Oberfläche, die vom Neoabsolutismus nur zugedeckt worden waren. In Italien brach die Position der habsburgischen Gesamtdynastie, zu deren Verteidigung Österreich allein nicht mehr die Kraft aufbrachte, bald nach Villafranca und dem Züricher Frieden geradezu erdrutschartig zusammen. Der noch übrige Besitz Venetiens war von Anfang an gefährdet. In Deutschland sorgte die mächtig wieder auflebende Nationalbewegung in Verbindung mit der latent von Frankreich ausgehenden Bedrohung dafür, dass auch in den Kabinetten die Bundesreformfrage erneut in Bewegung geriet und jetzt wesentlich als Problem der Bundeskriegsverfassung in Angriff genommen

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wurde. Dabei stellte sich sogleich die für die nachrevolutionäre Deutschlandpolitik charakteristische Dreieckskonstellation der deutschen Staatenwelt wieder ein  : neben Österreich und Preußen suchte sich das Dritte Deutschland als eigenständiger Faktor zu formieren. Strukturell lagen die deutschlandpolitischen Vorstellungen Österreichs und der konservativen Mittelstaaten wie stets näher beieinander  ; sein gesteigertes Schutzbedürfnis, aktualisiert mit der venezianischen Frage, verwies Österreich jedoch auf Preußen. Dem entsprach das Konzept des neuen Außenministers Rechberg, mit ihm aber verband sich aufs Neue das Problem bundespolitischer Konzessionen in Richtung auf einen die Bundesstruktur gefährdenden Dualismus. Franz Joseph setzte erneut auf die Bande dynastischer Solidarität angesichts der Österreich und Preußen gemeinsam drohenden Gefahren napoleonischer Hegemonialpolitik und auf die Methoden persönlicher Monarchenverständigung. Die Begegnung mit Prinzregent Wilhelm in Teplitz (25./26. Juli 1860) zog einen Schlussstrich unter den Hader des Vorjahres (sogar das »Du« wurde ausgetauscht)  ; beide Monarchen verständigten sich in einer »Punktation« auf die gemeinschaftliche Abwehr eines französischen Angriffs gegen eine der beiden Mächte in ihrem Gesamtterritorium und auf die Rückkehr zur vormärzlichen österreichisch-preußischen »Vorverständigung« in allen wichtigen bundespolitischen Fragen vor ihrer Behandlung am Bundestag. Weitere Forderungen Wilhelms (vor allem das Alternat im Bundespräsidium) wurden, nicht zuletzt dank intensiven Einwirkens des engagierten Franz Joseph auf seinen väterlichen Partner, beiseitegeschoben oder dilatorisch behandelt. Die konservative Allianzpolitik von 1851 schien zurückzukehren, und der Kaiser pries die »glückverheißenden Tage von Teplitz«. Als es aber danach in Berlin an die Formulierung von Militärverträgen ging, entdeckte die preußische Führung, dass Geben und Nehmen angesichts der für Österreich weit empfindlicheren Gefährdungssituation doch ungleich verteilt waren  ; der Preis für den Schutz Venetiens wurde wieder erhöht, und die Verhand­lungen scheiterten. Dann aber ergriff Berlin Ende 1861 mit dem offiziellen Rückgriff auf den Radowitzschen Unionsplan die deutschlandpolitische Offensive. Sie führte nunmehr Österreich und die Mittelstaaten zu gemeinsamer Abwehr zusammen. Mit Bismarcks Einzug in die preußische Regierungsleitung verschärften sich die bundespolitischen Konflikte erst recht  ; mittelstaatlichen Versuchen, die Bundeskompetenzen fallweise zu erweitern, wurde die Drohung mit Bundessprengung und Krieg entgegen gesetzt. Die völlige Auflösung des deutsch-mitteleuropäischen Zusammenhangs, der große innerdeutsche Endkampf in völlig neuen und ›amoralischen‹ europäischen Bündniskonstellationen erschienen am Horizont.

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Zugleich blockierte Preußen 1862 mit einem freihändlerischen preußisch-­ französischen Handelsvertrag, am Ende erfolgreich, den erneuerten Anlauf Österreichs um Aufnahme in den Zollverein. Andererseits ließ der Leiter der preußischen Politik, Meister in der Bereitung diplomatisch-psychologischer Wechselbäder, immer wieder auch Allianzangebote an Österreich auf der Basis innerdeutscher Machtteilung durchblicken. Der österreichische Außenminister Rechberg wünschte  – als grundsätzliche Zielvorstellung  – das Zusammengehen mit Preußen unter konservativen Vorzeichen  ; der Kaiser huldigte derselben Grundanschauung. Gleichwohl ließ sich Franz Joseph angesichts der innerdeutschen Situation der Jahre 1862/63, weitgehend an seinem Außenminister vorbei, auf Bundesreformideen ein, die aus großdeutsch-adeligen Kreisen an ihn herangetragen wurden und die mutatis mutandis auf eine Wiederaufnahme trialistischer Direktorialkonstruktionen zur Sicherung des österreichischen Vorranges hinausliefen. Die Idee, mit einer großangelegten österreichischen Reforminitiative dem nationalen Einigungsverlangen auf der Grundlage des bestehenden Bundes Rechnung zu tragen und den Bund damit politisch zu stärken, hatte durchaus einen bestechenden Schwung  ; sie wurde in Wien namentlich auch von dem alten Großdeutschen der Paulskirche und nunmehrigen Staatsminister Schmerling gestützt und diplomatisch vor allem vom Deutschland- Referenten des Ballhausplatzes Biegeleben gefördert. Ihn beauftragte der Kaiser mit der Ausarbeitung eines Reformentwurfs  : Erweiterung der Bundeszuständigkeiten und entsprechende Vermehrung der Institutionen, Stärkung der Exekutive und Leitung durch ein fünfköpfiges Direktorium, Bundesrat als Föderativorgan, Bundesversammlung als indirekte (von den Einzelstaats-Parlamenten beschickte) Volksvertretung mit Gesetzgebungsbefugnissen. Bezeichnend nun vor allem die von Biegeleben entwickelte und von Franz Joseph freudig ergriffene Vorgehensweise  : Der Plan sollte geheim gehalten und unter Umgehung des Frankfurter Bundestages wie der Regierungen in einer Versammlung der Bundesmonarchen vom Kaiser vorgelegt und zur Annahme gebracht werden. Das war ein Verfahren, das der Vorstellungswelt Franz Josephs von monarchischer Politik unter seiner persönlichen Führung und vom dynastischen Charakter des deutschen Zusammenhalts vollkommen entsprach  ; es bot zudem den Vorteil, dem vorzeitigen Zerpflücken des Projekts durch die zuständigen Minister und Fachexperten vorzubeugen und die ob ihrer extrakonstitutionellen Rolle geschmeichelten Monarchen dem suggestiven Appell in erlauchter Runde auszusetzen. Der Reformplan war (abgesehen von seiner gegen die liberal-nationale Partei gerichteten Spitze) naturgemäß gegen die Interessen und Positionen Preußens

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angelegt, seine Annahme durch die preußische Führung von vornherein unwahrscheinlich. Biegeleben fasste daher das Ersatzziel einer engeren Bundesgründung ohne Preußen ins Auge – sozusagen eine kleindeutsch-österreichische Lösung –, und sein Kaiser machte sich auch mit dieser Alternative vertraut. Zunächst aber wurde der Versuch gemacht, König Wilhelm in die Suggestion der ­großen Fürstenversammlung einzubinden. Franz Joseph unterzog sich in bewährter Manier der Aufgabe, den preußischen König »vorab« über die Grundlinien des Vorhabens persönlich zu unterrichten und einzuladen, freilich unter derart manipulatorischen Begleitumständen und Terminierungen, dass der Vorwurf des Überfalls nicht von der Hand zu weisen war. Bismarck, der den Zauber natürlich durchschaute, hatte dann doch erhebliche Mühe, seinen Herren gegen dessen monarchisches Gefühl und gegen massive dynastische Einwirkungen von einer Befolgung der Einladung abzuhalten. Die Abwesenheit des Hohenzollern torpedierte das österreichische Unternehmen gezielt, obwohl die Fürstenberatungen für sich genommen erfolgreich verliefen. Franz Joseph wurde allseits das Lob zuteil, eine »gute Figur« zu machen  ; er konnte  – bei wirksamer Kritik der Freunde Preußens und dem stets lebendigen Partikular- und Statusbewusstsein  – selbstverständlich nicht die Eröffnung von Detaildiskussionen und das Aufkommen von Rivalitäten v. a. in der Direktoriumsfrage verhindern, doch erreichte er durch sein anerkanntes Geschick der Versammlungsleitung, dass die Debatten nicht aus dem Ruder liefen und das österreichische Ziel nicht verfehlt wurde  : Am Ende wurde der Reform­ entwurf mit Modifikationen, die seine Struktur nicht berührten, mit überwältigender Mehrheit (24  : 6 Stimmen) angenommen. Aber auch die Vertreter der Mehrheit banden sich an den Beschluss nur bis zur Äußerung Preußens über die Reformvorlage und behielten sich danach Handlungsfreiheit vor. Dieser Vorbehalt war für die Machtprobe entscheidend. Nachdem die Ablehnung Preußens bzw. seine für Österreich unannehmbaren Vorbedingungen vorlagen, zeigte sich sofort, dass die Reformbefürworter einen scharfen Konfliktkurs gegen die zweite Großmacht scheuten  ; der Wiener Vorstoß, nunmehr einen engeren Bund im Bunde ohne Preußen zu bilden, stieß auch bei den mittelstaatlichen Freunden Österreichs völlig ins Leere. Es hätte dieses Beweises kaum bedurft, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass gegen Preußen oder gar unter Ausschluss Preußens Bundesreformpolitik nicht zu machen war. Namentlich die Vorstellung, einen österreichisch geführten Sonderbund ohne Preußen zu bilden, hatte unter allen politischen, geographischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten, wie man im Vorhinein wissen konnte, keine Chance der Realisierung. Insofern zeugte es von einer gewissen

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Leichtfertigkeit der in den Formen der internen Willensbildung ohnehin zerfahrenen Wiener Politik und von mangelndem Augenmaß des Kaisers, eine solche Alternative zum harten Kern der österreichischen Initiative zu machen. Damit ist selbstverständlich die Frage nicht beantwortet, wie denn auf konservativ-monarchischer Grundlage positiv eine Verständigung mit Preußen hätte angebahnt werden können, wenn Wien in Rechnung stellte, dass die bekannten preußischen, auf systemsprengenden Bundesdualismus hinzielenden Forderungen weder für Österreich noch für das Dritte Deutschland akzeptabel waren. Damit ist das Thema der letzten Lebensjahre des Deutschen Bundes bezeichnet. Schleswig-Holstein und die Entscheidung über die Nation Zunächst wurde Wien weiterer Auseinandersetzungen um die Bundesreform durch das Auftauchen ganz anders gearteter Verwicklungen enthoben, die den Blick abermals auf Berlin lenkten. Damit kam Rechberg wieder zum Zuge. Die erneute Zuspitzung der schwelenden schleswig-holsteinischen Frage als eines europäischen Problems betraf das Außenverhältnis Gesamtdeutschlands in einem besonders neuralgischen Punkt. Sie war durch das Londoner Protokoll von 1852 unter Beteiligung Österreichs und Preußens zugunsten der dänischen Gesamtmonarchie geregelt worden. Außerhalb des Protokolls hatte der dänische König zugesagt, die staatsrechtliche Sonderstellung nicht nur der bundeszugehörigen Herzogtümer Holstein und Lauenburg, sondern auch des bundesfremden Herzogtums Schleswig zu achten. Die europäische Dimension der dynastischen Erbfolgefrage und deren nationalpolitische Aufladung in Deutschland machten eine preußisch-österreichische Kontaktaufnahme daher erforderlich. Rechberg und Franz Joseph nahmen ein Berliner Angebot zur Verständigung über ein einvernehmliches Vorgehen an  ; die darin implizit mitenthaltene Liquidierung der bisherigen antipreußischen Frontstellung Wiens war bei den gegebenen Umständen gar nicht zu vermeiden. Die ideologischen Prämissen, unter denen Franz Joseph den Frontverlauf beurteilte, standen, was zunächst nicht zu durchschauen war, quer zu Bismarcks beweglichem Pragmatismus und Machiavellismus. Dieser hatte intern bereits früh als beste Lösung die Annexion der Herzogtümer durch Preußen bekundet. Der Deutsche Bund als solcher waren dem Protokoll nicht beigetreten  ; die hier vertretene Rechtsauffassung musste bei dem bevorstehenden Aussterben der alten königlichen Linie die Herzogtümer in die Hand eines anderen Zweiges des Gesamthauses (der Augustenburger) bringen, woraus sich die völlige Trennung Schleswig-Holsteins von Dänemark ergab. Dieser Erbfall

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trat im November 1863 ein. Seit 1852 hatte sich der Deutsche Bundestag fortwährend mit den von der Nationalpartei getragenen dänischen Versuchen auseinandersetzen müssen, den verfassungsrechtlichen Zustand durch die volle staatliche Integration v. a. Schleswigs in Dänemark zu verändern. Die erste Tat des im November 1863 zum König erhobenen »Protokollprinzen« (Christian  IX.) bestand darin, die bereits eingeleitete Inkorporation Schleswigs zu bestätigen. Gegenüber der gewaltig aufschäumenden liberal-nationalen Agitation in Deutschland einerseits und den auf Inthronisation des Augustenburgers hinzielenden Schritten der Frankfurter Bundestagsmehrheit andererseits vereinbarten Berlin und Wien ein gemeinsames Vorgehen gegen das dänische Verhalten, das die Einhaltung des Londoner Protokolls fordern und erzwingen sollte. Diese Politik führte mit der »Pfandbesetzung« Schleswigs zu den nationalpolitisch erwünschten kriegerischen Verwicklungen mit Dänemark, sie rechnete jedoch in gebotener Form mit der europäischen Dimension des Problems. Die Zusammenführung aller Beteiligten am Londoner Konferenztisch hob die Bemühungen um eine Lösung auf die Ebene der europäischen Konzertdiplomatie. Auf der Frankfurter Bühne aber erlebte Deutschland das Schauspiel einer völlig neuen Frontstellung  : die beiden Großmächte gingen gegen die von der Mehrheit getragene Bundespolitik und gegen den liberal-konstitutionell gesinnten Augusten­ burger vor, ließen sich am Bundestag Abstimmungsniederlagen zufügen und von den engagierten Triaspolitikern Verrat am Bund und an der deutschen Sache vorwerfen. Bismarck konnte das alles nur recht sein, die Wiener Führung jedoch, die ihm standhaft folgte und die Eskalation der Zerwürfnisse in Frankfurt hinnahm, stieß die Österreichfreunde des Dritten Deutschland völlig vor den Kopf. Wie konnte die Wiener Politik sich derart am Gängelband führen lassen  ? Franz Joseph sah sich, wie aus Gesprächen mit ihm berichtet wurde und wie auch seine privaten brieflichen Äußerungen zeigen, in einer Allianz der konservativen Ordnungskräfte gegen die Revolution. Der Standhaftigkeit König Wilhelms im parallel laufenden preußischen Verfassungskonflikt galt seine Bewunderung, Bismarcks innenpolitisches Vorgehen fand seine ungeteilte Zustimmung und begründete sein Vertrauen in eine gleichgerichtete Politik in Deutschland. Die Wahrung der dänischen Gesamtmonarchie als Teil des europäischen Vertragssystems war in diesem Sinne ein ehrlich verfolgtes Ziel, dem eine grundsätzliche ordnungspolitische Bedeutung zukam. Das Eintreten des Dritten Deutschland für den Augustenburger erschien dagegen als Pakt mit dem Liberalismus und als Rheinbündelei  ; der österreichische Kaiser ging so weit, dem bayerischen König Maximilian  II. vorhalten zu lassen, dass er demnächst zwischen Franz Joseph und Napoleon zu wählen haben werde, wenn Bayern weiterhin in Frankfurt ge-

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gen die beiden Großmächte stimme und agitiere. In Österreich selbst erlebte der Kaiser dieselbe ideologische Frontstellung. Die deutsch-liberale Presse stand vehement gegen das preußische Konfliktregime, gegen die Allianz mit Preußen und die Trennung vom übrigen Deutschland  ; im Reichsrat unterwarfen die Führer der Verfassungspartei die Außenpolitik Rechbergs wiederholt scharfer Kritik. Vom Außenkurs schlossen die Liberalen auf eine Gefährdung der verfassungspolitischen Errungenschaften. Der Träger des vom Hofe nur mit Vorbehalt akzeptierten semikonstitutionellen Systems des Februarpatents, der ungeliebte aber derzeit unentbehrliche Staatsminister Schmerling, ließ seine Verbindungen zum Dritten Deutschland spielen und trieb eine Art Nebenpolitik  ; die Presse­ kampagnen gegen Rechberg erfreuten sich seines fördernden Wohlwollens. Auf der anderen Seite standen die Hochkonservativen und Klerikalen mit ihren Presseorganen und ihren adelig-höfischen Verbindungen, Anhänger der preußischen Kreuzzeitungspartei, Bewunderer des Konfliktkurses und Anwälte einer konservativ-föderalistischen Revision der österreichischen Verfassung. Die Erwartungen dieser Gruppe an die antirevolutionären Wirkungen des Zusammengehens mit dem Preußen des Verfassungskonflikts deckten sich in weitem Maße mit denen des Kaisers. Mit der gegenwärtigen Allianz hoffte der Habsburger endlich ein auf Dauer angelegtes konservatives Bündnis begründet zu haben, das seine Spitze gegen die napoleonische Herausforderung richten sollte und damit zugleich die Aussicht auf die Eindämmung des Konstitutionalismus in ganz Mitteleuropa bot. Für Bismarck war die Wahrung der dänischen Gesamtmonarchie nur die zweitbeste Lösung (freilich immer noch besser als die Gründung eines neuen liberal-konstitutionellen Mittelstaates), die Sicherung der Bestimmungen des Londoner Protokolls nur ein vorgeschobenes Ziel. Die falsch kalkulierende däni­sche Politik leistete mit ihrer Renitenz dem taktischen Vorgehen Preußens Vorschub  ; so konnte das Königreich isoliert, der Krieg unter Lossagung von der Londoner Basis von 1852 auch förmlich eröffnet und die Abtretung der Elbherzogtümer an die kriegführenden Großmächte erzwungen werden. Für ­diesen Fall der bedingungsfreien Abtretung hatte die österreichische Diplomatie, obwohl sie zusammen mit Preußen die Voraussetzungen dafür geschaffen hatte, keine Vorsorge getroffen. Jetzt trat Bismarck mit der Annexionsforderung hervor und präsentierte damit zugleich den Prüfstein, an dem Österreich seine weitere deutschlandpolitische Kooperationswilligkeit auf der Basis einer Berücksichtigung preußischer Interessen erweisen konnte. Franz Joseph hatte trotz starker Irritationen seinen Glauben an die konservativen Ziele der »heilbringenden Allianz« nicht verloren  ; Bismarck verstand es

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auch durchaus, Wien gegenüber die Register eines antirevolutionären Vokabulars zu ziehen. Andererseits war an dem preußischen Macht- und Expansionswillen in Norddeutschland nicht mehr zu zweifeln. Die österreichische Politik stand vor der Alternative, sich nun doch für die Verselbstständigung der Herzogtümer unter einem eigenen Herrscher stark zu machen und insgesamt gegen Preußen auf Konfliktkurs zu gehen oder aber entsprechend den geographischen Gegebenheiten einer Annexion zuzustimmen und sich anderweitige Kompensationen im Rahmen einer umfassenden Verständigung zu verschaffen. Damit stand selbstverständlich das gesamte System des Deutschen Bundes und Österreichs Stellung in ihm auf dem Spiel. Eine Zusammenkunft der Monarchen und ihrer Minister zu Schönbrunn im August 1864 sollte die Zukunft der Elbherzogtümer und die Basis der weiteren Zusammenarbeit klären. Hier erarbeiteten Bismarck und Rechberg die Grundzüge eines höchst erstaunlichen Übereinkommens, mit dem die rechbergsche Linie eines dualistischen Ausgleichs ihren äußersten Punkt erreichte, in dem aber auch Bismarck ein außergewöhnliches Engagement für habsburgische Belange einzugehen versprach. Gegenüber dem Deutschen Bund wollten Österreich und Preußen danach in der vorerst offenzuhaltenden Souveränitätsfrage der Herzogtümer nur gemeinsam vorgehen  ; Preußen wollte Österreich im Falle von Verwicklungen bei der Wiedergewinnung der Lombardei behilflich sein und sollte bei Erfolg die Herzogtümer annektieren dürfen. Nichts Geringeres wurde damit verabredet als eine Reprise von 1859, diesmal aber mit dem großen Krieg gegen Frankreich im mitteleuropäischen Bündnis. Die Gründung des Königreichs Italien sollte rückgängig gemacht, der Deutsche Bund einer konservativen Zweierhegemonie unter Nord-Süd-Teilung der Interessenssphären unterworfen werden. Das hieß einen autoritären mitteleuropäischen Block (jetzt gwm. als Insel ohne den alten zaristischen Partner) gegen die nationalen und konstitutionellen Tendenzen der Zeit aufzurichten und das Dritte Deutschland wie Italien diesem Programm zu unterwerfen, womit sich eine entsprechende Repressionspolitik im jeweils eigenen Staat verbunden hätte. Es ist schwer vorstellbar, dass Bismarck mit solchen Zusagen ein »politisches System« begründen wollte und darin mehr sah als ein taktisches Auskunftsmittel zur Gewinnung der norddeut­ schen Suprematie. Die Monarchen übten gegenüber dem kühnen Entwurf Zurückhaltung. König Wilhelm zeigte wenig Neigung, für Österreich in Italien zu intervenieren, und behandelte die Erwerbsfrage im Norden dilatorisch  ; Franz Joseph ließ erkennen, dass er die Schaffung eines neuen Mittelstaates den Vorzug vor preußischer Vergrößerung gab. Es kam zu keiner definitiven Regelung, mit der Einrichtung eines vorläufigen Kondominiums in Schleswig-Holstein

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blieb die ganze Frage in der Schwebe. Der Kaiser wünschte die Fortsetzung der Allianz, aber er wünschte dies unter Wahrung der hergebrachten Struktur des Deutschen Bundes. In seinem Verständnis hieß das  : »Die Allianz mit Preußen ist unter den gegebenen Verhältnissen doch die allein richtige, und es müssen daher die undankbaren Bemühungen fortgesetzt werden, Preußen in der richtigen Bahn und auf dem Boden des Rechtes zu erhalten«. Gemessen an dieser Zielsetzung Franz Josephs hatte Rechberg sich mit seinen Offerten an Preußen doch sehr weit vorgewagt. Ohnehin wurde der Außenminister nicht nur in der bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit scharf attackiert  ; sein Kurs war vor allem auch (was mit Blick auf den Monarchen weit wichtiger war) intern unter den konservativen Bundesfreunden und Preußenfeinden zunehmend umstritten. Als er nun auch aus den parallel laufenden zollpolitischen Verhandlungen nicht den geringsten Erfolg nach Hause brachte, wurde er entlassen. Er hat bis in sein hohes Alter beteuert, als Diener seines Herren in der Außenpolitik stets nur die Richtlinien und Weisungen des Kaisers vollzogen zu haben. Franz Joseph wollte die Ersetzung Rechbergs durch Graf Mensdorff-Pouilly keineswegs als Kurswechsel aufgefasst wissen. Dem preußischen König zeigte er den Ministerwechsel mit der alten, zweifellos aufrichtigen antirevolutionären Beschwörungsformel an  : »Meine ernstliche Sorge wird unverändert dahin gerichtet sein, unser Bündnis ungeschwächt zu erhalten und noch mehr zu befestigen. Du weißt, wie unerschütterlich ich überzeugt bin, dass unsere Allianz die sicherste Schutzwehr der bestehenden Rechtsordnung gegen die großen politischen und sozialen Gefahren unserer Zeit bildet.« Den Vorschlag Biegelebens, die machtpolitische Verständigung mit Frankreich einzuleiten, hierauf gestützt einen Frontwechsel zugunsten der Bundestagsmehrheit vorzunehmen und die preußische Herausforderung anzunehmen, lehnte der Kaiser ab. Der neue Mann sollte das Konzept der mittleren Linie weiterverfolgen. In diesem Balanceakt, mit dem die Bundesstruktur bewahrt, Österreichs hergebrachte Führungsposition inmitten der durch Preußen und das Dritte Deutschland markierten Dreieckskonstellation behauptet, Preußen an das Bundesrecht gebunden und seine Vergrößerung in Norddeutschland verhindert, zugleich eine einvernehmliche »antirevolutionäre« österreichisch-preußische Lenkung des Bundes gesichert werden sollte, in diesem Balanceakte also lag das eigentliche Dilemma. Mit Recht konnte Botschafter Richard Metternich feststellen, der Kaiser treibe Gefühlspolitik, nicht Realpolitik. Die konservative Allianz war ein Phantom. Zwar verflogen Franz Josephs Illusionen über Bismarck denn doch allmählich, aber immer noch hielt er seine Ersetzung durch ein Kabinett einer zweiten Neuen Ära für die eigentliche Gefahr. Von der Person König Wilhelms erwartete er

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die Sicherung des Friedens  ; dem preußischen Kronprinzen galt sein Misstrauen weit eher. Berlin war entschlossen, Österreich aus den Herzogtümern zu vertreiben, die Einschaltung des Bundes zu blockieren und Schleswig-Holstein wenn nicht zu annektieren so zumindest militärisch und wirtschaftlich einer indirekten Herrschaft zu unterwerfen  ; der Deutsche Bund sollte mit alldem als politische Größe demontiert werden. Das Kondominium in den Herzogtümern bot Preußen die Arena für beliebige Konfliktspiele  ; der Krieg wurde nicht als unvermeidbar angesehen, ein ›Ausgleich‹ war jedoch nur zu haben, wenn Preußen keine Abstriche an diesem Programm zugemutet wurden. Die vom Kaiser vorgezeichnete Rückführung der Angelegenheit auf den »Boden des Rechts« bedeutete dagegen, dass Österreich erneut den Weg des bundesmäßigen Verfahrens einschlug und den Kontakt zu den zuvor gebeutelten Mittelstaaten suchte. Damit wurde gegenüber Rechberg eben doch eine bedingte Kurskorrektur eingeleitet, die freilich von ständigen Bemühungen auch um das preußische Einvernehmen begleitet wurden. Wenn hierbei immer auch wieder die Möglichkeit eines realpolitischen Ausgleichs – Rückzug aus dem Norden gegen territoriale Kompensationen  – ventiliert wurde, so verriet dies doch sehr die Brüchigkeit auch der österreichischen Politik des Rechts und der Bundesgrundsätze und die Anfälligkeit für einen »leoninischen Dualismus« (Srbik). Das ohnehin durch die vorangegangenen Ereignisse schwer erschütterte Vertrauen des Dritten Deutschland in die Politik Wiens wurde durch diesen Zickzackkurs naturgemäß nicht wieder hergestellt. Vor dem Hintergrund eigener machtpolitischer Schwäche, der völligen Auflösung des europäischen Konzerts und der latenten napoleonischen Bedrohung, in der Franz Joseph nach wie vor die eigentliche Hauptgefahr sah, fand die österreichische Außenpolitik gegenüber dem preußischen Druck zu keiner konsequenten Linie, weder im Sinne einer Formierung des Bundes gegen Preußen noch in Sinne eines Ausgleichs mit dem Rivalen unter Preisgabe des Bundes. Gegenüber den italienischen Problemen war das Verhalten vollkommen in Abwehr und Nichtanerkennung erstarrt. Unter dem Gewicht der konkurrierenden Auffassungen der konservativen Wiener Führungsgruppen, in denen sich das Dilemma der Situation widerspiegelte und die für den schwankenden Kurs wesentlich verantwortlich waren, vermochte der Kaiser selbst keine Führung zu gewinnen. Auch die Verfassungssistierung vom September 1865, in der sich mit der Entlassung Schmerlings und dem vorläufigen Ende der experimentellen Annäherung an den Konstitutionalismus bereits die strukturelle Trennung vom Dritten Deutschland und die ›Schwergewichtsverlagerung nach Ofen‹ (den ungarischen Ausgleich) ankündigten, wurde außenpolitisch nicht in eine Bereini-

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gung des Konflikts mit Preußen im Wege des Rückzugs umgesetzt. In ohnmächtiger Verteidigung starrer Positionen wurde Österreich bei aller Geschäftigkeit von den Ereignissen geschoben. Parallel zum preußischen Kriegsentschluss war man seit Ende Februar 1866 schließlich auch in Wien – nach einem treffenden Wort Zar Alexanders II. – »zum Kriege resigniert«. »Nur eine gründliche, Dauer versprechende Verständigung mit Preußen«, schrieb Franz Joseph seiner Mutter im Mai 1866, »könnte in unserer Lage von Nutzen sein, und eine solche scheint mir rein unmöglich ohne Abdizierung unserer Großmachtstellung, und so muß man dem Kriege mit Ruhe und mit Vertrauen auf Gott entgegensehen, denn nachdem wir schon so weit gegangen sind, verträgt die Monarchie eher einen Krieg als einen langsam aufreibenden faulen Frieden.« Die militärische und politische Entscheidung von 1866, deren Endgültigkeit freilich erst 1870 voll bestätigt wurde, ist mit ihren Konsequenzen – dem Ausschluss Österreichs aus Deutschland, der Zerstörung des Deutschen Bundes und der Errichtung des norddeutschen, dann kleindeutschen hegemonialen Bundesstaates unter Preußens Führung  – ein Schlüsselereignis der deutschen und europäischen Geschichte. Die damit verbundenen historischen Fragen nach seiner Ermöglichung, Vermeidbarkeit oder prozesshaften Unausweichlichkeit, nach Handlungsspielräumen und denkbaren Alternativen sind unausschöpfbar  ; erst recht gilt dies für die daran geknüpften wertbezogenen, stets von den nachfolgenden geschichtlichen Erfahrungen und von den jeweils aktuellen politischen Auseinandersetzungen mitkonstituierten Sinnfragen. All diese Probleme übersteigen den personalen Aspekt denkbar weit und machen es damit auch schwer, die Bedeutung des persönlichen Handelns einzelner Staatsmänner angemessen einzuschätzen. Franz Josephs Verhalten inmitten einer beschleunigt in Fluss geratenen europäischen und deutschen Politik war im Wesentlichen reaktiv, und es orientierte sich an außerordentlich starren und altertümlichen politischen Wertmustern. Eine offensive Alternative österreichischer Politik war mit diesem Monarchen nicht denkbar  ; eine solche hätte die emanzipatorischen und partizipatorischen Grundtendenzen der Jahrhundertmitte in irgendeiner Weise aufgreifen müssen, wie etwa Bismarck dies schließlich getan hat. Ob sich diese Alternative wenigstens in Bezug auf seine Stellung in Deutschland mit Österreichs Daseinsbedingungen als solchen vertrug, ist freilich eine offene Frage. Immerhin sollte man bei der Beurteilung dieses Problems die politische Kraft des lange nachwirkenden großdeutschen Programms der Paulskirchenzeit als alternatives Potential nicht unterschätzen. Die andere Alternative war der rechtzeitige freiwillige und friedliche Rückzug Österreichs aus Deutschland (und Italien)  ; auch sie weist

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auf Ansätze in der Zeit der 48er Revolution zurück, und auch sie war mit Franz Joseph nicht zu machen. Der Monarch folgte bis 1866 dem Gesetz, nach dem er als Achtzehnjähriger in einer extremen Defensivsituation angetreten war  : Er hatte die Revolution erlebt und war gewillt, den durch sie bedrohten Bestand seines Reiches ebenso wie die Position von Reich und Dynastie in Europa machtmäßig zu behaupten. Seine politischen Maximen orientierten sich an politischen Besitzständen und deren Verteidigung  ; die Europäischen Verträge im Umkreis der Wiener Ordnung von 1815 waren nach wie vor die völkerrechtliche Bastion, auf deren Bewahrung sich alle Anstrengungen richteten. Ein darüber hinaus gehendes politisches Programm hat Franz Joseph nicht entwickelt. Alle Kräfte der Bewegung und Veränderung aber unterlagen dem Verdikt, Ausfluss »der Revolution« zu sein und nur zerstörerisch zu wirken. Der vordergründige machtpolitische, auf militärische Siege gestützte Erfolg Schwarzenbergs in der nachrevolutionären Wiederherstellung der habsburgischen Macht hatte zur Folge, dass der jugendliche Kaiser (wie seine militärische Umgebung) die eigene Stellung überschätzte. Hierauf beruhte innenpolitisch der Übergang zum förmlichen Absolutismus, außenpolitisch die ehrgeizige öster­ reichische Politik im Krimkrieg. Sie führte zum Verlust des einen Garanten konservativer Stabilitätspolitik in Mitteleuropa  – Russland, ohne naturgemäß im Westen dafür Ersatz finden zu können. Umso unbeirrter ging Franz Joseph von einem Gleichklang konservativer Stabilitätsbedürfnisse bei den Monarchien Deutschlands, insbesondere der preußischen Monarchie aus, auf dessen Grundlage er mit den Instrumenten des Bundesrechts über die deutschen Kräfte verfügen zu können meinte. Dem Abbröckeln dieser Position antwortete er mit zäher Verteidigung, ohne politische Alternativen zu entwickeln. Die Sprunghaftigkeit in den Mitteln war keineswegs Ausdruck einer Elastizität in den Zielen, sondern lediglich der Versuch, ein starres Grundkonzept in zunehmend hilfloser werdender Defensive auf verschiedenen Wegen zu verfolgen. Der Starrheit des Konzepts entsprach dabei die zählebige Illusion über die Solidarität der Throne und die Identität der konservativ-monarchischen Interessen. Insofern steckt in seiner brieflichen Äußerung nach Königgrätz, er sei sehr ehrlich, aber sehr dumm gewesen, eine tiefere Wahrheit. Franz Josephs persönliche Wirkung auf den Gang der deutschen Geschichte von 1848 bis 1866 als Richtliniengeber der österreichischen Politik war also erheblich, freilich nicht so sehr bzw. nur ex negativo, was inhaltliche Richtung und Gehalt des Resultates betrifft, sondern vor allem hinsichtlich der Modalitäten

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seiner Erreichung. Seine objektive Funktion im historischen Prozess dieser Jahrzehnte war die, ein großes retardierendes Moment zu sein  ; er gehört in die Reihe jener Gestalten, die eher untergehen, als dass sie sich ändern. »Aus Deutschland«, so schrieb Franz Joseph noch unter dem Eindruck der Niederlage kurz vor Abschluss des Waffenstillstandes von Nikolsburg an seine Frau, »treten wir jedenfalls ganz aus, ob es verlangt wird oder nicht, und dieses halte ich nach den Erfahrungen, die wir mit unseren lieben deutschen Bundesgenossen gemacht haben, für ein Glück für Österreich.« Die Trotzhaltung war wenig glaubhaft  : Tatsächlich ist der österreichische Kaiser in seinem Selbstgefühl wie in seiner politischen Wertorientierung von der militärischen Niederlage und ihrer politischen Konsequenz zutiefst getroffen worden. Auch hegte er in den nachfolgenden Jahren durchaus Hoffnungen auf eine Revision der Entscheidung von 1866. Sie wurden jedoch nicht in eine tatkräftige Revisionspolitik umgesetzt, weil die europäische Mächtekonstellation außerordentlich gefahrvoll, Frankreich als Partner ambivalent und die eigenen materiellen Kräfte geschwächt waren  ; auch fehlten in dem zur Doppelmonarchie umgestalteten Habsburgerreich, dessen ungarische Hälfte ihr massives Gewicht in die Richtungsbestimmung der gemeinsamen Außenpolitik einzubringen begann, die innenpolitischen Voraussetzungen zu einer gegen Preußen gerichteten Revanchepolitik. Der vorsichtige Neutralitätskurs zu Beginn des deutsch-französischen Krieges und die volle Schwenkung nach den deutschen Siegen bestätigten, dass die Trennung von 1866 ohne Umkehr war. Das Deutsche Reich und die Österreichisch-Ungarische Monarchie waren durch kein staatsrechtliches Band mehr verknüpft  ; ihre Beziehungen regelten sich nurmehr im Rahmen internationaler Verträge. Ausblick  : Der Zweibund Auf dieser weit bescheideneren Ebene wurde der 1866 gerissene Faden jedoch nach der Reichsgründung wieder geknüpft – Beweis für das strukturelle Vorhan­ densein mitteleuropäischer Sicherheitsbedürfnisse. Die Wiederaufnahme der Bündnisbeziehungen stand freilich entsprechend der politischen Gewichtsverteilung von vornherein unter dem Vorzeichen österreichischer Juniorpartnerschaft, eben der »Abdizierung unserer Großmachtstellung«. Es war der »Zauberlehrling« Bismarck, dessen Reichsgründung durch die Demütigung Frankreichs außenpolitisch von Anfang an belastet war, der seit 1871 ständig um die deutsch-­ russisch-österreichische Verständigung als stabilisierenden Faktor rang und dann 1879, angesichts eines schwieriger werdenden deutsch-russischen Verhältnisses,

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eine begrenzte »Option« zugunsten Österreichs vornahm. Der deutsche Kanzler hat das Bündnis von 1879 bewusst in die Perspektive der »tausendjährigen Gemeinsamkeit der gesamtdeutschen Geschichte« gestellt und aus dem Bedürfnis heraus motiviert, ein »ähnliches Assekuranzbündnis« zu schaffen, wie es »zwischen Preußen und Österreich in Gestalt des früheren Deutschen Bundes fünfzig Jahre lang in völkerrechtlicher Wirksamkeit war«. Dabei war für ihn die »Popularität« einer derartigen »Wiederaufrichtung des Deutschen Bundes in einer neuen zeitgemäßen Form«, die »bei allen Parteien, exklusive Nihilisten und Sozialisten« (sic  !, nach Lucius von Ballhausen) zu erwarten sei, von wesentlichem und für die deutsche Gemütslage doch auch bezeichnendem Gewicht. Freilich wird man nicht übersehen dürfen, dass eben auch jetzt das Kalkül der checks and balances im komplizierten Dreiecksverhältnis der drei Ostmächte unter Beachtung der übrigen europäischen Faktoren von übergeordneter Bedeutung war. Österreich-Ungarn sollte in seinem Bestand gestützt und als Potential Russland gegenüber gestellt, aber wesentlich auch orientpolitisch gefesselt werden. Die Bestandsgarantie für die Habsburgermonarchie hätte zudem, schenkt man einer rückschauenden Äußerung des alten Bismarck Glauben, in einer äußersten Gefahrensituation zugunsten eins deutsch-russischen Ausgleichs für ihn zur Disposition gestanden. Für Franz Joseph bedeutete das Bündnis den entscheidenden Sicherheitsgewinn, den sein von innen und außen gefährdetes Reich so dringend benötigte. Der Monarch lebte sich in seiner mittleren und späten Lebenszeit derart in diese Perspektive ein, dass der Zweibund zum unwandelbaren Orientierungspunkt seines politischen Verhaltens wurde. Interne Kritik am Bündnis, die ihren Ausgangspunkt an der zunehmenden Bewegungsunfähigkeit der Außenpolitik nahm und von der Hoffnung genährt wurde, in anderen Großmächtekonstellationen größere Chancen für eine gewinnbringende Balkanpolitik zu erlangen, prallte stets an ihm ab, obwohl die Bismarcksche Fesselung Österreich-Ungarns, die seine Militärs und die Ungarn erbitterte, auch ihn verstörte. Erneut verweist dieses Verhalten auf Franz Josephs Disposition zu zäher Verteidigung von Positionen und Besitzständen. Dies gilt gerade auch für die Blockierung der inneren Verfassungsentwicklung, also die mit dem Ausgleich von 1867 angelegte Erstarrung der innenpolitischen Machtverteilung, die bei allen bekannten Unzukömmlichkeiten und Perspektivlosigkeiten dem Kaiser eben doch die Bewahrung der für ihn wesentlichen monarchischen Prärogativen gewährleistete, und die durch das deutsche Bündnis ganz wesentlich abgesichert wurde. Franz Joseph ist sich also auch hier treu geblieben. Dass die mit Deutschland eingegangene ungleiche Partnerschaft in dem Augenblick, da die alte Sicherheitspolitik Bismarcks durch die Dynamik einer weltpo-

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litischen Orientierung Deutschlands gesprengt wurde, für Österreich-Ungarn ein wachsendes Risiko bedeutete, mag der alternde Monarch geahnt haben, wie seine wiederholten treuherzigen Mahnungen bezeugen, Berlin möge sein Verhältnis zu England verbessern. Auf Abwerbungsversuche Eduards VII. ließ er sich gleichwohl nicht ein. Dass er aber, als er sein letztes Ultimatum – dasjenige an Serbien vorn 23. Juli 1914 – unterschrieb, von dem damit verbundenen Kalkül des preußischen Generalstabes eine Ahnung empfunden hätte, muss wohl ausgeschlossen werden. Quelleneditionen und wissenschaftliche Literatur Wichtige Akteneditionen, die auch die Regierungstätigkeit Franz Josephs dokumentieren, sind  : Heinrich v. Srbik (Hg.), Quellen zur deutschen Politik Österreichs 1859–1866, 6 Bde., Oldenburg 1934–1938. Winfried Baumgart (Hg.), Akten zur Geschichte des Krimkrieges, 1. Serie  : Österreichische Akten, 3 Bde., München 1979–1980. Die Ministerratsprotokolle Österreichs und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1848–1918. 1. Serie  : Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848–1867, hg. vom Österreichischen Komitee für die Veröffentlichung […], [im Erscheinen seit 1970, Wien]  ; 2. Serie  : Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch ungarischen Monarchie, 1867–1918, hg. vom Ungarischen Komitee […] [im Erscheinen seit 1966, Wien]. Politisch relevante Briefwechsel Franz Josephs  : Otto Ernst (Hg.), Franz Joseph in seinen Briefen, Wien-München 1924 [unüberprüfbare Auswahl]. Franz Schnürer (Hg.), Briefe Kaiser Franz Josephs an seine Mutter 1838–1872, München 1930. Georg Nostitz-Rieneck (Hg.), Briefe Kaiser Franz Josephs an Kaiserin Elisabeth 1859–1898, 2 Bde., Wien-München 1966. Mit Bezug auf Franz Joseph wichtige Memoiren und Nachlass-Editionen (Schwerpunkt vor 1866)  : Max von Kübeck (Hg.), Tagebücher des Carl Friedrich Freiherrn Kübeck von Kübau, 2 Bde. in 3, 1909. Dazu Supplementband  : Metternich und Kübeck. Ein Briefwechsel, Wien 1910. Dazu die wichtige Ergänzung  : Friedrich Walter (Hg.), Aus dem Nachlasse des Freiherrn Carl Friedrich Kübeck von Kübau. Tagebücher, Briefe, Aktenstücke 1841–1855, Graz-Köln 1960 [sehr informativ für Revolutionsbeendigung und Neo­absolutismus]. Josef K. Mayr (Hg.), Das Tagebuch des Polizeiministers Kempen von 1848 bis 1859, Wien-­ Leipzig 1931 [neoabsolutistisches Herrschaftssystem].

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Joseph Alexander von Hübner, Ein Jahr meines Lebens 1848–1849, Berlin 1891. Ders., Neun Jahre der Erinnerungen eines Österreichischen Botschafters in Paris unter dem zweiten Kaiserreich 1851–1859, 2 Bde., Berlin 1904. Die Tagebücher Hübners liegen unediert im Historischen Institut der Universität Padua. Kostproben daraus [wichtig für den Zerfall des Neoabsolutismus]  : Maria Cessi Drudi (Hg.), Joseph Alexander von Hübner. La Monarchia Austriaca dopo Villafranca. Resume de l’an 1859 dal »Journal« vol. 14, Rom 1959. Carl Jacob Burckhardt, (Hg.), Briefe des Staatskanzlers Fürst Metternich-Winneburg an […] Graf Buol-Schauenstein aus den Jahren 1852–1859, München 1934. Anton Prokesch von Osten (Hg.), Aus den Briefen des Grafen Prokesch von Osten 1849– 1855, Wien 1896. Unediert im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien die Tagebücher der Erzherzogin Sophie, ferner die Memoiren Schmerlings [spät verfasst und nicht immer zuverlässig]. Biographien des Kaisers  : Josef Redlich, Kaiser Franz Joseph von Österreich, Berlin 1928 [kritischer Ansatz, mit Schwerpunkt auf der Innenpolitik  ; wenn auch in manchem veraltet, so doch als problemorientierte politische Biographie von unverminderter Frische]. Egon Cesar Conte Corti, Vom Kind zum Kaiser. Kindheit und erste Jugend Kaiser Franz Josephs I. und seiner Geschwister, München 21951. Ders., Mensch und Herrscher. Wege und Schicksale Kaiser Franz Josephs  I. zwischen Thronbesteigung und Berliner Kongress, München 1952. Ders. und Hans Sokol, Der alte Kaiser. Franz Joseph I. bis zu seinem Tode, München 1956 [populärwissenschaftlich  ; durch Benutzung vieler Privatnachlässe und Detailfülle instruktiv und wertvoll]. Jean-Paul Bled, Franz Joseph. Der letzte Monarch der alten Schule, dt. Übers. a. d. Franz., Wien 1988 [politische Biographie, kompetent und ausgewogen]. Unter den Charakterskizzen wichtig  : Heinrich Friedjung, Kaiser Franz Joseph. Ein Charakterbild, in  : Historische Aufsätze, Stuttgart 1919, S. 493–541. Eduard Heller, Kaiser Franz Joseph I. Ein Charakterbild, o.O. 1934. Heinrich von Srbik, Kaiser Franz Joseph I. Charakter und Regierungsgrundsätze, in  : Aus Österreichs Vergangenheit, Salzburg 1949, S. 221–241 [Srbik (wie Heller) dem Mitteleuropaerlebnis der Weltkriegszeit verpflichtet. Betont die Kongruenz kaiserlicher Maxime und österreichischer Lebensbedürfnisse  ; Franz Joseph habe die bloß dynastische Perspektive überwunden. In diesem Sinne als Kontrastfigur Erzherzog Albrecht]. Heinrich von Srbik, Erzherzog Albrecht, Benedek und der altösterreichische Soldatengeist, in  : Aus Österreichs Vergangenheit, op. cit., S. 107–140. Brigitte Hamann, Die Habsburger und die deutsche Frage im 19. Jahrhundert, in  : Heinrich Lutz und Helmut Rumpler (Hgg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20.  Jahrhundert, München 1982, S.  212–230 [betont zu Recht die dynastische Perspektive des habsburgischen Deutschlandverständnisses].

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Für Franz Joseph ferner wichtig  : Brigitte Hamann, Elisabeth. Kaiserin wider Willen, Wien 1981  ; Dies., Rudolf. Kronprinz und Rebell, Wien 1978. Die Biographien von Politikern und Militärs um Franz Joseph (bis 1866) – Metternich, Schwarzenberg, Windischgraetz, Kübeck, Heß, Bach, Bruck, Grünne, Rechberg, Radetzky, Benedek  – entstammen durchweg der Zwischenkriegszeit und frühen Nachkriegszeit. Insbesondere eine aktualisierte Schwarzenberg-Biographie, die die kontroversen Diskussionen um seine Politik aufnimmt, ist ein Desiderat. Zu Metternich  : Guillaume de Bertier de Sauvigny, Metternich, 1985, dt. Gensbach 1988. Geschichte der Habsburgermonarchie  : Grundlegend  : Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Wien 1973 ff. [im Erscheinen, bisher  :] Die wirtschaftliche Entwicklung (1973)  ; Verwaltung und Rechtswesen (1975)  ; Die Völker des Reiches (1980)  ; Die Konfessionen (1985)  ; Die bewaffnete Macht (1987). Einen breiten Forschungsquerschnitt bietet  : Harry Kühnel (Hg.), Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs [Ausstellungskatalog], 2 Bde., Wien 1984, Bd. 1  : Beiträge. Österreich in der deutschen Geschichte  : Heinrich von Srbik, Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz, 4 Bde., München 1935–1942 [Monument der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung]. Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815–1866, Berlin 1985 [eindrucksvolle Fortführung der großdeutschen Tradition in differenzierter Form]. Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848–1881, Köln-Berlin 1966 [politökonomische Perspektive]. Wichtige problemorientierte Sammelbände Robert A. Kann und Friedrich Prinz (Hgg.), Deutschland und Österreich, Wien-München 1980. Heinrich Lutz und Helmut Rumpler (Hgg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politisch-staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa, München 1982. Josef Becker und Andreas Hillgruber (Hgg.), Die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, München 1983. Friedrich Engel-Janosi und Helmut Rumpler (Hgg.), Probleme der franzisko-josephinischen Zeit 1848–1916, Wien 1967.

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Einzelfragen der Außenpolitik (bis 1866/1871)  : Die jüngsten Diskussionen um Österreichs Deutschlandpolitik 1849–1864 und den Krimkrieg werden personell vor allem an Schwarzenberg, Buol und Rechberg, weniger am Monarchen festgemacht. Helmut Rumpler, Felix Schwarzenberg und das »Dritte Deutschland«. Überlegungen zu Heinrich von Srbiks Interpretation der deutschen Politik Österreichs, in  : Heinrich Fichtenau und Erich Zöllner (Hgg.), Beiträge zur neueren Geschichte Österreichs, Wien 1974, S. 371–382. Revisionistisch vor allem die Arbeiten der Gruppe um Paul W. Schroeder  : Roy A. Austensen, Felix Schwarzenberg  : »Realpolitiker« or Metternichian  ? The Evidence of the Dresden Conference, in  : MÖSTA 30 (1977), S. 97–118. Ders., Austria and the »Struggle for Supremacy in Germany« 1848–1864, in  : JMH 52 (1980), S.195–225. Paul W. Schroeder, Austria, Great Britain, and the Crimean War. The Destruction of the European Concert, Ithaca-New York 1972 [dort Nachweis seiner weiteren Aufsätze. Schroeders Abneigung gilt der Whig-Tradition britischer Außenpolitik und ihrer historiographischen Fortsetzung]. Richard B. Elrod, Bernhard von Rechberg and the Metternichian Tradition. The Dilemma of Conservative Statecraft, in  : JMH 56 (1984), S. 430–455. Dazu kritisch  : Alan Sked, Die Habsburger Monarchie und die Herausforderung des Nationalismus, in  : Adolf M. Birke und Günther Heydemann (Hgg.), Die Herausforderung des europäischen Staatensystems. Nationale Ideologie und staatliches Interesse zwischen Restauration und Imperialismus Göttingen 1989, S. 158–177. Dazu die Antwort Schroeders in  : Die Herausforderung des europäischen Staatensystems […], op. cit., S. 178–182. Anselm Doering-Manteuffel, Der Ordnungszwang des Staatensystems  : Zu den Mitteleuropa-Konzepten in der österreichisch preußischen Rivalität 1849–1851, in  : Der Ordnungs­zwang des europäischen Staatensystems […], op. cit., S. 119–140. Anselm Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongreß zur Pariser Konferenz  : England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815–1856, Göttingen 1991 [behandelt die britische Politik der Jahre 1848–1856 ebenfalls kritisch]. Zum Krimkrieg und Italienischen Krieg:  : Winfried Baumgart, Der Friede von Paris 1856. Studien zum Verhältnis von Kriegführung, Politik und Friedensbewahrung, München-Wien 1972. Bernhard Unckel, Österreich und der Krimkrieg. Studien zur Politik der Donaumonarchie in den Jahren 1852–1856, Lübeck-Hamburg 1969 [die Analyse der österreichischen Motive überzeugend]. Friedrich Engel-Janosi, L’»Ultimatum« austriaco del 1859, in  : Rassegna Storica Risor-

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gimento 24 (1937), S. 1393–1425, 1563–1600 [Abdruck der österreichischen Konferenzprotokolle]. Franco Valsecchi, Villafranca oder das Ende der Diplomatie, in  : Fichtenau u. Zöllner (Hgg.), Beiträge, op. cit., Wien 1974, S. 383–402. Zu Rechberg die ältere Arbeit von  : Friedrich Engel-Janosi, Graf Rechberg. Vier Kapitel zu seiner und Österreichs G ­ eschichte, München-Berlin 1927. Ferner der oben genannte Aufsatz von  : Richard B. Elrod, Bernhard von Rechberg […] in  : JMH 56, op. cit. Adam Wandruszka, Schicksalsjahr 1866, Graz 1966. Für die nachfolgenden Jahre grundlegend  : Heinrich Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches. Europäische Entscheidungen 1867–1871, Frankfurt 1979. Heinrich Lutz, Von Königgrätz zum Zweibund. Aspekte europäischer Entscheidungen, in  : HZ 217 (1973), S. 347–380. Zu den Strukturproblemen der Habsburgermonarchie die genannte Bandreihe  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, hg. von Adam Wandruszka u. Peter Urbanitsch. Sehr lesenswert immer noch  : Josef Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches, 2 Bde. in 3, Leipzig 1920, 1926 [unvollendet]. Zum Neoabsolutismus  : Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde., Göttingen 1978. Helmut Rumpler, Ministerrat und Ministerratsprotokolle 1848–1867. Behördengeschicht­ liche und aktenkundliche Analyse, Wien 1970 (= Protokolle des Österreichischen Ministerrates, Einleitungsband). Weitere verfassungsgeschichtliche Literatur bei  : Harm-Hinrich Brandt, Parlamentarismus als staatliches Integrationsproblem. Die Habsburger Monarchie, in  : Adolf M. Birke und Kurt Kluxen (Hgg.), Deutscher und Britischer Parlamentarismus, München 1985, S. 69–105. Peter Berger (Hg.), Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867. Vorgeschichte und Wirkungen, Wien 1967.

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»Wurmstichiges Orlogschiff« ? Bismarcks Einschätzung der Habsburgermonarchie

Heinrich Ritter von Srbik hat seine bekannte Metternich-Biographie mit e­ inem Kapitel abgeschlossen, das den Vergleich seines Helden mit dem späten B ­ is­marck zum Gegenstand hat, unverkennbar mit dem Ziel, durch das Aufweisen gewich­ tiger Übereinstimmungen den persönlichen Rang beider Staatsmänner in wechselseitiger Spiegelung zu überhöhen. Lassen wir das in dieser Apotheose implizierte Wertungsproblem einmal beiseite, so springt der Erkenntniswert des Vergleichs durchaus ins Auge. Bismarck selbst hat dazu bereits das Signal gegeben, indem er Metternichs Stichwort der Saturiertheit zur Charakterisierung seiner eigenen Außenpolitik ausdrücklich zitierte. Die Entsprechungen lassen sich auf weitere zentrale Kategorien ausdehnen  : so auf die konservative Stabilitätspolitik als Kabinettspolitik, den Cauchemar des revolutions, den antirevolutionären Appell an die Solidarität der Throne, die defensive Grundstruktur der außenpolitischen Ziele, das hochentwickelte Sensorium für die Sicherung Mitteleuropas, die Vorliebe für deren Verankerung in einer ostmächtlichen Dreikaiserpolitik, die Abneigung gegen eine offensive, von eigenen Expansionsinteressen geleitete Orientpolitik. Wichtige Differenzen wären gegenüber Srbik stärker zu betonen  : Im Bereich der politischen Methoden war der nachmärzliche »Sündenfall« des Übergangs zu antagonistischer Realpolitik nicht ungeschehen zu machen, weil der Prozess der Dynamisierung von Gesellschaft und Politik unumkehrbar war. Das geschwundene Zutrauen in die Europäische Konzertdiplomatie entsprach der neuen Wahrnehmung der Staatenwelt als einer societas leonina, in der Stabilitäts- und Friedenspolitik nur mehr durch die Installierung mechanistischer checks and balances, durch die Offenhaltung von Geschwüren zur kunstreichen Blockade der Machtantagonismen zu betreiben war. Mitteleuropäische Sicherheitspolitik bezeichnet die Kontinuität einer Herausforderung, die im Wandel des 19. Jahrhunderts mit gewandelten Methoden beantwortet wird. Dreh- und Angelpunkt dieser Kontinuität mitteleuropäischer Politik ist der deutsch-österreichische Zweibund von 1879, also jene bedingte Option für Österreich, die Bismarck selbst als Wiederherstellung des alten Deut­schen Bundes in zeitgemäßer Form gedeutet hat. Eine solche Deutung rückt das Bündnis in der Tat in die Kontinuität des 1815 begründeten mitteleuropäischen Zusammenhalts in defensiver Absicht auf der Basis des politischen

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Status quo, unter dem Vorzeichen der Saturiertheit. Die Erfahrungen mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts haben der nachfolgenden Historiographie vorrangig das Leitthema vorgegeben, das problematische Verhältnis dieser tatsächlichen und am Ende vergeblichen Status-quo-Politik Bismarcks zur ökonomisch-sozialen und politischen Dynamik des neuen Deutschen Reiches kontrastiv zu hinterfragen. Mit Blick auf die Habsburgermonarchie und ihre Auflösung lässt sich aber auch eine andere Frage an den Zweibund stellen, die von der der Bismarckzeit ja durchaus bewussten Fragilität der inneren Verfassung und äußeren Position Österreichs ausgeht  : Wie stand es mit der Konsistenz einer mitteleuropäischen status-quo-orientierten Stabilitätspolitik in Anbetracht eines Partners, dessen innere Strukturprobleme schon aus sich selbst heraus fortwährend Bewegung in die außenpolitische Szenerie brachten und zwar notwendigerweise so, dass die Unterscheidung von Defensive und Offensive zunehmend im Zeichen der Präventive ins Schwimmen geriet  ? Nimmt man Bismarcks defensives Konzept zum Ausgangspunkt, so stellt sich damit zwingend die Frage, welche Einschätzung der Kanzler seinem Zweibundpartner eigentlich entgegenbrachte. So sehr eine solche Frage auf der Hand liegt, so schwierig ist ihre Beantwortung aus den direkten Quellenzeugnissen, also aus den authentischen Äußerungen Bismarcks über Österreich. Solange der Kanzler als Chef den Kurs der preußischen bzw. deutschen Außenpolitik bestimmte, waren seine schriftlich überlieferten Auslassungen in außergewöhnlich hohem Grade auf das diplomatische Tagesgeschäft begrenzt, also bestimmt von den Zwecken und Absichten der laufenden politischen Operationen und orientiert an den Wirkungen, die von den Worten ausgehen sollten. Darüber hinausgehende, sozusagen zweckfreie, ausschließlich gegenstandsbezogene Reflexionen oder Raisonnements sind selten  ; sie finden sich erwartungsgemäß vermehrt in der Zeit der erzwungenen Quieszenz ab 1890, sind aber auch hier wie insgesamt nicht ohne das Wissen um die Wirkung zu denken. Adressat, Vertraulichkeitsgrad und politische Rahmenhandlung sind bei der Interpretation der spärlichen Direkt-Urteile über Österreich in besonders hohem Grade zu beachten. Nur eine Zeit gab es, da war von staatsmännischen Rücksichten noch keine Rede, da regneten Bismarcks Sprüche über den österreichischen Rivalen in größter Fülle auf seine dienstlichen Vorgesetzten und vertrauten Freunde mit jeder nur wünschbaren Klarheit offen und schlicht hernieder. Und da es seit deren Veröffentlichung schon stets ein besonderes, wenn auch für die Freunde Österreichs mitunter schmerzhaftes Vergnügen war, diese bildkräftigen Sottisen und geschliffenen Aperçus zu lesen, so sind diese Texte aus der Frankfurter Bundesgesandtenzeit und dem Petersburger Exil in großem Maße in den Zitatenschatz

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der Historiker eingegangen  ; sie bestimmen das Bild, das man sich vom Verhältnis Bismarcks zur Habsburger-Monarchie macht, in hohem Grade. Andererseits springt der Kontrast dieser scharfen und durchweg von Feindseligkeit bzw. Abschätzigkeit eingegebenen Urteile zur politischen Praxis der Folgezeit seit 1867/70 sogleich ins Auge. Ob auch die Bewertungen des späteren Bismarck sich kontrastiv von denen der Frankfurter Zeit absetzen, oder ob sich gewisse Beurteilungs-Kontinuitäten ausmachen lassen, und wenn ja, welche Schlüsse für die Bündnispraxis daraus gezogen werden – dieser Frage lohnt es sich durchaus nachzugehen, weil das zentrale Problem, das mit dem sprichwörtlichen »System der Aushilfen« gekennzeichnet ist, auch aus dieser Perspektive beleuchtet werden kann. Wenn wir von Bismarcks Frankfurter Jahren und seinem prägenden Erlebnis der bundespolitischen Rivalität ausgehen, so können wie seine bekannten Auffassungen über die Natur dieser Rivalität, der Notwendigkeit und Unausweichlichkeit ihrer Bereinigung, über die unerträglichen Anmaßungen der österreichischen Politik, die Niedertracht, Verlogenheit, Arroganz, Hinterhältigkeit ihrer Frankfurter Vertreter für unseren Zusammenhang außeracht lassen. Interessanter ist, was dabei an Einschätzungen der inneren Verhältnisse des neoabsolutistischen Kaiserstaates zutage tritt. Drei Komplexe geben dabei den Ansatz für ein im ganzen kritisches und pessimistisches Urteil, das der preußische Bundesgesandte freilich durchaus mit anderen kritischen Zeitgenossen teilt  : Mit dem Stichwort des Bachschen Systems wird das Bild eines lediglich auf militärischer Gewalt beruhenden und bürokratisch vermittelten Zentralstaates entwickelt, dem keine innere Kraft zugesprochen wird  ; ein »künstliches Bauwerk«, das »beim ersten glücklichen Stoß eines Gegners in das Innere« der Monarchie zusammenbrechen werde, und zwar vornehmlich wegen der »offenen Wunden« der magyarischen und der italienischen Opposition. Im Horizont der europäischen Bündnispolitik dient diese Einschätzung in den 50er Jahren ganz wesentlich der Untermauerung seiner für Preußen empfohlenen Generallinie  : keine unzeitigen mitteleuropäischen Gemeinsamkeiten, keine Bindung an einen derart bedrohten Partner, im Gegenteil Übergang zu kühner und unkonventioneller Bündnispolitik gegen Österreich, um die deutschen Verhältnisse im preußischen Sinne zu bereinigen. Die anderen beiden Stichworte, die sich für Bismarck mit dem Bachschen System verbinden, lauten »jesuitisch« und »jüdisch«. Das Jesuitische bezieht sich auf die österreichische Konkordatspolitik von 1855, also den Versuch, durch Preisgabe des josefinischen Staatskirchensystems in der katholischen Kirche eine wesentliche Stütze des neoabsolutistischen Regimes im Innern und der deut-

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schen wie europäischen Position Österreichs zu gewinnen. Für Bismarck fügt sich dieser Vorgang in den Bedrohungskomplex des Ultramontanismus ein, der ihn durchgängig stark beherrscht, sein historisches Urteil über die wesentlich auch konfessionelle Natur der deutschen Frage seit der Zeit Karls V. prägt und der übrigens einen Rest von Misstrauen gegen Österreich bis in seine späten Friedrichsruher Tage hinein motiviert. »Jüdisch«  : das zielt auf die seit 1848 notorische Finanzschwäche Österreichs, die damit gegebene kreditpolitische Abhängigkeit von der jüdischen Haute Finance und die damit verbundene Korruptions- und Bereicherungstendenz auch innerhalb der hohen Bürokratie. Die Gelegenheit, den Haut Gout dieses vermuteten und tatsächlichen Sumpfes genüsslich und nicht ohne antisemitische Untertöne vorzuführen, wird immer wieder gern wahrgenommen  : so, wenn vom »beschnittenen und getauften Gesindel von Börsenwucherern und bezahlten Zeitungsschreibern« die Rede ist, welche »die österreichische Staatskuh an Horn und Euter festhält«, oder wenn Bach »in einflussreicher Solidarität mit dem ganzen Klüngel von Juden und Judengenossen« gesehen wird, »die sich an den kranken Brüsten der österreichischen Finanz vollsaugen«. Für die Einschätzung Österreichs und der österreichischen Politik während seiner Frankfurter Jahre dürfte – wie ich glaube – der Krimkrieg Bismarcks zentrales Erlebnis gewesen sein  : Hier bündelten sich die mit der inneren Verfassung der Monarchie, ihrer deutschen und ihrer europäischen Position aufgeworfenen Probleme in exemplarischer und zukunftsbestimmender Weise. Hier stand die Frage der Identität oder Nicht-Identität österreichischer und deutscher Interessen in der Orientpolitik zum ersten Mal auf dem Spiel, und hier wurde die machtpolitische Schwäche der Habsburgermonarchie auf europäischer Ebene erstmals manifest. Hier formten sich bestimmte Urteile Bismarcks, die ebenfalls bestimmte Muster für die Zukunft festlegten, und in denen Klarsicht und Verkennen nahe beieinanderlagen. Verkannt wurden vor allem die orientpolitischen Motive des österreichischen Engagements  : »Um ein paar stinkende Wallachen zu ergaunern«, so kommentierte er im Oktober 1854 die Einleitung der Westallianz, »tragen sie kein Bedenken, alles in Deutschland mühsam erworbene Vertrauen aufs Spiel zu setzen«. Wallachen ergaunern  ? Die offensive Einfluss-Sicherung in den Donaufürstentümern war durchaus ein Nebenmotiv der österreichischen Politik, aber bei weitem nicht das entscheidende. Die Habsburgermonarchie bemühte sich im Rahmen der antirevolutionären Gesamttendenz des Neoabsolutismus, die nationale Revolutionierung des Balkans langfristig zu hindern und russische Präsenz und russische Dominanz nicht zuletzt deshalb fernzuhalten, die Kriegsziele der

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Westmächte auf ein solches Programm zu begrenzen und sie (die Westmächte) mit Hilfe einer Allianz zu fesseln. Das antirevolutionäre, die Rückwirkung der Balkanverhältnisse auf die innerösterreichische Situation beachtende oder mitbeachtende Grundziel der russlandfeindlichen Haltung der Donaumonarchie ist Bismarck (vorerst) nicht einsichtig geworden. Demgegenüber volle Klarsicht über die Mehrdimensionalität der österreichischen diplomatischen Operationen, vor allem was die Bestätigung des deutschen Führungsanspruchs und die Verfügung über das deutsche Potential betraf. So schon im November 1853  : »Sie haben im Orient ihr Kreuz zu tragen, wollen in Italien die große Rolle spielen und in Deutschland auch den Löwen machen und für die europäische Politik über uns disponieren, ohne uns in der deutschen auch nur ein Gott vergelt’s zu sagen.« Klarsicht auch über die Diskrepanz zwischen der beanspruchten europäischen Rolle und den eigenen materiellen Ressourcen, die zum vorzeitigen Abbruch der österreichischen Mobilmachung zwang. Demgegenüber schon im Anfangsstadium der Orientkrise (November 1853) intensive Warnungen vor einer preußischen Bindung an ein österreichisches Bündnis  : Die Habsburger-Monarchie biete gegenüber Frankreich und Russland »so faule und wunde Flecken, dass es ein schwacher Bundesgenosse für uns sein würde, sich dadurch aber nicht würde abhalten lassen, uns noch auf dem Sterbebette übers Ohr hauen zu wollen«. Und  : »Es würde mich ängstigen, wenn wir vor dem möglichen Sturm dadurch Schutz suchen, dass wir unsere schmucke und seefeste Fregatte an das wurmstichige alte Orlogschiff von Österreich koppelten. Wir sind der bessere Schwimmer von beiden und jedem ein willkommener Bundesgenosse, sobald wir unsere etwaige Isolierung und strenge Neutralität aufgeben wollten.« Und dann folgt der bekannte Satz von den großen Krisen, die das wachstumsfördernde Wetter für Preußen bilden, indem man sie furchtlos und rücksichtslos benutzt. Der Weg zur Durchsetzung der preußischen Hegemonie in Deutschland war allerdings schon früh von Versuchen begleitet, einen Ausgleich mit Österreich durch den Aufbau einer Doppelhegemonie über den Bund zu erreichen. Bereits auf den Dresdner Konferenzen, die 1851 auf Olmütz folgten, verlangte Preußen vergeblich die Parität in der damals vorgesehenen neuen Bundesexekutive für seine Zustimmung zur Gesamtaufnahme der habsburgischen Länder in den Bund mit der entsprechenden Sicherheitsgarantie. Gegenüber den Reformbeschlüssen der Frankfurter Fürstenversammlung von 1863 ein ähnliches Spiel Bismarcks  : Zustimmung zur Reform nur bei Parität in der Bundesleitung und Vetorecht gegenüber allen Kriegen außerhalb der Bundesgrenzen. In den unmittelbar folgenden Konflikten um Schleswig-Holstein verband Bismarck den Streit um die

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Beute sehr rasch ebenfalls mit grundsätzlichen Fragen einer Bundes­reform  ; nunmehr verfolgte er jedoch das Projekt einer österreichisch-preußischen Doppel­ hegemonie eher unter geographischen Aspekten, die freilich ebenfalls in einer älteren Linie preußischer Tradition lag. Im Kern ging es um die preußische Verfügung über die norddeutschen Kontingente der Bundesarmee  ; Österreich sollte der süddeutsche Teil zufallen. Bis kurz vor Kriegsausbruch wurde Bis­marck nicht müde, an Wien derartige Angebote variantenreich und unter Lockungen und Drohungen zukommen zu lassen, ohne die österreichische Führung zu beeindrucken. Ob eine elastischere, nicht auf starre Verteidigung des Bundessystems verharrende Politik Österreichs zu einem für die Habsburgermonarchie haltbaren ›Ausgleich‹ geführt hätte, scheint mir zweifelhaft zu sein. Denn einer Aufopferung etwa Hannovers im Norden hätte im Süden keine Möglichkeit einer österreichischen Hegemonie v. a. über Bayern gegenübergestanden. Überdies waren die süddeutschen Staaten mit dem Zollverein bei Ausschluss Österreichs soeben erneut ökonomisch an Preußen gebunden worden. Sieht man davon ab, dass der Deutsche Bund in seiner Gestalt von 1815 in jedem Fall verloren war, und konzentriert man sich auf das Bemühen Österreichs, für das eigene Sicherheitsinteresse über den Bund verfügen zu können, so ist die Vergeblichkeit dieser Anstrengungen bereits seit dem Scheitern Schwarzenbergs latent gegeben und seit 1859 manifest. Man kann Bismarck zugute halten, dass er nicht sans phrase von vornherein auf den Krieg zusteuerte, sondern sich bis zuletzt um eine Verständigung mit Wien über ein friedliches Zurückweichen Österreichs bemühte. Die Kontinuität Bismarckscher Erwägungen zeigt sich auch an der Art des Friedensschlusses von 1866. Bis zum Lebensende wurde er nicht müde, die Geschichte von Nikolsburg zu erzählen und seine Auseinandersetzungen mit König und Militärs dramatisch auszumalen  : Österreich zu schonen, um eine spätere Annäherung nicht zu verbauen. (Der wachsende Druck der europäischen Drohkulisse wurde dabei selbstverständlich verschwiegen.) Aber ebenfalls sehr früh, nämlich ab Frühjahr 1867, wurde der alte seit 1862 als Alternative gesponnene Faden eines partnerschaftlichen Ausgleichs wieder aufgenommen und nunmehr unter den gewandelten Verhältnissen als Reflexion über eine mögliche Allianz mit Österreich präsentiert. Österreich, so jetzt die Parole, »ist unser nächster und natürlichster Verbündeter«. Die wichtigsten Elemente dieses Projekts finden sich bereits jetzt  : 1. die Anknüpfung an das äußere und innere Sicherheitsbedürfnis der Donau-­ Monarchie  ; 2. die strikte Begrenzung auf die Defensive  ;

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3. damit zugleich die Fesselung Österreichs, um es von anderen Kombinationen (französisches Bündnis, Kaunitzsche Koalition, Krimkriegskoalition) abzuhalten  ; 4. Fesselung zugleich auch der expansiven Tendenzen des Partners, um auf diese Weise Russland die Wahrung seiner Interessen zu demonstrieren und mit der Zarenmacht eine Dreier-Kombination im Sinne konservativer Stabilität einzuleiten. Ein Ansatz zur Realisierung dieses Konzepts war bekanntlich zunächst durchaus nicht gegeben. Im Gegenteil verband sich mit der Berufung Beusts der Versuch, im Bündnis mit Frankreich das Ergebnis von 1866/67 im Sinne eines Wiedereintritts zu revidieren. Abgesehen von den enormen Schwierigkeiten, Frankreich von Wien über den Umweg einer Auseinandersetzung mit Russland zu engagieren und Preußen zu isolieren, baute Bismarck darauf, dass die innenpolitischen Voraussetzungen in der nunmehrigen Doppelmonarchie einer solchen Politik entgegenstanden  : die Kombination von Ultramontanismus, Hof- und Militärpartei plus Großdeutschtum, der er eine solche Politik (jetzt und auch später) durchaus zutraute, war nicht stark genug gegenüber den von Ungarn ausgehenden Widerständen und dem Interesse der deutschen »Verfassungspartei« an der Aufrechterhaltung von konstitutioneller Monarchie und ungarischem Ausgleich. Denn innenpolitisch zielte die Hofpartei über einen äußeren Sieg zugleich auf die Revision der Ergebnisse von 1867 zugunsten der Wiederherstellung des zentralistischen Kaiserreichs. Damit ist für uns nun ein weiteres strukturelles Element der Einschätzung Österreichs durch Bismarck gegeben  : das Einfrieren der österreichisch-ungarischen Gesamtverfassung auf die Ausgleichskonstruktion von 1867 als wesentliche Voraussetzung einer politischen Anbindung an Deutschland. Komplementär dazu sahen nunmehr vor allem die magyarischen Politiker in einem deutschen Bündnis mehr und mehr die entscheidende Bestandsgarantie für den Ausgleich und damit für ihre transleithanische Position als Herrenvolk. Diese Konstellation bewährte sich namentlich im deutsch-französischen Krieg, einem Krieg, der zudem im Sinne des Beustschen Konzepts in der falschen Reihenfolge ausbrach und Wien zu äußerster Vorsicht veranlasste. Nicht erst Andrássy, sondern schon Beust nahm angesichts der deutschen Siege eine Reorientierung der österreichisch-ungarischen Außenpolitik zugunsten Deutschlands vor  ; aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Andrássys Einzug in den Ballhausplatz Bismarck (vorerst  !) erleichterte.

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Zugleich bewogen die nationalistischen Begleitumstände und -töne der Reichs­gründung den Kanzler, konterkarierend ein weiteres Element in seine Österreichpolitik einzubauen  : die nunmehr ständige Zurückweisung jeglicher Annexionsgelüste. »Die Verdächtigung« – so Juli 1870 an Schweinitz –, »als ob Norddeutschland die Neigung oder ein Interesse haben könnte, die österreichische Monarchie zu zertrümmern, ist in ihrer Absurdität schon oft von mir beleuchtet worden. Die Aufnahme des sogenannten Deutschösterreichs mit seinen Tschechen und Slowenen in den Norddeutschen Bund wäre mit der Zersetzung des letzteren gleichbedeutend.« In zahlreichen Wendungen betonte der Kanzler von nun an bis in seine späten Tage, dass Wien nicht zu einer Grenz- und Provinzstadt degradiert und als solche von Berlin regiert werden könne, dass ein über den Anschluss Süddeutschlands hinausgehender Zuwachs an Katholiken resp. »Ultramontanen« der preußischen Führung des Reiches unzuträglich sei, dass man an den eigenen Polen genug habe und weitere Slawen (eben Tschechen und Slowenen) nicht verkraften könne. Die Position der Deutschösterreicher sah er am besten in der Ausgleichskonstruktion und in der Dezemberverfassung von 1867 gewährleistet. Nicht zufällig fand der böhmische Ausgleichsversuch des konservativen Ministeriums Hohenwarth-Schäffle von 1870, der eine Art Trialismus installiert hätte und v. a. durch eine ungarische Intervention torpediert wurde, die Missbilligung Berlins, die – nicht immer mit der gebotenen Zurückhaltung – nach Wien signalisiert wurde. Im Jahre 1874 hat Bismarck den Ausgleich gegenüber einem ungarischen Journalisten  – durchaus pro domo, aber sicherlich seinen Überzeugungen entsprechend, gewürdigt  : »Es ist nötig, dass in Mitteleuropa ein solch konsolidierter Staat bestehe wie die österreich-ungarische Monarchie […] Dies- und jenseits der Leitha ist hier das deutsche, dort das magyarische Element zu regieren berufen. Auch die übrigen Stämme geben gute Soldaten, aber administratives Talent, staatsmännische Kenntnisse, Intelligenz und Besitz sind doch vorzugsweise bei den Deutschen und Magyaren heimisch. Alle sind durch eine gemeinsame Geschichte zusammengehalten. Die Errichtung von kleinen Nationalstaaten im Osten Europas ist unmöglich, es sind bloß historische Staaten möglich. Deshalb muss die heutige dualistische Staatsform zwischen Österreich-Ungarn aufrechterhalten werden.« Mit diesen Perspektiven preußisch-deutscher und österreichisch-ungarischer Binnenverfassung verbindet sich seit 1866 die ständige Rede von der europäischen Bedeutung des Erhalts der Habsburgermonarchie und dem spezifisch deutschen Interesse, der mit diesem Erhalt verknüpft sei. »Wir haben kein Inter­

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esse, die österreichische Monarchie zerfallen zu sehen und uns mit der unlösbaren Frage zu befassen, was an ihre Stelle treten soll«, erklärt Bismarck schon 1870, und von hier zieht sich die Reihe ähnlicher Bemerkungen bis zu den Bemerkungen in »Erinnerung und Gedanke« über Gleichgewicht, Stabilität, europäische Notwendigkeiten und deutsche Sicherheitsinteressen, die mit dem Bestand der Habsburgermonarchie verbunden seien. Dass der Glaube an die Haltbarkeit des Ganzen in den späten 80er Jahren gelegentlich erschüttert wurde und bei demselben Mann dann ganz andere Kombinationen spekulativen Raum gewannen, wird uns hernach noch beschäftigen. Zunächst sei noch ein weiteres Motiv hervorgehoben, das seit 1866 die Bismarckschen Auslassungen über Österreich stärker als zuvor kennzeichnet  : »Wer sollte an die Stelle Europas gesetzt werden, die der österreichische Staat von Tirol bis zur Bukowina bisher ausfüllt  ? Neue Bildungen auf dieser Fläche könnten nur dauernd revolutionärer Natur sein.« Es ist bekannt, in welcher Weise der Übergang Frankreichs zur Republik und die revolutionären Begleiterscheinungen der Schlussphase des Krieges Bismarck die Chance gaben, Frankreich zu isolieren und den Appell an die Solidarität der Throne zum Vehikel der außenpolitischen Absicherung seiner als Revolution von oben eingeleiteten Reichsgründung zu machen. Unverkennbar jedoch wurde die antirevolutionäre Frontstellung in den 70er und 80er Jahren in steigendem Maße zum echten Motiv und zu einem grundlegenden Axiom der Bismarckschen Status-quo-Politik, die ihre inneren und äußeren Aspekte verknüpfte. In extensiver Interpretation des Revolutionsphänomens wurde gerade auch seine Einschätzung der Balkanverhältnisse, der dortigen nationalen Bewegungen und der Infizierung der russischen Außenpolitik mit panslawistischen Tendenzen hiervon bestimmt. Vorstellungen eines Selbstbestimmungsrechtes der kleinen slawischen Völker hatten in diesem Gesamtbild keinen Raum  ; die Fähigkeit zu dauerhafter politischer Selbstgestaltung wurde dem europäischen Südosten im Grunde abgesprochen. In der Tat erinnert es an Metternich, wenn Bismarck in der großen Orientkrise der 80er Jahre die Wahrung des Monarchischen Prinzips und der Solidarität der Throne für wichtiger hielt als das Pokern um Einflusszonen auf dem Balkan, und wenn er meinte, dass die monarchischen Regierungen sich einen Wettlauf um die Gunst der Balkanparteien gar nicht leisten konnten. Von einem solchen Ansatz her war das Axiom von der Erhaltung der Habsburgermonarchie als stabilisierendem Faktor verknüpft mit dem weiteren Axiom, dass die Doppelmonarchie jedwedem machtpolitischen Egoismus auf dem Balkan, der Konflikte mit Russland heraufbeschwor, Fesseln anzulegen hatte. Die

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Vereinbarkeit dieser Axiome stellte von nun an ein entscheidendes Problem in der Bismarckschen Einschätzung Österreichs dar. Die seit 1866 sich langsam herausbildenden Auffassungen von der Existenznotwendigkeit Österreichs, der Notwendigkeit einer Herstellung engen politischen Einvernehmens in Mitteleuropa und der Notwendigkeit ost- und südosteuropäischer Stabilitätspolitik bildeten die wesentlichen Elemente, auf denen die Dreikaiserpolitik der 70er Jahre sowie, nach den Erfahrungen der Orientkrise und des Berliner Kongresses, der Abschluss des Zweibundes und die Erneuerung der Dreikaiserpolitik auf veränderter Grundlage beruhte. Die bekannten Vorgänge, die diese Entwicklung von ca. 1872 bis ca. 1881/85 bestimmten, sind hier nicht nachzuzeichnen, die Implikationen der Gründung des Zweibundes von 1879 dabei jedoch zu betonen  : Seine defensive, status-quo-wahrende und auf maximale Sicherung des Deutschen Reiches ausgerichtete Tendenz hatte den Hauptzweck, die russische Politik von einer machtpolitisch verbesserten Ausgangslage her auf die Ebene der Dreikaiser-Verständigung zurück zu zwingen und der berühmten Optionsfrage zu entgehen. Allerdings wurden – und hierin kommen eben die Erfahrungen mit der russischen Orientpolitik zum Tragen – gegenüber Russland mit der zugunsten Österreich abgegebenen Bestandsgarantie festere diplomatisch-politische Pflöcke eingeschlagen und mit dem Hinweis auf den Faktor England auch ein vermehrtes latentes Drohpotential in Stellung zu bringen versucht. Die Hauptsache bei alledem blieb aber – mit Blick auf Frankreich – die gewiss mühsame Lenkung der zaristischen Politik im Gewande spezieller deutsch-russischer Beziehungspflege. Der hiermit in engstem Zusammenhang stehende nächstwichtige Zweck war die durchaus erheblich weitergehende Fesselung der österreichischen Politik und ihre möglichst enge Anbindung an die Berliner Führung. Hierüber muss etwas eingehender gesprochen werden. Bekanntlich hat der deutsche Kanzler zugunsten des Zweibundes kräftige gesamtdeutsche Töne angeschlagen  ; der alte Deutsche Bund wurde bemüht, das Bündnis als Wiederherstellung des bundesmäßigen Zusammenhangs in zeitgemäßer Form gedeutet. Die nationale Verankerung des Unternehmens und seine dementsprechende Popularität waren dem Kanzler zweifellos wichtig. Dies ist dann auch unfehlbar eingetroffen. Insbesondere in Süddeutschland wurde der Zweibund als Heilung der Wunde von 1866 und als Sonderverhältnis verstanden, das über eine gewöhnliche Allianz hinausging. Mit Recht hat Wolter überdies darauf hingewiesen, dass Bismarck inmitten der schweren innenpolitischen Auseinandersetzungen in Wirtschafts- und Finanzpolitik, Sozialistengesetz und allgemeiner konservativer Wende sich von einer Aktion von nationalpolitischem Schwung und propagandistisch antirussischer

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Spitze innenpolitische Entlastung versprechen musste. In derselben Linie lag die Idee, das Bündnis auf beiden Seiten parlamentarisch ratifizieren zu lassen und seine Änderung bzw. Aufhebung von der Zustimmung deutscherseits von Kaiser, Bundesrat und Reichstag, österreichischerseits von Kaiser, cisleithanischem Reichsrat und ungarischem Reichstag abhängig zu machen. Gerade dieser Plan aber weist zugleich über den angesprochenen nationalpolitischen Aspekt hinaus  ; seine Ablehnung durch Franz Joseph und Andrássy entschleiert das Ausmaß, in dem die Habsburgermonarchie an die Leine gelegt werden sollte. Nicht zuletzt hätte Bismarcks ursprünglicher Plan ja auch bedeutet, Österreich-Ungarn gegen Frankreich in Stellung zu bringen. Es war klar, dass in dem Maße, wie der Kündigungsmechanismus gewöhnlicher Allianzen außer Kraft gesetzt wurde, der schwächere Partner als Preis für die ihm gewährte Sicherheit seine außenpolitische Bewegungsfreiheit einbüßte. Letztlich lief der Plan eines staatsrechtlich verankerten Bündnisses auf eine ähnliche Organisierung des mitteleuropäischen Potentials jetzt unter preußischer Führung hinaus, wie dies im Rahmen des alten Deutschen Bundes in der Konsequenz der Radowitzschen Unionspolitik gelegen hätte oder wie dies unter umgekehrtem Vorzeichen einer österreichischen Führung in den Jahren 1851 und 1863 versucht worden war. Doch ergab sich, wie die weitere Entwicklung erweist, die Berliner Hegemonialposition innerhalb des Zweierverbandes durch das Gewicht der ungleichen Potentiale auch ohnedies  ; der Verzicht auf eine unauflösbare Bindung mochte dann für das Deutsche Reich eher von Vorteil sein, da er notfalls auch die Abkoppelung von Österreich offen hielt. In seinen Gedanken und Erinnerungen ist Bismarck nochmals auf das Problem einer staatsrechtlichen Verankerung des Zweibundes zurückgekommen und hat nunmehr wegen der ungesicherten Existenz der Habsburgermonarchie aufgrund seiner inneren Verhältnisse von einer solchen Bindung abgeraten. Dieses höchst bemerkenswerte späte Bekenntnis verweist auf eine merkwürdige Ambivalenz Bismarcks in seiner Einschätzung der Habsburgermonarchie und wird uns am Schluss noch beschäftigen. Bleibt noch nachzutragen, dass der Zweibund niemals von einer entsprechenden wirtschaftspolitischen Kooperation begleitet wurde. Im Interesse der ostelbischen Landwirtschaft hat Bismarck zollpolitische Annäherungsversuche stets abgeblockt. (Bekanntlich wurde auch gegen Russland aus dieser Interessenlage heraus Wirtschaftskrieg geführt.) Zur Zeit des Bündnisabschlusses und noch weiter darüber hinaus war das Motiv, Österreich-Ungarn mit einer Bestandsgarantie zugleich in seiner Bewegungsfreiheit zu fesseln, sehr stark von einem Misstrauen geprägt, in welchem eher traditionelle Muster der Bündnisdiplomatie bei Bismarck fortlebten  : Es war die Furcht vor der Kaunitzschen Koalition, das Misstrauen gegenüber den Ten-

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denzen der deutschfeindlichen Militärzirkel wie auch den sog. ultramontanen Traditionslinien der Wiener Hofburg. Wie weit dieses Bedürfnis nach ›Entmachtung‹ Österreichs gegenüber Preußen-Deutschland ging, zeigt die (erfolgreiche) Abolition von Artikel V des Prager Friedens, worin Preußen sich gegenüber Öster­reich zu einer Volksabstimmung in Nordschleswig verpflichtete. Dies hätte sich von Wien über die Einschaltung v. a. Frankreichs und Russlands leicht zu Konfliktspielen benutzen lassen. Das latent größte künftige Problem aber lag in den aggressiven außenpolitischen Ziele Andrássys. Der Ungar versprach sich von außenpolitischen Erfolgen (dem Bismarck von 1870 durchaus vergleichbar) innenpolitische Gewinne – hier die Stabilisierung der 1867 geschaf­fene Doppel­ monarchie. Sein Ziel einer Machterweiterung auf dem Balkan richtete sich im Kern gegen Russland  ; seine Methoden dabei waren jedoch äußerst flexibel, sie hofften auf ein Zusammengehen mit England und Deutschland, versuchten sich jedoch variantenreich an einer Verständigung mit Frankreich und Russland oder sogar – an Berlin vorbei – 1876 mit den Vereinbarungen von Reichstadt an einer österreichisch-russische Entente. In diesem Zusammenhang kann man seit 1876 durchaus von einem Reichstadt-Komplex bei Bismarck sprechen  ; wiederholt kam der auch nach 1879 grollend auf dieses Einvernehmen zurück, um auf die Möglichkeit einer österreichischen Russlandpolitik auf Deutschlands Kosten hinzuweisen. Mit der großen Orientkrise der späten 80er Jahre wurde diese Perspektive freilich obsolet. Andrassys Kriegskonzept schon der 70er Jahre suchte – aus genuin ungarischer Perspektive – die Existenzprobleme der Habsburgermonarchie als deutsch-magyarisch dominierter Großmacht durch präventives Ausschalten der gefährlichsten gegnerischen Macht und durch imperiales Ausgreifen so zu lösen, dass mit der Etablierung einer österreichischen Balkanhegemonie zugleich alle den Bestand der Doppelmonarchie von innen bedrohenden Kräfte lahmgelegt wurden. Diese Sicht des russischen Problems mit ihrer spezifischen Verschränkung außen- und innenpolitischer Aspekte beherrschte in den 80er Jahren in Wien und Budapest angesichts der immer bedrohlicher werdenden Erscheinungsformen russischer Politik und Agitation zunehmend das Feld und wurde mit der Bulgarienkrise schlechthin dominierend. Bismarcks Verhalten gegenüber dem russisch-österreichischen Antagonismus und hier speziell gegenüber den offensiven bzw. präventiven Tendenzen der österreichisch-ungarischen Politik zeigt, wie weit er sich doch von der Parole seiner eigenen Anfänge entfernt hatte, Revolution lieber zu machen als zu erleiden. Die Fesselung der Habsburgermonarchie im Rahmen des Zweibundes und durch eine restriktive Auslegung des defensiven Vertragsinhalts wurde zur wichtigsten

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Verhaltensmaxime, um die russische Politik im Rahmen des Dreikaiserverbandes zu halten und einer Option auch weiterhin zu entgehen. Es überrascht durchaus und erinnert wiederum in manchem an Metternichs Predigtstil, in welch hohem Maße die Beschwörung revolutionärer Gefahren den diplomatischen Verkehr Bismarcks mit den verbündeten Monarchen durchzog. Der Appell an die monarchische Solidarität war  – vor dem Hintergrund des »cauchemar des coalitions« und der Zweifrontensituation  – selbstverständlich auch wesentlich taktisch motiviert  ; aber dies war auch schon bei Metternich so, und in beiden Fällen verrät sich darin die mit dem Alter zunehmende Statik der politischen Ordnungsvorstellungen und eine damit verbundene gewisse Hilfslosigkeit, die in der diplomatischen Verwendung derartiger Ideologeme liegt. Dem entsprach das Bild, das Bismarck in den 80er Jahren von der wünschenswerten Struktur der inneren Herrschaftsverhältnisse hatte, und das sich im Falle der Habsburgermonarchie trotz aller diplomatischen Zurückhaltung den verstreuten Äußerungen des deutschen Kanzlers ziemlich deutlich entnehmen lässt. Sie liefen nach wie vor auf eine Bejahung der mit dem Dualismus geschaffenen Verfassungsverhältnisse hinaus, wobei nunmehr der Aspekt der Sicherung der Kronprärogative in den Vordergrund trat, wie sie in der Konstruktion der sog. gemeinsamen Angelegenheiten gewährleistet war. Dementsprechend wurde immer wieder die Tendenz des ungarischen Reichstages gescholten, sich in außenpolitische Angelegenheiten zu mischen, was natürlich auch inhaltlich umso näher lag, als der gesamte Bulgarienkomplex von Bismarck gern als Ausfluss des magyarischen Chauvinismus und magyarischer Begehrlichkeit gewertet wurde. Auf einer anderen Problemebene zeigt sich in der Beurteilung der cisleithanischen Verhältnisse dieselbe Tendenz der Gutheißung monarchischen Regiments. Wenn hier das parlamentarische Verhalten der deutsch-liberalen Fraktionen seit der Okkupationskrise von 1878 der Bismarckschen Schelte unterlag, so wiederholte sich darin dieselbe Frontstellung, die zeitgleich die Verhältnisse im deutschen Reichstag kennzeichnete. Dementsprechend unterlag das langlebige Regime Taaffe bei Bismarck auch nicht dem üblichen deutschliberalen bzw. deutschnationalen Verdikt des Klerikalismus und der Slawophilie, womit der Untergang der deutschen Vorherrschaft in Österreich herbeigeführt werde. Vielmehr befand der Kanzler, dass in der westlichen Reichshälfte ohnehin nicht ohne und gegen die administrative, kulturelle und wirtschaftliche Potenz des Deutschtums regiert werden könne. Statt das deutsche Interesse zu einer Parteisache zu machen, sich durch parlamentarische Opposition ins Abseits zu begeben oder die Politik auf Bakschischniveau herunterzubringen, also wohl  : zum Kuhhandel um Volksgruppenvorteile ausarten zu lassen, sollten die Libe-

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ralen besser die kaiserliche Regierung unterstützen im Vertrauen darauf, dass die Stärke der Position des Kaisers immer auch den deutschen Charakter der Monarchie gewährleiste. Ein solches Urteil lief darauf hinaus, im hergebrachten monarchisch-bürokratischen Obrigkeitsstaat die sicherste Stütze der gesellschaftlichen und politischen Ordnung sowie der inneren und äußeren Stabilität des Habsburgerstaates zu sehen. Unverkennbar hatte Bismarck, der in den 50er Jahren wie erinnerlich das Bachsche Schreiberregiment als Kartenhaus bezeichnet hatte, mit solchen Auffassungen längst auch bezüglich Österreichs in den breiten Strom deutsch-mitteleuropäischer Staatsideologie zurückgelenkt, wie sie gerade auch in den deutsch-österreichischen staatsnahen Führungsschichten bis zum Ende der Monarchie gang und gäbe war. Unverkennbar zeigt sich daran auch die Problematik eines derart statischen Gesellschafts- und Verfassungsbildes angesichts des in den 80er Jahren verschärft einsetzenden Kampfes der Nationalitäten um den habsburgischen Staat. Ob und wenn ja in welcher Weise Bismarck die Verflechtung dieser inneren Struktur- und Existenzfragen der Donaumonarchie mit den Problemen ihrer außenpolitischen Position wahrgenommen hat, wird nunmehr abschließend zu untersuchen sein. Auf zweierlei Weise suchte der Kanzler bekanntlich seine Leitvorstellung der Dreikaiserpolitik zu realisieren  : einmal indem er Österreich schärfer als Russland mit dem ständig zu Gebote stehenden Hinweis auf die eng begrenzte Reichweite des Zweibundvertrages auf balkanpolitische Enthaltsamkeit zu verpflichten suchte  ; zweitens indem er, sozusagen konstruktiv, beiden Partnern eine Demarkationslinie schmackhaft zu machen suchte, unter deren Respektierung beide friedlich nebeneinander ihre Expansions- bzw. Penetrationstendenzen verfolgen mochten. Serbien war auf diese Weise dem österreichischen Einfluss vorbehalten, während die Überlassung Bulgariens an die russische Suprematie dem Zarenreich zugleich den Weg an die Meerengen weisen und hier  – bekanntlich ein entscheidender Aspekt des Bismarckschen Kalküls  – der direkten britischen Gegnerschaft aussetzen sollte. Diese Vorstellung einer Einflusszonenteilung im Stile souveräner Kabinettspolitik ignorierte das Eigengewicht der südosteuropäischen Nationalbewegungen und der enormen Dynamik, die aus der Wechselwirkung dieser außerhalb wie innerhalb der österreichisch-ungarischen Grenzen virulenten Kräfte mit der massiven panslawistischen Agitation erwuchs  ; politische Aktivitäten, die von der zaristischen Führung in keiner Weise mehr gesteuert oder gar gebremst wurden. Es war von vornherein fraglich, ob eine dauerhafte Stabilisierung der österreichischen Position auf der Basis der Bismarckschen Demarkationslinie möglich sein würde, wenn Russland auf dem

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Ostbalkan erst einmal fest etabliert war. Der momentan in Serbien gegebene österreichische Einfluss war ja außerordentlich brüchig, die national-serbischen Aspirationen auf das 1878 okkupierte Bosnien und hinsichtlich der Befreiung der unter dem magyarischen ›Joch‹ lebenden Südslawen schon damals notorisch. Mit dem Wieder-Aufrollen der Bulgarienfrage seit 1885 zeigte sich, dass Österreich-Ungarn der Bismarckschen Enthaltsamkeitsformel nicht zu folgen bereit war. Durch die offensive Bulgarienpolitik Wiens erfuhr die west-östliche Doppelkrise der Jahre 1885–1887 ihre entscheidende Zuspitzung. Bismarck sah sich intern mit zunehmender Kritik an seiner Russlandpolitik und im Zusammenhang damit massiven Präventivkriegsforderungen und entsprechenden Aktivitäten der deutschen und österreichischen Militärs konfrontiert. Er beantwortete all dies mit der Einhaltung seiner bisherigen politischen Linie  : Zurückweisung aller Krieg-Spiele, die auf ein deutsches militärisches Engagement im Osten hin­ ausliefen, diplomatische Drohgebärden nur in Richtung Frankreich, schonende diplomatische Behandlung Russlands bei allerdings unmissverständlicher Existenzgarantie Österreich-Ungarns, massive Empfehlungen an die Adresse Wiens, den Russen in Bulgarien freie Hand zu lassen, gepaart mit drohenden Hinweisen auf die defensive Natur des Zweibundes und die engen Grenzen der deutschen Stütze. Schließlich als Ausweg die bekannte Fallenstellerei der Stiftung des Orientdreibundes bei gleichzeitigem Abschluss des Rückversicherungsvertrages, die Deutschland gegenüber Russland aus der Schusslinie bringen sollte, Österreich für eine offensive Orientpolitik an England verwies und die Kontrahenten bei relativer Entlastung auch Österreichs am Bosporus in den Clinch bringen sollte. Ob damit, wie der Ostberliner Historiker Konrad Canis in seinen gehaltvollen militärgeschichtlichen Untersuchungen mutmaßt, das Kalkül verbunden war, mit einem auf solchen Wegen herbeigeführten Orientkrieg im Rücken einen nochmaligen isolierten deutsch-französischen Krieg ins Werk zu setzen, soll hier unerörtert bleiben. Canis selbst räumt ein, dass die von Bismarck selbst bezeichneten Voraussetzungen die Schwelle für ein solches Unternehmen sehr hoch legten  : In der Tag war die Konstellation, dass ein Großmächtekrieg am Bosporus (und nicht etwa in Galizien gegen Österreich) ohne Beteiligung Deutschlands vor Ingangsetzen einer deutschen Aktion im Westen bereits entbrannt sein und dass hierbei nicht etwa Österreich, sondern England den ersten kriegerischen Schritt getan haben musste, um Österreich überhaupt mitziehen zu können, ein ziemlich unwahrscheinlicher Fall. Vielleicht lassen sich zu diesem vielfach behandelten Gesamtkomplex aus der Perspektive unseres Themas noch einige Bemerkungen beitragen. So sehr die Möglichkeit eines neuen Waffenganges mit Frankreich in Bismarcks politischem Horizont lag, so pessimistisch beurteilte

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er grundsätzlich die Zweifrontensituation und die Führbarkeit eines russischen Krieges im speziellen. Eine nachhaltige Schwächung der russischen Macht hielt er für ausgeschlossen und wurde in der Orientkrise von 1885/87 nicht müde, dies den führenden Wiener Politikern zu predigen. »Selbst der günstigste Ausgang des Krieges«, so warnte er im Mai 1887, »werde niemals die Zersetzung der Hauptmacht Russlands zur Folge haben. Dieses unzerstörbare Reich russischer Nation, stark durch sein Klima, seine Wüsten und seine Bedürfnislosigkeit wie durch den Vorteil, nur eine schutzbedürftige Grenze zu haben, würde nach seiner Niederlage unser geborener und revanchebedürftiger Gegner bleiben, genau wie das heutige Frankreich es im Westen ist. […] Wir werden meines Erachtens immer am besten tun, […] die Vitalität der russischen Nationalität […] wie eine elementarisch vorhandene Gefahr zu behandeln, gegen die wir Schutzdeiche unterhalten, die wir nicht aus der Welt schaffen können.« Und dann folgte wieder der Rat, Russland am Bosporus durch diplomatisches Entgegenkommen tiefer in die »orientalische Sackgasse« hineinlaufen zu lassen. Aber auch für diesen Fall sah er für Österreich die Lösung nicht unbedingt in einer Beteiligung an einem von England geführten Krieg. Folgt man dem politischen Vermächtnis, wie es in dem Dreibund gewidmeten Kapitel von Gedanken und Erinnerungen vorliegt, so empfahl er auch für diesen Fall der österreichisch-ungarischen Politik, eine direkte machtpolitische Konfrontation Russlands und Englands an den Meerengen dazu zu nutzen, um mit Russland einen umfassenden politischen Ausgleich auszuhandeln. Solche Auffassungen standen bereits zu dieser Zeit längst nicht nur quer zu den russlandfeindlichen Ansichten, Perspektiven und Einschätzungen in der deutschen und österreichisch-ungarischen Öffentlichkeit wie auch in maßgeben­ den politischen Führungsschichten. Das Kalkül, Österreich hinter England verstecken zu können, war gegenüber dem propagandistischen, konspirativen und diplomatischen Druck, der von Russland unmittelbar auf die Habsburger-Monarchie ausging, inzwischen auch unangemessen. Die Einschätzung, dass nur eine nachhaltige Niederlage Russlands mit ihren politisch-psychologischen Rückwirkungen auf die Völker Südosteuropas den Bestand der Habsburgermonarchie auf Dauer sichern könne, setzte sich in den Köpfen der deutschen, deutsch-österreichischen und ungarischen politischen Klasse zunehmend fest  ; auch das historische Urteil der Weltkriegs- und Nachweltkriegsgeneration wurde hiervon maßgeblich bestimmt. Demgegenüber scheint Bismarck der Auffassung gewesen zu sein, dass Kriege überhaupt für die Donaumonarchie unwägbare Risiken in sich bargen. Der Quellenbefund zur Stützung eines solchen Urteils ist nicht eben üppig, was nicht so sehr verwundern kann, weil die Bekanntgabe einer sol-

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chen Einschätzung durch den Mund des maßgebenden Politikers im Sinne einer self-fulfilling prophecy zur Destabilisierung beitragen musste. Doch lassen sich im Umkreis der Orientkrise einige Bemerkungen finden. »Österreich-Ungarn ist ein unsicherer Faktor«  : mit dieser auf die militärische Leistungsfähigkeit bezogenen Feststellung suchte Bismarck im März 1887 Waldersees Kriegsbegeisterung zu dämpfen. Österreichs militärische Schlagkraft, sein finanzielles Durchhaltevermögen im Mobilmachungsfall werden auch sonst in Zweifel gezogen. Schon 1885 hieß es gegenüber Reuß sehr deutlich, Deutschland müsse in der Herbeiführung von Kriegs-Anlässen umso vorsichtiger sein, als Österreich »aus Gründen nationaler Spaltungen« im entscheidenden Augenblick möglicherweise nicht mit dem Nachdruck mitwirken könne, wie das sonst, »nach der Vortrefflichkeit des Truppenmaterials«, an sich wohl möglich sei. Und im Dezember 1887, ebenfalls an Reuß  : »Die Größe der Kalamität, welche für die Völker Österreich-Ungarns und Deutschlands mit einem französisch-russischen Kriege, wie immer er ausfallen mag, verbunden sein wird, legt uns die Pflicht auf, den Ausbruch, wenn wir können, zu verhüten […]« In sehr viel robusterer Weise sprach Herbert Bismarck in der Bulgarienkrise abwertend von der Mischung aus Gier und Impotenz, die Österreich-Ungarn kennzeichne (»die gierigen und dabei impotenten Hungerleider«). Er war es auch, der im Oktober (?) 1886 intern den Vorschlag entwickelte, Österreich-Ungarn einer deutsch-russischen Verständigung zu opfern oder zumindest in Wien damit zu drohen. Die sich häufenden abfälligen Bemerkungen des Sohnes über Österreich hat Walter Bußmann im Rahmen seiner Herausgabe des Nachlasses von Herbert schon früh veranlasst, auf die Differenz von lockerem privaten Daherreden und politischem Handeln zu verweisen. Denn als Erfüllungsgehilfe seines Vaters hat der Sohn sich in seinen offiziellen Vorgaben und Anweisungen strikt an der vom Kanzler bestimmten Linie gehalten. (In gewisser Weise erinnert diese Differenz an die oben wiedergegebenen brieflichen Sottisen des Bundesbevollmächtigten Bismarck über Österreich in den 50er Jahren.) Übereinstimmend sorgten sich Vater und Sohn in den späten Jahren jedoch um die innen- und außenpolitischen Schwächen Österreichs angesichts des fragiler werdenden Drahtes zur russischen Führung. Dies lenkt zu der am schwierigsten zu beantwortenden Frage über, wieweit der alte Bismarck selbst bereit war, in einer Extremsituation den Draht nach Petersburg durch Preisgabe der Donaumonarchie zu erhalten. Seinem Sohn jedenfalls erteilte er auf den oben erwähnten Vorschlag vorerst eine Belehrung, die jener Position entsprach, welche als ceterum censeo seine Äußerungen bis in das Vermächtnis von Gedanken und Erinnerung bestimmte  : Die Existenz der Habsburgermonarchie ist ein

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Moment der Stabilität Europas und der deutschen Sicherheit. Andere politische Bildungen in dieser Region sind nicht denkbar und im deutschen Interesse nicht wünschbar. Die Aussicht, mit den Großmächten Russland und Frankreich auf dem Kontinent allein zu sein, eröffne für die Position Deutschlands düstere Perspektiven. Andererseits war ihm der Gedanke, dass der Zweibund-Partner aufgrund seiner problematischen inneren Struktur für das Deutsche Reich unter Umständen eher eine Last als eine Stütze werden konnte, offensichtlich nicht fremd. Nach einem späten Zeugnis des Botschafters Graf Hatzfeld (aus dem Jahre 1895) hat jedoch nicht nur sein Sohn, sondern er selbst in seinen letzten Amtsjahren den Gedanken entwickelt, in einer extremen Gefährdungssituation »die russische Neutralität […] im letzten Augenblick zu erkaufen, indem er dann Österreich fallen ließ und den Russen damit den Orient überlieferte«. Und schließlich jene bemerkenswerte Reflexion aus Gedanken und Erinnerungen, die das Problem der österreichisch-deutschen Bindung ausdrücklich auf die fragile Vielvölkersituation bezog und noch einmal von der Frage ausging, ob ein staatsrechtlich fixiertes Dauerbündnis der beiden Reiche wünschenswert sei. Ein solcher Gedanke wurde nunmehr verworfen mit der Begründung  : »Niemand kann die Zukunft Österreichs an sich mit der Sicherheit berechnen, die für andauernde und organische Verträge erforderlich ist. Die bei der Gestaltung derselben mitwirkenden Faktoren sind ebenso mannigfaltig wie die Völkermischung  ; und zu der ätzenden und gelegentlich sprengenden Wirkung dieser kommt der unberechenbare Einfluss, den je nach dem Steigen oder Fallen der römischen Flut das confessionelle Element auf die leitenden Persönlichkeiten auszuüben vermag. Nicht bloß der Panslawismus und Bulgarien oder Bosnien, sondern auch die serbische, die rumänische, die polnische, die tschechische Frage, ja selbst noch heute die italienische im Trentino, in Triest und an der dalmatinischen Küste können zu Kristallisationspunkten für nicht bloß österreichische, sondern auch europäische Krisen werden, von denen die deutschen Interessen nur insoweit nachweislich berührt werden, als das Deutsche Reich mit Österreich in ein solidarisches Haftverhältnis tritt.« Das Zeugnis Hatzfelds von 1895 ist dem Historiker durchaus geläufig  ; die zuletzt zitierte Einlassung wohl weniger. Sie erscheint mir als besonders bemerkenswert, denn sie zeigt einmal die massive Kontinuität antikatholischer Sentiments, läuft aber vor allem darauf hinaus, die deutsche Mithaftung für den Bestand der Habsburger-Monarchie unter einen Vorbehalt zu stellen  : An Österreich-Ungarn war nur so lange und nur insoweit festzuhalten, als es aus eigener Kraft zusammenhielt, dass aber Deutschland außerstande war, von sich aus einen aktiven Beitrag zur Verhinderung einer Auflösung der Monarchie von innen heraus zu leisten. Das Zitat zeigt, dass

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der Kanzler eben doch eine Ahnung davon hatte, dass die Defensivformel des Zweibundvertrages die Existenzproblematik Österreich-Ungarns nicht abdeckte, und dass auch die Formel der unbedingten Friedenswahrung keine zuverlässige Existenzgarantie implizierte, weil ein subkutaner Auflösungsprozess davon gar nicht erreicht wurde. Die aus der inneren Struktur der Habsburgermonarchie sich ergebende tendenzielle Verwischung der Grenzen zwischen Defensive, Offensive und Präventive bedeutete also vielleicht doch, dass das Deutsche Reich sich im Sinne der Bismarckschen Definition deutscher Interessen notfalls tiefer in den österreichischen Angelegenheiten würde engagieren müssen, als sein Zweibundkonzept dies vorsah. Hierzu war Bismarck aber nicht bereit  ; seine Alterserwägung zeigt vielmehr, dass er meinte, in einer Extremsituation die Leinen, zu dem untergehenden mitteleuropäischen Partner kappen zu müssen und zu können. Etwas von der Vorstellung vom wurmstichigen Orlogschiff, an das sich die seefeste preußische Fregatte nicht koppeln sollte, hat sich also bei ihm bis zum Ende durchgehalten. Freilich stand diese Bereithaltung eines Kappmessers für den Notfall nicht nur im Widerspruch zu seinem ceterum censeo der Existenznotwendigkeit Österreich-Ungarns  ; die subjektive Vorstellung, notfalls doch noch für Russland optieren zu können, war objektiv gesehen wohl auch deshalb illusionär, weil sie angesichts der gestiegenen Russlandfeindschaft in der öffentlichen Meinung und v. a. in den Auffassungen der deutschen politischen und militärischen Eliten von Bismarck schwerlich hätte durchgesetzt werden können. Insofern sind entscheidende Aporien in Bismarcks Kalkulationen der späten Jahre unverkennbar. Zum Thema benutzte Quellen Zu Bismarck generell die Friedrichsruher Ausgabe  : Bismarck, Die gesammelten Werke [wechselnde Bearbeiter], 15 Bde. in 19, Berlin 1923– 1932. [künftig  : GW]. – Für die Zeit am Bundestag GW Bd. 1 u. 2, bearb. v. Herman von Petersdorff. Preußen im Bundestag 1851–1859, hg. v. Heinrich v. Poschinger, 4 Bde., Leipzig 1882. Briefwechsel des Generals Leopold von Gerlach mit dem Bundesgesandten Otto von Bismarck, Berlin 21891. Bismarcks Bild von Österreich-Ungarn nach 1866  : GW 6  : Politische Schriften 1866/6–1867/7, bearb. v. Friedrich Thimme, 1929  : – durchgängig Konflikte mit Beust (Frankreich, Luxemburg. Frage, Süddeutschland, Mission Tauffkirchen).

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GW 6a  : Politische Schriften 1867/7–1869/2, bearb. v. Friedrich Thimme, 1930  : – Konflikte mit Beust, 1869 Krimkriegs-Koalition  ? GW 6b  : Politische Schriften 1869/2–1871/3, bearb. v. Friedrich Thimme, 1931  : – Pressekampagnen gegen Beust  ; Maxime Erhaltung Österreichs, Zusammenarbeit. GW 8  : Gespräche II (1870–1890), bearb. v. Willy Andreas, 1926  : – Optionsproblem seit 1875  ; Zweibundkomplex, keine Zollunion, innerösterr. Gegner (Eh. Albrecht), Kritik an öst. Liberalen, Ungarn als Freunde, Balkankrise 80er J., ungar. Chauvinismus GW 15  : Erinnerung und Gedanke, bearb. v. Gerhard Ritter und Rudolf Stadelmann, 1932  : – darin Buch II/Kap. 9  : Nikolsburg (Erhaltung Öst.-U. notwendig, auch als mögl. Partner). – II/18  : Der Dreibund (Bismarcks Perspektive ex post  : histor. Reminiszenzen, aber Abgrenzung dazu  ; Verlass nur auf monarch. Solidarität, Nationalitätenprobleme, konfess. Probleme, Fesselung vs. Variabilität der Bündniskonstellationen  ; Brücke zu Russland.) – II/19  : Zukünftige Politik Russlands (Stoßrichtung Bosporus  ; Fesselung Österreichs, ungar. Chauvinismus, Reichstadt/Kaunitzkomplex  ; Maxime Friedenswahrung vs. Präventiv-Krieg.) Die Große Politik der europäischen Kabinette 1871–1914, Berlin 1922–1927. [Diverse Hgg. u. Bearb.] – Bd.  6, S.  305  : Bism. an Kronprinz 05/1888 (Verständigung mit Russl. auf Kosten Österr. möglich). – Bd. 9, S. 353 ff. Bericht Gf. Hatzfeld 06/1895 (Wiederholte Bemerkungen Bism. über Fallenlassen Österr. im äußersten Notfall). Walter Bußmann (Hg.), Staatssekretär Graf Herbert von Bismarck  : aus seiner politischen Privatkorrespondenz, Göttingen 1964. Robert Lucius von Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen, Stuttgart/Berlin 1920. (S. 170– 178  : Lebendige Wiedergabe von Bismarcks Äußerungen zum Kampf mit dem König um den Zweibund, mit Rückblick auf Nikolsburg.) Wilhelm v. Schweinitz (Hg.), Briefwechsel des Botschafters General [Hans Lothar] von Schweinitz, Berlin 1928. (S. 255f.: Bismarck über sinkenden Wert des Zweibundes und Zweifel an Verlängerung, Okt. 1888.) Wilhelm v. Schweinitz (Hg.), Denkwürdigkeiten des Botschafters General [Hans Lothar] von Schweinitz, 2 Bde., Berlin 1927. (Bd.1/Kap. 1870 u. 1871  : schwierige Position als Gesandter in Wien, Bemühen, dt.-österr. Freundschaft vorzubereiten, Kritik an Bismarcks Pressekampagne gegen Beust. – Bd. 2/Kap. 1887 u. 1888  : Botschafter in Petersburg  : Bismarcks Kampf gegen Militärs/Präventivkrieg, Bism.’s Sorgen um Wert des österr. Bündnisses, um russ.-frz. Annäherung.) Benutzte wissenschaftliche Literatur  : Biographien, die stets auch das Thema ›Bismarck und Österreich‹ eingehend behandeln  : Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt 1980. Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, Berlin (DDR) 1985.

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Ders., Bismarck. Das Reich in der Mitte Europas, Berlin 1990. [= zweiter Teil der Biogr. von 1871 bis zum Tod.] Zum Vergleich Metternich-Bismarck  : Heinrich v. Srbik, Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, 2 Bde. u. Nachtrag 1925–52, München 1925, 1954  ; hier  : Bd. 2, Ausblick und Rückblick, S. 520–559. Zu den Projekten einer österreichisch-preußischen Doppelhegemonie im Bund bis 1866  : Andreas Kaernbach, Bismarcks Konzepte zur Reform des Deutschen Bundes. Zur Kontinuität der Politik Bismarcks und Preußens in der deutschen Frage, Göttingen 1991. [Apologetisch, deshalb auch vielfach kritisiert.] Zum preußisch-österreichischen Verhältnis von 1866/67 bis zur Reichsgründung vor allem  : Heinrich Lutz, Von Königgrätz zum Zweibund. Aspekte europäischer Entscheidungen, in  : HZ 217 (1973), 347–380. Ders., Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches, Frankfurt 1979. Zur Außenpolitik der Phase bis zum Dreikaiserabkommen  : Heinz Wolter  : Bismarcks Außenpolitik 1871–1881. Außenpolitische Grundlinien von der Reichsgründung bis zum Dreikaiserbündnis, Berlin (DDR) 1983. Zu Andrássys Politik vor dem Zweibund  : Rainer F. Schmidt, Die gescheiterte Allianz. Österreich-Ungarn, England und das Deutsche Reich in der Ära Andrássy (1867–1878/79), Frankfurt 1992. Zu den Problemen der vielbehandelten Zweibundgründung wegen der Multiperspektivität wichtig  : Bruce Waller, Bismarck at the Crossroads. The Reorientation of German Foreign Policy 1878–1880, London 1974. Zuletzt mit Blick auf Österreich-U.: Rainer F. Schmidt, Graf Julius Andrássy und der Zweibund, in  : Helmut Rumpler (Hg.), Der »Zweibund« 1879, Wien 1996, S. 1–39. Mit Blick auf Deutschland  : Konrad Canis, Der Zweibund in der Bismarckschen Außenpolitik, in  : op. cit., S. 41–67. Der Aspekt des ›Sonderverhältnisses‹ stetig betont von Heinrich Lutz [s. oben]. Die von Bismarck ständig betonte Trennung von Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik (Zoll) Allgemeingut der hist. Forschung. Ausführlich bei  : Wolter, Bismarcks Außenpolitik [wie oben], S. 304–310, 326–335.

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Zur großen Orientkrise von 1885–87 die auch militärgeschichtlich orientierten Studien des Ostberliner Historikers  : Conrad Canis, Bismarck und Waldersee. Die außenpolitischen Krisenerscheinungen und das Verhalten des Generalstabes 1882 bis 1890, Berlin (DDR) 1980. Ders., Die Kriegsgefahr Ende 1887, in  : Ernst Engelbert (Hg.), Diplomatie und Kriegspolitik vor und nach der Reichsgründung, Berlin (DDR) 1971, S. 208–247. Ders., Herbert von Bismarck. Außenpolitik und Kanzlerherrschaft in den achtziger Jahren, in  : Gustav Seeber (Hg.), Gestalten der Bismarckzeit, 2 Bde., Berlin (DDR) 1986, Bd. 1, S. 325–351. Zu Herbert von Bismarck  : Walter Bußmann, [Edition wie oben unter Quellen], Einleitung. S. 8–67, insbes. 42–55. Zu den Auffassungen und der Rolle Holsteins in den letzten Jahren Bismarcks die bei Bußmann geferigte Diss. von  : Günter Richter, Friedrich von Holstein. Ein Mitarbeiter Bismarcks, Lübeck/Hamburg 1966  ; hier v. a. Kap. IV. Knapp ders., Friedrich von Holstein. Politiker im Schatten der Macht, Göttingen u.a. 1969 (=Persönlichkeit und Geschichte 49). Zur späten Krise und Bismarcks Erwägungen, Östereich-U. fallenzulassen  : Rainer Lahme, Deutsche Außenpolitik 1890–1894, Göttingen 1991. (S. 62–80  : Isolierung Bismarcks gegenüber Präventivkriegsforderungen, Fallenlassen Ö.-U.’s gar nicht durchsetzbar.) Ähnlich Gall, Bismarck, S. 639f. Zum »System der Aushilfen« (Ulrich Noack 1928) insgesamt  : Klaus Hildebrand, »System der Aushilfen«  ? Chancen und Grenzen deutscher Außenpolitik im Zeitalter Bismarcks, in  : Gregor Schöllgen (Hg.), Flucht in den Krieg  ? Die Außenpolitik des kaiserlichen Deutschland, Darmstadt 1991, S. 101–131. (S. 120–131  : Bism.’s Kunst, jeder Option auszuweichen, seine Isolierung in Deutschland, System der Aushilfen jedoch ohne Alternative, Globalisierung geht über Dtl. hinweg.) Gall, Bismarck, (S. 633–641  : im Ganzen wie Hildebrand, aber kritischer  : seit 1871 Sackgasse, Erpressbarkeit, Zerbrechlichkeit des Ganzen, nur Konservierung des Erreichten, Einfrieren der Konstellation, die die Reichsgründung ermöglichte, ohne Perspektiven.) Engelberg, Bismarck 2, (erwähnt das ›Fallenlassen‹ Ö.-U.’s nicht.)

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Ungarn 1848 im europäischen Kontext Reform – Revolution – Rebellion. Ein Korreferat

Die ungarische Revolution von 1848 ist zugehöriger Teil eines europäischen Gesamtvorganges. Gegenüber einer Auffassung, die die Verschiedenartigkeit, ja Unvergleichbarkeit der revolutionären Erscheinungen in den einzelnen europäischen Staaten bzw. Regionen konstatiert und betont, dass über den allgemeinen und ansteckenden Erregungszustand hinaus in den Sachproblemen und Sachkonflikten wenig Gemeinsames zwischen West-, Mittel- und Ostmitteleuropa bestehe, wird hier von einem Ansatz ausgegangen, der den auch sachlichen Gesamtzusammenhang der Revolutionsthematik betont. Dieser Zusammenhang erschließt sich mit den Begriffen Modernisierung und Integration, die auf einen umfassenden Entwicklungstypus in der europäischen Moderne verweisen. Dieses Vorverständnis impliziert, dass die synchron zu konstatierenden Unterschiede in der Revolutionsthematik der einzelnen Regionen ein Reflex des zeitlichen West-Ost-Gefälles im Ablauf eines prinzipiell gleichartigen Entwicklungspfades sind.1 Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass strukturell gleich gelagerte Herausforderungen auch zu gleichen Lösungen führen. Gerade das Königreich Ungarn ist ein herausragendes Beispiel für die spezifisch osteuropäischen Modernisierungs- und Integrationsprobleme in der Mitte des 19.  Jahrhunderts  ; die Situation des Landes befindet sich im Schnittpunkt ökonomisch-sozialer Rückständigkeit und eines Modernisierungs- und Integrationswillens, der sich an westlichen Mustern orientiert und damit zu erheblichen Transferproblemen führt. Die ungarische Bewegung des Jahres 1848 zielt auf einen tiefgreifenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und gesamtpolitischen Wandel. Damit ist bereits vorab entschieden, dass es sich nicht um eine bloße Rebellion handelt. Der Vergleich mit den polnischen Erhebungen von 1830/31 und überwiegend auch noch des Jahres 1863 macht dies auf den ersten Blick deutlich, ohne dass hier über den polnischen Fall eingehendere Erwägungen angestellt werden sollen.2 1 Zum europäischen Zusammenhang der Revolution vgl. die Literaturhinweise bei Dieter Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849, München 31993, S. 162–164. Gegen die ältere These vom lediglich gemeinsamen »Erregungszustand« (z. B. Theodor Schieder) v. a. Peter N. Stearns, The Revolutions of 1848, London 1974. 2 Zu den bescheidenen polnischen Reformansätzen von 1863 vgl. Gotthold Rhode, Polen und die polnische Frage von den Teilungen bis zu Gründung des Deutschen Reiches, in  : Theodor Schieder (Hg.), Handbuch der Europäischen Geschichte, Bd. 5, Stuttgart 1981, S. 722 ff.

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Schwieriger ist die Frage nach dem Modus der Umwälzung im Spannungsfeld der Begriffe Reform und Revolution zu beantworten. (Beide Begriffe werden hier gleichermaßen auf der Ebene des politischen, d. h. intentionalen Handelns angesiedelt.3) Für das darin liegende Problem hat István Deák 4 die paradoxe Formulierung der »lawful revolution« geprägt. Die entscheidende Voraussetzung für dieses Paradoxon lag in dem Umstand, dass das Königreich Ungarn im Rahmen der Habsburgermonarchie – im Unterschied etwa zu den Ländern der Wenzelskrone – nicht zentralbürokratisch überformt, sondern politisch verfasst war und über intakte eigene Institutionen verfügte. Die Repräsentativorgane hatten sich auf einer vormodernen ständischen Basis erhalten, wie sie etwa den Verhältnissen des Königreichs Polen vor den Teilungen entsprach, aber sie waren eben in diesem vormodernen Horizont der »politischen Nation« handlungsfähig geblieben. Im europäischen Vergleich sei daran erinnert, in welch hohem Maße das System des Parlamentarismus und der lokalen Selbstverwaltung in England vormoderne Relikte enthielt, gleichwohl aber immer wieder beachtliche Reformkapazitäten freisetzte. Entscheidend für Ungarn wurde, dass in Restauration und Vormärzzeit eine lebhafte öffentliche Reformdiskussion in Gang kam, die sich am westeuropäischen Gesellschafts- und Nation-Modell orientierte und mit Friedrich Lists nationalem System der Ökonomie auch genuin deutsch-mitteleuropäisches Gedankengut, das die Situation der Economic Backwardness widerspiegelte, rezipierte. Träger dieser Reformideen war in erster Linie der Adel, und zwar eine »whigistische« Minderheit unter den Magnaten, die einer habsburgtreuen konservativen Mehrheit gegenüberstand, sowie die kleinadelige radikale Intelligenz. Im Revolutionsjahr 1848 bot das Machtvakuum in Wien bzw. die Verstrickung des Hofes und der Militärpartei in einen Mehrfrontenkrieg 3 Im Unterschied zur eindeutig handlungsorientierten Verwendung des Begriffs »Reform« im allgemeinen Sprachgebrauch ist die Verwendung des Begriffs »Revolution« aus begriffsgeschichtlichen Gründen mehrdeutig und kann sich auch auf rein prozessgeschichtliche Phänomene beziehen  : so wenn von industrieller, demographischer, sexueller […] »Revolution« gesprochen wird. Der moderne politikgeschichtliche Revolutionsbegriff zielt, vom epochalen Vorgang der großen Französischen Revolution ausgehend, vorrangig auf die intentionale Ebene des bewussten und damit politischen Veränderungswillens. Für die begriffliche Klarheit wäre es zweifellos nützlich, die wissenschaftliche Verwendung des Revolutionsbegriffs auf solche Vorgänge einzugrenzen, die die Dimension des (emphatischen) politischen Veränderungswillens als Kern enthalten (unbeschadet der Erkenntnis selbstverständlich, dass die Intentionen der Handelnden und die objektiven Resultate der Handlungen nicht deckungsgleich sein müssen). 4 István Deák, The Lawful Revolution. Louis Kossuth and the Hungarians, 1848–1849, New York 1979, dt. u. d. T. Die rechtmäßige Revolution. Lajos Kossuth und die Ungarn 1848–1849, WienKöln-Graz 1989. [besser wäre  : »rechtsförmige«  !]

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diesen Gruppierungen die entscheidende Chance, dieses Reformprogramm innerungarisch auf gesetzmäßigem Wege oder in Form einer Revolution von oben zu verwirklichen. Die Kernbereiche dieses Reformprogramms waren  :5 1. Umwandlung der Ständegesellschaft in eine Staatsbürger-Gesellschaft, und das hieß bezogen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse Ungarns  : Bauernbefreiung, Abschaffung der Adelsprivilegien, darunter namentlich auch das Privileg der Steuerfreiheit, Entfesselung des Bodenbesitzes gerade auch mit Hinblick auf die Adelsgüter. 2. Ausweitung der politischen Partizipation durch eine Reform der Ständetafel, also des Unterhauses. Der Übergang vom ständischen Delegationsverfahren zum Zensuswahlrecht auf der Basis von Wahlkreisen bewirkte bei allen Kompromissen und Ungereimtheiten wie dem fortgeltenden Adelsprivileg immerhin, dass ein Drittel der männlichen Erwachsenen das Wahlrecht erhielt. Die Reform der Komitats-Selbstverwaltung vollzog sich in einem analogen Rahmen. 3. Die Präzisierung bzw. Ausweitung der Grundrechte im Sinne des klassischen westeuropäischen Katalogs individueller Abwehrrechte. 4. Die Durchsetzung der »nationalen«, d. h. auf das Königreich Ungarn bezogenen Autonomie im Rahmen der formell nicht angetasteten Pragmatischen Sanktion. Hier bestanden, wie bekannt, von Anfang an große Unklarheiten und ein weites Feld für Illusionen. An dieser Stelle sei nur ein Aspekt herausgegriffen, der unter Modernisierungsaspekten relevant ist  : Schon im Vormärz wurde von den Reformern erkannt, dass die autonome Handlungsfähigkeit eines Staates in seinem Außenverhältnis eine wesentliche Voraussetzung für die Induktion eines Industrialisierungsprozesses war. Die Rezeption Friedrich Lists führte im Vormärz in Ungarn mit dem Gewerbeverein und dem Schutzverein zu allerlei Experimenten, denen vor allem ein theatralischer Gestus eignete  : Tatsächlich war die Voraussetzung einer politischen Autonomie eben nicht gegeben.6 Im Sinne der Verhaltensregeln in einer Situation der Econonomic Backwardness (Gerschenkron) war die Forderung nach wirtschaftlicher Autonomie (Zoll, Währung etc.) als Voraussetzung für ein politisch gelenktes Industrialisierungsprogramm 5 Vgl. die knappe und präzise Darstellung bei Deak, op. cit., Kap. 1, 2 u. 3, mit Lit. Zur Verfassungsgeschichte  : Charles d’Eszlary, Histoire des institutions publiques hongroises, 3 Bde., Paris 1959–1965. 6 Gyula Merei, Über einige Fragen der Anfänge der kapitalistischen Gewerbeentwicklung in Ungarn, Budapest 1960  ; Emil Niederhauser, The Problems of Bourgeois Transformation in Eastern and South-Eastern Europe, in  : Nouvelles études historiques publiées à 1’occasion du XIIe Congrès International […], 2 Bde., Budapest 1965, Bd. 1, S. 565–580.

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im Grundsatz jedoch entwicklungspolitisch richtig.7 Dabei ist die werthafte Bezugnahme auf den eigenen Staat selbstverständlich immer als ein nicht weiter diskutierbares Datum vorausgesetzt. Es ist bekannt, dass die konkrete Reformgesetzgebung des Jahres 1848 diese Ansätze nicht rein verwirklichte.8 Träger dieser Reformgesetzgebung war eben das alte Ständeparlament. Die vielen interessenpolitisch bedingten Brechungen und Halbheiten waren eine Konsequenz der gesellschaftlichen Basis der ungarischen Verfassung. Diese Parlamentstätigkeit ist unter dem Paradigma der Reform von oben zu würdigen, wie es aus der europäischen Geschichte seit dem späten 18. Jahrhundert geläufig ist. So ergaben sich etwa bei der preußischen Reform oder bei den Rheinbundreformen der napoleonischen Zeit als Formen des bürokratisch gelenkten Wandels ganz analoge Brechungen. Verlaufstypisch am ehesten mit dem ungarischen Fall zu vergleichen sind die parlamentarisch getragenen Reformschübe Englands im 19. Jahrhundert  ; insbesondere bei der ersten Parlamentsreform von 1832 begegnen ganz ähnlich gelagerte Phänomene der Inkonsequenz, der interessenpolitischen Verzerrungen und der Halbheiten etwa bei der Neuverteilung der Unterhausmandate. Gerade auf der Ebene der Reform der Repräsentativkörperschaften verfuhren die ungarischen Eliten wie die britischen nach der taktischen Maxime der »Ultrastabilisierung«  ; d. h. sie suchten durch die kalkulierte Ausweitung der Partizipationsrechte einen Zuwachs an Legitimation zu erlangen und gerade dadurch ihre Führungskompetenz neu zu festigen. Im Bereich der Agrarsozialreformen lagen wesentliche Komplexe wie vor allem die Mobilisierung des Bodens und die Lösung des Eigentums von ständischen Qualitäten im Interesse der Gutsbesitzerklasse selbst, insofern sie sich auf dem Weg von Grundherren zum marktproduzierenden Agrarunternehmer befand. Auch in Ungarn war also die Grundablösung nicht zuletzt eine »Befreiung der Herren«. Nun ist bekanntlich die Phase der Legalität rasch abgelöst worden durch innerungarischen Bürgerkrieg und Krieg gegen die kaiserliche Armee. Dadurch ist die reguläre parlamentarische Reformarbeit frühzeitig unterbrochen worden. Auf der anderen Seite lag aber auch in dem Versuch der Massenmobilisation zur 7 Alexander Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective. A Book of ­Essays, Cambridge 1966  ; Andrew C. Janos, The Politics of Backwardness in Hungary, 1825–1945, Princeton 1982  ; vgl. auch die einleitenden Bemerkungen von Iván T. Berend und György Ránki, Ungarns wirtschaftliche Entwicklung 1849–1918, in  : Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 1  : Die wirtschaftliche Entwicklung, S. 462– 527, hier S. 462 ff. 8 Deák, Rechtmäßige Revolution [Anm. 4], Kap. 2 u. 3, mit Lit.

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nationalen Verteidigung die Möglichkeit für eine Politik, das Reformprogramm zu radikalisieren und in eine wirkliche Revolution zu überführen. Tatsächlich jedoch verfügten die Radikalen kaum über ein sozialrevolutionäres Programm, und die Parlamentsmehrheit verstand es auch in der Situation von Debrecen, Forderungen nach weitergehenden Sozialreformen zulasten der Großgrundbesitzer abzuwehren. Erst in Szegedin nahm sich die Regierung Kossuth-Szemere der Frage eines weitergehenden Bauernschutzes an, und insbesondere begann man nunmehr in der Frage des Schutzes der nicht-magyarischen Nationalitäten einzulenken.9 Dieser Komplex wird sogleich gesondert behandelt. Mit der Niederlage der ungarischen Aufständischen und der Integration Ungarns in das neue österreichische Einheitsreich ist das Experiment einer autonomen Reform auf parlamentarischer Basis abgebrochen worden. Insofern bleiben alle Extrapolationen möglicher weiterer Verläufe Spekulation. Der Befund der interessensbedingten Halbheiten und des Abbruchs darf aber nicht über den historischen Stellenwert der »rechtsförmigen Revolution« von 1848 täuschen  : In historischer Perspektive liegt die Richtung der Reformbeschlüsse im gesamteuropäischen Trend der Modernisierungsschübe. Beweis dessen war ihre Unumkehrbarkeit. Die nachfolgende politische Reaktion des Neoabsolutismus hat an den sozialökonomischen Reformen nicht nur nicht gerüttelt, sondern sie administrativ umgesetzt und in derselben Richtung weiter entwickelt.10 Freilich ging mit der politischen Autonomie auch die autonome Verfügung über die Industri­ alisierung verloren. Weit schwieriger sind unter ost-mitteleuropäischen Bedingungen die mit der Modernisierung einhergehenden Integrationsprobleme zu beurteilen. Die un­ga­­­rische Bewegung des Jahres 1848 bezog sich werthaft auf das historische König­reich Ungarn und interpretierte dieses als werdenden Nationalstaat.11 Am klarsten und extremsten tritt uns dieses Denken bei Lajos Kossuth entgegen. Als Modell ist dabei deutlich der westliche Nationsbegriff auszumachen, der N ­ ation als politische Willensgemeinschaft der partizipierenden Individuen begreift, deren Identifikationspunkt die gemeinsame Verfassung und namentlich der in ihr   9 Ludwig Gogolák, Ungarns Nationalitätengesetze und das Problem des magyarischen Nationalund Zentralstaates, in  : Wandruszka-Urbanitsch, Habsburgermonarchie, Bd. 3,1 u. 3,2  : Die Völker des Reiches, Wien 1980, Bd. 3,2, S. 1207–1303, hier S. 1247 ff.; vgl. auch Deák [Anm. 4], S. 262 ff. 10 Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848– 1860, 2 Bde., Göttingen 1978, Bd. 1, S. 287 ff., 294 ff., 493 ff. 11 Gogolák, Nationalitätengesetze [Anm. 9], mit Lit.; Robert A. Kann. Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, 2 Bde., Graz-Köln 21964, Bd. 1, Kap. 4.

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enthaltene Grundrechtskatalog ist. Schon die französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts hatten vor der Großen Revolution als Basis der politischen Kultur die Gemeinsamkeit sozio-kultureller Werte, vermittelt durch die gemeinsame Sprache in der öffentlichen Sphäre ausgemacht. Sonderkulturen ethnischer Minderheiten waren als folkloristisches Phänomen ebenso Privatsache wie die religiöse Konfession  ; ihre Ausübung war im Rahmen des individualrechtlichen Grundrechtskatalogs selbstverständlich geschützt. Kollektive Gruppenrechte waren in diesem System nicht vorgesehen  ; sie wurden seither auch stets als illibe­raler Korporatismus perhorresziert. Das Geheimnis der relativ leichteren Durchsetzung eines solchen Modells in Westeuropa lag in dem Umstand begründet, dass zu dem Zeitpunkt, als der moderne Sprachnationalismus die Funktion der leitenden Integrationsideologie annahm und hierin den älteren Konfessionalismus ablöste, die mit der Staatsbildung einhergehenden sozio-kulturellen und sozio-ökonomischen Integrationsprozesse schon seit Jahrhunderten wirksam gewesen waren und klare Mehrheitsnationen hervorgebracht hatten. Die Rückständigkeit Ost-Mitteleuropas drückte sich im 19. Jahrhundert wesentlich auch darin aus, dass bei vorherrschender lokalistischer Subsistenzwirtschaft die Gemengelage der Ethnien und die mit ihr einhergehenden sozio-kulturellen (v. a. religiösen und sprachlichen) Regionalismen nicht im Rahmen der politischen Staatsgebilde durch homogenisierende Kommunikations- und Integrationsprozesse überformt worden waren. Jetzt aber war es dafür zu spät, weil die Aufladung des älteren konfessionellen Nationalismus durch die zusätzliche Rezeption des modernen Sprachnationalismus die Widerstandskräfte gegen jede Art von zentralstaatlichem Sprach- und Kulturimperialismus gestärkt hatte und die partikulare Sprachpflege geradezu zum Emanzipationsvehikel geworden war.12 Die Revolution von 1848 nahm daher in diesem Teil Europas den Charakter eines »Erwachens der Völker« mit ausgesprochen polarisierenden und desintegrativen Effekten an. Für das staatliche Zusammenleben der Ethnien waren also andere Modelle zu entwickeln, die nicht von der Zentralität eines integralen Nationalstaates, sondern vom Gedanken der Föderation in einem multipolaren Netzwerk unter mehreren kulturellen Einheiten auszugehen hatten. Die Gleichberechtigung der Sprachen und Kulturen im Sinne kollektiver Bestandsgarantien hatte dabei die Grundlage zu bilden. Ansätze hierzu sind in den Revolutionsjahren auch durchaus entwickelt worden, so in der Kremsierer Verfassungsdiskussion und sogar im Minderheitenkonzept der Paulskirche, die vor dem Problem 12 Diese Interpretation ist dem kommunikationstheoretischen Ansatz von Karl W. Deutsch verpflichtet  : ders., Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, Düsseldorf 1972.

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stand, in den Grenzen des Deutschen Bundes einen deutschen Nationalstaat zu gründen. Es darf aber nicht übersehen werden, dass im zeitgenössischen europäischen Horizont die »progressiven« bürgerlich-liberalen und radikalen Kräfte dem Existenzrecht regionaler oder gruppenbezogener Sonderkulturen wenig Verständnis entgegenbrachten, und dass sie insbesondere hinsichtlich der Verhältnisse Ost-Mitteleuropas die kleineren Ethnien nicht nur für rückständig und bisher nicht besonders schutzwürdig ansahen, sondern die übliche Verknüpfung von nationalreligiösem Klerikalismus und separatistischem Sprachnationalismus auch als »reaktionär« einstuften.13 Wenn tatsächlich im ungarischen Bereich die nichtmagyarischen Nationalitäten das Bündnis mit dem Hof suchten, so waren die Motive hierfür nicht nur taktischer Natur. (Dass der Neoabsolutismus diese Hoffnungen dann nicht einlöste, steht auf einem anderen Blatt.) Die Sympathien der europäischen Linken lagen also 1848/49 nicht zufällig bei den Magyaren. Im Falle Ungarns war die für den parlamentarisch vermittelten Staatsbildungs­ prozess an sich typische Verknüpfung von Modernisierung und Nationalismus durch die politisch führende Nation besonders hartnäckig und damit auch besonders tragisch. Die seit 1790 bemerkbaren und in der vormärzlichen Reformperiode einen ersten Höhepunkt erreichenden Magyarisierungstendenzen14 sollten in der Revolutionsbewegung ihrer Vollendung entgegengeführt werden. Konsequenterweise brachte sich der magyarische Sprachimperialismus in den Verfassungsgesetzen zur Geltung  ; die nicht-magyarischen Sprachen wurden in Repräsentativkörperschaften und Verwaltung nicht nur der Zentralebene, sondern auch der Komitatsebene diskriminiert. Im Bildungswesen setzten sich die magyarischen Hegemonietendenzen der Vormärzzeit fort. Die Willensbekundungen und Forderungen der ungarländischen Nationalitäten wurden nicht beachtet  ; lediglich gegenüber den kroatischen Autonomieforderungen war man ungarischerseits, die traditionelle politische Verfasstheit Kroatiens respektierend, zu Verhandlungen bereit. Hierüber gingen die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Banus Jelacic hinweg.15 Im Übrigen wurden die bei Kossuth vorsprechenden Nationalitätenvertreter von diesem stets strikt auf die Errungenschaft der allgemeinen Staatsbürgergesellschaft und ihrer individuellen Freiheitsrechte 13 Hans Roth, Die Linke in der Paulskirche und der Nationalismus, Diss. [Masch.], Freiburg 1950  ; vgl. auch die Bemerkungen in  : Günter Wollstein  ; Das »Großdeutschland« der Paulskirche, Düsseldorf 1977  ; für Marx und Engels besonders wichtig  : Robert A. Kann, Nationalitätenproblem [Anm. 11], Bd. 2, Kap. 16  ; vgl. auch Hans Mommsen, Artikel Nationalismus, Nationalitätenfrage, in  : Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Freiburg 1971, Bd. 4, Abschn. B., S. 648–669. 14 Gogolák, Nationalitätengesetze [Anm. 9], S. 1207–1243. 15 Deák, Rechtmäßige Revolution [Anm. 4], S. 118 ff.

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verwiesen. Erst in buchstäblich letzter Minute, im August 1849, versuchte die mit dem Rücken zur Wand stehende Revolutionsregierung in Szegedin, die nichtmagyarischen Völker Ungarns mit einem Nationalitätengesetz für die magyarische Sache zu gewinnen, das wenigstens im lokalen Bereich den Gebrauch von nichtmagyarischen Sprachen im äußeren Amtsverkehr sowie in Volksschule und Kirche sicherstellte. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Nationalitäten längst ihre Hoffnung auf die Habsburgischen Rückeroberer gesetzt  ; Wirksamkeit hat das Gesetz ohnehin nicht erlangt. Sachlich führt durchaus eine Verbindungslinie von dem Nationalitätengesetz von 1849 zu den Regelungen im Gesetz von 1868, die den öffentlichen Gebrauch der Minoritätssprachen sicherstellten, den Nationalitäten jedoch keine Teilautonomie gewährten. Richtschnur blieb das westliche Konzept der integralen politischen Nation.16 Bekanntlich hat das Gesetz von 1868 denn auch nicht die massive Magyarisierungspolitik behindert, mit der Budapest die Ethnien des Königreiches in den letzten Jahrzehnten seines Bestandes sprachnational zu homogenisieren versuchte.17 Überwiegend stehen mithin die Revolutionsjahre 1848/49 in einer breiten Kontinuitätslinie des magyarischen Integralismus, die sich durch das gesamte (lange) 19. Jahrhundert zieht. Dabei wurden die gesetzlichen und administrativen Maßnahmen, mit denen das Nationalisierungs-Programm umgesetzt werden sollte, im Zuge der fortscheitenden Modernisierung durchaus prozesshaft gestützt durch die Vorgänge der Mobilisierung und Urbanisierung  ; die die Angehörigen der ökonomisch randständigen Nationalitäten in die ökonomisch fortgeschrittenen magyarischen Zentren ziehen und am sozialen Aufstieg teilhaben ließ, womit sie in den Bannkreis magyarischer Sprache und Kultur gerieten. Solche Prozesse der Homogenisierung wie auch die nachhelfenden gesetzlichen und administrativen Zwangsmaßnahmen sind nun in historischer Perspektive alles andere als eine magyarische Besonderheit. Die ›Tragik‹ oder besser situative Unangemessenheit im Verhalten der magyarischen politischen Klasse liegt darin, dass die quantitativen Relationen der Nationalitäten im Königreich für die magyarische Führungsnation äußerst ungünstig lagen, und dass die prozesshaften (d. h. nicht-programmatischen) Integrations- und Homogenisierungsvorgänge vor dem gegebenen sozialökonomischen Hintergrund notwendigerweise viel zu schwach waren und historisch bei Weitem zu spät in Gang kamen. Infolgedessen wirkte die ›strukturelle Gewalt‹, die mit den 16 Gogolák, Nationalitätengesetze [Anm. 9], S. 1249 ff., 1270 ff. 17 Gogolák, a.a.O. Zum Assimilationsprozess auch László Katus, Die Magyaren, in  : Wandruszla-Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie, Bd. 3,1 [Anm. 9], S. 411–488, hier S. 431 ff.

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gezielten politisch-administrativen Maßnahmen der Magyarisierung verbunden war, polarisierend, desintegrativ und am Ende zerstörerisch. György Spira hat in seinem Tagungsbeitrag18 geurteilt, dass die Habsburger Monarchie als veraltetes Modell im Grunde schon 1848 »ein dem Niedergang geweihter Koloss auf tönernen Füßen« gewesen sei. In der Tat enthielt die lediglich militärmonarchische und bürokratische Überformung der ursprünglichen dynastischen Union von Ständestaaten, in der sich der Staatsbildungsprozess des Habsburger Reiches bis 1848 (und dies in Ungarn sogar höchst unzulänglich) erschöpft hatte, kein hinreichendes Integrationspotential, das im Zeitalter säkularer Mobilisations-, Emanzipations- und Partizipationsprozesse die Völker des Reiches zu einem expliziten oder wenigstens impliziten Akt der Zustimmung zum gemeinsamen Reich hätte veranlassen können. Das Nationalstaatsmodell, in dem sich epochenspezifisch Partizipationsverlangen und politische Integration wechselseitig vermittelten, war jedoch auf Ost-Mitteleuropa insgesamt unanwendbar und destruktiv. Insofern ist aus der Diskreditierung der Habsburger Monarchie kein Argument für die magyarische Politik zu gewinnen.

18 György Spira, Die Märzrevolution von 1848 in Ungarn und ihre Gegner, in  : Karlheinz Mack (Hg.), Revolutionen in Ostmitteleuropa 1789–1989, Schwerpunkt Ungarn, München-Wien 1995, S. 53–58, Zitat S. 58.

Das Wirtschaftsbürgertum Österreichs von den Anfängen der Industrialisierung bis 1848 Einleitung  : Wirtschaftsbürgertum als Erscheinung Die Verwendung der Begriffe »Bürgertum«, »Bürgerlich«, »Bürgerlichkeit« im Rahmen der Sozialgeschichte der europäischen Moderne hat, wie nicht besonders betont werden muss, ihre begriffsgeschichtlichen und definitorischen Tücken. Sie ergeben sich, nimmt man die Auflösung der alteuropäischen Ständegesellschaft als hinreichend gesicherte Ausgangstatsache, bereits aus dem Spannungsverhältnis zweier miteinander konkurrierender Konzepte, die mit der Figur des »Citoyen« und der des »Bourgeois« symbolisiert werden können  : also einerseits die Projektion einer allgemeinen, an die Erfüllung von Qualifikationskriterien gebundenen, aber prinzipiell als klassenlos gedachten Staatsbürgerschaft, andererseits die von empirischen Befunden ausgehende Bestimmung einer »Mittelschicht«, die nach Besitz- und Bildungsmerkmalen, administrativen oder ökonomischen Leitungsfunktionen, dem Kriterium des Statuserwerbs und einem zugeordneten mentalen Selbstverständnis nach oben und unten abgegrenzt und bestimmt werden kann. Konzentriert man sich im Sinne unseres Themas auf den zweiten Aspekt, nämlich den der sozialhistorischen Schichtenanalyse, so tun sich abermals erhebliche Probleme der Inhaltbestimmung und Abgrenzung des »Bürgerlichen« auf.1 Unbeschadet dessen kann man sich jedoch  – vom Zentrum der Sache und nicht von den Randzonen der Abgrenzungsprobleme ausgehend – durchaus auf eine pragmatisch vernünftige und heuristisch brauchbare Gegenstandsbestimmung verständigen. Was sich im Horizont des europäischen 19.  Jahrhunderts als Wirtschaftsbürgertum bestimmen lässt, gewinnt man am besten aus einer historischen Herleitung und nimmt demgemäß seinen Ausgang bei einer Personengruppe im Bereich der alteuropäischen gewerblichen Wirtschaft, die in der Hauptsache dem Stadtbürgertum entstammt, aber über den Rahmen der lokalen Bedarfsproduktion und Verteilung hinauswächst und zugleich die tra1 Hierzu Jürgen Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20.  Jahrhundert, in  : ders. (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19.  Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 21–63  ; ders., Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten, in  : ders. (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., München 1988, Bd. 1, S.11–76, (umfangreiche Lit.).

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ditionelle personale Einheit von manueller Herstellung, Betriebsorganisation und Vertrieb sprengt, sich vielmehr auf die Dispositions- und Lenkungsfunktionen konzentriert und im allgemeinen das Eigentum an den Betriebsmitteln hat. Diese Erscheinung ist historisch nicht neu, vielmehr aus Mittelalter und früher Neuzeit geläufig  ; entscheidend ist, dass im Verlauf der Industrialisierung das Prinzip der Arbeits- und Funktionsteilung im Rahmen größerer Betriebseinheiten zum quantitativ und qualitativ bestimmenden Charakteristikum der gewerblichen Wirtschaft wird und traditionelle Wirtschaftsformen an den Rand drängt. Damit einher gehen die Durchsetzung der Verkehrswirtschaft und die spekulative Orientierung von Produktion und Verteilung sowie deren Finanzierung am anonymen Markt. Im Horizont dieser neuen dynamischen Wirtschaftsweise wird die Unternehmerfunktion zur Schlüsselfunktion, da hier mit der relativ größten Dispositionsfreiheit und Gestaltungsmacht diejenigen Entscheidungen über Faktorkombination und Faktoreinsatz getroffen werden, die den Wirtschaftsprozess bestimmen. Die Bedeutung dieser Schlüsselfunktion ist von Jean ­Baptiste Say bis Schumpeter immer wieder eindrucksvoll hervorgehoben und analysiert worden.2 Man wird ihre Träger, also die Unternehmer (entrepreneurs), als die Kerngruppe des neuen Wirtschaftsbürgertums bezeichnen können. Sie treten uns in der Frühzeit der Industrialisierung überwiegend als EigentümerUnter­nehmer entgegen. Die Sicherung ihrer Dispositionsfreiheit nach Maßgabe ihrer Gewinnerwartungen ist ihr wichtigstes politisches Anliegen, weshalb sie im Allgemeinen dem ökonomischen Liberalismus oder seinen interessensmäßig passenden Teilaspekten anhängen. Neben den Eigentümer-Unternehmern begegnen auch damals schon Direktoren von Kapitalgesellschaften oder  – ein Aspekt, der für Österreich wichtig wird – Beamte in Unternehmerfunktion als Leiter von Staatsbetrieben oder von gewerblichen Unternehmungen des grundherrschaftlichen Adels. Um diese Kerngruppe unternehmerisch tätiger Handelund Gewerbetreibender herum lagert sich die anfänglich schmale Schicht von Kaufleuten und Technikern, die man modern als leitende Angestellte bezeichnen würde, des weiteren jene Gruppe selbständiger Händler, Makler, Wechsler, Sensale, die an der modernen Verkehrswirtschaft aktiven Anteil haben. 2 Überblick bei Wolfgang Zorn, Typen und Entwicklungskräfte deutschen Unternehmertums, in  : VSWG 44 (1957), S. 56–77 f.; wieder in  : Karl Erich Born (Hg.), Moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte, Köln-Berlin 1966, S.  25–41, 427–429  ; zu Definitionsproblemen mit Österreichbezug vgl. auch Alois Brusatti, Die Unternehmer in Industrie und Handel, in  : Erich Zöllner (Hg.), Österreichs Sozialstrukturen in historischer Sicht, Wien 1980, S.  59–69  ; ferner Alois Brusatti u. a., Der Unternehmerbegriff. Eine Aufgabe der Forschung, Wien 1974 (= Veröff. d. Ver. der wiss. Forschung auf dem Gebiete der Unternehmerbiographie und Firmengeschichte, Heft 4).

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Dieses so beschriebene Wirtschaftsbürgertum umfasst nicht das traditionelle Handwerk und den kleinen Einzelhandel, also jenen sozialen Bereich, der später als »alter Mittelstand« bezeichnet wird. Ihm gegenüber lässt sich in der Unternehmerfunktion ein hinreichendes Abgrenzungskriterium entwickeln, wobei klar ist, dass es Zonen des Überganges gibt, dass sich die Grenzlinien im historischen Industrialisierungsprozess verschieben und der Bereich des alten Mittelstandes dabei immer deutlicher zu einer Residualgröße geworden ist.3 Die historische Unternehmerforschung hat nach den Merkmalen sozialer Herkunft und funktionaler Ausgangssituation unterschiedliche Unternehmertypen herausgearbeitet und mit variierenden Verhaltensmustern in Beziehung gesetzt. So lassen sich nach Wolfgang Zorn4 fünf ursprüngliche Herkunftsbzw. Werdegangs-Typen des Industrieunternehmers unterscheiden  : 1. feudale Grundbesitzer, 2. bürgerliche Gewerke (d. h. Bergbau-Anteilseigner), Fabrikund Geschäftserben, 3. Kaufleute und Bankiers, 4. Handwerker und Techniker, 5. Forscher. Hiernach kann man etwa bei allen dem handwerklich-technischen Bereich entstammenden Vertretern gemäß dem Ausgangsinteresse ein stärkeres Beharrungsvermögen in der eigenen Branche vermuten, bei den Vertretern des Handels- und Geldkapitalbesitzes hingegen eine größere Mobilität in den Engagements. Bei den Vertretern des historischen Grundadels ist (wie übrigens auch bei den Kapitalisten im ursprünglichen Wortsinn) stets zu prüfen, wie intensiv die unternehmerische Eigentätigkeit tatsächlich ist und wie weit sie an Beauftragte delegiert erscheint. Neben der sozialen ist die regionale Herkunft zu beachten, insonderheit die Frage, wieweit das unternehmerische Wirtschaftsbürgertum sich im lokalen Bereich entwickelt und wieweit es auf Zuwanderung basiert  ; die Frage nach dem Ursprungsland verknüpft sich dabei mit Problemen des Entwicklungsgefälles und der vielberufenen konfessionellen Frage.5 Das Wanderungsphänomen 3 Vgl. die Bemerkungen bei Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft [Anm. 1], S. 12 ff. Für Österreich werden sozialgeschichtliches Profil, Abgrenzungs- und Übergangsfragen behandelt bei Herbert Knittler, Handwerk und Gewerbe in Österreich (bis ins 19. Jahrhundert), in  : Erich Zöllner (Hg.), Österreichs Sozialstrukturen in historischer Sicht, Wien 1980, S. 70–82. 4 Zorn, Typen und Entwicklungskräfte, in  : Born [Anm. 2], S. 30 ff. 5 Für Österreich verweist Matis auf die protestantische und speziell calvinistische Herkunft einer Reihe von eingewanderten Unternehmerfamilien und bezieht dieses Phänomen auf die bekannte These Max Webers  : Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1848–1913. Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter Franz Josephs I., Berlin 1972, S. 71 f. Da sich unter den Einwanderern in ebensolcher Menge auch Katholiken und Juden ausmachen lassen, wird man das Gesamtproblem eher der im Rahmen des europäischen West-Ost-Gefälles zunehmenden »Ex-

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lenkt schließlich auf die Erscheinung der Glücksritter und Projektmacher, des Weiteren auf die Rolle der Juden als Fürstendiener.6 In historischer Perspektive ist das neue Wirtschaftsbürgertum also ein Amalgam aus Gruppen unterschiedlichster sozialer und regionaler Herkunft. Die Art seiner Zusammensetzung verleiht der Industriewirtschaft der europäischen Einzelstaaten bei gleichartigen Strukturmerkmalen eine durchaus unterschiedliche Dynamik. Hierbei bildet das je spezifische Gruppenprofil der Unternehmerschaft selbstverständlich nur ein Moment, seine Analyse ist einzubetten in die allgemeinen natürlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Territorialwirtschaften und schließlich von der Rolle des Fürstenstaates her zu bewerten. Wirtschaftsbürgertum in den deutsch-böhmischen Erbländern Im Falle der Habsburgermonarchie erscheint es sinnvoll, die Untersuchung des Wirtschaftsbürgertums auf den Kernbereich der deutschen und böhmischen Erbländer zu konzentrieren.7 Seine Analyse und Bewertung ist sehr stark bestimmt von der allgemeinen und noch anhaltenden Diskussion über Charakter und Qualität von Industrialisierung und wirtschaftlichem Wachstum im Gesamt­ reich  ; eine Diskussion, bei der sich in Abgrenzung von den zunächst die Szene beherrschenden Modellvorstellungen eines notwendigen »take-off« oder »great spurt« zunehmend die Auffassung eines langsamen und relativ stetigen Wachsternalität« des Wirtschaftsbürgertums zuzuordnen haben. Zur Externalität die Bemerkungen und Verweise von Kocka, Bürgertum Bd. 1 [Anm. 1], S. 58 f. 6 Zum Hofjudentum die umfangreiche Materialsammlung von Heinrich Schnee, Die Hochfinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus, 6 Bde., Berlin 1953–1967. Aus der Fülle der Literatur Francis L. Carsten, The Court Jews. A Prelude to Emancipation, in  : LBI Yearbook 3 (1958), S. 140–156  ; Nachum T. Gross (Hg.), Economic History of the Jews, New York 1975. 7 Ungarn und Galizien ebenso wie die Niederlande und Vorlande, Mailand bzw. das Lombardo Venezianische Königreich bleiben von der Betrachtung ausgeschlossen. Es wird mithin eine Reduktion auf diejenigen Reichsteile vorgenommen, die im theresianisch-josefinischen Staatsbildungsprozess am intensivsten und mit der relativ größten Dauerhaftigkeit staatlich-bürokratisch integriert worden sind, und die in der Folge auch industriewirtschaftlich und sozial die stärkste Integration erfahren haben. Zu den regionalen Aspekten der Wirtschaftsentwicklung in der Habsburgermonarchie vgl. die Skizze von Franz Baltzarek, Zu den regionalen Ansätzen der frühen Industrialisierung in Europa. Mit Überlegungen zum Stellenwert der frühen Industrialisierung im Habsburgerstaat des 18. und 19. Jahrhunderts, in  : Herbert Knittler (Hg.), Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge. Festschrift für Alfred Hoffmann zum 75. Geburtstag, München 1979, S. 334–355.

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tums als eines eigenständigen (Frankreich nicht unähnlichen) Typus der Entwicklung durchgesetzt hat.8 Jedoch stellt sich gerade auch bei der Vorstellung einer »gemütlichen«9 Industrialisierung die Frage, ob im Datenkranz der übrigen Faktoren wie  : Mangel an oder ungünstige Zuordnung von Ressourcen, verkehrsgeographische Hemmnisse, verspätete Modernisierung der Gesellschaft, Defizite an nationaler Integration und wachstumshemmmende Weichenstellungen staatlicher Wirtschaftspolitik auch ein spezifischer Mangel an unternehmerischer Initiative und risikofreudigem Kapital eine signifikante Rolle gespielt hat.10 In der frühneuzeitlichen Ausgangssituation folgten Sozialstruktur, Agrarwirtschaft und Stadtwirtschaft Österreichs dem allgemeinen zentraleuropäischen Muster.11 Der Urbanisierungsgrad – als wichtiger Indikator verkehrswirtschaftlicher Wachstumschancen – blieb nach Dichte und Größe der Städte insgesamt  8 Hierzu von österreichischer Seite Kurt W. Rothschild, Wurzeln und Triebkräfte der österreichischen Wirtschaftsstruktur, in  : Wilhelm Weber (Hg.), Österreichs Wirtschaftsstruktur gestern heute – morgen, 2 Bde., Berlin 1961, Bd. 1, S. 1–157  ; Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft [Anm. 5], insbes. Kapitel I  ; Herbert Matis u. Karl Bachinger, Österreichs industrielle Entwicklung, in  : Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 1  : Alois Brusatti (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien 1973, S.  105–232, hier S.  105–150  ; Eduard März, Einige Besonderheiten in der österreichischen Volkswirtschaft im 19.  Jahrhundert, in  : Sozialwissenschaftliche Annalen 1 (1977), S. 87–107  ; maßgeblich ferner Richard Rudolph, Austrian Industrialization. A Case Study in Leisurely Economic Growth, in  : Sozialismus, Geschichte und Wirtschaft, Festschrift für Eduard März, Wien 1973, S. 249–262  ; ders., The Pattern of Austrian Industrial Growth from the Eighteenth to the Early Twentieth Century, in  : Austrian History Yearbook 11 (1975), S. 3–25  ; Nachum T. Gross, Die Stellung der Habsburgermonarchie in der Weltwirtschaft, in  : Brusatti (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung [Anm. 8], S. 1–28  ; ders., Die Industrielle Revolution im Habsburgerreich 1750–1914, in  : Carlo Cipolla, dte. Ausg. Knut Borchardt (Hgg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte, 4 Bde., Stuttgart-New York 1977, Bd. 4  : Die Entwicklung der industriellen Gesellschaften, S.  203–235  ; für die Spätphase der Monarchie  : Alexander Gerschenkron, An Economic Spurt that failed. Four Lectures in Austrian History, Princeton 1977  ; Kritisch hierzu und zur ‹pessimistischen’ Interpretation insgesamt  : David F. Good, The Economic Rise of the Habsburg Empire 1750–1914, Berkeley-Los Angeles-London 1984, dte. Ausg. Wien-Köln-Graz 1986  ; s.a. John Komlos, Die Habsburgermonarchie als Zollunion. Die Wirtschaftsentwicklung Österreich-Ungarns im 19. Jahrhundert, Wien 1986 (amerik. Original Princeton 1983), insbes. Kapitel III.   9 Komlos, Habsburgermonarchie als Zollunion, op. cit., S. 75 f. 10 Dazu vor allem Herbert Matis, Der österreichische Unternehmer. Erscheinungsbild und Repräsentanten, in  : Karl-Heinz Manegold (Hg.), Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. Studien zur Geschichte, Wilhelm Treue zum 60. Geburtstag, München 1969, S. 287–298  ; ders., Österreichs Wirtschaft 1848–1913 [wie Anm. 5], S. 64–82. Vgl. auch Josef Mentschl, Das österreichische Unternehmertum, in  : Brusatti (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung [Anm. 8], S. 250–277, insbes. S. 274 ff. 11 Knapper und instruktiver Überblick zuletzt bei Gustav Otruba (Hg.), Österreichische Fabriksprivilegien vom 16. bis ins 18. Jahrhundert, Wien et al. 1981, Einleitung S. 41–63 (mit Lit.).

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deutlich hinter den europäischen Verdichtungszonen zurück  ; dafür überragte Wien mit seiner Residenzfunktion an Größe und Bedeutung schon früh jede andere deutsche Stadt, was sich aus der Bedeutung des Hofes, der Größe des Reiches und der daraus erwachsenden Kumulation adeliger Hofhaltungen und der zentralen Verwaltungen ergibt.12 Als Folge entstand in Wien – entsprechenden Pariser Verhältnissen entfernt vergleichbar – eine höfisch orientierte Luxus­ industrie auf handwerklicher bzw. manufakturieller Grundlage und ein entsprechender Fernhandel. Im Übrigen bestand in der Residenz, wie in allen übrigen Städten ausschließlich, ein traditionalistisch gebundenes Handwerk, das nur im Bereich der Textilindustrie bereits einem Prozess der betrieblichen und sozialen Differenzierung unterlag und auch in Österreich den Verleger hervorbrachte, der außerzünftig auf dem flachen Land für Massenbeschäftigung sorgte und daraus eine Quelle der Kapitalakkumulation machte. Schwerpunkte dieses Verlagssystems waren – neben dem abseits gelegenen und wirtschaftsgeographisch dem alemannisch-schweizerischen Raum zuzuordnenden Vorarlberg – vor allem Mähren und neben Prag die deutsch besiedelten und durch Grenzböden charakterisierten Randzonen Böhmens.13 Der zweite Bereich eines das Handwerksniveau übersteigenden Gewerbes war der innerösterreichische alpine Eisenerzbergbau mit den daran sich anschließenden Hütten und Hammerwerken. Bergwerksbesitz und -betrieb waren gewerkschaftlich organisiert  ; hier wie in den Hütten und Hammerwerken herrschten 12 Zum Urbanisierungsproblem Franz Baltzarek, Die wirtschaftliche Entwicklung der Großstadtregion Wien im 18. und 19. Jahrhundert. Mit einem Überblick über die Rolle von Stadtregionen im Industrialisierungsprozeß Europas  ; ders., Staat und Bürgertum im Zeitalter des Kameralismus und Merkantilismus im Habsburgerreich. Ein Versuch zur Typologie vorindustriellen Städtewesens in seinen politischen und sozio-ökonomischen Strukturen, beide als Typoskript, o. D. [um 1975], Nationalbibliothek Wien 1.168.230. C. Herbert Knittler, Österreichs Städte in der frühen Neuzeit  ; Franz Mathis, Städte und Märkte zur Zeit der Frühindustrialisierung, beide in  : Erich Zöllner (Hg.), Österreichs Städte und Märkte in ihrer Geschichte, Wien 1985, S. 43–68, 69–84. Zu Wien auch Günther Chaloupek, Wirtschaftsentwicklung, merkantilistische Wirtschaftspolitik und die Wiener Wirtschaft bis Joseph  II. (1790), in  : Wiener Geschichtsblätter 31 (1976), S. 14–31. 13 Zur Frühgeschichte der Textilgewerbe in den böhmischen Ländern Hermann Aubin  : Das Textilgewerbe in und um Reichenberg bis zum Übergang in die moderne Industrie, in  : Sudetenland 5 (1963), S. 109–123  ; Arnošt Klima, Die Textilmanufaktur in Böhmen des 18. Jahrhunderts, in  : Historica 15 (1967), S. 123–181  ; ders., Industrial Development in Bohemia, 1648–1781, in  : Past and Present 11 (1957), S. 87–97  ; ders., Industrial Growth and Entrepreneurship in the Early Stages of Industrialization in the Czech Lands, in  : Journal of European Economic History 6 (1977), S. 549–574  ; Gustav Otruba, Anfänge und Verbreitung der böhmischen Manufakturen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (1820), in  : Bohemia 6 (1965), S. 203–331.

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bürgerliche Unternehmer vor  ; der Staat hielt ansehnliche Berganteile. Verleger wiederum vermittelten das Rohmaterial an eine weitverbreitete, h ­ andwerklich organisierte Kleineisenindustrie vor allem in Oberösterreich und in Teilen Niederösterreichs.14 Ganz anders strukturiert waren Bergbau- und ­Hüttenwesen in Mähren und im böhmischen Becken, wo die Berggerechtsame an adelige Grundherren übergegangen waren. Diese ließen ihre Montanwirtschaft im Verbund mit der dazugehörigen Forstwirtschaft von Patrimonialbeamten in der Form einer Hörigen-Industrie betreiben.15 Die Epoche des Merkantilismus Diese industriewirtschaftlichen Ansätze entfalteten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kräftig weiter unter den Bedingungen des theresianisch-josefinischen Merkantilismus und seiner Förderungsmaßnahmen. Diese Politik folgte den üblichen west- und mitteleuropäischen Mustern, war aber schon deshalb von tiefergreifenden Folgen als etwa in den kleinräumigen Territorien des Altreiches, weil sie sich auf die Wirtschaftsregulierung eines geschlossenen Großreiches bezog.16 Dies gilt in erster Linie für die Zollpolitik, die darauf ausging, die Gesamtheit der Monarchie unter Einschluss der östlichen Ergänzungs­räume (Ungarn, Galizien) zugunsten der fortgeschrittenen Gewerberegionen als Binnenmarkt zu organisieren, dementsprechend alle Binnenschranken abzubauen, zugleich aber die Auslandskonkurrenz durch ein Grenzsystem, das für Schlüsselerzeugnisse sogar vom Hochschutzzoll zur Prohibition überging, vollständig fernzuhalten. 14 Zur alpinen Erzindustrie die Übersichten bei Ferdinand Tremel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1969, S.  156–163, 255–262  ; und Alfred Hoffmann, Wirtschaftsgeschichte des Landes Oberösterreich, 2 Bde, Salzburg-Linz 1952, Bd.  1, S.  117–128, 196–211, 348–382  ; zuletzt der Sammelband Michael Mitterauer (Hg.), Österreichisches Montanwesen. Produktion, Verteilung. Sozialformen, München 1974. 15 Übersicht bei Otruba, Anfänge und Verbreitung der böhmischen Manufakturen [Anm. 13]. 16 Aktueller Überblick über die theresianisch-josefinische Wirtschaftspolitik mit Lit. bei Gustav Otruba, Verwaltung, Finanzen, Manufakturen, Gewerbe, Handel und Verkehr, technisch-gewerbliche Bildung und Bevölkerungsentwicklung, in  : Erich Zöllner (Hg.), Österreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, Wien 1983, S. 103–150. Sehr wichtig ferner der Sammelband Herbert Matis (Hg.), Von der Glückseligkeit des Staates. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Österreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, Berlin 1981. Die Modernität der Reformimpulse betont Good, The Economic Rise [Anm.  8], S.  34 f., im Anschluss an Treml, Wi.-Soz.-Gesch. [Anm.  14], S.  281. Kritische Einschätzung der Integrationseffekte bei Gross, Die Industrielle Revolution im Habsburgerreich, in  : Cipolla-Borchardt [Anm. 8], Bd. 4, S. 209 ff.

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Die hier getroffene Weichenstellung legte nun eine entscheidende Grundlinie der Wirtschaftspolitik fest, die bis zur Mitte des 19.  Jahrhunderts überhaupt nicht, dann aber nur zögerlich korrigiert wurde. Ein vergleichbares Verhalten mit mutatis mutandis ähnlichen strukturbildenden Konsequenzen langfristiger Art finden wir etwa in Frankreich. Damit wurde der heimischen Industrie ein Wachstumspfad eröffnet, der einerseits in der Exklusivität des Binnenmarktes eine sichere Basis hatte, andererseits an das relativ langsame Tempo der verkehrswirtschaftlichen Integration und Konsumsteigerung eines weithin dünnbesiedelten Großraumes ruraler Selbstversorgungs-Gemeinschaften gebunden blieb.17 Freilich kümmerte der merkantilistische Staat sich frühzeitig auch um den Export  ; hierbei war der Orient das bevorzugte Ziel, wofür die Kontrolle des Donauweges und der Besitz des Hafens Triest einen Ansatz boten. Doch gingen hiervon aufs Ganze gesehen keine entscheidenden Wachstumsimpulse aus.18 Innerhalb dieser Rahmenbedingungen suchte der Reformabsolutismus die gewerbliche Wirtschaft zu dynamisieren, indem er neben den traditionellen Zünften, wenn sie schon nicht zu beseitigen waren, die Entwicklung neuer Trägerschichten förderte, so durch die Ausdehnung des Systems der Hofbefreiungen für unzünftige Handwerker, vor allem aber durch die Erteilung von Fabriken- und Manufakturkonzessionen und die Ausstattung der Neugründungen mit einer breiten Palette von Privilegien, durch materielle Vergünstigungen und Zuwendungen, schließlich durch direkte staatliche Unternehmensgründung oder Übernahme angeschlagener Unternehmen. Die Aufhebung der Leibeigenschaft (1781) hatte in diesem Zusammenhang den wichtigen Zweck, ungelernte Massenarbeitskraft verfügbar zu machen.19 Wesentliche Impulse erwartete man von der Anwerbung ausländischer Unternehmer und Techniker,20 dem diente wiede17 Gross, in  : Cipolla-Borchardt, Bd. 4 [Anm. 8], S. 209 ff. 18 Vgl. Herbert Hassinger, Der Außenhandel der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts, in  : Friedrich Lütge (Hg.), Die wirtschaftliche Situation in Deutschland und Österreich um die Wende vom 18. zum 19.  Jahrhundert, Stuttgart 1964, S.  61–98, insbes. das Resümee S. 97 f. Eindringliche und kritische Würdigung der bisherigen Forschung, das Bild vom Vorrang des Binnenmarktes und der relativen Schwäche des Außenhandels jedoch bestätigend, bei Manfred Sauer, Aspekte der Handelspolitik des »aufgeklärten Absolutismus«, in  : Matis (Hg.), Glückseligkeit des Staates [Anm. 16], S. 235–265. 19 Hierzu eine Fülle von Lit., insbes. die Arbeiten von G. Otruba, H. Hassinger, A. Klima, H. Freudenberger  ; Zugang über die in Anm. 13 bis 16 genannte Lit. Von den älteren Werken v. a. Karl Přibram, Geschichte der österreichischen Gewerbepolitik von 1740 bis 1860, Bd. 1  : 1740–1798 [mehr nicht ersch.], Leipzig 1907. 20 Gustav Otruba, Englische Fabrikanten und Maschinisten zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. in Österreich, in  : Tradition 12 (1967), S. 365–377.

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rum die Toleranzgesetzgebung für Protestanten und Juden.21 Zu den materiellen gesellten sich immaterielle, auf soziale Anerkennung zielende Förderungs­mittel. Besonders wirksam war die prestigeträchtige und in Österreich weit mehr als anderswo praktizierte Nobilitierung.22 In ihrer Handhabung und Beliebtheit manifestiert sich zugleich die außerordentlich starke Geltung höfisch geprägter Wertmuster für das Sozialverhalten. Diese Art sozialpsychologischer Integration des neuen Unternehmertums ist nur ein Teil des mitteleuropäischen Typus der reform-absolutistisch vermittelten monarchischen Integration, die sich an den alten Feudal-Adel und den Klerus ebenso richtete wie an den bürgerlichen Aufstieg und den Auslands-Import von Führungskräften, und die ihre wichtigste Vermittlungsebene in der landesfürstlichen Bürokratie mit ihren Lenkungs- und Verwaltungsfunktionen hatte. Diesem Integrationsmuster, dessen relativ großer und länger anhaltender Erfolg Mitteleuropa von Westeuropa unterscheidet, folgt auch die Bindung der neuen, den altständischen Rahmen sprengenden Wirtschaftsbürger an den Fürstenstaat. Neben der vorhin angesprochenen außenwirtschaftlichen Abschottung scheint mir dieser Sachverhalt das zweite strukturbildende Ausgangsdatum zu sein, dessen Konsequenzen für die Unternehmermentalität noch zu erörtern sein werden. 21 Knappe Hinweise mit Beachtung der ökonomischen Motive bei Elisabeth Bradler-Rottmann, Die Reformen Kaiser Josefs II., Göppingen 1976, S. 147 ff.; Peter Baumgart, Die »Freiheitsrechte« der jüdischen Minorität im Staat des aufgeklärten Absolutismus. Das friderizianische Preußen und das josefinische Österreich im Vergleich, in  : Günter Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, Göttingen 1981, S. 121–145  ; Paul Bernard, Joseph II. and the Jews. The Making of the Toleration Patent of 1782, in  : Austrian History Yearbook 4/5 (1968/69), S. 101–119. 22 Nikolaus von Preradovich (Rezension zu Otruba/Treml – vgl. Anm. 52 – in  : VSWG 53 (1966, S. 249) und unter Berufung auf ihn auch Matis (Österreichs Wirtschaft [Anm. 5], S. 65) betonen, dass zwischen 1701 und 1918 nur insgesamt 1242 Industrielle, Bankiers und Handelsleute geadelt worden sind gegenüber 8596 Offizieren und Beamten. Diese Relation ist keineswegs erstaunlich, bedenkt man die zentrale Funktion von Armee und Bürokratie für die Systemerhaltung des monarchischen Staates, die Bedeutung der Abhängigkeits- und Loyalitätshierarchien in diesem Zusammenhang und schließlich die Tatsache, dass für den Fürsten- und Staatsdiener Ehrungen aller Art den materiellen Unterhalt psychologisch ergänzten bzw. substituierten. Signifikant ist vielmehr, dass das Wirtschaftsbürgertum überhaupt in diesem Umfang in die Nobilitierungspraxis und damit in die höfische Integrationsstrategie einbezogen wurde. Auch hierbei war der Aspekt des Fürstendienstes zunächst durchaus der Ansatzpunkt, denn als erste wurden die Verdienste um Kriegsfinanzierung und Staatskredit auf diese Weise honoriert. Dies betont jetzt auch  : William McCagg, Austria’s Jewish Nobles, 1740–1918, in  : LBI Yearbook 34 (1989), S. 163–183 (mit Ankündigung einer größeren Arbeit) Die ungedruckte Wiener Dissertation von Franz Putz, Die österreichische Wirtschaftsaristokratie, 1815–1859, Wien 1975, war mir nicht zugänglich.

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Zunächst sei die Skizze der gesamtpolitischen bzw. wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen von der theresianisch-josefinischen Anfangsperiode auf das franzisceische Zeitalter und den österreichischen Vormärz (1792 bis 1848) ausgedehnt. Es entspricht der historiographischen Tradition, diese beiden Epochen vor allem unter gegensätzlichen Vorzeichen – Dynamik vs. Statik – zu erfassen und zu bewerten. Restauration und Vormärz Diese Beurteilung hat ihre guten Gründe, doch sollten demgegenüber mit Bezug auf unser Thema auch die Kontinuitätslinien und die dynamischen Aspekte der Restaurations- und Vormärzzeit beachtet werden. Bekanntlich ist der Reformabsolutismus Josefs  II. mit seinen auf öffentlich-­ rechtliche Egalisierung der Gesamt-Untertanenschaft, auf Bodenmobilisie­ rung und Freisetzung der bäuerlichen und unterbäuerlichen Massen g­ erichteten sozial­ politischen Tendenzen früher und deutlicher als sonst im deutsch-mittel­euro­pä­ ischen Bereich an Grenzen gestoßen, wo die entgegengesetzten Interessenlagen des altbevorrechtigten Adels in ihrer Substanz beeinträchtigt wurden.23 Träger dieser Veränderungstendenzen war mit dem Kaiser eine stark (aber nicht nur) bürgerlich bestimmte Reformbürokratie, die die tief ins das 19. Jahrhundert weiterwirkende gouvernemental–liberale politische Sonderkultur des sog. Josefinismus begründet und damit stilbildend auf den etatistisch gebrochenen bürgerlichen Liberalismus Österreichs gewirkt hat.24 Die von hier ausgehenden Gefährdungen führten – etwa zeitgleich mit der französischen Revolution und verstärkt durch ihre kontra-induzierenden Effekte – zu einer vehementen Adelsreaktion und in der Folge zu einem Kompromiss, der die Herrschafts- und Sozial­verhältnisse auf einem frühjosefinischen Niveau stabilisierte und die Dynastie bewog, von nun an die Bewahrung des status quo zur tragenden Maxime ihrer Innenpolitik zu machen.25 Dem entspricht 23 Roman Rozdolski, Die große Steuer- und Agrarreform Josefs II. Ein Kapitel zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte, Warschau 1961. 24 Hierzu zuletzt Harm-Hinrich Brandt, Liberalismus in Österreich zwischen Revolution und Großer Depression, in  : Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19.  Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 79), Göttingen 1988, S. 136–160  ; vgl. in demselben Band Klaus Koch, Frühliberalismus in Österreich bis zum Vorabend der Revolution 1848, S. 64–70. 25 Zuletzt Helmut Reinalter, Aufgeklärter Absolutismus und Revolution, Wien-Köln-Graz 1980, (hier die einleitenden Analysen, mit Lit.).

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das Wiedervordringen des Alt-Adels in den bürokratischen Spitzenpositionen und die Herausbildung eines innerbürokratischen nicht spannungslosen Gleich­ gewichts zwischen den beharrenden und verändernden Kräften.26 Infolgedessen blieb die sozialpolitisch wichtigste Frage, das Problem der Auflösung der Grundherrschaft, dauerhaft von der Tagesordnung ausgeschlossen. Damit waren die Voraussetzungen für einen industriewirtschaftlichen Durchbruch im Sinne Rostows an einem strategisch zentralen Punkt nur halb erfüllt  : Zwar war die ländliche Bevölkerung seit Josef aus der Hörigkeit in die persönliche Freiheit entlassen, doch blieben Gebundenheit des Bodens, Patrimonialherrschaft, Niederlassungs- und Heiratsbeschränkungen bestehen, die verkehrswirtschaftliche Mobilisierung der Produktionsfaktoren und des Konsums blieb bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gebremst, wenn auch keineswegs blockiert.27 Innerhalb dieser retardierenden Rahmenbedingungen war die staatliche Wirtschaftspolitik Österreichs in Restauration und Vormärz keineswegs industriefeindlich. So sehr die traditionellen Zünfte in dieser Richtung drängten  : eine gewerbepolitische Reaktion zugunsten des alten Mittelstandes fand niemals statt. Andererseits kam es, obwohl im Schoße der Spitzenbehörden daran über Jahrzehnte herumlaboriert wurde, auch nicht zu einer Modernisierung und Kodifikation des Gewerberechtes gar im Sinne der Gewerbefreiheit  ; vielmehr vollzog sich die langsam aber stetig fortschreitende Industrialisierung weiterhin im Rahmen einer durchaus liberal gehandhabten staatlichen Konzessionierungspraxis. Die Regierung wünschte und förderte Fabrikengründungen, jetzt freilich unter Vermeidung fiskalischer Subventionsopfer, wie sie für die naive Phase des Merkantilismus charakteristisch waren.28 26 Zeitgenössische Kritik  : Ignaz Beidtel, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung 17401848, aus dem Nachlass hg. v. Alfons Huber, 2 Bde., Innsbruck 1896/1898, Nachdruck 1968, insbes. Bd.  2. Vgl. jetzt Waltraud Heindl, Die österreichische Bürokratie, in  : Heinrich Lutz und Helmut Rumpler (Hg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20.  Jahrhundert, Wien 1982, S. 73–91. 27 So Matis, Österreichs Wirtschaft [Anm. 5], S. 22–30  ; Gross, Die Stellung der Habsburgermonarchie, S. 2 ff.; ders., Industrielle Revolution, S. 214 ff. [beides Anm. 8]. Pointierte Revision der traditionellen Sicht bei Komlos, Habsburgermonarchie als Zollunion [Anm. 8], Kap. 2 u. 3, der die Bedeutung der institutionellen Reformen ab 1848 negiert und den Beginn des wirtschaftlichen Wachstums in den 20er und 30er Jahren ansetzt. Differenziertes Urteil bei Good, Economic Rise [Anm. 8], S. 32–73. Vgl. auch Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde. Göttingen 1978, Bd. 1, S. 25–47. 28 Hierzu noch immer materialreich Johann Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie und ihrer Förderung unter Kaiser Franz I., Wien 1914, erstes Buch (Allgemeine Industriepolitik).

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Dieser Gesamteindruck wird auch nicht durch zeitweilige industriefeindliche Äußerungen und Entscheidungen des Kaisers Franz beeinträchtigt, die sich isoliert auf die Residenzstadt bezogen und hier von Proletarisierungs- und Revolutionsfurcht getragen waren.29 Pariser Verhältnisse sollten vermieden werden. In derselben Linie industrialisierungs-freundlichen Gesamtverhaltens liegt das staatliche Interesse am Eisenbahnbau, der in den späten 30er Jahren einsetzte, und an der Konzessionierung und Förderung der hierzu erforderlichen Kapital­ gesellschaften. Dasselbe gilt für die Förderung der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft und des Triestiner Österreichischen Lloyd. Freilich zeigte sich beim Eisenbahnbau rasch, dass sich über die Stimulierung des Privatkapitals kein stetiger Verkehrsausbau mit befriedigenden Ergebnissen erreichen ließ. Ähnlich wie die übrigen deutschen Flächenstaaten ging daher auch Österreich in den 40er Jahren zum Staatsbahnsystem über.30 Erstmals seit der theresianischjose­fi­nischen Periode des Merkantilismus engagierte sich der Staat damit wieder direkt in einem Schlüsselbereich der gewerblichen Wirtschaft. Die Gründe hierfür – im Kontext der wirtschaftsbürgerlichen Entwicklung – werden weiter unten erörtert. Wenn die österreichische Restaurations- und Vormärzzeit gleichwohl in der historiographischen Tradition bürgerlicher Selbstinterpretation auch b ­ ezüglich der Wirtschaftsgeschichte überwiegend kritisch bewertet wird, so liegen die Gründe hierfür weniger im Bereich der Produktionsziffern als im Bereich des gesellschaftlichen Bewusstseins. Die staatliche allgemeine Innenpolitik war, wie schon angedeutet, in ihrer Gesamtheit von konservativen Stabilitäts- und Beharrungstendenzen geleitet  ; die hieraus sich ergebende soziale und mentale Stagnation blockierte zweifellos die Entfaltung eines wirtschaftsbürgerlichen Selbstbewusstseins. Die im Reformabsolutismus aufgebaute polizeistaatliche Regie­­rungs- und Verwaltungsmaschinerie setzte sich samt ihrem im älteren Poli­zeibegriff liegenden Selbstverständnis einer eudämonistischen Allzuständig­ keit in das 19. Jahrhundert hinein ungebrochen fort und blähte sich noch weiter auf. Dieser franzisceische Apparat mit seiner sprichwörtlichen Schwerfälligkeit verbreitete aber eben deshalb ein Klima allgemeiner Behinderung, weil der umfassende Lenkungs- und Gestaltungsanspruch mit der Zögerlichkeit und Entscheidungsunlust kontrastierte, die aus dem Gegeneinander der Behörden (etwa der tendenziell dynamischeren Hofkammer und Kommerzhofkommission einerseits und der sozialkonservativen Vereinigten Hofkanzlei als allgemeiner 29 Slokar, op. cit., S. 25–49 (Vorgänge von 1802 bis 1809). 30 Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 27], Bd. 1, S. 40, 316 f.

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Innenbehörde andererseits) und den Ängstlichkeiten und Bedenklichkeiten der Spitzenverantwortlichen resultierten und in die Technik des Verschleppens und Liegenlassens einmündeten.31 Diese Systemdefekte nahmen nach 1835 angesichts der Perversion einer absoluten Monarchie ohne Monarchen und der institutionalisierten Paralysierung der obersten Entscheidungsgewalt ein derartiges Ausmaß an, dass im März 1848 neben den Exponenten anderer Führungsschichten auch einige Spitzenvertreter des Wirtschaftsbürgertums auf den Plan traten und eine Sanierung dieser Verhältnisse forderten.32 Man darf jedoch nicht verkennen, dass die Unterneh­ merschaft im Vormärz den Immobilismus der Regierung in einem zentralen Bereich- der Wirtschaftspolitik wesentlich mitgefördert hat  : sie sorgte bei Hofe dafür, dass diejenigen innerbürokratischen Kräfte, die für einen Wechsel im außenwirtschaftlichen Abschirmungssystem durch zollpolitische Öffnung eintraten, sich nicht durchsetzten.33 Insgesamt kann von einer wirtschaftsbürgerlich getragenen Systemopposition und von einem entsprechenden politischen Macht- und Gestaltungsanspruch um die Jahrhundertmitte nur marginal die Rede sein  ; vielmehr erweist sich mit der Etablierung des nachrevolutionären Neoabsolutismus erneut, dass die Wiederaufnahme der josefinischen, bürokratisch gelenkten Zentralisierungs-, Homogenisierungs- und Reformtendenzen am ehesten die Bereitstellung derjenigen Rahmenbedingungen gewährleistete, die den Interessen der österreichischen Wirtschaftsbürger in der Linie der bisherigen Entwicklungsbedingungen entsprach.34 Damit stellt sich die Frage nach Zusammensetzung und Art dieses Unternehmertumes sowie die weitere Frage, bis zu welchem Grad man vormärzlich bereits von seiner Integration in eine wirtschaftsbürgerliche Schicht oder gar Klasse sprechen kann. 31 Aktenmäßige Aufarbeitung mit eindrucksvollen Belegen bei Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie [Anm. 28]. 32 Zu den bekannten Szenen im Niederösterreichischen Gewerbeverein Heinrich Reschauer und Moritz Smets, Das Jahr 1848. Geschichte der Wiener Revolution, 2 Bde., Wien 1872, Bd.  1, S. 104–140. 33 Darstellung der vergeblichen Zollreformversuche ab 1841 bei Adolf Beer, Die österreichische Handelspolitik im neunzehnten Jahrhundert, Wien 1891 (Nachdruck Wien 1972), S. 16–25. Vgl. auch Julius Marx, Die wirtschaftlichen Ursachen der Revolution von 1848 in Österreich, GrazKöln 1965, S. 41–50. 34 Dazu Brandt, Neoabsolutismus [Anm.  27], Bd.  1, Kapitel 3 u. 4  ; vgl. auch Matis, Österreichs Wirtschaft [Anm. 5], S. 30–49  ; ders., Leitlinien der österreichischen Wirtschaftspolitik, in  : Brusatti (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung [Anm. 8], S. 30–38.

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Manufakturen Die theresianisch-josefinische Industriepolitik führte zu einer Fülle von Manufakturgründungen und induzierte damit auch in Österreich die Phase der »Protoindustrialisierung«, in der neben die traditionellen Formen des Handwerks und der dezentralisierten Heimarbeit nunmehr die Konzentration arbeitsteiliger Fertigung in Fabrikräumen trat, wobei die alten und neuen Produktionsweisen häufig organisatorisch verbunden wurden. Die historische Bedeutung dieser Übergangsphase lag auch in Österreich in einer neuen Art der Konditionierung und Disziplinierung ungelernter Arbeitskräfte aus den städtischen, vor allem aber ländlichen Unterschichten sowie in der mit viel Lehrgeld erkauften Einübung neuartiger unternehmerischer Fähigkeiten.35 Umfang und Verteilung der Manufakturen sind durch die Arbeiten österrei­ chischer und čechischer Historiker gut erforscht.36 Von den um 1790 mit 317 bezifferten Manufakturen entfiel etwa die Hälfte auf den textilen Bereich. Geographische Schwerpunkte waren Nordböhmen und das Prager Becken mit der überlieferten Leinen- und der modernen Baumwollindustrie, Brünn mit der ebenfalls auf heimischer Grundlage basierenden Wollindustrie, dann vor allem Wien, das Wiener Becken und die weitere niederösterreichische Umgebung mit einer relativ breiten Palette von Branchen (Eisen- und Metallverarbeitung, Lederwaren, Papierindustrie und Druckgewerbe, Farben und Seifen), jedoch ebenfalls mit einem deutlichen textilindustriellen Schwergewicht  : hier neben der Baumwoll- insbesondere die Seidenverarbeitung. Die übrigen Alpenländer blieben hinter dieser Entwicklung deutlich zurück, abgesehen von der Baumwoll35 Das Konzept der Protoindustrie als Übergangsphase wird für Österreich diskutiert von Hermann Freudenberger, Die protoindustrielle Entwicklungsphase in Österreich  : Proto-Industrialisierung als sozialer Lernprozess  ; Alois Mosser, Proto-Industrialisierung. Zur Funktionalität eines Forschungsansatzes, beide in  : Matis (Hg.), Glückseligkeit [Anm.  16], S.  355–381, 383–410. Von grundlegender Bedeutung auch Herman Freudenberger und Gerhard Mensch, Von der Provinzstadt zur Industrieregion (Brünn-Studie). Ein Beitrag zur Politökonomie der Sozialinnovation, dargestellt am Innovationsschub der industriellen Revolution im Raume Brünn, (=Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im 19. Jh., 13), Göttingen 1975. 36 Herbert Hassinger, Der Stand der Manufakturen in den deutschen Erbländern der Habsburgermonarchie am Ende des 18.  Jahrhunderts, in  : Lütge (Hg.), Die wirtschaftliche Situation [Anm. 18], S. 110–176  ; Otruba, Verwaltung, Finanzen, in  : Zöllner (Hg.), Aufgeklärter Absolutismus [Anm. 16], insbes. S. 112–121, Karte S. 117, Verweis auf weitere eigene Arbeiten S. 103  ; Arnošt Klima, Die Textilmanufaktur in Böhmen des 18.  Jahrhunderts, in  : Historica 15 (1967), S.  123–181  ; ders., The Role of Rural Domestic Industry in Bohemia in the 18th Century, in  : EconHistRev. 2. Folge 27 (1974), S. 48–56.

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manufaktur in Vorarlberg und einigen Ansätzen im Raum von Klagenfurt und Graz.37 Als Träger dieses Prozesses traten in den Anfängen, und dies vor allem in den böhmischen Ländern, altadelige ›Unternehmer‹ auf.38 Auf die traditionelle Rolle des böhmischen Adels als Besitzer von Bergwerken, Eisenhütten, Hämmern und Glashütten wurde bereits hingewiesen, wobei Besitz keineswegs unternehmerische Tätigkeit bedeuten musste, die grundherrlichen Rechte vielmehr die Basis für Herrschafts- und Besitzeinkommen bildeten. In ähnlicher Weise gehört die traditionelle Lizenzvergabe an – zumeist auswärtige – L ­ eingarn- und Leinwand-Aufkäufer bzw. Verleger39 in die Nähe der Zwangs- und Bannrechte als Quelle für Einkommensbildung. Auch die im 18. Jahrhundert einsetzende Einrichtung herrschaftlicher Manufakturen, bei der im Bereich der Textilindustrie der Manufakturbetrieb für gewöhnlich mit dezentraler Massenheimarbeit kombiniert wurde, erwächst aus diesem Umfeld der unternehmerischen Nutzung überkommener Herrschaftsrechte   ; waren doch die Frondienstverpflichtungen (Robot) und bis 1781 auch die Einschränkung der Freizügigkeit im Rahmen der Hörigkeit (»Leibeigenschaft«) wesentliche Grundlagen dieser Betriebe.40 Neben dem Wunsch nach Modernisierung und Diversifikation der Einkommensquellen spielten höfische Anregungen und Wünsche im Rahmen der merkantilpolitischen Zielsetzungen bei der Anlage dieser Manufakturen eine erhebliche Rolle  ; Vasallentreue, Kavalierspflicht, dienstliche Abhängigkeit 37 Zur Analyse von Hassinger [Anm. 36]  ; die Karte Manufakturenbestand bei Otruba, in  : Zöllner (Hg.), Aufgeklärter Absolutismus [Anm. 16], S. 117. 38 Zum Folgenden außer den Arbeiten von Hassinger, Otruba und Klima [Anm. 36] Josef Mentschl, Unternehmertypen des Merkantilzeitalters, in  : Matis, Glückseligkeit [Anm. 16], S. 341–354. 39 Plastische Beschreibung des Aufkauf- und Exportsystems (v. a. auch Veredelungsexport nach Schlesien) und der daran beteiligten oberdeutschen und schlesischen, dann auch englischen Garnund Rohleinenaufkäufer sowie des Entstehens einer einheimischen Kleinverlegerschicht bei Klima, Rural Domestic Industry in Bohemia [Anm. 36], S. 48 ff.; vgl. auch ders., English merchant capital in Bohemia in the 18th century, in  : EconHistRev. 12 (1959/60), S. 34–48. 40 Zusammenstellungen bei Hassinger, Manufakturen [Anm. 36], S. 150 ff., Klima, Die Textilmanufaktur [Anm. 36]. Die traditionelle Leingarn- und Leinwanderzeugung fand nur selten den Übergang zur Manufaktur  ; hier sind die Grafen Kinsky und Harrach, ferner die staatliche Manufaktur Pottenstein unter der Leitung des Schlesienflüchtlings Graf Chamare anzuführen. (Über die Tätigkeit des letzteren und die Bemühungen, nach dem Verlust Schlesiens die Leinwandveredelung in den verbliebenen böhmischen Ländern zu etablieren, vgl. Klima, Textilmanufaktur [s.o.].) Für die Wollverarbeitung ist vor allem die schon seit 1715 bestehende Oberleutensdorfer Manufaktur der Grafen Waldstein zu nennen, daneben Graf Lažansky und Graf Haugwitz. Der entscheidende Durchbruch zur adeligen Manufaktur vollzog sich ab der Mitte des Jahrhunderts in der Baumwollbranche  : hier traten die Fürsten bzw. Grafen Auersperg, Kinsky, Rottenhan, Bolza, Blümegen, Kaunitz prominent hervor.

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und höfische Prestigeerwägungen vermischten sich mit dem im engeren Sinn ökonomischen Gewinnmotiv. Die Adeligen, häufig Inhaber wichtiger Ämter, wurden auf diese Weise selbstverständlich nicht zu gewerblichen Unternehmern,41 jedoch gibt es einige Fälle eines bedeutsamen unternehmerischen Engagements und betrieblichen wie technischen Interesses.42 In aller Regel lag das betriebliche und kaufmännische Management wie beim übrigen Domanium in der Hand von Patrimonial- oder Wirtschaftsbeamten bzw. eigens engagierten Fachkräften. Den Aristokraten selbst blieben nur die wichtigsten unternehmerischen Entscheidungen vorbehalten, die sich nun zudem in einem weiteren, Grundherrschaft, Land- und Forstwirtschaft u.a.m. umfassenden Rahmen von Vermögensdispositionen abspielten. Es bestand insofern auch kein Unternehmerrisiko existenzieller Art, wie es für den bürgerlichen Unternehmer zumindest in der Aufstiegsphase c­ harakteristisch ist. Vielmehr liefen derartige Vermögensentscheidungen in erheblicher Ferne von der gewerblichen und kaufmännischen Sphäre ab. Diese sozialpsychologi41 Vgl. die Bemerkungen bei Hassinger, Manufakturen [Anm.  36], S. 128 f.; ferner Freudenberger, Brünn-Studie [Anm.  34], S.60 ff.; Mentschl, Unternehmertypen, in  : Matis, Glückseligkeit [Anm. 16], S. 342 ff. So auch Herman Freudenberger, Progressive Bohemian and Moravian Aristocrats, in  : Stanley B. Winters u. Joseph Held (Hgg.), Intellectual and Social Developments in the Habsburg Empire from Maria Theresia to World War I. Essays dedicated to Robert A. Kann, New York-London 1975, S. 115–130, S. 126 f. Es geht bei diesen Urteilen um das Problem der Unternehmertätigkeit im strikten Sinn. Damit soll selbstverständlich nicht die Aufgeschlossenheit dieses Adels für ökonomische Modernisierung zugunsten von Einkommens- und Statussicherung bestritten werden, wie dies in treffender Polemik gegen das Schema Feudalismus vs. Kapitalismus und in Einklang mit der aktuellen Adelsforschung von Ralf Melville in seinen Forschungen betont wird. (ders., Grundherrschaft, rationale Landwirtschaft und Frühindustrialisierung, in  : Matis, Glückseligkeit [s.o.], s. 295–313.) 42 Hier ist vor allem Franz Stephan von Lothringen zu nennen, der selbst Manufakturen in Ober­ ungarn und Mähren besaß. Zu ihm Hanns Leo Mikoletzky, Franz Stephan von Lothringen als Wirtschaftspolitiker, in  : MÖSTA 13 (1960), S.  231–257  ; ders., Holics und Sassin, die beiden Mustergüter des Kaisers Franz I. Stephan, in  : MÖStA 14 (1961), S. 192–212. Vgl. auch die Hinweise zu Graf J. L. Harbuval v. Chamar in Anm. 40. Fritz Redlich (Der Unternehmer, Göttingen 1964), S.  317, spricht auch dem Grafen Joseph Maximilian Kinsky herausragende unternehmerische Qualitäten zu  ; Freudenberger, Aristocrats [Anm.  41], S.  120 ff. klassifiziert im gleichen Sinn die Grafen Rottenhan, Buquoy und Sternberg als Unternehmer. Für die nachfolgende Zeit der eigentlichen Industrialisierung (Maschinisierung) ist Hugo Altgraf zu Salm zu nennen, der 1802 persönlich und unter Gefahr Konstruktionszeichnungen für eine Schafwollspinnmaschine aus England schmuggelte und in Brünn eine Maschinenfabrik errichtete. Mit Fachleuten (Dr. Reichenbach, Florent Robert) betrieb er später die Errichtung von Zuckerfabriken. (Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S.  328, 606ff  ; Freudenberger, Bohemian and Moravian Aristocrats, S. 125 f. Vgl. auch Anm. 67.) Zu Eh. Johann vgl. unten Anm. 68.

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sche Distanz, die sich bei bürgerlichen Unternehmerfamilien erst nach einigen Generationen unter dem Eindruck von ›Feudalisierung‹ des Lebensstils und mit dem Übergang vom Gewerbe oder Warenhandel zu Vermögensgeschäften einzustellen pflegt, war also im Falle des Unternehmer-Adels von Anfang an gegeben. Als Veranstalter gewerblicher Unternehmungen steht der Adel eher den landesfürstlichen oder ›Staats‹-Betrieben nahe. Dies zeigt sich auch in der Privile­ gierungs- und Subventionierungspraxis, die die Adeligen nicht zuletzt den personellen Verflechtungen in der administrativen Sphäre verdankten. Wenn die grundherrlichen Manufakturen gleichwohl nicht nur für die p ­ rotoindustrielle Schulung und Disziplinierung der Arbeitskräfte und die Entwicklung der Betriebsorganisation, sondern im speziellen auch für Herausbildung des Wirtschaftsbürgertums bedeutsam sind, so einerseits wegen der wiederholt anzutref­ fenden partnerschaftlichen Verbindung des Adels mit Vertretern des bürgerlichen Handels,43 darüber hinaus andererseits wegen der Herausbildung einer Schicht von unternehmerisch tätigen Staats- und Patrimonial-Beamten, die dann nicht selten herrschaftliche Manufakturen übernahmen und als moderne Fabriken fortführten oder sich anderweitig als bürgerliche Unternehmer selbständig machten.44 Der Aufstieg eines Teils des Wirtschaftsbürgertums vollzog sich also in engen Beziehungen zu Staat und Grundadel, was die Herausbildung eines genuin bürgerlichen Bewusstseins möglicherweise gebremst hat. Im Wiener Becken, dem Hauptzentrum der protoindustriellen Manufakturentwicklung, mischten sich die Aktivitäten des großen Adels mit denen des Staates und des eingesessenen oder zugewanderten bürgerlichen Handelskapitals.45 (Die Gruppe der eingewanderten außerständischen Vertreter der Haute Finance soll später gesondert behandelt werden.) Hierbei waren Großunternehmen in der Form der Kapitalgesellschaft und auch relativ häufiger Besitzwechsel charakteristisch.46 Daneben trat, statistisch schwer fassbar, eine große Zahl 43 In solchen Kompanien verbanden sich kaufmännische Professionalität und der Einsatz von Handelskapital mit der Bereitstellung von Anlagen, Arbeitskräften, Geldkapital und politischen Beziehungen von Seiten des Adels. Beispiele für solche Verbindungen bei Hassinger, Manufakturen [Anm. 36], S. 135 f., 162  ; ebenso Mentschl, Unternehmertypen [Anm. 38], S. 348 ff.; vgl. auch Herman Freudenberger, Frühindustrielle Unternehmertypen in Österreich, in  : Der Unternehmerbegriff, hg. v. Verein der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiete der Unternehmerbiographie und Firmengeschichte, Wien 1974 (= Veröff. des Vereins […], Heft 4), S. 30–35. 44 Beispiele bei Mentschl, Unternehmertypen des [Anm.  38], S.  347 f., und Matis (vgl. unten Anm. 58). 45 Übersicht bei Hassinger, Manufakturen [Anm. 36], S. 130–148. 46 Genannt seien die Kottonmanufaktur Schwechat, gegründet 1724 von der orientalischen Han-

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manufakturieller Kleinunternehmen in Erscheinung, bei denen neben den altgesessenen bürgerlichen Kaufleuten auch das zünftige Handwerk als Ursprung für modernes Unternehmertum stärker zu beachten sein dürfte. Es ist gewiss richtig, dass die merkantilistische und nachmerkantilistische Gewerbepolitik des Staates eine antizünftlerische Stoßrichtung hatte und dass die Zünfte den Einbruch der Manufakturen sowie die damit verbundene Zuwanderung auswärtiger Fachkräfte in die städtische Sphäre abzuwehren trachteten.47 Gleichwohl zeigen neuere Forschungen, dass die Zahl der Handwerker unter den privilegierten »Fabrikanten« der theresianisch-josefinischen Periode sehr ansehnlich war.48 delskompanie, später im Besitz eines Wiener Großhändler-Konsortiums  ; die Kottonmanufaktur Friedau bei St. Pölten, die vom Wiener Bankier Graf Fries 1752 gegründet und aufgestockt wurde (über ihn als Vertreter der Haute Finance s.u. Text mit Anm. 75 u. 76), der später als Teilhaber den Augsburger Unternehmer J.H. Schüle aufnahm  ; die 1765 in Kettenhof bei Schwechat vom mährischen Hofkanzler Graf Blümegen mit Wiener Großhändlern gegründete Baumwollmanufaktur, die später wiederum Fries als Teilhaber aufnahm  ; die von dem Wiener Kommunalbeamten Franz Xaver Lang gegründete Baumwollmanufaktur Ebreichsdorf. Wiener Großhändler unter Führung J. G. Schullers übernahmen auch die Sassiner Baumwollmanufaktur Franz Stephans, die dann in den Alleinbesitz von Schullers Stiefsohn und Erben J.B. Puthon überging  ; Puthon wiederum war Mitbegründer der Haugwitzschen Tuchmanufaktur in Namiest (Mähren). Wechselhaft waren auch die Besitzverhältnisse der Linzer Wollzeugmanufaktur, der größten österreichischen Manufaktur des 18. Jahrhunderts  : gegründet 1672 vom Linzer Ratsbürger Sinn, 1717 Übergang an das Wiener Armenhaus, 1724 an die Orientalische Kompanie, 1754 verstaatlicht  ; ebenso die Besitzverhältnisse der sog. »Nadelburg« bei Wiener Neustadt, die nach privater Gründung 1747 später verstaatlicht, in den 80er Jahren an den ungarischen Magnaten Graf Batthyani verkauft wurde. Auch die Wiener Porzellanmanufaktur und Neuhauser Spiegelfabrik waren private Gründungen und wurden dann verstaatlicht. Die enge Verflechtung von Fürstenstaat, hohem Adel, großbürgerlichen Kapitalbesitzern und Beamten-Unternehmern wird an diesen Beispielen der Großunternehmen abermals deutlich. 47 So Franz Baltzarek, der damit noch wieder die Feststellung verbindet, dass Akkumulationsmangel, schulische Barrieren und das Fehlen der wichtigen Transformationsfunktion der freien Berufe ein breites einheimisches Unternehmertum nicht aufkommen ließen. (Franz Baltzarek, Staat und Bürgertum im Zeitalter des Kameralismus und Merkantilismus im Habsburgerreich, Typoskr. [Anm. 12], S. 25 f.) 48 Hinweise auf ihre erhebliche Zahl in Wien und die quellenmäßigen und methodischen Schwierigkeiten der Erfassung der »gewachsenen« Manufakturen bei Hassinger, Manufakturen [Anm. 36], S. 115 f., 130 ff., 174 ff. Für die böhmischen Länder zeigt Klima (Domestic Industry [Anm. 36], S.  55 f.) das starke Vordringen bürgerlicher Manufakturiers aus handwerklicher und verlegerischer Wurzel im letzten Viertel des 18. Jhs. Eine Neubewertung des Beitrages des alten gewerblichen Bürgertums zur Entstehung des Wirtschaftsbürgertums ermöglichen jetzt die Forschungen Gustav Otrubas und seiner Mitarbeiter Manfred Lang und Harald Steindl für die deutschen Erb­ länder (die böhmischen Länder ausgeschlossen)  : Gustav Otruba (Hg.), Österreichische Fabriks­ privilegien vom 16. bis ins 18. Jahrhundert (=Fontes Rerum Austriacarum, Abtlg. 3, Bd. 7), WienKöln-Graz 1981. Der statistischen Auswertung der hier ermittelten Privilegierungsfälle kommt

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Die dynamischeren Vertreter des altständischen Bürgertums trugen also aus sich heraus zu seiner Erosion bei. Dies gilt vor allem für das Wiener Becken und die Gewerbelandschaften der böhmischen Länder, proportional zur allgemeinen Wirtschaftsentwicklung aber auch für die Alpenländer.49 Sehr viel besser erforscht ist der Anteil, den die Einwanderung selbständiger und unselbständiger Fachkräfte aus dem Ausland an der Industrialisierung Österreichs und an der Herausbildung seines Unternehmertums genommen hat. Diese Einwanderung konzentrierte sich wiederum vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, auf die Hauptstadt Wien und ihre Region. Einwanderung aus Regionen fortgeschrittener Fertigungstechniken, namentlich aus den Niederlanden, Frankreich und Italien für die Woll- und Seidenstofferzeugung, die Färberei und für eine Fülle von Branchen der Luxusindustrie waren seit Beginn der Neuzeit eine kontinuierlich beobachtbare Erscheinung  ;50 sie steigerte sich in der theresianischen Zeit unter den merkantilpolitischen Bedingungen der gezielten (auch illegalen) Abwerbung und Anfangssubventionierung. Die verzweigte Wiener Seidenindustrie wurde zunächst von Italienern aufgebaut, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen französische Unternehmer hinzu  ;51 ohne Zweifel ein erheblicher Indikationswert für die Genese des Unternehmertums zu (vgl. op.cit. S.  30–40). Danach verteilt sich die soziale Herkunft der Privilegierten während des gesamten Untersuchungszeitraumes für die drei wichtigsten Gruppen wie folgt  : Vor 1650

1650– 1700

1700– 1720

1720– 1740

1740– 1760

1760– 1780

Nach 1780

Summe

Adelige

1

8

Händler

-

-

12

 3

12

 3

4

43

66

11

21

 3

-

Handwerker

-

3

47

13

 2

19

16

-

53

49 Dies wird auch an der Übernahme herrschaftlicher Manufakturen durch bürgerliche, ursprünglich aus dem Handwerk stammende Unternehmer deutlich. Am prominentesten der Aufstieg der nachmalig größten Textilindustriellenfamilie, Leitenberger in Reichenberg, die von Färberei und Kattundruck ausgehend, mit dem Kauf der Bolzaschen Manufaktur Kosmanos und deren Umwandlung in eine Fabrik die maschinelle Baumwollindustrie in Böhmen begründete. In ähnlicher Weise und mit analogen Modernisierungsfolgen übernahm F. Römheld die Waldsteinsche Wollmanufaktur Oberleutensdorf. (Hassinger, Manufakturen, [Anm. 36] S. 152, 155.) 50 Herbert Matis (Der österreichische Unternehmer [Anm.  10]) unterscheidet drei Immigrationswellen  : die romanisch-flandrische Einwanderung von Gewerbetreibenden der gehobenen Textilindustrie Ende des 17. Jhs.; die gezielte Anwerbung z. Zt. der theresianischen Merkantilpolitik  ; die Einwanderung von Technikern im Zuge der ersten Mechanisierung und Maschinisierung ab 1800. 51 Hierzu materialreich die ältere ungedruckte Wiener Dissertation von Maria Leth, Westeuropäische Manufakturisten. und Fabrikanten in Wien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Diss.

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gegen Ende des Jahrhunderts übernahm die aus Hamburg eingewanderte Familie Hornbostel die Führung.52 Daneben konzentrierte sich die Anwerbung auf englische Fachkräfte der Metallbearbeitung. Daraus ist eine Reihe von Unternehmerfamilien hervorgegangen, von denen hier nur die Familie Rosthorn genannt sei, da sie später in der alpinen Eisenindustrie eine bedeutende Rolle spielte.53 Für den Aufstieg Brünns als Zentrum der Wollindustrie ist ebenfalls der wichtige Impuls bezeichnend, den die Ansiedlung einer Gruppe von Facharbei­ tern aus dem Raum Lüttich im Jahre 1764 bedeutete  ; diese waren von der Regierung zunächst zu Schulungszwecken nach Iglau geholt, dort aber von den Zunftmeistern vertrieben worden.54 Der Einwanderung ausländischer Fachkräfte ist in der Literatur gern beson­ dere Aufmerksamkeit geschenkt worden, was in der qualitativen Bedeutung der von ihr ausgehenden innovatorischen Impulse zweifellos gut begründet ist. Doch ist die Migration von wagemutigen Talenten ein durchaus allgemeines Phänomen und ihre Aufnahme keine genuin österreichische Besonderheit.55 In quantitativer Hinsicht darf der ausländische Anteil an dem entstehenden Wirtschaftsbürgertum des 18. Jahrhunderts nicht überschätzt werden. Die von Gustav Otruba ermittelten Zahlen der Fabriksprivilegien weisen für das 16. bis 18. Jahrhundert insgesamt eine Ausländerquote von etwa einem Viertel der Privilegierten aus, bei einem deutlichen Höhepunkt der Privilegierungen (von In- wie von Ausländern) in der Zeit zwischen 1740 und 1760.56 Phil. [Masch.] Wien 1933  ; für die ältere Periode auch Helene Deutsch, Die Entwicklung der Seidenindustrie in Österreich 1660–1840 (= Studien zu Sozial-, Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte, hg. v. Karl Grünberg, Heft 3), Wien 1909. Beispiele für die böhmischen Länder bei Freudenberger, Die protoindustrielle Entwicklungsphase, in  : Matis, Glückseligkeit [Anm.  16], S. 366 ff. 52 Familienportrait der Hornbostel bei Josef Mentschl u. Gustav Otruba, Österreichische Industrielle und Bankiers, Wien 1965, S. 138–144 (Otruba). Vgl. Anm. 62. 53 Gustav Otruba, Englische Fabrikanten und Maschinisten [Anm.  20]. Zu Rosthorn vgl. unten Anm. 68. 54 Dazu zuletzt Freudenberger, Brünn-Studie [Anm. 34], S. 72 f. 55 So auch Freudenberger, Die protoindustrielle Entwicklungsphase, in   : Matis, Glückseligkeit [Anm. 16], S. 375 f. 56 Otruba, österreichische Fabriksprivilegien, S. 38 ff. Demnach Herkunft nach Nationalität  : Vor 1650

1650– 1700

1700– 1720

1720– 1740

1740– 1760

1760– 1780

Nach 1780

Summe

Inländer

2

21

24

11

43

19

3

123

Ausländer

1

-

 9

8

17

 4

1

 40

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Industrialisierung  : Fabriken und Maschinen Mit der Mechanisierung, dem Maschineneinsatz zunächst auf der Basis der Wasserkraft, dann der Dampfkraft begann der Prozess der Industrialisierung im eigentlichen Sinne. Er setzte um 1800 im Bereich der Baumwollspinnerei ein, entfaltet sich im Schutz des napoleonischen kontinentalen Systems und ergriff – nach Überwindung der schweren Konjunktureinbrüche des Nachkriegsjahrzehnts – weitere Teile der Textilindustrie, zog das Entstehen einer Maschinenbauindustrie nach sich, drang auch in die Hüttenindustrie ein und leitete mit den ersten Eisenbahnbauten des Vormärz den Durchbruch des industriellen Systems ein.57 Ein Teil der Groß-Manufakturen des 18. Jahrhunderts samt dem angeschlossenen Heimarbeitssystem fand mit dem Aufkommen der Fabriken sein Ende, ebenso geriet die traditionelle Leinenindustrie und ihre Verlagsorganisation in eine Dauerdepression, die ihren Untergang einleitete. Der andere Teil der Groß-Manufakturen wurde in Fabriken umgewandelt, sei es, dass die bisherigen Besitzer allein oder in Gesellschaftsform die dazu erforderlichen Investitionsmittel aufbrachten, sei es im Zusammenhang mit dem Übergang der Unternehmen an bürgerliche Fabrikanten. Diese rekrutierten sich aus der Schicht der Verleger und wesentlich auch der manufakturiellen Werkmeister und Techniker mit handwerklichem Hintergrund. Daneben standen Neugründungen aus demselben sozialen Umfeld. Ein Großteil der Kleinmanufakturen v. a. Wiens und des Wiener Beckens lebte unter partieller Mechanisierung noch Jahrzehnte weiter.58 57 Vgl. die in Anm.  8 genannte Lit. Die Bedeutung der 20er Jahre als Beginn der Industrialisierung wird betont von Komlos, HabsbMon. als Zollunion [Anm.  8], Kap. 3  ; für Böhmen von Jaroslav Purš, The Industrial Revolution in the Czech Lands, in  : Historica 2 (1960), S. 183–303. Die Industrialisierung ab dem Ende des 18. Jhs. mit Betonung des Epochenjahres 1781 (Aufhebung der Hörigkeit) zeigt auf  : Arnošt Klima, Industrial Growth and Entrepreneurship [Anm. 13]. Als Materialsammlung und Auflistung von Unternehmen grundlegend Slokar, Österr. Industrie [Anm. 28], 2. Buch  ; zahlreiche Rückbezüge auf die Restaurations- und Vormärzzeit ferner in dem Jubiläumswerk  : Die Großindustrie Österreichs. Festgabe zum glorreichen 50jährigen Regierungsjubiläum Sr. M. des Kaisers Franz Josef I., 5 Bde., Wien 1898. 58 Zu den Schicksalen der großen Manufakturen vgl. die zahlreichen Einzelangaben bei Hassinger  ; Manufakturen [Anm. 36]  ; zur Statistik nach 1800 ebendort s. 174 ff. Zur Manufaktur als Schule für künftige bürgerliche Unternehmer Herbert Matis, Über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse österreichischer Fabrik- und Manufakturarbeiter um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in  : VSWG 53 (1966), S.  433–476  ; eine Fülle von Einzelnennungen auch bei Gustav Otruba, Österreichs Industrie und Arbeiterschaft im Übergang von der Manufaktur- zur Fabrikaturepoche (1790–1848), in  : Österreich in Geschichte und Literatur 15 (1971), S. 569–604  ; für die böhm. Länder ausführlich Klima, Industrial Growth and Entrepreneurship [Anm. 13], passim.

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Mit dem Bezug der erforderlichen maschinellen Ausrüstung zumeist aus England ging von Anfang an die Einwanderung ausländischer Fachleute einher  ; es kam zu einem neuerlichen Immigrationschub unternehmerischen Potentials.59 Der Engländer John Thornton aus Manchester errichtete 1801 als Beauftragter einer Kapitalgesellschaft in Pottendorf /Niederösterreich die seinerzeit größte Baumwollspinnerei des Kontinents und begründete bald darauf auf eigene Rechnung mehrere weitere Spinnereien.60 Die Schweizer Bankiersfamilie Fries61 vollzog ebenso wie die schon erwähnten Hornbostel62 den Ü ­ bergang zur Fabrikindustrie. Die ursprünglich schottische Familie Skene gründete Wolltuchfabriken und bekam das Militärmonturwesen in die Hand  ;63 die im Baumwollgeschäft tätigen Coith stammten aus Sachsen  ;64 zu den beiden bedeutends59 Vgl. Anm. 50. Beispiele auch bei Matis, in  : VSWG 53 [Anm. 58], S. 447 ff. 60 Die Gründung der Spinnerei Pottendorf stand unter der Führung der Kommerzial-, Leih- und Wechselbank Wien (dazu unten Anm. 84), in deren Auftrag 1801 der englische Spinn- und Maschinenmeister J. Thornton angeworben und zugleich eine größere Anzahl von Spinnmaschinen importiert wurden. Unabhängig hiervon hatten böhmische Industrielle, allen voran J. Leitenberger, bereits zuvor mechanische Baumwollspinnereien für den Eigenbedarf der Tuchherstellung eingerichtet und die nötigen Maschinen am Ort selbst konstruieren lassen. (vgl. Anm. 67.) Die Pottendorfer Spinnerei war die erste, die die Massenproduktion für den Markt aufnahm. Thornton selbst und seine Nachkommen gründeten in den nächsten Jahrzehnten vier weitere Baumwollspinnereien im Wiener Raum. (Zu den Vorgängen Slokar, Österr. Industrie [Anm. 28], S. 183 ff., 280–286 passim). 61 Vgl. unten Anm. 76. 62 Vgl. oben Anm. 52. Der erste Vertreter, Cornelius C.G. Hornbostel, Sohn eines Hamburger Geistlichen, wird von dem ebenfalls aus Hamburg stammenden Seidenfabrikanten E. König 1768 als Betriebsleiter nach Wien geholt, übernimmt den Betrieb nach dem Tode Königs und macht ihn zur größten Seidenmanufaktur Wiens. 1772 Nobilitierung. Sohn Christian G. (1778–1841) tritt nach Studienreisen in Italien, Frankreich (v. a. Lyon) u. Deutschland in den Betrieb ein und stellt ihn ab 1811 auf mechanischen Fabrikbetrieb um, Auslagerung nach Leobersdorf. Enkel Theodor F. (1815–88)  : Studium der Mechanik am polytechn. Institut, Studienreisen nach Frankreich, Deutschland, Betriebsübernahme 1841. Der erste bedeutende bürgerliche Wirtschaftspolitiker Wiens  : führende Rolle im Nö. Gewerbeverein und in der kommunalen 48er Bewegung, Handelsminister 1848, Mitglied des Kremsierer Reichstages, im Neoabsolutismus Handelskammerpräsident, Wiener Gemeinderatsmitglied, Gründer der Wiener Handelsakademie, Kirchenvorstand der evangelischen Gemeinde Wiens, Mitbegründer der Nö. Escompte-Gesellschaft, dann der Credit-­ Anstalt, seit 1861 in der Direktion der CA, in mehreren Aufsichtsräten von Eisenbahnen und Industriegesellschaften. 63 Als Textilunternehmer Übersiedelung aus Belgien nach Mähren um 1830  ; Gründung von Feintuchfabriken in Eibenschütz und Brünn. Handelskammer-, Kommunal- und Abgeordnetentätigkeit. Ab 1870 Monturserzeugung in Wien, Investition in Zuckerfabriken. (Rudolf Granichstaedten-Cerva, Josef Mentschl, Gustav Otruba, Altösterreichische Unternehmer, Wien 1969, S. 116 f.) 64 Chr. H. Edler v. Coith, Einwanderung aus Sachsen, Großhändler, 1820 Gründung einer Baum-

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ten nordböhmischen Industriellenfamilien Liebig und Leitenberger trat der Breslauer Lindheim.65 Eine der bekanntesten Industriellenfamilien der FranzJoseph-Zeit, die Schoeller, transferierten ihr Vermögen 1819 von Düren nach Österreich und begründeten die größten Wolltuchfabriken Brünns  ; die Standortverlagerung sollte den Absatz in Oberitalien – nach dessen Einbeziehung in das österreichische Prohibitivsystem – weiterhin sichern.66 Im Umkreis der mechanisierten Textilindustrie entwickelte sich zur Importsubstitution bald ein einheimischer Maschinenbau, der anfänglich ebenfalls sehr stark von englischen Fachkräften und dann auch von englischen Unternehmern getragen wurde.67 Sehr viel zäher ließ sich die Modernisierung der Hüttenindustrie im Alpengebiet an, bedingt durch die Standortprobleme – vor allem den Steinkohlenmangel  – und das (notgedrungene) Festhalten an Holzkohlenverhüttung und Frischen an. Hier waren es Mitglieder der schon genannten englischen Familie Rosthorn, die (auf Braunkohlebasis) die erste Anlage von Puddelöfen und Walzwerken errichteten. Heimische Unternehmer nahmen diese Modernisierungsimpulse rasch auf.68 wollspinnerei in Fahrafeld (Raum Wien), Mitbegründer des Nö. Gewerbevereins, dort führende Stellung. (Slokar, Österr. Industrie [Anm. 28], S. 283, 286, 321 f.) 65 Baumwollhandel 1825, Spinnerei in der Grafschaft Glatz (Preuß. Schlesien). 1839 Gründung einer Baumwollspinnerei im Kreis Königgrätz. In den 40er Jahren Übergang zu Eisenerzeugung (Kauf der Josephihütte, Kreis Pilsen), Einrichtung von Walzstraßen, Schienenerzeugung, in den 50er Jahren Eisenwerke auch in Preuß. Schlesien, Mitbegründung der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft und verschiedener Bahngesellschaften. Heinrich Benedikt, Die wirtschaftliche Entwicklung in der Franz-Joseph-Zeit, Wien-München 1958, S. 38 f. 66 Auch in dieser Familie wurde die Sphäre der Textilindustrie schon im Vormärz überschritten. Alexander (1862  : von) Schoeller übernahm um1830 die kaufmännische Vertretung der Brünner Fabriken in Wien, begründete eine Großhandelsfirma für allg. Waren- und Effektenhandel  ; gründete 1843 zusammen mit Krupp die Berndorfer Metallwarenfabrik  ; ab den 50er Jahren folgten Gütererwerb und Anlage von Zuckerfabriken, Mühlen, Brauereien und (zusammen mit dem aus Solingen eingewanderten Bleckmann) weiteren Eisen- und Stahlwerken in Form von Kapitalgesellschaften.(Mentschl u. Otruba, Österreichische Industrielle [Anm. 52], S. 96 ff.) 67 Übersicht bei Slokar, Österr. Industrie [Anm.  28], S.  609–623  ; ferner das Jubiläumswerk Die Großindustrie Österreichs [Anm. 57], Bd. 3. Arnošt Klima, The Beginning of the Machine-Building Industry in the Czech Lands in the First Half of the 19th Century. A Study of the Influence of the English Industrial Revolution on the Continent, in  : JournEurop EconHist. 4 (1957), S. 49– 78. Hier detaillierte Schilderung der Entwicklungsstufen  : Maschinenimport, Blaupausenschmuggel, Anwerbung englischer Fachkräfte durch die führenden Textilindustriellen in Nordböhmen und Brünn, Schulung heimischer Fachkräfte und Etablierung selbständiger Maschinenfabriken. Ferner zahlreiche Nennungen und Beschreibungen bei Klima, Industrial Growth and Entrepreneurship [Anm. 13], S. 553–573 passim. 68 Matthäus Rosthorn (1721–1805) gehörte zu den unter Maria Theresia angeworbenen englischen

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In Böhmen und Mähren, wo Erz und Kohle bei schlechteren Erzqualitäten günstiger zugeordnet waren, knüpfte sich die Einführung dieser modernen Verfahren an die Übernahme von Witkowitz durch das Haus Rothschild.69 All diese Gründungen standen mit dem beginnenden Eisenbahnbau in Zusammenhang, der auch der Geburtshelfer bedeutsamer Maschinenbauunternehmen70 wurde, Metallfabrikanten (Nobilitierung 1769). Seine Söhne (Matthäus, August, Franz) kauften 1826 Kärntner Kameralherrschaften mit dazugehörigen Montanwerken und Braunkohlegruben und übertrugen ab 1832 das Puddel-Verfahren nach Österreich. Die Puddelöfen und Walzstraßen zu Prävali (1836) konzentrierten sich vor allem auf die Eisenbahnschienenerzeugung. Die größten einheimischen Eisenerzeuger Kärntens, Dickmann, Rauscher und Grafen Egger, verharrten bei den herkömmlichen Techniken, wobei Egger bereits um die Jahrhundertwende Blechwalzwerke entwickelten. In der Steiermark gab Eh. Johann schon in den 20er und 30er Jahren Modernisierungsimpulse, die sich neben technischen Fragen vor allem auf besitzrechtliche und betriebliche Straffung und Verbesserung der genossenschaftsähnlich arbeitenden und inzwischen rückständigen Vordernberger Radmeisterkommunität bezogen. Eh. Johann war, wenngleich Anteilseigner, nicht eigentlich Unternehmer, sondern quasi-obrigkeitlicher Förderer und Landesentwickler. (Über Eh. Johann zuletzt die Kurzbeiträge in dem Ausstellungs-Begleitband Grete Klingenstein (Hg.), Erzherzog Johann von Österreich. Beiträge zur Geschichte seiner Zeit, Graz 1982  ; darin A. Weiß, H.J. Köstler u. O. Pickl, mit Lit.) Der Hauptträger des steirischen Eisenerzbergbaus, die Innerberger Hauptgewerkschaft, war staatlich. Unter diesen Rahmenbedingungen begann in der eisenverarbeitenden Industrie der Steiermark modernisierendes Unternehmertum mit der Familie Mayr (-Mellnhof, nobilitiert 1859/1872). Nach Ausbildung in England experimentierte Franz Mayr junior in Zusammenarbeit mit dem Maschinenbauer John Haswell (vgl. Anm. 70) mit dem Puddel-Verfahren, das 1837 auf der familieneigenen Franzenshütte zu Donawitz eingeführt wurde  ; in der Folge Ausbau der Walzstraßen und starke Expansion. (1872 Rückzug der Familie aus der Montanindustrie auf Guts- und Forstbesitz.) Daneben der einheimische Montanunternehmer Josef Seßler, der 1838 auf Braunkohlenbasis in Kriglach/Mürztal Walzstraßen baute. Großgrundbesitz und Nobilitierung. Der dritte modernisierende Großunternehmer der Steiermark, der noch für die Vormärzzeit zu nennen ist, der oberschlesische Industriemagnat Hugo Graf Henckel-Donnersmarck, erwarb 1846 die Montanherrschaften Wolfsberg und St. Leonhard. Der Aufbau moderner Produktionsanlagen (Hütte Zeltweg mit Puddel- und Walzwerken) begann 1851/52. Vgl. die Schilderungen und Auflistungen bei Slokar, Österr. Industrie [Anm. 28], S. 467–487. Zur Familie Rosthorn vgl. auch Granichstaedten-Cerva, Mentschl, Otruba, Altösterreichische Unternehmer [Anm.  63], S.  98 ff. Steirische Unternehmerportraits bei Ferdinand Tremel (Hg.), Steirische Unternehmer des 19. und 20. Jahrhunderts, Graz 1965  ; zur Gesamtentwicklung ders., Die Rolle des Unternehmers in der industriellen Revolution am Beispiel der Steiermark, in  : Tradition 15 (1970), S. 67- 83.) 69 Das Eisenwerk Witkowitz war im Besitz des Erzbistums Olmütz, wurde zunächst von Rothschild und Geymüller gepachtet und ging dann in den Besitz von Rothschild über. Die Modernisierungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Schienenerzeugung (erster Kokshochofen der Monarchie, Puddelöfen und Walzwerke) wurden ebenfalls von englischen Fachkräften bewerkstelligt. (Klima, Beginning of Machine-Building Industry [Anm. 67] S. 69. Zu Witkowitz Hundert Jahre Eisenwerk Witkowitz, 1828–1928, Witkowitz 1928. 70 So die Lokomotivfabrik der Wien-Raaber Eisenbahngesellschaft (1840), ebenfalls unter der Lei-

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und dessen Probleme sogleich zu erörtern sind. – Die Namensliste eingewanderter Unternehmerfamilien ließe sich im textilen Bereich wie in zahlreichen anderen Branchen noch erheblich verlängern. Der quantitative Anteil der Zugewanderten an der vormärzlichen Unternehmerschaft Österreichs ist bei dem gegenwärtigen Stand der Forschung nicht genau zu bestimmen  ; seine Ermittlung bietet auch insofern methodische Schwierigkeiten, als Unternehmen unterschiedlichster Größe schwerlich addiert werden können. Nimmt man die von Johann Slokar zusammengetragenen Betriebslisten als groben Anhaltspunkt, so ergibt sich, dass die Zuwanderung in der textilindustriellen Unternehmerschaft der böhmischen Länder eine kleine Minderheit ausmacht. Für Wien und das Wiener Becken liegt dieser Anteil im Bereich der Textilindustrie deutlich höher bei etwa einem Drittel. Komplementär dazu wurde der Maschinenbau in den Gewerbezentren Böhmens, Mährens und Niederösterreichs überwiegend, nämlich zu fast zwei Dritteln, von Unternehmern getragen, die aus England und dem außerösterreichischen Deutschland, vereinzelt auch aus den beiden Niederlanden und dem Elsass eingewandert waren.71 Dieser Befund deutet zugleich darauf hin, dass die qualitative Bedeutung der Einwanderung für die österreichische Industrialisierung zweifellos über den numerischen Aspekt hinausgeht, wenngleich sie schwer messbar bleibt. Sie liegt in der Übertragung des technischen und unternehmerischen Wissens aus tendenziell fortgeschrittenen in relativ dahinter zurückstehenden Wirtschaftsregionen, sodann in dem Wirksamwerden jener spezifischen Dynamik des Verhaltens, die sozialpsychologisch aus der Einwanderungssituation als solcher erwächst. Dies ist eine allgemeine, im Horizont der »economic backwardness« deutbare Erscheinung im Industrialisierungsprozess, die sich mehr oder minder ausgeprägt allerorten im Rahmen des generellen europäischen West-Ost-Gefälles beobachten lässt. Von der Existenz ausgeprägter Unternehmereinwanderung auf ein Defizit autochthoner unternehmerischer Kapazität in Österreich zu schließen, wie dies gelegentlich geschieht,72 ist kaum zulässig. tung eines Engländers, John Haswell  ; im selben Jahr die Maschinenfabrik der Wien–Gloggnitzer Eisenbahngesellschaft mit englischer Werkzeugmaschinenausrüstung  ; ferner die Werkstätte der Nordbahn, die Lokomotiv- und Dampfmaschinenfabrik Prävenhueber, Günther & Armbruster in Wr.-Neustadt (1840) und die Lokomotivfabrik des Amerikaners William Norris in Wien (1851 Übergang an den Niederösterreicher Georg Sigl, seit 1832 Fabrikant von Schnellpressen). Slokar, Österr. Industrie [Anm. 28], S. 617 ff. 71 Slokar, Österr. Industrie [Anm. 28], S. 279–358 passim, 394–407, 609–623. Die aktenmäßige Erhebung aller Fabrikprivilegien-Erteilungen zwischen 1800 und 1848 und ihre personengeschichtliche und statistische Auswertung ist ein Desiderat. 72 Rothschild, Wurzeln und Triebkräfte [Anm.  8], S.  28–51 passim. Weitere Beispiele bei Matis, Österreichs Wirtschaft [Anm. 5], S. 64 ff.

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Haute Finance und Industrialisierung Im Rahmen der Frühgeschichte des österreichischen Wirtschaftsbürgertums ist schließlich nach der Rolle der Haute Finance zu fragen, einer Unternehmergruppe, die wir als relativ isoliertes Phänomen bislang aus unserer Analyse weitgehend ausgeschlossen haben. Sie bildeten innerhalb des 1774 obrigkeitlich reorganisierten »Gremiums der Großhandlungshäuser«73 diejenige Gruppe besonders vermögender Handels- und Wechselhäuser, die das Staatsgeschäft in der Hand hatten. Nach der Periode der frühen jüdischen Hoffaktoren, der Oppenheimer und Wertheimer,74 war im späteren 18.  Jahrhundert in Wien eine calvinistische Schweizer Gruppe von Bankiers hochgekommen, die ihr Vermögen v. a. durch Heereslieferungsgeschäfte und in Kreditgeschäften mit dem Staat und dem hohen Adel vermehrt hatten. Die bedeutendsten Familien, die Fries, Geymüller und Steiner, ragten in das 19. Jahrhundert hinein, sie gingen in der Restaurationszeit aus einer Reihe von Gründen, unter denen exorbitanter Statuskonsum eine erhebliche Rolle spielte, in Konkurs.75 Der Anteil der Fries und Geymüller an der österreichischen Manufaktur- und Fabrikenentwicklung sowie am Warenhandel war durchaus bedeutsam,76 doch blieben diese Engagements eher ein Nebeninteresse neben den zentralen Finanztransaktionen für den Staat als Hauptquelle der Vermögensbildung. Früher Übergang zu Großgrundbesitz, Vermögens- und Einkommensdiversifikation, Staatsdienst und Hofnähe mit der Tendenz zur geschäftlichen Risikominderung, ›Feudalisierung‹ des Lebensstils rücken diese Familien typologisch eher an den Hofadel als an das Wirtschafts73 Přibram, Geschichte der österreichischen Gewerbepolitik [Anm. 19], S. 239–242. 74 Zu den österreichischen Hoffaktoren Heinrich Schnee, Hoffinanz [Anm. 6], Bd. 3, S. 231–249. 75 Hanns Leo Mikoletzky, Schweizer Händler und Bankiers in Österreich vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in  : Österreich und Europa. Festgabe für Hugo Hantsch, Graz-Wien-Köln 1965, S. 149–181. Zu Fries und Geymüller vgl. Mentschl u. Otruba, österreichische Industrielle [Anm. 52], S. 39–46, 51–57 (mit Lit.)  ; ferner Herbert Matis, Die Grafen von Fries. Aufstieg und Untergang einer Unternehmerfamilie, in  : Tradition 12 (1967), S. 484–496. 76 Johann Fries gründete ab 1751 auf der Basis einer Mehrzahl von Privilegien in und um Wien Wolltuch-, Seiden- und Metallfabriken und engagierte sich im österreichischen Orienthandel. (Für den Staat besorgte er – neben Subsidientransfer, Kriegsfinanzierung und Auflegung von Anleihen – über längere Zeit den levantinischen Münzexport und den Bergwerksproduktenvertrieb.) Seine Witwe beteiligte sich darüber hinaus an der Gründung von Zuckerraffinerien, weiteren Seiden- und Baumwollmanufakturen. Der Sohn Moritz – im wesentlichen Kunstsammler und Mäzen – beteiligte sich an der Einführung der mechanischen Baumwollspinnerei durch verschiedene Fabrikengründungen. Geymüller gründete 1833 unter Verwendung englischer und sächsischer Fachkräfte und Maschinen die Kammgarnspinnerei Vöslau und beteiligte sich am Ausbau der Rothschildschen Eisenwerke zu Witkowitz.

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bürgertum heran, wie dies in der Erhebung der Fries in den Grafenstand auch seinen Ausdruck findet. Das Erbe der Schweizer Bankiers traten die jüdischen Häuser Arnstein & Eskeles77 und dann vor allem Rothschild78 an  ; daneben gelang dem nach Herkunft griechischen Großhändler Sina,79 der das Tabakliefergeschäft monopolisiert hatte, eine erhebliche Reichtumsbildung. Einige minder reiche jüdische Wechselhäuser runden diese Gruppe ab, die rasch vollständig von Rothschild dominiert wurde. Sie alle waren so gut wie ausschließlich auf die Geschäfte mit dem Staat fixiert und machten den ständigen Anleihebedarf neben der Vermitt­ lung des staatlichen Zahlungsverkehrs zur entscheidenden Quelle ihrer Gewinne. Daneben spielte die Vermittlung von Anleihen an große Adelshäuser eine Rolle.80 Der Handel mit den Staatspapieren und den zuletzt genannten Privatobligationen bestimmte den Kurszettel der Wiener Börse. Dieselbe Gruppe beherrschte direkt oder indirekt die 1816 als Aktiengesellschaft mit dem Exklu77 Die jüdischen Großhändler und Bankiers Arnstein waren seit 1705 in Wien ansässig, nobilitiert 1783/1793. Familie fortgeführt durch Einheirat u. Adoption Heinrich v. Pereiras (portugiesisch-jüdische Familie, durch Karl VI. nach Wien). Bernhard Eskeles (1753–1839, Sohn eines Wiener Rabbiners, nobilitiert 1797/1810/1822) begann seine geschäftliche Tätigkeit in Amsterdam. 1774 Firmengründung Arnstein & Eskeles. Kriegsfinanzierung, v. a. 1805, 1809  ; Beteiligung an der Nationalbankgründung und enge Verbindung. Übernahme von Anleihesubmissionen. Im Vormärz Baumwollspinnfabrik in Böhmen, Zuckerraffinerien in Graz und Laibach  ; dann Engagement im privaten Eisenbahnbau der 40er Jahre, sowie ab1854 (Reprivatisierung) als Exponent der Gruppe Credit Mobilier. Heinrich Schnee, Hoffinanz [Anm. 6], Bd. 4, S. 328–333  ; Georg Franz, Liberalismus. Die deutsch-liberale Bewegung in der Habsburgischen Monarchie, München 1955, S. 199 f.; Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 27], Bd. 1, S. 119 ff., 310 f., 322, 341–345 passim, 356. 78 Zu den Anfängen des Hauses Rothschild in Wien Bertrand Gille, Histoire de la Maison Roth­ schild, Bd.  1  : Des origines a 1848, Genf 1965, S.  84–103. Überblick über die (in aller Regel nobilitierten) jüdischen Familien aus Finanz und Banken bei Franz, Liberalismus [Anm.  77], S. 198–205. 79 Griechische Familie, Einwanderung aus Bosnien um 1780, Nobilitierung 1818/1832. Orienthandel, Tabaklieferungsgeschäft im Rahmen des staatl. Tabakmonopols, Finanzgeschäfte v. a. in Ungarn, staatl. Anleihegeschäft, Nationalbankleitung. Ausgedehnter Gütererwerb, Eisenbahnkonzessionen und -bau Ende 30er/40er Jahre. Mit Reprivatisierung der Eisenbahnen ab 1854 erneutes Engagement als Exponent der Gruppe Credit Mobilier. (Franz, Liberalismus [Anm. 77], 155–161 passim  ; Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 27], Bd. 1, S. 119 f., 310 f., 316 f., 341–345). 80 Zu den Adelsanleihen Alois Brusatti, Unternehmensfinanzierung und Privatkredit im österreichischen Vormärz, in  : MÖSTA 13 (1960), S. 331–379, S. 342 ff.; ähnlich ders., Das Problem der Unternehmensfinanzierung in der Habsburger Monarchie 1815–1848, in  : Hermann Kellenbenz (Hg.), öffentliche Finanzen und privates Kapital im späten Mittelalter und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1971, S.129–139. Zum Staatsgeschäft der Haute Finance Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 27], Bd. 1, S. 119–121.

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sivprivileg der Notenemission gegründete Österreichische Nationalbank. Auch das Darlehens- und Wechseldiskont- bzw. -rediskontgeschäft dieser Bank war so gut wie ausschließlich im Umfeld der staatlichen Kreditbedürfnisse angesiedelt.81 Für die Aktionäre war diese Banktätigkeit eine Quelle beachtlicher und relativ risikoarmer Gewinne. Schon im Vormärz unterlagen die hieraus resultierenden Währungs- und Kreditverhältnisse heftiger Kritik, die durchaus einen gewerblichen und agrarwirtschaftlichen Interessenshintergrund hatte.82 So wie die Regierung jahrzehntelang Gesuche des Grundadels auf Errichtung provinzieller Hypothekarkreditanstalten verschleppte, so weigerte sie sich beharrlich, Diskontanstalten zu genehmigen oder die Nationalbank zur Eröffnung von Filialen zu zwingen. Für dieses Verhalten waren gegenüber dem Provinzadel politische, im Übrigen fiskalische, am Interesse der staatlichen Kreditbedürfnisse orientierte Motive ausschlaggebend. In dieser Linie traf sich das staatliche Verhalten mit dem Interesse der Bankdirektion und der Aktionäre, die kein Bedürfnis nach einer Geschäftsausdehnung in das risikoreichere Feld der gewerblichen Wirtschaft verspürten.83 Ob und wieweit die Absorption des Kredits durch die Staatsbedürfnisse und die ursprüngliche Industrieferne der großen Wechselhäuser die gewerbliche Entwicklung Österreichs gebremst haben, ist selbstverständlich nicht exakt zu beantworten. Die Bedeutung der Fremdfinanzierung von Unternehmensgründungen durch Darlehen, die auch in Österreich durchaus nicht fehlte,84 ist im deutschen Bereich in Restaurations- und Vormärzzeit ganz allgemein nicht hoch zu veranschlagen  ;85 auch für Österreich dürfte gelten, dass 81 Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 27], Bd. 1, S. 108–114. 82 Albrecht Tebeldi [d.i. Karl Beidtel], Die Geldangelegenheiten Österreichs, Leipzig 1847  ; [anonym], Soziale und politische Zustände Oesterreichs mit besonderer Beziehung auf den Pauperismus, Leipzig 1847, S. 164  ; [Carl Moering], Sibyllinische Bücher aus Österreich, 2 Bde., Hamburg 1848, Bd. 1, S. 134 f. In den Revolutionsjahren dann eine Fülle kritischer Broschürenliteratur. Vgl. Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 27], Bd. 1, S. 327, 329 ff. 83 Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 27], Bd. 1, S. 32 f., 326–336 passim. 84 Dabei ist von den Subventionen und Aerarialvorschüssen der theresianischen Epoche der Industrieförderung abzusehen  ; diese Praxis wurde seit Josef  II. fast gänzlich abgeschafft. Stattdessen wurde dem Wiener Stadtbanco, der vornehmlich für den staatlichen Finanzbedarf tätig war, 1787 eine »Wiener Commercial-, Leih- und Wechselbank« als Abteilung angegliedert, die bis 1811 bestand. Über ihre Tätigkeit in der Finanzierung von Fabrikgründungen vgl. Slokar, Österr. Industrie [Anm. 28], S. 183 f., 280 (z. B. Baumwoll-Spinnerei Pottendorf ). Bei der Entwicklung der Brünner Textilindustrie im 18. Jh. spielte die 1751 gegründete Mährische Leihbank eine bedeutende Rolle (vgl. Freudenberger, Brünn-Studie [Anm. 34], S. 65 ff.). Sparkassen und Waisenfonds waren auf mündelsichere Anlagen beschränkt, was den gewerblichen Kredit im allgemeinen ausschloss. Zum Ganzen Brusatti in  : MÖSTA 13 [Anm. 80], S. 331–379. 85 In diesem Sinne zuerst Knut Borchardt, Zur Frage des Kapitalmangels in der ersten Hälfte des

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Eigenmittel, Familienbesitz bzw. Familiendarlehen und Selbstfinanzierung die größte Rolle bei Aufbau und Expansion der frühen Industrie gespielt haben.86 Nimmt man die entsprechenden Klagen zum Maßstab, so dürfte eher ein Mangel an Wechseldiskontmöglichkeiten und seiner Stützung durch zentralbankmäßigen Rediskont das Fortschreiten der verkehrswirtschaftlichen Integration verzögert haben. Erst im nachfolgenden Neoabsolutismus wurden die entsprechenden Institutionen geschaffen.87 Dennoch erfolgte schon im Vormärz auf andere Weise eine bedeutsame Weichenstellung, mit der die Privatbanken an den Industrialisierungsprozess herangeführt wurden. Dies geschah mit dem Eisenbahnbau, dessen Anfänge privatunternehmerisch auf effektenkapitalistischer Basis organisiert wurden. Rothschild musste anfänglich durchaus zu einem Engagement gedrängt werden  ; der Erfolg der unter Rothschilds Patronage stehenden Nordbahngründung veranlasste die Häuser Arnstein & Eskeles und Sina dann jedoch, sich über Gesellschaftsgründungen die übrigen von Wien ausgehenden Hauptstrecken zu sichern. Mit dem Eisenbahnbau wurde die Aktiengesellschaft als Unternehmens- und Anlageform und der spekulative Börsenhandel in Bahnwerten mit einem breiteren Publikum zum ersten Mal in Österreich populär.88 Freilich erwiesen die nächsten Spekulationskrisen sogleich die Begrenztheit des österreichischen Kapitalmarktes. Die Stagnation des Bahnbaus veranlasste die Staatsverwaltung in den 40er Jahren, zum System der Staatsbahnen überzugehen, Strecken-Torsi aufzukaufen und eine Finanzierung im Rahmen der gewohnten Staatsanleihen zu versuchen. Dieses Experiment scheiterte nach einem weiteren Jahrzehnt jedoch ebenfalls aufgrund der revolutions- und kriegsbedingten Finanzmisere.89 19. Jahrhunderts in Deutschland, in  : Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 173 (1961), S. 401–421  ; Ernst Klein, Zur Frage der Industriefinanzierung im frühen 19. Jahrhundert, in  : Kellenbenz (Hg.) [Anm. 80], S. 118–128  ; Karl Heinrich Kaufhold, Handwerk und Industrie 1800– 1850, in  : Hermann Aubin u. Wolfgang Zorn (Hgg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 2 Bde., Stuttgart 1971, 1976, Bd. 2, S. 343 f. 86 Brusatti, Probleme der Unternehmensfinanzierung in  : Kellenbenz (Hg.) [Anm. 80], S. 132 ff. 87 Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 27], Bd. 1, S. 326–351  ; Matis, Österreichs Wirtschaft [Anm. 5], S. 109–118  ; Eduard März, österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs I. Am Beispiel der k.k.priv. österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe, Wien 1968. 88 Brusatti, Unternehmensfinanzierung und Privatkredit [Anm.  80], S.  362–368  : Daneben auch Seeversicherungen und die Schiffahrtsgesellschaft des österreichischen Lloyd (letztere ebenfalls wesentlich von Rothschild finanziert). 89 Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 27], Bd. 1, S. 132 ff., 315–326, 351–378. Guter Überblick über die ersten Eisenbahnperioden bei Hermann Strach, Geschichte der Eisenbahnen Österreich-Un-

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Nun erst erfolgte – unter dem Vorzeichen des politischen Neoabsolutismus – auf breiterer Front der Durchbruch zum Industrialismus, der jetzt ganz wesentlich auf dem Kapitaltransfer aus dem westlichen Ausland beruhte und durch Neugründung von Banken, Verkehrs- und Montangesellschaften vermittelt wurde. Dieser Prozess führte den schon bekannten Unternehmergruppen weitere Schübe ausländischer Financiers, Manager und Techniker zu.90 Der Hinweis auf die neoabsolutistische Gründerzeit zeigt, dass die erste Jahrhunderthälfte in Bezug auf unser Thema kaum als geschlossene Periode betrachtet werden kann, sondern eine Vorbereitungsphase darstellt, die vor allem Ansätze von später zur Entfaltung gelangenden Entwicklungen, aber auch einige strukturbildende Weichenstellungen enthält. Dies letztere gilt für die staatlichen Rahmenbedingungen, für einige Elemente der ökonomisch-sozialen Mentalität und für die Zusammensetzung der Unternehmerschicht. Von der Herausbildung eines Wirtschaftsbürgertums kann man erst in Ansätzen sprechen. Einmal war die Zahl der Unternehmer gegenüber der Masse der zünftigen Handwerksmeister noch verschwindend gering  ; dies trifft übrigens auch für den textilen Bereich zu. Vor allem aber war die Unternehmerschaft nicht nur nach der Herkunft, sondern auch nach dem weiterhin behaupteten Sozialstatus sehr heterogen zusammengesetzt. Schon hierdurch wurde die Ausbildung eines genuin unternehmerischen Gesamtbewusstseins im wirtschaftsbürgerlichen Sinne auf Dauer gebremst. Hinzu kommt, dass die Industrialisierung, an der Adelige in ansehnlicher Zahl selbst beteiligt waren, in einem politisch-sozialen Umfeld von Statten ging, das sehr stark von altadeliger Lebensweise und adelig-höfisch geprägter Residenzkultur geprägt war. Sie und die staatlichen Vorgaben bürokratischer Lenkung bestimmten die Integrationsmuster für eine bürgerliche Unternehmerschicht, deren Aufstieg keine sozial-kulturelle Gegenwelt produzierte, sondern sich als Teilhabe und Anpassung vollzog.91 Ohne hieraus einen überstrapazierten Gegensatz zu anderen europäischen Gesellschaften konstruieren zu wollen, wird man doch sagen, dass die hieraus erwachsenden mentalen Eigenarten das österreichische Wirtschaftsbürgertum stärker bestimmt haben, in Wien gewiss mehr als in Nordböhmen oder Vorarlberg. Aber diese Randzonen sind, fragt man nach den garns. Von den ersten Anfängen bis zum Jahre 1867, in  : Geschichte der Eisenbahnen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, 4 Bde. in 5, Wien-Teschen-Leipzig 1898–99, Bd. 1,1, S. 73–503. 90 Benedikt, Wirtschaftliche Entwicklung [Anm. 65], S. 23–26, 34–50 passim. 91 Vgl. jetzt auch das gleichlautende Urteil bei Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, Zur Geschichte des Bürgertums in Österreich, in  : Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Deutschland im europäischen Vergleich [Anm. 1], Bd. 1, S. 160–192.

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Chancen einer bürgerlichen Gegenkultur, mit dem preußischen Rheinland der Zeit des Frühliberalismus in keiner Weise zu vergleichen. Das beschriebene Integrationsmuster erfasste freilich nicht das später aufsteigende čechische Wirtschaftsbürgertum  ; doch der hiermit verbundene Polarisierungsprozess gehört erst den letzten Jahrzehnten der Monarchie an.92 Frühe Organisationen des Wirtschaftsbürgertums Die bis in den Vormärz sich ausbildende Konstellation spiegelt sich auch in den öffentlichen Organisationen der Unternehmer. Die Übertragung der Institution der Handelskammern nach Österreich wurde von der Regierung schon früh blockiert – entgegen gewissen Bemühungen der Kommerzhofkommission. Die ab 1831 als Ersatz eingerichteten Provinzial-Handelskommissionen, in denen unter beamteter Leitung obrigkeitlich ausgesuchte Gewerbetreibende zu gutachtlichen Stellungnahmen und Auskünften herangezogen wurden, ließ man bald wieder eintrocknen, da viele von ihnen zu Plattformen unerwünschter zünftlerischer Agitation wurden.93 Stattdessen wurde dann die Bildung von Gewerbevereinen gefördert, die nach Zusammensetzung und Tätigkeit eher in der Tradition der Patriotischen Gesellschaften des 18.  Jahrhunderts standen. Ihre Bildung stand v. a. im Zusammenhang mit der Ausrichtung von Gewerbeausstellungen  : so in Prag 1829/1833 der Verein zur Ermunterung des Gewerbsgeistes in Böhmen, bei dem Josef Graf Dietrichstein im behördlichen Auftrag die Leitung übernahm  ;94 1837 der Innerösterreichische Gewerbeverein in Graz unter der Leitung Erzherzog ­Johanns  ;95 1839 der Niederösterreichische Gewerbeverein auf bürgerliche Initiative, der der Leitung des bekannten Ständepolitikers und Bürgerfreundes Graf

92 Überblick mit Lit. bei Jiři Koralka und R.J. Crampton, Die Tschechen, in  : Wandruszka u. Urbanitsch, Habsburgermonarchie 1848–1918 [Anm. 8], Bd. 3,1, Wien 1980, S. 489–521, hier S. 503– 510 passim. Vgl. auch Peter Heumos, Agrarische Interessen und nationale Politik in Böhmen 1848–1889, Wiesbaden 1979, S. 22–69. 93 Aktenmäßige Darstellung bei Slokar, Österr. Industrie [Anm.  28], S.  114, 198–209  ; ferner bei Hermann Gerhardinger, Aus der Vorgeschichte der österreichischen Handels- und Gewerbekammern, in  : Tiroler Wirtschaft in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 2, Innsbruck 1951, S. 7–127, hier S. 69–99. 94 Slokar, Österr. Industrie [Anm. 28], S. 216 f. Vgl. auch Anm. 68. 95 Slokar, Österr. Industrie, op. cit., S. 218 ff. Vgl. auch Anm. 68.

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Colloredo-Mannsfeld und dem Protektorat des Kaiserbruders Erzherzog Franz Karl unterstellt wurde.96 Die Aufgaben dieser von gewerblichen Unternehmern und außergewerblichen »hochgestellten Persönlichkeiten« getragenen Vereine konzentrierten sich abseits des Interessenvertretungsgedankens auf das Umfeld von Förderung, Bildung, Belehrung und Ermunterung  ; auf dieser Ebene waren ihre Leistungen und Wirkungen durchaus hoch einzuschätzen. Die obrigkeitliche Lenkung und Moderierung dieser Vereinsaktivitäten konnte freilich nicht verhindern, dass parallel zur vormärzlichen Ständebewegung auch der Niederösterreichische Gewerbeverein zu einer Plattform wurde, auf der am Vorabend der Revolution angesehene bürgerliche Unternehmer ihre Kritik an den bestehenden Regierungsverhältnissen formulierten.97 Daneben entwickelten sich für die massiveren Formen branchenspezifischer Interessenwahrung auch im Vormärz schon wiederholt Vertretungsausschüsse ad hoc, die nach Form und Funktion die Organisationsfähigkeit der neuen Unternehmerschichten erwiesen.98 All diese Ansätze vereinigten sich dann in der 48er Revolution in der von Unternehmerseite vorgebrachten und nun auch ohne Schwierigkeiten durchgesetzten Forderung, die Institution der Handelsund Gewerbekammern in Österreich einzuführen. Diese Kammern wurden im Neoabsolutismus rasch zu Instrumenten der damals im Vordergrund stehenden zollpolitischen Auseinandersetzungen mit der Regierung. Die außenwirtschaftlichen Fragen waren am Ende der 50er Jahre dann auch der maßgebliche Entstehungsgrund für branchenbezogene Interessenverbände.99 96 Paul Müller, Hundertzehn Jahre österreichischer Gewerbeverein, Wien 1949  ; Festschrift Hundertfünfundzwanzig Jahre österreichischer Gewerbeverein, Wien 1964. Vgl. auch Franz Geißler, Die Entstehung und der Entwicklungsgang der Handelskammern in Österreich, in  : Hans Mayer (Hg.)  : Hundert Jahre österreichischer Wirtschaftsentwicklung, Wien 1949, S. 21–126, hier S. 51– 55. 97 Heinrich Reschauer und Moritz Smets, Das Jahr 1848. Geschichte der Wiener Revolution, 2 Bde., Wien 1872, Bd. 1, S. 104–139. Der nö. Gewerbeverein arbeitete in der Folge aktiv an der Errichtung der Wiener Handelskammer mit. Zur Kammergründung Geißler, Handelskammern [Anm. 96], S. 63–95. 98 Am wirkungsvollsten nahmen die Baumwollspinner ihre Interessen durch einen 1826 formlos gegründeten »Ausschuss« wahr, der auch in den 40er Jahren noch aktiv war. Ähnlich hatten sich schon 1817 die Böhmischen Landesfabrikanten (d. h. die Inhaber einer Landesfabrikbefugnis) wie auch die niederösterreichischen priv. Zitz- und Kattunfabrikanten formiert. Später folgten die Rübenzuckerfabrikanten, deren Interessen auf Schutz gegen den Kolonialzuckerimport gerichtet waren. All diese Verbände hatten keine feste Organisationsstruktur und arbeiteten ohne förmliche behördliche Genehmigung. (Slokar, Österr. Industrie [Anm. 28], S. 213 ff.) 99 Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 27], Bd. 1, S. 412–432.

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All das fügt sich in den allgemeinen europäischen bzw. mitteleuropäischen Entwicklungsrhythmus, und zwar mit der auch sonst charakteristischen Phasen­ verschiebung im allgemeinen West-Ost-Gefälle. Ganz allgemein lassen sich zahlreiche Erscheinungen der österreichischen Wirtschafts- und ­Sozialgeschichte in ein solches Phasenmodell der europäischen Entwicklung einordnen und von daher interpretieren. Für eine umfassende Charakteristik des österreichischen Wirtschaftsbürgertums sind daneben jedoch einige strukturelle Momente zu beachten, die m. E. bis zum Ende der Monarchie Bestand hatten. Sie ergeben sich zum einen aus den materiellen Rahmenbedingungen einer vorrangig an einen nur langsam sich entwickelnden Binnenmarkt orientierten Wirtschaft. Sozialgeschichtlich sind sie über den Wirtschaftsaspekt hinaus auf das (deutsch-) österreichische Bürgertum insgesamt zu beziehen und lassen sich als Einordnung und Anpassung an vorgegebene Integrationsmuster verstehen, die einerseits höfisch-aristokratisch und andererseits gouvernemental-bürokratisch bestimmt waren. Deutsch-bürokratischer und deutsch-liberaler Zentralismus bildeten so in der zweiten Jahrhunderthälfte einen politischen Verbund aus, in der die Interessen des Großbürgertums am ehesten aufgehoben waren.100

100 Brandt, Liberalismus, in  : Langewiesche, Liberalismus [Anm. 24], S. 136–160. Vgl. auch das Resümee von Mentschl, Das österreichische Unternehmertum, in  : Brusatti [Anm. 10], S. 274–277.

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Von Bruck zu Naumann »Mitteleuropa« in der Zeit der Paulskirche und des Ersten Weltkrieges

Einleitung  : Ein diffuses Ordnungskonzept In historischer Perspektive bezeichnet der Mitteleuropagedanke eine föderative Verbindung vor allem des Deutschen Reiches und der Habsburgermonarchie mit einem Ausgriff auf weitere Donau- und Balkanländer unter deutscher Führung.1 Verschiedene Varianten nahmen darüber hinaus auch Belgien und die Niederlande, Skandinavien, eventuell Frankreich und Italien sowie (bei einem möglichen Zerfall des Russischen Reiches) Polen und das Baltikum in den Blick. In dieser Gestalt erlebte die Idee nach einer Vorgeschichte von wechselhafter Intensität ihren Höhepunkt im Ersten Weltkrieg und wirkte bis in die Anfänge des zweiten Weltkrieges weiter. Mit ihr verband sich in der Wilhelminischen Ära gern die weitere weltpolitische Perspektive einer Ankoppelung des Osmanischen Reiches und eines dadurch vermittelten Zugangs zum Persischen Golf. Freilich blieb die Mitteleuropaidee in Reichsdeutschland nicht unbestritten  ; sie wurde von gewichtigen wirtschaftspolitischen Gruppierungen Norddeutschlands bekämpft, die am Vorrang der maritimen und weltweiten Orientierung Deutschlands festhalten wollten. Innerhalb der konservativen habsburgischen Führungsschichten wie selbstverständlich auch bei den nichtdeutschen Nationalitäten 1 Wertvoll immer noch die breitangelegte Arbeit von Henry Cord Meyer, Mitteleuropa in German Thought and Action 1815–1945, Den Hag 1955. Den föderativen Aspekt betont mit viel Verständnis für die Strukturprobleme der Habsburgermonarchie die Studie von Jacques Droz, L’Europe Centrale. Evolution historique de l’idée de »Mitteleuropa«, Paris 1960. Beide Arbeiten sind vor der Fischer-Kontroverse erschienen. Wegen der vielfältigen Berührungspunkte zwischen Mitteleuropakonzept und deutscher Ostkolonisation ist ferner die ideologiekritische Analyse der einschlägigen Historiographie von Wolfgang Wippermann aufschlussreich  : Der »Deutsche Drang nach Osten«. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981. Für die Zeit des Ersten Weltkrieges ist vor allem die Kontroversliteratur zur deutschen Kriegszielpolitik der 1960er und 1970er Jahre mit heranzuziehen  ; vgl. dazu die Einzelangaben weiter unten. Einen kritischen Überblick über die jüngste Mitteleuropadiskussion der 80er Jahre bietet Rudolf Jaworski, Die aktuelle Mitteleuropadiskussion in historischer Perspektive, in  : HZ 247 (1988), S. 529–550. Kritisch gegenüber den politischen Implikaten auch  : Wilfried v. Bredow u. Thomas Jäger, Niemandsland Mitteleuropa. Zur Wiederkehr eines diffusen Ordnungskonzepts, in  : Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zum »Parlament«, B 40/41 (1988), S. 37–47.

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begegnete das Programm starken Vorbehalten. Nicht zufällig entstammte die größere Zahl der Befürworter Mitteleuropas dem (deutsch-)nationalen Lager der Habsburgermonarchie  ; die reichsdeutschen Protagonisten gewannen ihre Stärke situativ aus der engen Kooperation mit diesen österreichischen Repräsentanten. Die »Waffenbrüderschaft« und das Erlebnis der »Schicksalsgemeinschaft« der beiden Mittelmächte gaben diesen Tendenzen naturgemäß starken Auftrieb. In der Tat war die Mitteleuropafrage eng mit den Existenzproblemen der Habsburgermonarchie verknüpft, und man wird das ganze Konzept am ehesten aus dem Bedürfnis interpretieren können, das Dasein des »zweiten deutschen Staates« aus seiner gesamtdeutschen Mission heraus zu legitimieren. (Demgegenüber ist die baltendeutsche Perspektive von minderem Gewicht  ; doch sei auf ihre Existenz ausdrücklich hingewiesen.) Eine besondere Einheit »Mitteleuropa« lässt sich aus objektiven – sei es geo­ graphi­schen, sei es ethnischen – Kriterien schwerlich begründen.2 Vielmehr bezeichnet das Wort, um mit Albrecht Haushofer zu sprechen, einen »Begriff des politischen Willens«.3 Oder kritisch gewendet  : Seine Einführung war Ausdruck des politisch motivierten Verfahrens, ein Programm mit einer griffigen Formel zu besetzen, die eine suggestive Raumvorstellung hervorruft. Bei unterschiedlicher geographischer Reichweite und unterschiedlichen inhaltlichen Bestimmungen im Einzelnen gingen doch alle Mitteleuropakonzeptionen von dem Urteil aus, dass die ethnographische Gemengelage in Ost-Mitteleuropa und Südost-Europa die Konstruktion abgeschlossener Nationalstaaten verbot, und dass daher andere, in irgend einer Weise föderative Lösungen angezeigt waren. Hierbei kam dem Deutschtum eine besondere Führungsrolle zu, die sich aus der Kombination seiner geopolitischen Position mit dem Axiom seines kulturellen und ökonomischen Vorranges ergab. Mitteleuropa war damit eine Art »manifest destiny« der Deutschen. Nicht direkte deutsche Herrschaft oder Germanisierung, sondern eine vage wie auch immer gedachte deutsche Führung kraft natürlicher Überlegenheit war die Leitvorstellung. Dabei wurde die freie Entfaltung und Gleichberechtigung aller Nationalitäten als Ziel überwiegend betont  ; die Übergänge zu Kolonisationskonzepten waren freilich fließend.4 Der föderative Gedanke 2 Kritisches Resümee der geowissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Bemühungen um eine Objektivierung des Mitteleuropabegriffs bei Helmut Rumpf, Mitteleuropa. Zur ­Geschichte und Deutung eines politischen Begriffs, in  : HZ 165 (1942), S. 510–527. 3 Albrecht Haushofer, Mitteleuropa und der Anschluss, in  : Friedrich F. G. Kleinwaechter u. Hans Paller (Hgg.), Die Anschlussfrage in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung, Wien-Leipzig 1930, S. 150–159  ; das Zitat S.151. 4 Zur begrifflichen Klärung ist es durchaus analytisch sinnvoll, zwischen dem »föderalistischen«

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begegnete, wie später zu zeigen sein wird, aber schon an dieser Stelle betont werden soll, in der Weltkriegszeit durchaus scharfer Kritik von nationalistischer Seite.5 Die in dem Konzept liegende Verknüpfung des föderativen Gedankens mit dem deutschen Missionsgedanken wirkte in der Zwischenkriegszeit fort. Durch die Auflösung der Habsburgermonarchie und das Entstehen deutscher Minderheiten in den Nachfolgestaaten erhielt das Programm nunmehr eine völkische Wendung. Von anderer Seite wurde die schon im Weltkrieg herausgestellte antiwestliche Tendenz zu einem gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Gegenmodell weiterentwickelt, das antikapitalistisch und antiparlamentarisch getönt war und einen korporatistischen oder auch nichtmarxistischen sozialis­ tischen Weg eigener Prägung propagierte. Historiker rückten das föderative Konzept zugleich in die Tradition des Heiligen Römischen Reiches und gaben ihm damit eine scheinhistorische Tiefendimension.6 Im Gegensatz dazu wurde der Mitteleuropagedanke nach 1918 als föderatives Konzept auch von Politikern der Kleinen Entente sowie andererseits von österreichischen und ungarischen Ökonomen der Nachkriegszeit aufgegriffen, die an eine Donauföderation dachten und dabei Deutschland dezidiert aus Mitteleuropa ausklammerten. Diese Variante suchte also den Friktionen, die sich aus der Auflösung der Habsburgermonarchie ergeben hatten, mit eigenständigen, eine deutsche Vorherrschaft vermeidenden föderativen Lösungsmodellen zu begegnen. Diese für die Situation »Zwischeneuropas« in der Nachweltkriegszeit charakteristischen Bemühungen verweisen in ihren strukturellen Aspekten durchaus auf analoge Tendenzen der 1980er Jahre, die mit der Auflösung des Sowjetimperiums einsetzten.7 Auf der Mitteleuropakonzept und dem kolonisierenden bzw. germanisierenden »Drang nach Osten« zu unterscheiden. In Reichsdeutschland fand die historiographische Apologie der mittelalterlichen deutschen Ostexpansion seit der späten Bismarckzeit ihre aktuelle programmatische Umsetzung in ›innenpolitischen‹ Germanisierungs-Projekten gegenüber dem preußisch-polnischen Osten  ; der geographisch darüber hinausgehende propagandistische Ausgriff v. a. der Alldeutschen mündete im 20.  Jh. konsequent in völkische und schließlich rassische Expansions- und Homogenisierungskonzepte. (Hierzu die Studie von Wippermann, Drang nach Osten [Anm.  1], Kap. 4 passim.) Aber auch viele Vertreter des Mitteleuropagedankens, der prinzipiell von einem anderen Ansatz getragen ist, nahmen das Element deutscher Kolonisation in ihr Programm auf, so dass, wie noch zu zeigen ist, die Übergänge fließend sind. 5 Hierzu Meyer Mitteleuropa [Anm. 1], S. 51 ff., 233 ff. 6 Paul Sweet, Recent German Literature on Mitteleuropa, in  : Journal of Central European Affairs 3 (1943), S. 1–24. Vgl. auch Meyer, Mitteleuropa [Anm. 1], Kap. 12 passim. 7 Hierzu Droz, L’Europe Centrale [Anm. 1], S. 243–254. Für die gegenwärtige österreichische Perspektive charakteristisch Erhard Busek und Gerhard Wilflinger (Hgg.), Aufbruch nach Mitteleuropa. Rekonstruktion eines verlorenen Kontinents, Wien 1986.

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anderen Seite ging der deutsche Nationalsozialismus in seinem von Hitler repräsentierten Kern von vornherein und grundsätzlich über das Mitteleuropakonzept hinaus, auch wenn die Partei im ganzen zahlreiche Überlappungen zum national-konservativen Lager und seinen Großraumkonzepten aufwies. Die Differenzpunkte betrafen einmal das rassistische Herrschaftskonzept, das dem ›weichen‹ föderativen Modell entgegenstand  ; sodann ließen die Russland einbeziehenden Vorstellungen der Nationalsozialisten von einem ökonomisch-politischen »Großraum« das ›bescheidenere‹ Mitteleuropaprogramm weit hinter sich.8 Vom Vormärz zu Bruck Nähert man sich dem deutschen Mitteleuropagedanken, wie er in der Weltkriegszeit kulminierte, in historisch-kritischer Absicht, so wird man selbstverständlich von der Ideologisierung des Alten Reiches Abstand nehmen müssen. Wohl aber führt der Ansatz, das Konzept als eine spezifische Variante des deutschen Nationalgedankens zu verstehen, auf eine historisch relevante Spur. Damit wird der Blick auf die Zeit des Vormärz und der Paulskirchen-Versammlung sowie auf den nachrevolutionären Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland gelenkt. Nicht zufällig führte die Mitteleuropapublizistik der Weltkriegs- und Zwischenkriegszeit denn auch zur Wiederentdeckung der »Vorkämpfer« Mitteleuropas aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ausgangspunkt dieser frühen Überlegungen und Projekte im deutschsprachigen Bereich waren – wiederum bezeichnend genug  – die Legitimationsprobleme der Habsburgermonarchie im Zeitalter der Nationalbewegungen. Wie konnte die Existenz der Donaumonarchie mit dem Ziel der Schaffung eines deutschen nationalen Staates vereinbart werden  ? Diese Frage bewegte bereits die nationale Publizistik des vormärzlichen Deutschland9 und führte schon hier auf gedanklicher Ebene zu den beiden Lösungsvarianten, die dann die Auseinandersetzungen der Paulskirche bestimmten  : Entweder Gründung eines engeren deutschen Staates ohne die Habsburgermonarchie, jedoch zugleich Bewahrung dieser Monarchie als zweiten deutschen Staat mit 8 Zur NS-Programmatik Wippermann, Drang nach Osten [Anm. 1], S. 104 ff. 9 Hierzu Wolfgang Altgeld  : Deutsche Nation und Habsburger Monarchie  : Die Entstehung des Mitteleuropa-Gedankens vor 1848, in  : Die Einheit Europas. Das Problem der Nationalitäten, hg. v. Deutsch-Italienischen Kulturinstitut Meran, Bozen 1990, S. 279–299. Die Linie vom Vormärz zur klassischen Epoche des Imperialismus zieht Hans Fenske  : Imperialistische Tendenzen in Deutschland vor 1866. Auswanderung, überseeische Bestrebungen, Weltmachtträume, in  : HJb. 97/98 (1978), S. 336–383.

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einer übernationalen Mission und im engen Verbund mit Kleindeutschland um der Wahrung gesamtdeutscher Ziele willen  ; oder Gründung eines Großdeutschen Reiches unter Einschluss Deutsch-Österreichs, wobei dieses Gebilde durch die Angliederung von Satelliten im Süden und Osten zugleich selbst eine übernationale Bestimmung erhielt. Beiden Varianten gemeinsam war, dass sie die Rolle der deutschen Nation in Europa dynamisch bestimmten und dass das Konzept eines deutschen Nationalstaates immer schon über sich hinauswies.10 Unverkennbar kommt in dieser ›Flucht nach vorn‹ das Dilemma zum Ausdruck, dass sich für einen deutschen Nationalstaat keine klaren Grenzen bestimmen ließen. Hierin lag, wie nicht eigens betont werden muss, das historische Ergebnis der deutschen Siedlungstätigkeit einerseits, des a-nationalen Charakters der Staatsbildungen in Zentraleuropa andererseits. Diese strukturelle Vorgegebenheit war von den Staatsmännern der Restaurationsepoche, insbesondere von Metternich, defensiv und mit einem statischen Konzept der Erhaltung beantwortet worden  ; eine konservativ-etatistische Linie, in die auch Bismarck nach der Reichsgründung wieder einschwenkte. Die deutsche Nationalbewegung aber, insbesondere ihr mit Österreich und seinem Schicksal besonders verbundener Teil entwickelte aus dieser strukturellen Vorgegebenheit das dynamische Konzept einer kontinentalen deutschen Mission. Ihr bevorzugtes Objekt waren die unterentwickelten Räume des europäischen Südostens, daneben um die Jahrhundertmitte aber auch noch  – ganz entsprechend der damaligen politischen Situation – Teile Italiens.11 Wichtig für unseren Zusammenhang ist ferner, dass der Mitteleuropagedanke bereits im Vormärz in eine ökonomische Perspektive gerückt wurde. Dieses wirtschaftliche Großraumkonzept ist vor allem mit dem Namen Friedrich Lists verbunden.12 Das Denken in Wirtschaftsräumen lag in der Konsequenz des von List propagierten nationalen Systems der politischen Ökonomie. Sein Entwicklungskonzept, das den Zollschutz der werdenden nationalen Industrie vor 10 Grundlegend Günter Wollstein, Das »Großdeutschland« der Paulskirche. Nationale Ziele der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977. Vgl. auch die Arbeiten von Erst Görlich  : »Großmitteleuropäisch« und »kleinmitteleuropäisch« um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in WaG 7 (1941), S. 259–266  ; ders., Wirtschaftliche Tendenzen in der mitteleuropäischen Idee in Österreich 1848–59, in  : VSWG 35 (1942), S. 57–65. 11 Zu Oberitalien Wollstein, »Großdeutschland«, op. cit., S. 223–242  ; vgl. auch Altgeld, Deutsche Nation [Anm. 9], S. 287 ff. 12 Zu List ausführlich William O. Henderson, Friedrich List, London 1983, dt. u. d. T.: Friedrich List. Eine historische Biographie des Gründers des Deutschen Zollvereins [!] und des ersten Visionärs eines vereinten Europa, Düsseldorf-Wien 1984, (insbes. Teile 2 u. 5). Vgl. auch Altgeld, Deutsche Nation, op, cit., S. 288  ; Wippermann, Drang nach Osten [Anm. 1], S. 41 ff.

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überlegener ausländischer Konkurrenz vorsah, implizierte damit zugleich jene antibritische Tendenz, die für das Mitteleuropadenken insgesamt charakteristisch werden sollte. Bezugspunkt dieses Systems war der nationale Staat, konkret der erst noch zu schaffende deutsche Nationalstaat. Derselbe List entdeckte in seinen späten Jahren darüber hinaus, dass die Bevölkerungsdynamik des Industriestaates unter den Bedingungen konkurrierender Nationalökonomien auf den Erwerb kolonialer Ergänzungsräume hindrängte. Unter dem Eindruck der maritimen und kolonialpolitischen Überlegenheit der westeuropäischen Staaten und angesichts der Konsolidierung des russischen wie des nordamerikanischen Großreiches sah er Deutschlands einzig verbleibende Chance in der Durchdringung Südosteuropas. Deutschlands Linie der ökonomischen Expansion lag für ihn entlang der Donau, die bis zu ihrer Mündung unter deutsche Kontrolle geraten sollte. Damit verbanden sich Kolonisationsideen  : Der Strom der Auswanderer nach Nordamerika sollte nach Südosten umgelenkt werden und damit zugleich der Gesamtnation erhalten bleiben. Die gesamte vormärzliche Ideenwelt über Mitteleuropa fand Eingang in die Debatten der Paulskirche, als mit der »Frage an Österreich« die Aporien einer territorialen Definition des deutschen Nationalstaates erkennbar wurden. Die Auseinandersetzungen der Großdeutschen, Großösterreicher und Kleindeutschen um die unterschiedlichen Verfassungskonstruktionen zur Lösung der deut­schen Frage können hier außeracht bleiben. Wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass alle politischen Lager der breiten bürgerlichen Mitte von der Idee einer deutschen Mission im Südosten durchdrungen waren. Sei es, dass die Habsburgermonarchie als ganze bestehen bleiben sollte, sei es, dass nach ihrer formellen Auflösung die nicht zum Deutschen Bund gehörigen Länder in Gestalt von Personal­-Unionen dem künftigen deutschen Reich als Satellitenstaaten verbunden bleiben sollten  : in jedem Fall erschienen diese Regionen als das Objekt deutsch bestimmter kultureller ökonomischer und politischer Durchdrin­ gung. In ähnlicher Weise sah man Oberitalien zum deutschen Interessensbereich gehörig. Dementsprechend verfiel die italienische nationale Einigungsbewegung  – erstaunlich genug aus der Perspektive liberaler Grundsatztreue  – in der Paulskirche der Ablehnung gemäß der Überzeugung, dass die Italiener zur Staatsbildung unfähig und bei einem deutschen Rückzug lediglich der französischen Vormundschaft ausgesetzt seien. Insgesamt erblickte man mit einer Art von Magnettheorie in dem künftigen Deutschen Reich den Kern einer europäischen Hegemonialmacht, der sich die zwischen den Großmächten Russland und Frankreich gelegene mittlere und kleine europäische Staatenwelt politisch und ökonomisch assoziieren werde. Auch die Entfaltung maritimer Aktivitäten von

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den Ausgangspunkten Hamburg und Triest lag bereits in dieser Perspektive. Die Gewinnung der Donaumündungen und der Ausbau der Adriaposition eröffneten darüber hinaus die Aussicht auf eine deutsche Nahost-Politik.13 Solche professoralen Phantasien mochten im Horizont der harten Realitäten europäischer Großmachtpolitik in den Jahren 1848/49 und auch angesichts des tatsächlichen Scheiterns der Paulskirche nicht besonders relevant sein. Für die Formierung des bürgerlich-imperialen Denkens in Deutschland und Deutschösterreich sind die außenpolitischen Debatten der Nationalversammlung jedoch zweifellos von Gewicht.14 Deren ideologische Bedeutung zeigt sich auch darin, dass im 1849 einsetzenden deutschlandpolitischen Wettlauf der beiden Großmächte um die Gunst des nationalgestimmten Bürgertums die österreichische Seite auf die mitteleuropäischen Stimmungen der Nationalversammlung zurückgriff. Diese Offensive verbindet sich mit dem Namen des österreichischen Handelsministers Karl Ludwig Freiherr von Bruck.15 Bruck popularisierte mit seiner Formel vom Siebzigmillionenreich den machtpolitisch akzentuierten Versuch seines Ministerpräsidenten Schwarzenberg, die gesamte Habsburgermonarchie in den Deutschen Bund aufzunehmen, den preußisch geführten Deutschen Zollverein wieder aufzubrechen und die Frankfurter Bundesinstitutionen unter der Führung Österreichs wesentlich zu stärken. Insbesondere sollte Frankfurt wirtschaftspolitische Kompetenzen erhalten. Ob Schwarzenberg selbst an das dynamische Konzept eines ökonomisch bestimmten Mitteleuropa glaubte, oder ob er angesichts der nachrevolutionären Erwartungen des deutschen Bürgertums die Brucksche Propaganda lediglich als populistische Begleitmusik verwandte, um die im Kern konservativen machtpolitischen und stabilitätspolitischen Ziele Österreichs in Deutschland und vor allem gegenüber Preußen durchzusetzen, ist strittig und kann hier unentschieden bleiben. Auch wenn vieles für ein manipulatives Spiel Schwarzenbergs spricht, bleibt es bezeichnend genug, dass der Ballhausplatz die Stimmungen und Erwartungen der Paulskirchenzeit aufzunehmen genötigt war.16 Bruck selbst war zweifellos ein aufrichtiger Verfechter 13 Zu diesem Gesamtkomplex das Werk von Wollstein [Anm. 10], passim. 14 Wippermann, Drang nach Osten, op. cit., S. 30–46. 15 Zu Bruck die von der Mitteleuropastimmung der Weltkriegszeit getragene, nach wie vor nicht ersetzte Biographie von Richard Charmatz, Minister Freiherr von Bruck. Der Vorkämpfer Mitteleuropas, Leipzig 1916. 16 Der zeittypische Versuch Eduard Hellers (Mitteleuropas Vorkämpfer Fürst Felix zu Schwarzenberg, Wien 1933), dem Ministerpräsidenten nationalpolitische Ziele im Sinne der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung zu unterstellen, ist zweifellos verfehlt. Betonung der Manipulationsthese im Anschluss an die etatistisch-sicherheitspolitische Interpretation der Schwarzenbergschen

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seines wirtschaftlichen Programms und ein Exponent eben dieser Stimmungen, dieser neuen Dynamik. Aus Elberfeld in Westfalen gebürtig, war der national empfindende Norddeutsche als junger Mann in Triest ansässig geworden und hier im Seeversicherungs- und Reedereigeschäft aufgestiegen. Als Mitbegründer und Direktor des Österreichischen Lloyd gehörte er im Vormärz zu den führenden Köpfen des deutschen Unternehmertums in der italienischen Stadt. Aus der handelspolitischen Orientierung seiner Wahlheimat ergab sich Brucks gesteigertes Interesse an Orienthandel und Orientpolitik, sein Sinn für die ökonomische Penetration des gesamten Südostens unter deutschem Vorzeichen. Der traditionelle Protektionismus der österreichischen Industrie verwies den Handelsminister zugleich auf ein schutzzöllnerisches Programm. Auf diese Weise ließ sich mit der Schutzzollpartei im Deutschen Zollverein eine gemeinsame wirtschaftspolitische Front aufbauen. Bruck und sein wichtigster publizistischer Mitarbeiter Gustav Hoefken, von dem die Entwürfe der berühmten Denkschriften im Wesentlichen stammen,17 waren augenscheinlich stark durch Friedrich List beeinflusst. Lists raumwirtschaftliche Vorstellungen und die frühimperialen Tendenzen, wie sie in der vormärzlichen Publizistik und in der Paulskirche sichtbar geworden waren, vereinten sich bei Bruck und Hoefken zu einem Mitteleuropaprogramm, das dem Gedanken der deutschen Führung im Raum zwischen der französischen und russischen Macht verpflichtet war.18 Bruck sah Kontinentaleuropa durch drei von Nordwesten nach Südosten verlaufende Querriegel strukturiert, die zugleich die politischen und wirtschaftlichen Chancen der drei Räume bestimmten. So wie Frankreichs maritime und koloniale Rolle durch seine Lage am Atlantik und am Mittelmeer definiert war, so ergab sich Russlands kontinentale und maritime Position aus der Überspannung des Kontinents von Weißem Meer und Ostsee bis zum Pontus. In derselben Weise sollte das künftige Mitteleuropa zwei »Lungenflügel« ausbilden, die mit der Nord- und Ostsee einerseits sowie der Adria und der noch zu gewinnenden Donaumündung andePolitik durch Rumpler, Schroeder und Austensen bei Harm-Hinrich Brandt, Franz Joseph I. von Österreich 1848–1916, in  : Anton Schindling u. Walter Ziegler (Hgg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918, München 1990, S. 340–381, hier S. 348 ff. Später hielt Andreas Kaernbach (Bismarcks Konzepte zur Reform des Deutschen Bundes, Göttingen 1991, S.  49f.) Schwarzenberg (gegen Austensen) wieder für einen überzeugten Anhänger der Bruckschen Ideen. 17 Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus  : Staatsfinanzen und Politik 1848– 1860, 2 Bde, Göttingen 1978, Bd. 2, S. 281 f., 815 f. Hoefken war 1850 auch mit dem Projekt einer deutschen Kolonisierung Ungarns hervorgetreten  : Deutsche Auswanderung und Kolonisation mit Hinblick auf Ungarn, Wien 1850. 18 Abdruck der Denkschriften von 1849–50 und 1859 bei Charmatz, Bruck [Anm. 15], S. 157–281.

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rerseits der Kontinentmitte auf beiden Seiten gewichtige maritime Ausgangspositionen sicherten. Von diesen territorialen Eckpfeilern ausgehend, setzte Bruck weitere Erwartungen in die schon erwähnte föderative Magnettheorie. War das deutsch-österreichische Siebzigmillionenreich erst einmal wirtschaftlich und politisch fest etabliert, so würden sich Dänemark und das übrige Skandinavien wie auch die Länder der Rheinmündung in irgend einer Form assoziieren. Im Süden sollte das durch Radetzkys Truppen zurückeroberte Königreich Lombardo-Venetien Ausgangspunkt für einen zollpolitischen Anschluss Mittelitaliens an das mitteleuropäische Wirtschaftssystem werden. Vor allem aber waren die dem Königreich Ungarn vorgelagerten Regionen der Donaumündung und des Balkans für eine künftige deutsche Kulturarbeit ausersehen  ; dabei dachte auch Bruck an eine Umlenkung der deutschen Auswandererströme in dieses Gebiet. Daraus folgte der Wunsch nach scharfer Abgrenzung der Interessensphäre gegenüber Russland, der vor allem an Brucks politischer Haltung während des Krimkrieges sichtbar wird, und der auf den russisch-österreichischen Konflikt der Folgezeit bis zum Ersten Weltkrieg vorausweist. Darüber hinaus griff Bruck die Flottenbegeisterung des Revolutionsjahres auf  : Die deutschen Handelsflotten sollten unter einer Bundesflagge zusammengefasst und von einer Bundeskriegsflotte geschützt werden, um dieser Flagge Achtung zu verschaffen. Unverkennbar schwangen bei Bruck sowohl in der Flottenfrage als auch in dem Schutzzollprogramm antienglische Töne mit. Doch zielte die antienglische Attitüde auf Ausgrenzung, war kontinentaleuropäisch gedacht. Überseeische Aktivitäten traten bei Bruck zurück. Er wurde nicht müde zu betonen, dass die Zukunft Deutschlands nicht im transatlantischen Bereich liege, sondern in dem großen mitteleuropäischen Wirtschaftsraum, der seine natürliche Ergänzung im südöstlich gelegenen Osmanischen Reich, also im gesamten Orient suchen solle. An diesem Punkt vor allem war der englischen Konkurrenz zu begegnen. So sehr man den Freihändlern der norddeutschen Küstenstädte gegenüber beteuerte, dass die möglichen Nachteile eines Schutzzollsystems durch die Großflächigkeit des neuen mitteleuropäischen Wirtschaftsraumes kompensiert würden, und dass im Übrigen der norddeutsche Seehandel ja keineswegs beeinträchtigt werden solle, man dessen Entfaltung vielmehr mitbedenke  : Unverkennbar hatte das ganze Konzept aber doch eine südöstliche Blickrichtung, sollten die handelspolitischen Interessen des Nordens umorientiert werden. Dass die damit verbundenen Verheißungen kaum so gehaltvoll waren, um die gewachsene kleindeutsche Wirtschaftsintegration und ihre nordwestliche Orientierung zu vernachlässigen zugunsten einer Erschließung unterentwickelter südosteuropäische Räume, wurde Bruck von seinen norddeutschen Gegnern schon damals

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vorgehalten. Die deutsche Wirtschaftsentwicklung der nächsten Jahrzehnte hat diese Kritik denn auch bestätigt.19 Übrigens wurde Bruck nicht nur in Norddeutschland nach Maßgabe der ihm entgegenstehenden politischen und wirtschaftspolitischen Interessen kritisiert. Auch im eigenen Lande war er im wirtschaftlichen Bereich insofern ein Feldherr ohne Truppen, als die österreichischen Industriellen die Öffnung ihres Binnenmarktes für die als überlegen gewertete Zollvereinskonkurrenz fürchteten. Sie schalten die neuen Tendenzen als das Werk »fremder Freihandelsapostel [!]  – deutscher Professoren  –  ; eine[r] kleine[n] Schaar von nicht österreichischen Doktrinären …«. Die traditionelle Schule der österreichischen Außenpolitik beurteilte die Durchsetzbarkeit des Projekts ohnehin skeptisch, und von Schwarzenberg selbst ist der Satz überliefert, dass er Bruck nur als »Köder für die deutschen Ideologen und Journalisten« benutzt habe.20 In der Tat scheiterte der Anlauf Brucks zur Verwirklichung seines wirtschaftlichen Siebzigmillionen-Reiches nicht nur an der preußischen politischen Gegnerschaft  ; er versackte auch im Gestrüpp der deutschen wie innerösterreichischen Interessendivergenzen. Der merkwürdig abgehobene, visionäre und propagandistische Charakter des ganzen Projektes ist unübersehbar. Seine historisch wichtigste Bedeutung liegt in seiner ideologiebildenden Wirkung für eine dynamische Auffassung von den gesamtdeutschen Aufgaben in Europa. Alle Facetten des Bruckschen Mitteleuropakonzepts wurden zusammen gehalten durch den nationalen Impetus, den Glauben an die deutsche Mission in Südosteuropa. Dabei beteuerte Bruck, dass es ihm nicht um Germanisierung gehe. Alle Nationalitäten innerhalb der Habsburgermonarchie wie in ihrem Vorfeld sollten sich frei entfalten. Der gleichwohl zu bewahrende deutsche Charakter der Monarchie 19 Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von ­W irtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848–1881, Köln-Berlin 1966. Abschnitt 1 passim  ; ders. (Hg.)  : Vor 1866. Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik der deutschen Mittelstaaten, Frankfurt 1966  ; Klaus Megerle, Ökonomische Integration und politische Orientierung deutscher Mittelund Kleinstaaten im Vorfeld der Reichsgründung, in  : Helmut Berding (Hg.), Wirtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. u. 20. Jh., Göttingen 1984  ; vgl. auch Volker Hentschel, Die deutschen Freihändler und der volkswirtschaftliche Kongreß 1858–1885, Stuttgart 1975. Hinweise mit Lit. auch in dem guten Überblick von Hans-Werner Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984, Kap. 5 u. 6 passim  ; ferner ders., Mitteleuropäische oder Kleindeutsche Wirtschaftsordnung in der Epoche des Deutschen Bundes, in  : Helmut Rumpler (Hg.), Deutscher Bund und deutsche Frage 1815–1866, Wien-München 1990, S. 186–214. 20 Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 17], Bd. 1, S. 415–438, Zitate S. 431  ; Bd. 2, S. 712 f.  ; Roy A. Austensen, Felix Schwarzenberg  : »Realpolitiker« or Metternichian  ? The Evidence of the Dresden Conference, in  : MIÖG 30 (1977), S. 97–118.

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und ihr deutscher Missionsauftrag ergaben sich für ihn ganz zwanglos aus der kulturellen Überlegenheit des Deutschtums. Seine völkerbeglückende Wirkung sollte das Deutschtum in einer Art von Induktionsfunktion entfalten  : Sie lag in der Weitergabe von Erziehungsprinzipien, Wissenschaft, industrieller Tüchtigkeit und den damit verbundenen Tugenden. »Schöner als er«, urteilte 1916 der Bruck-Biograph Richard Charmatz, »hat niemand die Sendung der Deutschen in der Habsburgermonarchie gekennzeichnet.«21 Kleindeutschlands Abkehr In der Tat hat Bruck den Kern jener Leitvorstellungen formuliert, die sich in der kommenden Zeit zur tragenden Ideologie der deutschen Verfassungspartei und des gemäßigten deutschnationalen Lagers der Donaumonarchie verfestigten. Sie bildeten ein Kontinuum von Überzeugungen, die in der Situation des Ersten Weltkrieges erneut aufgipfelten. Umso mehr wurde in diesem Lager die Abkehr Reichsdeutschlands vom Südosten, die defensive Begrenzung des Zweibundes auf den rein politischen Sicherheitsaspekt, schließlich die Hinwendung zu Kolonialpolitik und wilhelminischer Weltpolitik beklagt. Der österreichische Historiker Heinrich Friedjung zog in einer Studie über die Zollunionspläne von 1849 bis 1853, die er 1910 veröffentlichte, diese Verbindungslinie zur Gegenwart so  : »Fasst man die Weltstellung der deutschen Nation in ihrer Gesamtheit ins Auge, so war die Zolleinigung […] von hohem Werte. Es muss nicht erst ausgeführt werden, welche Aussichten sich dadurch für den Industrieexport Deutschlands nach dem Osten und Süden eröffneten. Dazu kommt, dass das 1879 zwischen Deutschland und Österreich geschlossene Bündnis einen reicheren Inhalt erhalten hätte, wenn die beiden Reiche nicht durch Zollschranken getrennt wären.« Und  : »Die Geschichte ist jedoch andere Wege gegangen. Deutschland hat sich nach 1866 von Österreich abgewendet, und die Entwicklung des Weltverkehres brachte es mit sich, dass es einen steigenden Anteil am Seehandel gewann, England als Seemacht an den Leib rückte, dagegen seinen die Donau abwärts führenden Warenzügen nur eine Bedeutung zweiter Ordnung beimaß. Die Zukunft Deutschlands liege auf dem Wasser, verkündigte Kaiser Wilhelm  ; deutsche Kolonien und Faktoreien wurden in fernen Weltteilen angelegt, während die blühenden Siedlungen der deutschen Nation in Ungarn und auch in Böhmen 21 Die nationalpolitischen Aspekte v. a. in der Denkschrift von 1859 »Die Aufgaben Oesterreichs«, Abdruck bei Charmatz, Bruck [Anm. 15], S. 241–281. Das Zitat a.a.O., S. 128.

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auf Selbstverteidigung angewiesen blieben. Wird Deutschland jedoch in dieser wirklichen oder notgedrungenen Gleichgültigkeit seinen südöstlichen Kolonien gegenüber auf die Dauer verharren  ? Schwerlich. Wenn aber in späteren Zeiten eine neue Entwicklung Platz greift, dann werden die von Bruck ausgesäten Anregungen wieder zu Ehren kommen, und sein Name soll neben dem der größten deutschen Staatsmänner die längst verdiente Stelle finden.«22 Die Klage Friedjungs belegt eindrucksvoll die Kontinuität der nationalen Problematik, die mit der Spaltung des Bundeszusammenhanges durch die Bismarcksche Reichsgründung, im Grunde aber schon mit der erfolgreichen preußischen Zollvereinsgründung entstanden war. Diese Spaltung betraf keineswegs nur die staatliche Ebene, also die Konsequenzen der vom Machtwillen Preußens getragenen Bismarckschen Lösung der deutschen Frage. Sie ergab sich prozessgeschichtlich auch daraus, dass die reichsdeutsche, norddeutsch dominierte Industrie mit ihren Exportinteressen sowie die deutschen Handelsinteressen insgesamt sich seit der Jahrhundertmitte westwärts, gwm. ›atlantisch‹ orientierten. Im preußisch-französischen Handelsvertrag von 1862 war die Kongruenz des etatistischen preußischen Separationswillens und der überwiegenden ökonomischen Interessen Kleindeutschlands zum ersten Mal manifest geworden.23 Diese Gravitation verfestigte sich mit der Reichsgründung zunächst und stimulierte später ganz wesentlich den Übergang zu wilhelminischer Kolonialpolitik und Weltpolitik. Auch die wichtigste wirtschaftspolitische Zäsur der späten Bismarckzeit, der Übergang zum Protektionismus zugunsten der Landwirtschaft und der Schwer­ industrie, bedeutete eben deshalb keine Umorientierung zugunsten »Mitteleuropas«, weil sich das landwirtschaftliche Schutzbedürfnis gegen die Konkurrenz nicht nur Russlands, sondern gerade auch Österreich-Ungarns richtete. Ungeach­tet gewisser wirtschaftspolitischer Integrationsbemühungen, die sich an den Zweibund von 1879 knüpften, entschied die Reichsleitung unter ­Bismarck aufgrund dieser divergierenden Interessenlage, die politische und die wirtschafts­ politische Ebene der Beziehungen zur Habsburgermonarchie getrennt zu halten. Diese von der deutschen Landwirtschaft und komplementär auch der österreichischen Industrie bestimmte Struktur der Interessen bremste auch später, in der wilhelminischen Epoche, jede tarifpolitische Öffnung entscheidend  ; Unvoll­ 22 Heinrich Friedjung, Mitteleuropäische Zollunionspläne 1849–1853, 1910. Wiederabdruck in  : ders., Historische Aufsätze, Stuttgart-Berlin 1919, S. 64–89  ; Zitat a.a.O., S. 88 f. 23 Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht [Anm. 19], S. 91–183  ; Hahn, Zollverein [Anm. 19], S. 165–180.

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kommenheit wie Kurzlebigkeit des Versuchs einer »mitteleuropäischen« Vertragspolitik unter Caprivi bestätigen diese Gesamttendenz nur.24 Aber auch auf der macht- und allianzpolitischen Ebene bedeutete der Zweibund von 1879 nicht ohne weiteres eine Rückwendung nach Mitteleuropa. Nach allen Kontroversen wird man sagen können, dass Bismarck – jedenfalls intentional – mit dem Bündnis keine Option für die Habsburgermonarchie vornahm. Er wollte vielmehr mit der Bestandsgarantie für Österreich-Ungarn das komplizierte Dreiecksverhältnis Berlin-Petersburg-Wien neu austarieren. Maximale Stabilität und Sicherheit auf der Basis des Drei-Kaiser-Verhältnisses war weiterhin sein oberstes Ziel. Zweifellos stehen seine Einsichten in die genuin zentraleuropäischen Sicherheitsbedürfnisse in der Kontinuität eines Metternichschen stabilitätspolitischen Denkens, bzw. sie lenken in diese Kontinuität zurück. Ebenso aber sollte die Außenpolitik Österreich-Ungarns mit dem Bündnis kontrolliert, an die kurze Leine gelegt und insbesondere in der Entfaltung balkanpolitischer Aktivitäten gebremst werden. Eine dynamische Perspektive sollte der Zweibund gerade nicht haben. ›Völkische‹ Erwägungen lagen Bismarck vollends fern. Mit seiner etatistisch gerichteten Einsicht in die Existenznotwendigkeit der Habsburgermonarchie ging seine Ablehnung jeglichen deutsch-österreichischen Irredentismus einher sowie seine Enthaltsamkeit gegenüber den innerösterreichischen bzw. innerungarischen Auseinandersetzungen um die Nationalitätenfragen.25 Deutsche ›Weltpolitik‹ und Mitteleuropa Mit der nachbismarckschen Dynamisierung der deutschen Politik vor dem Hintergrund des ökonomischen Wachstums, zunehmender weltweiter Wirtschafts­ interessen und imperialistischer Ideologie rückte der Übergang zur sog. Weltpo24 Vgl. die Ausführungen Böhmes, Deutschlands Weg zur Großmacht, op. cit., S. 587–604, deren Befunde die von ihm selbst gewählte Überschrift (»Mitteleuropa« als Herrschaftsraum und Herrschaftssicherung Preußen-Deutschlands  : die Option für Österreich-Ungarn und die Umkehr des Bruckschen Programms von 1848) widerlegen. Zum Neuen Kurs Rolf Weitowitz, Deutsche Politik und Handelspolitik unter Reichskanzler Leo von Caprivi 1890–1894, Düsseldorf 1978. Als Gesamtdarstellung aus österreichischer Sicht  : Lothar Höbelt, Die Handelspolitik der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gegenüber dem Deutschen Reich, in  : Adam Wandruszka u. Peter Urbanitsch (Hgg.)  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd.  6,1  : Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen, Wien 1989, S. 561–583. 25 Vgl. die Bilanzierung von Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1871–1918, München 1989 (= EDG 2)  ; mit umfangreicher Lit.

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litik bald auch die kontinentaleuropäische Basis der deutschen Kraftentfaltung in eine neue Perspektive. Während das tatsächliche außenwirtschaftspolitische Alltagsgeschäft weitgehend von den beharrenden Momenten der zentraleuropäischen Wirtschaftsantagonismen bestimmt wurde, öffneten sich die imperialistischen Vordenker deutscher Weltgeltung und einige Vertreter der deutschen Export- und Finanzwirtschaft dem Problem der langfristigen Bedingungen deutscher Expansion im Kreis der voll entwickelten oder potentiellen Weltmächte. Auf diese Weise geriet »Mitteleuropa« ein halbes Jahrhundert nach Bruck erneut, aber diesmal von reichsdeutsch-neudeutscher Seite ins Blickfeld. Die Vorstellung, dass die ökonomisch-politische Zukunft in der Welt den Großreichen gehöre und Deutschland deshalb zu seiner Behauptung und Entfaltung aufgrund seiner geopolitischen Situation darauf angewiesen sei, seine europäische Basis zu erweitern und »Mitteleuropa« unter seiner hegemonialen Führung zu organisieren, glich strukturell in hohem Maße den ›frühimperialen‹ Gedankengängen bei List und Bruck. Nicht zufällig wurde denn auch der schwäbische Nationalökonom wiederholt als ideologischer Kronzeuge bemüht. Gleichwohl sind erhebliche Akzentverschiebungen unverkennbar  ; sie entsprechen der politisch-ökonomischen Schwergewichtsverlagerung zugunsten des kleindeutschen Bismarckreichs, der gewachsenen wirtschaftlichen und machtpolitischen Potenz Deutschlands und seiner inzwischen erreichten weltwirtschaftlichen Verflechtung wie zugleich auch der Situation gesteigerter imperialistischer Antagonismen in der Welt. Was um die Jahrhundertmitte ideologischer Kontrapunkt gegen den wirtschaftsliberalen Gesamttrend aus defensiven Rücksichten, und was damals lediglich spekulative Projektion künftiger deutscher Größe war, war in einer Welt des postliberalen Protektionismus und Antagonismus umgeschlagen in ein Teilhabeverlangen, das vor dem Hintergrund objektiver Wachstumserfordernisse eines auf Marktentwicklung und Rohstoffsicherung angewiesenen industriellen Systems stand, und in dem sich infolgedessen defensive und offensive Momente unentwirrbar verflochten. So unterschiedlich die einzelnen Expansionskonzepte hinsichtlich ihrer geographischen Zielrichtung, der Organisationsmethoden zur Sicherung deutscher Interessen und hinsichtlich der Strategien zu ihrer Durchsetzung waren  ; gemeinsam war ihnen allen die – aus heutiger Sicht selbstverständlich einseitige – Vorstellung, dass soziale und ökonomische Wachstumsimpulse (sei es atavistisch als Siedlungsbewegung, sei es moderner als Markterschließung und Ressourcensicherung) ihre Realisierung in horizontaler Ausbreitung suchen müssen. Gewisse Erfahrungen eines Verdrängungswettbewerbs der Industrienationen um Märkte und Einflusszonen, der Protektions- und Monopolisierungstendenzen erzeugen jene »neomerkanti-

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listische« Konfliktmentalität, die in die Erwartung umschlug, dass die Zukunft den präferenziell organisierten, nach außen abgeschirmten Großreichen gehöre, innerhalb derer die jeweiligen industriellen Systeme sich entfalten und kräftigen würden. Im Kreis der vorhandenen bzw. potentiellen Weltreiche (Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Russland) schien sich für den Neuankömmling Deutschland aufgrund seiner ungünstigen Ausgangslage nur die Perspektive des Niedergangs zu eröffnen, wenn es nicht gelang, durch Ausdehnung des eigenen politisch (wie auch immer) kontrollierten Raumes der deutschen Wirtschaft jene Erweiterung exklusiver Entfaltungsmöglichkeiten zu verschaffen, die zu ihrer Kräftigung und Positionswahrung erforderlich schienen. Bei einigen Vertretern bestimmte der Autarkiegedanke diese wirtschaftsimperialen Vorstellungen  ; überwiegend aber war die Perspektive maßgebend, von einer Stufe erweiterter Wirtschaftsmacht aus mit wesentlich verbesserten Chancen im Wettbewerb der Weltmächte mithalten und diese im Ringen um die Ausgestaltung der wechselseitigen Beziehungen zu einer stärkeren Respektierung deutscher Ansprüche nötigen zu können. Ob hierzu kriegerische oder friedliche Mittel einzusetzen seien  ; wurde je nach politisch-ideologischer Herkunft der Expansionisten unterschiedlich gewichtet, ohne dabei durchweg, wie noch zu zeigen sein wird, dogmatischen Festlegungen unterworfen zu sein. War für den programmatischen Drang nach deutscher Weltgeltung zunächst die globale Streuung der Objekte deutscher Macht- und Einflusserweiterung charakteristisch gewesen, so traten neben den kolonialen und maritimen Ambitionen die Mitteleuropakonzepte erst gegen Ende des Jahrhunderts wieder verstärkt in den Gesichtskreis.26 Symptomatisch für diesen Vorgang war das Interesse, das 26 Hierzu Peter Theiner, »Mitteleuropa«-Pläne im Wilhelminischen Deutschland, in  : Helmut Berding (Hg.), Wirtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. und 20.  Jahrhundert (= GG, Sonderheft 10), Göttingen 1984, S. 128–148, zur Vorkriegszeit a.a.O., S. 128–136. Mit Betonung der Kontinuität der imperialistischen Ziele bzw. Kriegsziele vor und während des Weltkrieges die Arbeiten Fritz Fischers. Ders., Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1964, Kapitel 1 u. 3  ; vor allem ders., Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Düsseldorf 1969, Kapitel 3, 11, 12, 21. In derselben Tendenz die DDR-Forschung mit oft holzschnittartigen und diffamierenden Klassifikationen, Zurechnungen und Urteilen. Hier v. a. Willibald Gutsche, Mitteleuropaplanungen in der Außenpolitik des deutschen Imperialismus vor 1918, in  : ZfG 5 (1972), S.  533–549  ; ferner ders. »Studien für Geschichte des deutschen Imperialismus von der Jahrhundertwende bis 1917« gewidmete Band 15 des Jahrbuchs für Geschichte, hg. v. Willibald Gutsche, Berlin (DDR) 1977  ; insbes. Alfred Schröter, Die objektiven ökonomischen Triebkräfte und Hemmnisse der deutschen imperialistischen Mitteleuropapläne, a.a.O., S.  19–29  ; Helga Nussbaum, Außenhandelsverflechtung europäischer Länder und imperialistische deutsche Mitteleuropapläne 1899–1914,

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im Umfeld der Caprivischen Vertragspolitik profilierte Nationalökonomen der Idee eines mitteleuropäischen Zollbündnisses gegen die Wirtschaftsmacht und die Abschließungstendenzen der USA und des British Empire entgegenbrachten. Neben dem österreich-orientierten Albert Schäffle sind für diese Frühphase Lujo Brentano, Richard Kaufmann und vor allem Gustav Schmoller neben anderen Kathedersozialisten zu nennen.27 Interessenpolitisch wurden diese Tendenzen vom Bund der Industriellen, also von wesentlichen Kräften der verarbeitenden und exportorientierten Industrie getragen. Diese Kräfte begründeten 1904 den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein als Plattform der Meinungsbildung und Propaganda für den mitteleuropäischen Gedanken. Später trat auch der Hansabund für Mitteleuropa ein. Vor allem im Umfeld der Nationalliberalen Partei und der Fortschrittlichen Volkspartei entstand in den Vorkriegsjahren eine Fülle wirtschaftspolitisch orientierter Literatur, in der ein ökonomischer Zusammenschluss Mitteleuropas unter deutscher Führung auf der Grundlage solcher Großraumvorstellungen propagiert wurde.28 Unter diesem interessenpolitischen Ansatz ist auch Walther Rathenau zu sehen, der wegen seiner Verbindungen zur Reichsleitung unter Kanzler Bethmann-Hollweg besondere Beachtung verdient. Sein Mitteleuropakonzept, das er vor dem Weltkrieg entwickelte, hatte ein kontinentaleuropäisches (Frankreich, langfristig eventuell auch England einschließendes) Zollbündnis zum Ziel, das vor allem ein Gegengewicht zur aufsteigenden amerikanischen Wirtschaftsmacht bilden sollte.29 Von österreichischer Seite erwies der Industrielle Club in Wien diesen Tendenzen seine Referenz  ; zu den führenden österreichischen Propagatoren entwickelten sich der Nationalökonom Eugen Philippovich und der böhmische Ina.a.O., S.  31–66  ; Willibald Gutsche, Zur Mitteleuropapolitik der deutschen Reichsleitung von der Jahrhundertwende bis zum Ende des ersten Weltkrieges, a.a.O., S.  85–106  ; Herbert Gottwald, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Mitteleuropapolitik der herrschenden Klasse in Deutschland von der Jahrhundertwende bis 1918, a.a.O., S. 145–189  ; Ursula Mader, Europapläne und Kriegsziele Walther Rathenaus (1912 bis 1916), a.a.O., S. 191–205  ; Jörg Villain, Zur Genesis der Mitteleuropakonzeption Friedrich Naumanns bis zum Jahre 1915, a.a.O., S. 207–215  ; Boris M. Tupolev, »Mitteleuropa« und die »Weltpolitik« des deutschen Imperialismus am Vorabend des ersten Weltkrieges, a.a.O., S. 217–225. 27 Fischer, Krieg der Illusionen, op. cit., S. 23 ff.; Meyer, Mitteleuropa [Anm. 1], S. 63 ff.; Theiner in  : Berding (Hg.), Integration, op. cit., S. 130 ff. 28 Fischer, Krieg der Illusionen, op. cit., S.  34 ff., 325 ff. Der ökonomische Interessenhintergrund ebenfalls herausgearbeitet bei Gutsche in  : ZfG 5 (1972), op. cit., S. 536 ff. 29 Zu Rathenaus Ansatz vor dem Hintergrund seiner Funktion als Industrieller vgl. Mader in  : JbfGesch. 15 (1977), op. cit., S. 191–200.

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dustrielle Alexander Peez, wobei von dieser Seite schon früh interessenpolitische Vorbehalte gegen eine volle Zollunion geltend gemacht wurden.30 Schwerindustrie und deutsche Landwirtschaft lehnten mitteleuropäische Zollverbandsideen hingegen ab.31 Unter den großen nationalistischen Agitationsverbänden stieg der Alldeutsche Verband in die Mitteleuropa-Kampagnen ein, wobei hier die im engeren Sinn ökonomischen Aspekte ersetzt wurden durch völkische (germanische) Integrationsparolen, deutsche Herrschaftsansprüche und die Propagierung von Expansion durch Siedlungsbewegung.32 Damit war bereits im letzten Vorkriegsjahrzehnt das Panorama der unterschiedlichen Ansätze geprägt, das später die Mitteleuropadiskussion im Rahmen der Kriegszieldebatte bestimmen sollte. Auch die Elastizität der geographischen Mitteleuropa-Vorstellung und die Funktionalisierbarkeit des wiederbelebten Schlagwortes für unterschiedliche Konzepte werden bereits frühzeitig erkennbar. Die Verbindung Deutschlands mit Österreich-Ungarn war zwar durchweg der unbestrittene Kern »Mitteleuropas«  ;33 im Übrigen aber waren die deutscher­seits entwickelten Pläne eher westlich orientiert, sei es, dass vor allem die Niederlande, Belgien und die Schweiz, ergänzungsweise das »germanische« Skandinavien in den mitteleuropäischen Verband einbezogen werden sollte, sei es, dass mit der zusätzlichen Einbeziehung Frankreichs (gelegentlich auch des Dreibundpartners Italien) ein kontinentaler Block geschmiedet werden sollte, woraus sich denn doch eine erhebliche Verschiebung des landläufigen Bildes von »Mitteleuropa« ergab. Bezeichnenderweise verband sich mit dem konzeptionellen Ausgriff auf die kontinentalen Atlantikanrainer ein begehrlicher Blick auf deren Kolonialreiche, die es in ein handelspolitisches Präferenzsystem einzubeziehen galt.34 Gewisse Elemente der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der 1950er Jahre, und zwar in ihrer anfänglichen kontinental-kleineuropäischen Gestalt, sind in diesem Plan eines deutsch-französisch-niederländisch(-italienischen) Verbundes durchaus erkennbar, in der Weltkriegszeit freilich unter dem Vorzei30 Fischer, Krieg der Illusionen [Anm. 26], S. 30 f., 335 f.; zu den deutsch-österreichischen Schwierigkeiten S. 42l ff. Die progammatischen Ansätze mit der aktuellen Vertragspolitik konfrontierend Lothar Höbelt, in  : Habsburgermonarchie 6,1 [Anm. 24], S. 570–579 passim. Zu den Austauschbeziehungen sehr instruktiv auch Nussbaum in  : Jb. f. Gesch. 15 (1977) [Anm. 26], S. 31–66. 31 Gutsche in  : ZfG 5 (1972) [Anm. 26], S. 539. 32 Fischer, Krieg der Illusionen, op. cit., S. 347 ff. 33 Die DDR-Forschung ( Jb. f. Gesch.15 (1977) [Anm. 26]  : S. 45 u. ö. (H. Nussbaum), S. 170 (H. Gottwald) übernimmt hierfür die Bezeichnung »kleinmitteleuropäische Variante«, der die darüber hinausgehenden Projekte als »großmitteleuropäische Variante« gegenübergestellt werden. Ähnlich schon Ernst Görlich 1941/42 [Anm. 10]. 34 Gottwald in  : Jb. f. Gesch. 15 (1977), op. cit., S. 149 f.

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chen einer massiven deutschen Hegemonie und mit einer ausgeprägten Spitze gegen die angelsächsischen Mächte. Der für moderne imperiale Trends stets empfängliche deutsche Kaiser sprach bereits 1896/97 und dann öfter von »Vereinigten Staaten von Europa«, die es zu formieren gelte.35 Ein weiteres Ausgreifen »Mitteleuropas« über die Habsburgermonarchie hinaus in den südosteuropäischen Hinterhof lag zunächst nicht im Horizont dieser Konzepte. Dies änderte sich jedoch in dem Maße, wie das Engagement deutscher Wirtschaftsgruppen und des deutschen Militärs im Osmanischen Reich zunahm und die Stabilisierung und Penetration dieses geopolitisch interessanten Riesenreiches zu einem bevorzugten Ziel deutscher Imperialisten avancierte.36 Vor allem die der Regierung nahestehenden Propagandisten und journalistischen Experten Ernst Jaeckh und Paul Rohrbach wirkten für die Popularisierung dieser Vorstellungen.37 »Berlin-Bagdad« – oder auch »Borkum-Basra«, womit die maritime Perspektive pointierter zur Geltung kommen sollte – wurden zu griffigen Formeln, in denen diese politische Stoßrichtung propagandistisch zum Ausdruck gebracht wurde. Die Achse Berlin-Bagdad lenkte den Blick notwendigerweise auf die Zwischenglieder des Donau- und Balkanbereichs, wodurch zugleich Position und Funktion des österreichisch-ungarischen Bündnispartners neu akzentuiert wurden. Auf diese Weise entwickelte sich eine Mitteleuropavorstellung, die wieder stärker mit den alten Plänen Brucks übereinstimmte  : Ein Wirtschaftsverbund, der vor allem die Völker Südosteuropas einschloss und unter hegemonialer Führung der deutschen Gesamtnation stand, wobei Österreich als »zweiter deutscher Staat« nunmehr freilich, entsprechend der eingetretenen Gewichtsverlagerung, in die Rolle des Juniorpartners einrückte. Ebenso weist die nahöstliche Stoßrichtung der Einflussexpansion auf Bruck zurück wie auch die damit verbundene Vorstellung, hierdurch eine geopolitische Position gegen das Britische Weltreich aufbauen zu können. Zweifellos sahen die reichsdeutschen Imperialisten die Fragen einer stärkeren deutsch-österreich-ungarischen Integration wie die kontinentalen Aspekte der Mitteleuropa-Idee überhaupt stets im Horizont der weltpolitischen Ambitio35 Fischer, Krieg der Illusionen, op. cit., S. 368. 36 Fischer, Krieg der Illusionen, op. cit., S. 340 ff.; Meyer, Mitteleuropa [Anm. 1], S. 95 ff. Zum politischen Geschehen Fischer, a.a.O. S. 424 ff., 481 ff. In kaum erträglichem Agitprop-Stil Lothar Rathmann, Stoßrichtung Nahost 1914–1918. Zur Expansionspolitik des deutschen Imperialismus im ersten Weltkrieg, Berlin (DDR) 1963, Vorwort u. Kap. 1–3. 37 Dazu ausführlich Meyer, Mitteleuropa, op. cit., S. 95–115  ; Fischer, Krieg der Illusionen, op. cit., S. 368–383 passim.

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nen  ; die maritimen und kolonialpolitischen Aspirationen wurden keineswegs zugunsten kontinentaler Konzepte zurückgestellt, ganz im Gegenteil.38 Insofern waren die Probleme der Habsburgermonarchie und des deutsch-österreichischen Verhältnisses aus dieser Sicht eher von nachgeordneter Bedeutung. Von österreichischer Seite wurde denn auch deutsche Geringschätzung beziehungsweise deutsche Ignoranz gegenüber den spezifischen Problemen des Vielvölkerstaates und seiner prekären Situation bedauert.39 Noch 1924 klagte der deutsch-­liberale Historiker Victor Bibl über die deutsche »Weltpolitik« mit den Worten  : »Anstatt über die Meere zu schweifen und auf einem Sandhaufen die deutsche Flagge zu hissen, um sich im Lande der Hottentotten kolonisatorisch zu betätigen, hätte Deutschland wohl besser getan, die alten, vorgezeichneten Bahnen des mitteleuropäischen Gedankens zu wandeln und gemeinsam mit Österreich-Ungarn die deutsche Kultur nach dem Osten zu tragen.«40 Gleichwohl intensivierte sich mit den Mitteleuropaprojekten die wechselseitige Wahrnehmung, freilich geschah dies, wie kaum anders zu erwarten, vor allem unter nationalen, gesamtdeutschen Vorzeichen. Ein so akzentuiertes Interesse an Mitteleuropa entwickelte sich durchaus beiderseitig. Im Horizont der nationalpolitischen Lagerbildung, die das innenpolitische Klima Österreichs bestimmte und die sich seit der Badeni-Krise von 1897 außerordentlich verschärft hatte, bewertete das deutschliberale und deutschnationale Lager Mitteleuropapläne vor allem unter dem Gesichtspunkt einer Positionsverbesserung für das österreichische Deutschtum. Unter extrem nationalistischen Vorzeichen geschah dies bei den Alldeutschen beiderseits der Grenzen, wo dieses Denken sich bezeichnender Weise in Siedlungs- und innerhabsburgischen Kolonisationsprojekten manifestierte.41 Dabei erhoffte die deutsch-österreichische Seite durchaus eine Umorientierung weg von weltumspannen den Aktivitäten zugunsten einer Hinwendung nach Südosten. Aber etwa auch die deutsch-österreichische Großindustrie erhoffte sich, bei allen Vorbehalten gegen eine sofortige vollständige Zollunion, von Mitteleuropa eine Stärkung ihrer Position gegenüber den innermonarchischen AbkapselungsTendenzen der nationalen Industrieprogramme Ungarns und der Čechen. Hier 38 Überzeugend Fischer, Krieg der Illusionen, op. cit., Kap. 11 u. 12. Vgl. auch Theiner, »Mitteleuropa«-Pläne, in  : GG Sonderheft 10 [Anm. 26], S. 133 ff. Dabei ist stets zu beachten, dass dies für die Ebene der Konzepte und Ideologien gilt, nicht für die Ebene der tatsächlichen Wirtschaftspolitik. 39 Vgl. das Zeugnis Friedjungs und Bibls, [Anm. 22 u. 40]  ; ferner Meyer, Mitteleuropa [Anm. 1], S. 48 ff. 40 Victor Bibl, Der Zerfall Österreichs, 2 Bde., Wien 1922, 1924, Bd. 2, S. 484. 41 Meyer, Mitteleuropa [Anm. 1], S. 54 ff.

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wie im deutschen altliberalen Lager Österreichs überhaupt lebte die traditionelle Vorstellung von der zivilisatorischen Überlegenheit des Deutschtums fort, das sich im südosteuropäischen Bereich am natürlichsten und wirkungsvollsten auf informelle Weise, im Rahmen offener und durchlässiger Strukturen zur Geltung bringen würde. Diese Tradition, die gwm. ›über‹ dem sich einfressenden und gerade auch deutsche Gruppen ergreifenden Nationalitätenhader stand, fand sich auch in der gelehrten Welt Altösterreichs, so etwa in den Staatswissenschaften.42 In diesem Umfeld entwickelten sich auch die Vorstellungen Friedrich Naumanns, der bereits 1899 eine Österreichreise unternommen und Kontakt zu führenden deutsch-liberalen, aber auch sozialistischen Politikern, Publizisten und Wissenschaftlern aufgenommen hatte. Die Frucht dieser Erkundungen waren mehrere Bücher und Aufsätze  ; auch öffnete Naumann sein Publikationsorgan »Die Hilfe« dem Österreichgedanken. Den Kern seines Mitteleuropakonzepts von 1915 entwickelte er bereits vor dem Krieg  : Berlin und Wien sollten im Sinne eines neuartigen Großdeutschtums gemeinsam die Verantwortung für Mitteleuropa als Ganzes übernehmen und damit die deutsche Dominanz gewährleisten. Unter Wahrung föderativer Formen sollten die europäischen Grenzen geachtet, auf keinen Fall die Slaven Mitteleuropas germanisiert werden. Ein Verzicht auf Weltpolitik war in diesem Mitteleuropa-Prospekt dieses »liberalen Imperialisten« im Horizont der Vorkriegssituation43 vorerst jedoch nicht impliziert. In ähnlicher Tendenz meldeten sich auch Historiker zu Wort. Auf der Ebene der historisch-politischen Traditionsbildung und Reflexion war die Verknüpfung von Großdeutschtum und dem Konzept einer übernationalen, jedoch deutsch geführten föderativen Organisation Mitteleuropas nie verloren gegangen  ; freilich befanden sich die prominenten Vertreter dieses Denkens, wie man an Constantin Frantz sehen kann, während der Bismarckzeit in randständiger Opposition zu den Haupttrends des reichsdeutschen historisch-politischen Denkens.44 In der wilhelminischen Ära begann sich dies zu ändern. Von österrei42 Meyer, Mitteleuropa, op. cit., S. 39 ff. 43 Zu Friedrich Naumann Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983. Zur Außenpolitik knapp a.a.O., S.  217 ff. Die Vorstufen des Naumannschen Mitteleuropakonzepts vor 1914 bei Theiner nicht erwähnt  ; vgl. dazu ausführlich Meyer, Mitteleuropa, op. cit., S. 88- 95  ; ferner Wolfgang Schieder [Anm. 74]. 44 Für die Auffassungen von Constantin Frantz u. a. sein 1879 erschienenes Werk  : Der Föderalismus als das leitende Princip für die sociale, staatliche und internationale Organisation, unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland, Mainz 1879, Nachdr. Aalen 1962. Zu Frantz Meyer, Mitteleuropa [Anm. 1], S. 26 ff.

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chischer Seite hatte der schon zitierte Historiker Heinrich Friedjung45 seit den 90er Jahren die österreichische und deutsche Geschichte der Paulskirchen-Zeit und der nachfolgenden Phase des Kampfes um die Vorherrschaft in Deutschland in größeren Gesamtdarstellungen behandelt. Mit seiner deutsch-liberal eingefärbten österreichischen Perspektive, die er der kleindeutsch-borussischen Schule entgegensetzte, brachte er gerade auch für ein reichsdeutsches Publikum österreichische Gesichtspunkte zur Geltung und stellte die gesamtdeutschen Verdienste etwa eines Bruck in helles Licht. Auch im Reich selbst verblassten im Zeichen des Zweibundes und der Beendigung des Kulturkampfes die ­alten kleindeutsch-großdeutschen Antagonismen, löste die »Rankerenaissance« die alte nationalliberal-borussische Kampfhistoriographie ab, gaben Vertreter ­einer jungen Historikergeneration einer ausgewogeneren Betrachtung des preußisch-­ österreichischen Verhältnisses Raum. Hier sind vor allem Hermann Oncken46 und Wilhelm Schüßler47 zu nennen. Umgekehrt fand aus katholischer Tradition Martin Spahn48 zum Deutsch-Natio­ nalismus. Sie stellten die Existenznotwendigkeit der Habsburgermonarchie als ein deutsches Interesse heraus und warben um eine Überwindung kleindeutscher Gesichtspunkte zugunsten eines größeren mitteleuropäischen Zusammenhan45 Heinrich Friedjung, Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859 bis 1866, 2 Bde., Stuttgart 1897, 1898  ; ders., Österreich von 1848 bis 1860, 2 Bde. [mehr nicht ersch.]  ; Stuttgart 1908, 1912. Die deutsch-liberale Perspektive Friedjungs kommt v. a. auch in seinen Aufsätzen aus der Vorkriegszeit zur Geltung. Vgl. ders., Historische Aufsätze, Stuttgart-Berlin 1919. Zu Bruck vgl. den in Anm.  22 genannten Aufsatz  ; ferner  : Österreich von 1848 bis 1860, Bd.  1, S.  303ff, Bd. 2, S. 25 ff. 46 Eine neue Bewertung des strukturellen Aufeinander-Angewiesen-Seins deutscher und österreichischer Außenpolitik zeichnete sich bereits in Hermann Onckens Vortrag von 1911 ab  : Deutschland und Österreich seit der Gründung des Neuen Reiches (1871–1911), Abdruck in  : ders., Historisch-politische Aufsätze und Reden, München-Berlin 1914, S. 121–144. Die eigentliche Wende zu Mitteleuropa mit kriegsbedingten Akzenten dann in ders., Historisch-politische Aufsätze und Reden, München-Berlin 1914, S. 121–144. Ferner ders., Das alte und das neue Mitteleuropa. Historisch-politische Betrachtungen über deutsche Bündnispolitik im Zeitalter Bismarcks und im Zeitalter des Weltkrieges, Gotha 1917. 47 Wilhelm Schüßler hatte sich mit seiner Arbeit  : Die nationale Politik der österreichischen Abgeordneten im Frankfurter Parlament, Leipzig 1913, der großdeutschen Thematik zugewandt. Für seine historisch-politischen Auffassungen charakteristisch der Aufsatz  : Neudeutschland und Öster­reich, in  : Preuß.Jbb. 153 (1913), S. 400–412. 48 Der großdeutsch-katholische Nationalist Martin Spahn (Sohn des Zentrumspolitikers Peter Spahn) entwickelte unter den drei genannten Historikern als einziger bereits vor 1914 eine Mitteleuropaperspektive deutsch-österreich-ungarischer Geschichte und Politik. Ders., Österreichs Sache, unsere Sache, in  : Der Tag, 15.12.1912.

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ges. Die stärkere Hinneigung zur Habsburgermonarchie und ihrer südosteuropäischen Rolle verband sich bei diesen Historikern mit der Forderung nach einer inneren Reform Österreich-Ungarns im föderativen Sinne. Hierbei machten sie Front gegen den magyarischen Chauvinismus wie auch gegen das Alldeutschtum auf bei beiden Seiten der Grenze. Die Gleichberechtigung der Nationalitäten sollte zugleich Raum geben für eine mehr indirekte Führungsrolle des Deutschtums kraft kultureller Überlegenheit und in dieser Form ein attraktives Modell für den europäischen Südosten abgeben. Als Legitimationshilfe für diese Rollenbestimmung Österreichs in einem deutsch-akzentuierten Mitteleuropa wurde nun auch die Autorität Bismarcks bemüht. Hier begann die historiographische Tendenz, den Kanzler zum Mitteleuropäer zu stilisieren. Insbesondere der Zweibund von 1879 rückte dabei in die Perspektive einer so auch gewollten Weichenstellung von grundlegender Bedeutung.49 Insgesamt entfaltete sich die Mitteleuropaidee bereits vor dem Ersten Weltkrieg in einer breiten Streuung von Programmen und allgemeinen Vorstellungen sowie auf den unterschiedlichen Ebenen der wirtschaftlichen Interessengruppen, der nationalen Agitationsverbände, des mehr oder minder partei-­und interessengebundenen Journalismus sowie des politischen Professorentums. Von einer koordinierten ideologischen Bewegung kann dabei selbstverständlich keine Rede sein  ; über das allen gemeinsame Grundgefühl eines Verlangens nach deutscher Weltgeltung und deutschen Wachstums hinaus waren die konkreten Ziele durchaus disparat und teilweise kaum miteinander vereinbar. Insgesamt lassen sich die Expansionsvorstellungen grob nach zwei Richtungen hin gruppieren  : Auf der einen Seite stand der aggressive Nationalismus vor allem des Alldeutschen Verbandes, der von völkischen oder auch rassistischen Kategorien beherrscht war. Hier wurde Expansion als Territorialexpansion durch Annexion, als Siedlungsbewegung, Zusammenfassung der germanischen Völker des Kontinents, Herrschaft über die geringerwertigen Slawen Ostmitteleuropas aufgefasst  ; der Maximalismus des Weltmachtprogramms umfasste kontinentaleuropäische, nahöstliche und überseeische Ziele gleichermaßen  ; das Erfordernis kriegerischer Lösungen war selbstverständlich. Eine aggressive Grundhaltung sowie annexionistische Tendenzen (zur Verbesserung der Rohstoffbasis) waren im Bereich der Wirtschaft vor allem in der Schwerindustrie beheimatet, doch war manchem ihrer Vertreter auch die Einsicht nicht fremd, dass privatwirt49 Durchgängige Tendenz bei Oncken, Das alte und das neue Mitteleuropa [Anm. 46]. In der Zwischenkriegszeit diese Bismarckwertung u. a. bei Hans Rothfels. Zusammenfassung dieser Studien in  : ders., Bismarck, der Osten und das Reich, Darmstadt 1960.

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schaftliche Methoden des Anteilserwerbs zur Sicherung ökonomischer Ziele hinreichend sein konnten. Auf der anderen Seite befanden sich die liberalen Imperialisten aller Schattierungen mit ihren Verbindungen in die zivile Reichsleitung und die hinter ihnen stehenden Interessen der Exportindustrie  : Sie orientierten sich an den Zielen der Marktentwicklung und Marktsicherung und bevorzugten indirekte Methoden hegemonialer Führung im Rahmen föderativer Präferenzsysteme. Mit dem Konzept einer mehr partnerschaftlichen Bündelung der Interessen im Vertrauen auf die natürliche Überlegenheit des deutschen Potentials verband sich die Bereitschaft zu einer liberalisierenden Reform der innerdeutschen Herrschaftsstrukturen. Insgesamt bot sich hier die Perspektive einer eher friedlichen Penetration, doch fehlt es auch bei den liberalen Imperialisten nicht an Äußerungen, dass eine Formierung Mitteleuropas als Basis einer deutschen Weltmachtrolle möglicherweise des Rückenwindes eines siegreichen Krieges bedürfe. Es lässt sich feststellen, dass nach dem für Deutschland höchst unbefriedigenden, die Isolierung der Mittelmächte spürbar machenden Ausgang der zweiten Marokkokrise allerseits eine pessimistische Lagebeurteilung und im Zusammenhang damit die Neigung zu einem forcierten konzeptionellen Rekurs auf die Ausgestaltung der kontinentaleuropäischen Basis deutscher Weltgeltung im Vordringen war. Den Forschungen Fritz Fischers wie den einschlägigen DDR-Forschungen kommt das Verdienst zu, Umfang und allgemeine Relevanz der Mitteleuropa­ konzepte schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sowie die inhaltliche Kontinuität dieser Ansätze zu den einschlägigen Kriegszieldebatten herausgearbeitet zu haben.50 Nach diesen Ergebnissen zeigt insbesondere das Engagement von Industrieverbänden in der Mitteleuropadiskussion der Vorkriegs- wie der Kriegszeit, dass es sich um ein ernstzunehmendes Konzept von politischem Gewicht handelt, das weder ein bloßes Produkt der Kriegssituation51 war noch lediglich ein Instrument der wirtschaftlichen Kriegführung in Beantwortung der britischen Fernblockade darstellte,52 sondern eine langfristige und strukturbildende Perspektive enthielt.53 Zu kritisieren ist jedoch die mit diesen Forschungen verbundene Wertung, die unterschiedlichen deutschen Expansionskonzepte, darunter auch die Mitteleuropaprojekte, als bloße Varianten einer substantiell 50 Vgl. Anm. 26. 51 Stark betont von Meyer, Mitteleuropa [Anm. 1], S. 116 u. Kapitel 6 passim. 52 So die etwas einseitige Perspektive von Egmont Zechlin  : Deutschland zwischen Kabinettskrieg und Wirtschaftskrieg. Politik und Kriegführung in den ersten Monaten des Weltkrieges 1914, in  : HZ 199 (1964), S. 347–458, hier S. 397 ff. 53 So zuletzt auch Theiner, »Mitteleuropa«-Pläne, GG Sonderheft 10 [Anm. 26], S. 136.

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gleichartigen Grundtendenz anzusehen, die im Kern von Aggression, struktureller Gewalt und Herrschaftswillen bestimmt sei. Das zeitgenössisch deutlich ausgeprägte und vielfach bezeugte Bewusstsein von der Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit der Expansions- oder Penetrationskonzepte gerät in dieser Verurteilung ex post bestenfalls zum objektiven Schein, schlimmerenfalls zum intendierten propagandistischen Täuschungsmanöver, wobei indirekter Einflusssicherung lediglich die größere Raffinesse attestiert wird. Mit dem Kunstgriff eines extensiven Gewaltbegriffs54 werden schließlich nicht nur die indirekten und informellen Methoden hegemonialer Einfluss-Sicherung, sondern jeder Aufbau eines Beziehungssystems zwischen Partnern ungleicher Potenz als gewaltsamer Imperialismus interpretiert, ein Schema, dem dann auch das in den Mitteleuropaplänen intendierte Verhältnis zum Zweibundpartner Österreich-Ungarn zugeordnet werden kann. Ein solcher Reduktionismus in der Bewertung der Mitteleuropapläne wird der Unterschiedlichkeit der Konzepte und der hinter ihnen stehenden politischen Grundüberzeugungen und Methodenlehren nicht gerecht, auch wenn selbstverständlich nicht zu bestreiten ist, dass alle Entwürfe die Sicherung deutscher (aus österreichischer Sicht  : gesamtdeutscher) Überlegenheit in Mitteleuropa zum Ziel hatten und von der Ideologie deutscher Weltgeltung getragen waren. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die kurzschlüssige Verknüpfung der Mitteleuropakonzepte bzw. imperialistischer Propaganda überhaupt mit dem tatsächlichen wirtschaftlichen Geschehen und der tatsächlichen Politik der Reichsleitung in den letzten Vorkriegsjahren bis hin zur Julikrise von 1914. Diese Problematik lenkt auf die Kriegsschuldfrage und im Zusammenhang damit auf die »Fischer­ kontroverse« über Bestimmungsgründe und Motivlage für die Auslösung des Weltkrieges  ; sie kann hier nicht aufgerollt werden.55 Abgekürzt lässt sich ­sagen, dass die ökonomische Entwicklung und die zugehörigen ökonomischen Wachstums- und Expansionsinteressen unentscheidbar friedliche wie kriegerische Per­spektiven aufwiesen und dass die von hier ausgehenden tatsächlichen Impulse auf das politische Verhalten der Reichsleitung eher die Präferenz friedlicher Entwicklung enthielten. Die aus der pessimistischen Wahrnehmung einer schleichenden Verschlechterung der Gesamtlage Deutschlands erwachsende Bereitschaft zum ›Präventivkrieg‹ wurde vorrangig von militärischen Erwägun54 Explizit bei Schröter  : Die objektiven ökonomischen Triebkräfte, in  : Jb. f. Gesch. 15 (1977) [Anm. 26], S. 19–29. 55 Knapp mit Diskussion des Forschungsstandes Gunther Mai, Das Ende des Kaiserreichs. Politik und Kriegführung im Ersten Weltkrieg, München 1987, S. 51 ff., 212 ff.

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gen getragen  ; ihnen dürfte auf deutscher Seite der entscheidende Anteil an den kriegsauslösenden Motiven zukommen. Weltkriegsbeginn und ›Mitteleuropa‹ Der Ausbruch des Krieges aktualisierte als Folge den gesamten aus der Vorkriegszeit vertrauten Komplex kolonialpolitischer, kontinental-mitteleuropäischer und orientpolitischer Konzepte samt den zugehörigen strategischen Erwägungen und ließ all dies nunmehr als Kriegszielforderungen virulent werden. Wenn dabei der kontinentale Aspekt in den Vordergrund trat, so reflektierte dies nur die militärische Situation  : Die Konzentration auf den europäischen Landkrieg, das Zurückgeworfensein auf den Kontinent dank britischer Seeüberlegenheit und infolge des Übergangs zu Fernblockade und Wirtschaftskrieg rückten das global dimensionierte Weltmachtstreben in die fernere Perspektive einer späteren Etappe und stimulierten das Konzept, dem Ausbau der deutschen Hegemonie in Europa und über den türkischen Verbündeten im osmanischen Herrschaftsbereich als Ziel des gegenwärtigen Krieges Vorrang einzuräumen. In der aufschäumenden Kriegszieldebatte beherrschten situativ die Annexionisten die Szene, deren Begehrlichkeiten sich auf Belgien, auf französische Gebiete, aber auch auf das Baltikum richteten. Neben den kontinentalen Aspirationen hielten andere Gruppen gleichwohl am Ziel großzügiger kolonialer Arrondierungen (v. a. in Zentralafrika) fest. Daneben und auch dagegen wurde unter dem Eindruck der Verdrängung Deutschlands von den Weltmärkten das Mitteleuropa-Projekt aktualisiert  : Statt eines blinden Annexionismus wollten die Vertreter von Finanzund Exportindustrie Deutschlands wirtschaftliche Vorherrschaft in Europa in föderativen Formen etabliert wissen. Walther Rathenau, der wichtigste Exponent dieser Gruppe, erneuerte im August 1914 gegenüber Bethmann-Hollweg seinen Vorschlag einer mitteleuropäischen Zollunion unter Einschluss Belgiens und Frankreichs. Mit Frankreich sollte ein Verständigungsfriede ohne Annexionen gesucht und ein kontinentaler Block gegen die maritimen Weltmächte aufgerichtet werden.56

56 Fischer, Krieg der Illusionen [Anm.  26], S.  739–774. Zu Rathenaus Denkschrift ausführlich auch  : Fritz Klein (et al.), Deutschland im Ersten Weltkrieg, 3 Bde., Berlin (DDR) 1968–1969, Bd. 1, S. 360 ff.; Zechlin, Deutschland zwischen Kabinettskrieg und Wirtschaftskrieg [Anm. 52], S. 395 ff.

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Insgesamt gilt für die aufgeheizte Kriegszieldiskussion das gleiche wie für die inhaltlich analogen Vorkriegsdebatten  : Über die alle Richtungen und Gruppierungen verbindende expansionistische Grundtendenz als solche hinaus ist kaum eine Linie gemeinsamer oder auch nur vereinbarer Zielsetzungen zu erkennen  ; vielmehr offenbarte sich ein unkoordinierter Wildwuchs von Vorstellungen und Begehrlichkeiten, der dann nicht zufällig auch zu kräftigen Fehden der verschiedenen Interessenten gegeneinander führte. Inhalt und Stellenwert der Mitteleuropaideen lässt sich nur im Zusammenhang dieser Gesamtheit der Kriegszielerörterungen und der damit verbundenen Kontroversen bestimmen. Insbesondere die Relevanz des Mitteleuropakonzepts für die tatsächliche Regierungspolitik ist unter diesen einschränkenden Vorgaben zu würdigen. Bekanntlich hat Reichskanzler Bethmann-Hollweg bald nach Kriegsbeginn die Kriegszieldebatte aufgegriffen, um sie im Wege der Koordinie­ rung zu kontrollieren und für den unmittelbar erwarteten Zusammenbruch Frankreichs einen Forderungskatalog zu präsentieren,57 der gegenüber den Interessenten eine Politik der »Diagonale« befolgte. In einem eher additiven Verfahren, das den unterschiedlichen Zielkomplexen Rechnung zu tragen sucht, vereint das »Septemberprogramm« von 1914 Annexionsziele gegenüber Frankreich, Belgien und Luxemburg, erst in zweiter Linie Kolonialziele, schließlich als Überwölbung des Ganzen das Projekt des mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes, der ­neben den Mittelmächten Frankreich, Rest-Belgien und Holland, im Osten Polen sowie eventuell die skandinavischen Länder und Italien umfassen sollte. Abweichend von Rathenaus Vorstellungen wurde hier das Mitteleuropaprojekt mit dem harten Kern des Annexionsprogramms verknüpft  ; entsprechend erscheint seine inhaltliche Ausgestaltung bestimmt von den Momenten deutscher ökonomischer Herrschaft und politisch-ökonomischer Schwächung der übrigen Kontinentalstaaten, insbesondere Frankreichs, das auf diese Weise fast Satellitenstatus erhal­ten hätte. Der Augenblick des Sieges sollte zum Oktroi eines Programmes genutzt werden, das gegenüber den kontinentaleuropäischen ›Partnern‹ unter anderen Voraussetzungen zweifellos keine Chance einer Durchsetzung gehabt hätte. Dass die militärische Führung, in vermindertem Maße aber auch die zivile Reichsleitung dazu bereit waren, die Prinzipien reichsdeutscher militärischer Hegemonie, politisch-ökonomischer Penetration und politischer Einmischung auch gegenüber dem Bündnispartner Österreich-Ungarn zur Geltung zu bringen und 57 Aufzeichnung Bethmann Hollwegs über die Ziele beim Friedensschluss v. 9.  September 1914 (»September-Programm«)  ; leicht zugänglicher Abdruck bei Mai, Das Ende des Kaiserreichs [Anm. 55], S. 199–203.

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die Kriegssituation zu entsprechenden strukturbildenden Weichenstellungen zu nutzen, zeigt die weitere Behandlung des Mitteleuropaprojekts in den folgenden Kriegsjahren. Mit dem Scheitern des Blitzkrieges im Westen und der sich abzeichnenden Aussichtslosigkeit einer Einbeziehung Frankreichs in den Kontinentalblock verlagerte sich das hegemoniale Gestaltungsinteresse nach dem Osten. Hier beförderten die militärischen Erfolge des Jahres 1915 gegen Russland, verbunden mit der Erfahrung, dass ein Separatfrieden vom Zarenreich nicht zu erhalten war, das Konzept einer deutsch dominierten Organisation Ostmitteleuropas auf Kosten eben Russlands, das nach Osten abgedrängt werden sollte. Das betraf die baltischen Länder  ; vor allem aber wurde das »befreite« Russisch-Polen zum Schlüsselobjekt. Die mit der Reorganisation Polens als Satellit verbundenen Probleme für die deutsche Innenpolitik ließen das Projekt einer austro-polnischen Lösung reifen  ; eine solche wiederum erschien aus deutscher Perspektive nur erträglich, wenn die Habsburgermonarchie insgesamt zuverlässig und auf Dauer an das Deutsche Reich gebunden würde. Auf diesem Umweg wurde »Mitteleuropa« ab der zweiten Jahreshälfte von 1915 zum Gegenstand realer politischer Aktivitäten und entsprechender Verhandlungen mit Wien.58 Am weitesten ging die Oberste Heeresleitung unter Falkenhayn in ihren Vorstellungen und Forderungen, die auf eine dauerhafte Unterordnung des gesamten österreichisch-ungarischen Militärwesens unter deutsche Befehlsund Richtlinienkompetenzen sowie Generalstabsplanung hinausliefen. Eine ­der­artige Preisgabe von Souveränitätsattributen als Belohnung für den gemeinsam errungenen Sieg hielten Bethmann-Hollweg und seine politischen Mitarbeiter denn doch für unzumutbar  ; sie vermieden es, den Katalog der Militärs dem Verbündeten bekanntzugeben. Die Eröffnungen, die die deutsche Reichsleitung dem österreichisch-ungarischen Außenminister bei den förmlichen Verhandlungen im Spätherbst 1915 tatsächlich machten, zielten auf einen durch langfristige Verträge abgesicherten Verbund beider Reiche auf politischem, wirtschaftlichem und militärischem Gebiet. Während die militärischen Fragen als Sache der Experten vorerst beiseitegeschoben wurden, legte die deutsche Seite zur Ausgestaltung der Wirtschaftsbeziehungen das Projekt einer stufenweise zu 58 Zum Zusammenhang von Polenfrage und ostwärts verlagerter »Mitteleuropa«-Planung Paul R. Sweet, Germany, Austria-Hungary and Mitteleuropa 1915-April 1916, in  : Festschrift für Heinrich Benedikt, hg. v. Hugo Hantsch u. Alexander Novotny, Wien 1957, S.  180–212, mit ausführlicher Wiedergabe der Quellen. Vgl. die spätere eindringliche Studie von Volker Ullrich, Die polnische Frage und die deutschen Mitteleuropapläne im Herbst 1915, in  : Hist.Jb. 104 (1984), S. 348–371. Hiernach das Folgende.

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verwirklichenden Zollunion vor, das für weitere Staaten offen sein sollte.59 Das Angebot eines langfristigen engen politischen Bündnisses schließlich wurde von dem Ersuchen begleitet, innerösterreichisch für eine entsprechende Absicherung der deutschen Vorherrschaft zu sorgen. Eine austro-polnische Lösung durfte aus reichsdeutscher Sicht nicht der weiteren Slawisierung der Habsburgermonarchie Vorschub leisten, die, wie offen beklagt wurde, ohnehin schon viel zu weit gediehen sei. Vielmehr verlange die Natur des Bündnisses, die deutsch-magyarische Herrschaftsteilung im Sinne der Grundidee von 1879 so wiederherzustellen, dass das Deutschtum in der österreichischen Reichshälfte die ihm gebührende führende Stellung »im Interesse Österreichs als germanischer Ostmark« wieder einnehmen könne. Nach dem Maßstab diplomatischer Gepflogenheiten im zwischenstaatlichen Verkehr war dies ein ziemlich massiver Einmischungsversuch, der in den Folgegesprächen durch bramarbasierende Äußerungen Wilhelms II. noch vergröbert wurde und insgesamt in dem entschiedenen Auftreten des deutschen Vertreters in Wien seine Entsprechung fand. Entsprechend deutlich fiel die Zurückweisung durch die österreichisch-ungarischen Antwortnoten aus, in denen es nicht an Belehrungen über den übernationalen Charakter der Donaumonarchie fehlte, die mehr sei als eine germanische Ostmark. Der reichsdeutschen Initiative und ihrer Tendenz, den Bündnispartner zum Juniorpartner, wenn nicht zum Satelliten zu degradieren, begegnete die österrei­ chisch-ungarische Politik mit zäher Hinhaltetaktik. In der polnischen Frage wiederum besann sich die deutsche Seite bald wieder eines anderen  ; insgesamt blockierten hier die miteinander unverträglichen Tendenzen einer Förderung polnischer Eigenstaatlichkeit, eines deutschen Expansionismus und einer deutsch-österreichischen Rivalität um den beherrschenden Einfluss sich wechselseitig und vereitelten bis zum Ende des Krieges jede konstruktive Polenpolitik.60 Bezüglich »Mitteleuropa« wurden als Ergebnis der Gespräche von 1915 immerhin Kommissions-Verhandlungen in Gang gesetzt, in denen das Projekt der Zollunion weiter bearbeitet werden sollte. Die bis zum Kriegsende sich hinziehende Expertenarbeit förderte vor allem die altbekannten Interessengegensätze zutage. Auf deutscher Seite brachten sich die agrarischen Widerstände ebenso zur Geltung wie auch die traditionellen bürokratischen Vorbehalte gegen eine, die deutsche 59 Memorandum des AA an Österreich-Ungarn vom 13.11.1915, zitiert nach Sweet in  : Festschrift Benedikt, op. cit., S. 197 ff. 60 Zur Polenfrage insgesamt Werner Conze, Polnische Nation und deutsche Politik im Ersten Weltkrieg, Köln-Graz 1958  ; Werner Basler, Deutschlands Annexionspolitik in Polen und im Baltikum 1914–1918, Berlin (DDR) 1962  ; Fischer, Griff [Anm. 26], 31964, S. 294 ff., 346 ff.

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außenwirtschaftspolitische Bewegungsfreiheit einengende, Bindung an die Donaumonarchie. Auf der Gegenseite befürworteten die ungarischen Großagrarier das Projekt  ; das national-ungarisch gestimmte Wirtschaftsbürgertum war aus protektionistischen Motiven dagegen  ; die österreichische Industrie fürchtete die reichsdeutsche Überlegenheit  ; das čechische Wirtschaftsbürgertum hielt schon aus politischen Gründen nichts von Mitteleuropa. Auf reichsdeutscher Seite verbanden sich mit der angestrebten Wirtschaftsunion gewichtige Marktexpansionsund Investitions-Interessen  ; entscheidend für die deutsche Verhandlungsseite war aber wohl der gegenüber der Vorkriegszeit durchaus neuartige politische Wille, Mitteleuropa im Sinne des neuen Blockdenkens als Zone einer unangefochtenen deutschen Hegemonie zu formieren. Komplementär dazu bestimmte der politische Selbstbehauptungswille der traditionellen Repräsentanten des Habsburgerreiches die Regierungsvertreter zu einer entsprechenden Hinhalte- und Verzögerungstaktik mit dem Ziel, handelspolitische Annäherungen nur vorsichtig dosiert zuzulassen und die spezifisch habsburgischen Agrar- und Industrie-Interessen nach Möglichkeit zu wahren. Kompliziert wurde die gesamte Materie durch die innerhabsburgischen traditionellen Ausgleichsprobleme und die darauf bezogenen ungarischen Widerstände. Immerhin bewirkte der politische Wille der beteiligten Regierungen in der Spätphase des Krieges, dass im Oktober 1918 in Salzburg »Richtlinien betreffend das künftige wirtschaftliche Verhältnis zwischen Österreich-Ungarn und Deutschland« paraphiert wurden. Sie vernachlässigten in ihren tarifpolitischen Bestimmungen keineswegs das habsburgische Interesse, sahen für eine Übergangszeit ein System von Zwischenzöllen vor und zielten auf eine vollständige Zollunion nach zwanzig Jahren  ; konkrete tarifpolitische Vorgaben für die dahin führenden Stufen waren dabei vermieden worden, weil man sich die weiteren Entscheidungen offen halten ­wollte.61 Es kann also gewiss keine Rede davon sein, dass »sich der deutsche Imperialismus mit seinen expansiven Bestrebungen weitgehend durchgesetzt« habe.62 Angesichts der weiterhin bestehenden Interessendifferenzen ist kaum wahrscheinlich, dass bei einem Sieg der Mittelmächte auf der Basis der Salzburger Formeln der Weg zu einem mitteleuropäischen Wirtschaftsverbund ohne weiteres offen gestanden hätte. So bleibt als Befund, dass auf der Ebene der deutschen Regie61 Grundlegend Gustav Gratz u. Richard Schüller, Die äußere Wirtschaftspolitik Österreich-Ungarns. Mitteleuropäische Pläne, Wien-New Haven 1925 (= Carnegie-Stiftung f. Internat. Frieden  : Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Weltkrieges, Österreich und Ungarn Serie 5). Vgl. auch die knappe Darstellung mit Lit. bei Höbelt, in  : Wandruszka u. Urbanitsch, Habsburgermonarchie, Bd. 6,1 [Anm. 24], S. 579–583. 62 So Willibald Gutsche, Mitteleuropaplanungen, in  : ZfG 5 (1972) [Anm. 26], S. 548.

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rungspolitik und der konkreten Verhandlungen eine massive Tendenz vorhanden war, im Rahmen des Mitteleuropakonzepts den Verbündeten einer reichsdeutschen Oberleitung und Penetration zu unterwerfen und auf dieser Basis eine ›gesamtdeutsch‹ akzentuierte hegemoniale Nachkriegsordnung in Ostmitteleuropa aufzurichten, wobei angesichts der Widerstände die effektive Durchsetzung dieses Programms alles andere als sicher war. Andererseits stellten die mitteleuropäischen Zollverhandlungen nur ein Moment in der Kriegszielpolitik des Deutschen Reiches dar und genossen in diesem Gesamtgeflecht kaum die oberste Priorität  ; die Bedeutung des Mitteleuropa-­ Komplexes sank vielmehr in dem Maße, in dem sich mit dem Zusammenbruch Russlands ganz neue Perspektiven eines raumgreifenden deutschen Herrschaftsstrebens auftaten. Insgesamt offenbart sich in den wechselnden Stoßrichtungen der internen Kriegszielformulierungen, der entsprechenden Verhandlungsinitiativen und der zugehörigen propagandistischen Begleitmusik der Interessenten sowohl ein gerütteltes Maß an Aggressivität, Herrschafts- und Unterdrückungswillen als auch ein Mangel an Stetigkeit, eine starke konjunkturelle Abhängigkeit von momentanen Kriegsverläufen und den darauf bezogenen wechselnden Chancen. Hierauf soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden.63 Dieser Hintergrund ist aber zu beachten, wenn die spezifische Qualität der öffentlichen Debatten um »Mitteleuropa« beurteilt werden soll. Es erscheint dabei wenig angemessen, die Mitteleuropaideen in einem eher additiven Verfahren als eine weitere Variante des deutschen Herrschaftswillens in die Masse der Kriegszielvorstellungen eingehen zu lassen. Ebenso ist es geboten, die in öffentlichen und internen Denkschriften vorgebrachten Konzepte von ihrer Verwertung im Hin und Her der Regierungspolitik zu unterscheiden. Nur so lässt sich differenzierend Bedeutung und Stellenwert der Mitteleuropavorstellungen im Gesamtfeld der Kriegszielvorstellungen herausstellen. Dass darin in mancher Hinsicht ein Kontrapunkt gegenüber den sonstigen Kriegszielprojektionen wie auch gegenüber der Kriegszielpolitik enthalten ist, werden die polemischen Auseinandersetzungen um das Mitteleuropakonzept zeigen. Waren die deutschen Mitteleuropaideen der ersten Kriegsmonate, für die der Name Rathenaus stand, eher westlich orientiert, so traten mit der Wendung nach Osten im Jahre 1915 vor allem österreichische Stimmen in den Vordergrund. Nicht zufällig wurde Bethmann-Hollwegs Initiative nicht unwesentlich durch eine österreichische Mitteleuropa-Denkschrift stimuliert. Die österreichischen Mitteleuropa-Befürworter entstammten, wie sich dies schon in der Vorkriegs63 Fischer, Griff, 31964, op. cit., Dritter Teil passim.

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zeit angebahnt hatte, freilich einem ganz bestimmten politischen Umfeld, nämlich einerseits dem deutsch-nationalen Lager, andererseits den großdeutsch oder besser gesamtdeutsch gestimmten Deutsch-Liberalen aus der großbürgerlichen Schicht der altösterreichischen Politiker und Gelehrten. Damit wird nun der innerösterreichische Aspekt des Mitteleuropakomplexes thematisiert, dessen Existenz zugleich zeigt, dass eine kritische Interpretation des Gesamtphänomens als Ausgeburt des reichsdeutschen Imperialismus zu kurz greift. Am nächsten standen die Deutsch-Nationalen Böhmens der völkischen Ideologie der Alldeutschen, wenn sie das Mitteleuropakonzept in erster Linie als Vehikel einer Stärkung des Deutschtums in der Habsburgermonarchie und vorrangig in den böhmischen Ländern ansahen. Von der Wirtschaftsunion erwarteten sie eine Verstärkung deutscher Investitionstätigkeit, vor allem aber die Inaugurierung einer deutschen Siedlungsbewegung, die den Bevölkerungstrend der letzten Jahrzehnte umkehren und über flankierende administrative Stützungsmaßnahmen die Herrschaft der Deutsch-Böhmen im Lande sicherstellen sollte. Nicht zu Unrecht berief man sich in der Betonung des Siedlungsgedankens auch auf List und Bruck. Das Konzept einer deutsch-österreichischen »Wehreinheit« lag in derselben Linie eines deutsch bestimmten Integralismus.64 Charakteristisch für die österreichische Szene war die Bildung verschiedener personell sich vielfach überlappender Gesprächskreise, in denen die gelehrte Welt auf das deutsch-bürgerliche Unternehmertum traf. Die internen oder im Privatdruck verbreiteten Denkschriften, die hieraus hervorgingen, hielten gewiss eine andere Tonlage ein als die deutsch-nationale Presseagitation, aber auch sie standen stark unter dem Eindruck des gesamtdeutschen Aufbruchs. Hiervon wurden vor allem die Vertreter aus Nationalökonomie, Geschichtswissenschaft und Politik getragen, während die Unternehmerschaft ihre traditionellen Interessenvorbehalte vorerst hinter freundlichen Sympathiebekundungen verbargen.65 Unter nationalistischen Gesichtspunkten bewertete der deutsche Nationalökonom Arthur Spiethoff, der zu dieser Zeit in Prag lehrte, die Zoll- und Wirtschaftsunion.66Aber auch sonst war durchweg der Gesichtspunkt maßgebend, 64 Hier ist vor allem die Zeitung »Deutsche Arbeit« zu nennen, deren Herausgeber Hermann Ullmann 1915 auch mit einem Buch an die Öffentlichkeit trat  : Die Bestimmung der Deutschen in Mitteleuropa, Jena 1915. Zu den deutsch-nationalistischen Aktivitäten in Österreich vgl. Meyer, Mitteleuropa [Anm. 1], Kap. 8 (»The Austro-Hungarian Dilemma«), S. 174 ff. 65 Meyer, Mitteleuropa, op. cit., S. 145 ff.; vgl. auch Höbelt in  : Wandruszka u. Urbanitsch, Habsburgermonarchie Bd. 6,1, op. cit., S. 579 f. 66 Zu Spiethoffs Aktivitäten Meyer, Mitteleuropa, op. cit., S.  145, 159. Völkische Gesichtspunkte finden sich vor allem in Spiethoffs Beitrag in dem großen Mitteleuropa gewidmeten Sammelwerk

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die Habsburgermonarchie durch eine engere Verbindung mit dem Deutschen Reich zu revitalisieren, was im Verständnis dieser Protagonisten gleichbedeutend war mit einer Stärkung der deutschen Führungskompetenz in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. »Mitteleuropa« war ein Weg, um den vermeintlichen Trend einer »Slawisierung« der Monarchie zu brechen. Heinrich Friedjung sah die künftige Integration der beiden Reiche besonders eng  ; sie umschloss für ihn vor allem auch den Bereich militärischer Zusammenarbeit. Die von ihm mit anderen formulierte »Denkschrift aus Deutsch-Österreich«,67 die er mit einer aktuell gezielten Bezugnahme auf die Polenfrage im Sommer 1915 dem deutschen Reichskanzler zuspielte, gab der oben behandelten deutschen Initiative einen zusätzlichen Impuls  : Möglicherweise entnahm Bethmann-Hollweg ihr das politische Signal, dass die deutschen Vorstellungen einer Anbindung und Penetration der Monarchie auf positive Resonanz stoßen würden. Für Josef Maria Baernreither68 stand der ökonomische Ansatz im Vordergrund. Mitteleuropa war demnach ein Vehikel, um die Beziehungen der österreichischen Reichshälfte zu Ungarn zu verbessern, also die Ausgleichskämpfe und den nationalmagyarischen Protektionismus dadurch zu überwinden, dass man eine partnerschaftlich organisierte, von Deutschen, Österreichern und Ungarn gemeinsam unternommene ökonomische Durchdringung Südosteuropas anbot, die sich in die Türkei verlängerte. Eine politische Balkanunion als Ergänzung Mitteleuropas sollte dieses Konzept abstützen. Die Idee partnerschaftlicher deutsch-österreich-ungarischer Penetra­ tion und Entwicklung des Balkans und des Nahen Ostens in wirtschaftlichen Gemeinschaftsunternehmen stand auch im Mittelpunkt der Überlegun­gen des Nationalökonomen Eugen von Philippovich,69 der sich in diesem Zusammendes Vereins für Socialpolitik  : Heinrich Herkner (Hrsg.), Die wirtschaftliche Annäherung zwischen dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten, 3 Teile, München u. Leipzig 1916, Teil 1, S. 1–59, insbes. S. 32 ff. 67 Dazu ausführlich mit Textzitaten Sweet in  : Benedikt-Festschrift, [Anm. 58], S. 184 ff. Mitautoren waren Michael Heinisch, Eugen von Philippovich, Hans Uebersberger. 68 Baernreither, deutsch-böhmischer Politiker (Verfassungstreuer Grundbesitz) und parlamentarische Schlüsselfigur, trat seit langem für eine »weiche« deutsche Führungsrolle im Rahmen eines deutsch-slawischen Ausgleichs ein. Zu seinen Mitteleuropaideen Meyer, Mitteleuropa, op. cit., S. 180 ff., Droz, L’Europa centrale [Anm. 1], S. 216 f. Aus seinem Kreis erwuchs 1915 die »Denkschrift über das wirtschaftspolitische Verhältnis Oesterreich-Ungarns zu Deutschland«. 69 Eugen v. Philippovich, Ein Wirtschafts- und Zollverband zwischen Deutschland und Oesterreich-Ungarn, Leipzig 1915. Zu den Befürwortern Mitteleuropas unter den Nationalökonomen zählte auch Gustav Stolper, der in seiner Zeitschrift »Oesterreichischer Volkswirt« für ein mitteleuropäisches Wirtschaftsbündnis warb. Vgl. auch dessen Buch  : Das mitteleuropäische Wirtschaftsproblem, Wien 1917.

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hang besonders intensiv mit den Vorstellungen Lists und Brucks beschäftigte und sie zu Kronzeugen aufrief. Augenscheinlich ließ ein derartiges Durchdringungskonzept Raum für weichere, föderative Formen der politischen Gestaltung. Dieser Gesichtspunkt bestimmte etwa die Anschauungen des in Berlin lehrenden Strafrechtlers ungarischer Herkunft Franz von Liszt,70 der eine Föderation aller zwischen Frankreich und Russland gelegenen Länder propagierte, die vom Grundsatz der Integrität aller Mitglieder bestimmt sein sollte  ; dem Deutschen Reich war dabei die Rolle eines primus inter pares zugedacht. In solchen Gedankengängen konnten sich all diejenigen Mitteleuropa-­Befürworter Deutschlands und Österreichs wiederfinden, die zu deutschnationalen ­Herrschaftsansprüchen auf Distanz gingen und dafür warben, die West- und Südslawen ›partnerschaft­ lich‹ in das Mitteleuropa-Konzept einzubeziehen. Hier wurden dann die gängigen Propagandaparolen gegen die »slawische Flut« u. ä. ersetzt durch die P ­ arole von mitteleuropäischer Freiheit und Vielfalt, die es in diesem Krieg gegen die von Russland ausgehende »panslawistische Gleichmacherei« zu verteidigen gelte. Nicht ohne Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass unter den österreichischen Sozialisten eine Minderheit, die aber von dem prominenten Karl R ­ enner medienwirksam angeführt wurde, ebenfalls für Mitteleuropa eintrat  : Hier verbanden sich sozialistische Überzeugungen vom notwendigen Übergang zur Groß­raumwirtschaft und Großkonzernbildung als Vorstufe des Übergangs zum Sozialismus mit einer multinational-föderalistischen Zukunftsperspektive. Es galt, Mitteleuropa gegen die zaristische Autokratie und gegen den britischen Imperialismus als eigenständigen Großraum so zu organisieren, dass damit ein politisch-geographischer Bezugsrahmen für eine künftige »internationale« sozia­ listische Gesellschaft geschaffen würde, innerhalb derer sich Deutsche, Magyaren und Austro-Slawen gleichberechtigt sozio-kulturell entfalten können sollten. Renners Überlegungen stehen in deutlicher Kontinuität zu seinen Vorkriegsarbeiten, die sich mit dem Problem eines föderativen Umbaus des habsburgischen Vielvölkerreiches beschäftigten. Die ideologischen Gegner, gegen die sich seine Polemik gerade auch in der Weltkriegszeit vor allem richtete, waren demgemäß die Alldeutschen und österreichischen Deutschnationalen mit ihren antislawischen germanomanen Herrschaftsparolen.71 70 Franz v. Liszt, Ein Mitteleuropäischer Staatenverband als nächstes Ziel der deutschen auswärtigen Politik, Leipzig 1914. Zu Liszt eingehend Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1969, S. 63 ff. 71 Zu Renner vgl. Meyer, Mitteleuropa, S. 156 ff. Renners Konzepte und Positionen im Rahmen der innerhabsburgischen Föderalismusdiskussion ausführlich behandelt bei Robert A. Kann, Das Na-

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Nur am Rande wurde die Mitteleuropaidee von den Vorstellungen des Kreises um den ermordeten Thronfolger Franz Ferdinand berührt, die bereits vor dem Krieg mit dem Konzept der »Vereinigten Staaten von Großösterreich« ebenfalls, jedoch unter genuin österreichischen Vorzeichen auf den Balkan ausgreifen wollten, um auf diese Weise die deutsch-magyarische Vorherrschaft innerhalb der Monarchie durch einen größeren föderativen Verbund abzulösen.72 Wie bereits früher angedeutet, brachte die Thematisierung Mitteleuropas auch einen Rückgriff auf seine Propagatoren während der Mitte des 19. Jahrhunderts mit sich, sei es als historistisch-dekorative Reminiszenz, als biographisches Interesse an List und Bruck, aber auch als ernsthaftes Bemühen um die Rezeption dieser älteren Konzepte.73 Naumanns »Mitteleuropa« Erst vor dem Hintergrund des breiten Gesamtspektrums der Mitteleuropa-Vorstellungen und ihrer unterschiedlichen Tendenzen lässt sich das Mitteleuropa-­ Buch von Friedrich Naumann angemessen beurteilen, von dem zweifellos die bei weitem populärste Verbreitung des Mitteleuropagedankens sowohl damals als auch für die historische Erinnerung ausgegangen ist.74 Anknüpfend an seine Vorkriegserfahrungen und Kontakte war Naumann auch jetzt derjenige reichsdeutsche Politiker und Publizist, der im Rahmen der Mitteleuropadebatte am relativ meisten Verständnis für die besondere Probletionalitätenproblem der Habsburgermonarchie, 2 Bde., Graz-Köln 21964, Bd. 2, S. 162–172, 257 ff. Zum Problem insgesamt Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, Bd. 1, 1867–1907 [mehr nicht ersch.], Wien 1963. 72 Hierzu Kann, Nationalitätenproblem, op. cit., Bd. 2, Kap. 21, S. 183–201 passim. 73 Erwähnungen von List, Bruck oder Constantin Frantz finden sich breitgestreut. Zur biographischen Forschung neben Charmatz [ Anm. 15] Karl Goeser, Der junge Friedrich List, Stuttgart 1914  ; Karl Kumpmann, Friedrich List als Prophet des neuen Deutschland, Tübingen 1915. Intensiver gehen Eugen v. Philippovich (Ein Wirtschafts- und Zollverband zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn, Leipzig 1915) und Hermann Losch (Der mitteleuropäische Wirtschaftsblock und das Schicksal Belgiens, Leipzig 1914) auf die Konzepte Lists und Brucks ein. 74 Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915. Wissenschaftliche Edition, besorgt von Wolfgang Schieder im Rahmen der Werkausgabe in 6 Bänden, Köln-Opladen 1964  ; hier Bd. 4  : Theodor Schieder (Hg.), Politische Schriften, S. 485–767. Zur Verbreitung a.a.O. S. 485 f. Unter dem Titel »Schriften zum Mitteleuropaproblem« bietet diese Werkausgabe (a.a.O., S. 374–1071) eine repräsentative Auswahl der wichtigsten Arbeiten zum Thema zwischen 1900 und 1918 mit Einschluss der Auseinandersetzungen um das Mitteleuropabuch. Dazu die wichtige Einleitung Wolfgang Schieders.

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matik der Habsburgermonarchie wie für die ethnische und kulturelle Gemengelage »Zwischeneuropas« insgesamt aufbrachte. Angesichts der kriegsbedingten Massenmobilisierung und der komplizierten Zusammensetzung der im Osten einander gegenüberstehenden Heere war er auch einer der wenigen, die den Antislawismus und das Propagandagerede vom deutsch-slawischen Endkampf als destruktiv für die österreich-ungarische Kriegsmoral, für die Möglichkeiten der Bündnispolitik wie für die angestrebte Nachkriegsordnung erkannten. Auch in Naumanns Mitteleuropakonzept bildete allerdings die Vorstellung von einer gwm. naturgegebenen gesamtdeutschen Führungsrolle die selbstverständliche Grundüberzeugung. Diese Rolle sollte sich jedoch in föderativen, die Identität der in Mitteleuropa einzuschließenden Staaten und Nationen wahrenden Gestaltungsprinzipien bewähren. Mitteleuropa sollte kein Bundesstaat sein, sondern durch multilaterale zwischenstaatliche Verträge formiert werden und in erster Linie eine langfristig gedachte Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft bilden, andere Staatszwecke aber unberührt lassen.75 Freilich war Naumann weder geneigt, das Problem einer föderativen Neugestaltung der Habsburgermonarchie zu diskutieren,76 noch dazu bereit, den west- und südslawischen Völkern ein Recht auf den eigenen Staat, geschweige denn auf volle staatliche Souveränität zuzubilligen. Eine bündnispolitisch motivierte Ausnahme machte er später bei Bulgarien, dessen Interessen er wegen seines Kriegseinsatzes und seiner geopolitischen Bedeutung im Rahmen gleichwertiger Partnerschaft berücksichtigt wissen wollte und dessen tatsächliche Behandlung durch die Mittelmächte er dementsprechend kritisierte.77 Im Falle Polens jedoch folgte er publizistisch den Windungen und Wendungen der Politik hilflos nach, kritisierte zwar ebenfalls die Uneinigkeit und Unentschiedenheit der Bündnispartner, war aber nicht bereit, die Legitimität des polnischen Anspruchs auf nationale Wiedervereinigung anzuerkennen.78 Insgesamt begegnete er den spezifischen Dilemmata ethnischer Gemengelage und a-nationaler historischer Staatsbildung in Ostmitteleuropa 75 Von Wolfgang Schieder als »nicht mehr weltpolitisch orientierte[r], sondern kontinental begrenzte[r] Föderativimperialismus« gedeutet. (Einleitung in  : Naumann, Werke 4, op. cit., S. 388). Zu »Mitteleuropa« auch Peter Theiner, Sozialer Liberalismus [Anm. 43], Kap. 6,2. 76 Hierzu kritisch Kann, Nationalitätenproblem [Anm. 71], Bd. 2, S. 72 ff. 77 Nach dem Kriegseintritt Bulgariens an der Seite der Mittelmächte veröffentlichte Naumann als Frucht einer Reise eine Artikelserie, die u.d.T. »Bulgarien und Mitteleuropa« 1916 zusammengefasst und dann auch dem Mitteleuropabuch einverleibt wurde. Abdruck in  : Werke, Bd. 4, S. 767– 836  ; vgl. auch die Einleitung W. Schieders, op. cit., S. 390 f. 78 Die wichtigsten Artikel zur Polenfrage in  : Werke, Bd. 4, S. 888–973  ; dazu W. Schieder, Einleitung, op. cit., S. 394–398  ; ferner Theiner, Sozialer Liberalismus [Anm. 43], S. 249–257.

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mit pauschalen programmatischen Forderungen nach mehr Minderheitenschutz, einem Klima allgemeiner Toleranz und nach autonomer kultureller Entfaltung. Auch warb er für die Ausbreitung wirtschaftlicher Prosperität als entscheidendes Mittel sozialer Angleichung und Integration. In den entscheidenden, die Wehrverfassung und den wirtschaftspolitischen Zusammenschluss betreffenden Machtfragen jedoch sollte es keine Souveränität kleinerer Staaten mehr geben  ; hinter den Elementen eines mitteleuropäischen »Oberstaates« verbarg sich der hegemoniale Anspruch, der von dem Kristallisations-Kern des zu gründenden deutsch-österreichisch-ungarischen Staatenbundes ausging. Dahinter aber war, wie dies schon Naumanns Analogieschluss aus der Reichsgründung durch Preußen suggerierte, die deutsche Führung unschwer auszumachen. Dass ein derartiges föderatives Prinzip die für Mitteleuropa angemessene politische Form sei und die Deutschen zu der ihnen zugedachten Führungsrolle berufen seien, erwies sich für Naumann aus der Geschichte. Man müsse die Probleme, so formulierte er 1915 in der »Hilfe« unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Ideen Brucks, dort aufnehmen, wo sie 1866 liegengeblieben seien. Die ideologische Verknüpfung des Kriegserlebnisses der mitteleuropäischen »Schicksalsgemeinschaft« mit der supranationalen Tradition des Heiligen Römischen Reiches, der Brückenschlag, der von dort über die Freiheitskriege und das großdeutsch-mitteleuropäische Denken in der Paulskirche bis zu dem von 1879 her interpretierten Bismarck geschlagen wurde  : diese ganze perspektivische Historisierung wird in Naumanns Buch mehr als in der übrigen Mitteleuropa-Publizistik zu einem tragenden Element der Legitimierung des Konzepts. Nicht zuletzt auf dieser Dimension, die den emotionalen Bedürfnissen des historisch gebildeten Publikums in Deutschland entgegenkam, dürfte der propagandistische Erfolg Naumanns beruht haben. Neben seiner föderalistisch-›partnerschaftlichen‹ Tendenz liegt das zweite Charakteristikum des Naumannschen Entwurfs in seiner kontinentalen und defensiven Orientierung. Die wenigen Bemerkungen zu Kolonial- und Weltpolitik im Mitteleuropabuch nehmen sich zunächst eigentümlich schmal und nichtssagend aus. Tatsächlich hielt der Autor damals (im vertraulichen Gespräch) die imperialistische Periode Deutschlands für vorüber  ; es bleibe nur der Rückzug auf die kontinentale Stellung. Entsprechenden Einwänden begegnete Naumann späterhin allerdings mit dem Bekenntnis, dass aktive Kolonialpolitik weiterhin geboten sei. Auch wollte er im Nachhinein Mitteleuropa nicht als autarken Wirtschaftsraum gestaltet wissen, sondern ging langfristig von der Wiederaufnahme weltwirtschaftlicher Tauschbeziehungen aus. In diesen Prozess, dessen Gelingen für ihn freilich eher von externen Faktoren wie etwa der künftigen britischen Zollpolitik abhing, mochte sich das vereinte Mitteleuropa als integrier-

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ter Block unter anderen Blöcken einbringen. Dies sollte jedoch im friedlichen Wettbewerb, nicht in imperialem Ausgreifen geschehen.79 In weltpolitischer Perspektive war Naumanns Mitteleuropakonzept eben doch defensiv angelegt, von der Kriegserfahrung der britischen Fernblockade bestimmt. Die kontinentale Integration hatte zweifellos Vorrang, wobei die geographischen Umrisse durch die »Schützengraben«-Linie definiert wurden. Die autonome Selbstbehauptung Mitteleuropas als wirtschaftlich lebensfähiges und machtpolitisch respektiertes Großgebilde sui generis zwischen dem Russischen Reich einerseits und den westlichen Wirtschaftsmächten andererseits wurde dabei als ein Wert herausgestellt, auf den sich nach Naumanns Überzeugung auch das Interesse der nicht­ deutschen kleineren Völker richten musste. In diesem Sinne war sein Buch denn auch von der Suche nach einer mitteleuropäischen »Identität« bestimmt  ; die er in der Entfaltung einer interventionistisch modifizierten nachkapitalistischen Wirtschafts- und Organisationsgesinnung zu erkennen glaubte. Reaktionen auf Naumanns Ideen In seinem sachlichen Gehalt war Naumanns kontinentaler »Föderativimperialismus« (Wolfgang Schieder) insgesamt durchaus mehrdeutig und keineswegs frei von Widersprüchen. Im Übrigen hob sich die fast friedensmäßig moderate Tonlage, in der der gelernte Pastor die politischen Grundtendenzen und Inter­ essen der mitteleuropäischen Völker, aber auch der Kriegsgegner abhandelte, ­signifikant von dem Chor der Kriegspropaganda ab. In der aktuellen Situation der Jahre 1915/1916 stellten die mit einer gehörigen Zutat politischer Lyrismen entwickelten Perspektiven einen Kontrapunkt zu dem die Kriegszieldebatten beherrschenden Teutonismus und Annexionismus dar  ; diesen Tendenzen gegenüber war seine Absage stets klar und eindeutig. Unter diesem Gesichtspunkt wurde das Buch auch überwiegend rezipiert.80 79 Naumanns Auseinandersetzungen mit den kolonial- und weltpolitisch orientierten Kritikern seines Buches finden sich in verschiedenen Artikeln aus den Jahren 1916/17  : Seehandel und Mitteleuropa  ; Deutsche Kolonialpolitik  ; Europa und deutsche Weltpolitik. (Werke, Bd. 4 [Anm. 74], S. 843–853.) Die pessimistische Äußerung zum Ende des »imperialistischen Versuchs« Deutschlands bei Theodor Heuß, Friedrich Naumann, Stuttgart 1949, S. 334. 80 Zur Rezeption des Mitteleuropabuches vgl. Heuß, Naumann, op. cit., S. 333–343, 369–381, 569 f., 573 f.; Meyer, Mitteleuropa [Anm.  1], S.  206–214  ; Schieder, Einleitung [Anm.  74], S.  388 ff.; Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral [Anm.  70], S.  65 ff.; Theiner, Sozialer Liberalismus [Anm. 43], S. 244 ff.

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Dass die linke und zentristische Sozialdemokratie81 wie auch liberal-pazifistische Kreise Naumanns »Mitteleuropa« als lediglich verschleierten Imperialismus ablehnten, lag nahe  ; hier manifestierte sich eine grundsätzliche Alternativposition zur aktuellen Kriegspolitik. Wenn čechische und ungarische Rezensenten gegenüber dem Konzept reserviert blieben, so beweist dies schon mehr  : Es zeigt, dass die föderalistischen Beteuerungen Naumanns nicht verfingen und nicht geeignet waren, die Furcht vor deutscher Vorherrschaft abzubauen.82 Ihr eigentliches historisches Interesse gewinnt die Debatte über Naumann, wenn sie als Teil der innerdeutschen ideologischen Auseinandersetzungen um die Ziele des Krieges gesehen wird. Die vom politischen Spektrum her breiteste Zustimmung fand das Konzept in Deutsch-Österreich  ; sie reichte vom nationalistischen deutsch-­­böhmischen Lager (hier allerdings mit der Mahnung versehen, den deutschen Führungsanspruch sehr viel kräftiger zu betonen) über die Vertreter deutsch-liberaler Publizistik, Wissenschaft und Politik bis hin zu Karl Renner.83 Mit Naumanns Programm schien endlich die Hinwendung des Deutschen Reiches zu einer österreichischen Perspektive der Durchdringung Ostmitteleuropas Wirklichkeit zu werden. Im Einzelnen verbanden sich mit dieser Zustimmung, wozu der wolkige Enthusiasmus der Naumannschen Sprache hinreichend Raum gab, unterschiedlich akzentuierte Zielvorstellungen  ; sie richteten sich teils auf die politische Stabilisierung der Monarchie unter deutschem Vorzeichen, teils auf die österreichische Mission in Europa und eine Einbindung Deutschlands in die spezifischen Traditionen österreichischer politischer Kultur, teils auf e­ inen Föderalismus auf der Basis einer postkapitalistisch organisierten Wirtschaft. ­Insgesamt vermochte Naumann, wie sich auch bei seinen nachfolgenden Propa­ gandareisen zeigte, im deutsch-österreichischen bürgerlichen Umfeld momentan einen beachtlichen Enthusiasmus zu erzeugen, der sich dann für eine Weile in entsprechende Aktivitäten der »Waffenbrüderlichen Vereinigung«,84 eines 1915 gegründeten Agitationsverbandes, umsetzen ließ. Die von Naumann ganz we81 Am rechten Flügel der Partei gab es jedoch in beiden Monarchien deutliche Zustimmung. Zur Sozialdemokrtie Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974, hier S. 221–240. 82 Meyer, Mitteleuropa [Anm. 1], S. 297 ff. Zu Ungarn knapp Karoly Irinyi, Zur Resonanz der Mitteleuropapläne des deutschen Imperialismus in Österreich-Ungarn, in  : Jb. f. Gesch. 15 (1977) [Anm. 26], S. 227–233. 83 Meyer, Mitteleuropa, op. cit., S. 210 f. zu Renner auch Theiner, Sozialer Liberalismus [Anm. 43], S. 246  ; Kann, Nationalitätenproblem [Anm. 71], Bd. 2, S. 257 ff.; Miller, Burgfrieden [Anm. 81], S. 222 f. Zu Hermann Ullmann  : Meyer, Mitteleuropa, a.a.O. 84 Zur Waffenbrüderlichen Vereinigung Meyer, Mitteleuropa, op. cit., S. 146 f.

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sentlich mit angesprochenen nichtdeutschen Völker der Monarchie blieben (mit Ausnahme einiger ungarischer Stimmen)85 freilich völlig abseits. Die Bewegung, die Naumann mit seinen rhetorischen Suggestivformeln stimulierte, speiste sich eben wesentlich aus der Tradition einer bestimmten deutsch akzentuierten Vorstellung von Österreichs geschichtlicher Sendung, und das Auftreten des Pastors schien zu signalisieren, dass Reichsdeutschland sich auf diese gesamtdeutsche Perspektive zurückbesann. Wenn Naumann im reichsdeutschen Bürgertum ebenfalls, worauf bereits der außergewöhnlich hohe Absatz seines Buches hinweist, erhebliche Popularität gewann, so wohl deshalb, weil hier in Abgrenzung gegen den Annexionismus ein Identifikationsangebot an alle gemäßigten Patrioten gemacht wurde  : Der in diesem Programm vorgetragene deutsche Führungsanspruch erschien in seiner föderalistischen Einbettung mit dem Gleichberechtigungsverlangen der Völker besser vermittelt und politisch-moralisch in ganz anderer Weise vertretbar  ; zugleich wurde damit ein Kriegsziel vorgestellt, das auch bei einem »Remis« auf den Schlachtfeldern erreichbar war und einen Positionsgewinn für Deutschland versprach.86 Diesen Gefühlen verlieh etwa Ernst Troeltsch Ausdruck, wenn er in Naumanns Mitteleuropakonzept die Überwindung der zu Tode gehetzten Vorstellung von der Notwendigkeit des rücksichtslosen staatlichen Egoismus und eine echte Alternative zum Imperialismus sah. Unter ähnlichen Vorzeichen begrüßten Geisteswissenschaftler wie Friedrich Meinecke und Alfred Weber oder der katholische Nationalökonom und Soziologe Götz Briefs Naumanns Ideen.87 Gerade die Absage an Annexionismus und völkisch orientierte Expansion hatte aber auch zur Folge, dass Naumann in Deutschland weit schärfer als in Österreich von den Sprechern der Alldeutschen und den annexionistisch gesinnten Professoren in ihrem Umfeld angegriffen wurde. Hier wurde der ›weichen‹ föderalistischen Linie das Postulat geschichtsnotwendiger Härte in der nationalen Machtexpansion entgegengestellt  : Erweiterung der Grenzen des Deutschen Reiches durch direkte Annexionen und Sicherung der Hegemonie durch die Besetzung von Stützpunkten  ; »Mitteleuropa« höchstens als Vehikel zur Stärkung des Deutschtums außerhalb der Reichsgrenzen, nicht aber als föderativer »Nationalitätenbrei«.88 85 Vgl. Irinyi, in  : Jb. f. Gesch. 15 (1977), op. cit., S. 231. Vgl. auch Naumann  : Wir und die Ungarn (1916), in  : Werke, Bd. 4 [Anm. 74], S. 872–878. 86 Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral [Anm. 70], S. 65 ff. 87 Schwabe, op. cit. 88 Zur Reaktion der Alldeutschen Meyer, Mitteleuropa, op. cit., S.214, zu Georg von Below auch Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral, S. 68 (»Nationalitätenbrei«). Zu den schroffen Gegnern

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Im nationalkonservativen Lager der deutschen Gelehrten begegnete man Naumann im allgemeinen höflicher, meldete aber doch charakteristische Vorbehalte gegen eine Auflösung bzw. föderative Aufweichung des deutschen Natio­ nalstaates und die Einschränkung seiner macht- und wirtschaftspolitischen Bewegungsfreiheit an. Der an Naumanns Thesen entdeckte defensive Rekurs auf Kontinentaleuropa schien aus dieser Perspektive auf eine unangebrachte Fesselung an den Zweibundpartner und die osteuropäische Welt hinauszulaufen. Für die Erringung einer Weltmachtstellung genügte aber die föderative Verbindung mit dem ostmitteleuropäischen Hinterhof nicht  ; vielmehr galt es, Deutschlands Einflusssphären in Zentralafrika und Kleinasien zu erweitern und seine Position im Welthandel auszubauen. Nur im Rahmen derartiger geopolitischer Ausweitungen machte die Etablierung einer deutschen Hegemonie über Mitteleuropa einen Sinn  – so die »realpolitische« »Richtigstellung« Naumanns durch Hermann Oncken.89 Auch jenseits derartiger Professorenphantasien, aus der pragmatischen Perspektive der Export- und Handelsinteressen geurteilt, konnten die reichsdeutschen Interessenten der Idee einer wirtschaftlichen Konzentration auf Mitteleuropa und der ganzen Vorstellungswelt von Wirtschaftsblöcken, Wirtschaftskrieg und der Basierung der Wirtschaftsbeziehungen auf Schützengrabengemeinschaften wenig abgewinnen. Osteuropa als Markt bot auch nicht annähernd Ersatz für die Preisgabe des Weltmarktes der Vorkriegszeit. Diesen galt es wieder herzustellen, die Geschäftsbeziehungen (so Albert Ballin) dort wieder anzuknüpfen, wo solvente Partner waren, und hier war von Osteuropa kaum etwas zu erwarten. »Unsere Zukunft liegt nicht im Osten«, befand Gustav Stresemann unbeschadet seiner Mitgliedschaft im Deutsch-Österreich-Ungarischen Wirtschaftsverband und lehnte es ab, Mitteleuropa zum Angelpunkt der künftigen Wirtschaftsentwicklung zu machen.90 Sobald Naumanns wirtschaftspolitische Vorstellungen ins Visier der konkret betroffenen Unternehmergruppen und der nationalökonomischen Experten gerieten, trat der aus der Vorkriegszeit vertraute Frontverlauf der zoll- und handels­ Naumanns zählten auch die prominenten Historiker Erich Marcks und Erich Brandenburg. Umwertung des Mitteleuropakonzepts zur Förderung des Deutschtums im Ausland durch Nationalisten wie Karl Alexander v. Müller, Martin Spahn, Dietrich Schäfer (Schwabe, op. cit.). 89 Hermann Oncken legte seine »Richtigstellung« in seiner Schrift  : Das alte und das neue Mitteleuropa [Anm. 46] vor, die er einen »realpolitischen Anti-Naumann« nannte. (Schwabe, op. cit., S. 67, 221.). 90 Meyer, Mitteleuropa [Anm. 1], S. 236 ff.; zu Ballin auch Theiner, Sozialer Liberalismus [Anm. 43], S. 247 f.

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politischen Interessen rasch wieder hervor. Er spiegelte sich in den bereits erwähnten deutsch-österreichisch-ungarischen Wirtschaftsverhandlungen ebenso wie in den zahlreichen öffentlichen Äußerungen der Interessenverbände und Expertengremien auf beiden Seiten. Die großen Schwierigkeiten und Widerstände, denen jeder strukturverändernde Eingriff in den gewachsenen handelspolitischen Zusammenhang begegnet wäre, traten auf diese Weise unübersehbar zutage. Von besonderem sachlichem Gewicht waren dabei die Untersuchungen und Debatten, die der renommierte Verein für Socialpolitik 1915/1916 veranstaltete. Nicht zufällig waren die Mitteleuropabefürworter unter den hier versammelten Sozialwissenschaftlern in der Minderheit  ; diesem Befund entsprach eine bezeichnende qualitative Differenz der Argumentationsmuster  : Die Skeptiker orientierten sich an den verfügbaren ökonomischen Daten, den zoll- und handelspolitischen Konflikterfahrungen und den daraus ableitbaren ökonomischen Erwartungen und Chancen, während die Protagonisten tendenziell stärker auf die strukturverändernde Kraft der neuen Wertorientierungen und des daraus hervorgehenden politischen Willens setzten.91 In der Auseinandersetzung um Naumanns »Mitteleuropa« schälte sich also eine Konstellation heraus, die gewisse Analogien zur Auseinandersetzung um Brucks »Mitteleuropa« aufweist. Dem schwungvollen Konzept begegnete auf der Ebene der unternehmerischen, sozialwissenschaftlichen und wirtschaftsbürokratischen Pragmatiker auf österreich-ungarischer Seite die alte Furcht vor industrieller Unterlegenheit und allgemeiner ökonomischer Überfremdung und Degradierung durch das überlegene Deutsche Reich  ; auf reichsdeutscher Seite erblickte man in einer – selbst hegemonialen  – wirtschaftlichen Konzentration auf den unterentwickelten Markt des europäischen Südostens keine Perspektive, die einen Übergang zu protektionistischer Blockpolitik und eine Einengung der weltmarktbezogenen handelspolitischen Bewegungsfreiheit rechtfertigte. Handel und Exportindustrie Deutschlands gaben auch in der Blockadesituation, die jeden Zugang zum Weltmarkt abgeschnitten hatte und unsichere Zukunftsaussichten bot, der ›atlantischen‹ Orientierung den Vorzug vor einer Wendung nach Osten. So liegt die eigentliche Bedeutung von Naumanns Auftreten – auch hierin Brucks Auftreten in der kritischen nachrevolutionären Phase ähnlich – in der propagandis91 Heinrich Herkner, Die wirtschaftliche Annäherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten [Anm. 66], hier in Teil 2 die scharfsinnige Kritik Franz Eulenburgs. Zu den charakteristischen Argumentationsmustern die Generaldebatte in Teil 3. Karl Diehl veröffentlichte seine Kritik am deutsch-österreichischen Zollunionsplan in einer eigenständigen Schrift  : Zur Frage eines Zollbündnisses zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn, Jena 1915.

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tischen Fixierung der deutschen Öffentlichkeit auf ein respektables Programm, das in der psychologisch schwierigen Kriegssituation von 1915/16 einen Kontrapunkt zu den nationalistischen Exzessen der Kriegszieldiskussion darstellte. Dabei war seine Frontstellung gegen den Annexionismus eindeutig  ; hingegen weichte er mit seinen späteren Erläuterungen und ›Nachbesserungen‹ seinen ursprünglich kontinental-defensiv gerichteten Ansatz wieder auf und gab damit Interpretationen Raum, die »Mitteleuropa« als Etappenziel zur Stärkung der deutschen kontinentalen Machtbasis werteten, von der aus das imperialistische Ringen um Kolonien und Weltmacht erst recht aufzunehmen war. Max Weber hat diesen wesentlich propagandistischen Ertrag des Naumannbuches treffend gekennzeichnet, wenn er ihn ein »Stimmungskapital« nannte, mit dem die Politiker Deutschlands und Österreich-Ungarns wirtschaften könnten.92 Diese Einschätzung verweist zugleich darauf, dass die tatsächliche Politik der Mittelmächte mit den durch Naumann verbreiteten Suggestiv-Formeln nur wenig zu tun hatte. Das galt schon für die zähen deutsch-österreichisch-ungarischen Verhandlungen um die zollpolitische Nachkriegsordnung. Erst recht galt dies für die von Rivalität wie von militärischem Sicherungs- und Beherrschungswillen gekennzeichnete Politik gegenüber den okkupierten wie verbündeten Ländern des Ostens, die vor allem seit dem Zusammenbruch Russlands das Mitteleuropakonzept weit hinter sich ließ. Nicht zufällig nahmen 1917 die öffentlichen Unmutsäußerungen Naumanns darüber zu, dass es mit Mitteleuropa nicht voran ging, dass die Zentralmächte keinen konstitutiven Staatsvertrag zustande brachten und kein Konzept für den mitteleuropäischen Verbund entwickelten.93 Nicht nur der Bukarester Friede und die Bulgarienpolitik, sondern auch die Politik gegenüber Polen wurden von ihm (unbeschadet eigener Defizite in der Entwicklung eines seiner Mitteleuropakonzeption angemessenen Polenprogramms) scharf kritisiert.94 Der 1916 von Naumann und Jäckh mit großem Aufwand ins Leben gerufene und prominent besetzte »Arbeitsausschuss für Mitteleuropa«, der in enger Fühlungnahme mit 92 Max Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten, zuerst erschienen in der »Hilfe« 22 (1916)  ; Abdruck in  : ders., Gesammelte politische Schriften, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1980, S. 157–177, hier S. 171. Auch Weber stand der Zollunion kritisch gegenüber  ; vgl. seine Voten in der Debatte des Ver. f. Soc.-Pol., Herkner [Anm. 66], Teil 3, S. 28–37, 42, 57 ff. Zur politischen Haltung Webers im Weltkrieg Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 21974, Kap. 7 passim, zu Ostpolitik u. Mitteleuropa S. 222 ff., 229 ff. 93 Naumanns Artikel  : Mitteleuropa und deutsche Weltpolitik  ; Wer macht Mitteleuropa  ?  ; Mitteleuropäische Sorgen  ; Der mitteleuropäische Staatsvertrag  ; Mitteleuropa (alle 1917) in  : Werke, Bd. 4 [Anm. 74], S. 852 ff. 94 Vgl. oben Anm.  78. Zur Kritik an der Polenpolitik Theiner, Sozialer Liberalismus [Anm.  43], S. 252 f.

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der Reichsregierung Expertisen zu mitteleuropäischen Fragen erarbeiten sollte, erhielt kaum amtliche Informationen und arbeitete in gelegentlich grotesker Weise an den führungsinternen politischen Entwicklungen vorbei.95 Naumann in der Historiographie Von daher ist es angebracht, vor einer Überschätzung Naumanns im Rahmen einer Gesamtbewertung der deutschen und österreichischen Kriegszielbewegung und Kriegspolitik zu warnen. Schon gar nicht kann der Hinweis auf Naumann zu einer Aufhellung des Erscheinungsbildes dienen, das die Mittelmächte in ihrem tatsächlichen ostpolitischen Vorgehen boten. Unangemessen und methodisch bedenklich96 ist es jedoch, nun umgekehrt Kriegspolitik und Kriegszieldiskussion als eine Gesamtbewegung deutschen Weltmachtstrebens mit einer in der Grundtendenz gleichen Zielrichtung aufzufassen, innerhalb derer der Streit um Einzelheiten zu einer nachrangigen Differenz über die richtige Taktik, über Mittel und Wege heruntergestuft wird. Selbstverständlich steht auch Naumann im Gesamtzusammenhang des deutschen »Imperialismus«, doch geht eine Deutung, die in seinem Konzept eine lediglich »elastischere« Variante eines in der Substanz überall gleichen und letztlich auch den Zweibundpartner unterwerfenden Herrschaftswillens sieht, zweifellos fehl.97 Die differenzierende Herausarbeitung seines spezifischen Ansatzes und insbesondere die Beachtung der Auseinandersetzungen um seine Konzeption zeigen, dass unter der diffusen Chiffre eines allgemeinen Strebens nach deutscher Weltgeltung höchst gegensätzliche Auffassungen von Politik und Wirtschaft überhaupt und von Deutschlands möglicher Rolle im Besonderen zutage treten, deren Subsumierung unter den Begriff des Imperialismus diesen zu entleeren drohen. 95 Meyer, Mitteleuropa, op. cit., S. 215 ff., 230 f.; Theiner, Sozialer Liberalismus, op. cit., S. 248 ff. 96 Vgl. etwa Immanuel Geiss, Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft, Frankfurt 1974  ; darin  : Die Fischer-Kontroverse. Ein kritischer Beitrag zum Verhältnis zwischen Historiographie und Politik in der Bundesrepublik, S. 108–198  : »Im grundsätzlichen Ziel – Konservierung des Reichs und seiner konservativen Gesellschaftsstruktur sowie Steigerung der deutschen Machtposition bis zum Status einer Weltmacht – waren sich die divergierenden Kräfte des deutschen Reichspatriotismus und Imperialismus absolut einig. Ihr Streit ging im Wesentlichen um sekundäre Dinge wie Methoden und Ausmaß deutscher Machtexpansion, die bei mangelnder Distanz zu den Ereignissen natürlich außerordentlich wichtig erscheinen, aber bei zunehmender innerer und zeitlicher Distanz immer mehr in ihrer tatsächlichen Bedeutung verblassen.« (a.a.O., S. 142). Zur DDR-Forschung vgl. Anm. 26. 97 So der Ansatz von Jörg Villain, Zur Genesis der Mitteleuropakonzeption Friedrich Naumanns bis zum Jahre 1915, in  : Jb. f. Gesch. 15 (1977) [Anm. 26], S. 207–215.

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Darüber hinaus zeigt der Blick in die Geschichte des 19. Jahrhunderts, dass Naumanns Programm durchaus nicht ein Produkt des imperialistischen Zeitalters, also nicht durch den Imperialismus systemisch generiert worden ist, sondern in einer älteren Tradition des deutschen politischen Denkens steht. Die Vorstellung einer besonderen deutschen »Mission« im europäischen Osten und Südosten hängt aufs Engste mit der Existenz und Struktur der Habsburgermonarchie zusammen und ist ein Reflex der modernen Nationalbewegung  : Sie entsteht aus dem Spannungsverhältnis von deutscher zivilisatorischer Präsenz und nationaler Emanzipation in diesem Raum. Das Mitteleuropa-Konzept, das hierauf eine Antwort aus gesamtdeutscher Perspektive und Interessenlage zu geben suchte, war relevant, solange diese Situation bestand. Auch nach dem Weltkrieg wirkte daher die Mitteleuropa-Ideologie weiter, wenngleich die politische Lage vorerst völlig andere Probleme in den Vordergrund rückte. Das Interesse vieler Mitteleuropapropagandisten aus der Kriegszeit verlagerte sich nunmehr auf die Anschlussfrage.98 Das klassische Feld des Mitteleuropagedankens, nämlich das Konzept eines wirtschaftlichen Großraumes, spielte in den ökonomisch gerichteten Nachkriegsüberlegungen zunächst keine Rolle  ; erst der deutsch-österreichische Zollunionsversuch von 1931 eröffnete für die fernere Zukunft möglicherweise erneut eine mitteleuropäische Perspektive. Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden. Ideologisch blieb der Mitteleuropakomplex in den neuen Problemen des Auslandsdeutschtums virulent. Die Minderheitenproblematik, die mit der Auflösung der Habsburgermonarchie und der Wiederbegründung eines polnischen Staates sowie der baltischen Staaten neu entstanden bzw. neu belebt worden war, löste in Deutschland und Österreich erhebliche propagandistische und verbandspolitische Aktivitäten aus. Die Mitteleuropavorstellung erhielt auf diese Weise eine Wendung ins Deutsch-Völkische. Insbesondere bei dem katholischen Historiker Martin Spahn99 ist diese nationalistische Verhärtung deutlich. Auch bei Wilhelm Schüßler100 wurde die föderative Idee jetzt völkisch durchtränkt. Er definierte nunmehr Mitteleuropa als das Gebiet, in dem Deutsche inmitten anderer Nationen leben. Daraus begründete sich für ihn die Potentialität dieses Raumes zu künftiger, durch die Deutschen gestifteter Einheit. Die meisten Vertreter dieses völkisch getönten Mitteleuropagedankens, darunter vor allem Historiker, finden sich in der Zwi 98 Meyer, Mitteleuropa, op. cit., S. 292 ff.  99 Martin Spahn, Für den Reichsgedanken. Historisch-politische Aufsätze, Berlin 1936. 100 Wilhelm Schüßler, Mitteleuropas Untergang und Wiedergeburt, Stuttgart 1919  ; ders., Deutsche Einheit und gesamtdeutsche Geschichtsbetrachtung, Stuttgart 1937.

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schenkriegszeit erwartungsgemäß in der Republik Österreich. Auf reichsdeutscher Seite verknüpfte insbesondere der Historiker Hans Rothfels101 seine Bemühungen um eine konservativ-mitteleuropäische Bismarckinterpretation mit der Hoffnung auf ein künftiges föderatives Mitteleuropa, in dem die Nachfolgestaaten und das Deutsche Reich ohne Grenzverschiebungen auf der gemeinsamen Basis innerer ständestaatlicher Ordnungen zusammenfinden würden. Die wohl am weitesten ausgreifende Zusammenschau historischer Perspektiven und künftiger Hoffnungen bot der österreichische Historiker Heinrich v. Srbik.102 Synkretistisch spannte er den Bogen vom Universalismus des mittelalterlichen Kaisertums über den Universalismus des neuzeitlichen habsburgischen Kaisertums, über die österreichische Südostexpansion und über die Mitteleuropakonzepte des 19. Jahrhunderts und der Weltkriegszeit bis zum Programm einer künftigen deutschgeführten mitteleuropäischen Föderation, die sich bis zur Linie von Riga nach Odessa erstrecken sollte. Im Rahmen seiner »gesamtdeutschen« Geschichtsauffassung versuchte Srbik, bei aller historisch gebotenen Nuancierung, die unterschiedlichsten historisch-politischen Kräfte und Tendenzen in seine Interpretationslinie einzufangen, insbesondere die kleindeutsche Reichsgründung als Etappe zu würdigen und den späten Bismarck für den Mitteleuropagedanken zu retten. Ideologiegeschichtlich stellte Srbiks Historiographie den Höhepunkt dieser Gedankenwelt dar, die schon zeitgenössisch von den Nationalsozialisten imperialistisch überholt und rassistisch pervertiert wurde, dann aber mit der deutschen Katastrophe unterging. Seit 1945 ist »Mitteleuropa« somit politisch obsolet. Die historische Rückbesinnung kann aus vielerlei Gründen keine Aktualisierung des Konzepts bedeuten  ; sie ist im Gegenteil geeignet, durch den Nachweis der spezifischen programmatischen Besetzung dieses Begriffs vor seiner naiven Anwendung auf gänzlich anders geartete Konstellationen zu bewahren.103 101 Zu Rothfels vgl. oben Anm. 49. 102 Heinrich v. Srbiks Monumentalwerk Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit von Villafranca bis Königgrätz, 4 Bde., München 1935–1942, entfaltet dieses Panorama im ersten Band. Für sein ideologisches Konzept charakteristisch der gedruckte Vortrag von 1937  : Mitteleuropa. Das Problem und die Versuche seiner Lösung in der deutschen Geschichte, Weimar 1937. 103 Kritisch zu den politischen Bemühungen österreichischer Politiker zur Wiederbelebung ›Mitteleuropas‹ vor 1990 (Erhard Busek et al.) und ähnlichen Tendenzen der österreichischen Historiographie (v. a. Helmut Rumpler)  : Rudolf Jaworski, Die aktuelle Mitteleuropadiskussion in historischer Perspektive, in  : HZ 247 (1988), S. 529–550  ; John W. Boyer, Some Reflections on the Problem of Austria, Germany, and Mitteleuropa, in  : Central European History 22 (1989), S. 301–315. Vgl. auch Anm. 1 u. 7.

Deutsche Turnvereine in Prag 1861–19141 In ihrer spezifisch deutsch-mitteleuropäischen Ausprägung war die Turnbewegung von Anfang an Teil der Nationalbewegung  : Mit ihrer ideologischen Verankerung im emphatischen Volkstumsgedanken des Turnvaters Jahn war ihr dabei zugleich die Tendenz zu nationalistischer Übersteigerung im Sinne des ethnischen Nationsbegriffs mit in die Wiege gelegt  ; auch egalitär-demokratische Züge schwangen dabei deutlich mit. Im Reaktionssystem des Deutschen Bundes dementsprechend als systemgefährdend verfolgt und verboten, in den 1840er Jahren dann mühsam toleriert, fand sich ein Großteil der deutschen Turnvereine in der Revolutionsbewegung der Jahre 1848/49 stark politisiert im demokratischen Spektrum wieder und trat – teilweise auch im militärischen Kampf – unter den Farben Schwarz-Rot-Gold für Nationalstaat und Reichsverfassung ein. Nach abermaliger Unterdrückung belebte sich das Turnwesen im allgemeinen Zusammenhang des erneuten nationalen Aufschwungs nach 1859 wieder und führte jetzt auf breiter Front zu stabilen Vereinsgründungen. Neben den in der nationalen Tendenz ähnlich gerichteten Gesang- und Schützenvereinen waren die Turnvereine seit den 1860er Jahren ein fester Bestandteil des bürgerlichen Vereinswesens  ; mit der endgültigen Liberalisierung der restriktiven Vereinsgesetze des Deutschen Bundes bildeten sie in diesen Jahren auch die einschlägigen Verbände auf nationaler und regionaler Ebene aus.2 Anders als im Vormärz erfaßte diese Vereinsbewegung nunmehr auch die bundeszugehörigen Länder der Habsburgermonarchie in voller Breite. Sie stand hier  – unbeschadet randständiger transnationaler bzw. utraquistischer Vereins­ bildungen – von Anfang an im Zeichen der nationalen Segregation. Namentlich gilt dies für die Böhmischen Länder, wo zeitgleich mit den ersten deutschen Turnvereinen die čechische Sokol-Bewegung auf durchaus analoger ideologi­scher 1 Archivgut und vereinsinternes Bibliotheksgut wird wie folgt zitiert  : Statni Ustredni Archiv [Zentrales Staatsarchiv Prag], zitiert SUA. Fonds  : Prazske Policejni Reditelstvi [staatliches Polizei-Präsidium Prag], zitiert SUA, PR, SK. Archiv Hlavniho Mesta Prahy [Archiv der Hauptstadt Prag], zitiert AHMP. Spolkovy Katastr [Vereinsregister (ab 1895)], zitiert AHMP, SK. (Turnvereine  : SK XIII). Verwaltungsbericht des Deutschen Turnvereins Prag für das Jahr […], Prag (1862–1914) [Exemplare in  : SUA PR V 43/5, mit Lücken, danach zitiert.] Jahresbericht des Deutschen Männerturnvereins Prag für das Jahr […], Prag (1889–1914) [Exemplare in  : SUA PR V 43/3, mit starken Lücken, danach zitiert.] 2 Vgl. Michael Krüger, Körperkultur und Nationsbildung. Die Geschichte des Turnens in der Reichs­­­­­gründungsära, Schorndorf 1996.

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Grundlage ins Leben gerufen wurde. Die deutschen Turnvereine der deut­schen wie der böhmischen Erbländer Österreichs (hier künftig  : Alpenländer und Böhmische Länder) verstanden sich selbstverständlich als Teil der gesamtdeutschen Turnbewegung, was seinen Ausdruck in der Übernahme von Schwarz-Rot-Gold als gängiger Vereinsfahne und später vor allem in der organisatorischen Einbeziehung der Vereine in die Deutsche Turnerschaft fand. Vor dem Jahr 1866 war dies nicht nur relativ unproblematisch, sondern entsprach auch der damaligen deutschlandpolitischen Linie der Wiener Regierung in ihrem Bemühen um Bundesreform im gesamtdeutschen Sinn unter kalkulierter Berücksichtigung der national-deutschen Hoffnungen und Erwartungen. Nach dem preußischen Sezessionskrieg von 1866 und der bismarckschen Reichsgründung von 1870/71 änderte sich an dem nationalem Selbstverständnis der deutschen Turnerschaft als einer weiterhin gesamtdeutschen Veranstaltung nichts, ganz im Gegenteil  : 1868 wurden die Alpen- und Böhmischen Länder als Turnkreis XV in die Deutsche Turnerschaft aufgenommen und bildeten in der Folge die übliche regionale Untergliederung in Turngaue aus. Dies mußte nunmehr jedoch im politischen Koordinatensystem der Habsburgermonarchie naturgemäß ein Identitäts- und Loyalitätsproblem aufwerfen. Die deutsch-österreichische Turnerschaft sah sich nicht etwa als ein dem Deutschen Reich angeschlossener ›auslandsdeutscher‹ Verband an, sondern betrachtete turn-organisatorisch ›Deutschland‹ in den Grenzen des Deutschen Bundes weiterhin als ›ein Land‹. Die hinreichend bekannte Problematik des Vielvölkerreiches im Zeitalter des Nationalismus und der Nationalstaaten fand gerade im Verhältnis einer so prononciert nationalen Bewegung wie der Turnbewegung zu den anderen Völkern und zum Staat eine besondere Zuspitzung, was auch im aufsichtsrechtlichen und politischen Umgang der Behörden mit den Vereinen seinen Ausdruck fand. Hiervon wird im Rahmen der gewählten Fallbeispiele näher zu sprechen sein.3 3 Zur deutschen Turnbewegung im habsburgischen Österreich die zeitgenössischen bzw. von Aktiven aus zeitgenössischer nationaler Perspektive nachträglich geschriebenen Übersichten  : Alfred Schmarda, Handbuch des Turnkreises Deutschösterreich, Wien 1910, 2. Aufl. 1913. Fritz Hirth, Anton Kießlich, Geschichte des Turnkreises Deutschösterreich, Teplitz-Schönau 1928. Josef Freising, Der Turngau Südmähren und seine Geschichte. Ein Zeitbild vom Volkstumsschaffen der Turner Südmährens, Brünn 1938, 2. Aufl. Frankfurt (M) 1959. Erwin Mehl, Deutsches Turnen, seine Vorläufer und seine Begleiter in den Ländern der böhmischen Krone von den Anfängen bis 1918, in  : Rudolf Jahn (Hg.), Sudetendeutsches Turnertum, Teil I, Frankfurt 1958, S. 9–124. Wissenschaftliche Aufarbeitung  : Andreas Luh, Der Deutsche Turnverband in der Ersten Tschecho­ slowakischen Republik, München 1988  ; hier zahlreiche Rückblicke auf die Zeit der Habsburgermonarchie.

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Im Rahmen der Deutschen Turnerschaft nahmen die Turnvereine Deutsch-­ Österreichs von Anfang an einen beachtlichen Aufschwung  : Bereits von ca. 1861 bis 1865 wurden 102 Vereine gegründet, davon 51 in Böhmen, 8 in Mähren und 6 in Schlesien, gegenüber 37 in den Alpenländern insgesamt. Das Ende der ersten liberalen Periode (Verfassungssistierung 1865), die Phase der deutschen Kriege und die nachfolgende wirtschaftliche Depression ließen die Gründungen stagnieren (1876 erst 129 Vereine)¸ doch seit den 1880er Jahren nahmen Vereins- und Mitgliederzahlen kontinuierlich zu  : 1914 zählte der Turnkreis Deutsch-Österreich, in welchem die Masse der Turner organisiert war, 914 Vereine und 104.636 Mitglieder, davon 80.443 Aktive. (1910 lauteten die entsprechenden Ziffern 713 zu 88.370 zu 70.014.) Das Verhältnis der Böhmischen zu den Alpenländern hielt sich dabei ziemlich konstant in einer Relation von etwa 2 zu 1 zugunsten der ersteren. Bei einer deutschsprachigen Bevölkerung von 6,2 Mio. in den Alpen- und 3,5 Mio. in den Böhmischen Ländern bedeutete dies, bezogen auf das Volkszählungsjahr 1910, einen Organisationsgrad von 0,48 % in den Alpen- und 1,68 % in den Böhmischen Ländern. Anders gewendet kam in den böhmischen Ländern auf etwa 60, in den Alpenländern auf etwa 200 deutsche Einwohner ein Turnvereinsmitglied. Im Rahmen der ehemals zum Deutschen Bund gehörigen Länder Österreichs erfaßte die Turnbewegung also die Deutsch-Böhmen mit Abstand am stärksten.4 Dies dürfte sich – wenn man von den gleichmäßig stark erfaßten Landeshauptstädten aller Kronländer absieht – aus dem durchschnittlich höheren Industrialisierungs- und Urbanisierungsgrad der deutsch besiedelten Regionen Nordböhmens und Schlesiens e­ rklären, sicherlich aber auch mit der Bedeutung des Nationalitätenkonflikts in den böhmischen Ländern und der prominenten Rolle der Vereine für die nationale Selbstbehauptung zusammenhängen. Damit sind die ideologischen Aspekte der Turnbewegung angesprochen. Seit ihrem Aufschwung in den 1860er Jahren und im Horizont ihrer erfolgreichen Ausbreitung als Massenbewegung definierte sich, wie im Reich, so auch in Österreich die deutsche Turnerschaft als ›unpolitisch‹. Selbstverständlich waren Erfolg und Popularität des organisierten Turnens jenseits alles Politischen ganz allgemein in den kulturellen Bedürfnissen einer sich modernisierenden und differenzierenden Gesellschaft verankert, deren neue Assoziationsformen dem individuellen Streben nach Selbstverwirklichung und Gemeinschaftserleben neue Freiräume bot und in dessen Rahmen auch die Neuentdeckung des Körpers 4 Statistische Angaben zu Vereinsgründungen und Mitgliedern in Schmarda, Handbuch [ Anm. 3], S. 4 ff., 222 ff.

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mit dem (auch kompensatorisch zu den Bedingungen der modernen Arbeitswelt verstandenen) Wunsch nach Ertüchtigung und Bestätigung in Wettkampf und Spiel eine bedeutende Rolle spielte. Die Vereine trugen dem Rechnung in einer zunehmenden Diversifikation ihrer Disziplinen und Abteilungen, insbesondere auch mit der Pflege der Kinder- und Jugendarbeit und etwa der Einführung des Frauenturnens. Gleichwohl war die politische Dimension auch nach dem Neubeginn seit 1860 unübersehbar, wobei selbstverständlich der abwehrende und eher der Immunisierung dienende engere Begriff von Politik als Partei- und Tagespolitik vom Historiker überschritten werden muß. Der mit dem Turnen verbundene Volkstumsgedanke war auch nach 1870 in hohem Maße Ausdruck einer politischen Haltung. Selbst im neuen Deutschen Reich, wo nach dem Erfolg der Nationalstaatsgründung der »Normalnationalismus« (Nipperdey) Teil eines breiten bürgerlichen Grundkonsenses war, hoben sich die Turner mit ihrer emphatischen Deutschtümelei und der dazugehörigen Abgrenzung gegen alles Undeutsche deutlich heraus. Im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Marginalisierung altliberal-bürgerlicher Werte und Haltungen seit der späten Bismarckzeit gehörte die Turnerschaft zum Block des nationalistischen Verbandswesens samt seinen antimodernistischen, xenophoben und auch völkisch-rassistischen Unterströmungen. Insbesondere der Antimodernismus trug durchaus sektiererische Züge. Dies war, nach Abschluß der ersehnten (wenngleich unvollkommenen) Nationalstaatsgründung, das Resultat einer neuen Zielbestimmung turnerischen Wirkens  : Von nun an galt es, den als genuin deutsch angesehenen Wertekanon von körperlicher und geistiger Gesundheit, Mannhaftigkeit, Wehrhaftigkeit und Disziplin, Enthaltsamkeit und sittlicher Festigkeit im Rahmen von Gemeinschaftsfähigkeit, Einsatz- und Opferbereitschaft gegen den sich ausbreitenden Materialismus und das anationale Kosmopolitentum, gegen Genußsucht und Sittenverfall zu verteidigen und hiermit einen entscheidenden Dienst am Volk zu leisten. Auch der Kampf gegen den modernen, als Import gewerteten Sport mit seiner individualistischen Leistungs- und Rekordsucht, das gespaltene Verhältnis zur olympischen Idee und ähnliche internationalistische Erscheinungen lagen hierin begründet.5 Was auf diese Weise in Reichs-Deutschland immer noch eingebettet sein mochte in einen allgemeineren nationalen Grundkonsens, gestaltete sich im Na5 Hans-Georg John, Politik und Turnen. Die deutsche Turnerschaft als nationale Bewegung im deutschen Kaiserreich von 1871–1914, Ahrensburg 1976  ; Krüger, 1996 [Anm. 2]. Svenja Goltermann, Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860–1890, Göttingen 1998.

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tionalitätenkonflikt der österreichischen Alpen- und der Böhmischen Länder zu einem maßgeblichen Element der Desintegration im Zeichen des »Volkstums­ kampfes«. Insbesondere in den böhmischen Ländern war das nationale Vereins­ wesen auf čechischer wie auf deutscher Seite Ausdruck einer zunehmenden Polarisierung, wobei das deutsche Verhalten in den letzten Jahrzehnten der Monarchie immer mehr von einem Grundgefühl der Defensive getragen wurde. Dem entsprach die Tendenz, die verschiedenen Vereinsgattungen (Deutscher Schulverein, Turnvereine, Gesangsvereine etc.) in ihren Aktivitäten zu koordinieren und insbesondere auf lokaler Ebene für öffentliche Auftritte zu bündeln, ihnen bei hinreichender Ortsgröße auch eine praktische wie symbolträchtige Heimstätte in Gestalt eines Deutschen Hauses zu geben. Bei numerisch überwiegend kleinbürgerlicher und mittelständischer Zusammensetzung der aktiven Turnerschaft förderte das Mäzenatentum regional bedeutsamer Unternehmer und ein starkes persönliches Engagement der deutschen bürgerlichen Honoratioren-Politiker in allen Vereinstypen nicht nur die organisatorische Vernetzung, sondern auch die Anbindung an die Kommunalpolitik, an die Repräsentativkörperschaften und – solange die Deutsch-Liberalen in Wien an der Regierung beteiligt waren – auch an die Regierungspolitik. Somit kam den unpolitischen Vereinen, in Österreich sicherlich stärker als im Deutschen Reich, auch für die parteipolitische Klientelbildung und die Organisation von Wahlen eine wichtige Bedeutung zu.6 Die Turnvereine spielten gerade auch in der öffentlichkeitswirksamen Repräsentation der deutschen Nationalität eine bedeutsame Rolle, und nicht zuletzt darin lag ihr Beitrag zur Polarisierung des Volkstumskampfes begründet. Der gesamte Kanon körperlicher Kraftentfaltung, Wehrhaftigkeit, Selbstbeherrschung und kollektiver Disziplin als Ausdruck bester nationaler Tugenden bedurfte zu seiner vollen Verwirklichung der öffentlichen Schaustellung, weil solche Manifestationen zugleich die Zuschauer in ihrer nationalen Selbstvergewisserung bestärkten und erhoben.7 Deshalb waren turnerische Wettkämpfe als Leistungsschau, kollektive Massenübungen und festliche Straßenumzüge als Versinnbildlichung von Gruppenstärke unverzichtbar für den Turnbetrieb und seine 6 Überblick bei Friedrich Prinz, Die böhmischen Länder von 1848 bis1914, in  : Karl Bosl (Hg.), Handbuch der Geschichte der Böhmischen Länder, Bd. 3, Stuttgart 1968, S. 3–235, hier S. 154 ff. Ders., Das kulturelle Leben (1867–1939), in  : op. cit., Bd. 4, 1970, S. 151–235, hier S. 155 ff. Vgl. auch den Sammelband von Ferdinand Seibt (Hg.), Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern, München 1986  ; hier besonders den Überblicksartikel von Peter Burian, Das Vereinswesen in den böhmischen Ländern, S. 39–51, hier S. 48 ff. 7 Hierzu v. a. die Arbeit von Svenja Goltermann Körper der Nation, [Anm. 5].

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gesellschaftlich-politische Funktion. Sie ließen sich lokal organisieren  ; aber weit wichtiger noch, vor allem für die vielen kleinen Vereine, war die Bündelung derartiger Veranstaltungen auf regionaler Ebene in Gauturnfesten. Besondere Höhepunkte waren die selteneren Kreisturnfeste oder das (noch seltenere und ferne) gesamtdeutsche Erlebnis des Deutschen Turnfestes. Nach der Bedürfnislage und den praktisch-organisatorischen Möglichkeiten war die regionale Gau-Organisation besonders wichtig.8 Es liegt auf der Hand, daß die Durchführung der häufigeren, aber zugleich auch bescheidener ausgestatteten lokalen und regionalen Feste in einem Klima wachsender nationaler Spannungen zunehmend prekär wurde  ; dies galt nicht so sehr für die Veranstaltungen in geschlossenen Räumen als vor allem für die demonstrativen Umzüge, Ausflüge und Besuchsreisen in nationalen Mischgebieten oder gar in der Diaspora. Unterhalb der Schwelle der selteneren und aufwendigen Umzüge waren gerade auch die sonntäglichen »Turnfahrten« eine beliebte Gewohnheit, um durch geschlossenes Auftreten Präsenz zu zeigen. Bei allen öffentlichen Demonstrationen spielte das Mitführen turnerischer Symbole, vorrangig der schwarz-rot-goldenen Vereinsfahne, eine bedeutende Rolle, und so konnte es nicht ausbleiben, daß diese Art der ›Provokation‹ immer wieder zur Zielscheibe handgreiflicher Auseinandersetzungen mit einer gewaltbereiten čechisch beherrschten Straße wurde. Solche Erfahrungen trugen nachhaltig dazu bei, den psychologischen Defensiv-Komplex unter den Deutschen zu verfestigen  ; dies umso mehr, als auch die zum Eingreifen genötigten Behörden nach deutscher Auffassung den erwarteten Schutz vermissen ließen. Schon in den 1860er- und 1870er Jahren waren die Aufsichtsbehörden zögerlich mit der Genehmigung der Vereinsgründungen und insbesondere der regionalen Zusammenschlüsse  ; immer wieder mußte der Verdacht ausgeräumt werden, daß es sich um »politische« Organisationen handelte. Aus den Satzungen mußte in der Anfangszeit regelmäßig das Wort »deutsch« als Aufnahmekriterium und in der Charakterisierung des Vereinszwecks gestrichen werden.9 Später fraß sich vor allem in der lang währenden Ära Taaffe unter den Deutschen der Böhmischen Länder der Argwohn gegen eine slavophile Gesamtlinie der Regierung ein und führte bei der Mehrzahl der Turner zu einer Erschütterung der Loyalität zum Habsburgerstaat, wobei eine »schwarz-gelbe« Gesinnung schließlich nahezu als verächtlich galt. Die nähere Betrachtung des behördlichen Vorgehens in unserer nachfolgenden Untersuchung des Fallbeispiels Prag wird zeigen, daß 8 Geschichte und Auflistungen der Gaue bei Schmarda (Hg.), Handbuch, [Anm. 3]. 9 Beispiele bei Hirth-Kießlich, Geschichte, [Anm. 3], Kapitel 2 u. 3 passim, S. 31–167  ; mit parteiischer Wertung.

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gerade auch die Bürokratie zunehmend eine politische Defensivposition einnahm und sich auf das ohnehin in der altösterreichischen Tradition liegende Selbstverständnis eines von der Gesellschaft abgehobenen Verwaltungsstaates zurückzog, der nur noch der Minimal-Linie defensiver Prophylaxe als politischer Maxime folgte  : polizeiliche Entscheidung über die Genehmigung oder Nichtgenehmigung von Umzügen, Vorgabe der Routen, Fahnenverbot, Verbot von auffälligen Gruppenreisen und auch hier Vorgabe von Reisewegen u. dgl. mehr. Wachsenden Vorbehalten begegnete verständlicherweise auch die Neuzulassung der großdeutschen Farben. Schließlich übte die Polizei seit der Taaffe-Ära eine verstärkte Vorzensur über die Programme der Vereinsveranstaltungen aus und begleitete diese selbst mit eingehender Beobachtung und Berichterstattung. Anders als im Deutschen Reich erlebte in Österreich auf diese Weise nicht nur das Proletariat, sondern auch das nationalistisch aufgeladene Bürgertum den Staat in der postliberalen Ära erneut als Instanz der Kontrolle und Repression. Im Grunde war der Staat in diesem mentalen Umfeld der Nationalismen in einer hoffnungslosen Position. Die gemeinsame ›Abwehr‹-Front gegen die čechische Bevölkerungsmehrheit in der Wahrung des Deutschtums und seiner sozial-kulturellen Positionen einte alle Turnvereine wie die deutschen Vereine überhaupt in einer übersichtlichen Polarisierung mit integrativer Binnenwirkung. Spiegelbildlich entsprach dies dem čechischen Vereinswesen auf der anderen Seite. Seit den frühen 1880er Jahren trat mit dem Aufkommen des Antisemitismus jedoch zusätzlich eine besondere, von der čechischen Sokol-Bewegung, aber auch von der reichsdeutschen Turnerschaft abweichende Konstellation ein, die zu einer tiefgreifenden Spaltung führte. Bekanntlich fühlten sich die Juden Österreichs zu dieser Zeit in den urbanen Zentren noch als Teil der (säkularisierten) deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft.10 Von daher beteiligten sie sich seit dem Durchbruch des Liberalismus und der damit einher gehenden staatsbürgerlichen Gleichstellung der »Mitbürger jüdischen Glaubens« selbstverständlich auch am urbanen deutschen Vereinsleben. (Die Čechen, bei denen im Übrigen durchaus Antisemitis-

10 Überblick mit den nötigen Differenzierungen  : Wolfdieter Bihl, Die Juden, in  : Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 3,1–2 Die Völker des Reiches, Wien 1980 Bd.  3,2, S.  880–948. Wolfgang Häusler, Toleranz, Emanzipation und Antisemitismus. Das österreichische Judentum des bürgerlichen Zeitalters (1782–1918), in  : Anna Drabek u. a. (Hgg.), Das österreichische Judentum, Wien-München 1974, S.  83–140. Christoph Stölzl, Zur Geschichte der böhmischen Juden in der Epoche des modernen Nationalismus, in  : Bohemia 14 (1973), S. 179–221.

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mus verbreitet war,11 kannten zu dieser Zeit insoweit keine »Judenfrage« als vereinsinternes Problem.) Jüdische Turnvereinsmitglieder gab es in nennenswerter Zahl in Wien, Prag und Brünn sowie in einigen Vereinen des Umfeldes dieser Zentren in Niederösterreich und Mähren  ; in den übrigen Alpen- und Böhmischen Ländern scheint ihre Präsenz eher marginal gewesen zu sein. Bekanntlich ging das Wiederaufleben des Antisemitismus in Mitteleuropa einher mit der Großen Depression im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1873 mit ihrer Diskreditierung des ökonomischen und politischen Liberalismus in breiten mittel- und kleinbürgerlichen Schichten, nicht zuletzt in der akademischen Jugend. Er blieb von nun an ein dauerhaftes Element der sozio-politischen ›Kultur‹, wobei ideologisch der traditionelle religiös motivierte Antijudaismus nunmehr erweitert oder mehr noch abgelöst wurde durch den neuen biologistisch grundierten Rassenantisemitismus.12 In Österreich wirkte der neue Antisemitismus nachhaltig auf die Parteienlandschaft ein  : auf konfessionell-katholischer Seite mit dem Aufkommen der Christlich-Sozialen als populistischer Massenbewegung  ; im uns interessierenden deutsch-liberalen Lager mit der sich vertiefenden Spaltung von Altliberal-Freiheitlichen, die jetzt stark mit ihrer jüdischen Anhängerschaft identifiziert wurden, und Deutsch-Nationalen, die einen starken »völkischen« Flügel ausbildeten und mit den Anhängern Schönerers in sektiererische Gruppen und Positionen ausfransten.13 Auf Vereinsebene machte sich der Antisemitismus in dem Bestreben geltend, Juden (nach rassischer Definition) von der Mitgliedschaft auszuschließen – zunächst informell, dann formalisiert mit der Einführung des sog. »Arierparagraphen« (Mitgliedschaft, bzw. in der ›weicheren‹ Variante Neuaufnahme, nur von Deutschen »arischer« Abkunft). Den Anfang machten bestimmte deutsch-nationalistische studentische Korporationen (zunächst in Prag und Wien)  ; im Korporationsmilieu Österreichs wie Reichsdeutschlands breitete sich diese Art der Diskriminierung seit den späten 1870er Jahren rasch und nachhaltig aus.14 Von den antisemitischen Ten11 Hierzu Jiří Kudela, Die historischen Wurzeln des Rassenantisemitismus in den Böhmischen Ländern. Juden zwischen Tschechen und Deutschen (1780–1870/1918), in  : Jörg K. Hoensch u. a. (Hgg.), Judenemanzipation – Antisemitismus – Verfolgung in Deutschland, Österreich-Ungarn, den Böhmischen Ländern und in der Slowakei, Essen 1999, S. 33–54. Vgl. auch die Beiträge von Helena Krejcová u. Alena Mísková in demselben Sammelband. 12 Peter G. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, dt. Gütersloh 1966. Werner Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870–1945, 2. Aufl. Hamburg 1991. 13 Häusler, Toleranz, Emanzipation, Antisemitismus, in  : Drabek, [Anm. 10], S. 108–122  ; vgl. auch Pulzer [Anm. 12]. 14 Johann Ramminger, Nationalismus und Universität. Die Genese des Nationalismus in den cis-

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denzen wurde auch die Turnbewegung der Alpen- und der Böhmischen Länder, in denen es übrigens an Hochschulorten viele studentische Mitglieder gab, intensiv erfaßt. Binnen zweier Jahrzehnte gelang es einer zunächst kleinen, aber entschie­den antisemitischen Gruppe, fast den gesamten Turnkreis XV über den Hebel des Arierparagraphen (wobei taktisch die ›weiche‹ Fassung propagiert wurde) auf eine »völkische« Linie zu bringen. Die Einzelheiten dieser Auseinan­ dersetzungen mit ihrem reichen Arsenal taktischer Schachzüge können hier beiseitegelassen werden.15 Vor dem Hintergrund gezielter Skandalisierung auf Turnfesten spalteten sich die traditionsreichen Großstadtvereine in Wien und Prag (Brünn blieb geschlossen freiheitlich)  ; die Hauptarenen der Auseinandersetzungen aber waren die Gau-Turntage (von den Mitgliedsvereinen beschickte Delegiertenversammlungen), auf denen gauweise um die Einführung des Arierparagraphen gestritten und in Kampfabstimmungen entschieden wurde. Da satzungsgemäß qualifizierte Mehrheiten erforderlich waren, währten diese Auseinandersetzungen oft viele Jahre, endeten aber regelmäßig mit dem Sieg der antisemitischen Seite. Da die Mitgliedsvereine im praktischen Turnbetrieb auf die Gauorganisation angewiesen waren, konnten die unterlegenen Minderheiten fast ebenso regelmäßig unter Optionsdruck und zum Einschwenken auf die neue Linie gebracht werden. Nachdem die völkische Richtung eine hinreichende Zahl von Gauen in ihre Hand gebracht hatte, wagte sie ab 1897 den letzten Schritt, der nach ersten Fehlschläge 1901 zum Erfolg führte  : die mit 120  : 14 Delegiertenstimmen durchgesetzte Einführung des Arierparagraphen im Turnkreis XV. Nur etwa 50 Vereine verweigerten dieser Entscheidung die Gefolgschaft und gründeten 1902 in Prag den »Verband der deutsch-freiheitlichen Turnvereine in Österreich«. Organisationspolitisch hatte sich also das gruppendynamische Prinzip der kumulativen Prämiierung der größten organisierten Masse durchgesetzt. Auch nach der politisch entgegengesetzten Seite hin war dies insofern ein Erfolg, als mit der radikal-völkischen Sezession eines »Deutschen Turnbundes« seit 1889 eine sektiererische, parteipolitisch Schönerer nahestehende Alternaleithanischen Universitäten 1859–1900, Diss. Masch. Wien 1981. Andreas Mölzer, Das Waffenstudententum in Vergangenheit und Gegenwart, = Geschichte des europäischen Studententums, Bd.  3, Graz 1980. Ders., Österreich  – ein deutscher Sonderfall, Berg 1988. Thomas Schindler, Studentischer Antisemitismus und jüdische Studentenverbindungen 1880–1933, Jever 1988. 15 Breite Darstellung der »Turnfehde« bereits in den zeitgenössischen Publikationen  : vgl. Hirth-­ Kießlich  : Geschichte, Schmarda  : Handbuch, Mehl  : Deutsches Turnen, [Anm.  3]. Aus Vereins­ perspektive auch in  : Ernst Rychnovsky, Der Deutsche Turnverein in Prag 1862–1912, Prag 1912. Wissenschaftliche Aufarbeitung  : Hartmut Becker, Antisemitismus in der Deutschen Turnerschaft, Sankt Augustin 1980.

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tive bereitstand, die trotz intensiver Abwerbungsversuche klein gehalten werden konnte. (Eine noch extremere Abspaltung hiervon, der 1909 gegründete »ArndtVerband«, blieb zahlenmäßig marginal.)16 Das weitergehende Ziel der neuen antisemitischen Kreisführung, den gewendeten Turnkreis  XV im Deutschen Turnbund zu halten, gelang freilich nicht. Die reichsdeutsche Turnbundführung begegnete den antisemitischen Tendenzen von Anfang an mit scharfer Polemik, war aber unter der Hand bereit, mit den Österreichern einen modus vivendi zu finden, der auf die »besondere Lage« des Volkstumskampfes in der Habsburgermonarchie abstellte, wenn nur die Sorge eines Übergreifens auf die Turnerschaft in Deutschland zerstreut werden konnte. Doch war man deutscherseits zugleich entschlossen, die freiheitliche Minderheit in Österreich zu schützen. Wohl auch in der anfänglichen Hoffnung auf eine weit stärkere Behauptung der alten freiheitlichen Richtung erhielt deren Verband 1904 den Rang eines parallelen Turnkreises »XVb«. Dies durchkreuzte das Ziel der Gegenseite, die Minderheit organisatorisch zu diskriminieren. Der »Turnkreis Deutsch-Österreich« beschloß daraufhin 1904 seinen Austritt aus dem Deutschen Turnbund, womit nach österreichischer Auffassung die deutschösterreichischen »vollberechtigten Töchter Germaniens« vom Mutterland getrennt wurde.17 Trotz reichsdeutscher Stützung reüssierte der in der DT verbliebene Minderheits-Turnkreis nicht  : Die Zahl seiner Vereine stieg zwischen 1904 und 1912 von 50 auf 69, die der Mitglieder von ca. 7000 auf ca. 8000 (gegenüber 1912 ca. 800 Vereinen mit 95000 Mitgliedern im TK Deutsch-Österreich). Neben Wien, Prag und Brünn gab es Vereine von nennenswerter Größe nur in Saaz, Teplitz, Trautenau und Budweis  ; die Gaubildung blieb prekär.18 Gewiß wird man den fast geschlossenen Übergang der deutsch-­­österreichi­ schen Turnerschaft in das »völkische« Lager zu einem guten Teil auch auf das Konto der bereits genannten Organisationsmacht mit ihren strukturellen Zwän­ gen setzen müssen und bei weitem nicht jedem Mitglied, auch nicht jedem Verein als ganzem Antisemitismus unterstellen dürfen. Gleichwohl bleibt erklärungsbedürftig, warum es in den lang dauernden und mit großer Härte geführten Auseinandersetzungen der liberalen Seite, die zunächst traditionell die Führung des Turnkreises beherrschte, nicht gelang, dem Sog des sich ausbreitenden Anti­ 16 Franz Benda, Der Deutsche Turnbund 1889. Seine Entwicklung und Weltanschauung, Wien 1991 [Diss.-Druck], mit breiter Übersicht über Deutschnationalismus und Antisemitismus insgesamt. 17 Hirth-Kießlich, Geschichte, [Anm. 3], S. 308. 18 Zur statistischen Entwicklung des Kreises XVb Hirth-Kießlich, Geschichte [Anm. 3], S. 308 ff.; Rychnovsky, Turnverein Prag, [Anm. 15], S. 90.

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semitismus erfolgreich entgegenzutreten, der wachsende Teile der Turnerschaft und vor allem ihre Repräsentanten ergriff. Ein Teil der Antwort liegt gewiß in der genannten Diskreditierung des bürgerlichen Liberalismus und seiner großbürgerlichen Vertreter sowie dem sozialen und auch mentalen Abdriften großer Teile der Mittelschichten nach ›rechts‹. Doch reicht diese Erklärung ebenso wenig wie der Hinweis auf die weiterwirkenden Traditionen des christlichen Antijudaismus und den neuen konjunkturbedingten Affekt ökonomischer Verlierer. Denn all dies war auch in Reichsdeutschland stark verbreitet, ohne daß dies in der dortigen Turnerschaft zu derartigen Konsequenzen geführt hätte. Man wird zu sozial-psychologisch tieferen Schichten vorzudringen und auch analytisch von der ›besonderen Lage‹ des österreichischen Deutschtums auszugehen haben. Die Vielvölkersituation der Habsburgermonarchie, das Fehlen einer eindeutigen Staatsnation verwies die Völker Österreichs im Zeitalter des Nationalismus von vornherein auf den ethnischen Nationsbegriff in scharfer Abgrenzung gegen das integrale politische Nationsprinzip, dessen Verhältnis zum »Volks«-Begriff in den ethnisch einigermaßen homogenen Nationalstaaten unproblematisch sein mochte. Hingegen sensibilisierten die daraus im Vielvölkerstaat hervorgehenden Abgrenzungsbedürfnisse die Ethnien in hohem Grade für habituelle Andersartigkeiten, die im Horizont des epochalen Biologismus gern genetisch (damals  : »blutsmäßig«) interpretiert wurden. Sie erzeugten in der für die Deutschen charakteristischen mentalen Defensivposition das Bedürfnis nach ›Reinheit‹. Im deutschen Selbstverständnis galt diese Haltung als »völkisch«. Wie sich an den Verbandspublikationen ablesen läßt, spielte die Gedankenwelt Jahns und Ernst Moritz Arndts in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Als Turnvater wurde Jahn auch von den freiheitlichen Vereinen ständig bemüht  ; bei den Völkischen wurde jedoch seine Deutschtümelei intensiv und geradezu sektiererisch gepflegt, in der sog. »Dietarbeit« (diet=Volk) auch systematisiert  : Dietwarte hatten mit Schulungsabenden und Lesestoff in den Vereinen für die Erarbeitung »völkischen Wissens« zu sorgen, das abgeprüft wurde und (was freilich lästig und daher umstritten war) bei Wettkämpfen in die Punktwertung einbezogen werden sollte. Durchgehender Grundzug war die (zugleich xenophobe, in den Böhmischen Ländern gegen Čechen und Juden gleichermaßen gerichtete) ideologische Überhöhung deutschen Wesens in allen Bereichen. Mit der biologistischen Aufladung dieses ›Jahn-Komplexes‹ reicherte sich die dem Turnwesen eigene Verknüpfung von Volk, Körperkult und Sittlichkeit mit sakralen Elementen einer »Blut«- und Rassemystik an, die sich verschärft gegen die Juden als undeutschen Fremdkörper in der deutschen Volksgemeinschaft wandte. Während die nationalbewußten Čechen ihr eigenes, polar abgesondertes Vereinswesen pflegten

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und insofern für die Deutschen kein Ausgrenzungsproblem aufwarfen, suchten die assimilationsbereiten Juden gerade umgekehrt Anschluß an die deutsche Gesellschaft, spielten in den Vereinen eine tragende Rolle und provozierten damit nunmehr einen internen Abwehrreflex unter der Maxime deutscher ›Reinheit‹. Oder mit den Worten der damaligen Aktivisten von 1910  : »Ein unbewußtes Rasseempfinden wehrte sich gegen das Eindringen asiatischen Blutes in Jahns Heiligtum.«19 Insbesondere mit dem der Hygiene entnommenen und damit sensitiv aufgeladenen Vokabular hatte die deutsch-österreichische Turnerschaft um die Jahrhundertwende bereits jenen antisemitischen Komplex voll ausgebildet, der im historischen Gedächtnis als »nationalsozialistisch« fortlebt. Die Stigmatisierung der Juden als »asiatisch« rückte sie im Horizont des »Arischen« zugleich sehr viel weiter vom Deutschtum ab als etwa die – als Ergebnis des »schwebenden Volkstums« – germanisierten Čechen, die (ausweislich ihrer Namen) massenhaft als deutsche Vereinsmitglieder aufscheinen. Die Gegenposition der »freiheitlichen« Turnvereine hatte gegenüber dem emotionalisierten »völkischen« Reinheitskomplex insofern wenig Chancen, als sie sich auf den satzungsmäßigen Grundsatz berief, keine religiösen und parteipolitischen Unterschiede für die Turnvereinsmitglieder gelten zu lassen. Die Definition der Juden als Deutsche mosaischen Glaubens, also als lediglich religiös verschieden, verfing nicht gegenüber dem neuen rassistischen Abgrenzungsdrang. Im Übrigen waren auch die Freiheitlichen intensiv durchdrungen von deutschem Sendungsbewußtsein und der Notwendigkeit nationaler Selbstbehauptung durch aktive Vereinsarbeit. Gerade deshalb aber sollten nach ihrer Auffassung alle Kräfte gebündelt und Spaltungen vermieden, die deutsch akkulturierten Juden daher auf keinen Fall ausgegrenzt werden. Die wichtigsten Stützen dieser Position waren in den lang währenden Auseinandersetzungen – neben dem nach der Spaltung neu gegründeten Wiener Deutsch-Österreichischen Turnverein – die älteren 1861/62 gegründeten Turnvereine von Brünn und Prag. Ihre Führungen, die anfänglich in der Kreisleitung prominent vertreten gewesen waren, kämpften besonders hartnäckig gegen den Arierparagraphen und suchten nach verlorenem Kampf die verbliebene Minderheit freiheitlicher Vereine zu organisieren.20 Profil und Situation der Vereine in den Landeshauptstädten Böhmens und Mährens können einiges zur Erklärung dieser Positionen und Aktivitäten beitragen. In beiden Orten stand das deutsche Vereinswesen unter der maßgeblichen Führung der besitz- und bildungsbürgerlichen deutschen Oberschicht, die 19 Hirth-Kießlich, Geschichte, [Anm. 3] S. 353. 20 Rychnovsky, Turnverein Prag, [Anm. 15], S. 59–90.

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in beiden Fällen die schichtzugehörigen Juden voll integriert hatte. In beiden Städten befand sich die deutsche Bevölkerung (in Prag allerdings weit krasser als in Brünn) in einer Diaspora-Situation, die den Willen der Führungsschicht zur Koordinierung aller sozio-kulturellen Potenzen des Deutschtums mithilfe seines Vereinswesens stark beflügelte. Dies soll im Folgenden – zunächst am Beispiel Prags – näher ausgeführt werden. Bereits der Gründungsvorgang des Deutschen Turnvereins Prag in der Zeit vom Juli 1861 bis zum Februar 1862 führt mitten hinein in den sich steigernden Nationalitätenkonflikt in der böhmischen Landeshauptstadt.21 Die Initiatoren, junge Leute aus der deutschen Geschäftswelt, hatten zuvor mit Čechen unter der Leitung eines Turnlehrers zusammen geturnt  ; und ihre čechischen Kollegen verlangten auch jetzt Teilnahme an dem neuen förmlichen Verein. Nach kurzer anfänglicher Unsicherheit beharrten die Deutschen jedoch ausdrücklich auf einer nationalen Organisation. Der Vorgang beschleunigte die Gründungsvorbereitungen für die »Sokol«-Organisation in Verbindung mit jungčechischen Führern  ; er wirkte also insofern katalytisch, wenn auch gewiß nicht generierend auf die nationale Segregation. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß auch auf der deutschen Seite Mäzenaten und Politiker im Hintergrund standen, die die Segregation verlangten, worauf sogleich näher einzugehen ist. Die aus Sicht der Behörden vereinspolitisch nicht unproblematische, vereinsrechtlich aber nicht zu beanstandende Bildung eines national (vorsichtshalber nicht auf »Deutsche«, sondern auf »Deutsch als Geschäftssprache«22) festgelegten Vereins brach mit der älteren Tradition a-nationaler oder »utraquistischer« (d. h. formell zweisprachiger) Vereinigungen, die es in Prag bisher und auch weiterhin durchaus gab. Die im nachhinein gern formulierte Begründung für die Ablehnung des utraquistischen Prinzips paßt so gar nicht in die deutsche Überlegenheits-Ideologie, verrät aber etwas von dem deutschen Defensiv-Komplex in der Prager Diaspora-Situation  : Das čechische Verlangen nach satzungsmäßiger Zweisprachigkeit (Utraquismus) sei nach aller Erfahrung stets der Einstieg in die gezielte Unterwanderung und Čechisierung. Ganz allgemein wurden gemischtnationale sozio-kulturelle Gemeinschaftsunternehmen als Abstieg in einen profillosen »Einheitsbrei« perhorresziert  ; scharfe Abgrenzung und klare 21 Zum Folgenden  : AHMP, SK XIII [=Vereinsregister, Turnvereine], No. 1 = Sokol Prag  ; No. 2 = Deutscher Turnverein Prag. Rychnovsky, Turnverein Prag, [Anm. 15], S. 1–22. Gary B. Cohen, The politics of ethnic survival. Germans in Prague, 1861–1914, Princeton NJ 1981, S. 64 ff. 22 AHMP, SK XIII, No. 2.

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Konturierung des nationalen Eigenwesens war nach dieser Auffassung das situationsgerechte Gebot der Selbstbehauptung. Man wird diese Entscheidung auch als Reflex auf den zeitgleichen Zusammenbruch der deutschen Herrschaft in der Prager Gemeindeverwaltung, die čechische Dominanz in den Gemeindewahlen und auf die gezielte Čechisierung der Stadt durch Stadtverordnetenmehrheit und Magistrat werten müssen, die 1861 massiv begann und die deutsche Bevölkerungsgruppe umgehend mit dem Schock der Diasporasituation konfrontierte. Die Turnvereinsgründung war Teil einer konzertierten Aktion zum Aufbau eines deutschen Vereinswesens in der Stadt. Etwa gleichzeitig, zwischen Ende 1861 und Juni 1862, bildete sich  – nach dem allgemeinen mitteleuropäischen Vorbild der Casinobewegung – das Deutsche Casino als zentrale Organisation des Prager Deutschtums, dem in der Folge eine Schlüsselrolle für die Koordination des deutschen Vereinswesens und damit für den sozialen, politischen und kulturellen Zusammenhalt des deutschen Bürgertums in Prag zufiel. Der Aufbau dieses Netzwerkes und seine Funktion für die Sicherung der deutschen bürgerlichen Gesellschaft unter Einschluß des assimilierten Prager Judentums unter der Führung der besitz- und bildungsbürgerlichen Elite ist von Gary B. Cohen23 eingehend untersucht worden und muß hier nicht resümiert werden. Entscheidend ist, daß diese liberal-freisinnig orientierte deutsche (samt der als deutsch angesehenen deutsch-jüdischen) Elite – bei freilich zunehmender sozialer Isolierung in einem čechischen Umfeld, bei fehlender deutscher Arbeiterschicht und kaum profilierter deutscher Kleinbürgerschicht – bis zum Ende der Monarchie die hegemoniale Geltung und Bestimmungsmacht über das Prager Deutschtum besaß und darüber auch mit erheblicher Durchsetzungskraft wachte. Der Deutsche Turnverein fügte sich in dieses vom Casino ausgehende Koor­ dinatensystem ein. Der Verein war auf die Protektion und das Mäzenatentum der im Casino repräsentierten Wirtschaftselite und der dahinter stehenden Bankwelt angewiesen  : Der Repräsentant der Prager Filiale der Wiener Credit-­ Anstalt stand bei der Gründung mit einer namhaften Stiftung Pate  ; in der Folgezeit gehörte die Böhmische Sparkasse zu den wichtigsten Förderern des Vereins. Die Vereinsführung war  – wie auch in anderen deutschen Vereinen  – personell stets eng mit dem Casino verzahnt  ; die deutschen Notabeln der Stadt errichteten auf diese Weise ein Netz von Loyalitäten und Abhängigkeiten, die den Zusammenhalt unter großbürgerlich-liberalem Vorzeichen sicherstellte. 23 Gary B. Cohen, Politics of ethnic survival, [Anm. 21]  ; für Details ist auch die Dissertations-Fassung heranzuziehen  : Gary B. Cohen, The Prague Germans 1861–1914. The Problems of Ethnic Survival, Ann Arbor 1975.

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Auch nach der Abspaltung einer national-völkischen Minderheit, von der noch zu sprechen sein wird, blieb dieses liberale Netzwerk auf sozial und ideologisch etwas schmalerer Basis, aber mit fast der alten hegemonialen öffentlichen Geltung intakt. Dieses Netzwerk diente von Anfang an auch den lokalen Repräsentanten der deutsch-liberalen »Verfassungspartei« als Basis ihres politischen Wirkens. Ihre Exponenten waren seit der Frühzeit Eduard Seutter Edler von Lötzen, Dr. Wenzel Dressler, Richard v. Dotzauer und vor allem Dr. Franz Schmeykal, ferner die jüngeren Alexander Richter und Ernst v. Plener.24 Sie fanden in dem Vereinswesen ihren lokalen politischen Rückhalt, zeigten bei jeder Gelegenheit Präsenz und setzten sich ihrerseits für die materielle und öffentlich-politische Selbstbehauptung der Vereine ein. Sie sorgten maßgeblich für die Wahrung der liberal-freiheitlichen Linie in einer seit den 1880er Jahren schärfer werdenden Abgrenzung gegen die auch in Prag wirksamen deutschnational-völkischen Tendenzen. Der wohl wichtigste Koordinator der deutsch-liberalen Politik, der von Prag aus wirkte, war der langjährige Abgeordnete Franz Schmeykal, der sich für den Turnverein einsetzte und von ihm stets mit besonderen Ehrungen bedacht wurde. Die großbürgerlich-liberale Vereinsführung, gestützt durch die liberalen Notabeln der Stadt, verteidigte diese politisch-weltanschauliche Linie gegen die 1887 im Verein aufkommende völkisch-antisemitische Strömung mit großer Härte. Dies soll später erörtert werden. Die erhaltenen jährlichen Verwaltungsberichte des Turnvereins sowie die Vereinsfestschrift von 1912 geben einen deutlichen Einblick über die Position des Vereins im Rahmen der deutschen Vereinskultur sowohl hinsichtlich der schützenden Einbindung als auch hinsichtlich der aktiven Beiträge im Rahmen öffentlicher Repräsentation. Wichtig war in diesem Zusammenhang die Stiftung einer Vereinsfahne (1864), dann vor allem der Bau einer eigenen repräsentativen Turnhalle. Der Schritt zum Turnhallenbaus verzögerte sich lange, nicht zuletzt durch die Wirtschaftsdepression der 1870er Jahre, und konnte erst 1881 auf der Basis einer vom Casino koordinierten, an die Solidarität der Deutschen appellierenden Lotterie und eines Darlehens der Böhmischen Sparkasse verwirklicht werden.25 Aus den bereits einleitend entwickelten Gründen hatten die Turner mit ihren Darbietungen für die Selbstvergewisserung des Deutschtums anläßlich öffentlicher Festveranstaltungen sei es des eigenen Vereins, sei es anderer Vereine oder der des Prager Deutschtums insgesamt (z. B. beim »Frühlingsfest« 24 Hervorgehoben und teilweise ausführlich gewürdigt bei Rychnovsky, Turnverein Prag [Anm. 15], S. 1–22 und passim. 25 Rychnovsky, op. cit., S. 91–101.

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als jährlichem Ereignis) eine wichtige Funktion. Die Rolle der Zurschaustellung turnerischer Einzel- und Gruppenleistungen sowie imponierender öffentlicher Aufzüge muß nicht nochmals hervorgehoben werden. Seit Ende der 1870er Jahre wurden die Möglichkeiten öffentlicher Repräsentation unter freiem Himmel dank der Čechisierung der Stadt und der Zuspitzung der nationalen Gegensätze allerdings drastisch eingeschränkt. Hiervon wird noch zu reden sein. Umso fester wurden die Beziehungen unter den deutschen Vereinen unter der Leitung des Casinos geknüpft, auch das gesellschaftliche Leben koordiniert, der wechselseitige Besuch der Veranstaltungen zur Ehrenpflicht gemacht.26 Eng waren die Beziehungen zum liberal gelenkten Deutschen Handwerkerverein und seinen Untergliederungen sowie zu mittelständischen Berufsverbänden (Deutscher Stenographenverein, Verein deutscher Handelsakademiker, Verein deutscher Handelsangestellter u.ä.), zum Deutschen Schulverein als dem wichtigsten nationalen Schutzverband, zum Deutschen Männergesangverein im Rahmen der Ausrichtung von Festen. Die Einbindung der deutschen Studentenschaft in das liberale Spektrum suchte das Casino durch seine Protektion der »Leseund Redehalle deutscher Studenten« zu gewährleisten  ; spezielle Beziehungen unterhielt der DTV darüber hinaus zur Burschenschaft Markomannia und zur Landsmannschaft Hercynia. Viele Studenten waren auch direkt aktive Turnvereinsmitglieder (vgl. unten). Doch sollte die Studentenschaft ab den 1880er Jahren eine wichtige Einbruchstelle der völkischen Bewegung werden. Wichtig für den kommunikativen Zusammenhalt der (liberal orientierten) deutschen Volksgruppe war selbstverständlich das Zeitungswesen  ; hier vor allem die liberale Tageszeitung »Bohemia«, die auch über die Aktivitäten des Turnvereins stetig und breit berichtete. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Sozialstruktur der deutschen Bevölkerung war der DTV unterhalb der Lenkungsebene des sozial elitären Casinos derjenige deutsche Verein, der bei einer hohen Mitgliederzahl am weitesten in die kleinbürgerlichen Schichten hineinreichte. Der Deutsche Turnverein erreichte nach seiner Gründung in den 1860er Jahren rasch eine Mitgliedschaft von 350 bis 400 Personen, stagnierte in den 1870er Jahren vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Depressionsphase auf diesem Niveau und wuchs im folgenden Jahrzehnt auf rund 500 Mitglieder. Die 26 Das Folgende nach den regelmäßigen Beschreibungen in den jährlichen Verwaltungsberichten des Vorstandes des Deutschen Turnvereins in Prag. Diese Verwaltungsberichte sind in Prag als Bibliotheksgut nicht erhalten, wohl aber als Ablage in den Akten des aufsichtsrechtlich zuständigen staatlichen Polizeipräsidiums Prag  : SUA, PR, SK XIII/2.

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Abspaltung des Männerturnvereins 1888 (darüber unten mehr) bewirkte einen Übertritt von insgesamt 110 Mitgliedern  ; doch wurde die Zahl von 500 bereits 1889 wieder überschritten. Die 1890er Jahre sahen einen enormen Aufschwung mit einem Anwachsen auf rund 1800 Mitglieder. Seit der Badeni-Krise 1897 mit ihren scharfen nationalpolitischen Auseinandersetzungen auf Prager Boden scheint das Wachstum gebrochen und das deutsche Organisationspotential der Stadt erschöpft gewesen zu sein  ; die Mitgliederzahlen verharren bis Kriegsbeginn bei rund 1800.27 Demgegenüber brachte es der Männerturnverein bald nach seiner Gründung auf 300 Mitglieder, war 1895 bei rund 400 und zur Jahrhundertwende bei über 500 angelangt  ; im letzten Vorkriegsjahrzehnt pendelte sich die Zahl auf etwas über 600 Mitglieder ein.28 Der Vergleich der Mitgliedsstruktur, der ab 1895 statistisch möglich ist, offenbart insofern Überraschendes, als rund 650 bis 750 aktiven Turnern des DTV lediglich 200 bis 250 des DMTV gegenüberstehen, wohingegen der DMTV stets 200 und mehr beitragende Mitglieder zählte, von denen der DTV durchgängig nur rund 100 aufzubieten hatte. (Bei der stärkeren Verankerung des DTV im deutschen Honoratiorentum der Stadt wäre hier die größere Zahl passiver Beitragszahler zu erwarten gewesen. Doch mag die Erklärung in einer unterschiedlichen Zurechnung von »Aktiven« und »Passiven« liegen.) Ein wichtiges Element der Popularität des DTV, wie sie in der Statistik ihren Niederschlag findet, lag in der Pflege des männlichen Kinder- und Jugendturnens sowie des Frauen- und Mädchenturnens, die bereits kurz nach der Gründung einsetzte, ohne daß damit (für Frauen) stimmberechtigte Vollmitgliedschaft verknüpft gewesen wäre. Die Zahl der männlichen »Zöglinge« (Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren) kam mit 650–700 durchgängig der der aktiven Turner gleich, fiel nach der Jahrhundertwende freilich leicht zurück, weil die Schulverwaltungen verstärkt zur Pflege des Schulturnens übergingen und sich zum nationalistischen Vereinsturnen feindselig stellten. Die Zahl der turnenden Mädchen und Frauen lag bei 250 bis 350  : Die vereinsinterne Statistik differenzierte hier nicht  ; vermutlich überschritt die weibliche Klientel nur in geringen Zahlen die definierte Jugendgrenze. Die relativ große Attraktivität des DTV wurzelte nicht zuletzt darin, daß der Verein seit 1881 im Besitz eines eigenen repräsentativen Turnhallengebäudes 27 Regelmäßige jährliche Angaben in den Verwaltungsberichten des DTV, SUA, PR, SK XIII/2. 28 Auch der DMTV veröffentlichte »Jahresberichte des Deutschen Männerturnvereins in Prag« mit regelmäßigen Angaben zur Mitgliederentwicklung. Erhalten in der polizeilichen Aktenablage SUA, PR, SK XIII/23.

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war  ; es stellte neben seiner vorzüglichen Ausstattung und Nutzbarkeit zugleich auch ein Statussymbol dar, das dem DMTV stets versagt blieb. Für eine gewisse Professionalisierung der Vereinsarbeit sorgte von Anfang an die Anstellung eines besoldeten Turnlehrers, dessen Tätigkeitsschwerpunkt in der quantitativ beachtlichen Kinder- und Jugendarbeit lag. Diese Form der Nachwuchspflege, die eine durchgängige Erscheinung des städtischen Vereinsturnens darstellte, war zugleich von dem Wunsch getragen, das Turnprogramm über das klassische Geräteturnen hinaus auszuweiten und eine breit gefächerte volkstümliche Körperkultur (modern gesprochen als »Breitensport«) zu entwickeln. Das Kinder- und Jugendturnen legte den Schwerpunkt auf Freiübungen, Bodenturnen, Turnspiele und die Grundformen der Leichtathletik  ; im weiblichen Turnen traten Bewegungsspiele und Gruppentanz hinzu. Im Männerturnen lag der Schwerpunkt freilich durchgängig auf dem Geräteturnen, das im DTV vor dem Weltkrieg in der ansehnlichen Zahl von 11 Riegen betrieben wurde  ; daneben wurden im Lauf der Zeit auch Reiten, Fechten und Schwimmen angeboten. Das Fußballspiel überließ man – nach einem kurzlebigen Versuch – speziellen Clubs.29 Der DMTV entwickelte auf erheblich bescheidenerer Basis ein ähnliches Profil und folgte insbesondere mit dem Zöglings- und Frauenturnen den gleichen Zielen. Beide Vereine setzten sich ausweislich ihrer Jahresberichte durchgängig gegen turnerische Akrobatik und individualistische Rekordsucht ab und betonten den Erziehungsaspekt ihrer Breitenarbeit  : Willens- und Charakterschulung, Disziplin, Haltung und Einordnung – dies alles zur Stärkung der nationalen Solidargemeinschaft. Neben die Wettkämpfe trat daher gleichwertig das »Schauturnen« und hier insbesondere der publikumswirksame kollektive Auftritt in Freiübungen und (weiblichem) Tanz  ; im Sinne der Geschlechterdifferenz betonte man dabei gern die Polarität von »Kraft« und »Anmut«, um damit nicht zuletzt auch Vorbehalte gegen das weibliche Turnen abzubauen. »Individualismus« und »Spitzensport« waren zugleich die maßgebenden Verdikte gegen die modernen, aus dem westlichen Ausland importierten Sportarten, die die Jugend vom traditionellen Turnen abzuziehen drohten und gegen die die Vereine sich abzugrenzen suchten. Der DMTV verschärfte diese Abgrenzung, entsprechend seiner völkischen Ausrichtung, ideologisch noch zusätzlich mit dem Vorwurf des »Internationalismus«  ; ihm gegenüber müsse an dem nationalen Erziehungsauftrag im Sinne Jahns festgehalten werden. Unübersehbar kündigten sich damit nach der Jahrhundertwende auch aus der Perspektive der Prager Vereine die – die erste 29 Resümiert aus der regelmäßigen breiten Berichterstattung in den Verwaltungsberichten, a.a.O. Dazu die eingehende Selbstdarstellung bei Rychnovsky, Turnverein Prag, [Anm. 15], S. 102–157.

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Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmenden – ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Turnen und Sport an. Die soziale Struktur der Mitgliedschaft – hier zunächst des DTV – muß vor dem Hintergrund der Bevölkerungsstruktur der deutschen Minderheit in Prag vor allem im Zusammenhang mit der eingangs beschriebenen deutschen Honoratiorenpolitik im Umfeld des Casinos betrachtet werden. Die Vereinsführung lag durchgehend in der Hand von Exponenten des Bildungsbürgertums (Universitätsprofessoren, Rechtsanwälte), die zugleich Mitglieder des Casinos waren. Stets waren weitere großbürgerliche Casinomitglieder im Vorstand, darunter immer auch Juden.30 Die Mitgliedschaft der aktiven Turner, wie sie von Cohen für das Stichjahr 1887 analysiert worden ist,31 wurde neben Rechtsanwälten und Ärzten (14 %) in ihrer Masse von mittleren und kleinen Angestellten (33 %) sowie selbständigen (kleinen) Geschäftsleuten (17 %) bestimmt, hinzu trat eine ansehnliche Quote von Studenten (16 %). Der Anteil der Juden wird von Cohen auf etwa ein Drittel der Mitglieder geschätzt und war damit, der Bedeutung des deutsch orientierten Judentums im Prager Bürgertum entsprechend, hoch. Insgesamt war das deutsche Kleinbürgertum, wie nicht anders zu erwarten, im Casino kaum, im DTV dagegen stark repräsentiert, was auch in den niedrigen Mitgliedsbeiträgen seinen Niederschlag fand. Das ohnehin in Prag sehr schwach ausgebildete deutsche Proletariat war im Verein nicht vertreten. Bei jeder Schichtungsanalyse ist zugleich zu bedenken, daß es sich bei der aktiven Turnerschaft um durchgängig junge und damit gesellschaftlich noch kaum etablierte Männer handelte, die daher auch dann nicht den Honoratioren zuzurechnen waren, wenn sie akademischen Berufen entstammten oder gar Studenten waren. Dafür brachten sie, insbesondere die Studenten, ein Element ideologischer Unruhe in den Verein, das sich gegenüber Vereinsführung und Casino auch aus einem latenten Spannungsverhältnis der Generationen speiste. Über die Position des Turnwartes und den etwa zwanzigköpfigen erweiterten Vorstand (Turnrat) wirkten die jungen Kräfte auch durchaus in die Führung hinein. Von erheblicher Bedeutung für Stimmung und Meinungsbildung in den Riegen war auch die Vorturnerschaft. Über den engeren Vereinszweck des Turnens hinaus entwickelte sich der DTV im Lauf der Zeit zu einem Ort umfassenderer Gestaltung des sozialen Lebens. So unterhielt der Verein eine eigene Liedertafel.32 Auch organisierten die Rie30 Auflistung aller Vorstandsmitglieder des DTV bei Rychnovsky, a. a. O., tabellarischer Anhang. 31 Cohen, Politics of ethnic survival, [Anm. 21], S. 195. 32 Sie bestand 1863–1895  ; Rychnovsky, Turnverein Prag, [Anm. 15], S. 57.

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gen das gesellige Beisammensein in Form regelmäßiger »Kneipen«, die natürlich auch der (politischen) Meinungsbildung dienten. Eine besondere Bedeutung für derartige erweiterte Aktivitäten gewann jedoch der Zusammenschluß von Mitgliedergruppen in vereinsrechtlich selbständigen »Turnverbindungen«, deren satzungsmäßiger Zweck die Förderung des Hauptvereins war. Der DTV Prag kannte mehrere dieser Verbindungen, die alle in den 1880er Jahren gegründet wurden  : »Jahn« (seit 1881, 1939 für erloschen befunden), »Germania« (1882, 1897 aufgelöst), »Tafelrunde« (seit 1883, 1887/88 abtrünnig und Keimzelle des DMTV, 1939 aufgelöst), »Eiche« (seit 1886, 1939 aufgelöst).33 Sie umfaßten nur einige Dutzend Mitglieder, waren aber als Vereine formell registriert sowie satzungsmäßig organisiert und unterlagen der behördlichen Vereinsaufsicht. Teils pflegten sie besondere Sportarten (z. B. Fechten), vor allem aber trafen sich ihre Mitglieder am Stammtisch, organisierten das gesellige Leben in regelmäßigen Turnkneipen oder saisonal in Bällen, Laienspiel u. dgl. Da die Satzungen durchweg die Pflicht zur sozialen Unterstützung von Turnern enthielten und teilweise auch die Einrichtung entsprechender Fonds vorsahen, scheinen die Verbindungen auch eine gewisse karitative Funktion erfüllt zu haben. Ganz offensichtlich aber organisierten sich in ihrem Rahmen auch Freundschafts- und Gesinnungsgruppen, die aus dieser Position auch auf den Hauptverein einzuwirken suchten. In Prag war die Verbindung »Jahn«, folgt man den Namenslisten der Vorstandsmitglieder, durchgängig stark von Juden frequentiert. Eine führende Rolle spielte in ihr der prominente Turnpolitiker Josef Müller, der in der Turnfehde für die liberal-freiheitliche Linie eintrat und lange Zeit dem Vorstand des DTV als Turnwart und dann als Erster Vorsitzender angehörte.34 Die »Germania« scheint vor allem ein Geselligkeitsverein gewesen zu sein. Die Aktivitäten der »Eiche« richteten sich satzungsgemäß auf die Kontaktpflege zu den Vorstadtvereinen.35 Bei der »Tafelrunde« trat die besondere gesinnungsmäßige Ausrichtung schon in der Satzung hervor mit der Betonung einer Förderung turnerischer Interessen als Mittel zur Hebung des deutschen Stammesbewusstseins.36 Diese Verbindung wurde rasch zum Agitationszentrum für die Durchsetzung antisemitischer Grundsätze im Gesamtverein.37 33 AHMP, SK XIII, No. 7 (»Jahn«), No. 8 (»Germania«), No. 9 (»Tafelrunde«), No. 17 (»Eiche«). 34 Personenlisten in AHMP, SK XIII, No. 7. Dazu die Akten der Polizeidirektion  : SUA PR, SK XIII/7. 35 AHMP, SK XIII, No. 17  ; SUA, PP, SK XIII/17. 36 AHMP, SK XIII, No. 9  ; SUA, PP, SK XIII/9. 37 Rychnovsky, Turnverein Prag, [Anm. 15], S. 62 ff.; Hirth-Kießlich, Geschichte, [Anm. 3], S. 197.

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Die Ablösung der liberalen Herrschaft in Cisleithanien durch die klerikalkonservative und national ausgleichsfreundliche Regierung Taaffe sowie deren Wahlreform von 1882 förderte die Abspaltung eines deutsch-nationalen Flügels von der alten liberalen Verfassungspartei und begünstigte zugleich das Aufkommen populistischer Massenparteien, in deren Agitationsstil neben dem Nationa­ litätenhader auch dem Antisemitismus rasch eine bedeutende Rolle zukam. Dies galt für die Jungčechen ebenso wie für die neu aufkommenden Christlich­sozialen und die Deutsch-Nationalen, die sich als eigenständige Partei organisierten.38 Der Antisemitismus hatte sich bereits in den späten 1870er Jahren im deutschnationalen Milieu Wiener und Grazer studentischer Korporationen (v. a. den Burschenschaften) ausgebreitet und hier auch schon den Ausschluß bzw. die Nichtaufnahme von Juden sowie ihre Diskreditierung in Ehrenfragen zur Praxis erhoben.39 Von der Universität aus griff der Antisemitismus auf eine Reihe von Turnvereinen Wiens bzw. seiner Vorstädte und Niederösterreichs über, wo er zu ideologischer Spaltung der Gauorganisation führte (Gründung des »Ostmarkengaues«) und seinen ersten Höhepunkt in der mehrheitlich erzwungenen »Arisierung« des Ersten Wiener Turnvereins (1887) hatte.40 Längst war der Antisemitismus zu dieser Zeit, vor allem durch die Agitation Georg v. Schönerers und die Vermittlung der Hochschulabsolventen,41 im deutsch-nationalen Lager parteifähig geworden, was im sog. Linzer Programm 1882 und seiner antisemitischen Verschärfung 1885 seinen Niederschlag gefunden hatte. In den böhmischen Ländern waren vor allem viele Turnvereine Nordböhmens und Schlesiens von der neuen völkisch-antisemitischen Bewegung erfaßt worden  ; schon Mitte der 1880er Jahre waren ganze Gaue »für die völkische Sache gewonnen«42. In Prag stand das deutsch-liberale Establishment selbstverständlich in Opposition zur Politik der Regierung Taaffe und verschärfte in diesem Zusammenhang, wie wir am DTV noch sehen werden, die Tonlage des »nationalen Abwehrkampfes«. Doch behauptete die alte liberale Partei in der Stadt das 38 Zuletzt Helmut Rumpler, Österreichische Geschichte 1804–1914. Eine Chance für Mitteleuropa, Wien 1997, S. 486–510, mit Lit. Lothar Höbelt, Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882–1918, Wien 1993. Ders., Die deutschnationalen und liberalen Gruppierungen in Cisleithanien  : Von der vereinigten Linken zum Nationalverband, in  : Gabor Erdödy (Hg.), Das Parteiwesen Österreich-Ungarns, Budapest 1987, S. 77–91. 39 Lit.: Vgl. Anm. 14. 40 Hirth-Kießlich, Geschichte, [Anm. 3], S.175–187  ; Becker, Antisemitismus, [Anm. 15], S. 34–51. 41 Zu Schönerers Verbindungen zu studentischen Korporationen und Turnvereinen Benda, Deutscher Turnerbund, [Anm. 16], S. 118–180. 42 Hirth-Kießlich, Geschichte, [Anm. 3], S. 183 f.

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Feld gegen die deutsch-nationale Abspaltung  ; der Versuch der Deutsch-nationalen Partei, in Prag Fuß zu fassen, scheiterte 1882 nach einer kurzen Episode und führte auch nach einem zweiten Anlauf 1886 nur zu einer schwachen organisatorischen Präsenz.43 Der Antisemitismus drang auf deutscher Seite relativ spät, etwa 1885, über einige Burschenschaften in die Studentenschaft ein (aus liberaler Perspektive war sie dort vor allem eine Sache aus Nordböhmen stammender und aus Wien zugereister Studierender)  ; von dort ging er auf den Turnverein über, wo er nun aber doch eine nicht unerhebliche Resonanz fand. Zum wichtigsten Protagonisten der antisemitischen Agitation und der Arisierungsversuche im Verein wurde der junge Anton Kießlich,44 ein kleiner Bankangestellter von erheblicher Tatkraft und organisatorischer Energie, der bereits 1879 im Alter von 21 Jahren als Turnrat Mitglied des Vereinsvorstandes und 1883 zum Turnwart erhoben wurde. Kießlich spielte auch in anderen Vereinigungen der Stadt (z. B. dem Kaufmännischen Verein) eine Rolle. Auf überregionaler Ebene wurde er bereits 1885 in den Kreisturnrat, dem Leitungsgremium des Turnkreises XV, gewählt, dem er dann in wechselnden Funktionen dauerhaft angehörte.45 In Prag dominierte er vor allem die schon genannte Turnverbindung »Tafelrunde« und hielt Verbindung zur antisemitischen Burschenschaft »Teutonia«  ; in diesem Umfeld wurden die vereinspolitischen Arisierungsideen entwickelt, wobei Kießlich seinen Antisemitismus offenbar zunächst nicht in der Öffentlichkeit hervorkehrte. Ende 1887 begann, in auffälligem zeitlichen Zusammenhang mit der Spaltung des Ersten Wiener Turnvereins und den weithin beachteten antisemitischen Ausfällen auf einem Turnfest in Krems vom gleichen Jahr, im DTV die vereinsinterne Offensive46 mit der für kleine Minderheiten typischen Taktik personaler Querelen, verdeckter Argumentation und begrenzter Forderungen, die Anfang 1888 in dem Verlangen gipfelten, der für »rein deutsches« Turnen eintretenden Gruppe besondere Turnzeiten in der Halle einzuräumen. Die Vereinsführung war  – vor dem Hintergrund der von ihr beobachteten antisemitischen Tendenzen im österreichischen Turnwesen – von vornherein entschlossen, den Schwelbrand in Prag auszutreten, der Minderheit keine Sonderkonditionen einzuräumen und die Aktivisten in einer Art Vorwärtsverteidigung zur Abkehr oder zum Austritt zu zwingen. Sie wurde darin von der Casino-Führung massiv unterstützt und konnte auf diese Weise die Minderheit durch Haupt43 Cohen, Ethnic survival, [Anm. 21], S. 153 ff., 196 ff. 44 Zu Person und Aktivitäten Kießlichs Cohen, op. cit., S. 198 ff. 45 Schmarda, Handbuch, [Anm. 3], S. 21, 34, 37, 39. 46 Ausführliche Schilderung in Richnovsky, Turnverein Prag, [Anm. 15], S. 64–69.

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versammlungsbeschlüsse wirksam isolieren. Immerhin verließen im Juni 1888 unter Führung von Kießlich und dem Turnlehrer Theodor Fischer 62 Mitglieder den DTV und gründeten den Deutschen Männer-Turnverein Prag  ;47 die Zahl der Abtrünnigen wuchs im Lauf des Jahres auf rund 100. Wenn der neue Verein in seinen ersten Jahren durchaus mit einer beachtlichen Mitgliederzahl startete, so deutet dies auf das Vorhandensein eines gewissen völkisch-antisemitischen Potentials in der deutschen Bevölkerung der Stadt. Die dem alten DTV durchaus gleichende Mitgliederstruktur48 zeigt, daß es sich dabei keineswegs um ein Phänomen ausschließlich kleinbürgerlicher Schichten handelte  ; bis in die Akademikerschaft war der Mittelstand im neuen Verein vertreten, daneben gehörte ihm eine große Zahl von Studenten an. Doch blieb der Verein langfristig auf den Status einer eng begrenzten Minderheit fixiert. Dies dürfte nicht zuletzt das Ergebnis einer gezielten und bis zu Kriegsbeginn 1914 durchgehaltenen Isolierungs- und Diskreditierungspolitik des DTV, des Casinos und der mit ihm verbundenen deutschen Vereine gewesen sein. Die Praktiken reichten von grundsätzlicher Nichteinladung zu eigenen Veranstaltungen, Kontakt- und Hilfeverweigerung in turnerischen Fragen bis hin zum Boykott von Zeitungen, die ihre Spalten dem DMTV zur Verfügung stellten.49 Der DMTV selbst führte durchgängig bewegte Klage über diese Verhältnisse in seinen Jahresberichten50 und sah sich ständig im Doppelkampf an zwei Fronten gegen den »nationalen«

47 AHMP, SK XIII, No. 23  ; dort auch Satzungen. 48 Eine berufsbezogene Statistik der Mitglieder enthält der Jahresbericht des DMTV für 1905, in  : AHMP, SK XIII, No. 23. Danach 438 Mitglieder, davon  : 11 Fabrikanten / 5 Direktoren, / 12 Disponenten [Prokura] / 17 Professoren / 4 Drs. jur.[Rechtsanwälte] / 11 Drs. med. / 1 Tierarzt / 25 Ingenieure / 22 Staatsbeamte / 5 Inspektoren / 3 Privatiers / 2 Schriftleiter / 3 Baumeister / 3 Turnlehrer / 1 Gutsbesitzer / 56 Hochschüler / 95 selbständige Kaufleute / 97 [Wirtschafts-] Beamte / 57 Handlungsgehilfen / 8 Gewerbetreibende. 49 Beispiele für diese Politik in den Polizeiberichten, SUA, PR, SK XIII/2, Berichte 23. u. 30.9.1893. Besonders eindrucksvoll die Auseinandersetzungen unter externem Optionsdruck im 1885 gegründeten Deutschen Turnverein Smichov, der im ersten Jahrzehnt nach der Gründung des DMTV »neutral« sein und Kontakte nach beiden Seiten pflegen wollte, in  : Verhandlungsschriften des Vorstandes des DTV Smichov [Protokollbuch 1885 ff.], AHMP, JAF 742, Protokolle zum 21.3.1889, 26.3.1889 (Beschwichtigung Schmeykals), 23.5.1889, 19.7.1889, 25. u. 29.10.1889 (Beschwichtigung Schmeykals und A. Richters), 6. u. 10.12.1889, 30.5.1890, 13.3.1891 (Rücktritt des exponierten Vorsitzenden), 17.7.1891, 21.4.1893, 18.1.1894, 21.3.1895 (Einladungsliste), 6.u.7.3.1900 (Debatte um Überlassung der Turnhalle an den [völkischen] Bund der Deutschen in Böhmen, Ablehnung). 50 SUA, PR, SK XIII/23, v. a. Jahresbericht f. 1908 (Ansprachen zum 20jährigen Bestehen)  ; Jber. f. 1911  ; Jber. f. 1912  ; Jber. f. 1913 (Ansprachen zum 25j. Bestehen).

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Geg­ner (die Čechen) einerseits und die Liberalen unter Einschluß des jüdischen Bürgertums andererseits. Innerhalb der Stadt Prag war der DMTV durchaus nicht isoliert, vielmehr entstand unter der maßgeblichen Führung Kießlichs mit der Zeit, sozusagen als Gegenorganisation zur innerdeutsch hegemonialen Position der Liberalen, ein Netzwerk der völkischen Gruppierungen Prags. Kießlich51 spielte eine führende Rolle im Prager Deutschnationalen Verein (also der örtlichen Parteiorganisation)  ; er war seit 1889 Herausgeber einer eigenen völkisch orientierten Zeitung, des »Deutschen Volksboten«, der sein Erscheinen freilich 1910 einstellen mußte. Enge Kontakte52 bestanden zu den Prager Burschenschaften Teutonia, Constantia und Ghibellinia  ; die politische Polarisierung innerhalb der deutschen Studentenschaft spiegelte sich auch in der (von Kießlich mit betriebenen) Spaltung der Deutschen Akademischen Lese- und Redehalle und der Formierung eines völkischen Lese- und Redevereins »Germania«. In den letzten Vorkriegsjahren werden zusätzlich Kontakte zu den Burschenschaften Albia, Arminia, Carolina und Thessalia, zum VdSt. Saxonia, zur Deutsch-akademisch-technischen Landsmannschaft Hercynia und zur Sängerschaft »Barden« aufgeführt. Diese ideologische Verankerung des DMTV in der deutschen Prager Studentenschaft war also am Ende sehr breit, vermutlich breiter als die des DTV. Feste politische Beziehungen unterhielt der Verein auch zum »Bund der Deutschen in Böhmen«, einer kultur- und sozialpolitisch landesweit agierenden nationalistischen Gegengründung zum gemäßigten Deutschen Schulverein. Im gesellschaftlichen Leben der Stadt suchten die völkischen Gruppen mit einem jährlichen »Bauernball« präsent zu sein, einer Konkurrenzveranstaltung zum liberalen »Frühlingsfest«. Bezeichnend war in diesem Zusammenhang auch die Gründung eines Deutschen Volksgesangsvereins neben dem alten liberalen Männergesangverein. Der DMTV fand sich also sehr wohl eingebettet in einen Verbund völkischer Organisationen. Die Minderheitenposition dieser gesamten Gruppierung innerhalb der vereinsmäßig organisierten deutschen Bevölkerung war jedoch unüberschaubar und wurde in den Verlautbarungen des DMTV auch ständig beklagt. Auf gesamtösterreichischer Ebene sollte die vom DMTV vertretene Richtung allerdings bis zur Jahrhundertwende die Mehrheit erringen. Doch war die Stellung des antisemitischen Vereins auch überörtlich nicht einfach zu behaupten. Wenn sich die Position beider Prager Turnvereine außerhalb der Stadt prekär gestaltete, so ist dabei von der insularen Situation des Deutschtums Prags und 51 Cohen [Anm. 44]. 52 Regelmäßige Beschreibungen in den Jahresberichten des DMTV, SUA, PR, SK XIII/23.

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seiner Vorstädte inmitten des čechisch besiedelten böhmischen Beckens auszugehen. Dies war der Führung des DTV auch stets bewußt  ; insbesondere die schwache überörtliche Stellung dieses großen Traditionsvereins stand im Gegensatz zu seiner lokalen Dominanz. Von Anfang an war die Einbettung des DTV in die Verbände der Gesamtturnerschaft schwierig gewesen  ; in dieser Schwierigkeit bündelten sich die Organisationsprobleme der Deutsch-Böhmen in besonderer Weise. Im Jahr 1868 waren die deutschen Turnvereine der ehemals bundeszugehörigen habsburgischen Länder als Turnkreis  XV in die Deutsche Turnerschaft aufgenommen worden. Seither kam die Gaubildung in den böhmischen Ländern zunächst nur mühsam voran. Sie gelang am ehesten in den geschlossenen Siedlungsgebieten Nordböhmens, gefolgt von Mähren und Schlesien, doch konkurrierten damit von Anfang an Bestrebungen zur Bildung eines besonderen Böhmischen Turnbundes. Zwar wurden diese Bemühungen 1875 zugunsten einer Ausbildung der Gauorganisation aufgegeben, doch debattierten die Turnkreistage in den 1880er und 1890er immer wieder über das Projekt einer Teilung des sehr großflächigen Kreises XV, worunter zumeist eine Trennung der Alpenländer von den böhmischen Ländern verstanden wurde.53 Der DTV Prag, der in der Kreisleitung durchweg über eine angesehene Position verfügte, trat dabei zeitweilig ebenfalls aus der Erwägung technischer Zweckmäßigkeit für die Teilung ein, folgte dann aber der von der breiten Mehrheit der Vereine getragenen Einsicht, daß das geographisch zersplitterte böhmische Deutschtum isoliert zu schwach und in einer deutsch-österreichischen Gesamtorganisation sicherer aufgehoben sei. Inzwischen hatten die Prager ein zusätzliches Motiv für ihre Kehrtwendung, denn die Teilungsfrage war am Ende zusätzlich in den Sog des beginnenden Antisemitismusproblems geraten und mit dem spekulativen Kalkül möglicher Mehrheitsbildungen verknüpft worden.54 Aus Prager Sicht waren insbesondere die nordböhmischen Vereine höchst anfällig. Auch auf andere Weise hatte die völkische Bewegung inzwischen die Organisationsfrage aufgerollt  : Mit der Bildung eines sog. »Ostmarkengaues« im Bereich Wien-Niederösterreich hatten sich dort 1884 zahlreiche Vereine zu einer Gesinnungsgemeinschaft zusammengeschlossen und damit die hergebrachte rein territoriale Gauorganisation infrage gestellt. Der liberal dominierte Kreistag beschloß daher 1885, die Einheit der deutsch-österreichischen Turnbewegung zu sichern, seine nationale Position in den nationalen Mischgebieten zu stärken und zugleich dem Separatismus der völkischen Minderheit das Wasser abzugraben, indem man den sog. 53 Hirth-Kießlich, Geschichte, [Anm. 3], S. 84 ff., 95–120 passim. 54 Hirth-Kießlich, op. cit., S. 177–184  ; Rychnovsky, Turnverein Prag, [Anm. 15], S. 59–64.

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»Gauzwang« einführte. Er bedeutete, daß jeder der Deutschen Turnerschaft angehörende Verein einem Gau nach dem Kriterium der geographischen Sprengelbildung zugehören mußte, wobei weder dem Verein noch dem geographisch zuständigen Gau eine Entscheidung über Aufnahme oder Nichtaufnahme zustand, vielmehr der Kreis im Zweifelsfall eine Zuteilung vornahm.55 Bis zu diesem Zeitpunkt war der DTV Prag »gaulos« gewesen, hatte also – neben seiner Teilnahme an den Aktivitäten des Turnkreises und der Deutschen Turnerschaft im Ganzen – ein Eigenleben in der Stadt geführt und seine Beziehungen zu den wenigen verstreuten deutschen Turnvereinen der Region nach eigenem Ermessen gestaltet. Nunmehr ging der DTV jedoch im Einvernehmen mit der Kreisleitung tatkräftig daran, einen neuen Moldau-Elbe-Gau zu gründen. Er wurde 1885 in Leitmeritz aus der Taufe gehoben und umfaßte neben den größeren Vereinen Prag und Leitmeritz 10 weitere kleine Vereine mit zusammen etwa 1500 Turnern. Der DTV betonte vor allem die nationalpolitische Zielsetzung der Initiative  ; in der Leitung des neuen Gaues nahmen seine Vertreter eine führende Stellung ein.56 Sehr rasch sollte die Funktion dieses Gaues, auch den Antisemitismus abzuwehren, auf die Probe gestellt werden. Bei der Gründung des DMTV 1888 war dessen antisemitische, auf Ausschluß von Juden gerichtete Spitze als Gründungsmotiv zwar für jedermann unübersehbar, doch vermied seine Führung anfänglich eine entsprechende formelle Festlegung  ; die vorgelegte Satzung legte lediglich Deutsch als ausschließliche Geschäftssprache fest. Für die politische Richtung des Vereins boten die relativ hohen Verfahrenshürden bei der Mitgliedsaufnahme hinreichende Gewähr. Erst 1899 wurde der Arierparagraph (Mitglied konnte jeder unbescholtene Deutsche arischer Abstammung werden) in die Statuten eingefügt.57 Dies entsprach dem Verlauf des Spaltungsprozesses der deutsch-österreichischen Turnerschaft insgesamt, in welchem die Antisemiten aus taktischen Gründen über lange Zeit offene Bekenntnisse und Trennungsschritte vermieden. Die Führung des DTV wertete Antisemitismus grundsätzlich als politische Manifestation  ; politische Richtungsbestimmung und Betätigung aber war satzungsgemäß aus den Vereinen der Deutschen Turnerschaft verbannt. Dementsprechend gedachte man den DMTV bei der Aufnahme in den Moldau-Elbe-Gau zu einem Offenbarungseid zu zwingen.58 Die 55 Hirth-Kießlich und Rychnovsky, op. cit., mit gegensätzlicher Wertung. 56 Rychnovsky, op. cit., S. 70. 57 Satzungen in  : SUA, PR, SK XIII/23. 58 Das Folgende nach Rychnovsky, Turnverein Prag, op. cit., S. 70–76.

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Leitung des Männerturnvereins wählte jedoch einen anderen Weg, indem sie ihr Aufnahmegesuch in die Deutsche Turnerschaft an die Kreisleitung des Kreises XV richtete und sich von dieser einem Gau  – dem Moldau-Elbe-Gau  – zuweisen ließ. Der DTV sah sich daher unter erschwerten Bedingungen genötigt, das Problem des Antisemitismus im DMTV nach erfolgter Aufnahme zur Sprache zu bringen, und beantragte auf einem Gautag im März 1889, dieser möge die Erwartung aussprechen, daß der dem Gau zugewiesene DMTV »den §3 seines Grundgesetzes (Mitgliedschaft) so verstehe und handhabe, daß Glaubensunterschiede keinen Einfluß auf die Aufnahme seiner Mitglieder üben«. Es zeigte sich jedoch bereits jetzt, daß der DTV im Gau keine sichere Gefolgschaft hatte. Ausgerechnet ein Vertreter seines 1885 gegründeten Satelliten-Vereins ­Smichov59 bat den DTV, den Antrag, der den Frieden im Gau zu stören und die Verbitterung unter den Vereinen noch zu steigern geeignet sei, zurückzuziehen. Als dies nicht geschah, erzwang derselbe Vertreter in einer Kampfabstimmung (33  : 28) den Übergang zur Tagesordnung, also die Nichtbefassung mit dem Antrag. Der DTV wertete dies als das Ergebnis der »Wühlarbeit« der Antisemiten, deren nächster und noch augenscheinlicherer Erfolg im nächsten Jahr die Bestellung Theodor Fischers zum Gauturnwart war. Die DTV-Führung wertete diese Wahl ihres zum DMTV übergetretenen Ex-Turnwartes als neue Provokation beschloß nunmehr 1890, aus dem Moldau-Elbe-Gau auszutreten. Diesem Beispiel folgten mehrere kleinere Vereine (darunter bald auch Smichov, dessen von internen politischen Spannungen belasteter Verein sich in den kommenden Jahren »neutral« verhielt und in eine selbstgewählte Isolierung zurückzog60), so daß der Gau seine Lebensfähigkeit einbüßte. Er löste sich 1894 freiwillig auf, so daß die völkischen wie die freiheitlichen Vereine vorerst eine Gauorganisation entbehren mußten. Auch der DTV blieb ab 1890 »gaulos«, obwohl es nicht an Bemühungen fehlte, in der Region Anschluß zu finden. Doch wurde ein Antrag von 1899, dem (liberalen) »Erz-Mittelgebirgs-Gau« beitreten zu dürfen, von der Kreisleitung abgelehnt.61 Auf der anderen Seite war auch der DMTV seit der Auflösung des Moldau-Elbe-Gaus gaulos.62 Die Spaltung der deutschen Turnbewegung erwies sich also, wie vom DTV schon immer befürchtet worden war,

59 Zur Haltung des TV Smichov vgl. auch die dortigen internen Debatten im Protokollbuch, AHMP, JAF 742, Protokolle zum 25. u. 30.10.1888, 1., 21., 26. u. 29.3.1889, 30.5.1890. 60 Protokollbuch AHMP, JAF 742, Protokolle zum 29.10.1889, 3. u. 10.5.1892. 61 Rychnovsky, Turnverein Prag, op. cit., S. 74. 62 Hirth-Kießlich, Geschichte, [Anm. 3], S. 295  ; Schmarda, Handbuch, [Anm..3], S.229.

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gerade in der nationalen Diaspora als verhängnisvoll  ; doch gab es für die liberale Führungsschicht Prags in der Antisemitismusfrage keinen Kompromiß. Die Vereinsleitung folgte dabei der Überzeugung, daß die deutsch akkulturierten Juden Deutsche im nationalen Sinne und damit auch im Sinne der deutschen Turnbewegung seien, daß der Versuch ihres Ausschlusses auf der Anwendung eines politisch überwundenen und verfassungsrechtlich unhaltbaren Kriteriums, nämlich dem der Konfessionszugehörigkeit, beruhe, und daß der Antisemitismus eine politische Parteifrage sei. Vor allem Letzteres begründete die Rechtsauffassung, wonach die antisemitische Agitation um den Arierparagraphen als Hineintragen von Parteipolitik in die Turnvereine satzungswidrig sei und damit dem Grundgesetz der Deutschen Turnerschaft wie speziell auch des Turnkreises XV widerspreche. Demnach bedeutete die Annahme des Arierparagraphen den Selbstausschluß aus der Deutschen Turnerschaft. Auf der Basis dieser Rechtsauffassung beteiligte sich die DTV-Führung lebhaft an den Auseinandersetzungen im Turnkreis,63 wo der Verein, wie schon einleitend gezeigt, am Ende in der Minderheit blieb  : Im Mai 1901 nahm der Kreisturntag mit großer Mehrheit den Arierparagraphen in seine Satzung auf, im November 1901 erhob er die Übernahme dieses Grundsatzes in jede Vereinssatzung zum Kriterium der weiteren Vereinszugehörigkeit zum Turnkreis. Infolgedessen galten 43 Vereine als ausgeschlossen, darunter Prag und Brünn an prominenter Stelle. Rückhalt fanden die dissentierenden Vereine in der Führung der Deutschen Turnerschaft, die zwar in Befolgung einer Kompromißlinie die Satzungsautonomie des Turnkreises XV anerkannte, um ihn nicht aus der gesamtdeutschen Organisation ausschließen zu müssen, jedoch gewillt war, die Zugehörigkeit auch der Minderheit zur Deutschen Turnerschaft zu sichern.64 Das Angebot einer Zweiteilung des Kreises nach dem »Gesinnungs«-Kriterium (XVa und XVb) wurde jedoch vom Mehrheitskreis abgelehnt und 1904 mit dem Austritt aus der Deutschen Turnerschaft beantwortet. Prag hatte also in merkwürdiger Verkehrung der »nationalen« Frontbildung die Genugtuung, mit seinen wenigen Anhängern der gesamtdeutschen Organisation gegen die Masse der gwm. ›hyper-deutschen‹ österreichischen Turnvereine weiterhin anzugehören. An der organisatorischen Formierung dieser Minderheit war der Prager DTV von Anfang an führend beteiligt. Sogleich nach dem Gauaustritt von 1890 war man bemüht, eine bescheidene informelle Grundlage zu einer Gesinnungsgemein­ 63 Breite Darstellung bei Rychnovsky, Turnverein Prag, [Anm. 15], S. 67 ff., 77–90. 64 Zu der gegen die DT gerichteten parteilichen Darstellungen bei Hirth-Kießlich die historische Aufarbeitung bei Becker, Antisemitismus [Anm. 15], S.108–140.

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schaft zu legen. Dies geschah – unterhalb der konfliktträchtigen Schwelle formeller Turnfeste  – mit der Einführung eines gemeinschaftlichen österlichen »Vorturnerturnens«, das ab 1891 in jedem Jahr an wechselnden Orten stattfand.65 Es nutzte die Multiplikator-Funktion der Vorturner für Meinungsbildungsvorgänge an der ›Basis‹ der Turnerschaft. Daran beteiligten sich neben dem DTV Prag vor allem die beiden Brünner Vereine (Brünner Turnverein, Deutscher Turnverein Brünn) und der Deutsch-Österreichische Turnverein Wien (die liberale Neugründung nach der antisemitischen Spaltung des Ersten Wiener Turnvereins), ferner Vereine aus Budweis, Saaz, Teplitz und Olmütz  ; zeitweilig nahmen auch Breslauer und Dresdner Vereine teil. Die liberalen Vereine Prags, Brünns und Wiens bildeten dank ihrer Größe und ihres politischen Gewichts den Kern eines Zusammenschlusses der »deutsch-freiheitlichen Turnvereine Österreichs«, der sich im Frühjahr 1901 in Prag im Vorfeld der Auseinandersetzungen auf den Kreistagen mit 27 Vereinen bildete. Er konstituierte sich 1902, wiederum in Prag, als förmlicher Verband mit 49 Vereinen, dessen Führung zunächst ausschließlich vom Prager DTV gestellt wurde.66 Mit etwa 7000 Turnern stellte diese Gruppierung dann den im Deutschen Turnbund verbleibenden (neuen) Turnkreis XV dar.67 Der Turnverein Smichov, der im Sinne seiner Abstinenz und Neutralitätslinie zunächst zögerte, der neuen Formation beizutreten, wurde durch eine Prager Drohung mit Kreditentzug zum Anschluß genötigt.68 In der Folge schaffte es dieser Kreis, sich wenigstens in den böhmischen Ländern eine Gauorganisation zuzulegen  ; sie bestand in Böhmen aus dem Erz-Mittelgebirgs-Gau (darin führend Saaz), dem Biala-Elbe-Gau (darin führend Teplitz), dem Maltsch-Moldau-Gau (darin füh65 Auflistung (mit Übungen) bei Rychnovsky, op. cit., S. 125–148. 66 Rychnovsky, op. cit., S. 78–84. Verwaltungsbericht f.d.J. 1901 und Bericht des anwesenden Polizeikommissars an die Polizeidirektion zur Versammlg. d. freiheitl. Vereine am 12.4.1901 in  : SUA, PR, SK XIII/2. Eintragung ins Prager Vereinsregister mit Vermerk zur Auflösung 1904  : AHMP, SK XIII, No. 48. 67 Rychnovsky, op. cit., S.  84–90, Gauorganisation a.a.O., S.90   ; Hirth-Kießlich, Geschichte, [Anm. 3], S. 296–311. 68 Zum Turnhallenbau hatte Smichov ein Darlehen bei dem Fabrikanten und liberalen Abgeordneten Alexander Richter aufgenommen (1600 fl., Verzinsung 4 %) die Verzinsung war ihm von Jahr zu Jahr wegen Geldmangels erlassen worden. Die von Richter präsentierten Optionen nunmehr  : Bei Rückkehr in den (antisemitischen) Turnkreis Deutsch-Österreich Darlehenskündigung, bei Abstinenz nach beiden Seiten künftig Verzinsung, bei Eintritt in die Deutsch-freiheitliche Vereinigung Fortsetzung des bisherigen Zinserlasses. Protokollbuch AHMP, JAF 742, Protokolle zum 28.12.1892 (Darlehensgewährung), 27.11.1901, 31.1.1902, 25.2.1902, 11.4.1902, 22.12.1902, 16.1.1903 (Neutralität wäre das Beste, wäre aber aus Geldmangel nicht durchzuhalten  ; vom antisemitischen Kreis keine materielle Unterstützung zu erwarten.), 27.1.1903 (Beitritt zum dt.-freiheitl. Verband, Dankadresse an Richter).

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rend Budweis), dem Riesengebirgs-Gau (darin führend Trautenau) sowie (erst 1907) dem Mährischen Gau (mit Brünn als dem führenden Verein). Hinzu kamen einige wenige gaulose Vereine in Wien und Niederösterreich  ; in Böhmen blieben Prag, Smichov und Pilsen gaulos. Wenn der antisemitische Mehrheitsturnkreis »Deutsch-Österreich« die Turnorganisation der freiheitlichen Vereine hämisch als »lächerliche Spottgeburt«69 abqualifizierte, so war dies in der Sache nicht abwegig. Aus Prager Perspektive bedeutete die Spaltung jedoch eine Schwächung der deutschen Position insgesamt, denn auch der DMTV blieb im Rahmen des völkischen Verbandes gaulos. Im Unterschied zu Brünn, das vor dem Hintergrund der großen Zahl mährisch-schlesischer, in den konkurrierenden Gesinnungsverbänden parallel organisierter Vereine weit besser in der regionalen freiheitlichen Turngemeinschaft eingebettet blieb, waren die Prager Vereine stärker denn je zuvor isoliert. Dieses Inseldasein war selbstverständlich eine Konsequenz der Siedlungsgeographie, auf die jedoch weder die völkische Bewegung noch die kompromißlose liberale Reaktion darauf sonderlich Rücksicht genommen hatte. Anders als in Brünn mit seinem weit größeren deutschen Bevölkerungsanteil manifestierte sich diese Prager Diasporasituation in zunehmend dramatischer Weise auch in der prekären Stellung des deutschen Vereinswesens in der Stadt selbst. Die wachsende Konfrontation mit der politisierten čechischen Mehrheitsbevölkerung war das eigentliche Problem, bei dem sich in den letzten Dekaden der Habsburgermonarchie keine Entspannung abzeichnete. Die Jahresberichte der beiden Turnvereine wie auch die Akten der polizeilichen Vereinsüberwachung spiegeln diesen Prozeß eindrucksvoll. Wie bereits gezeigt, standen die beiderseitigen Turnvereinsgründungen von vornherein im Zeichen nationaler Segregation  : Wenn es im Vorfeld auf der unteren Ebene der Turninteressierten selbst einen schwachen Ansatz zu einer binationalen Vereinsbildung gegeben hatte, so wurden diese Regungen vom nationalpolitischen Establishment beider Lager rasch unterbunden. Doch scheint man sich anfangs höflich respektiert zu haben. So sind Besuche von Sokol-Vertretern bei deutschen Vereinsveranstaltungen überliefert  ; dies gilt prominent für die festliche Fahnenweihe im Jahr 1864.70 Dieses Vereinsfest war, wie es scheint, die letzte Gelegenheit zu einer ungetrübten Selbstdarstellung des DTV im Rahmen des organisierten Deutschtums im öffentlichen Raum der Stadt, mit einem Straßenumzug und frei zugänglichen Schauveranstaltungen. Seit den schweren politischen Spannungen der späten 60er und frühen 70er Jahre wurden öffentli69 Hirth-Kießlich, Geschichte, [Anm. 3], S. 309. 70 Rychnovsky, Turnverein Prag, [Anm. 15], S. 21 f.

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che Auftritte der deutschen Turner auf den Straßen Prags und in der Umgebung der Stadt zunehmend problematisch, da sie von tätlichen Auseinandersetzungen begleitet wurden.71 Die Polizei suchte dies zur Wahrung öffentlicher Ruhe und Ordnung präventiv zu unterbinden, indem sie Aufmärsche in Formation und insbesondere das Mitführen der Fahne untersagte. Die beliebten Turnfahrten (Ausflüge in die Umgebung der Stadt) wurden dem Verein seit 1866 nicht mehr genehmigt  ; bei den Reisen zu Turnfesten schrieb die Polizei formlos gestreuten Gang zum Bahnhof, geteilte Zugbenutzung u. dgl. vor. Seit dem Antritt der Regierung Taaffe 1879 verschärfte sich diese Tendenz zur Reglementierung deutlich, wobei die deutsche Seite den Polizeibehörden nunmehr auch einseitige Praxis vorwarf. Dies läßt sich kaum verifizieren, doch deutet die gelegentliche behördliche Selbstrechtfertigung, von Auftritten čechischer Turner gehe eben keine Gefährdung der öffentlichen Ruhe aus (was für sich genommen natürlich stimmte), darauf hin, daß solch formalistischer polizeilicher Minimalismus materiell eine Kapitulation vor den demographischen Relationen und der čechischen Straßen­ herrschaft bedeutete. Politisch gravierender war, daß sich in der Ära Taaffe das Loyalitätsproblem der ja gesamtdeutsch orientierten Turner zuspitzte. Die Nutzung von Festversammlungen zu politischen Kundgebungen war dem Verein auch schon zur Zeit der liberalen Regierungen immer wieder untersagt worden. Nunmehr manifestierte sich die verschärfte Kontrolle in der intensivierten polizeilichen Zensur des vereinsinternen Festbetriebes. Veranstaltungsprogramme, Rednerlisten, vor allem aber Liedtexte und Textbücher von Theaterstücken, humoristischen Einlagen u. dgl. mußten vorab eingereicht werden und wurden immer wieder auch punktuell beanstandet, wobei vor allem nationalpolitische oder auch religiöse Anspielungen im Visier des Zensors lagen72. Bei Generalversammlungen und Festen waren stets Polizeikommissare anwesend. Deren Berichte beschränkten sich zumeist auf formelhafte Routine, doch dürfte von ihrer Tätigkeit zweifellos vorbeugend eine disziplinierende Wirkung ausgegangen sein. Zu einem schwerwiegenden Eklat geriet der Konflikt um die Begehung des 25-jährigen Vereinsjubiläums 1887,73 als die gesamte Festveranstaltung (Festzug, Schauturnen, Kommers, Festvorstellung im Theater und Damenabend) von der 71 Schilderungen bei Rychnowsky, op. cit., S. 22 f. 72 Rychnovsky, a.a.O. Vorgänge in den Akten der Polizeidirektion Prag, SUA, PR, SK XIII, Vorgänge Juli 1896, Juli 1902, August 1902, Oktober 1902. Eine reiche Überlieferung zu Praxis der Vorzensur und der Vereinsüberwachung bietet das Polizeipräsidium Brünn für den Brünner Turnverein (BTV) und den Deutschen Turnverein Brünn (DTVB). Eingehende Auswertung im nachfolgenden Beitrag. 73 Breite Schilderung mit Quellenauszügen bei Rychnowsky, op. cit., S. 25–33.

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Prager Polizeidirektion untersagt und dieses Verbot von der Böhmischen Statthalterei zunächst bestätigt wurde. Gegen die behördliche Auslegung des Gesetzes über das Versammlungsrecht von 1867 legte der Vereinsvorstand Beschwerde beim Innenministerium ein. Das Ministerium hob den Statthaltereibeschluß zum überwiegenden Teil auf, bestätigte aber das Verbot des Festumzuges in Würdigung der von der Statthalterei geltend gemachten Bedenken für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Hierauf mochte sich der Verein freilich nicht einlassen  : In demonstrativer Indignation wurde die gesamte Jubiläumsveranstaltung abgesagt, womit ein erheblicher Vorbereitungsaufwand preisgegeben wurde. Die liberalen Parteifreunde lieferten der Regierung dann noch ein parlamentarisches Nachspiel mit einer Interpellation im Wiener Reichsrat. Hierbei warteten die Antragsteller mit einer ansehnlichen Reihe von Beispielen auf, aus denen eine weit großzügigere Behandlung der čechischen öffentlichen Vereinsaktivitäten in Prag hervorging, namentlich auch in Hinblick auf das große Sokol-Jubiläum des gleichen Jahres. Die Anfrage, wie gegenüber dem Grundsatz nationaler Gleichberechtigung vor diesem Hintergrund das Aufmarschverbot für den DTV zu rechtfertigen sei, beantwortete der Ministerpräsident mit dem Grundsatz, allen einseitigen politisch-nationalen Demonstrationen entgegentreten zu wollen, die, auch durch aufreizende Kampagnen der Parteipresse im Vorfeld, zu provokativer Erregung der nationalen Empfindungen und zur Gefährdung der öffentlichen Sicherheit führten. Entsprechende (nicht mehr verifizierbare) publizistische Manifestationen des Deutschnationalismus aus einem dem Turnverein nahestehenden Verlag konnte die Regierung vorweisen. Der Vorgang zeigt, daß die Behörden sich hinter der Fassade des selbstverständlich bekräftigten Gleichheitsgrundsatzes einen erheblichen Ermessensspielraum in der Bewertung von Gefahrenlagen vorbehielten. In einer Situation eindeutiger čechischer Hegemonie über den Raum der Öffentlichkeit bei gleichzeitigem und mit ›Intifada‹-Methoden auch realisierbarem Vorsatz, der deutschen Minderheit keine nationalbetonten öffentlichen Auftritte mehr zu gestatten, war strukturell klar, daß die größere Gefährdung der öffentlichen Ordnung immer von entsprechenden Aktivitäten der deutschen Seite ausgehen mußte. Das präventive Handeln einer subjektiv unparteiischen Polizeibehörde war durch eine derartige Vermutung stets vorstrukturiert. Sie konnte naturgemäß auch objektiv niemals durch Gleichbehandlung öffentlichen Frieden herstellen. Das Verhalten der Behörden anläßlich des Kaiserbesuchs in Prag von 1907 bestätigt dieses strukturelle Dilemma.74 Der DTV hatte die Turnhalle 74 SUA, PR, SK XIII/2  : interner Schriftwechsel April-Juli 1907  ; insbesondere Bericht der Polizeidirektion an die Statthalterein Prag, Konzept 7. Mai, Expedit 3. Juli 1907.

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mit schwarz-gelben und schwarz-rot-goldenen Wimpeln geschmückt und war durch polizeiliche Intervention gezwungen worden, die großdeutschen Farben zu entfernen. Eine Beschwerde des Vereins beim Innenministerium machte u.a. geltend, daß die an verschiedenen čechischen Gebäuden angebrachte »panslawistische Trikolore« (blau-weiß-rot) unbeanstandet geblieben sei, was im nach­ folgenden innerbehördlichen Schriftwechsel auch als zutreffend bestätigt wurde. Die Rechtfertigungsversuche der Prager staatlichen Behörden verraten bereits in den Konzepten der Antwortnoten mit ihren mehrfachen Streichungen und Umformulierungen sowie ihren wochenlangen Verschleppungen den Erklärungsnotstand, in dem man sich befand. Neben verschiedenen Hinweisen auf technische Probleme bei dem Versuch der Disziplinierung auch der čechischen Seite stand in der Sache selbst das bezeichnende Rechtfertigungsargument, daß das Zeigen der »deutschen« Farben in der Vergangenheit wiederholt Anlaß zu öffentlichem Aufruhr gegeben habe, was bei den »slawischen« Farben eben nicht zu befürchten war. – Anläßlich einer Satzungsänderung im Jahre 1911 suchte die Statthalterei als Genehmigungsinstanz das Fahnenproblem dadurch in den Griff zu bekommen, daß der öffentliche Gebrauch der Farben einer jedesmaligen Einzelgenehmigung unterworfen wurde.75 Derartige ›symbol-politische‹ Scharmützel, die selbstverständlich nur ein poli­zeilich-administratives Herumdoktern an Symptomen zum Ausdruck bringen, sind vor dem Hintergrund der bekannten massiven Ausschreitungen zu sehen, die – in Prag unter čechischem Vorzeichen – anläßlich der Badeni-Krise 1897 und dann wieder 1905 stattgefunden hatten.76 Bei solchen Gelegenheiten war auch die Turnhalle des DTV jedes Mal ein bevorzugtes Angriffsziel der jugendlichen čechischen ›Intifada‹ mit dem Einwerfen sämtlicher Fensterscheiben. Daß der Turnhallenbau als dauerhafte Manifestation nationaler Präsenz besonders mißliebig war, bekam stärker noch der Männerturnverein zu spüren, dessen Antrag auf Bau einer eigenen Halle jahrelang im Dschungel des baupolizeilichen Genehmigungsverfahrens verschleppt, also faktisch von der Stadtverwaltung obstruiert wurde.77 Beide Turnvereine waren von der Überzeugung durchdrungen, daß es mit alldem »auf die Vernichtung des Prager Deutschtums« abgesehen sei. Beide reagierten darauf mit einem Rückzug aus dem öffentlichen Raum einerseits – nach 1887 wurden alle Vereinsfeste und namentlich die runden Jubiläen nur mehr in 75 Statthalterei an Polizeipräsidium Prag, 31. März 1911, SUA, PR, SK XIII/2. 76 Rychnowsky, [Anm. 15], S. 23 f. Verwaltungsbericht f. d. Jahr 1897, SUA, PR, SK XIII/23. 77 Jahresberichte des DMTV 1909–1914 passim, SUA, PR, SK XIII/23.

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geschlossenen Räumen abgehalten – andererseits mit einer Mischung aus Resignation gegenüber den Lokalverhältnissen und einer ideologischen Verhärtung gegenüber dem »nationalen Feind«, demgegenüber jeder Versuch einer Verständigung sich von selbst verbot. An den Jahresberichten und den Reden, die bei festlichen Anlässen gehalten wurden und die im Druck und in den Polizeiberichten dokumentiert sind, läßt sich diese ideologische Verhärtung nachvollziehen.78 Der DTV verstand sich von Anfang an als deutsch-freiheitlich. Diese Verknüpfung orientierte sich durchgängig an dem nationalen Auftrag in der Diaspora und der unverbrüchlichen Verbundenheit mit dem gesamten deutschen Volk im Deutschen Reich und in Österreich, sowie der Verpflichtung auf Jahn, was die Verbindung von Leibesübungen und nationaler Erziehung und die Wahrung des nationalen turnerischen Zusammenhalts anbetraf  : dies alles unter dem Vorzeichen freiheitlicher, fortschrittlicher und humanitärer Leitideen, in denen man den Auftrag und das Sendungsbewußtsein des Deutschtums verankert sah. Dieser liberal-freiheitliche Aspekt wurde seit den 1880er Jahren gegen die völkischen Tendenzen mit ihrem Antisemitismus gewendet, die als Rückfall in »konfessionelle« Parteilichkeit und Abkehr vom humanitär-freiheitlichen Auftrag gewertet sowie nicht zuletzt als verfehlte Spaltung der nationalen Kräfte angesichts des gemeinsamen »nationalen Feindes« (der Čechen) tief bedauert wurden. Die emotionale Rückbindung an das gesamte deutsche Volk und damit an das Deutsche Reich war sehr stark, nachvollziehbar an den hymnischen Berichten über die Deutschen Turnfeste.79 Die psychologische Bedeutung des organisatorischen Rückhalts am gesamtdeutschen Turnwesen wuchs mit der Vereinzelung der freiheitlichen Vereine im antisemitisch dominierten österreichischen Turnwesen. Ungeachtet der staats- und völkerrechtlichen Lage seit 1866/1871 hielt der DTV gerade auch im Antisemitismusstreit daran fest, daß Deutschland (in den Grenzen des Deutschen Bundes) für die reichsdeutsche und österreichische Turnbewegung »ein Land« sei und nicht etwa die österreichischen Vereine als Auslandsvereine einen Gaststatus im Deutschen Turnbund hätten.80 Dieser Rückbezug auf das ganze deutsche Volk wurde nicht als Widerspruch zur Loyalität zum Habsburgerstaat empfunden. Entsprechende Bekenntnisse wurden bei festlichen Anlässen stets 78 Zum Folgenden die Festveranstaltungen des DTV 1864 (Fahnenweihe), 1892 (30j. Jubiläum), 1894 (Tod Schmeykals), 1902 (40j. Jubiläum)  ; die bei diesen Gelegenheiten gehaltenen Reden abgedruckt bei Rychnovsky, Turnverein, op. cit., S. 18 ff., 36–42, 44 ff., 48–56. Verwaltungsbericht f. d. Jahre 1902, 1912 in SUA, PR, SK XIII/2. 79 Rychnovsky, Turnverein Prag, op. cit., S. 116–124. 80 Rychnovsky, op. cit., S. 80.

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mit dem rituellen Kaiser-Hoch verbunden. Doch war dieses Österreichverständnis an das Verfassungssystem von 1867 und die (darin verankerte) Vorrangstellung des österreichischen Deutschtums gebunden, an der man unwandelbar festhielt. Bezeichnend für diese Österreich-Interpretation war etwa die Mitwirkung des Vereins an der von Schmeykal initiierten Kampagne zur Aufstellung von Kaiser-Josef-Denkmälern in Böhmen, wobei der »Volkskaiser« Josef II. als Protagonist eines fortschrittlichen Zentralstaates unter deutsch-kultureller Führung zum Wohle des Ganzen gefeiert wurde.81 Bei aller kulturell bedingten und schichtenspezifischen Blindheit der deutsch-bürgerlichen Besitz- und Bildungsschicht Prags soll nicht verkannt werden, daß hierin ein gewichtiger Unterschied zu den deutschnational-völkischen Vereinen bestand, die dem Habsburgerstaat die Loyalität seit der Taaffe-Ära zunehmend aufkündigten. Auch für die freiheitlichen Vereine wie den DTV war das System Taaffe eine schwere Herausforderung, dem man mit dauerhafter harter Opposition begegnete. Das eigene »freiheitliche« Österreichbild wurde damit zur Parteisache gegen »Klerikalismus« und »Slawophilie«, wobei übrigens auch die Körper- und Turnfeindlichkeit des konservativen Erziehungswesens eine erhebliche Rolle spielte. Bei all diesen Auseinandersetzungen handelte es sich aber stets um eine Elitenkonkurrenz um die Hegemonie im Staat und die Interpretationshoheit über den »Österreich«Begriff, nicht um ein mentales Exil aus dem Habsburgerstaat. Zur čechischen Nationalbewegung, namentlich zur čechischen Kommunalverwaltung, zum čechischen Parteiensystem und Vereinswesen in Prag gab es allerdings keine Brücke. Die Čechen wurden mit wachsender Verhärtung zum »nationalen Feind«. Dem erzwungenen Rückzug aus dem öffentlichen Raum wie den wiederholten Ausschreitungen begegnete die Vereinsführung in den öffentlichen Reden mit distanzierter Verachtung des Pöbels und zunehmend resignativen Feststellungen über die ethnisch-kulturelle Isolierung in der ehemals kulturell deutsch geprägten Stadt Prag, der gegenüber man auch angesichts der Haltung der Behörden auf lokaler Ebene machtlos sei. Niemals seit der prägenden Weichenstellung von 1861 haben es die deutschen bürgerlich-liberalen Eliten Prags, die in der freiheitlichen Turnbewegung organisiert waren, dahin gebracht, die Grundbedingungen eines auf Gleichberechtigung basierenden multinationalen Reiches zu internalisieren und der nationalen Verständigung im

81 Rychnovsky, op. cit., S. 99  ; zur Loyalität zur Österreichischen Monarchie unter deutschem Vorzeichen auch die programmatischen Festreden Schmeykals (1881  : a.a.O., S. 96–101  ; 1892  : a.a.O., S. 39 f.) und Ernst v. Pleners (1892  : a.a.O., S. 40 ff.).

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Staat den Vorrang vor den emotionalen Bindungen zum deutschen Gesamtvolk zu geben. Im völkisch-antisemitischen Männerturnverein konnte davon naturgemäß erst recht keine Rede sein. Seine Verlautbarungen zeigen, was die Haltung gegenüber den Čechen betrifft, ähnliche Tendenzen wie die des DTV, heben sich aber insgesamt im politischen Inhalt wie in der Schärfe des Tons deutlich von den Liberalen ab. Sie verraten seit der Jahrhundertwende eine wachsende Wagenburg-Mentalität. »Von Feinden rings umbrandet, die uns zu vernichten wünschen«  : Dieses Rednermotto von 1908 hätte – jedoch nur mit Blick auf die čechische Nationalbewegung – zur gleichen Zeit auch im DTV ausgesprochen werden können  ; aber im DMTV signalisierte es eine Frontstellung nach beiden Seiten. Denn keineswegs wurde daraus der Schluß gezogen, die Zusammenarbeit mit allen deutschen Gruppen zur Abwehr der čechischen Nationalbewegung zu suchen  ; vielmehr galt es, durch unerschütterliche Wahrung »völkischer Reinheit«, durch »Reinigung des Turnwesens von allem Fremdthume« das deutsche Volk im Ganzen und in Österreich im Besonderen zugleich vor den Liberalen und ihrem jüdischen Anhang zu retten. »Wenn wir völkische Lauheit in unsere Reihen einziehen lassen, sind wir verloren.« Bis heute sei die Neigung, »Internationalismus« an die Stelle des »reinen Volkstumsgedankens« zu setzen, nicht überwunden worden.82 Von »völkischer Lauheit« war in den letzten Vorkriegsjahren ständig die Rede  ; tief beklagt wurde das Abseitsstehen der Jugend vom völkischen Turnbetrieb, dem man in der Nachwuchsförderung mit zäher Kleinarbeit entgegen wirken müsse. In der bescheidenen Feier zum 25. Jubiläum 1913 dieselben Klagen, gepaart mit Angriffen auf den innerdeutschen (liberalen) Gegner, dem gegenüber man sich auf keine »Verwaschungs- und Verbrüderungstaktik« einlassen dürfe, auch nicht, um eine gemeinsame Abwehrfront gegen die čechische Hegemonie in Prag aufzubauen  : Die Sprecher des Männerturnvereins beharrten in stolzer Isolation darauf, »den alten Idealen treu« zu bleiben. »In heißestem Kampfe auf bedrohtester Scholle um unser Volksthum kämpfend, stehen wir in unerschütterlicher Treue zur großen alle deutschen Stämme umfassenden deutschen Turnerschaft«83  : Dieses Zugehörigkeitsbekenntnis galt auch nach der Trennung vom Deutschen Turnbund und wurde seither so aufgefaßt, daß durch kompromißloses Festhalten am völkischen Gedanken und eine konsequente Erziehung der Jugend in diesem Geiste ein entscheidender Dienst am Deutschtum insgesamt geleistet werde. Gegen jede »schwarz-gelbe« (d. h. habsburgtreue) 82 Festansprachen zum 20j. Jubiläum, Jahresbericht f. d. J. 1908, SUA, PR, SK XIII/23. 83 Ebenda  ; ferner Reden zum 25j. Jubiläum f. d. J. 1913, SUA, PR, SK XIII/23.

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Gesinnung wurde das großdeutsche Nationalbewußtsein gesetzt, wie es in dem Turnfest zum Völkerschlachtjubiläum in Leipzig 1913 manifest geworden sei. In diesem Sinne begrüßte der DMTV den Beginn des Weltkrieges in der Hoffnung, daß die »großen Umwälzungen und Neugestaltungen unserem Volke zum Heil dienen […] und manches, was faul geworden und wogegen einsichtsvolle Männer vergeblich gepredigt und geschafft, aus der Glut des Weltenbrandes geläutert hervorgehen möge.«84 Nicht zuletzt das Kriegserlebnis sollte dafür sorgen, daß diesem sektiererischen Totalitätsanspruch später noch eine fragwürdige Zukunft beschieden sein sollte.

84 Jahresbericht f. d. J. 1914, SUA, PR, SK XIII/23.

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In einem früheren Aufsatz2 wurde die allgemeine Entwicklung der deutschen Turnbewegung in den Böhmischen Ländern der Habsburgermonarchie skizziert und die Geschichte der Prager deutschen Turnvereine näher betrachtet. Dabei wurde auf die parallele Entwicklung in der mährischen Landeshauptstadt Brünn verwiesen und eine eingehendere Darstellung der dortigen Verhältnisse vorbehalten. Eine vergleichende Behandlung Brünns, die hiermit vorgelegt wird, bietet sich vor allem deshalb an, weil die Entwicklungslinien in beiden Hauptstädten einerseits große Ähnlichkeiten aufwiesen, die sie zugleich von der Masse der deutschen Turnvereine in Böhmen (und ganz Österreich) trennten. In Prag, Brünn (und unter Spaltungen auch in Wien) hielten die großen Traditionsvereine an einer liberal-freiheitlichen Linie fest und wehrten den überall sonst sich durchsetzenden »völkischen« Antisemitismus ab – mit der entsprechenden Folge einer weitgehenden Isolierung. Zugleich aber war die soziale Position dieser Traditionsvereine in ihren Heimatstädten Prag und Brünn durchaus unterschiedlich  ; dies ergab sich aus den Unterschieden der politisch-sozialen Stellung, die das Deutschtum in den beiden Städten in den letzten Jahrzehnten der 1 Archivgut und vereinsinternes Bibliotheksgut wird wie folgt zitiert  : Moravsky Zemsky Archiv Brno [Mährisches Landesarchiv Brünn], zit. MZA. Vereinsrechtliche Aufsichtsakten des staatl. Polizeipräsidiums Brünn  : Fonds B26, zitiert MZA B26. Festbuch, hg. v. Turnrat des Deutschen Turnvereins Brünn aus Anlaß der Feier des dreißigjährigen Bestandes des Vereins am 24. und 25. März 1923, Brünn 1923. Exemplar in  : MZA B26 2492 / sg. 268. [Zerzawy, Richard, Autor]  : Festschrift zur Feier des sechzigjährigen Bestandes des Brünner Turnvereins 1861, hg. v. Turnrat des Brünner Turnvereins, Brünn 1922. Exemplar in  : MZA B26 3157 / cj. 17782. Festschrift zur Feier des 75jährigen Bestandes des Brünner Turnvereins von 1861, Brünn 1936. Exemplar in  : MZA B26 sg. 17782 / 46. Festschrift zur Fünfundzwanzigjahr-Feier des Altbrünner Turnvereins, verfasst vom Obmann des Vereins [Franz Netropil], Brünn 1923. Exemplar in  : MZA B26 2487 / sg. 24. Moravska Zemska Knihovna Brno [Mährische Landesbibliothek Brünn], zit. MZK. Rechenschaftsbericht des Brünner Turnvereins für das Jahr […], Brünn (1861/63–1915). Exemplare in  : MZK Cis.kn. 3810-624.290 (Lücken) und MZA B26, 3157 cj. 17782/46 sowie 2474 sg. 162 (Lücken). Die Lücken beider Überlieferungen lassen sich komplementär schließen, aber nicht vollständig. Zitiert  : RBerBTVBrünn. 2 Harm-Hinrich Brandt, Deutsche Turnvereine in Prag 1861–1914 in diesem Band s. S. 295–331.

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Habsburgermonarchie besaß. Nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt ist eine eingehendere Betrachtung der Brünner Verhältnisse lohnenswert. Zur Orientierung seien einige Momente der deutschen Turngeschichte in den Böhmischen Ländern in Erinnerung gerufen. Die Turnbewegung war auf čechischer wie auf deutscher Seite von Anfang an Teil der Nationalbewegung  : Sie stand seit ihrem Aufschwung in den 1860er Jahren im Zeichen der nationalen Segregation. Trotz vereinzelter freundschaftlicher Kontakte in den Anfangsjahren bildeten beide Nationalitäten eigenständige Vereine und regionale bzw. überregionale Verbände, die sich voneinander abriegelten und sich zunehmend feindselig ansahen.3 Die österreichischen und böhmischen deutschen Turnvereine wurden – so, als hätte der Deutsche Bund 1866 nicht aufgehört zu bestehen – organisatorisch als Turnkreis XV in die Deutsche Turnerschaft einbezogen und bildeten in der Folge die übliche regionale Untergliederung in Turngaue aus. Auch nahmen sie die großdeutschen Farben Schwarz-rot-gold durchweg als Vereinsfarben an. Dies musste nach 1866 naturgemäß ein Identitäts- und Loyalitätsproblem gegenüber dem habsburgischen Staat aufwerfen. Im Rahmen der Deutschen Turnerschaft nahmen die Turnvereine Deutsch-Österreichs von Anfang an einen beachtlichen Aufschwung  ; nach vorübergehender Stagnation in den 1870er Jahren wuchsen Vereins- und Mitgliederzahlen bis 1914 kontinuierlich an. Dabei war der Organisationsgrad der Deutschböhmen ungleich höher als der der österreichischen Alpenländer. Dies dürfte sich unter anderem auch aus dem Nationalitätenkonflikt in den böhmischen Ländern und der prominenten Rolle der Vereine für die nationale Selbstbehauptung erklären. Damit sind die ideologischen Aspekte der Turnbewegung angesprochen. Im Zeichen des »Volkstumskampfes« wuchs das Bestreben, die verschiedenen Vereinsgattungen (Schulvereine, Turnvereine, Gesangsvereine etc.) in ihren 3 Die Überblicksdarstellungen für die deutsche Seite durchweg von Beteiligten  : Alfred Schmarda, Handbuch des Turnkreises Deutschösterreich, Wien 1910, 2.A. 1913  ; Fritz Hirth u. Anton Kießlich, Geschichte des Turnkreises Deutschösterreich, Teplitz-Schönau 1928  ; Josef Freising, Der Turngau Südmähren und seine Geschichte. Ein Zeitbild vom Volkstumsschaffen der Turner Südmährens, Brünn 1938, Frankfurt 21959  ; Klaus Schreitter von Schwarzenfeld, Das deutsche und tschechische Turn- und Sportwesen in der Tschechoslowakischen Republik von seinen Anfängen bis zum Jahr 1938, München 1956  ; Erwin Mehl, Deutsches Turnen, seine Vorläufer und seine Begleiter in den Ländern der böhmischen Krone von den Anfängen bis 1918, in  : R. Jahn (Hg.)  : Sudetendeutsches Turnertum, Teil I, Frankfurt 1958, S. 9–124. – Für die čechischen Sokoln jetzt eingehend Claire Elaine Nolte, The Sokol in the Czech Lands to 1914. Training for the Nation, Houndmills 2002  ; knapp Marek Waic, Sokol v česke spolecnosti / Sokol in der tschechischen Gesellschaft, in  : ders. (Hg.), Češi a Nemči […] / Die Deutschen und Tschechen in der Welt des Turnens und des Sports, Prag 2004, S. 215–228 / 521–538.

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Aktivitäten zu koordinieren und insbesondere auf lokaler Ebene zu bündeln. Ferner kam den Vereinen in Österreich für die parteipolitische Klientelbildung eine wichtige Bedeutung zu. In Verbindung mit den Gesangvereinen spielten die Turnvereine in der öffentlichen Repräsentation der deutschen Nationalität eine erhebliche Rolle, und nicht zuletzt darin lag ihr Beitrag zur Polarisierung des Volkstumskampfes begründet. Deshalb waren öffentliche Auftritte als Versinnbildlichung von Gruppenstärke unverzichtbar für den Turnbetrieb und seine gesellschaftlich-politische Funktion. Sie ließen sich lokal organisieren  ; aber vor allem für die vielen kleinen Vereine war die Bündelung derartiger Veranstaltungen auf regionaler Ebene weit wichtiger. Deshalb war für sie die regionale Gau-Organisation eine Lebensfrage. Es liegt auf der Hand, dass die Durchführung der lokalen und regionalen Feste in einem Klima wachsender nationaler Spannungen zunehmend prekär wurde  ; dies galt vor allem für die demonstrativen Umzüge und Ausflüge in nationalen Mischgebieten. So konnte es nicht ausbleiben, dass diese Art der Provokation immer wieder  – nordirischen Verhältnissen unserer Gegenwart nicht unähnlich – zur Zielscheibe handgreiflicher Auseinandersetzungen mit einer gewaltbereiten čechisch beherrschten Straße wurde. Die gemeinsame ›Abwehr‹-Front gegen die čechische Bevölkerungsmehrheit einte alle deutschen Vereine in einer übersichtlichen Polarisierung mit integrativer Binnenwirkung. Spiegelbildlich entsprach dies dem čechischen Vereinswesen auf der anderen Seite. Seit den frühen 1880er Jahren trat mit dem Aufkommen des Antisemitismus jedoch zusätzlich eine besondere, von der čechischen Sokol-Bewegung, aber auch von der reichsdeutschen Turnerschaft abweichende Konstellation ein, die zu einer tiefgreifenden Spaltung führte. Bekanntlich fühlten sich die Juden Österreichs zu dieser Zeit in den urbanen Zentren noch als Teil der deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft. Von daher beteiligten sie sich selbstverständlich auch am urbanen deutschen Vereinsleben. Jüdische Turnvereinsmitglieder gab es in nennenswerter Zahl in Wien, Prag und Brünn sowie in einigen Vereinen des Umfeldes dieser Zentren in Niederösterreich und Mähren. Auf Vereinsebene machte sich der Antisemitismus in dem Bestreben geltend, Juden (nach rassischer Definition) von der Mitgliedschaft auszuschließen – zunächst informell, dann formalisiert mit der Einführung des sog. »Arierparagraphen« (Mitgliedschaft, bzw. in der ›weicheren‹ Variante Neuaufnahme, nur von Deutschen »arischer« Abkunft). Von den antisemitischen Tendenzen wurde die Turnbewegung der Alpen- und der Böhmischen Länder intensiv erfasst. Binnen zweier Jahrzehnte gelang es einer zunächst kleinen, aber fanatischen antisemi-

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tischen Gruppe, fast den gesamten Turnkreis  XV über den Hebel des Arierparagraphen auf eine »völkische« Linie zu bringen. Mit ihrer Mehrheit setzte die völkische Richtung 1901 die Einführung des Arierparagraphen im Turnkreis XV durch. Nur etwa 50 Vereine verweigerten dieser Entscheidung die Gefolgschaft und gründeten 1902 in Prag den »Verband der deutsch-freiheitlichen Turnvereine in Österreich«. Dies ließ den Konflikt mit dem großen Gesamtverband der Deutschen Turnerschaft eskalieren und führte 1904 zum Austritt des »Deutsch-österreichischen Turnkreises«. Trotz reichsdeutscher Unterstützung blieben die deutsch-freiheitlichen Vereine, die die Spaltung nicht mitmachten, eine kleine Minderheit. Im Übrigen waren auch die Freiheitlichen intensiv durchdrungen von deutschem Sendungsbewusstsein und der Notwendigkeit nationaler Selbstbehauptung. Gerade deshalb aber sollten nach ihrer Auffassung alle Kräfte gebündelt und Spaltungen vermieden, die deutsch akkulturierten Juden daher auf keinen Fall ausgegrenzt werden. Die wichtigsten Stützen dieser Position waren neben dem Wiener Deutsch-­ Österreichischen Turnverein die älteren 1861/62 gegründeten Turnvereine von Brünn und Prag. In beiden Orten stand das deutsche Vereinswesen unter der maßgeblichen Führung der besitz- und bildungsbürgerlichen deutschen Oberschicht, die in beiden Fällen die schichtzugehörigen Juden voll integriert hatte. In beiden Städten befand sich die deutsche Bevölkerung in einer Diaspora-Situation, die den Willen der Führungsschicht zur Koordinierung aller sozio-kulturellen Potenzen des Deutschtums mithilfe seines Vereinswesens stark beflügelte.4 Bei allen Ähnlichkeiten dieser Gesamtsituation muss jedoch sogleich auf einen wichtigen Unterschied in den politischen Rahmenbedingungen aufmerksam gemacht werden  : Entsprechend der Prager Bevölkerungsstruktur hatten die Čechen seit 1861 in den städtischen Gremien die Mehrheit, beherrschten von nun an die Organe der Stadtverwaltung und nutzten diese Situation, um die Rolle der Deutschen in der Kommunalpolitik zu marginalisieren und die Stadt wo es ging kulturell zu čechisieren. Die Deutschen unter der Führung ihres bürgerlichen Establishments waren daher organisatorisch ausschließlich auf ihr Vereinswesen und dessen Zusammenhalt angewiesen  ; dabei suchten sie sich (soweit und solange es ging) wesentlich auf die staatlichen Organe der Landes- und 4 Für Prag grundlegend Gary B. Cohen, The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prag, 1861– 1914, Princeton NJ 1981. Für Brünn fehlt eine entsprechende Untersuchung. Vgl. die Beschreibungen und statistischen Hinweise bei Ernst Schwarz, Volkstumsgeschichte der Sudetenländer, Teil II  : Mähren und Schlesien, München 1966, 27 f. Zur ökonomischen u. kulturellen Bedeutung des Brünner Judentums Hinweise bei Jaroslav Klenovsky, Jewish Monuments in Brno. A Brief History of the Jewish Community, Brünn 1995, S. 13–20.

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Reichsebene sowie die auf diesen Ebenen agierenden Honoratioren-Politiker zu stützen. In Brünn dagegen war die Stadtverwaltung bis zum Ende der Monarchie fest in deutscher Hand. Dies beruhte zum einen auf dem Festhalten an den Stadtgrenzen von 1850 und der Vermeidung weiterer Eingemeindungen, so dass die deutsch-bürgerliche Kernstadt trotz čechischer Zuwanderung eine (wenn auch schmaler werdende) deutsche Mehrheit inmitten eines sich indus­ triell proletarisierenden und čechisierenden Umlandes behielt. Darauf aufbauend beruhte diese Hegemonie ganz wesentlich auf den Wirkungen des kommunalen Wahlrechts, das als zensus-bewehrtes Dreiklassenwahlrecht das (deutsche) Besitzbürgertum extrem begünstigte und das Proletariat aus den Kommunalorganen ausschloss. Dies bedeutete, dass die deutschen Vereine in Brünn stets einen festen Rückhalt an der Stadtverwaltung hatten. Wie in Prag war dabei auch in Brünn der Anteil der Juden am etablierten Bürgertum groß. Die signifikanten Varianten und Abweichungen Brünns ergeben sich aus dem stärker deutschen Charakter des »österreichischen Manchesters« (so eine beliebte Selbstbezeichnung Brünns) und seiner Einbettung in ein reicheres deutsches Vereinsleben im regionalen Umfeld. Brünner Turnverein und Deutscher Turnverein Brünn Zeitpunkt und Anfangsbedingungen der Gründung des Brünner Turnvereins (BTV) zu Ende des Jahres 1861 gleichen denen Prags  : Eine Gruppe junger Männer, zumeist Angestellte aus Handel, Banken und Industrie Brünns, betrieben die Gründung und versicherten sich des Rückhalts an der Brünner Haute Bourgeoisie  : Der wichtige Zeitungsverleger und Kommunalpolitiker Rudolf Rohrer leistete materielle und publizistische Unterstützung, der bekannte Brünner Unternehmer und liberale Wiener Parlamentarier Alfred Skene avancierte rasch zum ersten Vorsitzenden, der Bürgermeister Brünns Christian d’Elvert wurde sogleich zum Ehrenmitglied ernannt, seine Ehefrau stiftete bereits 1862 die Vereinsfahne.5 Zeitgleich mit dem Turnverein wurde übrigens der Deutsche Männergesangverein Brünn gegründet, was wie in Prag auf eine konzertierte Aktion hindeutet. Nach dem vielbeschäftigten Skene übernahm bald der lang5 Ausführliche Darstellung des Gründungsvorganges, der ersten Aktivitäten und der Personalia im ersten RBerBTVBrünn für 1861–63  ; ferner (Richard Zerzawy  :), Festschrift zur Feier des sechzigjährigen Bestandes des Brünner Turnvereins 1861, hg. v. Turnrat des Brünner Turnvereins, Brünn 1922, S. 9 ff. Statuten und nachfolgende Novellierungen in MZA B26 3157/cj. 17782.

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jährige Brünner Reichsrats-Abgeordnete Rechtsanwalt Sturm den Vorsitz, 1872 folgte der zum Zweiten Bürgermeister avancierte Rohrer, der den Vereinsvorsitz in ziemlich autoritärer Amtsführung bis zu seinem Tode 1914 innehatte.6 Schon Mitte der 60er Jahre ging man zügig an die Planung und den Bau einer eigenen Turnhalle, die 1868 bezogen wurde, zehn Jahre später übrigens abbrannte und sogleich erheblich vergrößert wieder aufgebaut wurde. Die Stadtgemeinde stiftete dazu unentgeltlich den Baugrund, beteiligte sich mit einem zinslosen Darlehen und unterstützte im Übrigen den Verein über Jahrzehnte mit einer jährlichen Spende. Die Spendenlisten zu beiden Hallenbauten bieten in ihren Spitzenbeträgen einen Querschnitt durch die Brünner Unternehmerschaft und zeigen eine breite Verankerung des Vereins im deutschen Bürgertum unter Einschluss des deutsch-jüdischen Bürgertums, das auch den begleitenden Anleihe-Subskriptionen zum nötigen Erfolg verhalf.7 Die üblichen periodischen Vereinsfeste erfreuten sich stets breiter Resonanz und ungetrübter öffentlicher Präsentation auf den Straßen Brünns, die von Prager Verhältnissen durchgängig und bis 1914 weit entfernt waren. (Handgreifliche Auseinandersetzungen mit Čechen ereigneten sich gelegentlich bei den Turnfahrten in die Umgebung.8) Wie in Prag war bei Festen die politische Prominenz der deutsch-liberalen Abgeordneten präsent, darüber hinaus aber stets auch der Gemeinderat mit dem Bürgermeister an der Spitze. Dasselbe gilt für den befreundeten Männergesangverein  ; beide Vereine stützten sich auch bei öffentlichen Auftritten wechselseitig.9 Neben dem Zusammenhalt der deutschen Vereine stand der vom Vereinsvorstand nachhaltig betriebene Aufbau einer Feuerwehr- und einer Rettungsabteilung,10 mit denen kommunale Gemeinnützigkeit unterstrichen wurde. Auch dies unterscheidet die Brünner von den Prager Verhältnissen. Ferner übernahm der Verein zeitweilig den Turnunterricht in Berufsschulen und arbeitete in der Förderung des Turnunterrichts auch eng mit der evangelischen Kirche in Brünn zusammen. Diese konfessionspolitische Präferenz des turnerischen Freisinns ist bemerkenswert  ; sie dürfte auch mit der ursprünglichen Abneigung der katholischen Kirche gegen Leibesübungen zusammenhängen. Das jüdische Bürgertum war von Anfang an und dauerhaft im BTV Brünn stark vertreten, ohne dass eine genaue Bezif-

  6 Festschrift BTV 1922 [Anm. 5], S. 11 ff., 25 f.   7 RBerrBTVBrünn für 1866, 1867, 1868–71, 1877, 1878 (mit Spendenliste).   8 Ein solcher Fall in RBerBTVBrünn für 1869.   9 Breite Schilderungen der öffentlichen Feste in den RBerrBTVBrünn passim. 10 RBerBTVBrünn 1884.

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ferung möglich wäre. (Die »Konfession« wurde nicht erfasst und spielte offiziell keine Rolle.) Eine institutionelle Lenkung des Vereinslebens nach Art des Prager Casinos gab es in Brünn nicht. Man kann daraus schließen, dass die deutsche Hegemonie in der Stadt und der Kommunalverwaltung eine solche Kampforganisation überflüssig machte  ; die informelle Koordination durch eine großbürgerlich-liberale Honoratiorengruppe reichte dazu aus. Mit der Selbstsicherheit des Brünner deutschen Establishments mag es auch zusammen hängen, dass der Bau eines »Deutschen Hauses« als zentrale Heimstätte aller deutschen Vereine über lange Zeit verzögert und erst im schärferen Klima der Taaffe-Zeit ernsthaft betrieben wurde. Der stattliche Bau wurde 1891 eingeweiht  ; mit seinen Sälen und Gesellschaftsräumen wurde er zum Ort der sozio-kulturellen Aktivitäten der Deutschen, bei übrigens breiter Zulassung von Veranstaltungen der verschiedenen bürgerlichen Richtungen.11 Auch die innere Führung des Brünner Turnvereins war durch den angesprochenen Honorationrenstil geprägt. Gemessen an seiner Mitgliederzahl entwickelte sich der Verein zunächst kräftig. 1871 gab es 330 ausübende und 420 beitragende Mitglieder  ; diese Zahlen sanken in den 1870er Jahren beträchtlich, was allgemein auf die anhaltende Wirtschaftskrise zurückgeführt wurde. Erst ab den 1880er Jahren erreichte die Mitgliedschaft die alte Höhe, wobei die passiven Mitglieder die aktiven Turner zumeist deutlich überstiegen.12 Als Besonderheit Brünns wurde vom Verein selbst die starke Fluktuation unter den aktiven Turnern bei jahresweise hohen Austritts- und hohen Eintrittszahlen (jeweils über 100) empfunden  ; dies erklärte man mit der hohen Mobilität der aufstiegsorientierten jungen Angestellten mit häufigem Ortswechsel.13 Diese stellten die Masse der aktiven Mitglieder dar. Die ebenfalls mobilen Studenten fielen dank der nur kleinen Technischen Hochschule weniger ins Gewicht  ; immerhin war die Burschenschaft »Teutonia« korporatives Vereinsmitglied.14 Arbeiter waren in dem Verein nicht vertreten. Im Laufe der ersten Jahrzehnte baute der Verein ähnlich wie in Prag die üblichen Abteilungen für Kinder, männliche und weib11 Ausführlich Gustav Trautenberger, Festschrift zur Eröffnung des Deutschen Hauses in Brünn am 17., 18. und 19. Mai 1891, Brünn 1891. Die vereinspolizeilichen Aufsichtsakten zum Deutschen Haus bilden im MZA einen umfangreichen Bestand  ; ihre Auswertung ist ein Desiderat. 12 Statistische Angaben in allen RBerrBTVBrünn. Graphik (bis 1895) in Festschrift BTV 1922 [Anm. 5]. 13 RBerrBTVBrünn für 1864, 1865. 14 RBerBTVBrünn 1866, dann regelmäßige Dokumentierung der Verbundenheit der »Teutonia« bzw. der aus ihr hervorgegangenen Burschenschaft »Arminia«.

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liche Jugendliche und auch für Frauen aus  ; letztere waren auch in Brünn keine stimmberechtigten Mitglieder. Die Pflege der Vielzahl von Abteilungen wurde wie in Prag mit der Präferenz des Breitensports gegenüber dem Spitzensport motiviert  ; dem Kinder- und Jugendturnen kam dabei eine besondere Bedeutung zu. Doch stand für die regionalen und überregionalen Wettkämpfe das Geräteturnen der Männer im Zentrum des Interesses  ; hieran hing maßgeblich das Prestige des Vereins. Der auffällig hohe Anteil an passiven Mitgliedern, in denen das Sponsorentum der höheren Alters- und Einkommensgruppen zum Ausdruck kam, war Teil jenes Honoratiorenstils, der die Vereinsführung prägte. Dies sollte gelegentlich zu Konflikten mit der Turnerschaft führen, deren Exponenten hier wie in Prag die Vorturner waren. Diese Parteiungen manifestierten sich auch in Brünn im Entstehen von Freundschaftszirkeln, die sich in Turnerkneipen und vereinsmäßigen Turnverbindungen organisierten. Bereits 1864 war die »Turnerkneipe« gegründet worden, später allgemein als »Alte Kneipe« bezeichnet.15 In ihr saßen die Vereinshonoratioren, und von hier aus wurde ganz offensichtlich die Vereinspolitik gesteuert, etwa das Mäzenatentum organisiert, die Hauptversammlungen mit ihren Wahlen sowie die öffentlichen Veranstaltungen vorbereitet. Die Vorturnerschaft als Elite der Aktiven versammelte sich seit 1883 in der Turnkneipe »Eiche«.16 Die aus der Vereinsstruktur sich ergebenden Spannungen führten 1892/93 zu einem Konflikt um die Person des professionellen Turnlehrers, der von den Vorturnern und einer Vielzahl der Turner abgelehnt, vom Vorstand aber mit dem zahlenmäßigen Übergewicht der Inaktiven gehalten wurde. Da die »Alten« einen Kompromiss (Einstellung eines zweiten Turnlehrers) in letzter Minute vereitelten, traten im Dezember 1892 148 Mitglieder, darunter fast die gesamte Vorturnerschaft, aus dem BTV aus und gründeten Anfang 1893 den »Deutschen Turnverein Brünn« (DTVBrünn). Die einschlägige Polizeiberichterstattung spielte den Vorgang allerdings herunter  : Unter den 148 Dissidenten seien ca. 50 erst jüngst von der Opposition für die Abstimmungen angeworben worden. Unter den Übrigen befänden sich 50 % Inaktive  ; der Verlust an aktiven Turnern betrage nur 5 von der älteren und 35 von der jüngeren Turnabteilung. Ein politischer Richtungsstreit, insbesondere eine deutsch-nationale Tendenz

15 RBerBTVBrünn für 1864  : Rolle der »Alten Kneipe« bei der Organisation von Veranstaltungen. Zur Rolle bei der Beschaffung von Spenden  : RBerr. passim. 16 RBerBTVBrünn für 1883, dann passim.

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(wie anfangs vermutet) sei schon deshalb auszuschließen, weil sich unter den Ausgetretenen ca. 80 Juden befänden.17 Nur unter Mühen gelang es dem neuen Verein, die Genehmigung einer Vereinsfahne zu erlangen. Die Auseinandersetzung darum offenbart die inzwischen gewachsene Sensibilität der Behörden gegenüber den großdeutschen Farben. Der DTV verzichtete schon im Voraus auf die übliche Trikolore und bot ein weißes Tuch an, wollte allerdings die in den deutschen Turnvereinen übliche Emblematik (die vier »F« auf schwarz-rot-goldenen Schilden) im Kleinformat in den Ecken der Fahne zur Geltung bringen. Dieser Entwurf wurde »in Anbetracht des demonstrativen Charakters der Farbzusammenstellung« von der Statt­ halterei abgelehnt, wogegen der Verein einen Rekurs zur Weiterleitung an das Wiener Innenministerium einbrachte. Darin hieß es  : Es werde wohl jedermann, und sei es auch ein österreichischer Staatsbeamter von furchtsamstem und vorsichtigstem Charakter, zugeben, dass bei einer Fahne entscheidend zunächst die Farbe der Fahne selbst sei, und hier gebe es gewiss nichts Unschuldigeres als die gewählte Farbe Weiß, in der sicherlich nichts Staatsgefährdendes liege. Andererseits liege es in der Natur der Sache, dass die gewählten Abzeichen und Farben mit dem Verein und seinem Namen in einem Zusammenhang stehen müssten, dieser Bezug dürfe nicht durch beliebige Phantasiefarben in lächerlichen Unsinn verwandelt werden. Die einzig bekannten, anerkannten und gebräuchlichen Farben der deutschen Turnerei seien nun einmal Schwarz-Rot-Gold  ; es liege daher auf der Hand, dass sie bei einem Verein mit Namen »Deutscher Turnverein« zu seiner Charakterisierung vernünftigerweise nicht umgangen werden konnten, sondern irgendwie und sei es noch so bescheiden zur Geltung gebracht werden müssten. Ohnehin habe man keine Trikolore gewählt, wie sie früher durchweg genehmigt und öffentlich getragen wurde. Die gewählte Form sei derart klein und werde beim Tragen zudem verdeckt, so dass die Farben fast nicht sichtbar seien  ; man begreife daher nicht, wieso hier von einer Demonstration die Rede sein könne. – Die Beschwerdeschrift offenbart in ihrer ziemlich dreisten Ironisierung der österreichischen Bürokratie zunächst einmal, wie weit die Entfremdung des national-deutschen Liberalismus gegenüber dem Habsburgerstaat und seinen Brünner Repräsentanten inzwischen gediehen war. In ihrer advokatorischen Argumentation aber war sie insofern geschickt, als sie die politische Dimension der Frage »Schwarz-Rot-Gold« völlig ausblendete und das Farben17 Vorgänge in den RBerrBTVBrünn weitgehend verschwiegen  ; breite Dokumentation in den Polizeiberichten zum BTV 1892 u. 1893  : MZA B26 3157 / cj 17782/46. Dagegen der Rechenschaftsbericht des DTVBrünn für das Gründungsjahr 1893 in  : B26 2474 / sg. 162.

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problem auf den Aspekt eines ›Markenzeichens‹ der deutschen Turnerei in Österreich reduzierte. In diesem Fokus konnte man dann den Behörden Mangel an Logik und mit Blick auf die Vergangenheit inkonsequentes Verhalten sowie Überreaktion vorwerfen. Der Rekurs scheint als erpresserische Bedrohung der Statthalterei mit dem Gang nach Wien gut kalkuliert gewesen zu sein  : Im Gegenzug zur Rücknahme des Rekurses bewilligten die Brünner Staatsbehörden die Fahne nach einer Frist dann doch.18 Trotz anfänglicher massiver Behinderungen durch den alten Verein im Zusammenspiel mit der Stadt (vor allem bei der Beschaffung einer Halle)19 setzte die Gründung des DTVBrünn sich rasch erfolgreich durch. Mit fast 700 Mitgliedern stand er dem BTV Ende 1894 kaum nach. In seinem Umfeld bestand zudem die Turnkneipe »Jahn«, die sich 1904 als förmliche Turnverbindung konstituierte.20 Die Sympathiebekundungen der freiheitlichen Vereine Österreichs, die Liste der Ehrenmitgliedschaften (darunter auch der Brünner Bürgermeister) sowie die Anwesenheit der politischen Notabeln bei Festen zeigen, dass der DTV sich im Brünner liberalen Milieu voll etablierte. 1898 erwarb der Verein eine eigene Halle, die in Anwesenheit des Bürgermeisters mit einem »Anturnen« eingeweiht wurde.21 Bald bekundete der BTV, dass der Friede wieder hergestellt sei. Die lange Reihe der gemeinsamen turnerischen, gesellschaftlichen und vereinspolitischen Aktionen zeigt, dass der DTV sich in eine Rolle als Juniorpartner einlebte. In der österreichischen Turnfehde folgte er einer strikt freiheitlichen Linie22. 1925 sollte es eine Wiedervereinigung beider Vereine geben.23 18 Vorgang Juni 1894 bis Februar 1895 in  : MZA B26, 2492/sg. 268. 19 Festbuch, hg. vom Turnrat des Deutschen Turnvereins Brünn aus Anlass des dreißigjährigen Bestandes des Vereins am 24. und 25.  März 1923, Brünn 1923, mit Chronik 1892 bis 1922 u. »Rückblick« v. Ludwig Richter. Exemplar in  : MZA B26, 2492/sg. 268. Der Rückblick wertete den Gründungsvorgang als Aufstand der »Jungen« gegen die »Alten« und sprach von »denkbar schwierigen Verhältnissen« am Anfang  ; die Gründung eines zweiten Turnvereins sei als »überflüssig« abgelehnt worden. »Jedes Ansinnen um die Benutzung eines noch so bescheidenen Schulturnsaals wurde abgelehnt.« 20 Aufsichtsakten mit Satzungen und polizeilicher Berichterstattung in  : MZA B26, 2591 cj. 79880 / 39. Der Verein zählte seine Hauptversammlungen ab 1875, muss also als Kneipe schon beim BTVBrünn bestanden und dann zum DTVBrünn gewechselt haben. Die Verbindung bestand bis zur formellen Liquidierung 1939. 21 Polizeiakten zum DTVBrünn in MZA B26, 2492/sg. 268. Vgl. auch Chronik und »Rückblick« [Anm. 19]. 22 Die enge Verbundenheit beider Vereine im öffentlichen Auftreten ab den späten 1890er Jahren zeigt sich in der Chronik des Festbuches [Anm. 48] und in den RBerrBTVBrünn passim. 23 S. unten Text mit Anmerkungen 59–61.

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Neben den turnerischen Aktivitäten vermitteln insbesondere die Festlichkeiten der beiden Vereine einen lebendigen Einblick in die Mentalität, von der das deutsch-freiheitlich orientierte Bürgertum Brünns getragen war. Der Stil dieser Veranstaltungen ist nicht nur durch die jährlichen Rechenschaftsberichte des BTV, sondern ebenso durch die polizei-interne Berichterstattung der jeweils anwesenden Kommissare dokumentiert, in der die Protokollierung der Ansprachen breiten Raum einnahm. Mehr noch als in Prag verraten diese Reden der politischen Mandatsträger und Vereinsfunktionäre von Anfang an einen ausgeprägten großdeutschen Grundton. Insbesondere das Kreisturnfest des österreichischen Turnkreises XV, das im Sommer 1871 in Brünn stattfand, stand ganz im Zeichen der deutschen Siege über Frankreich und der Reichsgründung und gestaltete sich zu einer Manifestation des Deutschtums, so als ob eigene Siege gefeiert wurden.24 Mit der innenpolitisch konservativen Wende Österreichs von 1879 zum langjährigen Regime Taaffe gewann der Ton der Ansprachen an Schärfe und wurde zunehmend vom Komplex nationalpolitischer Defensive bestimmt.25 Jetzt kam es auch vor, dass der anwesende Behördenvertreter auf offener Bühne eingriff und politische Äußerungen unterband.26 Die nationale Frontstellung gegen die Čechen war ein Thema der Festrhetorik, spielte aber – anders als in Prag – auf lokaler Ebene im Vereinsleben keine Rolle, da die čechische Bevölkerung in der Stadt Brünn keinen Rückhalt an der Gemeindeverwaltung besaß und da es innerörtlich keine čechisch beherrschte Straße gab. Hingegen nahm der Kleinkrieg mit der staatlichen Aufsichtsbehörde seit 1880 an Schärfe zu. Er entzündete sich an behördlichen Vorgaben bei Umzügen bis hin zu deren Verbot, an Beschränkungen im Gebrauch der Farben Schwarz-rot-gold in der Öffentlichkeit, an der Genehmigungspflicht von Turnveranstaltungen im Freien.27 Großen Raum nahm die Vorzensur von Festveranstaltungen ein, zu denen Programm, Spiel- und Liedtexte einzureichen waren. Polizeiliche Streichung von Passagen in Theaterstücken, die politische oder reli24 RBer.BTVBrünn für 1871 mit hymnischen Schilderungen  ; dabei wurde zugleich der Sturz der konservativen Regierung Hohenwart gefeiert. 25 Exemplarisch die Ansprachen zum 25-jährigen Bestehen des BTV Brünn 1886, RBer.BTV Brünn 1886. 26 Polizeibericht 14.10.1883 (BTVBrünn, Intervention bei Rede) MZA B26 3157 cj 17782/46.  – PolBer. 21.7.1890 (BTVBrünn, Intervention bei Rede) B26 2474 / sg. 162. – PolBer. 16.9.1895 (DTVBrünn, Intervention  : Entfernung schwarz-rot-goldener Schärpen) B26 2492 / sg. 268.  – RBerr.BTVBrünn für 1881 u. 1882  : Verzicht auf Schiller-Feiern, weil politische Gedichte verboten. 27 Berichte und Korrespondenz für BTVBrünn in  : MZA B26 3157 / cj 17782/46 und B26 2474 / sg. 162  ; für DTVBrünn in  : B26 2492 / sg. 268.

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giös-kulturelle Anspielungen enthielten, war die Regel.28  – Neben den obligaten Treuebekundungen zu Kaiser Franz Joseph fehlte in diesen Festveranstaltungen nie das emphatische Bekenntnis zur Gemeinschaft aller Deutschen, wobei irredentistische Töne im BTV und DTVBrünn sorgsam vermieden wurden. Die Redner suchten stets den (deutsch eingefärbten) österreichischen Patriotismus mit dem emotionalen Rückhalt am Gesamtvolk zu verknüpfen. Die völkisch-antisemitischen Turnvereine in Brünn Erst kurz vor der Jahrhundertwende fasste der Antisemitismus – im Landesvergleich sehr spät – auch im Brünner Turnwesen Fuß  ; zum Ansatzpunkt wurde der Gemeindebezirk Altbrünn. Dieser Bezirk führte in der Tradition seiner früheren Selbständigkeit ein gewisses Eigenleben  ; er war traditionell kleinbürgerlich bis proletarisch und im späten 19.  Jahrhundert von verstärkter čechischer Einwanderung geprägt. Die damit einhergehende Etablierung eines čechischen Vereinswesens rief deutsche Aktivitäten hervor, dies führte 1895 zur Gründung eines Altbrünner Männergesangvereins sowie 1896/97 eines Altbrünner Turnvereins (ATVBrünn). Bei der Turnvereinsgründung stand der BTV Pate und leistete ›Entwicklungshilfe‹ durch die Entsendung aktiver Mitglieder  ; darunter befand sich mit Karl Kratky ein bekannter, oft ausgezeichneter Vorturner, der dem Verein in der Folgezeit wesentlich zur Blüte verhalf und seine völkische Ausrichtung stützte.29 Bei der Gründungsversammlung kam es um die Vorstandswahl zu heftigen Auseinandersetzungen mit anwesenden Schönerianern und Sozialdemokraten, die den neuen Verein auf ihre Linie zu bringen suchten  ; doch setzten sich die ›Bürgerlichen‹ mit ihrer Liste durch. Dennoch war der BTV außerstande, seiner turnpolitischen Linie Geltung zu verschaffen. Zwar wurden die sektiererischen Schönerianer abgewehrt, doch hatten auch die Völkischen von Anfang an erfolgreich in dem Verein Fuß gefasst  ; sie organisierten sich in der Altbrünner Turnkneipe »Eiche«.30 Die Liberalen sammelten sich in der »Turnverbindung der 1896er«. Bereits vor der formellen Vereinsgründung 1897 rangen beide Gruppen verdeckt um die Zusammensetzung der künftigen 28 Vorgänge 1893, 1894, 1895 (BTVBrünn) in  : MZA B26 2474 / sg. 162. 29 Ausführliche Schilderung der Altbrünner Verhältnisse und des Gründungsvorgangs in  : Festschrift zur Fünfundzwanzigjahr-Feier des Altbrünner Turnvereins, verfaßt vom Obmann des Vereins [= Franz Netropil], Brünn 1923. Darin auch eingehende Würdigung des Turnwarts Karl Kratky. 30 Als Verein »Altbrünner Turnkneipe ›Eiche‹« eingetragen 7.7.1899, bestand bis zur Selbstauflösung Februar/März 1939. Satzungen und Polizeiakten in  : MZA B26 2583 / sg. 74684/39.

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Führungsgremien und die Ausrichtung des Vereins. Dabei behielten die »Völkischen« am Ende die Oberhand, was die Liberalen mit ihrem Austritt beantworteten. Ohne dass zunächst der Arierparagraph in die Satzung aufgenommen wurde, sorgte der Vorstand in seiner Beitrittspolitik für seine faktische Einhaltung. (Eine Satzungsnovelle von 1908 führte den Arierparagraphen auch formell ein.)31 Im Jahre 1903 bemühte sich der Verein erfolgreich um die Genehmigung einer schwarz-rot-goldenen Vereinsfahne. Dabei offenbart sich in der Haltung der Landesbehörden gegenüber der in den 1890er Jahren befolgten Linie ein höchst merkwürdiger Wandel.32 Die Statthalterei fragte vor ihrer Entscheidung beim Polizeipräsidium zurück, ob mit Rücksicht auf die bisherige Haltung des Vereins der Farbzusammenstellung eine politische Bedeutung beizumessen sei. Die Umschrift »Voran zum deutschen Siege« enthalte eine solche politische Tendenz und sei nicht genehmigungsfähig  ; die Polizei möge daher dem Verein im Vorfeld einen Verzicht auf den Text nahelegen, jedoch ohne preiszugeben, dass sie dazu von oben angewiesen worden sei [!]. So geschah es. Im Übrigen meldete die Polizeidirektion pflichtschuldigst, »dass der Altbrünner Turnverein, welcher sich auf deutsch- nationalem Boden bewegt, sich bisher stets innerhalb der Grenzen seiner Statuten gehalten hat und zu keiner missliebigen Wahrnehmung hierorts Anlass gegeben hat, so dass also [!] der für die Vereinsfahne gewählten Farbenzusammenstellung keine politische Bedeutung beigemessen werden kann.« Die Beschaffung der Fahne wurde daraufhin gestattet, mit dem üblichen Genehmigungsvorbehalt für ihren öffentlichen Gebrauch.33 Gegenüber der Brünner Stadtverwaltung hatte der ATV Brünn, der sich in der Folge jedem liberalen Einfluss der Brünner Vereine entzog und in den mährischen Turnorganisationen der antisemitischen Linie folgte,34 eine schwierigere Position. Stadt und BTV sorgten gemeinsam dafür, dass der ATV sich nicht in Brünn selbst ausbreiten konnte. Der ohnehin mittellose Verein schaffte es nicht, in Altbrünn eine Turnhalle zu errichten.35 Außerhalb Altbrünns wurde ihm jede Anmietung von Übungsräumen verwehrt, öffentliche Auftritte wurden 31 Satzung mit polizeilicher Genehmigung vom 20.1.1897, Novelle von 1908 sowie Polizeiakten von 1897 bis 1933 in  : MZA B26 2487 / sg. 240. 32 Vgl. Text mit Anm. 18 zu den Bemühungen des liberalen DTVBrünn. 33 Vorgang Juni–Juli 1903 in  : MZA B26 2487 / sg. 240. Die im zeitlichen Ablauf wechselvolle Haltung der Behörden zu den großdeutschen Farben bedürften einer gesonderten Untersuchung. 34 Zur Politik des Vereins in den Gauorganisationen vgl. unten Text mit Anm. 45. 35 Mehrere Anläufe zum Grunderwerb und Bau allein oder in Gemeinschaft wurden nach Darstellung des ATVBrünn selbst 1902 durch Doppelspiel der Stadtverwaltung und Streitereien der Altbrünner deutschen Vereine torpediert. Festschrift ATV 1923 [Anm. 1].

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außerhalb Altbrünns von der Stadtverwaltung behindert. Das »Deutsche Haus« blieb ihm vorerst für seine Veranstaltungen verschlossen. Milieubedingt ging umgekehrt natürlich kein Brünner nach Altbrünn zum Turnen. Auf diese Weise blieb der Verein auf Altbrünn beschränkt und in seiner Mitgliederzahl auf etwa 220 (davon 80 bis 90 Aktive) begrenzt.36 Die Eindämmung der völkisch-antisemitischen Richtung ließ sich jedoch auch in der Stadt Brünn auf die Dauer nicht durchhalten. In anderen Vereinen war sie ohnehin vielfältig präsent  ; in den letzten Jahren vor dem Krieg ergriff sie auch das Turnwesen. Hierzu muss abermals ein Blick auf die österreichische Gesamtentwicklung und die Stellung des BTV darin geworfen werden. Nach anfänglicher Selbstgenügsamkeit beteiligte sich der Brünner Turnverein 1868 führend an der Gründung des Turnkreises XV, wurde sein erster Wandervorort und lenkte auch die Gründung des Turngaues Mähren-Schlesien, wo er ebenfalls Jahrzehnte hindurch eine führende Rolle spielte. Brünns langjähriger Gauvorstand wurde jedoch 1893 von den Völkischen, die dabei erfolgreich mit ihrem Austritt drohten, gestürzt.37 In der Turnfehde konnte Brünn dann nicht verhindern, dass der Gautag 1899 mit Mehrheit die Arisierung de Gaues Mähren-Schlesien beschloss.38 Der BTV trat daraufhin aus und ließ sich für »gaulos« erklären. Dies führte innerhalb des BTV zum Aufstand einer Gruppe junger Turner, die als erstes verlangten, das Stimmrecht in den Hauptversammlungen auf die Aktiven zu begrenzen39. (Dies ähnelt formal dem Konflikt, der früher zur Abspaltung des DTV Brünn geführt hatte  ; der DTV hatte eine solche Bestimmung dann in seiner Satzung verankert. Auch andere Vereine kannten diese satzungsmäßige Beschränkung.) Natürlich setzte die Vereinsführung des BTV sich auch jetzt mit einer Ablehnung gegen die Jungen durch. Der nachfolgende Antrag, den Arierparagraphen im BTV in der ›weichen‹ Fassung (künftig keine Neuaufnahmen von Juden) einzuführen, führte gerade auch wegen des Appells der Jungen an die Juden, bei aller Würdigung ihrer großen Verdienste um den Verein nicht dessen künftige Isolierung herbeizuführen, zu tumultartigen Aus36 Ausführliche Schilderungen mit völkisch orientierten Wertungen und Kritik am jüdisch durchsetzten Liberalismus der Stadt Brünn in Festschrift ATV 1923 [Anm. 1]. Hier auch wiederholt sporadische Angaben zur Mitgliederzahl. 37 RBerr.BTVBrünn für 1868, 1869, 1870, 1871, dann passim. Schmarda [Anm.  3], Kap. Geschichtl. Übersicht passim (Rolle Rohrers im Kreisvorstand). Zum Sturz des Brünner Vorsitzes  : Hirth-Kießlich [Anm. 3], S. 230 f. 38 RBerBTVBrünn für 1899  ; Hirth-Kießlich [Anm. 3], S. 252, 261. 39 RBerBTVBrünn für 1900.

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einandersetzungen in einer außerordentlichen Hauptversammlung. Sie endete mit dem Ausschluss der jungen Rebellen.40 Kompensatorisch hatte der BTV seine Satzung bereits im Vorfeld dahingehend geändert, dass nur »deutsche Männer, die sich immer zum Deutschtum bekannt … haben«, Vereinsmitglieder werden konnten.41 Dies bedeutete eine demonstrative Betonung des Nationalismus unter Vermeidung rassistischer Elemente, die natürlich auch von den deutsch-national gesinnten Juden mitgetragen werden konnte. Eine solche Bestimmung wäre nun als Aufnahmekriterium gar nicht praktisch umsetzbar gewesen, sie war insofern ein populistisches Scheingefecht. In der Opportunität solcher Manöver verrät sich freilich die Verschärfung des sozio-kulturellen Klimas. Der Brünner Turnverein konnte jedoch nicht verhindern, dass sich in seinem Umfeld 1904 eine Turnkneipe »Friesen« bildete, in der offensichtlich völkisches Gedankengut gepflegt wurde und in der BTV-Mitglieder verkehrten.42 Unter der eisernen Führung Rohrers hielt der Brünner Turnverein zusammen mit dem Deutschen Turnverein Brünn in den Auseinandersetzungen der Folgejahre einen kompromisslos freiheitlichen Kurs durch. Die Brünner Vereine folgten Prag und Wien 1904 in der Gründung des liberalen Minderheiten-Turnkreises und hielten Kontakt zu Prag und Wien mit dem Aufbau des Vorturnerturnens und anderer Gemeinschaftsaktionen. Insbesondere mit der Pflege des gemeinschaftlichen österlichen »Vorturnerturnens«, das ab 1891 in jedem Jahr an wechselnden Orten stattfand,43 nutzten die liberalen Vereine die Multiplikator-Funktion der Vorturner für Meinungsbildungsvorgänge an der ›Basis‹ der Turnerschaft. Daran beteiligten sich neben den beiden Brünner Vereinen der DTV Prag und der Deutsch-Österreichische Turnverein Wien (die liberale Neugründung nach der antisemitischen Spaltung des Ersten Wiener Turnvereins), ferner Vereine aus Budweis, Saaz, Teplitz und Olmütz  ; zeitweilig nahmen auch Breslauer und Dresdner Vereine teil. Anders als dem isolierten Turnverein Prag gelang den Brünner Liberalen bis 1907 auch der Aufbau eines neuen Mährischen Turngaues im freiheitlichen Verband.44 40 RBerBTVBrünn für 1901  : Protokoll der aoHV v. 19.12.1901. 41 Exemplar der Satzungsnovelle von 1900 in  : MZA B26 sg. 17782/46. 42 Festschrift zur Feier des 75jährigen Bestandes des Brünner Turnvereins von 1861, Brünn 1936. [Vgl. zu ihr auch Anm. 60.] 43 Auflistung der Treffen (mit Übungen) bei Ernst Rychnovsky, Der deutsche Turnverein in Prag 1862–1912, Prag, 1912, S. 125–148. 44 RBerBTVBrünn für 1904, 1907. Festschrift BTV 1922 [Anm. 1], S. 14 f. Die Verteidigung der strikt freiheitlichen Linie im Verbund der liberalen Vereine Wiens, Prags und Brünns spiegelt sich

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Dennoch gerieten die Liberalen in den letzten Vorkriegsjahren sowohl in Mähren als auch in Brünn selbst mehr und mehr in die Defensive. Den völkischen Aktivisten gelang von Südmähren aus die Gründung neuer antisemitischer Vereine und die Bekehrung älterer Vereine  ; dies führte zwischen 1907 und 1913 zur Bildung des völkischen Turnbezirks Südmähren, der sich dank seiner aggressiven Aktivitäten kräftig ausbreitete. Er sollte in der Ersten Republik ein wichtiges Zentrum der völkischen Organisation des Deutschen Turnverbandes werden.45 Mit der Übersiedelung zweier gesamtösterreichischer Schlüsselfiguren der völkischen Turnbewegung nach Brünn wurde diese Organisationstätigkeit 1907/1908 in die Landeshauptstadt getragen und von hier aus auch landesweit wirksam betrieben. Aus Auspitz kam Prof. Fritz Hirth, der mit der Formulierung des Arierparagraphen im »Antrag Hirth« die Turnfehde ursprünglich ausgelöst hatte  ; aus Oberösterreich der Gymnasialturnlehrer und Funktionär Josef Potschka (ab 1917 Umbenennung in Freising), der in Brünn das Lehrerturnen und die Lehrerfortbildung in die Hand bekam. In seiner Festansprache zum zehnjährigen Bestehen des ATV Brünn forderte Hirth 1907, der Verein dürfe nicht als Bezirksverein im engen Rahmen eines Stadtviertels dahinvegetieren, sondern müsse der völkische Turnverein Brünns werden. Dies war allerdings bei der Ausgrenzungspolitik der Liberalen, die den ATV von der Brünner Kernstadt fern hielten, schwer möglich. So verfielen Hirth und Freising zusammen mit dem ATV Brünn auf den Gedanken, diese Politik durch die Gründung völkischer Konkurrenzvereine in den Innenstadtbezirken zu unterlaufen.46 So entstand 1908 im Ersten Brünner Gemeindebezirk mit der Hilfe des ATV, der einige seiner Mitglieder dazu abstellte, die »Deutsche Turngemeinde«. Hirth wurde ihr erster Vorsitzender.47 Im Jahr folgte 1912 der Turnverein »Friesen« (Zweiter Bezirk)48 und 1913 der Turnverein »Jahn« (Dritter Bezirk).49 Diese beiden Vereine verdankten ihr Entstehen einer konzertierten Aktion deutlicher in der Prager Festschrift aus der Vorkriegszeit [Rychnovsky Anm. 43] als in der Brünner Festschrift BTV (1922) aus der Nachkriegszeit  ! 45 Hierzu aus völkischer Sicht Freising [Anm. 3]. 46 Schilderung der Vorgänge in  : Festschrift ATV 1923 [Anm. 1]  ; zur Rolle Potschka-Freisings auch Freising [Anm. 3], S. 15 ff. 47 Polizeiakten mit Satzungen 1908–1925 in  : MZA B26 2525 / sg. 732. Hier auch Führungspersonal, Mitgliederzahlen und Berichte über die dauerhaft dürftigen äußerlichen Bedingungen. 1925 Fusion mit »Friesen«. 48 Polizeiakten mit Satzungen, Führungspersonal, Mitgliedszahlen 1912–1925 in  : MZA B26 sg. 79879/sp. 1925 Fusion mit »Turngemeinde«. 49 Polizeiakten mit Satzungen, Führungspersonal, Mitgliedszahlen 1913–1934 (Selbstauflösung) in  : MZA B26 2513 / sg. 541

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des inzwischen gegründeten Südmährischen Turngaus, von dem sie eine vorgedruckte Mustersatzung übernahmen.50 Alle drei Vereine führten in der Satzung den Arierparagraphen. Auch erlangten sie ohne Schwierigkeiten die Führung einer schwarz-rot-goldenen Trikolore. Diese Vereine erreichten mit je rund hundert keine hohen Mitgliederzahlen  ; auch blieb ihr finanzieller Rückhalt schwach, und sie taten sich schwer, geeignete Turnstätten aufzutun. Doch gelang es ihnen, sich in einem Netzwerk gesinnungsverwandter Vereinigungen anderer Art einschließlich völkischer Studentenkorporationen zu etablieren und für ihr öffentliches Auftreten in den letzten Vorkriegsjahren auch das Deutsche Haus zu nutzen. Die öffentlich wirksame Ausbreitung der völkischen Vereine aller Art in der Brünner Szene begann seit der Jahrhundertwende mit der Öffnung des Deutschen Hauses langsam, dann aber unaufhaltsam. Unter dem Dach allgemeiner völkischer Festlichkeiten erhielt auch der ATV Brünn Gelegenheit, sich dabei als Teilnehmer zu profilieren. Im Jahr 1909 konnte der Verein erstmals im Deutschen Haus ein eigenes Schauturnen ausrichten  ; nach eigener Darstellung eine Sensation und ein voller Erfolg. Seitdem waren die völkischen Turnvereine in diesem deutsch-kulturellen Zentrum voll etabliert. Folgt man der polizeilichen Berichterstattung und der Eigendarstellung,51 so verschoben sich Inhalt und Stil der Darbietungen damit recht erheblich – weg von der bisherigen national-freiheitlichen, wenn auch ebenfalls deutsch grundierten Tonlage hin zu Wehrsport, Kampfgesängen und einer eigentümlich archaisierenden Germanomanie. Von »Kampfreigen« der Frauen wird da berichtet wie von lebenden Bildern zur »Wacht am Rhein« mit Orgelbegeitung. »Teutoburgfeiern« (›Hermannsschlacht‹ 9 nach Chr.) fanden ebenso statt wie regelmäßige Sonnenwendfeiern und »Julfeste« (statt Weihnachten). Des Todes von Felix Dahn 1912 wurde eingehend gedacht  ; unter den dabei gesungenen Vertonungen seiner Gedichte befanden sich die bemerkenswerten Zeilen »So soll Europa steh’n in Flammen / bei der Germanen Untergang«. Gegen den Vorsatz des Südmährischen Turngaus, in Brünn ein Gauturnfest abzuhalten, wurde vonseiten der Gemeinde 1910 zunächst mit Erfolg (»keine Bauernstiefel auf dem Pflaster Brünns  !«) hinhaltender Widerstand geleistet, doch 1913 setzten sich die Völkischen, die längst auch im Stadtrat vertreten waren, durch  : Ihr Aufmarsch erregte daher erhebliches Aufsehen.52 50 Vorgedruckte Einheitssatzungen mit Eintragung der individuellen vereinsbezogenen Daten. Freising [Anm. 3], S. 32 ff. 51 Schilderungen in Festschrift ATV [Anm. 1]  ; Polizeiberichte MZA.B26 2487 / sg. 240. 52 Festschrift ATV [Anm. 1]  ; Freising [Anm. 3], S. 30 f., 35 ff.

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Angesichts dieser Entwicklung nahmen die Klagen des alten liberalen Brünner Turnvereins in den letzten Vorkriegsjahren über Stagnation und Mitgliederschwund zu  : Den aggressiven Werbemethoden der Völkischen hätten – so der nach innen gerichtete Vorwurf  – die bequem gewordenen eigenen Mitglieder nichts entgegenzusetzen  ; im Übrigen befinde sich das Turnen gegenüber den zahlreichen neuen Sportclubs aller Art, die »wie Pilze aus dem Boden« schössen, in einer schwierigen Situation.53 Auf diese zahllosen kleinen Sportvereine wie auch auf die Brünner Ableger der Christlich-deutschen Turnerschaft und der Arbeiter-Turnbewegung kann im Rahmen dieses Beitrages nur hingedeutet werden.54 In diesem stark diversifizierten Umfeld blieben die beiden liberalen Brünner Turnvereine gleichwohl nicht nur die mitgliederstärksten Einzelvereine, sondern bewahrten auch ihre gesellschaftliche Stellung in der Stadt bis zum Ende der Monarchie. Es nimmt daher nicht wunder, dass sie unter den neuen Bedingungen der Tschechoslowakischen Republik von den völkischen Vereinen sowohl umworben als auch unter Druck gesetzt wurden, ihre Sonderstellung aufzugeben. Ausblick  : Die Brünner deutschen Turnvereine in der Ersten Republik Die Zeit der Ersten Republik ist nicht Gegenstand dieses Beitrages, doch soll die weitere Entwicklung kurz angedeutet werden. Das bürgerlich-deutsche Turnwesen wurde ideologisch und organisatorisch in der alten Konstellation fortgeführt, wobei der nationalistische und antisemitische »Deutsche Turnverband« die bei weitem stärkste Kraft mit hegemonialer Geltung im Land blieb, sich ideologisch vor allem unter Konrad Henlein weiter verhärtete und zu einem paramilitärischen Wehrsportverband wurde. Das ist von Andreas Luh eingehend untersucht worden.55 Demgegenüber blieb die freiheitliche Restorganisation sehr schwach.56 In Mähren beherrschte der völkische Turngau Südmähren seit seiner Gründung 1913 die Szene, ihm gehörten auch die kleinen Brünner Vereine an.57 In der neuen Tschechoslowakischen Republik war das Deutschtum Brünns in 53 RBerDTVPrag für 1908. [Zum Beleg vgl. den Beitrag zu den Prager Turnvereinen, Anm. 1.] 54 Eindrucksvoll der Umfang dieses diversifizierten Vereinswesens nach dem Verzeichnis der Ver­ eins­akten für den Bestand MZA B26. 55 Andreas Luh, Der Deutsche Turnverband in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Vom völkischen Vereinsbetrieb zur volkspolitischen Bewegung, München 1988. 56 Zum freiheitlichen »Deutschen Turn-Kreis in der Tschechoslowakei« Luh, op. cit., S. 104 f. 57 Freising [Anm. 3], 32 ff., 50 ff.

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der nunmehr čechisch beherrschten Stadt in bis dahin ungewohnter Weise in die Minderheit versetzt und auch bedrängt.58 Alle Brünner Turnvereine, denen man ihre Übungsstätten genommen hatte, fanden als Gäste in der Halle des BTV Unterschlupf. Angesichts dieses politischen Wandels rückten alle Brünner Turnvereine trotz ihrer ideologischen Differenzen zusammen und bildeten Ende 1918 eine »Arbeitsgemeinschaft der deutschen Turnvereine Brünns«. Als jedoch 1919/20 die Frage eines Anschlusses auch der freiheitlichen Vereine an den (völkischen) »Deutschen Turnverband« zur Debatte stand, trat der DTV aus der Arbeitsgemeinschaft wieder aus. Diese wurde nunmehr in einen »Verband deutschvölkischer Turnvereine Brünns« umgewandelt. Augenscheinlich war (im Unterschied zum gesinnungsfest liberalen DTV Brünn) jedoch die innere ideologische Verfassung des BTV bereits brüchig geworden. Er blieb unter Wahrung seiner geltenden Satzung (d. h. ohne Übernahme des Arierparagraphen) in der völkischen Arbeitsgemeinschaft und erhielt 1920 einen Gaststatus im Südmährischen Turngau.59 Dieser wurde jedoch 1923 wieder gelöst, weil der Verein die Einführung des Arierparagraphen verweigerte. Daraufhin veranstalteten die Völkischen unter der Leitung der Turnkneipe »Friesen« eine Eintrittskampagne, um den BTV zu unterwandern. Um dies abzuwehren, sorgten die Liberalen 1924 für eine Wiedervereinung des BTV mit dem DTV Brünn, der eine stärkere jüdische Klientel hatte und gegen den Rassismus immun war. Erst jetzt trat der BTV dem (mitgliederschwachen) freiheitlichen »Deutschen Turn-Kreis in der Tschechoslowakei« bei.60 Der dem BTV zugehörigen Turnverbindung »Friesen«61 wurde gestattet, sich selbständig dem völkischen Turngau Südmähren anzuschließen. All diese Entscheidungen fanden unter heftigem internem Streit und bei knappen Abstimmungsergebnissen statt, ein Zeichen der gewachsenen Inhomogenität des BTVBrünn. Die mittlerweile fünf62 völkischen 58 Allgemein zuletzt Friedrich Prinz (Hg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas, Bd. 2  : Böhmen und Mähren, Berlin 1993, 22002, darin  : Auf dem Weg in die Moderne, 304–481, hier S. 379–416. Zu Brünn Schwarz [Anm. 4], S. 27 f.: Seit 1918 čechische Stadtverwaltung. Bevölkerungsentwicklung (durch Umorientierung, Eingemeindungen und Zuwanderung)  : 1880  : 48.600 Dt., 32.100 Č.; 1919  : 45.200 Dt., 80.100 Č.; 1930  : 52.200 Dt., 200.200 Č. 59 Festschrift BTV 1922 [Anm. 1], S. 30 ff. 60 Zum Ganzen (aus späterer völkischer Perspektive) Festschrift zur Feier des 75jährigen Bestandes des Brünner Turnvereins von 1861, Brünn 1936. 61 Falsche Aktenablage zur »Turnverbindung Friesen« beim Akt »Turnverein Friesen«  : MZA B26 S. 79879/sp. 62 Seit 1921 bestand auch in Brünn ein (völkisch orientierter) Deutscher Turnverein Guts-Muths, der kaum reüssierte, 1926 seinen Anschluss an den ATV Brünn erwog und sich 1931 mangels Mitglieder auflöste. MZA B26 2468A sg. 133.

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Vereine festigten 1924 ihre Dachorganisation als »Völkischen Turnerschaft«, die die ideologische »Dietarbeit« und die einschlägigen nationalpolitischen Aktivitäten koordinierte und überwachte. Diese Vereine waren voll in den nationalistisch-rassistischen Turngau Südmähren des Deutschen Turnverbandes integriert und wiesen starke personelle Querverbindungen zur DNSAP auf.63 Sie fusionierten in mehreren Schritten bis 1933 zur Deutschen Turngemeinde Brünn (DTG Brünn).64 Gleichzeitig schritt der Zerfall des BTV fort. Anlässlich einer Auseinandersetzung um die Teilnahme am Deutschen Turnfest von 1933 traten viele Juden in Anbetracht der politischen Lage in Deutschland aus dem Verein aus. Der personell und v. a. auch finanziell geschwächte, zugleich zunehmend unterwanderte Verein war nunmehr gwm. ›sturmreif‹. 1935 wurde mit einer Kampfabstimmung ein völkisch orientierter Vorstand installiert, der Kontakt zur DTG Brünn aufnahm und ein finanzielles Hilfsersuchen an den Südmährischen Turngau richtete. Dies führte zum Austritt weiterer Liberaler, die 1935 den Turnund Sportverein Brünn gründeten. Völkische DTG Brünn und BTV Brünn fusionierten nunmehr 1936 unter dem Traditionsnamen »Brünner Turnverein von 1861«, der in seiner neuen Satzung den Arierparagraphen festschrieb und Mitglied des Deutschen Turnverbands wurde.65 Er ging 1939 unter diesem Namen in die nationalsozialistische Sportorganisation über  ; ein čechisches Dekret von 1946 verfügte seine Auflösung.66 In Prag wahrte dagegen der alte DTV Prag in absoluter Isolierung seine ideologische und organisatorische Unabhängigkeit bei schwindender Mitgliederzahl. Die Ereignisse um die Annexion des Sudetenlandes im Herbst 1938, die nachfolgend in der verkleinerten Tschecho-Slovakei zudem antisemitische Aktivitäten auslösten, scheinen den stark jüdisch bestimmten Deutschen Turnverein in die Resignation getrieben zu haben  : Er beschloss Anfang Dezember 1938 seine Selbstauflösung und Vermögensliquidation  ; der Vorstand resignierte. Wegen Verfahrensfehlern erzwang jedoch eine von Vorstandsmitgliedern des DMTV Prag angeführte Gruppe[!] eine Wiederholung der Hauptversammlung, 63 Die Polizeiakten geben ein deutliches Bild des völkischen Aktivismus und der Politisierung  : MZA B26 2591 cj. 79880/39 ( Jahn)  ; sg. 79879/sg. (Friesen)  ; 2525 sg. 732 (Turngemeinde)  ; 2487 sg. 240 und 3158 sg. 17927/46 (ATV)  ; 2545B sg. 1407 (Völkische Turnerschaft). 64 1925/6 Fusion von Turngemeinde und TV Friesen zur TG Friesen Brünn – 1934 Auflösung u. Beitritt des ATV Brünn und des TV Jahn, Name des Gesamtvereins »Deutsche Turngemeinde Brünn«. Vgl. auch Festschrift BTV 1936 [Anm. 60]. 65 Vorgänge (aus völkischer Sicht) in  : Festschrift BTV 1936, op. cit.; dazu Polizeiakten mit Satzung von 1936 in  : MZA B26 sg. 17782/46 66 Polizeiakten 1936–1946 in  : MZA B26 sg. 17782/46.

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auf der ein neuer, offensichtlich völkisch bestimmter Vorstand gewählt und die Fortführung des Vereins beschlossen wurde. Vermutlich plante der DMTV mit dieser ›feindlichen Übernahme‹ eine Fusion, die ihn in den Besitz des wertvollen Immobilarvermögens des DTV gebracht hätte. Im März 1939 erklärte der DMTV gegenüber den deutschen Besatzungsbehörden (ähnlich dem Vorgehen des völkisch gewordenen Brünner Turnvereins) seinen Entschluss, die Vereinsarbeit fortzusetzen. Anders als in Brünn verfügte der Reichsprotektor jedoch Ende 1939 die Auflösung beider Prager Vereine.67

67 Vorgänge in  : SUA PR V 43/5 (Polizeiakten DTVPrag), zum DMTVPrag ferner PR 43/3. [Archivsiglen in dem Beitrag zu den Prager Turnvereinen, Anm. 1.]

Die Wiener Rothschilds seit 1820 und die Gründung der Creditanstalt 1855 Der Aufstieg des Hauses Rothschild zu europäischer Bedeutung1 ist mit den napoleonischen Kriegen und den finanziellen Transaktionen im Rahmen der Kriegsfolgelasten verknüpft. Ihre europaweiten, wesentlich auch durch die eigene Familie vermittelten Verbindungen und der Aufbau eigener Nachrichten- und Kurierdienste verschafften den Rothschilds rasch eine überlegene Position in dem risikoreichen, aber auch gewinnträchtigen Geschäft der Zahlungsvermittlung, des Geldtransfers, des Börsenhandels mit Staatspapieren und schließlich der Begebung neuer Staatsanleihen. Auch die Verbindung zur österreichischen Staatsführung2 nahm mit Aufträgen zum Transfer von Kriegsentschädigungen und zur Abwicklung anderer kriegsbedingter Verbindlichkeiten ihren Anfang. Für die Pflege der Beziehungen zu Wien wurde Amschel Meyers Sohn Salomon zuständig, der 1820 seinen ständigen Aufenthalt in der Kaiserstadt nahm. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Engagement des Hauses in den österreichischen Staatsfinanzen eine neue Qualität erreicht  : Die Rothschilds wurden mit der Begebung von Anleihen betraut, die der Währungsrestauration dienen sollten. Mit diesen Aktionen eroberte Rothschild sich eine feste Position auf dem Wiener Platz, der bis dahin von anderen sog. Großhändlern dominiert wurde. Nach einer älteren Epoche jüdischer Hoffaktoren3 war im späteren 18. Jahrhundert in Wien eine calvinistische Schweizer Gruppe von Bankiers hochgekommen, die ihr Vermögen vor allem durch Heereslieferungsgeschäfte und in Kreditgeschäften mit dem Staat und dem hohen Adel gemacht hatten. Die bedeutendsten Familien, die Fries, Geymüller und Steiner, ragten in das 19. Jahrhundert hinein, doch schieden Steiner und Fries bereits in den 1820er Jahren aus  ; Geymüller ging 1841 in Konkurs.4 Ihr Erbe traten die Firma Arnstein 1 Grundlegend Bertrand Gille, Histoire de la Maison Rothschild, Bd. 1  : Dès Origines à 1848, Bd. 2  : 1848–1870, Genf 1965, 1967. Hier Bd. 1, S. 57–105. Stark personenbezogen mit farbigen Schilderungen das ältere Werk von Egon Caesar Conte Corti, Der Aufstieg des Hauses R ­ othschild 1770–1830, Leipzig 1927. 2 Für das Folgende Gille 1 [Anm. 1], S. 85–101. 3 Zu den frühen österreichischen Hoffaktoren Heinrich Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, 6 Bde. Berlin 1953–1967, Bd. 3, S. 231–242. 4 Hanns Leo Mikoletzky, Schweizer Händler und Bankiers in Österreich vom 17. bis zur Mitte des 19.  Jahrhunderts, in  : Österreich und Europa. Festgabe für Hugo Hantsch, Graz u. a. 1965, S. 149–181.

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& Eskeles (seit 1787) und dann Rothschild (seit 1820) an, daneben stieg der Großhändler griechischen Ursprungs Georg Sina bis 1830 in die Spitzengruppe auf  ; sein Reichtum war durch die Belieferung des staatlichen Tabakmonopols und durch Finanzgeschäfte mit dem ungarischen Adel entstanden. Alle drei Familien wurden vom Kaiser nobilitiert. Darum herum gruppierten sich weitere minder vermögende jüdische Wechselhäuser. Geymüller und Eskeles spielten bei der Nationalbankgründung von 1816 eine beachtliche Rolle  ; sie und Sina (Geymüller bis 1841) saßen Jahrzehnte hindurch auch im Direktorium der Bank.5 Der stetige Anleihebedarf6 der österreichischen Monarchie in der Restaura­ tions- und Vormärzzeit lag begründet im unbewältigten Weiterschleppen der Schuldenlast und der Währungsprobleme aus der napoleonischen Zeit, im periodischen Rüstungsaufwand zur Sicherung der österreichischen Großmachtstellung und in der relativen Stagnation der Staatseinnahmen unter den politischen Rahmenbedingungen des spätabsolutistischen ›Metternichschen‹ Systems. Zur Sicherung dieses Bedarfs schlossen sich die Häuser Rothschild, Arnstein & Eskeles und Sina zu einem Konsortium zusammen, das die Anleihen regelmäßig im Wege der vertraglichen »Submission« übernahmen, also zu einem festen Kurs bei Vereinbarung fester Ratenzahlungen und mit Übernahme des Obligationenverkaufs an den europäischen Börsen auf eigene Rechnung. Der Staat erhielt dadurch ein berechenbares stetiges Einkommen und überließ das Börsengeschäft mit allen Risiken und Chancen den beteiligten Privatbankiers. Wegen seiner überragenden Mittel und wegen der Internationalität dieses Effektenhandels, der zu einem sehr erheblichen Teil an der Frankfurter und Amsterdamer Börse getätigt wurde, nahm das Gesamthaus Rothschild innerhalb des Konsortiums rasch eine dominierende Stellung ein. Aber auch die beiden anderen Bankiers besaßen eine strategische Position, weil sie als Direktoren der Nationalbank und als Wechselzensoren deren Darlehens- und Wechseldiskont- bzw. -rediskontgeschäft beherrschten. Auch dieses Geschäft war so gut wie ausschließlich im Umfeld der staatlichen Kreditbedürfnisse angesiedelt, wie überhaupt die Basis fast des gesamten Banknotenumlaufs in der engen Beziehung von Bank und Fiskus begründet lag. Die Ausbeutung des Nationalbankdiskonts bei starrem niedrigem Diskontsatz von 4 % und Zugangsmonopol we5 Harm-Hinrich Brandt, Das Wirtschaftsbürgertum Österreichs von den Anfängen der Industrialisierung bis 1848, in  : Karl Möckl (Hg.), Wirtschaftsbürgertum in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, München 1996, S. 47–83, mit umfangreichen Lit.-Angaben. 6 Zum Folgenden die Überblicksdarstellung bei Harm-Hinrich Brandt, Der Österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde. Göttingen 1978, Bd. 1, S. 119–129.

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niger Häuser war neben dem Anleihesubmissionsgeschäft eine weitere Quelle erheblicher Reichtumsbildung.7 Die Abhängigkeit des staatlichen Fiskus von der Wiener Haute Finance führte zu einer engen Interessenverfilzung, die ihren politischen Ausdruck in einem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Metternich und Salomon Rothschild fand.8 Alle genannten Firmen sowie viele der übrigen Wiener Häuser betrieben in Restaurations- und Vormärzzeit über die Staatsfinanzierung hinaus das Darlehensgeschäft und die Begebung von Anleihen für den erbländischen und ungarischen Hochadel, wobei neben Statuserhalt und Statuskonsum auch Investitionen in produktive Unternehmungen eine nicht unbedeutende Rolle spielten.9 Auch in diesem Bereich nahm das Wiener Haus Rothschild sehr bald die führende Stellung ein. Der eigentliche Durchbruch zum industriellen Großunternehmen auf Aktienbasis ging jedoch wie überall in Mitteleuropa vom privaten Eisenbahnbau aus, und auch hier ging Salomon Rothschild in Österreich mit der Gründung der Nordbahngesellschaft im Jahr 1836 voran. Diese Unternehmung wurde mit dem Erwerb und dem Ausbau von montanindustriellen Unternehmen in Witkowitz verbunden, womit die Wiener Rothschilds vollends über den bisherigen Horizont der finanziellen Engagements hinausgingen.10 Im gleichen Jahr wurde der Österreichische Lloyd in Triest als Aktiengesellschaft gegründet, und auch an der Stützung dieses Unternehmens war Rothschild  – durch die Vermittlung Metternichs – wesentlich beteiligt.11 Der Erfolg der Nordbahngründung wurde zum Auslöser für das Streben weiterer Wiener Häuser nach Einsenbahnkonzessionen, dies führte in der Folge zu einem heftigen Konkurrenzkampf unter den drei Häusern des Wiener Konsortiums um die begehrten Linien nach Osten und Süden.12 Die gegnerischen   7 Zu den Verhältnissen der Nationalbank Brandt 1, op. cit.), S. 108–114. Zur zeitgenössischen Kritik eine umfangreiche Pamphletliteratur. Sachlich besonders eindringend Johann B. Zugschwerdt, Das Bankwesen und die privilegierte österreichische Nationalbank, Wien 1855.   8 Corti [Anm. 1], Kap. 4 passim  ; ders., Das Haus Rothschild in der Zeit seiner Blüte 1830–1871, Leipzig 1928, Kap.1, 5 u. 6 passim.  9 Hierzu ausführlich Alois Brusatti, Unternehmensfinanzierung und Privatkredit im österreichischen Vormärz, in  : MÖStA 13 (1960), S. 331–379. 10 Gründungsvorgang ausführlich bei Corti, Blüte [Anm. 8], S. 104–126  ; Gille 1 [Anm. 1], S. 274 ff. 11 Gille, Rothschild 1, op. cit., S.281 f.; Brusatti [Anm. 9], S. 361 ff. 12 Instruktiver Überblick über die frühe Eisenbahngeschichte bei Hermann Strach, Geschichte der Eisenbahnen Österreich-Ungarns. Von den ersten Anfängen bis zum Jahre 1867, in  : Geschichte der Eisenbahnen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, 4 Bde. in 5, Wien u. a. 1898–99, Bd. 1,1, S. 73–503.

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Koalitionen, die sich in Wien bei der Wiederaufnahme des Privatbahnsystems 1854 und der Credit-Anstalt-Gründung formierten, also der Übergang von Eskeles und Sina zum Crédit Mobilier als Gegnern des Hauses Rothschild, hatte in diesen Vorgängen der Vormärzzeit ihren Ursprung. Zugleich offenbarten die Rentabilitätsprobleme der frühen Bahnlinien (mit Ausnahme der florierenden Nordbahn) das strukturelle Dilemma der an unmittelbarem Gewinn orientierten Privatinvestitionen in wenig entwickelten Regionen, wo der Bahnbau eine infrastrukturelle Vorleistung sein musste. Die Einsicht in diese Lage und der Wille zu etatistischer Lenkung dieser entwicklungspolitischen Schlüsselinvestitionen veranlassten Carl Friedrich Frh.  v. Kübeck als Hofkammerpräsidenten, den Bahnbau zur Staatssache zu erklären und in den 1840er Jahren mit dem zügigen Bau von staatlichen Strecken zu beginnen. Die schwere europäische Börsenkrise 1846/47 ermöglichte es ihm zudem, die taumelnden jungen Bahnaktien aufzukaufen, so dass nach der Revolution außer der Rothschildschen Nordbahn so gut wie alle österreichischen Bahnen sich in Staatsbesitz befanden.13 Diese Ausgangssituation sollte dann bei der Reprivatisierung ab 1854 für das große Ringen zwischen den Gruppen Rothschild und Crédit Mobilier bedeutsam werden. Im Zentrum der vormärzlichen Beziehungen des Hauses Rothschild zu Österreich standen aber doch die Kreditfinanzierung des Staatshaushaltes und die enge Bindung an das System Metternich, die in dem Vertrauensverhältnis zwischen Salomon und dem Staatskanzler auch ihren ganz persönlichen Ausdruck fand. Das Engagement des Wiener Syndikats war freilich nicht vollständig ›auf Gedeih und Verderb‹ angelegt. Die Häuser hatten in den Anleihesubmissionsverträgen der 40er Jahre vorsorglich den Passus aufgenommen, dass bei Sinken der Börsenkurse für das Regelpapier, die 5%igen Metalliques, unter einen bestimmten Satz der Vertrag aufgelöst sein sollte. Im letzten Anleihevertrag vom Februar 1847 war dieser Kursstand mit 98 festgelegt worden. Die Ende 1847 einsetzende Krisenstimmung in Europa, die die Monarchie mit dem Schweizer Sonderbundskrieg und der Unruhe in Oberitalien unmittelbar berührte, sorgte dafür, dass die Kurse der österreichischen Papiere ab Anfang Januar zu weichen begannen. Metternich mahnte bei Rothschild vergeblich Stützungskäufe an. Der Kurs erreichte Anfang Februar 1848 die kritische Marke, und das Wiener Syndikat stellte seine Zahlungen ein. Österreichs Staatshaushalt brach zusammen, bevor die Pariser Februarereignisse das Signal zur europäischen Revolution gaben. Die letzten verzweifelten Bemühungen Kübecks, durch eine Einberufung von 13 Brandt 1 [Anm. 6], S. 40, 132 ff., 316 ff.

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Generalständen und deren Garantiererklärungen den Staatskredit wieder flott zu machen, wurden durch die Märzrevolution überrollt.14 Das Regime brach zusammen  ; Metternich floh ins Exil, und Salomon Rothschild folgte einige Monate später, als der radikale Aufstand der Straße Anfang Oktober auch seine Hotel-Residenz nicht verschonte.15 In Paris hatte der Zusammenbruch der Juli-Monarchie des Hauses Orleans in ganz ähnlicher Weise das Haus Rothschild mit sich gerissen und aus seiner finanzpolitischen Vorzugsstellung herauskatapultiert. Auch James Rothschild setzte zu einer Flucht nach Brüssel an, blieb dann aber in Paris.16 Seine Stellung sollte er jedoch unter dem Regime des Prinz-Präsidenten und Kaisers Napoleon III. nicht zurückerlangen.17 Neue Finanzkräfte, die von den Rivalen Rothschilds Fuld und Pereire angeführt wurden, beherrschten die Szene  ; vor allem aber bestimmte ein neuer Stil die Finanzpolitik des Regimes, der seinen plebiszitär-autokratischen Grundlagen entsprach. Für den Anleihebedarf des Staates wurde jetzt die Form der breit angelegten Massensubskription entwickelt, mit der ein unmittelbarer Appell an das Renten suchende Publikum gerichtet wurde. Sie erfüllte damit zugleich die Funktion einer plebiszitären Bestätigung des kaiserlichen Regimes. Ebenso wichtig für die sich entfaltende Dynamik des kapitalistischen industriewirtschaftlichen Systems wurde die ›Erfindung‹ der machtvollen Gründerbank auf Aktienbasis, die als »mobilisation du capital« wie auch als »democratisation du capital« ein breites Publikum zum materiellen Träger eines bankmäßig gesteuerten Industrialisierungsprozesses machte.18 Konnte doch auf diesem Wege der Assoziation ein Investitionspotential zusammengebracht werden, das die Familienvermögen der herkömmlichen Privatbanken überstieg. Im November 1852 wurde das paradigmatische Leitinstitut dieses neuen Typs, der Crédit Mobilier der Brüder Pereire, in Paris konzessioniert. Das Haus Rothschild wurde durch diesen Vorgang in seiner Position und wesentlich auch in seiner traditionellen Vorstellung von kreditwirtschaftlicher Solidität herausgefordert. Es ist bekannt, mit welcher Abwehr James Rothschild in Paris darauf reagierte.19 Er formulierte auch in grundsätzlicher Weise seine Kritik an den 14 Zum gesamten Vorgang Brandt 1 [Anm. 6], S. 131–151. 15 Corti, Blüte [Anm. 8], S. 282–295 passim. 16 [Wie Anm. 15, passim.] 17 Dazu ausführlich Gille 2 [Anm. 1], S. 27–91. 18 Bertrand Gille, La fondation du Crédit mobilier et les idées financières des frères Pereire, in  : ders. La banque en France au XIXe siècle, recherches historiques, Paris 1970, S. 125–143. 19 Gille 2 [Anm. 1], S. 93–121 (»Querelle de Principe«).

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unseriösen Aspekten der neuen Institution sowie an den Unsicherheitsfaktoren einer auf Aktien gegründeten Großbank nicht zuletzt für die von ihr abhängige Klientel. Nach einer Weile des abwehrenden Attentismus und der Formierung von Gegenkoalitionen der Pariser Privatbanken lernten die Rothschilds aber, dass sie selbst sich die neue Organisationsform zunutze machen mussten, um weiter mithalten zu können in der neuen Welt der groß dimensionierten Investitionen, ja dass ihnen mit dem Einstieg als Großaktionär in eine Aktienbank neue Hebel einer Steuerungskompetenz zufielen. Einer der Auslöser hierfür war die Gründung der Darmstädter Bank 1853 unter Beteiligung des Crédit Mobilier, die der Bankwelt das Signal für eine europäische Expansion des neuen Pariser Unternehmens gab.20 Die Gründung der Wiener Credit-Anstalt sollte das erste große Beispiel für den Erfolg dieses Umdenkens der Rothschilds werden. In Wien wurde das Haus Rothschild nach den revolutionären Ereignissen ebenfalls vorerst an den Rand gedrängt. Salomon kehrte nie mehr zurück. Seine Prokuristen wahrten vor Ort die Interessen des Hauses, und bald begann der älteste Sohn Anselm, im Pendelverkehr zwischen Frankfurt und Wien die Leitung der österreichischen Angelegenheiten zu übernehmen. Anfang des Jahres 1855 siedelte er fest nach Wien über. Nach dem Ende der Revolution nahm das Haus seine alten Beziehungen zur Ersten Wiener Gesellschaft wieder auf  ;21 insbesondere zum zurückgekehrten Metternich und zu dem alten Hofkammerpräsidenten Kübeck, der seit Ende 1850 als Reichsratspräsident erneut eine bedeutende Rolle zu spielen begann, wahrte Anselm die alte Vertrauensstellung.22 Zur Wiener Finanzverwaltung aber bestand vorerst eine deutliche Distanz. Mit dem Zusammenbruch der österreichischen Metallkernwährung und der klassischen Anleihefinanzierung ging die Deckung der exorbitanten Defizite, die vor allem durch den Krieg in Lombardo-Venezien und Ungarn bedingt waren, auf die Notenpresse über. Nach der Wiederherstellung der monarchischen Gewalt und dem Ende der Sezessionskriege setzte sich die Defizitwirtschaft jedoch 20 Gille 2 [Anm. 1], S. 217 ff. Rondo E. Cameron, Die Gründung der Darmstädter Bank, in  : Tradition. ZS f. Firmengesch. u. Unternehmerbiographie 2 (1957), S.104–131  ; ders., The Crédit Mobilier and the Economic Development of Europe, in  : JournPolitEconomy 61 (1953), S. 461–488. 21 Corti, Blüte [Anm. 8], S. 308 f., 369 ff. 22 Hierzu zahlreiche Belege in  : Max Frh. v. Kübeck (Hg.), Tagebücher des Carl Friedrich Freiherrn Kübeck auf Kübau, 2 Bde. in 3, Wien 1909, Bd. 2  ; ders. (Hg.), Metternich und Kübeck. Ein Briefwechsel, Wien 1910  ; Friedrich Walter (Hg.), Aus dem Nachlasse des Freiherrn Carl Friedrich Kübeck von Kübau. Tagebücher, Briefe, Aktenstücke 1841–1855, Graz u. a. 1960. Vgl. auch Corti [wie Anm. 21].

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unvermindert fort, bedingt durch den ungebrochen hohen Militäraufwand sowie die Modernisierung und Expansion der Zivilverwaltung. Im Kampf um die Staatsfinanzen mühte sich Philipp Frh. v. Krauß als Finanzminister, der seit April 1848 an der Spitze des Ressorts stand. Der knochentrockene, auf dem Parkett der Haute Finance unbewanderte Finanzbeamte entsprach insofern der politischen Situation, als er auf dem Boden des neuen monarchischen Konstitutionalismus stand und von ihm das Heil der Haushaltskontrolle und Ausgabenbeschränkung erwartete. Aus Anlass der formellen Rückkehr zum Absolutismus trat er Ende 1851 zurück. Unter der Prämisse des Vorrangs des Haushaltsausgleichs vor der Währungssanierung kämpfte er vor allem gegen die Militärausgaben und deckte das Defizit mit zwangskursbewehrtem Papiergeld, legte zu dessen Abschöpfung aber auch einige Anleihen im Stil der neuen publikumsorientierten Subskriptionsanleihe auf, an deren Zeichnung sich wie alle Wiener Bankiers auch Rothschild mit relativ kleinen Summen beteiligte. Diese Anleihen waren anfänglich nicht ohne Erfolg, fanden aber angesichts der bleibend schlechten Haushaltslage und der drohenden Rückkehr zum Absolutismus immer weniger Anklang. Insbesondere konnte Krauß das Problem nicht lösen, für Silberzuflüsse aus dem Ausland zur Absicherung jener staatlichen Zahlungsverpflichtungen zu sorgen, die in harter Währung zu leisten waren.23 Gegen die Börse mit ihrer gegen die Papierwährung gerichteten Valuta-Spekulation hegte er ein tiefes Misstrauen und vermied es, sich auf die Haute Finance näher einzulassen. An dieser Spekulation waren nicht zuletzt Eskeles und Sina, die dabei als Direktoren den Nationalbankdiskont ausbeuteten, führend beteiligt.24 Um eine Rückkehr zu den vormärzlichen Methoden der Kredit- und Währungspolitik und damit um eine Wiederannäherung an das Haus Rothschild bemühte sich hingegen Kübeck, der ab 1851 als Reichsratspräsident die Wiederaufrichtung des Absolutismus betrieb und einige Jahre hindurch das besondere Vertrauen des jungen Kaisers besaß. Kübeck, der zuerst Krauß unnachsichtig bekämpfte und Anfang 1852 als seinen Schützling Andreas Frh. v. Baumgartner zum Finanzminister einsetzen ließ, kehrte zur operativen Trennung von Haushalts- und Währungsproblem zurück. Dabei setzte natürlich auch er auf den Abbau der Defizite. Die Nationalbank wurde (wie schon nach 1816) mit der Übernahme des Staatspapiergeldes betraut und vertraglich zu dessen Tilgung instand gesetzt  ; für die Defizitdeckung sollten wieder Submissionsanleihen im vormärzlichen Stil angebahnt werden, die vor allem im Ausland unterzubringen 23 Dazu Brandt 2 [Anm. 6], S. 624–668. 24 Brandt 2 [Anm. 6], S. 638 f., 651 ff., 664 ff.

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waren.25 Hierzu bedurfte es der Mitwirkung v. a. der Rothschilds. Auf die Rückkehr zur Praxis der Submissionsanleihe, die die Verwaltung von dem ›plebiszitären‹ Subskriptionsverfahren wieder unabhängig machen sollte und das Verkaufsund Kursrisiko den Banken zuschob, ließ sich Anselm Rothschild jedoch nicht ein bzw. stellte so exorbitante Bedingungen, dass sie einer Absage gleich kamen. Solange Krauß im Amt war, verweigerte Anselm jeden substantiellen Wiedereinstieg in die österreichischen Finanzoperationen.26 Nach dem Übergang des Ministeriums an Baumgartner besserte sich das Einvernehmen mit dem Gesamt­ haus  ; im Juni 1852 konnte Ministerialrat v. Brentano, den man als Triestiner Kaufmann in die Finanzverwaltung geholt hatte, als Vertrauter des neuen Minis­ ters nach London reisen, um mit Lionel Rothschild über eine Silberanleihe zu verhandeln. Die Mission hatte Erfolg  ; zum erstenmal seit der Revolution war das Gesamthaus Rothschild wieder bereit, sich für die österreichischen Finanzen zu engagieren. Bezeichnender Weise kam aber auch jetzt kein Submissionsvertrag mehr zustande  ; die Rothschilds übernahmen vielmehr die Auflage der Anleihe an der Londoner und Pariser Börse in Kommission auf Rechnung der Finanzverwaltung, hatten sich um die Kurspflege zu kümmern und gewährten auch Vorschüsse auf die Anleihe, selbstverständlich all dies gegen entsprechende (hohe) Provisionen bzw. Zinsen. Der erste Erfolg veranlaßte Wien, Brentano zur Vereinbarung eines Anschlussgeschäfts  – zu möglichst verbesserten Konditionen – im August 1853 wieder nach London zu schicken. Doch inzwischen hatte sich die Lage auf dem Kapitalmarkt angesichts der Orientkrise deutlich verschlechtert  ; die Rothschilds schlossen zwar (zu härteren Konditionen) einen neuen Kommissionsvertrag, die Auflage der Anleihe hatte jedoch nur geringen Erfolg, und im Frühjahr 1854 wurde der Vertrag aufgelöst. Ein neuer Versuch im Mai 1854 erbrachte trotz Einsatzes der Rothschilds in Frankfurt und Amsterdam nur wenige Millionen.27 Dann beendete der Krimkrieg alle weiteren Versuche einer konventionellen Anleihepolitik. Nach der wesentlich von Kübeck mitgestalteten Rückkehr Kaiser Franz Josephs zum Absolutismus (31. Dezember 1851) hatten die Rothschilds also immerhin für einige Jahre ihre traditionelle Politik der finanziellen Stützung Österreichs wieder aufgenommen. Zur Übernahme von Risiken im vormärzlichen Stil war das Haus aber nicht mehr bereit, konnte es wohl angesichts der politischen Unsicherheiten, der schwachen finanziellen Position Österreichs, der gewachsenen Ansprüche an den Kapitalmarkt und der 25 Brandt 2 [Anm. 6], S. 653 ff., 671 ff. 26 Brandt 2 [Anm. 6], S. 654–664. 27 Brandt 2 [Anm. 6], S. 672–676.

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Relativierung des eigenen Gewichts im Ensemble der neu aufgestiegenen Fi­ nanz­institutionen auch nicht mehr sein. In der Folgezeit führten jedoch die gigantischen Anforderungen, die die öster­reichische Krimkriegspolitik an die Finanzen mit sich brachten, eine völlige Wende in der österreichischen Finanz- und Wirtschaftspolitik herbei. Angesichts der neuen Herausforderung bemächtigte sich Innenminister Bach der finanzpolitischen Leitung, schob den alternden Kübeck beiseite und setzte – zusammen mit dem Außenminister Graf Buol-Schauenstein – beim Kaiser ein Programm durch, mit dem Österreich politisch an die Seite der Westmächte gezogen ­wurde.28 Diese Kraftanstrengung der Monarchie sollte durch die Auflage einer gigantischen »Nationalanleihe« von 500 Mio. fl in Form einer Massensubskription eine plebiszitäre Grundlage nach napoleonischem Vorbild erhalten, mit der die Mittel zur Defizitdeckung und zugleich der Währungssanierung bereitgestellt werden sollten.29 Daneben war in der Regierung seit längerem die richtige Erkenntnis gereift, dass der von Kübeck eingeleitete staatliche Eisenbahnbau, der seit 1848 unverändert fortgeführt worden war, wegen seiner Rückkoppelung an das allgemeine Haushaltsdefizit stagnierte bzw. bei weitem nicht das wünschbare Tempo erreichte. Der erneute Übergang zum Privatbahnbau, für den 1854 die Grundlagen durch ein neues Konzessionsgesetz bereitgestellt wurden, sollte den Verkehrsausbau wieder dynamisieren.30 Der dritte von Bach verantwortete Akt in diesem Gesamtkomplex war schließlich – auch im Sinne einer Flankierung der politischen Westorientierung – der Verkauf eines großen Teil des staatlichen Bahnbesitzes weit unter Wert an eine französische Finanzgruppe unter Führung der Pereires.31 Vor allem dieses Aufsehen erregende Geschäft, um das sich in Wien die wildesten Gerüchte rankten, bedeutete ein finanzpolitisches »renverse28 Zur Krimkriegspolitik am überzeugendsten Bernhard Unckel, Österreich und der Krimkrieg. Studien zur Politik der Donaumonarchie in den Jahren 1852–1856, Lübeck/Hamburg 1969. Vgl. auch Paul W. Schroeder, Austria, Great Britain and the Crimean War. The Destruction of the European Concert, Ithaca/New York 1972  ; Winfried Baumgart (Hg.), Akten zur Geschichte des Krimkrieges, Serie 1  : Österreichische Akten, 3 Bde., München 1979–1980, jeweils die Einleitungen. 29 Zur Nationalanleihe jetzt die umfassende Arbeit von Georg Christoph Berger Waldenegg, Mit vereinten Kräften  ! Zum Verhältnis von Herrschaftspraxis und Systemkonsolidierung im Neoabsolutismus am Beispiel der Nationalanleihe von 1854, Wien u. a. 2002. 30 Brandt 1 [Anm. 6], S. 315–321. 31 Brandt 1 [Anm. 6], S. 322  ; Brandt 2, S. 707 f. Dazu Walter, Nachlaß Kübeck [Anm. 22], S. 158, 162 f., Max Kübeck, Briefwechsel [Anm.  22], S.  191  ; Josef K. Mayr (Hg.), Das Tagebuch des Polizeiministers Kempen von 1848–1859, Wien/Leipzig 1931, S. 342. Zu den Einzelheiten der beteiligten Häuser und der Bahnlinien Aloys Frh. v. Czedik, Der Weg von und zu den österreichischen Staatsbahnen, 3 Bde., Teschen u. a. 1913, Bd. 1 passim.

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ment des alliances« größten Stils, denn es verschaffte den stärksten internationalen Rivalen der Rothschilds mit einem Schlag eine überaus starke Position in der Wiener Haute Finance, die auch dadurch flankiert wurde, dass die Pereires sich bei der Übernahme der Bahnen mit Eskeles und Sina verbündet hatten, also jenen alten lokalen Rivalen der Rothschilds, die sich im letzten Vormärzjahrzehnt in Eisenbahnfragen heftig zerstritten hatten. Die Pereires gedachten ihre neue Stellung sogleich noch weiter auszubauen, indem sie bereits Ende 1854 auch die Gründung eines Crédit Mobilier in Wien ins Spiel brachten.32 Mit Beginn des Jahres 1855 machte sich in Wien über die Resultate dieser Politik eine gewisse Katerstimmung breit. Namentlich das »schmachvolle Geschäft« (Anselm Rothschild)33 des Bahnverkaufs geriet in die Kritik der Spitzenpolitiker und der heimischen Haute Finance. Bach, dessen Reputation auch unter den dubiosen Praktiken seiner Behörden bei der Erzwingung der An­ leihe-­Subskriptionen gelitten hatte, galt als von den Franzosen bestochen, und Baumgartner, der sich als zuständiger Ressortminister von ihm vorgeschoben und benutzt fühlte, resignierte endgültig und bat um seine Entlassung34. Zu seinem Nachfolger berief der Kaiser nunmehr den vormaligen Handelsminister und gegenwärtigen Internuntius in Konstantinopel Karl Ludwig Frh. v. Bruck. Bruck hatte während seiner ersten Ministerzeit wegen der Großartigkeit seiner Auffassungen von Österreich als deutsch-mitteleuropäischer Führungsmacht und seiner darauf basierenden wirtschaftspolitischen Aktionen35 die Bewunderung des jugendlichen Monarchen erregt, und dieses Zutrauen war auch nach der Bestellung des Exministers zum Internuntius in Istanbul nicht erloschen.36 In der Krimkrieszeit hatte Bruck unter führenden Militärs, namentlich in dem Chef des Generalstabes Frh. v. Hess und dem Kommandeur der österreichischen Besatzungstruppen in den Donaufürstentümern Graf Coronini weitere politische Anhänger gefunden.37 Dies beruhte wesentlich auf Brucks von Istanbul aus betriebenen Propaganda für eine unabhängige »mitteleuropäische« Krimkriegspolitik zugunsten einer politisch-ökonomischen Penetration des Balkans

32 Aktenvermerk FA 9436/FM/1855. 33 Anselm v.R. gegenüber Kübeck am 6.2.1855, Max v. Kübeck, Tagebücher 2 [Anm. 22], S. 80. 34 Zur kritischen Stimmung gegen Bach in dieser Phase Berger Waldenegg [Anm. 29], S. 504 ff. 35 Richard Charmatz, Minister Freiherr von Bruck. Der Vorkämpfer Mitteleuropas, Leipzig 1916. 36 Max Kübeck, Tagebücher 2 [Anm.  22], S.  77, zum 18.1.1855  ; Tagebuch Kempen [Anm.  31], S. 361, zum 27.3.1855. 37 Unckel, Krimkrieg [Anm. 28], S. 147 ff., 177 ff. Zur Rolle von Heß bei der Berufung Brucks Max Kübeck, Tagebücher 2 [Anm. 22], S. 74, 77, 83 ff., zum 18. u. 19. 2., 1. u. 3.3.1855.

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mit weitreichenden Nahost-Perspektiven.38 Die Wiederaufnahme seiner Mittel­ europapolitik mit ihren deutschlandpolitischen, aber auch ihren südosteuropäisch-nahöstlichen Akzenten sollte dann auch ein wesentliches Feld seiner zweiten Amtszeit werden39. Zugleich wurde Bruck als Retter der österreichischen Staatsfinanzen herbeigesehnt. Seit Jahren war seitens der Wiener Haute Finance für seine Rückberufung als Finanzminister agitiert worden.40 Nach der Resignation Baumgartners war Bruck Anfang 1855 angesichts der Zurücksetzung Kübecks und der momentanen Schwäche Bachs nicht mehr zu verhindern. Sein erstes Auftreten nach seiner Ankunft in Wien Anfang März 1855 signalisierte sogleich, dass hier ein starker Mann berufen worden war, der als Superminister die Richtung der gesamten Finanz- und Wirtschaftspolitik zu bestimmen gedachte. Zur allmählichen Herstellung des Haushaltsgleichgewichts erreichte er beim Kaiser den Abbau der momentanen militärischen Mobilisierung41 und untergrub damit sogleich den machtpolitischen Unterbau der österreichischen Krimkriegspolitik, die er durch spätere wirtschaftliche Penetration des Südostens zu ersetzen hoffte. Seine interne Kritik richtete sich gezielt gegen die Nationalanleihe und den Bahnverkauf, so dass Gerüchte über eine bevorstehende Demission Bachs 38 Unckel [Anm. 28], S. 178 ff., 223. Paul W. Schroeder, Bruck versus Buol. The Dispute over Austrian Eastern Policy, 1853–1855, in  : JMH 40 (1968), S. 193–217. Vgl. auch die Propagandaschrift von Isidor Heller, Memoiren des Baron Bruck aus der Zeit des Krimkrieges, Wien u. a. 1877. 39 Hierzu der Beitrag von Helmut Rumpler, Die Gründung der Credit Anstalt im Kontext der Neupositionierung von Österreichs Wirtschafts- und Außenhandelspolitik durch Karl Ludwig Freiherrn von Bruck, in  : Oliver Rathkolb u. a. (Hgg.), Bank Austria Creditanstalt. 150 Jahre österreichische Bankgeschichte im Zentrum Eurpas, 2005, S. 56–72. 40 »Die Geldmänner wollen Bruck«, hieß es schon im November 1851, als Finanzminister Krauß resignierte  ; Brucks Erzfeind Kübeck wusste dies aber (sogar gegen den Ministerpräsidenten Schwarzenberg, der für Bruck eintrat) zu verhindern und für Baumgartners Ernennung zu sorgen. In den Augen Kübeck war Bruck ein »Scharlatan«. »In unseren höchsten Regionen ist die Meinung herrschend, es gebe eine eigene Finanzkunst im Sinne der Goldmacherkunst, infolge derer man beliebigen Aufwand machen und ohne Rechnung und Wirt lustig darauf los leben könne. Für einen solchen Zauberer hält man den Herrn v. Bruck. Der arme Mann  !« notierte Kübeck im November 1853. Damals suchte man den Kaiser erneut für eine Rückberufung Brucks zu gewinnen  ; auch Anselm v. Rothschild zeigte sich gegenüber Metternich von Baumgartner enttäuscht und drängte auf eine Abberufung des amtierenden Ministers, der von Kübeck gehalten wurde. Im ­April 1854 dieselbe Konstellation  : Der politisch schwache Baumgartner suchte unter Kübecks Führung die österreichische bewaffnete Neutralität im beginnenden Krimkrieg mit unzulänglichen Mitteln zu finanzieren, und der Kaiser erwog Brucks Ernennung. Dann aber folgte das Eingreifen Bachs in die Finanzpolitik. Brandt 2 [Anm. 6], S. 667, 681, 691, 712 f. 41 Brandt 2 [Anm. 6], S. 714 ff.

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die Runde machten. Es sollte freilich rasch zeigen, dass mit Bach als Innenminister weiterhin zu rechnen war,42 was für den Gang der Ereignisse im Vorfeld der Bank-Gründung nicht unwichtig war. Bruck galt seit seiner Zeit als Triestiner Lloyd-Direktor als Vertrauter des Hauses Rothschild.43 Aber seine finanzpolitischen und unternehmerischen Auffassungen hatten selbstverständlich nichts mit jenen vormärzlichen Traditionen gemein, wie sie Kübeck verkörperte. Auch er war wie Bach von der Schlüsselrolle des neuen Instruments der Aktienbank zur Mobilisation des Kapitals durchdrungen  ; er ließ unmittelbar nach seiner Ernennung in der von ihm abhängigen Presse ganze Artikelserien zur Bedeutung der ideellen und institutionellen Grundlagen des Crédit Mobilier schreiben.44 Dies bedeutete aber nicht, dass er auch das unter Bachs Führung betriebene Engagement der französischen Finanzgruppe weiter fördern würde  ; ganz im Gegenteil  : Seine Rückberufung konnte von vornherein als eine Weichenstellung zugunsten einer Rehabilitation der Rothschilds aufgefasst werden  ; allerdings mussten die Rothschilds für die neuen Ideen der »association du capital« gewonnen werden. Brucks Programm,45 das er in den folgenden Monaten entwickelte, zielte auf eine Abkoppelung der langfristig zu lösenden Haushalts- und Defizitpro­bleme von der unmittelbar zu lösenden Sanierung der schwankenden Währung, zugleich aber auf eine Verknüpfung der Währungsfrage mit Plänen für den wirtschaftlichen Aufschwung durch Bankengründung zur Eisenbahn- und Industriefinanzierung, aber auch zur Landwirtschaftsförderung, wie er sie verstand. Diese Verschränkung staatsfinanzieller und privatkapitalistischer Zielsetzungen gilt es zu beachten, wenn man den Gründungsprozess der Credit-Anstalt verstehen will. Für Brucks Regierungstätigkeit ist die Vermischung von öffentlicher und privater Sphäre auch von seiner Persönlichkeitsstruktur her charakteristisch.46 Der Aufsteiger aus der preußischen Rheinprovinz, Triestiner Kaufmann und Lloyd-­Direktor war von Haus aus Manager und kein Bürokrat, hatte für die Strukturen und Traditionen des österreichischen Verwaltungsstaates wenig Ver42 Berger Waldenegg [Anm. 29], S.504–513. 43 Charmatz [Anm. 35], S. 14 ff. 44 Hierzu die von Bruck abhängige »Österreichische Zeitung« (Redaktion Isidor Heller, vgl. Anm. 38)  : Nrn. 79 (12.4.), 129 (9.5.)  ; später 351 (11.9.), 372 (22.9.), 406 (11.10.), 445 (1.11.), 447 (3.11.), 471 (17.11.), 482 (23.11.), 491 (28.11.)  ; dann v. a. die Zeitschrift »Austria« (Redaktion Gustav Höfken), 24.2., 30.3., 10.5., 2.6.1855. 45 Zum Finanzprogramm im Gesamtzusammenhang Brandt 2 [Anm. 6], S. 715–723. 46 Zur Charakterisierung vgl. Brandt 1 [Anm. 6], S. 347–351

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ständnis und war den in dieser Tradition erzogenen Spitzenbeamten unheimlich. Seine Vorstellungen von einer ›Österreich-AG‹ (dieser Ausdruck sei hier erlaubt) waren dynamisch, aber unkonventionell, und damit verband sich unausgesetzt der (wohl auch begründete) Verdacht der Korruption, der dann schließlich im April 1860 auch sein Ende herbeiführte. Brucks Berufung und die von seiner Presse ausgehenden Signale zur Ausrufung einer dynamischen Gründer-Ära riefen sogleich die rivalisierenden Gruppen der Haute Finance auf den Plan. Nicht von ungefähr war der Einbruch des französischen Crédit Mobilier in die Wiener Szene geeignet, in Wien bis hin zum Kaiser selbst Furcht vor bedrohlicher Überfremdung zu fördern. Demgegenüber hatten sich die Rothschilds, obwohl ja ebenfalls ausländischen Ursprungs und in die internationale Finanzwelt verwoben, durch ihre jahrzehntelange familiäre Präsenz in Wien und ihre engen Geschäftsbeziehungen zum Vormärzregime und zum hohen Adel in Politik und Wirtschaft der Monarchie integriert. Dieser Aspekt sollte für die Taktik Brucks wichtig werden  : Bei den Auseinandersetzungen um die Konzessionierung der Credit-Anstalt spielte der Wunsch, das Unternehmen auf eine »österreichische Basis« zu stellen, eine wichtige Rolle. Eine Rückwendung der Kreditpolitik zu den heimischen Grundlagen war im Keim bereits gleichbedeutend mit dem Come-back des Hauses Rothschild. Anselm v. Rothschild war entschlossen, die Positionsverluste wettzumachen. Schon Ende 1854 hatte man ihm, um ihn wegen des »schmachvollen Geschäfts« zu besänftigen, den Verkauf der Lombardo-venezianischen Eisenbahn in Aussicht gestellt  ; diese Transaktion wurde jetzt nach der Berufung Brucks im Frühjahr 1855 sogleich zügig eingeleitet. Aber auch die Pereires waren nach Brucks Amtsantritt rasch in Wien präsent. Im März 1855 ging ein Konzessionsgesuch für einen Crédit Mobilier in Wien ein  ; im April reiste einer der Brüder persönlich zu Bruck und präsentierte noch zusätzlich Projekte für einen Crédit Foncier, einer Immobiliengesellschaft und einer Südbahngesellschaft.47 Wie bei dem vorangegangenen Eisenbahngeschäft arbeitete Paris auch jetzt wieder mit Eskeles und Sina zusammen, die zwar finanziell angeschlagen, doch in ihrer Eigenschaft als Nationalbank-Direktoren politisch nützlich waren. Fast gleichzeitig, mit Schreiben vom 2.  April 1855,48 bot auch Rothschild dem Finanzministerium die Gründung eines Kreditinsti­ tuts in Wien für den gesamten Kaiserstaat an. Dabei vereinigte er sich mit dem 47 FA 9436/FM/1855  ; Notiz Öst. Zeitg. 79 (12.4.1855). Gille 2 [Anm. 1], S. 232  ; Rondo E. Cameron, France and the Economic Development of Europe 1800–1914, Princeton 1961, S. 153. 48 FA 15635/FM/1855  ; vgl. auch Gille 2 [Anm. 1], S. 232.

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Karlsruher Bankier und böhmischen Unternehmer Louis v. Haber und einer Gruppe angesehener Vertreter des böhmischen Hochadels, die von diesem zusammengebracht worden war und den Brief mit unterzeichnete  : Johann Adolf Fürst zu Schwarzenberg, Max Egon Fürst zu Fürstenberg, Vinzenz Karl Fürst zu Auersperg und Otto Graf Chotek. All diese Magnaten hatten sich seit Längerem industriewirtschaftlichen Aktivitäten geöffnet. Mit ihrem Kapital allein wären sie dem geplanten Großprojekt allerdings kaum gewachsen gewesen. Darauf kam es aber nicht an  : Entscheidend war, wie alle interessierten Bankiers rasch begriffen, der ›Geltungsnutzen‹ ihrer Namen und ihrer Stellung in der Ersten Wiener Gesellschaft, die geeignet waren, die Sache auch am Hofe zu fördern. Die Verbindung Louis v. Habers mit der Fürstengruppe muss von Anfang an sehr fest gewesen sein und erwies sich auch nach der Bankgründung im Verwaltungsrat als dauerhaft. Der Bankier befand sich also dank dieser Kombination in einer sehr guten Position, wie sich rasch zeigen sollte. Er bedurfte aber weiterer Allianzen in der Haute Finance, denn in keinem Fall war Haber für sich allein stark genug, zusammen mit seiner Gruppe ein solches Unternehmen zu schultern. Die ursprünglich aus Böhmen stammenden Habers49 waren in Baden als Hof­faktoren aufgestiegen  ; der nobilitierte Salomon v. Haber und seine zahlreiche zum Christentum konvertierte Familie stellten im vormärzlichen badischen Staat als Karlsruher Hofbankiers eine beachtliche Größe dar, was sich in luxuriöser Lebensführung und vielfältigen Finanzbeziehungen, u.a. auch zu den mediatisierten Fürstenbergs, zur Geltung brachte. Zuletzt hoch verschuldet, wurde das Bankhaus im Januar 1848 liquidiert, woran das Haus Rothschild nicht ganz unbeteiligt war  : es gab mit der Aufkündigung eines Dauerkredits den letzten Anstoß. Salomons Sohn Moritz hatte am Darmstädter Hof eine feste Stellung und konnte so für seinen Schwager Abraham Oppenheim/Köln die Domizilierung der Bank für Handel und Industrie in dieser Stadt vermitteln, jene Gründung, an der sich neben den Fould dann der Crédit Mobilier maßgeblich beteiligte.50 Die Darmstädter Gründer zählten nicht zu den Freunden des Hauses Rothschild. Salomons unternehmerisch begabter Sohn Louis v. Haber hatte 1830 mit Henriette Herz/Prag in den böhmischen Grundbesitz eingeheiratet, verwaltete seither die schwiegerväterlichen Güter, baute in Böhmen eine Zuckerfabrik auf und 49 Zur Frühzeit Heinrich Schnee, Hoffinanz [Anm. 3], Bd. 4  ; zum 19. Jh. ders., Hofbankier Salomon von Haber als badischer Finanzier, in  : ZGORh 109 (1961), S. 341–359. Behandelt auch die Söhne  ; hiernach das Folgende. 50 Cameron in Tradition 2 [Anm. 20], S. 113 f., 116 ff.

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war auch in der politischen Organisation der Rübenzuckerinteressen der Großgrundbesitzer (gegen den Rohrzuckerimport) initiativ. In diesem böhmischen Umfeld dürfte seine Verbindung zum Hochadel gewachsen sein. Mit Rothschild und Haber stießen also im Frühjahr 1855 in Wien ›alte Bekannte‹ aufeinander, deren Verhältnis zueinander möglicherweise nicht spannungsfrei war. Doch muss unter ihnen, wie der gemeinsame Brief an Bruck vom 2. April zeigt, für das Programm einer Bankgründung eine Verständigung stattgefunden haben. Am 3. April reichte die Fürstengruppe mit Haber, jetzt aber ohne R ­ othschilds Unterschrift oder Nennung, beim Innenminister ein förmliches Gesuch zur Gründung einer Kreditbank ein  ; sie sprachen davon, dass sie sich »mit den ersten Geldkräften Europas« erfolgreich zu dem Projekt verbunden hätten. Die Konzessionierung von Vereinen unter Einschluss der Erwerbsgesellschaften fiel in das Ressort des Innenministeriums  ; insofern war die Einschaltung Innenminister Bachs korrekt. Die Bewerber wiesen aber darauf hin, dass sie sich selbstverständlich den Bedingungen des Finanzministeriums unterwerfen würden, die dieses »vom höheren finanziellen Standpunkt für unerläßlich halten dürfte«, und brachten damit auch sogleich Bruck ins Spiel, der ja durch Rothschilds Brief vom Tag zuvor eingeweiht war. Zugleich wurde damit jedoch signalisiert, dass man dem Finanzminister auf dessen Weg folgen wolle, das Projekt in ein größeres finanzpolitisches Programm zu integrieren. Die Adelsgruppe erlangte sogleich einen entscheidenden Positionsvorteil, da Innenminister Bach ihr schon im April versicherte, »daß keinerlei Concession auf ein derartiges Institut, ohne direkte Mitwirkung und Beteiligung des Grundbesitzes erfolgen würde.«51 Am 26. Mai reichte dieselbe Gruppe, wiederum ohne Rothschilds förmliche Beteiligung, beim Innenminister einen Statutenentwurf ein, der ein Institut »analog« dem französischen Crédit Mobilier, jedoch mit den notwendigen auf Österreich zugeschnittenen Änderungen vorsah, und baten, diesen gemeinschaftlich mit dem Finanzminister zu prüfen und die kaiserliche Genehmigung zu erwirken. Anselm Rothschild hat sich zu den Motiven für seine formelle Zurückhaltung im Anfangsstadium innerfamiliär nicht geäußert. Dass er an einer Bankgründung beteiligt sein und nicht den Pereires das Feld überlassen wollte, war klar. Dann aber kam er an der Verbindung zu Haber und seiner Gruppe nicht vorbei, und er hielt auch zäh daran fest. Hatte Haber mit seinen Fürsten die Freiheit der Option zwischen Rothschild und dem Crédit Mobilier  ? Pereires Verbündete Sina und Eskeles bemühten sich in den nächsten Monaten intensiv, aber ohne Erfolg darum, die Adeligen von Rothschild abzuwerben und das aristokratische 51 Schwarzenberg [u.Cons.] an Bach, abschriftlich an Bruck, 3.4. u. 26.5.1855, FA 9436/FM/1855.

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Dekor auf die eigene Gruppe zu übertragen.52 »Les intrigues sont indescribles«, schrieb Anselm dazu ärgerlich an seinen Pariser Onkel.53 Auffällig ist, dass auch Bruck in seinem Presseorgan die Verbindung mit Rothschild verschleiern und die Österreichische Zeitung erst am 22. September berichten ließ, dass sich den Bewerbern »in letzter Zeit das Haus Rothschild zugesellt« habe.54 Diese Nachricht war ausweislich der internen Vorgänge offenkundig falsch und zeigt damit, dass auch der Minister den Namen Rothschild nicht vorzeitig der Öffentlichkeit präsentieren wollte oder konnte. Da schriftliche Aufzeichnungen für die Phase des Abtastens in den Sommermonaten des Jahres 1855 fehlen, kann die Interpretation der Vorgänge und insbesondere der Zurückhaltung Rothschilds wie Brucks nur Plausibilitätserwägungen folgen. Auf Regierungsebene kam man an Innenminister Bach nicht ohne weiteres vorbei  ; dieser aber war ein Verbündeter der Gruppe Crédit Mobilier. Insofern war es opportun, dass Haber und seine Freunde vorerst als nicht festgelegt auftraten. Für Bruck kann man davon ausgehen, dass er keinesfalls Rothschild ausschließen wollte  ; möglicherweise hat er aber anfänglich ernsthaft für möglich gehalten, den Crédit Mobilier dennoch mit einbeziehen zu können. Für Brucks Position ist ferner entscheidend, dass er die Bankgründung mit einem umfassenden Sanierungsplan von Staatsfinanzen und Währung verband und dafür die Haute Finance in den Dienst nehmen wollte. Mit diesem Gesamtplan musste er sich der Minister-Konferenz (Bach  !) und dem Reichsrat stellen. Zugleich war nicht zu erwarten, dass dieser Gesamtplan mit seinen exorbitanten Forderungen an die Kapitalkraft bei fraglichen Gewinnerwartungen in der Haute Finance ohne weiteres auf Gegenliebe stoßen würde, weshalb die Konkurrenzsituation der Bewerber tunlichst offenzuhalten war. Komplementär dazu dürfte auch Rothschild daran gelegen gewesen sein, intern keine voreiligen Zusagen zu machen. Da längst nicht ausgemacht war, ob der Minister das Gesamtpaket seiner Vorstellungen mit seinen für Rothschild unerwünschten Elementen überhaupt würde durchsetzen können, war es auch deshalb geraten, das Resultat der regierungsinternen Auseinandersetzungen abzuwarten und nicht vorzeitig aus der Deckung zu gehen, zugleich aber die Fürstengruppe an sich zu binden und damit die eigene Position zu wahren.

52 Sina und Eskeles an Bruck, 7.10.1855 mit Bestätigung des großen Interesses an der adeligen Gruppe, FA 182/GP/1855. 53 29.9.1855, zitiert bei Gille 2, S. 233. 54 Österr. Zeitg. 372 (22.9.1855).

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Damit richtet sich der Blick auf Brucks Gesamtplan,55 dessen Inhalt und Schicksal hier in aller Kürze zu skizzieren ist. Bruck wollte den »Überhang« des mit Zwangskurs umlaufenden österreichischen Papiergeldes nicht durch eine neuerliche Anleihe abschöpfen, weil sich ein solcher Versuch nach der gingantischen Nationalanleihe von selbst verbot, aber auch, weil er die deflatorischen Wirkungen für unerwünscht hielt. Auch er wollte aber das Silberagio zum Verschwinden bringen, die rechtmäßige Bareinlösungspflicht der Nationalbank für ihre Noten wiederherstellen und den Zwangskurs aufheben, schon um mit dem Nachweis währungspolitischer Solidität sein nächstes deutschlandpolitisches Ziel, den Währungsverbund aller deutschen Staaten, ansteuern zu können. Sein kurzfristiges Rezept war die Aufstockung des Bankschatzes bis zu einer Höhe, die die Aufnahme der Bareinlösung als währungspsychologisches ›window dressing‹ ermöglichte. Damit war die bankmäßige Deckung der Noten selbstverständlich nicht hergestellt, denn diese Deckung bestand zum größten Teil in uneinbringlichen Forderungen an den Staat und nicht im klassischen Portefeuille bankmäßiger Effekten mit kurzer Laufzeit. Dies war im Vormärz nicht anders gewesen, blieb aber geheim, während seit der Revolution der Ausweis der Nationalbank periodisch veröffentlicht wurde. Zur Entschuldung des Staates gedachte der Minister Staatsgüter im Gesamtwert von 155 Mio. fl in das Eigentum der Bank zu übertragen mit der Maßgabe, sie sukzessive zu verkaufen. Die Umstrukturierung des Bankportefeuilles konnte auch auf diese Weise nur langfristig erfolgen, aber es waren mit der Güterabtretung dafür von vornherein die psychologisch wichtigen staatsunabhängigen Sicherheiten gegeben. Für die rasche Aufstockung des Bankschatzes war der zu gründenden großen Kreditanstalt eine wichtige Funktion zugedacht  : Ihr mit 100 Mio. fl reichlich überdimensioniertes Gründungskapital sollte nämlich, solange privatwirtschaftliche Anlagemöglichkeiten in solchem Umfang nicht gegeben waren, bis zur Höhe von 75 Mio. fl. als Silberdarlehen der Nationalbank zur Verfügung gestellt und mit 5 % verzinst werden  ! Mit der Erhöhung ihres Aktienkapitals um 20 Mio. fl. sollte zugleich auch die Nationalbank eine Eigenleistung erbringen. Zur Finanzierung des Güterverkaufs sollte ferner eine Hypothekenbank (getrennt oder ggf. im Verbund mit der Kreditanstalt) gegründet werden. Schließlich plante der Minister – womit er aber erst 1856 an die Öffentlichkeit trat – die Gründung einer Immobiliengesellschaft »Austria«,56 die sich mit dem Ankauf, der Zerschlagung und dem Verkauf der parzellierten Staatsgüter der Bank befassen und 55 Vgl. Anm. 45. 56 Dazu Brandt 1 [Anm. 6], S. 309–314.

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in diesem Zusammenhang in Ungarn, wo die meisten der fraglichen Staatsgüter lagen, kolonisatorisch tätig werden sollte. Insbesondere die deutschen Auswandererströme nach Amerika sollten auf diese Weise germanisierend umgelenkt werden  ! Für all diese Gründungen rechnete Bruck auf eine starke Auslandsbeteiligung, die also dem österreichischen Zahlungsverkehr eine kräftige Metallinjektion bescheren sollte. – Nach dem Gesagten wird sehr verständlich, warum Anselm Rothschild zunächst einmal in der Deckung blieb und abwartete, was aus diesen Plänen würde. Im Juli 1855 trug Bruck sein Programm in der Ministerkonferenz vor, wo Innenminister Bach die währungspolitischen Illusionen aufs Korn nahm und einen Ressortvorbehalt zum Staatsgüterverkauf anbrachte, nicht aber den Plan zur Gründung einer Kreditanstalt kritisierte. Insofern hatte sich die bisherige Zurückhaltung Rothschilds und die zur Schau getragene Offenheit der Fürstengruppe sowie Brucks Enthaltsamkeit in der Optionsfrage bewährt  : Bach konnte für seine französischen Freunde noch Hoffnungen hegen. Im Reichsrat wurde Anfang August Brucks anschließender Vortrag an den Kaiser in währungspolitischer Hinsicht noch weit schärfer zerpflückt  ; entscheidend war aber, dass er am Ende eine Verhandlungsvollmacht für die Gründung einer Kreditanstalt sowie für die Übernahme der Staatsgüter durch die Nationalbank und deren Kapitalaufstockung erhielt.57 Diese Vollmacht gedachte er zu nutzen und das Ergebnis vor den Kaiser zu bringen, ohne die anderen Regierungsorgane noch einmal zu konsultieren. Als im September 1855 die formellen Konzessionsverhandlungen begannen, zeigte sich rasch unverkennbar, dass Bruck der Rothschildgruppe zuneigte bzw. sie auf keinen Fall übergehen wollte. Aus taktischen Gründen hielt er aber die Franzosen im Spiel, um die Möglichkeiten einer eventuellen Fusion nicht zu verbauen und um zugunsten der Verwirklichung seines Gesamtprojekts Druck ausüben zu können. Auch durfte man Sina und Eskeles schon deshalb nicht vollständig verprellen, weil sie immerhin im Direktorium der Nationalbank saßen. Gerade wegen der Verknüpfung der Mobilbankgründung mit Brucks Plänen zur Währungssanierung zogen sich die Verhandlungen jetzt aber in die Länge  ; es zeigte sich, dass die in Ministerkonferenz und Reichsrat geäußerten Besorgnisse, die Kapitalisten würden wohl wenig Neigung zu derartig gigantischen Investitionen bei unsicheren Gewinnerwartungen zeigen, sehr begründet waren. Die Nationalbank sollte nicht nur ihr Kapital um 20 Mio. fl erhöhen, was in 57 Ministerkonferenzen v. 7., 11. u. 14.  Juli 1855, HHStA, MCZ 2179/1855  ; Vortrag Brucks v. 16.7.1855, FA 78/GP/1855 (Sonderfasz. 15)  ; Reichsratssitzung 9.8.1855 HHStA RR 704/R/1855.

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sich schon dividendenschmälernd wirken musste, sondern der neuen Kreditbank auch noch ein Silberdarlehen von 75 Mio. fl mit 5 % verzinsen. Die neue Kreditbank wiederum sollte ihr riesiges Aktienkapital von 100 Mio. fl mit dieser Quote von 75 % vorab festlegen und mit dem Rest von 25 Mio. fl das eigentliche Gründungs- und Finanzierungsgeschäft betreiben, wobei nach des Ministers Vorstellungen auch noch das (wenig beliebte) Hypothekargeschäft darin einbezogen werden sollte. Der Minister wollte nämlich vorrangig die banktechnischen Voraussetzungen für den Staatsgüterverkauf gesichert haben  ; zu diesem Zweck sollte das neue Kreditinstitut zugleich als Hypothekarkreditanstalt gegründet und zur Finanzierung des Güterverkaufs herangezogen werden. Die Idee, Credit Mobilier und Credit Foncier zu fusionieren, fand aber bei beiden Gruppen keine Gegenliebe, was mit Blick auf die Gewinnerwartungen auch nicht verwundert. Bruck ließ seinen Maximalplan denn auch fallen  ; in der Folge konzentrierte er seine Bemühungen auf den Plan, ersatzweise der Nationalbank eine Hypothekarabteilung anzugliedern.58 So konnten sich die Verhandlungen mit der Rothschild- und der Pereire-Gruppe auf die Gründung eines Mobilarkreditinstituts konzentrieren. Aber auch weiterhin verknüpfte der Minister dieses Projekt mit der Idee einer Silberanleihe an die Notenbank. Von der Aussicht, ein Gründungskapital von 100 Mio. fl zusammen zu bringen, war man aber im September weit entfernt, und so galt das Spiel mit den beiden konkurrierenden Gruppen jetzt vor allem auch der Angebotserhöhung. Bislang lag formell nur der Statutenentwurf der Adelsgruppe vom Mai vor, der eine – gemessen an Brucks Zielen – relativ bescheidene Gründung mit einem Kapital von 30 Mio. fl vorsah.59 Isaac Pereire, der im September abermals nach Wien reiste,60 präsentierte nunmehr das Projekt einer Bank mit 80 Mio. fl Grundkapital, von dem zunächst 40 Mio. einzuzahlen waren. In- und Ausländer sollten sich mit gleichen Rechten beteiligen können, die Aktien sollten zugleich in Wien, Paris, Berlin und Frankfurt domiziliert werden, wo auch Kassen bestehen sollen  ; der Verwaltungsrat war aus elf Österreichern bzw. Personen, die in Österreich ihren Wohnsitz hatten, und zehn Auswärtigen zusammenzusetzen. Für die Geschäfte wurde der weiteste Umfang bestimmt, die Aufsichtsrechte des Staates beschränkten sich auf eine regelmäßige Information über den Geschäftsstand und ein Bestätigungsrecht bei der Ernennung der Direktoren (nicht der

58 Note Brucks an Bankgouverneur Pipitz vom 2.10.1855, FA 123/GP/1855. 59 Entwurf in FA 15635/FM/1855. 60 Notiz der Österr. Zeitg. Nr. 351 (11.9.1855).

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Ver ­waltungsräte).61 Rothschild und die Fürsten erhöhten in der Folge auf 100 Mio. Grundkapital bei einer aktuellen Einzahlung von 60 Mio. Folgt man einem französischen Gesandtschaftsbericht aus Wien vom 9. Oktober,62 so musste die französische Gruppe aus dem Verhalten Brucks den Eindruck gewonnen haben, dass ihr Angebot im Grundsatz akzeptiert worden sei. Der Minister habe diese Hoffnungen jedoch nur erweckt, um zunächst die Nationalbank zur Annahme seiner Pläne zu bewegen. Sina und Eskeles seien als einflussreiche Bankdirektoren bei der entscheidenden Beschlussfassung zugunsten Brucks eingetreten in dem Glauben, dass das Geschäft mit Pereire perfekt sei. Unmittelbar nach der gewünschten Zustimmung des Nationalbankdirektoriums sei Bruck mit einem neuen Statutenentwurf der Rothschild-Gruppe für die Credit-Anstalt hervorgetreten, dessen Einzelheiten darauf schließen ließen, dass der Minister den französischen Entwurf den Konkurrenten verraten haben musste, um ihnen eine Anpassung ihrer Vorschläge zu ermöglichen. Ohne Erfolg habe Bruck dann versucht, die empörten Vertreter der französischen Gruppe zu einem Anschluss an Rothschild zu bewegen. Die aus den Akten ersichtliche Korrespondenz und die Zeitungsnotizen bestätigen den in diesem diplomatischen Bericht skizzierten Ablauf vollauf, so dass der Motivzusammenhang vermutlich zutreffend wiedergegeben worden ist. Die folgende chronologische Dokumentation in Regestenform mag dies illustrieren  : 17.09. James Rothschild an Bruck  : Bedauert, dem Wunsch des Ministers, sofort nach Wien zu kommen, wegen prekärer Börsenverhältnisse nicht nachkommen zu können. Verspricht eine Reise nach London, um die Kooperation des Gesamthauses zur Gründung des Unternehmens herbeizuführen. (FA 182/GP/1855). 24.09. Anselm R. geht gegenüber Bruck feste Verbindlichkeiten ein. [Schriftliche Offerte im Finanzarchiv nicht gefunden  ; geht aus Anselms Brief an James vom 29.9. hervor, s. unten. Es dürfte sich um das Angebot 60/100 Mio. gehandelt haben.] 27.09. Abreise Pereires nach längeren Verhandlungen unter Hinterlassung definitiver Entwürfe. (FA 182/GP/1855). 27.09. Bestätigungsschreiben Brucks (Konzept MinR Brentano) zum Erhalt dieser Entwürfe, deren Redaktion das Resultat der jüngsten Gespräche mit Bruck seien [!]. Sie würden den Beratungen einer Ministerkonfe61 Konzessions- und Statutenentwurf v. 27.9.1855, abschriftlich in FA 182/GP/1855. 62 Abdruck in Auszügen bei Gille, Rothschild 2 [Anm. 1], S. 233 f. ohne näheren Kommentar.

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renz unterzogen, sobald einige jetzt abwesende Minister wieder zugegen seien  ; dann raschestmögliche Entschließung. (FA 182/GP/1855).[Eine Ministerkonferenz zur Creditanstaltfrage fand nicht mehr statt  !] 28.09. Pressenotiz in der von Bruck gesteuerten Österreichischen Zeitung Nr. 384  : Die Abreise Pereires markiere einen Wendepunkt, man vernehme, dass ein erfolgreicher Abschluss erreicht worden sei. Dennoch sei das Gerücht, dass Rothschild noch Chancen habe, nicht unbegründet. 29.09. Anselm an James R.: Erinnert an die wiederholten Versicherungen der Familienmitglieder, ihn in der österreichischen Sache unterstützen zu wollen. Ist vor fünf Tagen [24.9.] gegenüber Bruck ein förmliches Engagement eingegangen, das nicht rückgängig gemacht werden dürfe. Gegenwärtig Versuche Sinas und Eskeles, Fürstenberg von der Koalition mit Rothschild abzuziehen  ; Anselm glaubt nicht, dass sie damit Erfolg haben werden. Unbeschreibliche Intrigen. (Gille, Maison Rothschild 2, S. 233). 2.10. Zwei Noten Brucks (Konzept MinR Radda) an die Nationalbank mit den förmlichen Anträgen zur Übernahme der Staatsgüter zur Tilgung der neueren Staatsschuld und zur Gründung einer Hypothekarabteilung, mit Vertragsentwürfen. Bitte um Beratung in der nächsten Direktionssitzung. (FA 123 u. 124/GP/1855). 3.10. Anselm an James R.: »Les chances sont de notre côté.« (Gille, Maison Rothschild 2, S. 233). 4.10. Die Adelsgruppe und Rothschild überreichen gemeinsam einen Statutenentwurf. AK 100 Mio. fl, davon 40 Mio. Reserveaktien. Sie erklären verbindlich die Übernahme des für den Anfang vorgesehenen Aktienkapitals von 60 Mio. fl in folgender Aufteilung  : 30 Mio. an Haber und die Adelsgruppe, 24 Mio. an Rothschild, 6 Mio. an Großhändler Lämel/ Prag. Einzahlung bis Ende 1856. (FA 19179/FM/1855). 4.10. Bankdirektionssitzung zur Frage der Übernahme von Staatsgütern im Wert von 156 Mio. fl. Da der ministerielle Plan eine erhebliche Minderung der vom Staat zu zahlenden Schuldzinsen vorsieht, besorgen einzelne Direktoren eine Schmälerung der Dividende. Gleichwohl wird der Antrag einmütig akzeptiert. (Note des Bankgouv. an Bruck v. 6.10.1855, FA 127/GP/1855). 6.10. Bankdirektionssitzung zur Frage der Angliederung einer Hypothekar­ abteilung und der Aufstockung des Aktienkapitals. Die Direktion stimmt trotz großer Bedenken gegen die Gewinnaussichten zu und verlangt einige Modifikationen in den Geschäftsbedingungen. (Note des

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Bankgouv. an Bruck mit »nunmehr auch schriftlicher« Information des Ministers über die Ergebnisse v. 8.10.1855. (FA 128/GP/1855). 6.10. Unterredung zwischen Bruck, Sina und Eskeles, in welcher der Minister die Bankiers mit einem an diesem Tage [!] überreichten Projekt der Rothschildgruppe konfrontierte und eine Verschmelzung dieses und des französischen Antrages anregte. Die Bankiers lehnen ab. (Beleg in Brief v. 7.10.). 7.10. Sina und Eskeles an Bruck  : Bestätigen ihre Ablehnung schriftlich. Erklären unter Berufung auf ihre und Pereires frühere Äußerungen ihre volle Bereitschaft, die Adelsgruppe aufzunehmen  ; ein Zusammengehen mit Rothschild und Haber sei unmöglich. Der Minister müsse sich zwischen Pereire und Rothschild entscheiden und erwägen, welcher der beiden mehr berufen sei, ausländische Kapitalien nach Österreich zu ziehen. (FA 182/GP/1855). 9.10. Fürst zu Fürstenberg an Bruck  : Nimmt Bezug auf eine Unterredung mit Bruck vom gleichen Tage, in der dieser »mit vertrauensvoller Offenheit« [ !] »Besorgnisse« hinsichtlich der Kapitalkraft der Adelsgruppe geäußert hatte. Versichert für sich und seine Gruppe, dass ihre verbindlichen Unterschriften im der Eingabe vom 4.10. »mit allem Vorbedacht und mit genauer Erwägung unserer besitzenden Geld- und Kredits-Mittel« geleistet worden seien. (FA 128/GP/1855). 9.10. Pressenotiz der Österr. Zeitg. Nr. 403  : Bruck fährt zum Kaiser nach Ischl. Man rechne allgemein damit, dass er die ah. Sanktion für die schwebenden Finanzoperationen erwirken wolle. Gegenstand der Unterredung in Ischl waren  : Anträge zur Abtretung von Staatsgütern an die Nationalbank und zur Errichtung einer Hypothekarkreditabteilung bei der Nationalbank. Besprechung über die Errichtung der Credit-Anstalt, noch kein Antrag. 12.10. Bruck erwirkt die kaiserliche Genehmigung zur Güterabtretung (ah. E. in FA 134/GP/185) und zur Errichtung der Hypo-Abteilung (FA 128/ GP, ah. E. 135/GP/1855). Laut Rückverweis in Brucks au. Vortrag vom 29.10. (FA 151/GP/1855) war Inhalt  : die Entscheidung zur Credit-Anstalt  : Bruck legte dem Kaiser die Gründe dar, aus denen dem Projekt Rothschilds der Vorzug zu geben sei. Der Kaiser genehmigte den Roth­ schildschen Antrag vorläufig in den Grundzügen. Verabredung des Versuchs, die Pereires oder wenigstens Sina und Eskeles doch noch zu einem Anschluss an die Rothschildgruppe zu bewegen.

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Die spröden Behördenakten lassen deutlich erkennen, dass zwischen dem Finanzministerium und der Rothschildgruppe die größere Vertraulichkeit herrschte, und dass Bruck sie klar favorisierte. Die Verhandlungen mit der französischen Gruppe, die tatsächlich bis zur Suggestion eines förmlichen Akkords gingen, dienten offenkundig vor allem dem Zweck, zum einen das Haus Rothschild aus der Reserve zu locken und zu einem höheren Angebot zu veranlassen, zum anderen, eine mögliche Opposition im Nationalbankdirektorium gegen die Ansinnen an das Noteninstitut zu unterlaufen. Dies ist Bruck denn auch vollauf geglückt. Gegenüber den »bescheidenen« 30 Mio. fl Aktienkapital des ersten Entwurfs vom Mai sah das Bankprojekt vom 4.  Oktober ein Kapital von 100 Mio. fl vor, von dem vorläufig 60 Mio. einzuzahlen waren, und übertraf damit schließlich noch das Angebot der Franzosen. Damit verfügte Bruck am Ende über jenes grandiose Institut, das er für die privatkapitalistische Entfaltung von Verkehrserschließung und Großindustrie für unerlässlich ansah. Die Gründe für die Ablehnung der französischen Gruppe lagen nicht so sehr im Unterschied der Vorschläge über Form und Wirkungskreis der Bank, sondern in allgemeinen politischen und finanzpolitischen Erwägungen. Der Minister führte dem Kaiser vor Augen, dass die Verbindung mit einem ausländischen Unternehmen ohnehin allergrößte Vorsicht erheische, in diesem Falle aber besonders bedenklich sei, weil das Wiener Institut eng mit dem Pariser Crédit Mobilier verbunden werden sollte und damit von den Wechselfällen der Muttergesellschaft allzu abhängig werde. In der Aufnahme von zehn ausländischen Mitgliedern in den Verwaltungsrat, den mangelhaften staatlichen Aufsichtsund Bestätigungsrechten und der Domizilierung der Aktien auf mehreren europäischen Plätzen erblickte Bruck sichere Indizien für eine internationalistische, weniger österreichische Ausrichtung der französischen Absichten.63 Dagegen ließ sich der österreichische Charakter des Rothschildschen Projekts weit besser begründen und dem Monarchen insbesondere durch die Teilnahme des Adels in ein vorteilhaftes Licht rücken. Am Ende, als die Schlacht entschieden war, ließ Bruck den Pereires in Paris ausrichten, der Kaiser habe »mit besonderem Wohlgefallen das Streben mehrerer seiner höchstgestellten historischen Namen führenden standesherrlichen Unterthanen« zur Kenntnis genommen, und der Minister habe »die Anträge der Standesherren unmöglich unbeachtet lassen« können. Schöner lässt sich die dahinter stehende Taktik Rothschilds kaum in 63 Diese Erwägungen werden in dem au. Vortrag Brucks zur Statutengenehmigung vom 29.10.1855 (FA 151/GP/1855) sowie in seinem Schreiben an den österreichischen Pariser Gesandten Frh. v. Hübner vom 16.10.1855 (Konzept FA 182/GP/1855) herausgestellt.

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Worte fassen, und auch Bruck selbst dürfte von Anfang an in dieses Konzept eingeweiht gewesen sein. Andererseits wollte Bruck es mit den Pereires als »einem sehr zu beachtenden Element der Börsenwelt« und namentlich mit ihren Wiener Verbündeten ungern verderben. Dass er Sina und Eskeles mit Rücksicht auf die Nationalbankfragen düpierte, dafür bieten seine Behandlung des Terminkalenders und seine Angabe falscher Daten in der Unterredung mit ihnen vom 6. Oktober ein sicheres Indiz. Umso verständlicher ist sein anschließendes Bemühen, diese Wiener Vertreter von Pereire zu trennen und mit ihnen zu einem Kompromiss zu gelangen. Ob er je ernsthaft daran gedacht hat, die Pereires und Rothschild zu einer Kooperation zu bewegen, darf dagegen bezweifelt werden. Der französische Botschafter wußte nach Paris zu berichten, dass der Kaiser in Ischl weder die eine noch die andere Bewerbung akzeptiert und Bruck beauftragt habe, ein eigenes stärker national-österreichisch akzentuiertes Projekt auszuarbeiten und beiden mit dem Ziel einvernehmlichen Zusammenwirkens vorzulegen.64 Diese Nachricht dürfte durch gezielte Dissimulation gespeist worden sein  : Die diplomatischen Bemühungen, die der Minister ab Mitte Oktober über die Pariser Botschaft Österreichs einleitete,65 dienten eher der abfedernden Schadensbegrenzung. Hübner wurde beauftragt, Isaac Pereire für ein gemeinsames Projekt zu gewinnen, das, um die Empfindlichkeiten zu schonen, der Form halber vom Finanzministerium ausgehen sollte, inhaltlich jedoch vollkommen dem schon mit Rothschild ausgehandelten Entwurf entsprach  : Aktienkapital von 100 Mio. fl, davon 60 Mio. sofort  ; Beschränkung der Geschäfte auf österreichische Effekten und auf Unternehmungen in Österreich  ; Einzahlungen auf die Aktien nur in Wien  ; Wahl der Verwaltungsräte und Direktoren bedürfen der Bestätigung durch die Regierung, zwei Drittel müssen in Wien wohnhaft sein. Der Botschafter konnte natürlich nur von einer schroffen Zurückweisung berichten, und Bruck hatte auch nichts anderes gewollt und erwartet  : »Es ist mir sehr erwünscht, daß solche [sc. Hübners Verhandlungen] zu dem Resultate geführt hatten, das ich beabsichtigte …«, schrieb er am 10. November eigenhändig nach Paris. Sein eigentliches Anliegen war, Kompromissbereitschaft zu signalisieren und Pereire dazu zu bewegen, Sina und Arnstein von ihren moralischen Bindungen loszusprechen. Das tat dieser dann auch in einem formellen Sinn  ; die beiden Wiener Bankiers lehnten aber nach wie vor jede Teilnahme ganz entschieden ab  : Trotz der ihnen eingeräumten Freiheit des Handelns wollten sie, wie sie Anselm Rothschild erklärten, sich aus 64 Telegramm v. 15.10.1855, Gille 2 [Anm. 1], S. 235. 65 Schriftwechsel zwischen Bruck und Hübner vom 16.10. bis 26.11.1855 in FA 182/GP/1855.

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Gründen der ›Ehre‹ nicht von den Pereires trennen. »Paix à leurs cendres. Je les ai vus tous les deux aujourd’hui et nous n’en demeurons pas moins en ­soi-disant termes d’amitié.« meldete Anselm, der gegen eine Aufnahme dieser minder gewichtigen Wiener Häuser nichts einzuwenden gehabt hätte, am 27.  Oktober nach Paris.66 Zu diesem Zeitpunkt konnte er gleichzeitig seinen Pariser Verwandten verkünden, dass seiner Gruppe der Zuschlag fest garantiert sei. Bis dahin hatte die Finanzverwaltung die Entscheidung auch nach Brucks Rückkehr aus Ischl am 15. Oktober und sogar nach der Absage der Pereires und seiner Wiener Freunde am 22. Oktober gezielt offen gehalten. Denn auch von der Rothschildgruppe erwartete der Minister weiteres Entgegenkommen. So blieben die Verhandlungen um Einzelheiten der Statuten und der Emissions- und Einzahlungsmodalitäten zäh genug, denn auch Anselm Rothschild gab vor, es nicht eilig zu haben.67 Die westeuropäische Presse erging sich in Spekulationen um die unentschiedene Situation und die Durchführbarkeit des ganzen Projekts.68 Bruck präsentierte jetzt jene Forderungen, die die künftige Credit-Anstalt im Rahmen seines währungspolitischen Sofortprogramms erfüllen sollte  : Zwar hatte er von der Idee eines Silberdarlehens an die Nationalbank Abstand genommen, doch sollte nunmehr ein erheblicher Teil der in Metall eingehenden Einzahlungen auf die Aktien gegen Banknoten eingewechselt und damit auf diese Art der Notenbankschatz verstärkt werden. Erneut wird auch daran sichtbar, wie wenig die internationale und unabhängige Bank nach dem französischen Konzept sich in die Berechnungen des Ministers gefügt hätte und welche Bedeutung dem Verlangen zukam, Aktien-Domizilierung und Einzahlungen auf den Wiener Platz zu beschränken. Besonders dieser Aspekt der »nationalen« Ausrichtung scheint Anselm Rothschild zu schaffen gemacht zu haben, denn er engte den Handlungsspielraum des Gesamthauses auf den europäischen Börsen naturgemäß ebenso stark ein wie er die Pereires behindert hätte, die dagegen Widerstand geleistet hatten. Von den zu emittierenden Aktien erhielt das Haus Rothschild 24 Mio. James Rothschild hätte es gern gesehen, dass bestimmte Aktienquoten auch an anderen Börsen, speziell in Brüssel, Antwerpen und Amsterdam emittiert werden konnten, musste sich aber von seinem Neffen darüber belehren lassen, dass an dem »nationalen« Charakter des Verfahrens nicht zu rütteln und eine öffentliche Subskription an auswärtigen Plätzen nicht möglich 66 Anselm an James R., 27.10.1855, Gille 2 [Anm. 1], S. 237. 67 Anselm an James R., 19.10.1855, Gille 2, op. cit., S. 235. 68 Gille 2, op. cit., S. 236 ff.

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sei.69 Um jedoch Rothschild anderweitig zufrieden zu stellen, erhielt Anselm Rothschild vertraulich eine ergänzende Option auf zusätzliche 8 Mio. »Cette option était un secret entre Sa Majesté et le ministre des Finances. Elle m’avait été promise afin de faciliter à nos maisons leur décision de participer à la Credit-Anstalt.«70 Diese Art der Amtsführung und ein solcher Umgang mit dem jugendlichen Kaiser waren für Bruck charakteristisch  ! In dem hier behandelten Zusammenhang belegt der Vorgang erneut, wie sehr dem Minister daran gelegen war, das Haus Rothschild für Österreich zu engagieren.71 Im Übrigen wurde nach Konstituierung der Bank allen Gründern eine Zusatzoption auf ein Drittel der Reserveaktien eröffnet, so dass Rothschild auf diese geheime Sonderkondition verzichten konnte.72 Daneben dürften die von der Finanzverwaltung geforderten staatlichen Aufsichts- und Eingriffsrechte in die Geschäftsführung der Bank Stoff zu Diskussionen gegeben haben, worüber die Akten schweigen. Auch jetzt versuchte der Minister mit dem Hinweis auf die bevorstehenden schwierigen Verhandlungen in Ministerkonferenz und Reichsrat Druck auszuüben.73 Am 29. Oktober fand das Ringen seinen Abschluss  ; Bruck erhielt den Konzessionsentwurf in der gewünschten Fassung und die Zusicherung, dass aus den Einzahlungen 18 Mio. fl in Silber der Nationalbank durch Umtausch in Noten zur Verfügung gestellt würden.74 Noch am gleichen Tag beantragte der Minister die Konzession, die schon am 31. Oktober mit den Statuten vom Kaiser genehmigt wurde.75 Für die augenblickliche Vertrauensstellung Brucks wie für den Zerfall jedes geregelten Verfahrens unter den Formen kaiserlicher Selbstherrschaft war es bezeichnend, dass der Minister sein gesamtes Finanzprogramm 69 Anselm an James R., 13.11.1855, Gille 2, op. cit., S. 239. 70 Anselm an James R., 18.11.1855, Gille 2, op. cit., S. 239. 71 Cameron hat nachgewiesen, dass auch die französische Regierung einem über den Eisenbahnankauf hinausgehenden Engagement des Crédit Mobilier in Österreich Schwierigkeiten in den Weg legte. Seine Einschätzung, dass Pereires Rückzug aus Wien vor allem hiervon und nicht so sehr von der Wiener Politik bestimmt worden sei, dürfte in dieser Gewichtung kaum zutreffen. Rondo E. Cameron, France [Anm. 47], S. 154. 72 Anselm an James R., 18.11.1855, Gille 2 [Anm. 1], S. 239. 73 Anselm an James R. am 20.10.1855, Gille 2, op. cit., S. 236. (In Wahrheit dachte er gar nicht daran, den Konzessionierungsantrag vor seinem Gang zum Kaiser der Ministerkonferenz vorzulegen, und auch der Reichsrat ist vom Monarchen damit nicht befasst worden.) 74 Fürstenberg und Rothschild an Bruck, 29.10.1855, FA 19197/FM/1855. 75 Vortrag Brucks vom 29. 10. 1855, Konzept, FA 151/GP/1855  ; ah. Entschließung vom 31. 10. und Aushändigung der Statuten am 3.11.1855 FA 19179/FM/1855. Amtliche Veröffentlichung s. Anm. 77.

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weitab von Ischl im direkten Gespräch bei dem Monarchen durchsetzte, ohne dass weder vorher noch nachher Ministerkonferenz oder Reichsrat in die Beratungen zur Konzessionierung der Credit-Anstalt eingeschaltet worden wären. Brucks Konzept, die Bank zu einem in hohem Maße ministeriell gelenkten Instrument der »nationalen« Investitionspolitik zu machen und auch gewisse Elemente spekulativer Geschäftspolitik fernzuhalten, geht aus seinem Vortrag vom 29. Oktober76 sowie aus den genehmigten Statuten deutlich hervor. Die von dem Crédit Mobilier und von den, ihm in dieser Unterhandlung beigetretenen Wechselhäusern Sina und Arnstein & Eskeles proponierten statuarischen Bestimmungen schienen mir im Interesse des, zur Förderung des Handels und der Industrie berufenen Instituts minder geeignet  ; indem sie […] das Maximum des Fondes auf 80 Millionen, und den Betrag desselben vorläufig auf 40 Millionen beschränken, die Verfallszeit der von der Anstalt hinauszugebenden Obligationen auf zwei Monate her­ absetzen, die Geschäfte auf Lieferung und gegen Prämie nicht ausschließen, längere Einzahlungstermine festsetzen, die Einzahlungen auch an ausländischen Plätzen leisten lassen, zehn ausländische Mitglieder in den Verwaltungsrat aufnehmen, und die Ernennung der Mitglieder des Verwaltungsrates von der Genehmigung der Staatsverwaltung unabhängig machen, endlich die Gebarung der Anstalt durch die Staatsverwaltung nur nach denjenigen Normen überwachen lassen wollten, nach welchen der Credit Mobilier in Paris überwacht wird […].

Die Statuten77 legten die »fortwährende Aufsicht über die genaue Beobachtung der Statuten und über die Einhaltung der dem Geschäftsbetriebe […] gezogenen Gränzen durch den […] landesfürstlichen Commissär« fest  ; dieser hatte Einsichtsrecht in alle Geschäftspapiere und Anwesenheitsrecht in allen Sitzungen sowie die Befugnis, jeden Beschluss des Verwaltungsrates oder der Generalversammlung zu sistieren, durch die er die Statuten, aber auch »das Interesse des Staates« verletzt sah  ; hierüber war die »höhere« Entscheidung (also die des Finanzministers) herbeizuholen. Aufsichtsbehörde war das Finanzministerium (nicht das Innenministerium als zuständige Vereinsbehörde). Die Mitglieder des 21köpfigen Verwaltungsrates und des Direktoriums bedurften der Bestätigung durch die Staatsverwaltung. Wenigstens zwei Drittel der Verwaltungsräte muss76 Vortrag wie Anm. 61, Abdruck auch bei Eduard März, Österreichische Industrie- und Bankpolitik der Zeit Franz Josephs I. Am Beispiel der k.k. priv. Österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe, Wien u. a. 1968, S. 36. 77 Reichsgesetzblatt für das Kaisertum Österreich, Jgg. 1855, Nr. 186, S. 615–628.

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ten ihren ständigen Wohnsitz in Wien haben. Das geschäftliche Tätigkeitsfeld war erschöpfend aufgezählt. Das Gründungs- und Finanzierungsgeschäft hatte sich auf inländische Unternehmen und auf die österreichischen Gebietskörperschaften zu beschränken, und auch das laufende Bankgeschäft war in erster Linie auf deren Effekten konzentriert. Zur Sicherung der Solidität waren Termingeschäfte untersagt  ; eigene Obligationen durften nur mit einer Mindestlaufzeit von einem Jahr ausgegeben werden. Am 10. Dezember 1855 legte das Gründerkomitee ein Viertel des Aktienkapitals, also 15 Mio. fl in Wien zur öffentlichen Subskription auf. »Noch nie hat Wien bei irgend einer Subskription einen ähnlichen Andrang erlebt …«, berichtete die Presse über den Vorgang. Die Subskription wurde derart überzeichnet, dass jedem Zeichner nur 2,5 % der Summe zugeteilt wurde78. Unter den Zeichnern befanden sich die bekannten Wiener Wechselhäuser mit großen Summen, darunter auch Eskeles. Die hierbei erworbenen sowie die von den Gründern zurückgehaltenen Aktien wurden bei der günstigen Konjunktur des folgenden Jahres in unbekanntem Umfang börsenmäßig verkauft  ; in diesem Rahmen setzte selbstverständlich auch das Gesamthaus Rothschild einen Teil seiner Tangente europaweit ab. Entscheidender als die Frage nach der frühen Verteilung des Aktienbesitzes für die Richtung der Bankpolitik ist der Blick auf die Zusammensetzung des ersten Verwaltungsrates  ;79 er bestand aus den Gründern und weiteren von den Gründergruppen kooptierten Mitgliedern. Gründer waren Johann Adolf Fürst Schwarzenberg, Max Egon Fürst zu Fürstenberg, Vinzenz Karl Fürst zu Ausersperg und Otto Graf Chotek, ferner die Bankiers Anselm Frh. v. Rothschild, Louis v. Haber und Leopold Ritter v. Lämel. Kooptiert wurden die ungarischen Adeligen Franz Graf Zichy und Johann Graf Bárkoczy, die Wiener Bankiers Jonas Königswarter, Leopold Wiener, Johann Stametz-Mayer und der National­ bankdirektor Rudolph Frh. v. Erggelet  ; Rothschild zog seine Prokuristen Moritz Goldschmidt und Leopold Wertheimstein nach, Schwarzenberg seinen Wirtschaftsbeamten Franz Eymuth. Aus dem Kreis der Industriellen kamen die bekannten Unternehmer Alexander Schoeller und Theodor Hornbostel (letzterer Handelsminister im Revolutionsjahr 1848 und bis 1851 der erste Präsident der Wiener Handels- und Gewerbekammer). Bruck detachierte in den Verwaltungsrat (als vertrauliche Zuträger, wie man vermuten kann) die ihm nahestehenden 78 Zeitungsberichte, zitiert nach März [Anm. 76], S. 38 f. 79 Mitteilung der Gründer über die Zusammensetzung des VR an FM vom 4.12.1855, FA 22052/ FM/1855.

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Wirtschaftsjournalisten Johann B. Zugschwerdt, der soeben mit einer Publikation zur aktuellen Bankenpolitik hervorgetreten war,80 und Gustav Hoefken. Der Norddeutsche Hoefken war Brucks engster Vertrauter, den er schon während seiner ersten Ministertätigkeit ins Handelsministerium geholt und mit der Leitung der offiziösen »Austria« betraut hatte  ; er war ›Ghostwriter‹ des Ministers und eigentlicher Verfasser seiner bekannten wirtschaftspolitischen Denkschriften.81 Zum ersten landesfürstlichen Kommissär wurde Ministerialrat Johann Anton von Brentano bestellt, also jener ursprünglich Triestiner Großhändler, der im Zuge der konservativen Wende der österreichischen Anleihepolitik von 1852 als Spitzenbeamter in das Finanzministerium geholt worden und mit der Wiederherstellung vertrauensvoller Beziehungen zwischen dem Kaiserstaat und dem Haus Rothschild betraut worden war.82 An dem gesamten Prozess der Creditanstalt-Gründung war er als Unterhändler und als Konzipist der Bruckschen Anträge an den Kaiser maßgeblich beteiligt. Als erste drei Bankdirektoren wurden nach längeren Debatten im Februar 1856 der Prager Industrielle Franz Richter, der aus Hamburg stammende Kaufmann Paul Schiff und der Direktor der Niederösterreichischen Escomtebank Bauer berufen  ; 1857 wechselte Hornbostel vom Verwaltungsrat in das Direktorium.83 Für die Kräfteverhältnisse im Verwaltungsrat sind die in der ersten, konsti­ tu­ierenden Sitzung vom 30.  Dezember 1855 von den 18 Anwesenden vorge­ nom­menen Wahlen recht aufschlussreich.84 Sie lassen erkennen, dass die Cre­ dit-­­ Anstalt-Gründung als Koalition zweier Gruppierungen auch jetzt die Loyalitätslinien bestimmte, und lassen dabei zugleich die unterschwellige Rivalität zwischen Rothschild und Haber erahnen. Der die Eröffnungssitzung leitende Fürst zu Fürstenberg begann seine Ansprache mit einem nachdrücklichen Lob auf die Verdienste Louis v. Habers, ohne den die Gründung nicht zustande gekommen wäre.85 Zum Präsidenten des Verwaltungsrates wurde sodann per Akkla­mation Fürst Schwarzenberg bestimmt  ; diese Schilderhebung eines der 80 Johann Baptist Zugschwerdt, Das Bankwesen und die privilegierte österreichische Nationalbank, Wien 1855. 81 Brandt 1 [Anm. 6], S. 281 f.; 2, 815 f. 82 Vgl. oben Text mit Anm. 27. 83 Eingehende Schilderung aller Personen bei März [Anm. 76], S. 48–56, vgl. auch  : Ein Jahrhundert Creditanstalt- Bankverein, Wien 1957, S.13 ff. 84 VR-Protokoll 1/1856 (30.12.1855), Archiv CA. 85 Zum Vergleich  : Als Rothschild am 28.3.1858 erstmals mit seiner Demission aus dem VR drohte, erinnerte er den Präsidenten Fürst Schwarzenberg brieflich daran, »dass es mir im Verein mit Eurer Durchlaucht vergönnt gewesen, einer der Werkmeister in der Errichtung […] gewesen zu sein.« VR-Protokoll 21/1858 (26.5.1858), Anlage. Archiv CA.

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vornehmen Repräsentanten der Fürstengruppe war also offenkundig abgesprochen. Fürst Auersperg war in der ersten Sitzung wegen anderweitiger Verpflichtungen abwesend. – Sollte auch er sich Hoffnungen gemacht haben  ? Dann aber folgten für die Posten der beiden Vizepräsidenten geheime Kampfabstimmungen. Als erster Vizepräsident setzte sich Rothschild mit 11  : 7 gegen Zichy (als nicht der Fürstengruppe angehörigen Kompromiss-Adeligen) durch  ; für den zweiten Vizepräsidenten ergaben sich in der ersten (offenbar parallel durchgeführten) Abstimmung 6 Stimmen für Rothschild, 3 für Zichy, 7 für Haber und 1 für Barkoczy. Nachdem die absolute Mehrheit erforderlich war, entschied Zichy die nachfolgende Stichwahl mit 11  :7 gegen Haber für sich. Zichy galt als Vertrauter Rothschilds. Rothschild siegte also klar über Haber und die Fürsten. Haber hatte zwar, wie man aus den Zahlen schließen kann, in seiner Fürstengruppe eine starke Stellung, Rothschild aber den stärkeren Anhang, zu dem man wohl die anderen Wiener Bankiers und Brucks Abgesandte rechnen muss. Damit zeichnete sich bereits früh eine Parteiengruppierung im Verwaltungsrat ab, die man dann in der Folge als »Rothschildpartei« und »Fürstenpartei« bezeichnete.86 Eine knappe Skizze der Geschäftspolitik der Bank und eine Analyse der persönlichen Rolle von Anselm Rothschild bis zu seinem Ausscheiden aus dem Verwaltungsrat im Februar 1859 soll die Schilderung der Gründungsphase abrunden, deren Ende man mit dem Tod Brucks im April 1860 ansetzen kann. Diese Frühgeschichte der Bank und ihrer Geschäftspolitik wurde geprägt von den Umständen ihrer Entstehung. Bruck betrachtete sie als Instrument der von ihm dirigierten Gründertätigkeit, die vor allem auf einen raschen Eisenbahnbau in allen Teilen der Monarchie abzielte.87 An den Gründungen der verschiedenen Privatgesellschaften wurde die Credit-Anstalt durchweg beteiligt und bei Zögern auch unter Druck gesetzt. Nicht alle der weitgespannten Projekte Brucks  – namentlich im Bereich des Immobilienhandels und der maritimen Interessen  – boten lukrative Gewinnaussichten, und so lassen die geglätteten Verwaltungsratsprotokolle so manche Klage gegen die Überstrapazierung des ›Patriotismus‹ durchscheinen. Von strategischer Bedeutung für den Minister war sodann die Funktion der Bank als kreditpolitisches Interventions- und Auffangsinstrument in der schweren Kreditkrise der Jahre 1857/58, als sie die notleidenden Aktien der ungesicherten jungen Bahngesellschaften durch massenhaften Ankauf in ihr Portefeuille nahm und ihre Bewegungsfreiheit dadurch einschränkte. Hieraus suchte sie sich zugleich durch die Auflage einer Anleihe 86 März [Anm. 74], S. 49, nach Polizeibericht. 87 Für das Folgende Brandt 1 [Anm. 6], S. 251–378.

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der Bank selbst in Lotterie-Form (»Credit-Lose«) zu befreien, die in intensiver Kooperation mit der Finanzverwaltung durchgeführt wurde. Das Finanzministerium griff der Anstalt zudem verdeckt durch ansehnliche Finanzhilfen unter die Arme und ließ diese Transaktionen verwaltungsintern durch Austausch von Industrieaktien gegen Staatspapiere des Staatsschuldentilgungsfonds verschleiern. Diese für den Geschäftsstil Brucks charakteristischen Praktiken halfen in der Tat über die Krise hinweg, führten dabei zugleich zu einer engen Verfilzung wechselseitiger Forderungen von Bank und Staat, mit deren Entflechtung Brucks Nachfolger noch eine Weile beschäftigt sein sollte.88 Auch die Einschaltung der Bank in die Heereslieferungsgeschäfte des Krieges von 1859 und die Verstrickung von Direktor Richter und Brucks selbst in Korruptionsvorwürfe, die im April 1860 den Freitod des Ministers auslösten, belegen (unbeschadet strafprozessualer Rehabilitierungen89) jedenfalls deutlich die Intensität der Kooperation. Übrigens ging der Verwaltungsrat schon im Februar 1860 zu Bruck auf Distanz, als er die Teilnahme an einer großen staatlichen Nachkriegs-Anleihe, mit der der Minister sein politisches Schicksal eng verknüpft hatte, verweigerte. Das Institut distanzierte sich nicht nur von seinem Direktor Richter, sondern (implizit) auch von seinem Protektor schon zu dessen Lebzeiten.90 Ein zweites Kennzeichen der Frühzeit war die anfänglich intensive aktive Teilnahme Anselm Rothschilds an den Geschäften, wie dies an den Protokollen des Verwaltungsrates ablesbar ist. In den ersten Monaten übernahm der Verwaltungsrat unmittelbar die Direktionsgeschäfte, wobei Rothschild sich führend im »Finanz-Comité« betätigte, das für die Börsenoperationen zuständig war.91 Durch dieses Engagement zögerte sich die Bestellung von Direktoren eine Weile hinaus, wobei Rothschild sogar der Meinung war, es bedürfe vorerst gar keiner Direktoren, wobei über die Bewertung der Bewerber erhebliche Uneinigkeit bestand. Die überwältigende Majorität setzte dann aber die Einsetzung eines Dreierdirektoriums mit Richter als erstem Direktor durch, stellte diesem Gremium jedoch zugleich einen »Direktionsbeirat« zur Seite, dem Rothschild wiederum angehörte.92 Neben dem laufenden Bankgeschäft, dem Rothschild 88 Zum heimlichen Verkauf dieser bereits aus dem Verkehr gezogenen Obligationen durch Rothschild an den westeuropäischen Börsen zur Defizitdeckung vgl. Brandt 2 [Anm. 6], S. 750 f., 756 ff. 89 Der Prozeß Richter. Nach amtlichen Aktenstücken und stenographischen Aufzeichnungen bearbeitet von einem Fachmann, Wien 1860. 90 Brandt 2 [Anm. 6], S. 891 f. 91 Hierzu die VR-Protokolle 1, 4, 8, 10, 13/1856, (30.12.1855, 28.1., 11.3., 17.3., 28.4.1856), Archiv CA. 92 Hierzu die VR-Protokolle 6, 7, 9, 14/1856 (25.2., 28.2., 14.3., 14.5.1856), Archiv CA.

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auf diese Weise sein stetiges Interesse widmete, wurde rasch, wie geplant, das Gründungs- und Finanzierungsgeschäft zur wichtigsten Domäne der Banktätigkeit.93 Dabei bewährte sich die häufig enge personelle Verzahnung der Eisenbahn-Gründungscomités mit dem Verwaltungsrat der Bank. Die Credit-Anstalt war auf diese Weise weniger eine handelnde Einheit, die die einzelnen Gründungen lenkte, als vielmehr eine kapitalkräftige Plattform zur Koordination der verschiedenen Interessen, zur Bereitstellung erheblicher Mittel für die übernommenen Anteile und zur börsenmäßigen Absicherung der Gründungen. Insbesondere für das machtvolle und kapitalkräftige Haus Rothschild galt, dass es den Ausbau seines Eisenbahnimperiums (selbstverständlich) im unmittelbaren Einvernehmen mit der Finanzverwaltung und anderen Finanzgruppen betrieb und die Credit-Anstalt sodann als sekundäres Hilfsinstrument der Finanzierung und Kurspflege heranzog. In dieses Bild fügt sich auch, dass in der Krise von 1857/58 die Nordbahn die Sorge für ihre Aktienkurse auf die Bank abwälzte und ihr deren massenhaften Ankauf überließ, was dann wiederum durch die genannten staatlichen Stützungsmaßnahmen aufgefangen wurde.94 Es konnte nicht ausbleiben, dass insbesondere die Anstrengungen der Krisenbewältigung auch zu Spannungen im Verwaltungsrat führten. Auseinandersetzungen über ›Insider‹-Geschäfte einzelner Mitglieder gehörten ebenso dazu wie der Dauerstreit um Presseangriffe, die auf undichte Stellen im Gremium zurückzuführen waren.95 Auch das Ausscheiden Anselm Rothschilds im Januar 1859 ist auf – schwer greifbare – Misshelligkeiten und Parteiungen im Verwaltungsrat zurückzuführen. Hintergrund war der Versuch Rothschilds, das Direktionsmitglied der Nordbahn Prof. Stummer in den Verwaltungsrat zu bringen. Damit scheiterte er 1857 aus formalen Gründen, im März 1858 aber daran, dass die Generalversammlung gegen die Vorgabe der Verwaltungsratsmehrheit den Bankier und Börsengewaltigen Eduard Todesco wählte. Dabei hielt die Verwaltungsratsminderheit offenkundig die beschlossene gemeinsame Linie gegenüber der Generalversammlung nicht ein.96 Rothschild richtete daraufhin eine Aus93 Übersicht bei März [Anm. 76], S. 57–94. 94 Brandt 1 [Anm. 6], S. 366. 95 Beispiele bei März [Anm. 76], S. 92 ff. 96 Anführer der erfolgreichen Minderheit war das Gründungsmitglied Leopold Lämel. Die Opposition richtete sich offenkundig gegen die Dominanz Rothschilds und seines Anhangs im VR. Verbandssoziologisch ist der Vorgang insofern von Interesse, als er das Problem des geschlossenen Auftretens nach außen bei divergierenden Binnenbeziehungen und das Problem der oligarchischen Lenkung von Generalversammlungen durch den Verwaltungsrat berührt. Rothschild wollte offenkundig dieses Lenkungsverfahren gesichert wissen. Der VR instrumentalisierte dazu §40 der

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trittserklärung an Schwarzenberg,97 in der er seine Niederlage in den Rang einer Grundsatzfrage erhob  : Die Bande der Eintracht und des collegialen Zusammenhaltens bildeten gleichsam ein Palladium, welches die Anstalt gegen die vielseitigen Verunglimpfungen und böswilligen Bestrebungen, die solche anfeindeten, bewahrte. Divergierende Meinungen, dergleichen zuweilen auftauchten, wurden in versöhnender Weise ausgeglichen  ; die Außenwelt erkannte nur einen Willen, ein harmonisch vereintes Wirken.  – So die Vergangenheit. Die Spaltung jedoch, welche in so peremptorischer Weise in einer Frage sich kundgegeben, deren Tragweite nicht unterschätzt werden darf, stellt der Zukunft ein Prognostikon, dessen Verwirklichung nicht zu berechnende Folgen über unser Institut herbeizuführen geeignet ist. Wenn man behauptet, daß Ansichten und Aufstellungen der Minderheit im Gegensatz zu den Beschlüssen der Mehrheit des Verwaltungsrates, zu einer rechtlichen Geltung gebracht werden können  ; wenn durch eine geduldige Hinnahme ihnen ein loyaler Charakter aufgedrückt und so zu sagen die gesetzliche Weihe zugestanden wird, so dürfte das Vorgefallene bei späteren Vorkommenheiten und namentlich am Vorabend der Generalversammlung irgend einer Fraktion des Verwaltungsrates den glimpflichsten Vorwand bieten, gegen die Majoritätsbeschlüsse sich aufzulehnen, zu agitieren, zu wirken. Zu welchen Resultaten ein solcher Gang der Dinge führen würde, bedarf wohl keines weiteren Kommentars  : sicherlich nur zum moralischen und materiellen Nachteil unseres Unternehmens. Durchdrungen von dem Bewußtsein, daß für die förderliche Handhabung der Geschäfte von Körperschaften nur die Stimmenmehrheit entscheidend und maßgebend sein kann, und in Voraussicht der früh oder spät eintretenden Verwirklichung jener Eventualitäten, sehe ich mich in die Notwendigkeit versetzt einem Amte zu entsagen, dessen fernere AusStatuten. Dieser sah vor, dass der VR vorzeitig ausscheidende Mitglieder provisorisch durch Kooptation ersetzte und in der nächsten GV eine definitive Wahl vornehmen ließ. So wurden im Vorfeld der GV von 1857 drei Vakanzen durch Kooptation ausgefüllt  ; diese Entscheidung ließ man erfolgreich in der GV absegnen. Schon damals gab es zur dritten Position eine Kampfabstimmung von 8  :8 zwischen Prof. Stummer und dem Bankier und Rat in der Börsenkammer Peter Murmann  ; Schwarzenberg entschied das Patt als Vorsitzender zugunsten Stummers. Danach stellte sich heraus, dass Stummer kein Aktionär und daher nicht wahlfähig war, so dass dann einhellig Murmann bestimmt wurde. VR-Protokolle 5/1857 (15.1.) u.11/1857 (19.2.1857). Im Vorfeld der GV von 1858 wurde dasselbe Verfahren angewandt, wobei es abermals zu einer Kampfabstimmung kam  : Mit 11  :7 wurde Stummer gegen Todesco zum provisor. VR gewählt und kurz darauf der GV vorgeschlagen  ; hier allerdings wurde Todesco gewählt. VR-Protokolle 6/1858 (4.2.) und 13b/1858 (30.3.2858), Archiv CA 97 Rothschild an Schwarzenberg, 28.3.1858, Kopie als Anlage in VR-Protokoll 21/1858, 26.5.1858, Archiv CA.

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übung nach einer neuerlichen Interpretation meinen Begriffen von Recht und Schicklichkeit nicht entspricht. Nicht schwer dürfte es fallen, meine Stelle durch einen Würdigeren zu besetzen  ; sicherlich jedoch durch Niemanden, dem für die Interessen und die Wohlfahrt der Anstalt ein wärmeres Herz im Busen schlägt als mir. Wenn auch entfernt, sollen meine Sympathien für dieselbe nicht erkalten, und stets werde ich mit Befriedigung des Umstandes eingedenk bleiben, daß es mir im Verein mit E.D. vergönnt gewesen, einer der Werkmeister in der Errichtung eines Institutes gewesen zu sein, welches in einer so kurzen Zeitperiode unter allen gleichartigen Schöpfungen einen hervorragenden Rang einzunehmen vermochte.

Diese emphatische Rücktrittserklärung behandelte Schwarzenberg zunächst vertraulich und versuchte in der Folge im Verein mit Zichy, Rothschild umzustimmen. Auf nachdrückliche Intervention Brucks und Brentanos hin beschloss der Verwaltungsrat, die statuarische Möglichkeit provisorischer Kooptation von Mitgliedern zwar beizubehalten, aber unmittelbar vor Generalversammlungen zur Vermeidung von Zerwürfnissen tunlichst nicht anzuwenden. Ferner drang Brentano erfolgreich auf einen Beschluss, dass im Interesse geschlossenen Auftretens und Handelns die Minderheit sich der Mehrheit stets »unterzuordnen« habe. Das darauf bezogene Protokoll wiederum wurde nicht von allen Räten bzw. von Lämel nur mit Vorbehalt unterschrieben.98 Rothschild erblickte darin den Vorsatz, sich Mehrheitsbeschlüssen auch weiterhin zu entziehen, und forderte Ende Mai unter Berufung auf sein »moralisches Gefühl«, dem Verwaltungsrat seinen Austritt nunmehr bekannt zu machen.99 Die Sensation, die die Veröffentlichung dieses Schrittes hervorrufen würde, stürzte den Verwaltungsrat naturgemäß in außerordentliche Verlegenheit, und so setzten abermals Vermittlungsbemühungen ein. Als deren Ergebnis willigte Rothschild brieflich ein, »im Interesse der Credit-Anstalt die Entscheidung der obschwebenden Frage« bis zur Rückkehr des länger abwesenden Schwarzenberg »in der Schwebe« zu halten und seinen Austritt als »nicht erfolgt zu betrachten«. Der Verwaltungsrat nahm »die Mitteilung über den nicht erfolgten Austritt […] mit besonderer Befriedigung zur Kenntnis« und hoffte auf friedlichen Ausgleich der ganzen Angelegenheit.100 Da außer Schwarzenberg nunmehr auch Zichy für längere Zeit abwesend sein würde, wählte der Verwaltungsrat wenige Tage später »für den  98 VR-Protokoll 13b (30.3.1858), Archiv CA.  99 Rothschild an Schwarzenberg, 22.5.1858  ; Rothschild an Richter, 25.5.1858, als Anlage in VRProt. 21/1858 (26.5.1858), Archiv CA. 100 Berichte und Verhandlungen VR-Prott. 21, 22, 23/1858 (26.5., 2.6., 10.6.1858), Archiv CA.

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Fall der Verhinderung« von Rothschild einen weiteren stellvertretenden Vorsitzenden.101 Tatsächlich kehrte Anselm Rothschild denn auch nicht mehr in den Verwaltungsrat zurück. Während der gesamten zweiten Hälfte des Jahres 1858 war er intensiv mit dem Kauf der Südbahn, der Fusionierung dieser mit der lombardo-venezianischen und zentralitalienischen Gesellschaft, der Liquidierung der Kärntner Bahn und der Verdrängung des Crédit Mobilier aus der Franz-Joseph-Orientbahn befasst.102 Insofern kommt dem Hinweis auf seine Inanspruchnahme durch die »anderweitigen vielen Geschäfte«, mit der er Schwarzenberg Anfang Februar 1859 endgültig seinen Austritt aus dem Verwaltungsrat anzeigte, ein (zusätzlicher) Wahrheitsgehalt zu. Das Gremium erklärte in einem von allen Mitgliedern unterzeichneten Brief sein Bedauern.103 Man wird die psychologische Erklärung für Anselm Rothschilds Verhalten in Mentalität und Rolle des patriarchalischen Großunternehmers zu suchen haben, der in dem Bereich seines eigenen, an Bedeutung und Wirksamkeit die Credit-Anstalt überragenden Hauses als sein eigener Herr zu handeln gewohnt war. In der als nachgeordnetes Institut betrachteten Credit-Anstalt aber sollte er sich in einem Kollegialorgan abmühen und mit den Eigeninteressen und der ›Renitenz‹ Mindermächtiger herumschlagen  ! Insofern waren sein persönlicher Austritt und die Überlassung der Ratsgeschäfte an seine dem Gremium angehörigen Untergebenen konsequent. Ein Rückzug seines Hauses aus der Bank war damit in keiner Weise verbunden, wie er denn auch seinen Pariser Onkel im Zusammenhang mit seiner persönlichen Verärgerung beschwor, nicht etwa die Anteile an der Credit-Anstalt zu verkaufen.104 Der persönliche Rückzug Anselm Rothschilds aus dem Verwaltungsrat leitete das Ende der ersten, der Gründungsepoche der Bank ein, das dann vor allem durch den Freitod Brucks 1860 markiert wurde. 1860 begann mit Schwarzenberg auch der Auszug der Gründer-Magnaten. Die Credit-Anstalt trat in die Phase geschäftlicher Normalität ein.

101 VR-Prot. 24/1858 (16.6.1858), Archiv CA. 102 Brandt 1 [Anm. 6], S. 366–372. 103 VR-Prot. 5/1859 (8.2.1859), Archiv CA. 104 Gille 2 [Anm. 1], S. 366 f. Zu den archivalischen Nachweisen  : FA = Finanzarchiv Wien, FM = Präsidialakten, GP = Geheimakten  ; HHStA = Haus- Hof- und Staatsarchiv Wien, MCZ = Ministerkonferenz, RR/R = Reichsrat, Gremialakten  ; Archiv CA = Archiv der Credit-Anstalt Wien, VR = Verwaltungsrat.

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Der österreichische ›Staatsbankrott‹ von 1811 – Vorgeschichte und Folgen Probleme der Kriegslastenbewältigung in einer schwach integrierten Monarchie

Die Serie der Koalitionskriege ist in der Habsburgermonarchie – ihrem Status als frühneuzeitlichem Staatenkonglomerat mit geringer politischer Integration und gering entwickelter Finanzverfassung entsprechend – am wenigsten durch Sonderbesteuerung, vielmehr zunächst durch in- und ausländische Anleihen und nach deren Versiegen um 1800 vor allem durch Papiergeldausgabe finanziert worden. Österreich machte darin im Zeitalter der Französischen Revolution und der Revolutions- bzw. Napoleonischen Kriege freilich keine Ausnahme. Alle an den Kriegen beteiligten Mächte griffen – allerdings zumeist in geringerem Maße und mit erfolgreicheren Methoden der nachfolgenden Kriegslastenbewältigung – zum Mittel der Emission metallisch ungedeckter Anweisungen aller Art.1 In dem Maße wie ein solches Verfahren zu einem inflationsbedingten Kaufkraftverlust dieses Geldes führte, stellte es einen aus Schwäche geborenen – objektiv betrügerischen – Akt der ›Besteuerung‹ dar, der hinter dem Rücken der Beteiligten ablief und unter dem Aspekt der interpersonellen Lastenverteilung außerordentlich primitiv und willkürlich war. Objektiv betrügerisch war diese Vorgehensweise insofern, als sie rechtlich-politisch an der Fiktion festhielt, mit 1 Eine vergleichende Analyse ist an dieser Stelle nicht möglich. Einige Hinweise  : Das revolu­tionäre Frankreich beendete seine Assignatenwirtschaft 1797 mit der ersatzlosen Außerkurssetzung des Papiergeldes. Die napoleonischen Kriege wurden in hohem Maße mit den Kontributionen der Unterlegenen finanziert. Im weiteren 19. Jh. wurde Frankreich das klassische Land der Kriegsfinanzierung durch Anleihen. England verlieh den Banknoten 1797–1821 Zwangskurs und hob die Bareinlösungspflicht auf  ; parallel dazu hohe Kriegssteuern, die eine rasche Währungsrestauration ermöglichten. Neben Anleihen spielte auch im 19. Jh. die Besteuerung für die Kriegsfinanzierung eine maßgebliche Rolle. Preußen folgte im 18. und auch im 19. Jh. der Tradition einer antizipierenden Thesaurierung von Kriegsschatz. In den napoleon. Kriegen dann doch Münzverschlechterung und Ausgabe von Tresorscheinen, aber rasche Rückkehr zur reinen Metallumlaufwährung. Nächst Österreich verließ sich auch Russland besonders stark auf Papiergeldemission mit anschließenden Sanierungsproblemen  ; für beide Großmächte gilt dieses Verhalten auch im weiteren 19. Jh. – Zeichen ihrer finanzpolitischen relativen Rückständigkeit. Historisch vergleichende Übersicht von Wilhelm Lexis, Artikel »Papiergeld«, in  : HWStW, Bd. 6, Jena 31910, S. 984–1007, 998 ff. Im 20. Jh. abnehmendes finanzwiss. Interesse an den historischen Sachverhalten. Vgl. aber knapp Willi A. Boelcke, Artikel »Rüstungswirtschaft I  : Kriegswirtschaft« in  : HWWW, Bd.  6, Stuttgart u. a. 1981, S. 503–517.

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der Zettelausgabe eine Staatsschuld gegenüber den eigenen Untertanen zu begründen, die es am Ende einzulösen gelte. Wie im Falle der Anleihen auch wurde das Staatspapiergeld dabei unter der Prämisse der Trennung von monarchischem Staat und bürgerlicher ›Gesellschaft‹ als privatrechtliches Schuldverhältnis aufgefasst. Tatsächlich lassen jedoch die mit der Zettelausgabe eingeleiteten Prozesse inflationärer Geldentwertung in ihrer materiellen Wirkung diese Trennung von Staat und Gesellschaft hinter sich, denn die Inflationswirkungen betrafen nicht nur das Verhältnis der Kontribuenten zur Obrigkeit, sondern alle privatrechtlichen Verbindlichkeiten der Untertanen resp. Bürger untereinander mit der Folge, dass sich das gesamte Gefüge der Verbindlichkeiten in heilloser Weise verzerrte. Damit wurde eine Situation geschaffen, die durch eine Währungsrestauration im Sinne einer vollwertigen Entschuldung des Staates gar nicht mehr zu heilen war. Denn abgesehen vom Unvermögen des Staates zu einem solchen Akt wäre eine Wiederaufwertung zugunsten aller Letztinhaber des Papiergeldes durchaus kein Akt materieller Gerechtigkeit gewesen. Insofern konnte eine vollständige Rehabilitierung des Papiergeldes bzw. seine volle Anerkennung als Staatsschuld rebus sic stantibus in keiner Hinsicht ein vernünftiges Ziel sein.2 Tatsächlich spiegelt der Wertverlust des inflationären Papiergeldes lediglich den kriegsbedingt eingetretenen Raubbau an Gütern und Leistungen, der von den Staatsangehörigen insgesamt zu tragen ist. Die Endsanierung der Währung kann lediglich im Sinne eines nachträglichen Lastenausgleichs über die interpersonale Kriegslastenverteilung entscheiden, was umso schwieriger wird, je nachhaltiger die vorausgegangene Inflation das Gefüge aller öffentlichen und privaten Verbindlichkeiten zerrüttet hat. In der modernen Finanzwissenschaft ist es daher ein Gemeinplatz, dass Kriege im Inland angemessen nur durch Besteuerung zu finanzieren sind, die nicht zuletzt bei der Abschöpfung kriegsbedingter Einkommensströme anzusetzen hat. Auf diese Weise ist auch  – möglichst in Engführung  – die finanz2 In den theoretischen Auseinandersetzungen um den Staatsbankerott konstatierte Friedrich v. Gentz [Anm.  6] schon 1821, dass die Entwertung des Papiergeldes eine Form der indirekten Be­­steuerung darstelle  ; das Papiergeld sei keine Staatsschuld. Scharfe Kritik daran durch Adolf Wagner [Anm.  6], der 1861 vor dem Hintergrund aktueller währungspolitischer Auseinandersetzungen in Österreich von schuldrechtlichen Voraussetzungen ausgehend das Prinzip der ­(for­malen) Rechtswahrung vertrat. Auch Wagner verlangte jedoch keine Aufwertung der Noten. [Vgl. unten Anm. 40.] Stiassny [Anm. 6] kehrte zum Standpunkt von Gentz zurück. Bei Johanna Kraft [Anm. 6] nach den Weltkriegserfahrungen Verschiebung der theoretischen Erwägungen hin zur Frage der Priorität einer Haushaltssanierung mit anschließender Währungsstabilisierung ohne Abwertung  : für Wallis in der Lage von 1811 diese Option verneint. [Zur Literatur Anmerkung 6.]

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technisch vielfach erforderliche Erhöhung der Liquidität durch Enthortung und Ausgabe von Anweisungen begleitend wieder abzuschöpfen und in Grenzen zu halten, um Inflationseffekte gar nicht erst aufkommen zu lassen.3 Es muss nicht betont werden, dass diese modellorientierten B ­ emerkungen den voll ausgebildeten, politisch integrierten und über die erforderlichen Besteu­ e­rungstechniken verfügenden Staatsbürger- und Institutionenstaat vor Augen haben, mit dem eine klare Trennung von staatsrechtlichem Innen- und Außenverhältnis, von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit einher geht. Der frühmoderne europäische Staat erfüllte derartige Bedingungen weder gesamtpolitisch noch institutionell und finanztechnisch. Es wird sich immerhin zeigen, dass die österreichischen Staatsmänner sich in der Spätphase der napoleonischen Kriegsepoche der realen Problematik von finanzieller Aufbringung, Lastenverteilung und Sanierung jenseits von Restaurationsvorstellungen durchaus bewusst waren  ; eine zureichende Lösung des Problems eines nachträglichen Lastenausgleichs fanden sie selbstverständlich nicht. Man wird das Urteil über Erfolg oder Misserfolg der Sanierungsmaßnahmen daher nicht an Gerechtigkeitsmaximen, sondern eher an dem pragmatischen Kriterium ihrer politischen Durchsetzung und Akzeptanz sowie ihrer weiteren (finanz-)wirtschaftlichen Folgen zu orientieren haben. In Österreich spiegelt die Haushaltsführung4 mit ihrem noch stark dezentralen Rechnungs- und Kassenwesen hinsichtlich der behördlichen Zuständigkeit immer noch – wie vor der Reformzeit allgemein in Deutschland – die historische Genese der Einnahmewirtschaft als Regalien und domanialer Eigenwirtschaft einerseits und aus ständischen Kontributionen andererseits wieder. Die Wiener Hofkammer und die gesonderte ungarische Hofkammer waren lediglich für den ersteren Komplex zuständig, also für die Verwaltung der (schwach entwickelten) Berg-, Forst- und Domänenwirtschaft, der Monopole und der nach moderner 3 Für die moderne theoretische Erfassung des Kriegsfinanzierungsproblems war das Weltkriegserlebnis der entscheidende Ausgangspunkt. Vgl. Götz Briefs, Artikel »Kriegswirtschaftslehre und Kriegswirtschaftspolitik«, in  : HWStW 4. Aufl., Bd. 5, Jena 1923, S. 984 ff.; Otto Donner u. Bernhard Benning, Kriegskosten und Grenzen der Staatsverschuldung, Jena 1942  ; Konrad Roesler, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, Berlin 1967  ; für das weitere 20. Jh. Willi A. Boelcke, Kriegswirtschaft als theoretisches Problem, in  : HWWW Bd. 6 [Anm. 1], S.507 ff. 4 Überblick mit Auswertung auch der zeitgenössischen Literatur bei Harm-Hinrich Brandt, Der Österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde., Göttingen 1978, Bd. 1, S. 12 ff., 47 ff. Vergleichender Überblick zuletzt  : Hans-Peter Ullmann, Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute, München 2005.

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Nomenklatur sogenannten indirekten Steuern zuständig. Die Entwicklungsmöglichkeiten der Verbrauchs- und Verkehrsbesteuerung waren dabei noch eng begrenzt, da steuerbare Tatbestandsmerkmale nur schwer zu entwickeln waren und Aufwand und Ertrag bei unzulänglichen Fiskaltechniken vor allem in den unterentwickelten Regionen in keinem Verhältnis standen. Neben der Einnahmewirtschaft der Kammer stand die als direkte Besteuerung ausgestattete Kontribution, die nach wie vor der Bewilligung durch die Landstände der einzelnen Kronländer unterlag. Behördlich ressortierten sie bei der Vereinigten Österreichisch-Böhmischen Hofkanzlei, der Ungarischen Hofkanzlei und der Siebenbürgischen Hofkanzlei als Zentralstellen der allgemeinen Innenverwaltung und nicht bei der Kammer. Bemerkenswert ist allerdings, dass diese behördliche Kompetenzverteilung und ihr Hintergrund, die ständische Bewilligung der direkten Steuern, bis 1848 erhalten blieben. Dabei verhandelte die Regierung stets mit allen kronländischen Ständen einzeln  ; die Habsburger haben auch in der westlichen Reichshälfte stets vermieden, états généraux oder auch nur vereinigte Deputationen o. dgl. einzurichten. Die ständische Bewilligung war hierbei im Westen mit der Durchsetzung des »Absolutismus« entpolitisiert worden  ; auch hatte die Durchsetzung des theresianisch-josefinischen Grundsteuerkatasters die Erhebungsmerkmale gemäß dem Ertragssteuerprinzip objektiviert, den Adel in die Besteuerung einbezogen und damit das Umlageverfahren behördlichen Vorgaben unterworfen. Die neue Rationalität des Umlageverfahrens blieb aber auf die jeweiligen Einzelländer beschränkt, zwischen den Ländern bestanden erhebliche Leistungsunterschiede. Der Preis für die Entpolitisierung der Stände war die dauerhafte Fixierung der kronlandweisen Repartitionsanteile (und auch dies bis 1848). Auch Steuereinhebung, Kassenführung und Ablieferung blieben in ständischer Hand. Eine Dynamisierung der direkten Steuern im Sinne einer modernen variablen Quotensteuer war damit erschwert. In der ungarischen Reichshälfte aber blieb (nach dem Scheitern der absolutistischen Versuche Josefs II.) der vorstaatliche Fürst-Stände-Dualismus mit seinem Rückhalt in der Selbstverwaltung der Komitate erhalten. Unterhalb der ungarischen Hofkanzlei gab es keine landesfürstlichen Behörden. Die Bereitschaft des ungarischen Reichstages zur Übernahme von Kontributionslasten war äußerst gering, eine Besteuerung des Adels wurde überhaupt abgelehnt. Infolge dessen leistete Ungarn lediglich einen Beitrag von jährlich 4 Mio. fl. Siebenbürgen 1 Mio. als Kontribution zu den Zentralfinanzen. (Zum begründenden Maßstab diente der Unterhalt der ungarischen Regimenter.) Alle Sonderlasten, die von Wien ohne ungarische politische Mitbeteiligung zu verantworten waren, wurden abgewiesen. Diese Sonderstellung der Ungarischen Länder blockierte eine Dynamisie-

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rung der Einnahmewirtschaft des Reiches bis 1848 entscheidend. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass auch in der Krisenperiode der napoleonischen Kriege die Sonderstellung Ungarn ein entscheidendes Hemmnis für eine von der Sache her gebotene Kriegsbesteuerung aller Länder der Monarchie darstellte. Es liegt auf der Hand, dass auf der Grundlage eines derartigen politisch wie fiskalisch starren Systems eine Sonderbesteuerung zur Deckung außergewöhnlicher Ausgaben wenig aussichtsreich war. Die Kriege des 18.  Jahrhunderts wurden in hohem Maße durch Anleihen finanziert, die überwiegend im Inland, zu erheblichen Teilen aber auch unter Vermittlung dortiger Privatbankiers in Frankfurt, Regensburg, Amsterdam und Rotterdam aufgelegt wurden. Mit Beginn der Koalitionskriege gegen Frankreich kam der Londoner Kapitalmarkt hinzu. Der Nominalwert der fundierten Schuld betrug Ende 1790 etwa 370 Mio. fl., die Zinslast 15 Mio., Ende 1805 war der Schuldenstand (ohne Papiergeld) auf ca. 685 Mio. gestiegen, davon wurden etwa 160 Mio. im Ausland gehalten. Hierbei spielten die Institutionen des katholischen Deutschland eine bedeutende Rolle. Die im Inland untergebrachte Schuld befand sich wiederum zu erheblichen Teilen im Besitz der parafiskalischen Sonderfonds, die vor allem durch die Säkularisation von Kirchengut entstanden waren und deren Vermögen auf diese Weise zu Staatszwecken herangezogen wurde. Zinsen wurden ab 1794 in Metall auf westlichen Plätzen nicht mehr gezahlt und dafür neue Schuldverschreibungen ausgegeben. Im Übrigen wurden die Zinsen in Papier beglichen.5 Die Fondswirtschaft verrät ebenso wie die Inanspruchnahme einzelner Landstände zur Vermittlung oder Garantie von Staatsanleihen das noch geringe Niveau administrativer und politischer Staatsintegration. Die Gewohnheit spezieller Hypothezierung einzelner Anleihen auf bestimmte Staatsunternehmen (Salinen etwa) und einzelner Steuergefälle weist in dieselbe Richtung. Entscheidend für das weitere Geschehen6 bis zum endgültigen Sieg über Napoleon 1815 wurde, dass das Versiegen der Anleihemärkte zu verstärkter 5 Überblick bei Franz v. Mensi, Artikel »Staatsschuld«, in  : Österreichisches Staatswörterbuch, Wien 2 1905–1909, Bd. 2, S. 420–426, 437 ff. Tabellen bei Carl v. Czoernig, Statistisches Handbüchlein für die Österreichische Monarchie, Wien 1861, S. 132 ff. Vgl. auch die Tabellen 1 u. 2 im Anhang, mit Kommentar. Aktuell zum Schuldendienst Paul Stiassny, [Anm. 6], S. 18 ff. 6 Die »Bancozettel-Periode«, also die Phase forcierter Papiergeldfinanzierung bis zum Staatsbankrott von 1811 und der Folgezeit bis zur endgültigen Sanierung 1815–20, hat eine Fülle zeitgenössischer systematisch-kritischer sowie historiographischer Literatur hervorgebracht. Auch die historische Beschäftigung war stark vom Währungsgeschehen in der Österreichisch-ungarischen Monarchie bis zu den Sanierungsproblemen der Nach-Weltkriegszeit motiviert  ; danach bricht das wissenschaftliche Interesse ab. Darstellungen aus der Feder von aktiv Beteiligten  : Friedrich v. Gentz, Exposé des mesures adoptées en Autriche depuis l’année 1816 pour l’extinction graduelle

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Papiergeldfinanzierung überleitete. Dies wiederum führte inflationsbedingt zu einer Entwertung der Zettel gegenüber der Metallwährung, zu einer Entwertung der nominell gleichbleibenden Zinszahlungen in Papier. Selbstverständlich entwerteten sich auch die nominell gleichbleibenden Steuereinnahmen, wohingegen die wichtigsten Ausgabeposten (Heeresbedarf ) der Preisinflationierung folgten. Notwendigerweise setzte der stark defizitäre Staatshaushalt7 in Verbindung mit der Eigendynamik des Währungszerfalls eine Spirale weiterer Papiergeldemission mit prozyklischem Kursverfall in Gang. (Daneben wurden in großem Maßstab geringerwertige Kupferscheidemünzen geprägt  ; dieser nicht unbedeutende Problemkomplex bleibt hier unberücksichtigt.) Bei dem fraglichen Papiergeld handelte es sich formal um unverzinsliche Noten des Wiener Stadt-Banco (»Bancozettel«), die in dieser Form im Zusammenhang mit dem Siebenjährigen Krieg seit 1762 ausgegeben wurden. Der Wiener Stadt-Banco war 1705/06 unter der Garantie des seinerzeit sehr kreditwürdigen Wiener Magistrats gegründet worden, um neben anderen Bankgeschäften vor allem die Verwaltung und Tilgung von Staatsschulden zu betreiben und dem Staat im Rahmen seines Emissionsgeschäfts (zunächst durch verzinsliche Banco-Obligationen) laufend (Kassen-)Kredite zu gewähren. Zur Sicherung der Bareinlösung und für die Tilgungsgeschäfte waren der Bank von der Hofkammer bedu papier-monnaie, suivi de quelques observations generales sur cette matière, (geschrieben Februar 1821), in  : Gustav Schlesier (Hg.), Schriften von Friedrich von Gentz. Ein Denkmal, Teil 3, Mannheim 1839, S. 300–366  ; Albrecht Tebeldi [d.i. Karl Beidtel], Die Geldangelegenheiten Österreichs, Leipzig 1847  ; Josef v. Hauer, Beiträge zur Geschichte der österreichischen Finanzen, Wien 1848  ; Franz Xaver v. Pillersdorf, Die österreichischen Finanzen, Wien 1851. Finanzwissenschaftliche Behandlung durch Adolph Wagner, Zur Geschichte und Kritik der österreichischen Bankozettelperiode, in  : ZS f.d.ges.StWiss. 17 (1861), S. 577–635, 19 (1863), S. 392–488. Erste historische Darstellung auf der Grundlage archivalischer Quellenforschung Adolf Beer, Die Finanzen Österreichs im 19.  Jahrhundert, Prag 1877, Ndr. Wien 1973. Nach der Jahrhundertwende Übergang von der kritischen Bewertung zu umfassenderem Quellenstudium und Analyse der Handlungsmöglichkeiten in den konkreten historischen Situationen. So  : Paul Stiassny, Der österreichische Staatsbankerott von 1811 (mit Quellenanhang), Wien 1911  ; Viktor Hofmann v. Wellenhof, Das Finanzsystem des Grafen O’Donell und die Vermögenssteuer des Jahres 1810, Wien 1918  ; ders., Die Devalvierung des österreichischen Papiergeldes im Jahre 1811, in  : Schrr.d. Ver.f.SozPol. 165 (1923), S. 1–231  ; Johanna Kraft, Die Finanzreform des Grafen Wallis und der Staatsbankerott von 1811, Graz-Wien-Leipzig 1927. Zur Sanierung nach 1815 Josef Raudnitz, Das österreichische Staatspapiergeld und die privilegierte Nationalbank, Wien 1917  ; Erich Fischer, Der Staatsbankerott von 1816 und die Sanierung der österreichischen Finanzen nach den napoleonischen Kriegen, in  : ZS f.Volkswirtsch.u.SozPol. 4 (1924), S. 252–317. 7 Zum Staatshaushalt für die Zeit der napoleonischen Kriege vgl. Tabelle 1 im Anhang, mit einschränkendem Kommentar.

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stimmte Steuereinnahmen der Hofkammer (Bankalgefälle) übertragen worden. Es handelte sich also um eine für die frühe Bankentwicklung allgemein charakteristische Ummantelung staatlicher Bedürfnisse der Zahlungsabwicklung und (Zwischen-)Finanzierung durch den außerstaatlichen Kredit. Faktisch war die Bank eine Staatsbank, die im übrigen während des 18. Jahrhunderts weitgehend erfolgreich arbeitete. Auch die seit 1862 emittierten unverzinslichen Bancozettel waren in ihrem Umlauf durch die Garantie der Bareinlösung, der Konvertierbarkeit in 5%-Obligationen und die Verwertbarkeit zur Steuerzahlung (»Steuerfundierung«) gesichert, was die Finanzverwaltung in der Folge mehrfach zur Erhöhung des Emissionsplafonds nutzte, ohne dass der Kurs dadurch vorerst gefährdet wurde.8 Die forcierten Emissionssteigerungen zur Heeresfinanzierung der 1790er Jahre9 führten zur Beschränkung der Bareinlösung und zur Entstehung eines Disagios gegenüber dem Metallgeld, was wiederum 1800 die endgültige Dekretierung des Zwangskurses10 – Annahmeverpflichtung zum vollen Nennwert, auch im Privatverkehr, keine Einlösbarkeit – und die völligen Verdrängung des Metallgeldes aus dem Zahlungsverkehr zur Folge hatte. Die Ausdehnung des Zwangskurses auch auf den Privatverkehr und seine gesetzliche Fixierung auf den Nennwert begründete eine entscheidende hoheitliche Festlegung des Staates auf die rechtliche Integrität der Papierwährung, die materiell bei einem lang anhaltenden tatsächlichen Kursverfall überhaupt nicht zu gewährleisten war. Zugleich blieb dem Fiskus gar nichts anderes übrig als die Einhaltung dieser Linie, schon um den von ihm ausgegebenen Zetteln für seine eigenen Zahlungen Geltung zu verschaffen. Bei einer Freigabe ihres Kurses wäre die Zerrüttung des Staatshaushaltes sogleich eingetreten  ; im Korsett des Zwangskurses konnte die Hofkammer jedoch einen erheblichen ›time-lag‹ einkalkulieren und das Niveau eines Teils der Ausgaben mehr oder minder lange aufrechterhalten.11 Dies galt vor allem für alle Personalkosten und in höchst einseitiger Weise für den Schul8 Zur älteren Geschichte der Banco-Zettel Franz v. Mensi, Die Finanzen Österreichs von 1701– 1740, Wien 1890, S. 180 ff., 433 ff.; ab dem 7jähr. Krieg  : ders., Artikel »Geld – C Papiergeld«, in  : Österreichisches Staatswörterbuch [Anm. 5], Bd. 2, S. 271–275. 9 Vgl. Übersichtstabelle 2 im Anhang. 10 Die Dekretierung des Zwangskurses vollzog sich, von den Provinzgubernien ausgehend, schrittweise und in sachlich unterschiedlichen Einzelverfügungen, bis er 1800 durch zentrale Dekrete als Gebot bestätigt, damit aber tatsächlich universell begründet wurde. Dazu ausführlich Raudnitz [Anm. 6], S. 10–29  ; ferner Wagner 1 [Anm. 6], S. 600 ff. 11 Diese Zwangslage des Staates bei starker Betonung der rechtlichen Problematik wird eingehend heraus gearbeitet von Wagner 1 [Anm. 6], S. 606–626.

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dendienst, während der Fiskus im Bereich der marktmäßig zu beschaffenden Güter sehr früh der inflationären Preisbildung ausgesetzt wurde. Dies betraf mit der Heeresversorgung einen ganz erheblichen Teil der Ausgaben. Bei der bald einsetzenden Inflationierung der Lebenshaltungskosten wurde es jedoch unvermeidlich, auch die Personalausgaben durch Gehaltszuschläge u. dgl. zu erhöhen. Die Steuern dagegen blieben durchweg auf einem numerisch gleichen Niveau und konnten nur mühsam durch Tariferhöhungen oder Zuschläge erhöht werden. Die darauf gerichteten Anstrengungen sollen weiter unten knapp erörtert werden. Solche Erhöhungen gingen naturgemäß im progressiven Inflationsprozess unter. Die dadurch steigenden Defizite wurden durch weitere Bancozettelemissionen ausgeglichen, was den Entwertungsprozess progressiv beschleunigte. Angesichts eines aus dem Ruder laufenden Staatshaushalt wurde die Papiergeldwirtschaft also für die sie verursachende Finanzverwaltung selbst nach einiger Zeit dysfunktional  ; der Überlebenswille des Staates machte spätestens ab dann schon aus sich heraus entsprechende Sanierungsbemühungen dringlich. Die – entsprechend dem politischen Geschehen ungleichmäßig verlaufende – Entwicklung des Umlaufvolumens und die entsprechende Bewegung der Kurse (des »Agios«), an denen der Wertverlust der Bancozettel gegenüber der Konventions-Münze abzulesen ist, sind in den Tabellen im Anhang wiedergegeben.12 Die Kurse spiegeln, in legalistischer Korrektheit ausgedrückt als »Kurs auf Augsburg«, den Metallpreis in Bancozetteln an der Wiener Börse wider. Sie bewegten sich zwischen 1799 und 1805 in den Jahresdurchschnitten noch relativ langsam von 108 auf 135, stiegen bis 1808 auf 223, 1809 auf 300, 1810 auf 500 und endeten zum Jahreswechsel 1810/11 bei mehr als 800. Die virtuelle Existenz der eigentlichen, nämlich der Edelmetallwährung, wurde somit als normative Vorgabe ständig im Bewusstsein der maßgeblich am Geschehen beteiligten Wirtschaftssubjekte präsent gehalten. Dies unterscheidet die damaligen Währungsprobleme grundsätzlich von den Entwertungsprozessen der Weichwährungen unserer Tage. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Wiener Börsenkursbewegung alles andere als deckungsgleich war mit den Preisbewegungen für Güter und Dienstleistungen in der gesamten Monarchie, und zwar weder zeitlich noch räumlich. Von dem mehr oder minder großen ›time lag‹ in der Wirkung der Inflationsimpulse, die sich der Fiskus zunutze machen konnte, wurde bereits gesprochen. Noch gravierender waren die regionalen Differenzen im Inflationsgeschehen angesichts einer insgesamt noch geringen verkehrswirtschaftlichen Integration, sowie die schichtspezifisch unterschiedliche Art und 12 Vgl. Tabelle 2 im Anhang.

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Höhe der ›Teuerung‹. Insbesondere die hergebrachte obrigkeitliche Gestaltung der Preistaxen für Grundnahrungsmittel wirkte sedierend. Auch ist der Anteil der fiskalisch generierten Papierinflation an den Preisbewegungen nicht ausgemacht. In grober Einschätzung lässt sich festhalten, dass die Bewegungen des Preisgefüges wesentlich gemäßigter waren als die Börsenausschläge des Agios, freilich in einer kaum zu ermittelnden Differenzierung.13 Schließlich setzte die Papiergeldwirtschaft eine beachtliche Kriegs- und Inflationskonjunktur in Gang. Die Kriegslieferungsgeschäfte erfassten direkt den Agrarsektor v. a. in Niederösterreich, den Böhmischen Ländern und (West-) Ungarn, den gewerblichen Sektor im Wiener Becken, um Brünn, in Nordböhmen und in Innerösterreich. Daran waren die Großgrundbesitzer, aber auch die Bauern, die Textil-, Montan- und Metallgewerbe beteiligt. Diese Einkommensbildung erzeugte sekundär eine gesteigerte Nachfrage nach Konsumgütern nicht zuletzt des gehobenen Bedarfs. Insbesondere in Wien herrschte Vollbeschäftigung mit erhöhter Konsumfreude auch unter der Arbeiterschaft der Vorstädte  ; die Vermögenden feierten rauschende Feste, zu denen lebhafte Schilderungen vorliegen. Die Schicht der großen und kleinen »Agioteurs« zog ihre Gewinne aus der spekulativen Nutzung der Geldwertschwankungen  ; insbesondere aber die Großhandlungshäuser, die das Lieferungs- und Finanzierungsgeschäft in der Hand hatten und in der Lage waren, den Staat zu »bewuchern«, akkumulierten enorme (Papiergeld-)Vermögen, die sie in Sachwerten anzulegen suchten.14 Die Wirkungen der Inflation waren also ambivalent  ; der für die Bewertung dominante Problemkomplex ergibt sich aber aus der Verzerrung des gesamten Gefüges der diachronischen Verbindlichkeiten auch unter Privaten. Dies galt insbesondere für ältere bzw. längerfristige Verbindlichkeiten, während sich in den Tagesgeschäften eine laufende Anpassung vollzog. Diese gesamtgesellschaftliche Wirkung der einseitigen staatlichen Maßnahmen lässt den Befund, es handle sich um einen primitiven Akt von Besteuerung, weit hinter sich. Je länger der tatsächliche Kursverfall anhielt, desto schärfer wurde das Unrecht, das die gesetzliche Aufrechterhaltung des Zwangskurses zum Nennwert im zivilrechtlichen Bereich erzeugte, und desto auswegloser die Perspektive einer Heilung durch eine wie immer geartete Sanierung. Die Gewaltmaßnahme der Abwer13 Dieser Aspekt und seine Wirkung auf den Staatshaushalt ausführlich analysiert von Wagner 1 [Anm. 6], S. 606–626. 14 Lebendige Schilderung auf der Basis der wirtschaftsgeschichtlichen Lit. und zeitgenöss. Berichte zuletzt bei Helmut Rumpler, Österreichische Geschichte 1804–1914. Eine Chance für Mitteleuropa, Wien 1997, S.116–123. Vgl. auch Kraft [Anm. 6], S. 55–68.

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tung von 1811 sollte zwar, wie wir sehen werden, neues Unrecht schaffen  ; es begann aber nicht mit ihr. Für die Bewältigung der finanz- und währungspolitischen Probleme im Rahmen der Gesamtpolitik des Reiches, die jetzt anstand, bedurfte es einer integralen politischen Willensbildung in der Führungsspitze, die geeignet war, den kaiserlichen Absolutismus funktionsfähig zu machen. Aber auch in dieser Hinsicht bewahrte die Habsburgermonarchie eine altertümliche Struktur  ;15 sie folgte nicht (und auch dies bis 1848 nicht) der zeittypischen Modernisierung der Zentralregierung, also der Überführung der Zentralbehörden in ressortgegliederte Ministerien und der Zusammenfassung von deren verantwortlichen Chefs in ein Gesamtministerium als Beschlussorgan. Kaiser Franz regierte aus dem Kabinett  ; die Präsidenten der gremial verfassten Hofstellen standen zu diesem in einem Immediatverhältnis. Der als übergeordnetes Beratungsorgan gedachte Staatsrat von 1760 war von den (gewöhnlich dem Hochadel entstammenden) Präsidenten der Hofstellen längst entmachtet worden und führte ein Schattendasein. Um seine Wiederaufwertung und Ergänzung oder Ersetzung durch sog. Minister, die ressortorientiert in einer Konferenz vereinigt sein und unter Beseitigung des kaiserlichen Kabinetts die Integration des Regierungshandelns sicherstellen sollten, gingen die Reformbemühungen der napoleonischen Zeit. Sie begannen 1796 mit der Bestellung von Staats- und Konferenzministern für Äußeres, Armee und Inneres einschließlich Finanzen, die aber nur fallweise mit den Präsidenten der entsprechenden Hofstellen identisch waren, also zumeist keine Zentralbehörden leiteten, sondern abgehoben über ihnen amtierten. Die Einführung von Ressortministern, die v. a. von Erzherzog Karl gefordert wurde, oder eine den Kaiser verfahrensmäßig bindende Institutionalisierung der Ministerkonferenzen ist jedoch niemals gelungen. Kaiser Franz und sein Kabinett verkehrten nach Ermessen direkt mit den Hofstellen oder ließen wichtige Gegenstände im Staatsrat oder in lockeren Konferenzen beraten, zu denen Konferenzminister, Staatsräte und Vertreter der Hofstellen fallweise hinzugezogen wurden. Zur Vorbereitung finanz- und währungspolitischer Entscheidungen wurde aus dem Staatsrat zudem seit 1808 eine abgesonderte geheime Kreditkommission gebildet, die die 15 Zur franziszeischen Zentralverwaltung und ihren Problemen eingehend  : Die Österreichische Zentralverwaltung, II. Abteilung, 1. Band, 2. Halbband  : = Friedrich Walter, Die Geschichte der Österreichischen Zentralverwaltung 1780–1848, Teil 2  : Die Zeit Franz’ II. (I.) und Ferdinands I. (1792–1848), Wien 1956, Abschnitte 1–4 passim. Zu den Organisations- und Personalproblemen des Konferenzministeriums 1801–1814 a.a.O., S. 69–134. Zur Kreditkommission a.a.O., S. 113 ff. Zur Hofkammer unter Zichy, O’Donell und Wallis a.a.O., S. 247 ff.

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finanzpolitisch maßgebenden Konferenzminister und Staatsräte umfaßte und einen Immediatzugang zum Monarchen besaß. Die gremial verfasste Hofkammerleitung war also nur eine von mehreren Ebenen, auf denen Finanzfragen debattiert und votiert wurden, ohne dass unter all diesen Ebenen eine klare Hier­ archie bestand oder ein eindeutiger Instanzenzug eingehalten wurde. Der Kaiser behielt sich nicht nur die Letztentscheidung vor, sondern entschied auch über die Heranziehung von Ratgebern.16 Die Leitung der Verwaltungsbehörden und Konsultativgremien befand sich nach dem Auslaufen der josefinischen Reformperiode wieder fest in der Hand des erbländischen bzw. ungarischen Hochadels. Dessen Interessen flossen daher vielfältig in die finanz- und währungspolitischen Entscheidungen ein, insbesondere in Fragen der Lastenverteilung. Unter den leitenden Personen17, die an den Diskussionen und Entscheidungs­ prozessen während der Inflationsperiode führend beteiligt waren, ist als erster Karl Graf Zichy18 zu nennen, der von 1802 bis 1808 die Hofkammer leitete und danach als Staats- und Konferenzminister, auch als Leiter der geheimen Kreditkommission, stetig an allen Währungsdebatten beteiligt war, dabei die Interessen Ungarns (und seine eigenen als Kriegslieferant) nie aus dem Auge verlor und ein Gegner der Abwertung war. Die älteren Mitglieder der Staatskonferenz waren in ihren Anschauungen gespalten  : Zichys Antipode war (bis zu seinem Ausscheiden 1809) der dirigierende Staats- und Konferenzminister Karl Graf Zinzendorf,19 der nicht zuletzt mit Blick auf Ungarn für eine Politik der Abwertung eintrat. Mit ihm war Graf Chotek20 ebenfalls ein Anhänger der

16 Zur Kritik des franziszeischen Regierungsstils Walter [Anm.  15], passim. Wichtig bereits die zeitgenössische Darstellung von Ignaz Beidtel, Geschichte der Österreichischen Staatsverwaltung 1740–1848, aus dem Nachlass hg.v. Alfons Huber, 2 Bde., Innsbruck 1898, Ndr. Frankfurt 1968, hier Bd. 2, 18 ff. u. 26 ff. (Kaiser Franz), 41 ff. (hoher Adel). 17 Die nachfolgenden Angaben durchgängig Constantin v. Wurzbachs Biographischem Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Wien 1856–91, entnommen. 18 Karl Graf Zichy-Vasonykeö (1753–1826), Spross einer prominenten ungarischen Magnatenfamilie habsburgtreuer Observanz, war nach anderen Ämtern von 1802 bis 1808 Hofkammerpräsident, danach Staats- und Konferenzminister und weiterhin seit 1814 Leiter der Finanzsektion des Staatsrates. 19 Karl Graf Zinzendorf (1739–1813), nach Präsidien in Zentralrechnungswesen und Steuerregulierungskommission seit 1792 Staatsminister im Staatsrat, 1808–09 dirigierender Staats- und Konferenzminister. 20 Johann Rudolf Graf Chotek (1748–1824), Aufstieg in der Innenverwaltung, 1802 Oberstburggraf Böhmen, 1805–1809 Staats- und Konferenzminister.

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Abwertung, während der dienstälteste dirigierende Minister Graf Kolowrat21 (bis zu seinem Ausscheiden 1808) und Staatsrat Schittlersberg22 die Linie der Rechtswahrung vertraten. Später wurde die Gruppe der Abwertungsgegner in der Staatskonferenz von dem der Finanzverwaltung entstammenden Hofrat Freiherr v. Baldacci23 verstärkt. Von seinem Protektor, dem abwertungsfreudigen Kaiserbruder Erzherzog Rainer, wurde 1808 der profilierte Fianzexperte Philipp v. Stahl24 in den Staatsrat geschoben, jedoch im Jahr darauf frühzeitig wieder entfernt, da er sich zur Unzeit als Protagonist der Abwertung profiliert hatte. Zichys Nachfolger in der Hofkammerleitung, die böhmischen Adeligen Josef Graf O’Donell25 (1808–1810) und Josef Graf Wallis26 (1810–1812) hatten  – auch als Autoren  – maßgeblich die einander entgegengesetzten Patente von 1810 und 1811 zu verantworten. Innerhalb der Hofkammer27 besaßen ihre Präsidenten in den ranghöchsten Präsidiumsmitgliedern durchaus keine zuverlässige Gefolgschaft. Dies galt in der Abwertungsfrage insbesondere für Graf Wallis, der in seinem Stellvertreter Hofrat Barbier einen profilierten Gegner hatte. Von großem Gewicht im Sinne konservativer Ordnungsvorstellungen und gesellschaftlicher Besitzstandswahrung war in den Konferenzen die Haltung des Präsidenten der Vereinigten Hofkanzlei Graf Ugarte28 sowie der beiden Au21 Leopold Johann Graf Kolowrat-Krakowsky (1727–1809) aus prominenter böhmischer Magnatenfamilie (Ritter des Goldenen Vlies), nach Spitzenämtern in Finanz- und Innenverwaltung 1796–1808 dirigierender Staats- und Konferenzminister (als erster dieser neuen Institution). 22 August Veit v. Schittlersberg (1751–1811), Aufstieg in der Finanzverwaltung, 1808–1811 Präsident des Generalrechnungsdirektoriums, zugleich Mitglied des Staatsrates. 23 Anton v. Baldacci (1762–1842), nach Tätigkeit in der Bancozettel-Hauptkasse 1803 bis 1810 Hofrat im Innendepartment des Staats- und Konferenzministeriums, danach Vizepräsident der Hofkanzlei, 1816 bis 1839 Präsident des Generalrechnungsdirektoriums. 24 Philipp v. Stahl (1762–1831), nach Aufstieg in der Innenverwaltung 1808–1809 Staatsrat und mit der Ausarbeitung eines Finanzplans betraut, danach zum mährisch-schlesischen Gubernium abgeschoben. 25 Josef Graf O’Donell (1756–1810), Familie irischer Herkunft, Aufstieg in der Innenverwaltung, 1791–1808 Landeshauptmann von Kärnten, 1808–1810 Hofkammerpräsident. 26 Josef Graf v. Wallis (1767–1818), Familie schottischer Herkunft, 1805 Gouverneur von Mähren-Schlesien, dann Oberstburggraf in Böhmen, 1810–1812 Hofkammerpräsident und zugleich Finanzminister, 1813 Präsident der Obersten Justizstelle. Sammlung von zeitgenössischen Urteilen über ihn bei Raudnitz [Anm. 6], 71 ff. 27 Adrian Nicolas Barbier (1758–1840), 1802 Hofrat, 1809–1830 Vizepräsident der Hofkammer, dann Gouverneur der Nationalbank  ; Josef Graf Herberstein-Moltke (1757–1816), Aufstieg in der Finanzverwaltung, Vizepräsident und 1816 Präsident der Hofkammer. 28 Alois Graf Ugarte (1749–1817), Aufstieg in der Hofkanzlei, Gouverneur von Mähren-Schlesien, 1802 Oberster Hofkanzler  ; nach dem Rücktritt von Wallis von 1813 bis 1814 provisorisch auch Leiter der Hofkammer.

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ßenminister Johann Philipp Graf Stadion (Dezember 1805–1809) und ab 1809 Clemens Lothar Graf Metternich. Der außenpolitisch glücklose Stadion sollte dann 1814, was später zu behandeln ist, selbst das Finanzressort übernehmen und die endgültige Währungssanierung einleiten. Hingegen stand der böhmische Ständevertreter Graf Wrbna,29 der 1810 zum Leiter der ständischen Tilgungsdeputation erhoben wurde, als Abwertungsbefürworter an der Seite von Wallis. Schließlich ist zu beachten, dass die beiden Brüder des Kaisers, Erzherzog Karl30 und weit intensiver noch Erzherzog Rainer,31 in Finanzfragen an höchster Stelle unmittelbar zu intervenieren suchten. Regierungsinterne Erörterungen über eine Reduktion der umlaufenden Bancozettel im Rahmen einer umfassenden Haushalts- und Währungssanierung setzten erstmals nach dem Ende der ersten Kriegsphase im Frieden von Luneville 1801 ein. Schon zu dieser Zeit standen sich dabei eine Abwertungspartei und eine Restaurationspartei gegenüber.32 Der Kurs der Bancozettel bewegte sich damals zwischen 115 und 120. Wegen der Einfachheit des Verfahrens fand die schlichte Abwertung der Zettel nach dem aktuellen Kurs zahlreiche Befürworter. In einer eindrucksvollen Denkschrift hielt jedoch Erzherzog Karl den Hofstellen vor, dass bei den Ressourcen der Monarchie und dem bislang niedrigen Niveau der Besteuerung eine das Recht achtende Wahrung des Gläubigerinteresses und in diesem Zusammenhang auch die Fundierung der Papiergeldschuld durch verzinsliche Anleihen möglich sein müsse. Auch die Kreditkommission machte geltend, dass eine Abwertung den Staatskredit so zerstören würde, dass man auf längere Zeit kein Staatspapiergeld mehr ausgeben könne und sich damit für neue Notsituationen die Hände binde. In den nächsten Jahren sollte denn auch vor

29 Rudolf Graf Wrbna-Freudenthal (1761–1823), Aufstieg im Montanistikum, 1805 und 1809 Leiter von Sonderkommissionen zur Kriegslastenbewältigung, 1811–1823 Präsident der Einlösungsund Tilgungskommission. Oberstkämmerer, dem Kaiser nahestehend. 30 Insbesondere während seiner Zeit als Hofkriegsratspräsident und Kriegsminister 1799 bis 1805 und dann wieder 1807 trat Eh. Karl vehement für eine umfassende Modernisierung des Regierungsapparates im Sinne einer Ministerialverfassung ein  ; finanzpolitisch warb er für eine Mobilisierung der reichen Ressourcen der Monarchie. Vgl. auch Walter [Anm. 15], S. 71 ff., 238 f. 31 Eh. Rainer d. Ä. (1783–1853), der von Kaiser Franz zwischen 1805 und 1815 vielfältig an Regierungsgeschäften beteiligt und zwischen 1805 und1809 auch mit seiner Stellvertretung betraut wurde, arbeitete sich insbesondere in die Finanzfragen ein und äußerte sich dazu in zahlreichen Denkschriften und Briefen. 1817–1848 Vizekönig von Lombardo-Venetien. 32 Zum Folgenden Beer [Anm. 6], S. 9 ff. Die Staatskanzlei war für, die Kreditkommission gegen eine Abwertung.

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allem das Rechtsempfinden von Kaiser Franz ein entscheidendes Hemmnis für die Verfolgung von Abwertungsplänen werden. Aktuell ließ sich nun die entscheidende Voraussetzung für durchgreifende Maßnahmen, der Ausgleich des Haushaltes, nicht annähernd erreichen. Es war wiederum der Kaiser, der unter dem Eindruck der Vorgaben von Staatskanzlei und Hofkriegsrat auch nach 1801 jede nachhaltige Armeereduktion ablehnte. Das Defizit blieb konstant hoch  ; vor diesem Hintergrund blieben Pläne zu Abschöpfungsanleihen auf dem Papier. Lediglich die Konversion unbezahlter Zinsschulden in Staatsobligationen mit später einsetzender Rückzahlungspflicht bedeutete eine kleine entlastende Sanierung. Gewisse Steuererhöhungen (v. a. Zollsätze) sowie das variantenreiche und kurzlebige Experimentieren mit primitiven Personalsteuern hatten nur eine marginale Bedeutung.33 Die Haushaltsdefizite der folgenden Friedensjahre wurde durch neue Bancozettelemissionen finanziert  ; deren Umlauf erlebte von 1801 bis vor Anbruch des Krieges von 1805 beinahe eine Verdoppelung.34 Für die Kriegführung der Dritten Koalition 1805 standen britische Subsidien zur Verfügung, so dass die eigenen finanziellen Anstrengungen sich beschränken konnten. Die Kriegsfolgelasten erforderten jedoch einen neuen Emissionsschub, und dazu drückte der Rückstrom der Bancozettel aus den abgetretenen Provinzen auf deren Kurs im Inland. Die desolate Nachkriegssituation setzte infolgedessen 1806 erneut intensive Diskussionen auf höchster Ebene über eine Währungssanierung in Gang, und wieder standen die Ansichten einander schroff gegenüber.35 Zinzendorf etwa lehnte jegliche Besteuerungspläne als ungerecht ab, weil sie immer nur die deutsch-böhmischen Erbländer belasteten, die ohnehin durch die laufenden Erhöhungen der Sätze bis an die Grenze des Tragbaren besteuert seien  ; Ungarn und Siebenbürgen hingegen blieben dank ihrer verfassungsrechtlichen Sonderstellung unbehelligt. Einer Abwertung jedoch könnten auch diese Länder sich nicht entziehen, und schon deshalb sei sie das geeignetste Mittel, um endlich eine gleichmäßige Belastung aller Teile der Monarchie zu erzwingen. Frühere Zusagen zum Emissionsstop und zur Umlaufverminderung durch den Einsatz 33 Beer [Anm. 6], S. 9. Zu den Einzelheiten Franz v. Mensi, Artikel »Finanzgeschichte«, in  : Österreichisches Staatswörterbuch [Anm. 5], Bd. 2, S. 52 ff. 34 Vgl. Tabellen 1 u. 2 im Anhang. 35 Beer [Anm.  6], S.  14–25  ; Raudnitz [Anm.  6], S.  37–47. In der Kreditkommission Zinzendorf, Chotek und Stahl für Abwertung, Kolowrat, Zichy und Schlittersberg dagegen. Schließlich Majorität 5  :3 für Sanierung durch Anleihe und Steuererhöhungen. Eh. Karl brieflich an den Kaiser für eine progressive Kapitalsteuer, notfalls kombiniert mit einer Abwertung.

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der Zolleinnahmen seien ohnehin gebrochen worden  ; für das Publikum sei eine Währungsstabilisierung vordringlich, und der »Zählwert« der Zettel repräsentiere gegenüber ihrem Nennwert den aktuellen natürlichen Maßstab. – Andere Vorschläge zielten auf eine Kombination von Abwertung und Anleihefundierung. Dem hielten die Befürworter einer Währungsrestitution durch Besteuerung entgegen, dass eine Abwertung die willkürlichste und ungerechteste Form einer »Steuer« darstelle und den obersten Besteuerungsgrundsatz – Gleichmäßigkeit der Belastung – verletzt werde. Unruhen oder gar Aufstände würden die Folge einer derartigen Gewaltmaßnahme sein. Der wichtigste Antrag dieser Partei zielte auf die Einführung einer Vermögenssteuer in den deutsch-slawischen Ländern zur Einziehung einer Zettelmasse von 150 bis 200 Mio. fl.; kompensatorisch sollte Ungarn ein Quantum von 60 bis70 Mio. übernehmen. Hierüber sollte mit einem Reichstag verhandelt werden  ; von dessen Ergebnissen wollten gewichtige Stimmen den Vermögenssteuerplan abhängig machen. Jetzt wie auch später warnte man den Kaiser jedoch dringend davor, einem ungarischen Reichstag umfangreiche, den bisherigen gesetzlichen Rahmen der Kontributionsleistungen sprengende Forderungen zu stellen, die dann unfehlbar mit einer dokumentarisch gestützten Offenlegung der österreichischen Finanzlage verknüpft werden müsste  – eine für den monarchisch-bürokratischen Absolutismus äußerst bedenkliche Perspektive. Über den Hebel der ungarischen Sonderstellung rührten die Finanzprobleme der Monarchie, wie sich schon an diesem internen Disput zeigt, ständig latent an die verfassungspolitischen Grundprobleme des Reiches. Von dieser Frage, wie man Ungarn politisch gefahrlos stärker zu den Lasten der Kriegsperiode heranziehen könnte, sollte die Währungsdebatte insgesamt auch in den folgenden Jahren bestimmt werden. Aktuell ließ der Kaiser im Juli 1806 zunächst einmal, um allen Gerüchten entgegenzutreten, feierlich öffentlich versichern, dass eine Abwertung der Bancozettel nicht geplant sei und vielmehr alles für die Besserung ihres Kurses getan werde. Dementsprechend wurde beschlossen, zur Papiergeldabschöpfung eine Anleihe über 75 Mio. fl. in Cisleithanien auszuschreiben, die für die Vermögenden (ab einer Untergrenze von 10 000 fl.) als Zwangsanleihe dekretiert wurde, im Schuldendienst abgesichert durch den Metallzufluss der letzten Zollerhöhungen. Außerdem wurden bestimmte Steuern erhöht. Schon nach wenigen Wochen gab man die Anleihe auf und stellte die Währungssanierung ein, da der französisch-preußische Konflikt die Aufstellung ansehnlicher Sicherungsstreitkräfte in Böhmen erforderlich machte. Dies absorbierte nicht nur die vermehrten Steuereinnahmen, sondern wurde abermals überwiegend durch Papiergelddruck finanziert. Der Zustand erhöhter Militärpräsenz hielt weit über

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den Tilsiter Frieden hinaus das Jahr 1807 über an. Diese politische Lage ging bruchlos in die Situation der Kriegsfurcht und Kriegsvorbereitung der Jahre 1808/1809 über. Napoleons Intervention in Spanien und die Beseitigung des bourbonischen Königtums machte auf den Wiener Hof einen tiefen Eindruck und eröffnete die Perspektive auf ein den Habsburgern zugedachtes ähnliches Schicksal. Johann Philipp Graf Stadion,36 der nach dem Pressburger Frieden das Außenministerium übernommen hatte, wurde zum Exponenten der Kriegspartei und zum Motor neuer Rüstungsanstrengungen mit patriotischen, die Befreiungskriege vorwegnehmenden Elementen. Die Anstrengungen der »Friedenspartei« richteten sich demgegenüber auch jetzt auf währungspolitische Sanierungsmaßnahmen durch Steuern, Anleihen oder Abwertung. Der Leiter der Außenpolitik hielt derartige Maßnahmen in der aktuellen Situation für fehl am Platz und auch für unnötig. Nach seiner Meinung war es die Papiergeldausgabe, die die Monarchie in den letzten Jahren vor dem Kollaps bewahrt und die erforderlichen Mittel für die Kriegführung bereit gestellt habe  ; auch jetzt sah er darin die einzige Möglichkeit zur Finanzierung der Aufrüstung. Harsche Einschnitte hielt er dagegen für politisch gefährlich. Der Konferenzminister Graf Zichy sekundierte ihm mit Hinweisen auf die segensreichen Wirkungen der Inflationskonjunktur. Immerhin war sich Stadion bewusst, dass die Staatsfinanzen eine derartige Inflationspolitik nicht mehr lange durchhalten würden  ; er war sich also offenbar über den prozyklischen und am Ende auch fiskalisch kontraproduktiven Effekt er Geldentwertung im Klaren. Die Zeit drängte also seit Herbst 1808  ; ein rascher kriegerischer Erfolg war dringend nötig.37 Dementsprechend katastrophal waren die Folgen der Niederlage im Befreiungskrieg von 1809 und des Friedens von Schönbrunn. Die Habsburgermonarchie hatte den Tiefstand ihrer Machtstellung und ihrer materiellen Lage erreicht. Neben den enormen Besatzungsschäden durch rigorose Ausplünderung brachten territoriale Amputationen, insbesondere die Bildung des französisch beherrschten Königreichs Illyrien, sowie die Kriegsentschädigungsforderungen Napoleons zusätzliche materielle Lasten. Von den festgesetzten 85 Mio. frs. (34 Mio. fl.) wurden 1810 die ersten Raten mit 35 Mio. frs entrichtet (Silberankauf für Papiergeld), der Rest in zähen Verhandlungen und unter Einsatz moralischen 36 Zu ihm die umfangreiche Biographie von Hellmuth Rössler, Graf Johann Philipp Stadion. Napoleons deutscher Gegenspieler, 2 Bde., Wien-München 1966. 37 Zum Ganzen Beer [Anm. 6], S. 25–38. Am entschiedensten Staatsrat Stahl für rigorose Abwertung, bevor man an einen neuen Krieg denke. Sein Gönner Eh. Rainer zunächst ebenfalls dieser Meinung, dann Einschwenken auf Stadions Linie  : Vor und während des Krieges am besten gar keine Währungsmaßregeln. (Vgl. auch Hofmann, Finanzsystem O’Donell [Anm. 6], S. 6 ff.)

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Drucks (Napoleons Heirat und Geburt des Königs von Rom) aufgeschoben, auf diese Weise später faktisch nicht gezahlt.38 Die Abtretung der Adriaküste mit Triest hatte deren völlige Abschnürung zur Folge und bewirkte außerdem ein Zurückströmen des österreichischen Papiergeldes aus Illyrien.39 Auf der anderen Seite erklomm gleichzeitig die Inflationskonjunktur weitere Höhen. Die Kurs­ entwicklung der Bancozettel war noch längst nicht in die Phase der Hyperinflation eingetreten, die – bei voller Durchsichtigkeit des Prozesses für die Normalbevölkerung – diesen bis zum Kollaps beschleunigen konnte. Es war die Frage, ob man jetzt schon dem Treiben Einhalt gebieten und sich den Risiken der mit einer Stabilisierung einher gehenden Deflation und Depression aussetzen sollte. Diese Aspekte wurden im Kreis der Regierungsverantwortlichen durchaus intensiv erörtert. Doch verlangte die laufende Entwertung der Steuereinnahmen mit ihrer Konsequenz prozyklisch wachsender Papiergeldausgabe nach einem Eingriff. Gelegentlich wurde allerdings durchaus an das französische Beispiel der Assignatenwirtschaft erinnert, die bis zum absoluten Wertverfall des Papiergeldes getrieben und 1797 mit dessen ersatzloser Außerkurssetzung beendet worden war  : In diesem Endstadium nehme das Publikum schließlich alles hin. Einem derartigen Katastrophen-Kalkül mochten die Verantwortlichen in Wien sich aber auch Ende 1810, als die Hyperinflation drohte, nicht hingeben. Politisch brachte die von Metternich eingeleitete und durchgesetzte außenpolitische Wende mit der französischen Allianz, durch dynastische Verbindung unterfüttert, aus damaliger Perspektive die Periode der Kriege zum Abschluss und versprach eine Stabilisierung der kontinentaleuropäischen Gesamtsituation. 1810 schien also die Zeit zur Einleitung einer Finanz- und Währungssanierung gekommen. Mit ihr wurde der seit 1808 amtierende, Zichy ablösende Hofkammerpräsident Graf O’Donell betraut. Auf Zichy und seine Amtsführung hatte das Haupt der Abwertungspartei, Erzherzog Rainer, nach dem Friedensschluss bei dem Kaiser einen Generalangriff unternommen, der auf ein komplettes personelles Revirement und eine radikale Änderung der Finanzpolitik zielte. Kaiser Franz hatte dies ignoriert  ; er hielt an seiner Linie der Wahrung von Recht und Gesetz fest.40 Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich regierungsintern die Gegner und Befürworter einer Abwertung gegenüber gestanden, ohne dass eine Entscheidung für einen durchgreifenden Plan getroffen worden wäre. Dabei dachten auch die Ab38 Johanna Kraft [Anm. 6], S. 25–29. 39 Zustandsschilderung bei Beer [Anm. 6], S. 41 ff. Zur Kursentwicklung die Tabelle 2 im Anhang. 40 Hofmann, Finanzsystem O’Donell [Anm. 6], S. 11–16.

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wertungsgegner in Staatskonferenz und Hofstellen nicht an eine volle Rehabilitierung der Bancozettel im Sinne einer Wiederherstellung ihrer Einlösbarkeit in Metall  ; eine solche Maßnahme wäre undurchführbar und schon nach damaliger Einsicht unter Billigkeitsgesichtspunkten sinnlos gewesen. Man wollte jedoch eine nackte Abwertung vermieden wissen, da sie gegenüber dem bislang aufrecht erhaltenen Zwangskurs einen offensichtlichen krassen Rechtsbruch darstellte, und da ferner die damit einher gehenden Deflationswirkungen ökonomische und soziale Verwerfungen befürchten ließen. Die offene Abwertung galt mithin als Gewaltakt. Als Alternativen standen eine (ggf. zwangsweise) Abschöpfungsanleihe und eine Sonderbesteuerung zu Gebote, um die Masse der umlaufenden Zettel in einem gleitenden Verfahren zu reduzieren. Voraussetzung war selbstverständlich eine begleitende Sanierung des Staatshaushaltes, also eine Reduktion der Heeresausgaben sowie ein Tempo der steuerlichen Abschöpfung, das dem Prozess der inflationären Einnahmeentwertung Einhalt gebieten konnte. Eine Stabilisierung des Kurses der übrig bleibenden Zettel war im Horizont der zeitgenössischen Normalauffassungen vom Geldwert und nach den zuletzt gemachten Erfahrungen durch ihre einfache Verknappung allein nicht zu erreichen. Zur Herstellung ihres Kredites bedurfte es der Ankoppelung an das gehortete und in den Verkehr zurückzuführende Metallgeld durch volle Einlösbarkeit. Hier lagen enorme, auch psychologische Übergangsschwierigkeiten  ; sie ließen sich etwa dadurch erleichtern, dass die Finanzverwaltung selbst die Zettel in einer Parallelaktion börsenmäßig nach Ermessen zum laufenden Tageskurs gegen Münze ankaufte. Das konnte als rechtlich unbedenklich gelten, da dem Zettelbesitzer die Optionsfreiheit blieb, sich sofort Münze zum laufenden Abwertungssatz zu beschaffen oder den Kursanstieg der Zettel abzuwarten.41 Aber auch hierzu benötigte die Verwaltung einen hinreichenden Barschatz, und dieser stand in der desolaten Situation von 1810 nicht zur Verfügung. Diese Zielsetzung eines gleitenden Überganges leitete auch den Hofkammerpräsidenten Graf O’Donell, der Anfang 1810 einen Finanzplan42 vorlegte. O’Donells Ansatz war die Schaffung einer Doppelwährung, um eine förmliche Abwertung der Bancozettel sowie auch eine abrupte Deflation zu vermeiden. Die Bancozettel behielten Zwangskurs und blieben die rechtsverbindliche Basis der meisten staatlichen Einnahmen und Ausgaben sowie aller privaten Verbindlichkeiten. Daneben wurde mit den sog. Einlösungsscheinen ein zweites 41 Eine derartige Rechtsauffassung wurde in der späteren Lit. favorisiert von Adolf Wagner 2 [Anm. 6], S. 410 ff.; sie rechtfertigte mithin eine verschleierte Abwertung. 42 Beer [Anm. 6], S. 47–53  ; Raudnitz [Anm. 6], S. 63 ff.

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Umlaufmittel geschaffen, das jederzeit in CM einlösbar sein sollte. Bestimmte staatliche Ausgaben und Einnahmen (darunter v. a. die Kontribution – also die wichtigste direkte Steuer) sollten in Einlösungsscheinen geleistet werden, die dadurch eine »Steuerfundierung« erhielten. Einlösungsscheine sollten limitiert auf Verlangen gegen Bancozettel im Verhältnis 1  :3, bei späterer Kursbesserung der Zettel auch zu einem günstigeren Satz ausgegeben werden. Implizit wurde damit staatlicherseits der Kursverfall der Zettel eingeräumt, aber nur in einer gwm. privatrechtlichen Aktion bei Optionsfreiheit der Zettelbesitzer operationalisiert. Die Ausgabe der Einlösungsscheine erfolgte nach Ermessen unter Beachtung der Einlösungssicherheit. Entscheidend für den Erfolg einer solchen Operation war selbstverständlich die Herstellung des Haushaltsgleichgewichts. Für die Stabilisierung der Währung hielt die Finanzverwaltung die steuerliche Abschöpfung von 500 Mio. Bancozettel und die Beschaffung eines Bargeldfonds von 40 Mio. fl. CM für erforderlich. Hierzu sah O’Donell eine Kombination von Maßnahmen vor  : Neben der Ausschreibung einer Silberanleihe stützte sich sein Plan vor allem auf den Verkauf von Staats- und Kirchengut sowie auf die Ausschreibung einer Vermögenssteuer als Tilgungssteuer in Cisleithanien. Ungarn sollte zu freiwilligen patriotischen Beiträgen aufgefordert werden. Die Staats- und Kirchengüter, deren Verkauf nur sukzessive erfolgen konnte, sollten von Anfang an als hypothekarische Sicherung der neuen Scheine gelten. Die Handhabung des gesamten Sanierungsgeschäfts, also der Eingänge aus Anleihen, dem Güterverkauf und der Tilgungssteuer, der Vernichtung der Bancozettel, der Emission der neuen Einlösungsscheine und der Sicherung durch Barvermögen, sollte einem regierungsunabhängigen Einlösungsund Tilgungsfond obliegen. Zu dessen Leitung sollten Vertreter aller Landstände und des Wiener Handelsstandes berufen werden. Es handelte sich also um typische ›Notabelnpolitik‹ als vertrauensbildende Maßnahme  ; interne Kritiker sahen Österreich schon in der Lage Frankreichs im Jahre 1787  ! Die Einzelheiten des Gesamtplans waren um die Jahreswende 1809/10 und im Februar in einer zahlreich und prominent besetzten Konferenz beraten und mit großer Mehrheit gutgeheißen worden, dabei wurde die steuerliche Komponente noch verstärkt. Als einziger sprach sich Bartenstein für eine offene Abwertung im Verhältnis 1  :4 aus  ; ihm wurde einmütig bedeutet, dass dies der Bankerott sei  ! Doch waren in den Verhandlungen bereits konservative Vorbehalte gegen die Verwertung des Kirchengutes und einer allzu forschen Vermögensbesteuerung erkennbar.43 Vorerst blieb vieles offen, denn die Grundzüge des Plans, 43 Ausführliche kritische Behandlung der Konferenzen bei Beer [Anm.  6], S.  46–60  ; ferner Hof-

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die in einem Patent vom 26.  Februar 1810 bekannt gegeben wurden44 hatten weithin den Charakter vorläufiger Ankündigungen. Zu deren Umsetzung waren weitere Durchführungsgesetze und umfangreiche Vorbereitungen erforderlich, die das ganze Jahr 1810 in Anspruch nahmen. Dies währte, bis das Gesamtprojekt schließlich aufgegeben und durch das Abwertungspatent vom Februar 1811 abgelöst wurde. Hierfür war vordergründig auch ein personeller Wechsel verantwortlich  : O’Donell, der das Projekt vom Februar maßgeblich verantwortet hatte, verstarb im Mai 1810  ; an seine Stelle trat nach einem Interim im Juli Josef Graf Wallis. Wallis liebäugelte wohl von Anfang an mit dem Prinzip einer offenen und sofortigen Abwertung  ; er arbeitete aber zunächst mit vollem Einsatz an einer Realisierung des O’Donellschen Besteuerungsplans und schwenkte erst im Oktober auf den Kurs offener Abwertung ein. Die regierungsinternen Auseinandersetzungen, die im Laufe des Jahres in voller Schärfe einsetzten, sollten vor allem die gesellschaftlichen Interessengegensätze und verfassungspolitischen Verwerfungen offenbaren, die die Handlungsfähigkeit der Regierung lähmten. Von Haushaltsausgleich konnte 1810 noch weit weniger die Rede sein als in den Jahren zuvor. Die Überhänge enormer Militärausgaben in der Nachkriegssituation trieben das Defizit auf eine bisher ungekannte Höhe  ; zu seiner Deckung bediente man sich vorläufig selbstverständlich weiterhin der Notenpresse. Das Agio, das sich unter dem ersten Eindruck des Patents vom Februar etwas gebessert hatte, stieg im Lauf des Jahres erneut stark an und überschritt an seinem Ende die Grenze zur Hyperinflation. Von der Haushaltslage fehlten also alle Voraussetzungen für den Beginn einer Währungssanierung.45 Aber auch in sich war das Konzept der Doppelwährung auf Sand gebaut, solange ein Barfond fehlte und die neu zu emittierenden Einlösungsscheine nicht einlösbar waren. Die im Mai 1810 tatsächlich einberufene Einlösungs- und Tilgungsdeputation46 war also vorerst ohne rechte Beschäftigung. Die als sofortige Sicherung der Einlösungsscheine angebotene Hypothezierung auf die mann, Finanzsystem O’Donell [Anm.  6], S.  16–27. Kommission unter dem Obersthofmeister Fürst Trauttmannsdorff, beteiligt Chotek, Zichy, Ugarte, O’Donell, Metternich, Schittlersberg, Baldacci, der ungar. Hofkanzler Erdödy, von der Hofkammer die Vizepräsidenten Kohary und Herberstein-Moltke, vom Staatsrat Bartenstein, Barbier, Collin, Lederer. 44 Text Stiassny [Anm. 6], S. 65–69. 45 Vgl. die Tabellen 1 u. 2 im Anhang. 46 Patent v. 18.5.1810  ; namentliche Berufung von 14 Vertretern der Stände Böhmens (2), Ungarns (2), Niederösterreichs, Oberösterreichs, Kärntens, der Steiermark, Mährens, Schlesiens, Galiziens, Siebenbürgens sowie des Handelsstandes von Wien und Pest. Präsident in der Folge Graf Wrbna (Böhmen). Raudnitz [Anm. 6], S. 66.

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geistlichen Güter war selbstverständlich aktuell eine währungspsychologische Fiktion  ; sie enthielt auch mittelfristig keine Perspektive, solange das Pfand nicht liquidiert werden konnte. Die Einlösungsscheine wären somit zu einem zweiten Papiergeld mit einem Agio gegenüber der Konventionsmünze geworden, was den Währungsturbulenzen und auch deren missbräuchlicher Ausnutzung durch die Agiotage zusätzliche Schubkraft verliehen hätte. Die über die Hypothezierung befragten Wiener Bankiers belehrten die Verwaltung darüber, dass es aussichtslos sei, eine Münz-Anleihe auf den Ertrag des Güterverkaufs aufzulegen, solange eine tatsächliche Enteignung mit dem Ziel des Verkaufs nicht vollzogen sei.47 Die Finanzverwaltung war  – in Wiederaufnahme josefinischer Tendenzen und auch unter Verweis auf die Vorgänge in Deutschland seit 1803  – in der Tat zu einer umfassenden Säkularisation des Kirchengutes unter Übernahme der Klerikerbesoldung entschlossen. Sie erblickte darin eine entscheidende Säule ihres gesamten Sanierungsplans. Die internen Verhandlungen darüber ließen die schärfsten ideologischen und ordnungspolitischen Gegensätze aufbrechen  : Der Hofkanzler Ugarte und Metternich erwiesen sich als entschiedene Gegner jeder Erschütterung der kirchlichen Stütze des Thrones, und das Menetekel der französischen Revolution verfehlte seine Wirkung beim Kaiser nicht. Selbstverständlich machte auch die Geistlichkeit ihren Einfluss bei Hofe geltend. Kaiser Franz entschied, das Kirchengut lediglich als hypothekarische Fundierung des Zettelumlaufs gelten zu lassen – natürlich eine leere Formel.48 Erfolgreicher waren Hofkammer und Hofkanzlei mit der Ausarbeitung der Gesetze über die einmalige Vermögenssteuer auf das unbewegliche und bewegliche Stammvermögen in den deutschen und slawischen Erbländern.49 Die seit den Reformen unter Maria Theresia ermittelten Immobilarkataster boten eine hinreichende Grundlage, um zumindest in den deutsch-böhmischen Erbländern das Immobilarvermögen zu erfassen und zu bewerten, das Mobilarvermögen ließ sich ebenfalls in vergleichenden Schätzungen und klassifizierenden Abstufungen nach Orten bestimmen. Daraus ergab sich für Cisleithanien allein für das Immobilarvermögen eine Summe von knapp 6 Mrd. in BZ (zum Kurs von 300), 47 Beer [Anm. 6], S. 72 f. 48 Zu den Auseinandersetzungen um Säkularisation und Güterverkauf Beer [Anm. 6], S. 70–74. 49 Die aktenmäßige Erforschung der Steuergesetzgebung und ihrer Vorbereitung ist der Hauptgegenstand der Arbeit von Hofmann, Finanzsystem O’Donell [Anm.  6]. Die Details der Durchführungsbestimmungen nach Ermittlung, Veranlagung, Pauschalierungen und interregionalem Ausgleich erweisen die Ernsthaftigkeit des gesamten Unternehmens. Die Bemerkungen bei Beer damit überholt.

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auf die eine 10%ige Tilgungssteuer von fast 600 Mio. fl BZ zu entrichten gewesen wäre  ; unter Zurechnung des Immobilarvermögens ließen sich entsprechend über 7 Mrd. erwarten. Eine solche Steuer hätte demnach den größten Teil der Bancozettel absorbiert und – Haushaltskonsolidierung und Friedenszustand vorausgesetzt – im Verbund mit Güterverkauf und Silberbeschaffung die Währung sanieren können. Mit den Steuerpatenten, die nach zähem Ringen zwischen Hofkanzlei und Hofkammer um die Details der kronlandsweisen und individuellen Belastung sowie der Veranlagungsverfahren am 8.  September 181050 veröffentlicht wurden, trat die Vermögensbesteuerung tatsächlich in Kraft, sie begann effektiv mit dem 1.  November und wurde bis zu ihrer Aufhebung im März 1811 planmäßig eingehoben. Das Steuergesetz litt freilich von vornherein unter einem entscheidenden Defekt  : Die einmalige Vermögensabgabe war auf einen Zeitraum von 15 Jahren ausgelegt und sollte dementsprechend in 15 ungleichen (anfangs größeren) Raten beglichen werden. Lediglich für die Mobilarsteuer war der wesentlich kürzere Rahmen von sechs Jahren vorgesehen. Für vorzeitige Zahlungen wurden erhebliche Rabatte gewährt. Mit diesen Bestimmungen war das steuerliche Abschöpfungsverfahren gänzlich ungeeignet, den entscheidenden Wettlauf mit dem Kursverfall der Bancozettel aufzunehmen und ihre gleitende Wiederaufwertung zu fördern, um damit sowohl das reguläre Steueraufkommen als auch den privaten Zahlungsverkehr zu stabilisieren. Es war daher kein Wunder, wenn die hier zutage tretende Laschheit und Zögerlichkeit des steuerlichen Zugriffs in der Öffentlichkeit sogleich auf scharfe Kritik stieß und das O’Donellsche Sanierungsprojekt weiter diskreditierte. Auf der anderen Seite fehlte es während der Vorbereitung des Steuerpatents wie auch nach seiner Veröffentlichung nicht an Widerständen der Interessenten, insbesondere der Grundbesitzer.51 Schon im Vorfeld der Gesetzesberatung holte die Hofkanzlei Berichte der Kreisverwaltungen ein, in denen vielfältige Bedenken zum Ausdruck kamen. Sie bezogen sich auf die mit dem theresianischen Steuerkataster gegebenen Belastungsverzerrungen unter den Kronländern und machten v. a. die enormen Kriegsschäden geltend, denen Ober- und Niederösterreich ausgesetzt gewesen waren. Solche Einwände führten immerhin zu kronlandbezogenen Umverteilungen der Belastungsquote und zu kriegsbedingten Nachlässen. In sozialer Differenzierung wurde das Faktum kriegs- und inflationsbedingter Profite mancher Gutsbesitzer eingeräumt  ; die kleinen bäu50 Text beider Patente Stiassny [Anm. 6], S. 69–76. 51 Auch dazu Hofmann, Finanzsystem O’Donell [Anm. 6], S. 58–87 passim.

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erlichen Grundbesitzer jedoch würden die Tilgungssteuer nicht tragen können. Alle diese Klagen übersteigend ergoss sich die allgemeine Empörung jedoch vor allem über die Sonderstellung Ungarns, das unter dem Schutz seiner Verfassung zu keiner Sonderleistung gezwungen werden könne, das von Kriegshandlungen verschont geblieben sei und das umgekehrt von den kriegsbedingten Lieferungsgeschäften am meisten profitiert habe. Besonders die Großgrundbesitzer Westungarns (Zichy  !) gerieten hierbei ins Visier, und man vermutete, dass sich hier in Westungarn eine große Masse des Papiergeldes angesammelt habe. Es waren nicht zuletzt diese Ungarn betreffenden Aspekte, die den neuen Hofkammerpräsidenten Graf Wallis zu seinem Kurswechsel bewogen. In der Literatur wurde das Finanzsystem des Grafen O’Donell zumeist negativ beurteilt.52 In der Tat war die Koordinierung seiner verschiedenen Elemente bereits im Konzept mangelhaft  ; noch gravierender aber waren die gesellschaftlichen Widerstände, die sowohl einer zupackenden Besteuerung als auch einem Güterverkauf entgegen gebracht wurden. Die währungspolitische Idee eines gleitenden Überganges mit Hilfe einer vorübergehenden Doppelwährung jedoch, die die Turbulenzen eines abrupten Währungsschnittes vermied und die Phase einer Anpassung des Gefüges der Preise und Verbindlichkeiten eröffnete, wurde einige Jahre später wieder aufgegriffen und dann unter günstigeren Gesamtbedingungen erfolgreich umgesetzt. Vor allem in den Augen der Öffentlichkeit war das Finanzprogramm vom Februar 1810 gescheitert  : Die Aussicht auf Staatsgüterverkauf war blockiert  ; die Tilgungssteuer versprach keinen kurzfristig nachhaltigen Abschöpfungs­effekt  ; der Anleihemarkt versagte sich. Demgegenüber wurde das laufende Defizit weiterhin mit zusätzlicher Papiergeldemission gedeckt  ; der Kurs der Bancozettel verfiel zum Jahresende hin dramatisch und wirkte jetzt auch verheerend auf die Disparität der Einkommensverhältnisse. Bezieher fester Gehälter und Renten litten sehr stark unter der Preisinflation, wie die Polizeiberichte Wiens und der Provinzhauptstädte eindrucksvoll bezeugen.53 Unter der Perspektive einer Hyper­inflation drohte zudem der Kollaps des Staatshaushaltes, wenn es nicht gelang, die Steuereinnahmen zu stabilisieren. 52 Kritisch zum Finanzpatent von 1810 bereits Tebeldi (»Sein Verfasser zeigt auf jeder Seite, dass er nicht weiß, was er will«), Hauer, Beer, Stiasny (»Partei der halben Maßnahmen«, Obstruktion der mächtigen Interessengruppen). Differenzierte Bewertung durch Adolf Wagner [Anm. 6]  : (Ansatz richtig, Durchführung unzulänglich). 53 Dazu Hofmann, Devalvierung 1811 [Anm. 6], S. 77–94. Zur Wirtschaftslage auch Kraft [Anm. 6], S. 55–68.

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Mit dem außerordentlich energischen Grafen Wallis hatte ein Anhänger der direkten und unverschleierten Abwertung die Leitung der Finanzen übernommen. Nachdem er eine Weile das Besteuerungsprogramm seines Vorgängers weiterverfolgt hatte, bereitete er seit dem Spätherbst 1810 den Plan einer Abwertung vor.54 Um ihn politisch durchzusetzen, wählte er in den ersten Wochen den Weg der immediaten Beeinflussung des Monarchen unter sorgfältiger Geheimhaltung seines Vorhabens innerhalb der Spitzenbürokratie. Die Durchführung der O’Donellschen Vermögensbesteuerung und anderer Maßnahmen im Rahmen des bisherigen Systems liefen sogar bis unmittelbar zum Erlass seines Abwertungspatentes weiter, um den Überraschungseffekt zu sichern. Vor dem Hintergrund der dramatischen Kursentwicklung konnte er den Kaiser vom drohenden Kollaps des Staatshaushaltes überzeugen und vor allem davon, dass das O’Donellsche Konzept einer Papiergeldabschöpfung im Rahmen von fünfzehn Jahren ein hoffnungsloses und gefahrvolles Projekt sei. Sein wichtigstes Motiv war, die Lage des Staatshaushaltes mit sofortiger Wirkung zu verbessern. Der von ihm vorgeschlagene Abwertungssatz von 1  :5 bedeutete eine unmittelbare Verfünffachung der Einnahmen  ; während eine Verfünffachung der Ausgaben nur zum Teil eintrat  ; sie war im Bereich der Güterbeschaffung (Militär  !) durch die Akzeptanz inflationierter Preise längst vollzogen. Mit dem Währungsschnitt, der in den Bereich der Kronprärogative fiel, sollte vor allem Ungarn als mit einem fait accompli konfrontiert werden  : Die Höhe der Kontribution blieb dabei ziffernmäßig gleich  ; sie lief automatisch weiter und war nicht neu zu beschließen. Die politischen Auseinandersetzungen über den Regierungsakt mussten danach als Folgekonflikt durchgestanden werden, wobei die Regierungsvertreter vor dem Reichstag aus der Defensive operieren konnten. Angesichts der leidigen Sonderstellung Ungarns und den damit zusammenhängenden steuerpolitischen Verteilungskonflikten des Jahres 1810 sah Wallis den Hauptwert der Maßnahme darin, dass kein Bancozettelbesitzer, wo immer er sich befinde, sich dem Opfer entziehen konnte. Der Abwertungsatz im Verhältnis 1  :5 wurde als Mittel aus Nahrungsmittelpreisen und Löhnen sowie der Börsenkurse der letzten Zeit genommen  ; er war damit weniger scharf als die Kursentwicklung der letzten Zeit.55 Aus dem Umtausch ergab sich rechnerisch eine Geldmenge an künftigen Einlösungsscheinen 54 Aktenmäßige Aufarbeitung der Vorgänge durch Stiassny [Anm. 6], S 37–50  ; Hofmann, Devalvierung 1811 [Anm. 6], S. 18–39  ; Resümee bei Kraft [Anm. 6], S 38–50. Text der Vorträge von Wallis an Kaiser Franz Oktober 1810 bis Januar 1811 bei Stiassny [Anm. 6], S. 97–126. 55 Hofmann, Devalvierung 1811 [Anm. 6], S. 32 ff.; Kraft [Anm. 6], S. 49 f.

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von 212 Mio. fl., auf die die Emission zu beschränken war. Die Einlösungsscheine wurden mit Zwangskurs versehen, wurden für alle Zahlungsverpflichtungen der Konventionsmünze gleichgestellt, waren aber natürlich nicht in Metall einlösbar. Der Umtausch sollte zügig innerhalb eines Jahres vollzogen werden, so dass die alten Bancozettel dann außer Kurs gesetzt werden konnten. Faktisch und rechtlich handelte es sich somit um die Ersetzung eines Staatspapiergeldes durch ein neues. Eine irgendwie geartete Fundierung dieses reinen Papiergeldes war für Wallis ebenso wenig erforderlich wie Kursstützungsmaßnahmen  ; für die Stabilität seines Umlaufs würde einfach seine Knappheit sorgen. Nach diesem sehr schlichten quantitätstheoretischen Kalkül musste man vor allem unbeirrt an dem Volumen von 212 Mio festhalten und sich von Staats wegen keine Vermehrung erlauben  : dies sei wichtiger als jede Hypothezierung. Wallis, der seine quantitätstheoretischen Einsichten vermutlich nationalökonomischer Lektüre56 verdankte, war kein systematischer, sondern nur ein situativer Befolger der Quantitätstheorie  : Überlegungen zu einer elastischen Steuerung der Geldmenge stellte er nicht an. Auch erwartete er nicht, dass die neuen Einlösungsscheine fürs erste börsenmäßigen Gleichstand mit Münzgeld erreichen würden, und war sich der Härte bewußt, die dies für ihre Zwangsannahme zum Nennwert bedeuten mußte. Für später erstrebte er selbstverständlich eine Rückkehr zum Metallstandard, den anzustreben lediglich in der gegenwärtigen Situation zu früh sei. Deshalb sollten darüber auch keine Vorkehrungen in das Abwertungspatent aufgenommen werden. Im Sinne späterer Restauration befürwortete er auch den Fortbestand der Tilgungsdeputation und ihrer auf Münzthesaurierung gerichteten Aktivitäten. Ferner befürwortete er eine Garantierung der Einlösungsscheine mit 56 Die Untersuchungen von Hofmann, Devalvierung 1811 [Anm.  6], S.  7–16, machen es wahrscheinlich, dass Wallis von Anton van Coeverden, (Versuch einer Entwicklung der nachteiligen Folgen einer gar zu großen Masse Staatspapiergeldes für einen Staat, Göttingen 1805), beeinflusst worden ist  ; hier neben dem Quantitätskalkül auch die Überlegung, dass nur ein sofortiger Währungsschnitt und nicht eine gleitende Restauration den Umlauf stabilisieren könne. Wallis selbst beruft sich auf Coeverden und auf die Nationalökonomie des Grafen Julius von Soden (=Bd. 5 – Finanzen, erst 1811 erschienen  !)  : Quelle Stiassny [Anm. 6], S. 126. Eindruck dürfte daneben die Denkschrift von Friedrich v. Gentz vom Januar 1810 (Auseinandersetzung mit Sismondi) gemacht haben, die bereits eine staatliche Theorie des Geldes entwickelt  : »Ein österreichischer Bankozettel ist, wie alles Papiergeld, oder besser, wie alles Geld überhaupt, ein vom Staate sanktioniertes Repräsentationszeichen des Tauschwertes aller käuflichen Objekte. Aus dieser einzig zulässigen Definition ergibt sich sogleich, daß zwischen einem Bankozettel und einer Gold-, Silber- oder Kupfermünze […] keine Gattungsverschiedenheit obwaltet. Die Sanktion des Staates allein gibt allem Gelde, aus welchem Stoffe es auch bestehe, seinen legalen, seinen zirkulationsfähigen Charakter.« (Hofmann, a.a.O., S. 15, mit Vorverweis auf Georg Friedrich Knapp.)

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entsprechenden Quoten durch die Stände aller Provinzen (auch durch Ungarn), was aktuell nicht deren Kurs stabilisierte, künftig aber zum Ausgangspunkt einer Fundierung der Scheine gemacht werden konnte.57 Wallis hatte seinen Plan seit Ende Oktober für sich im Verborgenen entwickelt, ungeachtet der Auffassungen der Kreditkommission, wo man weiterhin an O’Donells System festhielt und lediglich über eine Verkürzung der Tilgungssteuerzahlungen durch deren (mit Rabatten zu honorierende) Antizipation nachdachte.58 Mit der Vorlage seiner Entwürfe beim Kaiser am 23. November 1810 mußte er sich freilich der internen Kritik stellen, und der Monarch forderte denn auch sogleich Graf Zichy zur Stellungnahme auf. Dieser antwortete mit einem Gegenentwurf, der an den Grundzügen des O’Donellschen Systems festhielt. Dabei wollte auch Zichy die steuerliche Abschöpfung effektiver gestalten, und zwar durch erhebliche Verkürzung der Fristen auf fünf Jahre für das Immobilar- und ein Jahr für das Mobilarvermögen. Die nicht betroffenen Ungarn würden gewiss in bewährtem Patriotismus zu freiwilligen Gaben bereit sein und die Amortisation von 300 Mio. Bancozetteln übernehmen. An der Doppelwährung O’Donells und dem darin versteckten Abwertungssatz von Bancozetteln gegenüber Einlösungsscheinen hielt Zichy fest. Zugleich rechnete er weiterhin mit dem Güterverkauf und verknüpfte seinen Plan mit eingehenden Überlegungen zur Kursstützung der neuen Einlösungsscheine und zur Metallgeldbeschaffung.59 Zur Beratung der gegensätzlichen Pläne ließ der Monarch Anfang Dezember eine Konferenz anberaumen,60 bei der Baldacci dann noch einen weiteren, durchaus bemerkenswerten Vorschlag entwickelte. Er verurteilte die offene Abwertung als Rechtsbruch und hielt im Übrigen dafür, dass ohne Rückhalt an der metallischen Einlösbarkeit kein Papiergeld stabil gehalten werden könne, weder in der Form von O’Donells bzw. Zichys Doppelwährung noch nach dem Knappheitskalkül von Wallis. Er empfahl stattdessen die klassische Konsolidierung durch eine Abschöpfungsanleihe, in diesem Fall die zwangsweise Konversion der gesamten Bancozettelmasse in 6%-verzinsliche, keine Geldfunktion besitzende 57 Hofmann, Devalvierung 1811 [Anm. 6], S. 35 ff. 58 Hofmann, Devalvierung 1811 [Anm. 6], S. 16 ff. Diese mit Wallis konkurrierenden Vorstellungen wurden dort vor allem von seinem Stellvertreter in der Hofkammerleitung, Hofrat Barbier, entwickelt. 59 Hofmann, Devalvierung 1811, op. cit. S. 44 ff. 60 Teilnehmer die Staats- und Konferenzminister Franz Georg Fürst von Metternich (Vater, Vorsitz), Clemens Lothar Graf Metternich, Zichy, ferner Wallis, Schittlersberg, Baldacci, Graf Wrbna (Leiter der ständischen Tilgungsdeputation), von der Hofkammer die Vizepräsidenten Herberstein und Barbier. Hofmann, Devalvierung 1811 [Anm. 6], S. 49 ff.

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Obligationen. Dabei sah auch Baldacci keine volle Rehabilitierung der Zettel im Nominalwert vor, nahm für die Konversion vielmehr einen Schlüssel von 5  :1 an und operierte damit ebenfalls (wie O’Donell) mit einer verdeckten Abwertung. Immerhin wurde den Staatsgläubigern mit der hohen Metallverzinsung der Obligationen ein gewisser Gegenwert geboten. Nun erwartete auch Baldacci nicht, dass die Beseitigung der Bancozettel das Metallgeld in ausreichendem Maße in den Verkehr zurück zwingen würde  ; eine neue Art von Zetteln musste also geschaffen werden, wenn ein deflationärer Kollaps vermieden werden sollte. Hierzu sollte für jedes Kronland eine Notenbank geschaffen werden, die unter der Garantie der jeweiligen Landstände stand [!], als Aktiengesellschaft unter der obersten Rechtsaufsicht der Zentralverwaltung selbständig arbeitete und berechtigt war, jederzeit in Metall einlösbare Noten auszugeben. Ihr wichtigstes Geschäft sollte (neben Darlehensgewährung) die »Diskontierung« der Bancozettelobligationen sein, die auf diese Weise zu einem börsengängigen und bankfähigen Wertpapier wurden. Die Dezentralisierung der Banken sollte für Risikosplitting und Einbindung der regional gewichtigen gesellschaftlichen Interessen sorgen. Unklar bleibt die wichtige Frage, ob Baldacci mit der Obligationen-»Diskontierung« ein (dezentrales) Instrument einer elastischen Geldmengenpolitik einzuführen gedachte. Der Umlaufstabilisierung sollte zusätzlich eine staatliche Steuerfundierung dienen. Vor allem aber war der Staat aufgerufen, über einen entsprechenden Anfangsbesitz von Aktien oder auf andere Weise für eine hinreichende Dotierung der Banken mit Metall zu sorgen, wozu Baldacci die gängigen Vorschläge machte (Anleihen, Güterverkauf, Steuerzahlung in Metall …), bevor die Aktienemission an Private einzutreten hatte. Der Tilgungsfond und eine Tilgungssteuer sollten zur Schuldenkonsolidierung beibehalten werden.61 Damit standen sich drei divergierende Konzepte gegenüber, die alle drei (bei Wallis offen, bei den anderen verdeckt) eine Abwertung einschlossen. Baldaccis Programm folgte insofern dem Prinzip der Rechtswahrung, als es die Metallkern­ währung wieder herstellen wollte  ; dies wäre damit auch dem Staat am teuersten zu stehen gekommen. Die anderen Alternativen standen für Baldacci denn auch unter dem Verdikt des Bankrotts. Mit Wallis traf sich Baldacci in dem Entschluss zu einem harten Währungsschnitt unter Inkaufnahme von konjunkturellen Deflationswirkungen  ; eben diese wollte Zichy (mit O’Donells Doppelwährung) durch eine Politik des gleitenden Übergangs vermeiden. Damit setzte er sich freilich (angesichts der ungelösten Metallbeschaffungsfrage) den unwägbaren

61 Hofmann, Devalvieung 1811, op. cit., S. 58–74.

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Gefahren weiterer Kursturbulenzen aus, die Wallis mit seinem Quantitätskalkül wenigstens einzugrenzen hoffte. Die Konferenzteilnehmer tendierten zumeist zum Konsolidierungsprinzip  ; niemand außer einer Einzelstimme (Graf Wrbna) mochte Wallis folgen. Dennoch setzte dieser sich beim Kaiser durch. Der Monarch »hieß« schon im Dezember den Entwurf des Hofkammerpräsidenten »gut«, behielt sich aber weitere Erwägungen vor  ; der Bruch der wiederholten öffentlichen Zusagen, die Zettel nicht abzuwerten, beschwerte ihn offensichtlich. Zum Jahreswechsel meldete sich Zichy erneut und suchte seinen Plan zu retten, wobei er gewisse Alternativen, insbesondere eine nochmalige Verkürzung der Sondersteuerfrist auf jetzt drei Jahre vorschlug. Zudem forderte er für Ungarn die Befassung des Landtags mit dem Gesamtprojekt. Vom Monarchen zur Stellungnahme aufgefordert, wiesen Wallis und Baldacci Zichys Vorstellungen zurück  : Mit langen Übergangsphasen und doppelter Papierwährung war der weitere Kursverfall des Papiergeldes ihrer Meinung nach nicht aufzuhalten  ; der Zusammenbruch werde am Ende umso schlimmer und dann nicht mehr zu heilen sein. Ferner sei die einseitige Steuerbelastung der deutsch-slawischen Erbländer ohne Einbeziehung Ungarns nicht vertretbar. Eine Vorlage des Finanzpatents am ungarischen Reichstag sei abzulehnen, da nur die Steuerbewilligung, nicht aber die Finanzpolitik in dessen Kompetenz fiel. Dem Konsolidierungsprogramm Baldaccis begegnete Wallis mit dem schlichten Hinweis, dass bei der Lage der Staatskassen und der politischen Situation Österreichs an die erforderliche Metallgeldbeschaffung nicht zu denken war. Den Bankenplan bekämpfte er überdies (nicht zu Unrecht) als Beförderung eines ständestaatlichen Währungs- und Kreditpartikularismus. Sein eigenes System zeichnete sich für Wallis durch Einfachheit, Raschheit, Schlüssigkeit aus, stellte mit einem einzigen Akt die Ausgangslage der Zeit vor Beginn des Agios wieder her, sobald binnen eines Jahres die Probleme des Übergangs überwunden waren. Sollten auch die neuen Einlösungsscheine längerfristig dem Kursverfall ausgesetzt sein, so konnte man, so Wallis, dann wie von Baldacci gewollt mit einem Konsolidierungsplan einsetzen (sc. auf der Basis der reduzierten Umlaufmenge, was bei Zichys System nicht möglich war). Damit gab der Hofkammerpräsident, ohne es zu wissen, einen Vorverweis auf das tatsächliche Geschehen nach 1815. – Wallis behielt die Oberhand  : Der Kaiser genehmigte das Patent am 7. Februar, für die Veröffentlichung wurde der 15. März 1811 vorgesehen.62

62 Hofmann, Devalvierung 1811, op. cit., S. 74–102. Texte der kontroversen Vorträge an den Kaiser vom Januar bei Stiassny [Anm. 6], S. 113–126.

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Das Finanzpatent vom 20. Februar 1811,63 das unter sorgfältiger Geheimhaltung vorbereitet worden war, schlug wie eine Bombe ein und entzog damit vor allem jeder vorausgehenden spekulativen Ausbeutung der Maßnahme den Boden. Es verkündete die Abwertung der Bancozettel und gebot ihren Umtausch in die neuen Einlösungsscheine (»Wiener Währung«), die nach einer Übergangsfrist als einziges gesetzliches Zahlungsmittel galten, im Verhältnis 1  :5. Zugleich traf es für die Behandlung älterer Verbindlichkeiten Vorsorge  : Bei deren Entstehung vor 1799 hatten die Gläubiger die neuen Einlösungsscheine im Verhältnis 1  :1 anzunehmen  ; für die Folgezeit war eine Skala maßgebend, die sich an den monatlichen Börsenkursen der Bancozettel orientierte.64 Für Verträge, die auf CM ohne Zusatz lauteten, gab es keine Sonderbehandlung, nur Verträge mit Wertsicherungsklausel (Zahlung in klingender Münze bzw. in bestimmten Münzsorten) blieben entsprechend geschützt. Im Übrigen war jedoch eine kompensatorische Wiederaufwertung älterer Geldvermögen nicht vorgesehen. Zu dem Währungsschnitt kam nun zusätzlich der klare Rechtsbruch in der Behandlung der fundierten Staatsschuld, deren Zinsen halbiert wurden, und zwar gleichgültig, ob die Anleihen im In- oder Ausland aufgelegt worden waren, und auch ohne Ansehung der Obligationenbesitzer. Dies war gegenüber den Staatsgläubigern ein Vertragsbruch, auch wenn gegenüber der Zahlung in entwerteten Bancozetteln damit aktuell sogar eine Verbesserung eintrat.65 Sorgte die Zinsreduktion für internationale Empörung und für eine nachhaltige Erschütterung des österreichischen Staatskredits, so waren es im Inland vor allem die vermögensrechtlichen Regelungen und das System der Skala, die allgemein für helle Aufregung sorgten und einen Verlust des Vertrauens in das rechtsstaatliche Verhalten des monarchischen Obrigkeitsstaates auslösten. Besitzer alter Geldvermögen sahen sich über Nacht verarmt. Die Regelung der älteren Verbindlichkeiten löste großen Unmut aus, denn da die Skala sich an den monatlichen Wiener Börsenkursen orientierte, bedeutete sie eine erhebliche Ver63 Text Stiassny op. cit., S. 77–84. 64 Vgl. dazu die Umrechnungstabelle (nach Stiassny, S. 84)  : Tabelle 2 im Anhang. Zu den Verhandlungen über die Skala unter Einbeziehung von Hofkanzlei und Oberster Justizstelle  : Hofmann, Devalvierung 1811 [Anm. 6], S. 105–114. 65 In den Konferenzen wurden die von Wallis angebotenen Varianten einer Abwertung der Schulden selbst oder einer Zinsreduktion diskutiert, wobei Metternichs mit Rücksicht auf das Ausland begründeten Protest wesentlich zur Entscheidung beitrug. Auch die Höhe der Zinsreduktion (auf ein Drittel oder auf die Hälfte) wurde diskutiert. Aktuell bedeutete die Zahlung von 50 % in Einlösungsscheinen (den Paristand mit Metall vorausgesetzt  !) eine Besserstellung gegenüber der Zahlung in 1  :5 entwerteten Bancozetteln.

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zerrung im Leistungsgefüge je nach örtlichen Gegebenheiten sowie Zeitpunkt und Bestimmungen der entsprechenden Verträge. In der Monarchie hatte sich wie schon gezeigt die Entwertung der Bancozettel höchst unterschiedlich ausgebreitet. Eine besondere Härte lag auch darin, dass die neuen Einlösungsscheine der Konventionsmünze völlig gleichgestellt waren, also z. B. auch für ältere Verbindlichkeiten von vor 1799 zu akzeptieren waren. Die neuen Einlösungsscheine erreichten aber von Anfang an keinen Parikurs und verfielen bald, wie später zu zeigen ist, selbst der Entwertung. Mehrseitige Forderungen nach einem allgemeinen Schuldenmoratorium für einige Jahre wurden von Wallis, der den Umlauf seiner Einlösungsscheine stützen wollte, abgewiesen.66 Die sehr eingehende Auswertung der Polizeiberichte aus den deutsch-böhmischen Erbländern67 zeigen, wie zu erwarten, ein schichtspezifisch differenziertes Bild. Bei den Besitzenden saß der Schock über den tatsächlichen oder scheinhaften Vermögensverlust selbstverständlich tief. Für das breite Volk, das kaum über Ersparnisse verfügte, traten die vom Währungsschnitt ausgelösten Turbulenzen im Lohn- und Preisgefüge vorübergehend sehr dramatisch in den Vordergrund. Dabei spielten Unkenntnis und Missverständnisse sowie deren manipulative Ausnutzung eine erhebliche Rolle, so etwa, wenn die laufenden Preise in Bancozetteln (die ja praktisch noch über Monate in Umlauf waren) verfünffacht wurden u.dgl.m. Mit dem traditionellen Instrument der Satzungspreise und dem Kontrollpotential des Policey-Staates hatten die Obrigkeiten jedoch genügend Steuerungsmöglichkeiten, um soziale Verwerfungen zu unterbinden. Mit der restlosen Beseitigung der alten Zettel waren nach etwa einem Jahr diese Übergangsprobleme bewältigt. Bleibender Schaden wurde vor allem dem österreichischen Staatskredit zugefügt, dessen Restitution die Finanzverwaltung nach 1815 teuer zu stehen kommen sollte. Das Finanzpatent war im März 1811 in z. T. abweichender Redaktion gleichzeitig auch in Ungarn und seinen Nebenländern veröffentlicht worden, wo es auf Empörung und Ablehnung stieß. Daran beteiligten sich auch die ungarischen Vertreter in Wien unter Anführung von Graf Zichy, die darin ein parteiliches Machwerk der »böhmischen Liga« sahen. Da die von Wien aus nicht kontrollierbaren Komitatsbehörden kein Krisenmanagement betrieben, sondern das 66 Die zeitgenössischen Stimmen, die in der Literatur vorrangig aufgegriffen wurden, reflektieren naturgemäß die Schädigung der Besitzenden. Ein Panorama bietet Raudnitz [Anm. 6], S. 77–96. Vgl. auch Anton Springer, Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809, 2 Bde., Leipzig 1863, Bd. 1, S. 168 ff.; Hofmann, Devalvierung 1811 [Anm. 6], S. 137 ff. 67 Hofmann, Devalvierung 1811, op. cit., S. 137–212.

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Ganze im Gegenteil vielfach obstruierten, nahmen die Turbulenzen und Verwirrungen bei der Währungsumstellung oft exzessive Formen an. In zahlreichen Komitats-Kongregationen machte die ungarische politische Klasse ihrer Opposition in wilden Debatten und Beschlüssen Luft.68 Im August 1811 wurde der gesamte Komplex auf die Ebene grundsätzlicher verfassungs- und finanzpolitischer Auseinandersetzungen gehoben, als unter königlicher Einberufung der alle drei Jahre abzuhaltende ungarische Reichstag zusammentrat.69 Die Regierung war in ihren Verhandlungsvorlagen entschlossen, nicht das Patent als Ganzes, sondern nur einzelne regelungsbedürftige Komplexe behandeln zu lassen. Die Abwertung selbst und ihre Wirkung auf die Besteuerung standen nicht zur Diskussion. Es ging vor allem um die Übernahme der Skala und die Forderung an Ungarn, die Garantie über 100 Mio. neuer Einlösungsscheine und entsprechende Tilgungsbeiträge zu übernehmen. Beides hätte implizit die Anerkennung des Gesamtpatents bedeutet  ; insbesondere wäre bei entsprechender Inartikulierung der Umlauf von Wiener Papiergeld zu ungarischem Recht erhoben worden. Insbesondere die Ständetafel wandte sich in scharfer Opposition gegen diese Propositionen wie auch, wenngleich dies formell nicht Verhandlungsgegenstand war, gegen den Automatismus der Steueraufwertung auf das Fünffache. Eine Erhöhung der Kontribution wurde in jedem Fall abgelehnt. Mit all dem verband sich die übliche Gravamina-Politik der Junktimierung mit anderen politischen Fragen, insgesamt zogen sich die Verhandlungen über ein halbes Jahr hin. Die Anwendung der Skala hätte, worauf hier nicht eingegangen werden kann, in Ungarn zu besonders scharfen Verzerrungen geführt, besonders im Bereich der grundherrlich-bäuerlichen langfristigen Pachtverträge. Nach zähen Auseinandersetzungen lehnten sowohl der ungarische als auch der siebenbürgische Landtag die königlichen Propositionen ab. Die Geltung des Patentes wurde daraufhin mit königlichem Mandat vom 1.  August 1812 oktroyiert. Gegen ein solch ungesetzliches Verfahren Widerstand zu leisten gehörte zu den hergebrachten verfassungsmäßigen Rechten der Komitatskongregationen und der von ihnen abhängigen Komitats-Selbstverwaltung. So war es auch jetzt, wobei die Verhaltensweisen von Komitat zu Komitat unterschiedlich waren. Die Wiener Hofkammer ließ Kommissare mit Militäras-

68 Hofmann, Devalvierung 1811, op. cit., S. 212 ff. 69 Die Reichstagsverhandlungen sehr ausführlich bei Springer, Geschichte, Bd. 1 [Anm. 66], S. 178– 198  ; knapp bei Hofmann, Devalvierung 1811, op. cit., S.  217–221. Vgl. auch Kraft [Anm.  6], S. 43 ff., 69 ff., 91 ff.

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sistenz entsenden, die bei den Obergespanen die Einhebung der Kontribution nach dem neuen Maßstab erzwangen. Ein Reichstag wurde vorsichtshalber bis 1825 unter Verletzung der verfassungsrechtlichen Vereinbarungen von 1791 nicht einberufen. Zur Entlastung der Regierung überlagerte die patriotische Euphorie der Befreiungskriege, die auch Ungarn ergriff, die Finanzkonflikte in den Folgejahren  ; doch kehrten sie ab 1820 auf die Tagesordnung zurück. Die entscheidende Voraussetzung für eine wenigstens relative Stabilisierung der Währung, d. h. eine Verstetigung des Kurses der neuen Einlösungsscheine wenn auch unter dem Paristand, lag natürlich im Ausgleich des zentralen Staatshaushalts.70 Ihn zu erreichen war das zähe Bemühen des Grafen Wallis seit seinem Amtsantritt 1810. Bei der relativ inflexiblen Einnahmestruktur hieß dies, die Ausgaben und hier insbesondere den Militäretat drastisch zu reduzieren. Es zeigte sich rasch, dass dies nicht zu erreichen war, sei es aufgrund der Überhänge an Truppenstärken aus der Kriegszeit, sei es aufgrund der inflexiblen Struktur der österreichischen Kaderarmee, sei es aufgrund der unglaublich schlampigen Ausgabenwirtschaft der Militärs. Die diesbezüglichen Klagen füllen die Akten. 1812 gerieten alle Vorsätze mit der Aufstellung des Beobachtungskorps gegen Rußland bereits ins Wanken, und im Frühjahr 1813 warf der Entschluß zur Aufstellung einer Armee in Böhmen alle Berechnungen über den Haufen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Wallis sich erfolgreich dagegen gewehrt, das Volumen der Einlösungsscheine über das öffentlich angegebene Gesamtmaß zu erhöhen, und der Kursverfall war 1812 denn auch vorübergehend zum Stillstand gekommen, mit gewissen Depressionsfolgen für das Wiener Wirtschaftsleben.71 1813 entbrannten über die Art der neuerlichen Kriegsfinanzierung heftige Kämpfe unter den Verantwortlichen, also v. a. in der Staatskonferenz.72 Wallis und seine Beamten forderten eine Erhöhung aller Steuern um 30 % bzw. 50 % unter Einschluss der Kontribution  ; Ungarn sollte mit Naturallieferungen belastet werden. Als nächstes schlugen sie die Einführung einer Einkommensteuer nach englischem Muster vor, also den Übergang zu einem völlig neuen Veranlagungsverfahren. Bei den übrigen Konferenzteilnehmern stießen alle Besteuerungsvorschläge auf Ablehnung, die Einkommensteuer auch wegen der »Gehäs70 Zur Haushaltspolitik unter Wallis ausführlich Kraft, op. cit., S. 69 f., 83–91. 71 Kraft, op. cit., S. 75, 111–118. 72 Zu diesen Auseinandersetzungen die Aktenstudien von Kraft, op. cit., S. 90 f., 118–122  ; Hofmann, Devalvierung 1811, op. cit., S. 226 ff.; ferner Fischer [Anm. 6], S. 261 ff.

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sigkeit« des kontrollierenden Eindringens in die Privatsphäre. Immerhin gelang die Einführung einer Erwerbsteuer, die zwar aktuell wenig Erträge brachte, langfristig jedoch das Ertragssteuersystem komplettierte. Aktuell begannen die Verantwortlichen gegen den heftigen Widerstand von Wallis, abermals die Kreation von Papiergeld in verschiedenen Varianten zu erwägen. Zichy trat erneut mit dem Plan einer Bankgründung unter der Leitung der Tilgungsdeputation hervor  : Die von ihr emittierten, vorerst unfundierten und mit Zwangskurs versehenen Bankscheine sollten (wie schon 1809 erwogen) eine Doppelwährung begründen. Wallis widersprach dem Plan vehement, weil auch solche Scheine unweigerlich zu Papiergeld werden und mit seinen Einlösungsscheinen zu einer Masse verschmelzen mussten. Damit war der erneute Kursverfall vorprogrammiert, und dieser musste die Ungerechtigkeiten in der Abwicklung privatrechtlicher Verbindlichkeiten noch weit über die Bestimmungen seines Finanzpatents hinaus erheblich verschärfen, insbesondere die Skala vollends ad absurdum führen. Mit dem neuerlichen Bruch obrigkeitlicher Versprechen stand auch seine eigene Reputation auf dem Spiel, wie Wallis hellsichtig voraussah. Die Erschütterung der Rechtsbeziehungen der kommenden Jahre ist in der Öffentlichkeit denn auch dem Finanzpatent von 1811 als ›Ursünde‹ zugerechnet worden. Mit der Zurückweisung der Pläne Zichys hatte Wallis noch einmal Erfolg  ; sein neuerlicher Rückgriff auf Besteuerungsvorschläge fand jedoch ebenfalls keine Zustimmung. Metternich, dem an einer raschen, unkomplizierten und eine aktuelle Belastung der Bevölkerung vermeidenden Finanzierung der Aufrüstung gelegen war, ergriff jetzt die Initiative und gewann den Kaiser für seine Sicht vom Primat der Außenpolitik. Der Monarch berief eine geheime Finanzkommission unter der Leitung des Grafen Stadion (!),73 die im April 1813 ohne Beteiligung von Wallis den entscheidenden Plan einer Ausgabe von Steuerantizipationsscheinen vorbereitete. Das Patent vom 16. April 1813, das auch von Metternich mit redigiert wurde, sah die Emission von 45 Mio. fl. mit Zwangskurs vor, die binnen 12 Jahren durch eine diesem Zweck gewidmete Quote der Grundsteuer wieder einzuziehen war. Diese theoretisch nicht unseriöse Methode der Kriegsfinanzierung konnte die Monarchie in der gegebenen Situation nicht vor einem neuerlichen Währungsverfall retten, da die neue Antizipationsscheinemission auf die bereits bestehende ungedeckte Papierwährung der Einlösungsscheine draufgesetzt wurde, mit dieser im Umlauf verschmelzen und damit die Kurse 73 Die weiteren Mitglieder  : von der Tilgungsdeputation Graf Wrbna und Graf Larisch, von der Hofkammer die Vizepräsidenten Graf Herberstein-Moltke und Barbier, sowie Hofrat v. Lederer und Hofrat v. Hauer, ferner Staatsrat Bedekovich. Fischer [Anm. 6], 262.

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erneut nach oben treiben musste. Ohnehin blieb es wie zu erwarten nicht bei dieser öffentlich bekannt gegebenen begrenzten Emission  : In den Folgejahren wurden insgeheim, d. h. ohne Verlautbarung, bis Ende 1814 zusätzlich 250 Mio., bis Anfang 1816 weitere 160 Mio. ausgegeben. Sie verschmolzen mit den knapp 209 Mio. an Einlösungsscheinen zu einer Masse von 660 Mio. Papiergeld der »Wiener Währung«.74 Mit dem Erscheinen des Patents 1813 erbat und erhielt Wallis seine Entlassung. Die Leitung der Hofkammer wurde provisorisch dem Obersten Hofkanzler Graf Ugarte übertragen  ; doch wurde schon jetzt Stadion als künftiger Leiter vorgesehen. In der politischen Öffentlichkeit wurde das Patent als politisch-moralische Bankrotterklärung des Staates negativ aufgenommen, freilich gab es in der Geschäftswelt auch Erleichterung über die Erlösung von den depressiven Wirkungen der vorangegangenen Deflation und die Aussicht auf eine neue konjunkturelle Belebung.75 Das Gesamtvolumen der Einlösungs- und Antizipationsscheine stieg von 1811 bis Ende 1815 von rund 200 Mio. fl. auf 660 Mio. fl. Ihr Börsenkurs schwankte am Ende zwischen 350 und 430 % gegen Silber.76 In der historischen Retrospektive zeigt sich, dass dieses noch maßvolle Resultat das ungewollte Ergebnis der von Wallis durchgesetzten Abwertung der Bankozettel gewesen ist. Die rettende Tat des Böhmen wurde so zum rettenden Durchgangsstadium für den Staat. Mit der Aussicht auf einen dauerhaften Frieden wurde die Regelung der gesamten Schuldenverhältnisse zu einer Hauptaufgabe der österreichischen Politik  ; mit ihr wurde im April 1814 (definitiv ernannt 1816) der hoch angesehene Graf Johann Philipp Stadion betraut, der schon seit Wallis’ Abgang dafür vorgesehen war, doch zunächst diplomatischen Missionen zu erfüllen hatte, und der im Zeichen der politischen Wende von 1813 auch wieder als Außenminister im Gespräch war. Stadion erhielt die oberste Leitung der Finanzen mit dem Titel eines Finanzministers, organisierte ein Ministerbüro und überließ unterhalb dieser Ebene die Führung der Hofkammer dem herkömmlichen Präsidium. Zu den von ihm berufenen Mitarbeitern gehörten neben Hauer und Lederer vor allem die Nachwuchstalente Kübeck und Pillersdorf77 Stadion entschied, dass die 74 Fischer, op. cit., S. 261 ff.; Kraft [Anm. 6], S. 118 ff., 129 ff. Übersicht der Emissionen bei Raudnitz [Anm. 6], S. 104 ff.; vgl. Tabelle 2 im Anhang. 75 Kraft, op. cit., S. 131, 132 f. 76 Vgl. Tabelle 2 im Anhang. 77 Josef v. Hauer (1778–1863), seit 1807 in der Hofkammer, 1812 als Hofrat, 1814 Staatsrat, seit 1831 Vizepräsident der Hofkammer, Vertrauensperson des Kaisers. Karl Alois v. Lederer (1772–1860),

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peinliche Beachtung des Gläubigerinteresses gegenüber dem Staat als Schuldner im Rechtsrahmen privatrechtlicher Auffassungen Leitlinie des finanz- und währungspolitischen Handelns sein musste. Nach allem Vorangegangenen war dies auch der politische Preis, den der hochkonservative Absolutismus zu seiner Absicherung zu entrichten hatte. Man mag hypothetisch erwägen, ob mit Hilfe der Stände, am ehesten im Rahmen der Berufung einer zentralen Repräsentativkörperschaft, und mit deren politischer Absicherung eine den Staat stärker entlastende Schuldenliquidation oder die für eine Schuldenrestauration notwendige Steuererhöhung erreichbar gewesen wäre. In diesem Zusammenhang ist vielleicht der ominöse Reichsratsplan Metternichs von 1816 interessant, der freilich nur in dessen Äußerungen aus späten Lebensjahren bezeugt ist und sich in den Akten nie gefunden hat.78 Danach sollte jährlich eine Deputation aus wenigen Vertretern aller Stände des Reiches einberufen werden, zu deren Hauptaufgaben die jährliche »Prüfung« des Budgets gehören sollte. Kaiser Franz habe diese Vorschläge immer abgelehnt. Unzeitgemäß wäre eine solche Initiative durchaus nicht gewesen  ; sie fügt sich in die Reihe der finanzpolitisch motivierten Vorschläge oder Versuche einer »Notabelnpolitik«, für die es zeitgenössische Parallelen gibt. Übrigens ist nicht vorstellbar, wie man Ungarn zur Beschickung einer solchen Institution hätte bewegen wollen, dem entgegen steht die Kontinuität seiner Staatsrechtsdoktrin von 1790 bis 1867. Stadion ging bei seinen Währungsplänen von dem Grundsatz aus, den Akt von 1811 nicht zu wiederholen und das kaiserliche Versprechen, künftig keine Abwertung mehr zuzulassen, einzuhalten. Auch Stadion war sich natürlich darüber im klaren, dass es unmöglich und unter Gerechtigkeitsaspekten auch abwegig war, das gesamte Papiergeld zum Nennwert gegen Metallmünze einzulösen. Eine offene gesetzliche Abwertung sollte jedoch ausgeschlossen sein. Damit verbot sich jede gesetzliche Beeinträchtigung des Umlaufes der Wiener Währung  ; der Grundsatz der Freiwilligkeit bestimmte erneut alle Konvertierungsmaßseit 1813 Staatsrat, 1837–1847 Gouverneur der Nationalbank. Karl Friedrich v. Kübeck (1780– 1855), Finanz- und Innenverwaltung, seit 1814 Staatsrat, 1840–1848 Hofkammerpräsident, seit 1850 als Reichsratspräsident Architekt des Neoabsolutismus. Franz Xaver v.  Pillersdorf (1786– 1862), seit 1811 in der Hofkammer, 1815 Hofrat, 1824–1832 Vizepräsident der Hofkammer, dann Kanzler der Hofkanzlei, 1848 als Innenminister Vater der ersten konstitutionellen Verfassung. Zur Trennung von Finanzministerium und zu den Organisationsproblemen der Finanzverwaltung unter Stadion vgl. Walter [Anm. 15], S. 250 ff.; ausführlich Fischer [Anm. 6], S. 273–282. 78 Egon Radvany, Metternich’s Projects for Reform in Austria, Den Haag 1971, S. 36 ff. Zu Hardenbergs Notabelnpolitik in Preußen im Zusammenhang mit den Finanzproblemen etwa  : Herbert Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus in Preußen, Düsseldorf 1984, S. 58–77.

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nahmen. Außerdem scheute Graf Stadion die deflationären Wirkungen eines Währungsschnittes. Er wünschte eine breite Übergangszone für die allmähliche Eliminierung der alten Zettel auch, um eine unmerkliche Transformation des Zahlungsverkehrs zu sichern und jene plötzliche Erschütterung der Vermögensverhältnisse und Rechtsbeziehungen zu vermeiden, die das psychologische Hauptübel der Abwertung von 1811 gewesen war. Damit näherte sich Stadion erneut jenen Erwägungen, die auch die Pläne O’Donells bereits bestimmt hatten, nämlich zunächst eine Doppelwährung einzuführen. Damit verband sich jetzt zugleich der Plan einer Notenbankgründung. Bei seinem Amtsantritt entschloss sich Stadion zunächst, dem Haushaltsgleich­ gewicht Vorrang einzuräumen und währungspolitisch auf rasche Maßnahmen zu verzichten. Hierzu waren die Voraussetzungen jetzt günstiger als unter der napoleonischen Hegemonie, da der Friede eine umfassende Abrüstung in Aussicht stellte und da neben dem Erwerb der reichen oberitalienischen Provinzen jetzt französische Kriegskontributionen in ansehnlicher Höhe zu erwarten waren. Damit waren dann auch die dringend benötigten Metallzuflüsse zur Haushaltsstabilisierung und zur Wiedereinführung des Münzumlaufs gesichert. Dies würde zum Rückgang des Silberagios und auch zur Verstetigung der Papiergeldkurse führen und zugleich der Regierung die nötigen Mittel zu einer dann einzuleitenden aktiven Währungspolitik an die Hand geben. Bevor über die Lage der Kassen, die territoriale und institutionelle Neuorganisation der vergrößerten Monarchie und die Höhe der Zuflüsse Klarheit bestand, glaubte der Finanzminister zuwarten und die verschiedenen Optionen prüfen zu können.79 Die Rückkehr Napoleons und der erneute Krieg rissen Stadion allerdings aus dieser zögerlichen Selbstgenügsamkeit. Abermals mussten erhebliche Papiergeldmengen in den Umlauf gepumpt werden (s. oben)  ; die Kurse gerieten erneut in Turbulenzen, und der Kaiser drängte nach dem Sieg ungeduldig auf die Vorlage von Sanierungsplänen. Die bis dahin entwickelten Pläne der Mitarbeiter und Kontrahenten Stadions liefen im wesentlichen auf eine sofortige Zwangskonversion des Papiergeldes hinaus  : Baldacci erneuerte seine alten Vorstellungen, das gesamte Papiergeld aus dem Verkehr zu ziehen und in eine fundierte Obligationenschuld zu verwandeln. Pillersdorf schlug eine Teilkonsolidierung und die Verwandlung des für den Umlauf benötigten Papiergeldrestes in einlösbares Kreditgeld unter Einschaltung einer Bank vor. Kübeck empfahl die Konversion nur der Antizipationsscheine mittels einer Lotterieanleihe und den freien Ankauf der Einlösungs79 Fischer [Anm. 6], S. 275 ff.; Raudnitz [Anm. 6], S. 126 ff.

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scheine gegen Münze zum laufenden Tageskurs. Stadion lehnte auch jetzt alle Zwangsmaßregeln ab  ; sein eigener Plan vom Januar 1816 griff vor allem das seit längerem diskutierte Bankprojekt auf und gründete darauf einen eigenständigen Währungsplan. Danach sollte die zu gründende Bank aus vier Abteilungen bestehen  : Die erste und aktuell wichtigste sollte als Zettelbank unter der Leitung von Deputierten der Tilgungskommission und Vertretern des Handelsstandes vom Staat mit 47 Mio. fl. Konventionsmünze ausgestattet werden und (im Sinne der Dritteldeckung) dafür 143 Mio. Banknoten emittieren dürfen. Die Noten sollten in einem bestimmten Verhältnis gegen das alte Papiergeld ausgegeben werden, und zwar so, dass gegen Papiergeldeinlage für fünf Siebtel eine 1 %-verzinsliche Obligation, für zwei Siebtel jederzeit einlösbare Banknoten eingetauscht wurden. Die Noten hatten keinen Zwangskurs, besaßen jedoch Steuerfundierung. Mit dem nominell vollwertigen Eintausch der alten Scheine in Noten und Obligationen nach dem Schlüssel von 2  : 5 wurde dem Prinzip der Rechtswahrung Genüge getan. Bei einem Kurswert der 1 %-Obligationen von etwa 20 verbarg sich hinter der freiwilligen Konversion ein aktueller Abwertungssatz von 1 zu 2,33. Selbstverständlich lag eine entscheidende Schwäche der Umlaufsicherung der Banknoten zum vollen Kurs von vornherein darin, dass die Noten nicht durch bankmäßige Effekten gedeckt waren und der Bankschatz nicht ›verteidigt‹ werden konnte.– Für eine bankmäßige Notenemission war die zweite Abteilung der Bank vorgesehen, die als Aktiengesellschaft zu gründen war und nach Konstituierung in die Selbständigkeit entlassen werden sollte  ; sie sollte übliche Bankgeschäfte, vor allem den Wechselrediskont betreiben. Auch mit den Einzahlungen auf die Aktien sollte Papiergeld abgeschöpft werden. Die dritte Abteilung sollte das Hypothekengeschäft (eine für Notenbanken nicht gerade systemkonforme Aktivität) betreiben, die vierte Abteilung die Geschäfte des bestehenden und zu reorganisierenden Tilgungsfonds zum Abbau der Staatsschuld betreiben. Die Bankaktien sollten zum Stückpreis von 2000 fl. in Papiergeld und 200 fl. in Konventionsmünze ausgegeben werden. Das hierauf einfließende Papiergeld sollte der Bank vom Staat gegen 2,5 %-verzinsliche Obligationen abgenommen und ebenfalls vernichtet werden. Auch das Aktienkapital bestand damit von vornherein zu einem erheblichen Teil in Forderungen an den Staat. Immerhin wollte die Finanzverwaltung die Bank aus den französischen Kontributionen mittelfristig mit 47,6 Mio. Metallgeld dotieren. Binnen einer Frist von fünf Jahren sollte das Papiergeld, dessen Umlauf aktuell mit 650 Mio. fl. angenommen wurde, durch die Einlösungsoperation der Zettelbank (500 Mio.) und die Aktieneinlagen (100 Mio.) näherungsweise eingezogen werden. (Der Rest mochte am Ende, falls erforderlich, ebenfalls in Obligationen konvertiert werden.) Die Zinsbelastung für

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die an Publikum und Bank ausgegebenen Obligationen wurde mit 6,7 Mio. berechnet, so dass sich die Kosten für den Staat auf 54,4 Mio. fl stellten.80 Stadion konnte die kaiserliche Genehmigung seines Programms und seiner legislativen Umsetzung im Immediatverkehr mit dem Kaiser ohne Einschaltung von Staatsrat bzw. Staatskonferenz erreichen  ; ähnlich wie bei Wallis trug das Konzept im Wesentlichen seine eigene Handschrift. Für die Ausarbeitung der Patente zog er den nunmehrigen Hofkammerpräsidenten Graf Herberstein sowie Pillersdorf und Kübeck heran. Nach einigen Verzögerungen – der Monarch befand sich monatelang auf Reisen in die rückerworbenen Provinzen – wurden am 1. Juni 1816 zwei Patente zur Papiergeldeinlösung und zur Gründung der Nationalbank als Aktiengesellschaft veröffentlicht. Danach sollte die Aktienemission sogleich beginnen und die Abteilung der Zettelbank ihre Wirksamkeit sofort aufnehmen, die definitive Konstituierung als Privatgesellschaft wurde eingeleitet. Für die Papiergeldeinlösung galt der von Stadion entwickelte Schlüssel von zwei Siebteln in Banknoten zu fünf Siebteln Obligationen.81 Die Papiergeldabschöpfung durch Noten- und Obligationenemission geriet binnen weniger Tage und Wochen zu einem Fiasko. Das Wiener »Publikum«, also vorab die großen und kleinen Agioteurs, stürmte die Kassen, um Banknoten zu erhalten und diese sogleich in Münze einwechseln zu lassen. Neben dem in Jahrzehnte langer Erfahrung gewachsenen Mißtrauen in die staatliche Währungspolitik trug dazu wesentlich auch der gegenüber dem Börsenkurs des Papiergeldes zu günstige implizite Abwertunssatz bei, der zur Mitnahme von Differenzgewinnen einlud. Vor allem aber war viel zu wenig Metallgeld bereitgestellt worden, um gerade in der psychologisch riskanten Anfangssituation Liquidität zu demonstrieren. So wurde nach wenigen Tagen die Einlösung drastisch erschwert, wodurch Zudrang und Mißtrauen nur noch verschärft wurden und tumultartige Szenen vor den Kassen provozierten. Dieser Weg der bankmäßigen Währungssanierung stand damit vor dem Scheitern. Dementsprechend zog der Kurs des Agios wieder an.82 Stadions Stellung war vorübergehend erschüttert  ; in jedem Fall war die Zeit seiner Alleingänge vorbei, und der Monarch drängte auf kollegiale Beratung der weiteren Maßregeln.83 Damit erhielten die alten Kontrahenten Zichy und 80 Zum Ganzen Raudnitz, op. cit., S. 133–145  ; Fischer, op. cit., S. 283 ff.; Beer [Anm. 6], S. 86–97. 81 Inhalt der Patente, provisorische Bankgründung und Aktenbeilagen bei Raudnitz, op. cit., S. 146– 154, 217 ff. 82 Raudnitz, op. cit., S. 155–168. 83 Konferenzen im Juli 1816 mit Stadion, Zichy, Baldacci, Lederer, Kübeck und Pillersdorf. Raudnitz, op. cit., S. 161 ff.; Fischer, op. cit., S. 298 ff.

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Baldacci erneut eine Plattform, und auch Metternich wurde eingeschaltet. Während Baldacci auf seinen alten Vorschlag einer sofortigen Zwangskonversion des gesamten Papiergeldes in eine fundierte Schuld zurückkam, wollte Zichy das vom Scheitern bedrohte Verfahren bankmäßiger Einlösung retten und schlug dazu eine Reihe von Maßregeln vor, um die Banknoten im Umlauf zu halten. Von einem solchen System der Aushilfen wollte Stadion nichts wissen, um nicht das Bargeld sinnlos zu verschleudern  ; er verlangte die weitere Drosselung dieser Art von Einlösung mit dem Ziel ihrer baldigen Beendigung und wollte sie durch ein neues Verfahren der Papiergeldabschöpfung ersetzen. Dabei sollte jedoch weiterhin am Prinzip absoluter Freiwilligkeit festgehalten werden. Hierzu war im Finanzministerium von Pillersdorf und Kübeck ein Plan entwickelt worden, der den Vorteil hatte, zugleich für die dringlich werdende Sanierung der älteren Staatsschuld ein Zeichen zu setzen. Das Angebot bestand in einer »Arrosierung« (=»Auffrischung«, Nachbesserung) der alten in entwerteter Wiener Währung verzinsten Obligationen durch Aufzahlung von Papiergeld und ihre Umwandlung in eine neue, zu 5 % in Metall verzinsliche Obligationen. Die Aufzahlung war je nach ursprünglichem Zinssatz von 80 bis 140 % gestaffelt.84 Es gelang Stadion, sich mit diesem Plan gegen seine opponierenden Kollegen und gegen den neuen Experimenten abholden Kaiser durchzusetzen, wobei Metternich ihm entscheidende Schützenhilfe leistete. Die bankmäßige Einlösung wurde planmäßig gedrosselt (bis zu ihrer Einstellung im Januar 1817) und aktuell durch einen freien Börsenankauf des Papiergeldes substituiert, die Arrosierungsanleihe mit Patent vom 29. Oktober 1816 eröffnet.85 Diese Operation war durchaus erfolgreich  ; das Interesse daran ließ allerdings Ende 1817 nach, so dass die Verwaltung auf eine neue Methode marktmäßiger Papiergeldabschöpfung sann (s. unten) und das Arrosement im April 1818 einstellte. Bis dahin waren damit knapp 128 Mio. fl. Papiergeld aus dem Verkehr gezogen worden. Im gleichen Zeitraum waren durch die Einlösungskasse der Bank, die Aktieneinlagen und den freien Börsenverkauf 52 Mio. abgeschöpft worden.86 Der Umlauf an Wiener Währung betrug also immer noch etwa 470 Mio. fl. Dem stand eine Banknotenemission von etwa 14 Mio. fl. gegenüber, wovon fast ein Drittel gegen Einwechslung in Münze zurückgeflossen war und also etwa 10 Mio. Noten umliefen. Der Kurs des Papiergeldes hatte sich nach diesen Aktionen freilich 84 Details bei Raudnitz, op. cit., S. 168 ff. 85 Fischer, op. cit., S. 298–301. 86 Einlösungskasse 26,3 Mio., Börsenverkauf 20,0 Mio., Aktieneinlage 6,0 Mio. Alle Ziffern bei Raudnitz, op. cit., S. 170 ff.

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noch nicht verstetigt. Um ihn dauerhaft auf ein angestrebtes Verhältnis von 1  : 2,5 einzupendeln, bedurfte es nach Schließung des Arrosements weiterer Abschöpfungs- und Stützungsmaßnahmen. Die Stadionschen Prinzipien der Freiwilligkeit und des gleitenden Übergangs brauchten also, wie sich an diesem Resultat zeigt, einen außerordentlich langen Atem. Eine Fortsetzung dieser Politik des langen Atems hatte eine lang dauernde Periode politischer Stabilität zur Voraussetzung. Inzwischen drängte ein weiteres Problem zum Handeln. Die Verzinsung der öster­reichischen Staatsschuld war nach ihrer Halbierung 1811 mit dem neuer­ lichen Verfall der Papierwährung weiter gesunken  ; bei einem Kurs von 250 betrug sie noch ein Zehntel der ursprünglichen Höhe. Die Finanzverwaltung traf anfänglich keine Anstalten, an diesem Zustand etwas zu ändern. Für den Kredit Österreichs nicht zuletzt auf den internationalen Finanzmärkten war dies naturgemäß eine Katastrophe  ; dies würde sich spätestens bei dem nächsten Anleiheversuch zeigen. Schon 1815 hatte das Frankfurter Bankhaus Gebrüder Bethmann vertraulich verlangt, eine Gläubiger-Kommission aus Vertretern der Frankfurter, Amsterdamer und Rotterdamer Häuser und einem Abgesandten der österreichischen Verwaltung zu bilden, um für die Abnehmer der durch sie vermittelten Anleihen eine Lösung zu finden. Das sah ein wenig nach Kuratel aus und wurde von Stadion als »vorlaut« abgelehnt.87 Ende 1817 starteten die Bankiers eine neue Initiative,88 diesmal eingekleidet in das Angebot einer Anleihe zur Papiergeldabschöpfung. In Wien erschienen die Gebrüder Parish (Hamburg/London) und bald darauf Moritz Bethmann mit einer entsprechenden Offerte, an die sie die Bedingung einer sofortigen Rehabilitierung ihrer Kunden knüpften. Das Finanzministerium ließ sich darüber in Verhandlungen ein, die zu einem vollen Erfolg für die Bankiers führten  : Auflage einer internationalen 5 %-Anleihe über mindestens 11 Mio., maximal 33 Mio. fl. zu einem Ausgabekurs, der die Kosten auf 9,1 % brachte (!), sofortige Wiederherstellung der Verzinsung auf den alten Stand in Metall für alle früheren Anleihen, die von den holländischen Häusern und von Bethmann vermittelt worden waren, ferner Einstellung der gegenwärtig laufenden Arrosierung. Trotz der harten Bedingungen ließ sich die Finanzverwaltung darauf ein und schloss ein vorläufiges Übereinkommen. Sie hoffte, mit dem Anleihebetrag von 33 Mio. fl. etwa 100 Mio. Papiergeld marktmäßig aufkaufen und den Kurs der Wiener Währung damit bei 250 stabilisieren zu 87 Fischer, op. cit., S. 286. 88 Zu den Vorgängen Fischer, op. cit., S. 303 ff.

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können. Außerdem wollte sie mit einem Anleiheerfolg ein Signal zur Wiederherstellung österreichischer Kreditwürdigkeit setzen. Die Vorzugsbehandlung eines Teils der ausländischen Gläubiger fand von Anfang an nicht den ungeteilten Beifall der Staatsspitze, insbesondere der Kaiser selbst drang darauf, eine auch die inländischen Gläubiger einschließende Gesamtlösung anzustreben. Davon wurden die weiteren Schritte bestimmt. Die Gleichsetzung von in- und ausländischen Gläubigern erscheint zwar aus der Perspektive moderner interner Kriegslastenbewältigung nicht als zwingend, lag jedoch nach privatschuldrechtlichen Kategorien nahe und lag ganz in der Linie der vom Kaiser und Stadion befolgten Maxime unbedingter Rechtswahrung. Auch war selbstverständlich innenpolitische Rücksichtnahme geboten. Die weiteren Verhandlungen mit den Bankiers89 bewirkten eine Verbesserung des Ausgabekurses für die Anleihe  ; dies bedeutete aber immer noch eine nominale Verschuldung von 50 Mio. für den Erhalt von 33 Mio. Metallgeld. Auch wurde für die Behandlung der alten Schulden ein Kompromiss gefunden  : Die Obligationen der vordem in Holland bei Osy und Goll (33 Mio.) und bei Bethmann in Frankfurt (21 Mio.) aufgenommenen Anleihen sollten in den (sogleich zu erörternden) Gesamtplan der Schuldenrestauration einbezogen werden  ; für die aufgelaufenen unbezahlten Zinsen (etwa 25 Mio.) sowie für die ab jetzt zu begleichenden Zinsen der Altschuld (solange deren Titel nicht verlost waren, s. unten) sollten 5 %-Obligationen ausgestellt werden. Diese neuen Obligationen sowie die aus dem Arrosement hervorgehenden gleichartigen Schuldverschreibungen wurden damit zum Grundstock der österreichischen »Metalliques«, also der 5 %-igen metallverzinslichen Obligationen, denen sich in den nächsten Jahrzehnten eine ganze Generation von Anleihen anschloss. Die Abmachungen mit der Frankfurt-Holländischen Gruppe liefen damit auf eine beachtliche und auch kostspielige Lastenverschiebung in die Zukunft hinaus. Im Übrigen wurden die Verhandlungen mit den Bankiers in eine generelle Regelung90 überführt, in die alle Titel der alten Schuld einbezogen wurden. Gemäß den entsprechenden Vorarbeiten im Finanzministerium, an denen vor allem Pillersdorf beteiligt war, bestimmte das Patent vom 16. März 1818, dass von der älteren Schuld im nominellen Gesamtbetrag von 550 Mio. fl. jährlich 5 Mio. über einen Verlosungsplan in den vertraglichen Zinsgenuss und ein gleicher 89 In der zweiten Phase wurden außer Bethmann und Parish auch die Häuser Hope/Amsterdam, Baring/London und Geymüller/Wien in das Abkommen einbezogen. Abschluss am 16. Mai 1818. Fischer, op. cit., S. 306 f.; Beer [Anm. 6], S. 101 f., 108 ff. 90 Zum Folgenden Beer, op. cit., S. 102 ff.; Fischer, op. cit., S. 307 ff.

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Betrag durch börsenmäßigen Ankauf getilgt werde. Nach 50 Jahren sollte damit diese Schuld halbiert und die bleibende Hälfte restauriert worden sein. Die gesamte Operation wurde dem reorganisierten Tilgungsfond übertragen, der durch entsprechende Dotationen aus dem Staatshaushalt dazu instand gesetzt wurde. Seine selbständigen Tilgungsoperationen hatten – der Theorie der sinking funds folgend – den Zweck, die Kurse der ihm anvertrauten Schuldtitel zu heben und durch diese Art der Kurspflege auch die Besitzer der unverlosten Obligationen frühzeitig zu begünstigen, und zwar unabhängig davon, ob der Staat sich im übrigen neuerlich verschuldete oder nicht. Aus der Sicht des Staates war ein solcher Gläubigerschutz freilich nur dann zu rechtfertigen, wenn der Staatshaushalt ausgeglichen und nicht per saldo Schuldentilgung durch neue Verschuldung finanziert werden musste. Diese Voraussetzung sah Stadion als selbstverständlich an  ; es sollte sich jedoch zeigen, dass die Habsburgermonarchie dazu langfristig nicht in der Lage war. Nach dieser Schuldenregelung konnte die Finanzverwaltung daran gehen, neue Maßnahmen zur Konsolidierung des Papiergeldes einzuleiten. In der Zwischenzeit war die Nationalbank als Aktiengesellschaft definitiv konstituiert worden  ;91 bis Ende 1819 waren gut 50 000 Aktien und damit die Hälfte der vorgesehenen 100 000 Aktien begeben worden. Dafür waren 50,6 Mio. fl in Papiergeld und 7 Mio. in Münze eingegangen  ; die letztere Summe bildete aktuell den Barschatz der Bank. Der Papiergeldumlauf hatte sich damit (unter Einbeziehung der bankmäßigen Einlösung von 1816 und der Arrosierung) insgesamt von ursprünglich fast 660 Mio. auf knapp 450 Mio. fl. verringert. Der Kurs der Wiener Währung hatte sich 1819 auf 250 eingependelt. Die Finanzverwaltung war erfolgreich dabei, den Staatshaushalt in Einnahmen und Ausgaben zunehmend von Papiergeld auf feste Währung umzustellen (s. unten). Sie war an einer zügigeren Reduktion des Papiergeldes als bisher zugunsten des Münz- und Notenumlaufs interessiert, wollte aber die Lasten und Unwägbarkeiten dieser Reduktion nach den bisherigen Erfahrungen nicht mehr selbst auf sich nehmen. Die Bankdirektion ihrerseits hatte mit Blick auf die Dividende wenig Neigung, weitere Aktien zu emittieren, um auf diese Weise weiteres Papiergeld abzuschöpfen  ; Sie hatte im Gegenteil angesichts der wenig entwickelten österreichischen Verkehrswirtschaft Mühe, die gewöhnlichen Geschäftsfelder einer Notenbank zu entfalten, um bei ihrer großen Kapitalausstattung angemessene Erträge zu erwirtschaften. In dieser Situation begegneten sich die Interessen von Staat und Bank in dem Plan, die weitere Papiergeldeinlösung der Nationalbank als lau91 Dazu ausführlich Raudnitz, [Anm. 6], S. 186–199.

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fendes Geschäft zu übertragen. Dieses Verfahren bot dem Staat zugleich die Möglichkeit, die selbstgewählte Linie formaler Rechtswahrung auch weiterhin einzuhalten und die offene Proklamation eines Abwertungssatzes zu vermeiden. Mit der Übertragung des Papiergeldes als Staatsschuld an die Bank war dessen Einlösung im nunmehr vorgesehenen Verhältnis von 250  :100 nach außen hin eine Entscheidung der Bank. Die Finanzverwaltung beschritt also wie schon beim Wiener Stadtbanco im 18. Jahrhundert den Weg, sich hinter dem Kredit eines Privatinstituts zu verschanzen. Hierfür forderten die Bankaktionäre selbstverständlich einen Preis.92 Vor allem bedurfte es der staatlichen Hilfe bei einer nachhaltigen Aufstockung des Bankschatzes, und auch die Vergütung des Staates für die neue Papiergeldschuld war in einem Abkommen zu regeln.93 Der aktuelle Umlauf von 450 Mio. fl. Wiener Währung repräsentierte einen Wert von 180 Mio. fl CM. Zur Abtragung bzw. Deckung dieser Schuld schlug die Finanzverwaltung der Bank eine Rückzahlung der Einlösungsschuld von 1816 (23 Mio.) in bar, eine staatliche Übernahme der Reserveaktien mit dem Vorbehalt allmählicher Emission (30 Mio.) sowie später eine zusätzliche freie Bardotation mit 40 Mio. vor  ; für den Rest war der Bank eine Schuldverschreibung zu übergeben, die mit 4 % verzinslich und mit 1 % zu tilgen war. Im Endzustand ergab dies (zusammen mit den Eigenmitteln der Bank von 7 Mio.) ein Barvermögen von 100 Mio., mit dem man einen angenommenen Notenumlauf von 200 Mio. sicher zu decken vermeinte. Bei diesem Notenumlauf nahm man eine Quote von 20 Mio. aus dem bankmäßigen Diskont- und Lombardgeschäft an  ; der Umlauf der übrigen 180 Mio. basierte auf der Papiergeldeinlösung. Dies bedeutete schon in der Planung, dass der Umlauf nur zum geringsten Teil durch das klassische Notenbankgeschäft generiert war, in der Masse aber auf uneinbringlichen Forderungen beruhte und damit unelastisch war. Auf der Basis dieser Vorschläge wurde das Abkommen mit der Bank im März 182094 geschlossen und nach Zustimmung der Konferenzminister vom Kaiser genehmigt. Zur Sicherung der Bardotation schloss die Finanzverwaltung mit Rothschild und Parish im April und Juli zwei Anleiheverträge mit Lotterie-Ausspielung über 20 und 35 Mio. fl. Die Hofkammer verfügte zusätzlich über Liquiditätsreserven aus der Anleihe von 1818. Zweifellos bezeichnete diese Operation 92 Fischer, op. cit., S. 311 ff. 93 Zum folgenden neben Fischer, a.a.O., die detaillierten Ausführungen bei Raudnitz, op. cit., S. 200 ff. 94 Text Raudnitz, op. cit., S. 237 ff.

Der österreichische ›Staatsbankrott‹ von 1811 – Vorgeschichte und Folgen 

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den Höhepunkt der Verwaltung Stadions und bewies die Wiederherstellung des österreichischen Staatskredits. Die Zusagen an die Bank sind dennoch nicht erfüllt worden.95 Noch gegen Ende des Jahres 1820 setzte Österreich zu seiner Politik der Intervention in Italien an, die in der Folge zu kostenträchtigen Militäraktionen führte. Der ohnedies ungefestigte Staatshaushalt, der in den letzten Jahren vornehmlich durch die Zuflüsse an französischer Kriegskontribution im Gleichgewicht gehalten worden war, absorbierte nunmehr in hohem Maße das Aufkommen der letzten Anleihen. Faktisch erhielt die Bank 1821 lediglich 40 Mio., im Laufe der 1820er Jahre weitere 30 Mio. fl. an Bardotation aus der Staatskasse, die über die Anleihen aufgebracht wurden. Zu ihrer Entlastung bot die Finanzverwaltung ferner an, die Reserveaktien unveräußert zurück zu geben. Dies wurde von der Direktion selbstverständlich mit Freuden angenommen, zumal damit keine Aufforderung zu ihrer Begebung verbunden war. Mit all dem wurde für die Zukunft ein System der Aushilfen begründet, bei dem der Staat die Bank mit Silberdotationen stütze, sobald in kritischen Situationen die Bar­ einlösung der Noten gefährdet war. Die Einlösung des Papiergeldes ging in den nächsten Jahren zügig voran  ; bis 1830 war die große Masse durch die Bank mit sinkenden Beträgen eingezogen worden, danach fielen jährlich nur noch geringe Mengen an.96 Hierfür erhielt das Institut zu 4 % verzinsliche Schuldverschreibungen des Staates, die langfristig zu tilgen waren. Dies sicherte den Bankaktionären, vorab der Wiener Haute Finance, ein risikofreies Basiseinkommen. Entsprechend der wenig entwickelten Verkehrswirtschaft war das klassische Notenbankgeschäft bis zur Jahrhundertmitte relativ geringfügig  ; der weit überwiegende Teil des Notenumlaufs beruhte also auf unrealisierbaren Forderungen an den Staat und war damit unelastisch  ; die Bank war also latent zahlungsunfähig. Bis 1848 wurde dieser Sachverhalt durch Nichtveröffentlichung der Bankausweise und durch die staatliche Silberstützung in Krisenlagen verschleiert. Nicht ohne Erfolg konnte die Regierung also die substanzielle Nichtbewältigung der monetären Kriegsfolgelasten mit dem ›window-dressing‹ des Bankkredites ummanteln, wofür die Bankaktionäre eine Prämie erhielten. Mit den Erschütterungen der 48er Revolution wurde freilich sofort wieder die Einführung des Zwangskurses fällig  ; zusätzlich sorgten in der weiteren Folge neuerliche Papiergeldfinanzierungen der österreichischen Kriege

95 Zum Ganzen kritisch Beer, op. cit., S. 110–124. 96 Statistik der Geschäftsergebnisse der Nationalbank in Czörnig [Anm. 5], S. 96 ff.; Statistik der Papiergeldeinlösung auch bei Raudnitz, op. cit., S. 254 f.

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Der österreichische ›Staatsbankrott‹ von 1811 – Vorgeschichte und Folgen

dafür, dass die Habsburgermonarchie auch in der zweiten Jahrhunderthälfte aus den Währungsturbulenzen nicht heraus kam.97 Wie schon im Umfeld des Staatsbankrotts von 1811, so stand das staatsfinanzielle Interesse an der Wiederherstellung einer harten Währung auch ab 1815 ganz wesentlich unter dem Gebot, wieder feste Grundlagen für den Staatshaushalt zu gewinnen und das Steueraufkommen zu restaurieren. Diesem Aspekt sind noch einige Bemerkungen zu widmen. Von sich aus hat die Regierung in Restaurations- und Vormärzzeit niemals einen Abwertungssatz festgestellt oder die Wiener Währung außer Kurs gesetzt. Diesem Rechtsstandpunkt entsprach die strikte Haushaltsführung in zwei Währungen, die erst 1824 eingestellt wurde, als die Einnahmen in Wiener Währung fast bedeutungslos geworden waren. In materieller Hinsicht musste der Regierung aber alles daran gelegen sein, die entwerteten Steuern auf Konventionsmünze umzustellen. Dies bedeutete realiter eine aktuelle Steigerung um das Zweieinhalbfache der in den letzten Jahren gewohnten Belastung und wurde nicht ohne Schwierigkeiten durchgesetzt. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür war, dass die Verwaltung selbst mit den Staatsausgaben hinreichend Metallgeld in Umlauf brachte. Hierzu scheinen in erster Linie die französischen Kontributionen gedient zu haben, die damit neben der Stabilisierung des Haushalts einen weiteren, währungspolitischen Zweck erfüllten. Den Anfang der Steuerumstellung machten bezeichnender Weise die Kameralgefälle, über die die Finanzverwaltung autonom entscheiden konnte  ; bis 1818 folgten nach Verhandlungen mit den einzelnen Ständen der deutsch-slawischen Kronländern die Kontributionen.98 Die größten Schwierigkeiten machte erneut die Umstellung der Kontribution in Ungarn.99 Nach dem Frieden wurde bald der Vorsatz der Regierung erkennbar, auch künftig ohne Reichstag in Ungarn vorzugehen. Die Hofkammergefälle wurden auf CM umgestellt  ; 1820 setzte Wien gegen schwerste Bedenken der ungarischen Hofkanzlei auch zur der Umstellung der bislang in Papiergeld eingehenden Kontribution an, und zwar über direkte Anweisungen an die Organe der Komitats-Selbstverwaltung. Dies wurde zum geringeren Teil befolgt, über97 Die Situation der Bank und die problematische Verquickung von Finanz- und Bankinteressen war schon früh ein Gegenstand der (zunächst anonym veröffentlichten) Kritik. Dazu und zur Gesamtproblematik Brandt, Neoabsolutismus [Anm. 4], Bd. 1, S. 109 ff. 98 Brandt, op. cit., S. 110 f.; Springer [Anm. 66], Bd. 1, S. 309 f., 317 ff. 99 Breite Schilderung der Auseinandersetzungen seit 1820 und des Reichstages von 1825 bei Springer, op. cit., Bd. 1, S. 323–361.

Der österreichische ›Staatsbankrott‹ von 1811 – Vorgeschichte und Folgen 

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wiegend aber mit Renitenz beantwortet. Wien entsandte nunmehr Kommissare zur Durchsetzung seiner Befehle  ; die Antwort war Obstruktion, Verschwinden der Steuerakten usw. Die Kommissare meldeten, dass ohne Reichstag weder Steuern noch Rekruten zu bekommen seien, und die Steuerrückstände schwollen an. 1825 entschloss sich der König zur Berufung des Reichstages, der fast zwei Jahre dauern und sich zu einer Generalabrechnung mit dem gesetzlosen Absolutismus gestalten sollte. Die gesamte Papiergeldwirtschaft, das Patent von 1811, die Skala und die dazu gehörige, in Ungarn offenbar sehr uneinheitliche Rechtsprechung kamen zugleich mit den Kontributionen und ihrer ungesetzlichen Einhebung auf den Prüfstand und wurden durch umständlich arbeitende Untersuchungskommissionen seziert. Gegen eine vermittelnde Magnatenpartei steuerten die radikaleren Komitatsdeputierten der unteren Ständetafel, kräftig gestützt durch Beschlüsse und Mandate der ›Basis‹ ihrer Komitatsversammlungen, einen harten Konfrontationskurs. Am Ende gab es kaum greifbare Ergebnisse, aber unter Vermittlung der Magnaten immerhin die Vereinbarung, die Kontributionen wie 1791 einzuheben, also zur Rechtsgrundlage der letzten gesetzlichen Vereinbarung zurückzukehren. Das bedeutete die Rückkehr zu den konstanten etwa vier Mio. fl. an Kontribution, aber implizit zugleich deren Leistung in Konventionsmünze. Alle Währungsfragen, darunter auch der neue Banknotenumlauf, blieben formal ungeregelt und damit dem freien Geschehen überlassen. Das Volumen der ungarischen Kontributionsleistung blieb freilich bis 1848 unverändert. Nach dem politisch-psychologischen Schock des Abwertungspatents von 1811 stand seit 1815 die österreichische Währungs- und Schuldensanierung Stadions unter der Maxime der formalen Rechtswahrung, des gleitenden Wandels und der Optionsfreiheit der Staatsgläubiger. Im Bereich der Währungspolitik erlebte das Papiergeld realiter nochmals eine Abwertung, was unter dem Aspekt materieller Ausgewogenheit einer Kriegslastenbewältigung nicht als unbillig bewertet werden kann (jedenfalls nicht als ungerechter als eine  – für den Staat untragbare  – Rehabilitierung durch Aufwertung). Aber auch diese Abwertung wurde durch ihre Übertragung an eine neue Zentralnotenbank mit dem Schein der Rechtswahrung ummantelt und damit zu einem kostenträchtigen Vorgang, dessen Abwicklung auf vier Jahrzehnte gestreckt wurde. Dem zur Seite stand die, nicht zuletzt durch die Intervention auswärtiger Gläubigerbanken kräftig beförderte, substantielle Rehabilitation der österreichischen Staatsschuld. Sowohl die Kosten als auch die zeitliche Erstreckung dieses Unternehmens nahmen noch weit größere Dimensionen an als die Währungssanierung  ; der Entschluss dazu

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Der österreichische ›Staatsbankrott‹ von 1811 – Vorgeschichte und Folgen

war jedoch für die Wiederherstellung des österreichischen Staatskredits auf europäischer Ebene unerlässlich. Die auf diese Weise dem Staatshaushalt langfristig auferlegten Lasten waren keineswegs untragbar, setzten aber voraus, dass die Finanzverwaltung das Haushaltsgleichgewicht wahren konnte. Dies wiederum erforderte sowohl eine Dynamisierung der Staatseinnahmen als auch eine Anpassung der auswärtigen Politik mit ihrer Neigung zu militärischen Interventionen an die vom Finanzrahmen vorgegebenen materiellen Möglichkeiten. Das entscheidende Problem der Habsburgermonarchie in Restaurations- und Vormärzzeit lag freilich darin, dass dies nicht gelang und das Haushaltsdefizit seit den frühen 1820er Jahren zu einem Dauerzustand wurde.100 Dies wiederum lag in der Unfähigkeit zu politischer Modernisierung und Integration begründet, die in einem bemerkenswerten Gegensatz zum Großmachtstatus Österreichs in Europa und zu den Anstrengungen zu seiner Behauptung stand.

26,5

113,1

 69,7

20,0

27,5

371,7

1791

 89,3

23,4

30,9

 5,0

30,0

112,3

 51,3

36,1

23,0

388,8

1792

 86,7

22,7

37,3

 6,4

20,3

 90,8

 44,3

21,1

 4,1

399,9

1793

 85,6

21,9

33,9

 6,8

23,0

115,6

 69,5

18,7

30,1

425,3

1794

 92,7

22,4

35,8

 6,2

28,3

151,3

 85,4

19,6

58,6

452,2 495,8

1795

 67,6

21,6

32,3

 4,3

 9,5

185,9

 94,6

18,8

68,2

1796

 65,6

19,7

29,5

 3,6

12,8

158,2

110,0

21,3

92,6

564,5

1797

 71,0

20,7

30,9

10,7

 8,7

131,6

 92,7

18,0

60,6

594,9

1798

 73,2

21,2

33,0

8,5

10,5

133,2

 81,9

28,9

60,1

628,8

1799

 80,3

21,5

33,1

12,2

13,5

154,3

 96,8

33,1

74,0

633,3

1800

 85,9

25,7

33,4

18,8

 8,0

166,8

111,1

32,5

80,9

658,1

1801

 95,5

25,8

34,7

30,0

 5,7

150,4

 94,4

29,0

54,9

679,4

1802

 86,2

30,0

37,8

11,6

 6,7

118,0

 55,4

36,4

31,7

680,2 682,3

1803

111,4

30,6

36,2

18,4

16,2

115,2

 47,0

41,4

13,8

1804

107,6

35,7

40,0

14,8

17,4

114,1

 46,1

39,0

 6,5

684,5

1805

111,8

32,1

42,6

14,1

23,1

145,9

 87,4

31,8

34,1

685,9

100 Brandt, op. cit., Bd. 1, S. 122–129.

davon neu CM

 5,2

Schuld insges. nomin.

davon ao. Einn.

31,2

Defizit

davon aus Vermögen

22,8

davon Schulddienst

davon indir. Steuern

 85,6

davon Militär

davon direkte Steuern

1790

Ausgaben

Einnahmen

Tabelle 1  : Die Habsburgermonarchie während der Revolutionskriege 1. Angaben zum Staatshaushalt (in Mio. fl.)

Jahr

434

Defizit

12,1

162,6

 94,3

33,7

75,9

698,6

12,7

34,8

206,5

105,4

55,9

66,5

708,7

1808

161,9

59,4

57,1

15,3

30,0

190,1

100,8

57,1

28,2

701,9

1809

 94,7

35,3

40,8

 7,0

11,6

262,0

197,6

27,5

167,3

701,4

1810

135,6

30,2

51,9

 6,4

47,2

351,1

223,4

76,1

215,5

727,2

1811

 70,8

18,5

21,9

 1,6

28,8

117,7

 28,8

37,9

47,0

806,7

1812

 86,7

34,1

30,8

 5,1

16,8

95,7

 49,3

20,3

 9,0

811,6

1813

101,5

31,0

42,9

 2,2

25,4

111,2

 62,9

20,7

 9,7

806,0

1814

 76,3

20,9

30,5

 1,7

23,1

112,2

 81,9

 8,1

35,9

809,2

1815

 96,2

27,2

38,5

 2,6

28,0

116,6

 72,1

 7,8

20,4

825,3

 17,6

1816

125,1

32,6

41,3

 4,2

47,0

131,5

 61,5

22,3

6,4

853,1

 72,5 187,4

|

davon neu CM

davon Schulddienst

 9,1

47,0

Schuld insges. nomin.

Ausgaben

38,1

45,5

davon Militär

davon ao. Einn.

27,4

140,0

davon aus Vermögen

 86,7

1807

davon indir. Steuern

davon direkte Steuern

1806

Jahr

Einnahmen

Der österreichische ›Staatsbankrott‹ von 1811 – Vorgeschichte und Folgen 

1817

125,2

43,9

45,2

 4,8

31,2

113,3

 52,8

12,4

11,9

891,1

1818

127,0

52,9

47,0

 3,8

23,2

128,0

 57,7

27,1

1,0

946,4

344,4

1819

123,6

53,4

47,5

 4,0

18,6

127,3

 46,6

34,0

3,8

967,0

379,0

1820

120,6

50,1

51,1

 3,0

16,3

159,5

 56,1

50,9

39,0

987,6

388,2

Quelle  : Carl Czoernig, Statistisches Handbüchlein für die Österreichische Monarchie, Wien 1861, S. 122 ff., 132 f., nach den amtlichen Zentralrechnungsabschlüssen.

Czoernig berücksichtigt demgemäß den Zentralhaushalt für den jeweiligen Umfang des Staates und behandelt – entsprechend der formalen Gesetzeslage – Conventionsmünze (CM), Bancozettel und Einlösungs-/Antizipationsscheine als gleichwertig. Auf diese Weise wird das tatsächliche Agio des Papiergeldes nicht beachtet  ; die inflationäre Aufblähung in Einnahmen, Ausgaben und Defizit wird auf diese Weise umso plastischer deutlich. (Für die Zeit ab 1814, als der Haushalt für einige Jahre in zwei Währungen  – CM und WW  – geführt wurde, sind die WW-Beträge jedoch nach laufenden Durchschnittskursen in die CM-Ziffer integriert.

435

436

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Der österreichische ›Staatsbankrott‹ von 1811 – Vorgeschichte und Folgen

2. Angaben zum Papiergeldumlauf  : Bancozettel (BZ), ab 1812 Einlösungs- u. Antizipationsscheine (= Wiener Währung, WW) in Mio. fl)

Jahr 1793

Jahresanfang BZ WW

Zuwachs BZ

Summe BZ

Einzug BZ

Kurs Wien Durchschn. BZ WW

Kurs Wien min./max. BZ WW

 27

1794

 27

1795

 32

1796

 35

100

1797

 47

101

1798

 74

1799

 92

148

 240

99

108

103/113

1800

141

165

 306

105

115

113/118

102

1801

201

347

 548

286

116

114/117

1802

262

195

 457

120

122

118/128

1803

337

145

 482

143

131

127/133

1804

339

85

 424

86

134

131/135

1805

338

136

 473

96

136

129/149

1806

377

247

 625

175

165

148/185

1807

450

343

 793

299

202

191/208

1808

493

646

1140

621

223

204/242

1809

519

845

1363

633

297

221/405

1810

730

706

1436

376

490

331/961

1811

1061

----

----

(1061)

(500)

819/882

1811

229

167/286

211

202

137/260

1813

211

159

138/184

1814

296

228

185/262

1815

458

351

281/430

1816

610

328

275/372

1817

639

333

289/383

1818

529

256

224/300

1819

499

(250)

1820

499

(250)

1812

Nach Franz v. Mensi, Art. Geld – C Papiergeld, in  : Österreichisches Staatswörterbuch, 2.A. Wien 1906, Bd. 2, S. 283  ; Adolf Beer, Die Finanzen Österreichs im 19. Jahrhundert, Prag 1877, Ndr. Wien 1973, S. 394 ff  ; Albrecht Tebeldi, Die Geldangelegenheiten Österreichs, Leipzig 1847, S. 51, 60, 80.

Der österreichische ›Staatsbankrott‹ von 1811 – Vorgeschichte und Folgen 

Tabelle 2  : Reduktionsskala 1799

1800

1801

1802

1803

1804

1805

1806

1807

Jan.

103

113

116

119

130

134

Feb.

103

113

115

119

129

135

1808

133

147

190

204

132

148

203

209

1809

1810

1811

221

469

500

234

398

500 500

März

105

114

114

118

127

134

129

149

206

210

248

331

April

108

114

115

118

129

135

129

152

208

212

252

347

Mai

107

116

115

118

130

135

129

160

206

216

276

375

Juni

107

115

115

119

131

134

130

163

203

238

333

395

Juli

106

115

116

120

132

135

132

184

197

242

315

405

Aug.

108

115

116

122

133

135

135

160

194

236

299

448

Sept.

110

115

116

125

132

134

136

170

201

233

310

490

Okt.

111

115

117

126

131

132

144

176

203

231

314

500

Nov.

113

115

117

128

132

131

145

175

202

220

346

500

Dez.

113

118

117

128

133

132

149

184

203

222

405

500

Nach Paul Stiassny, Der österreichische Staatsbankerott von 1811, Wien 1912, S. 84.

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437

Verwaltung vor Verfassung Zum historischen Ort des ›Neoabsolutismus‹ in der Geschichte ­Österreichs. Einleitung zu einem Tagungsband

Die Epoche des österreichischen »Neoabsolutismus«, also die historische Phase von 1852 bis 1859/60, ist von der Forschung in den letzten Jahrzehnten intensiver als früher bearbeitet worden. In ihr besteht (in Relativierung der Verdikte einer älteren Geschichtsschreibung) Einigkeit darüber, dass es sich dabei insgesamt nicht um einen schlichten Rückfall in den monarchischen Absolutismus vorrevolutionärer Prägung handelt, sondern dass – nach der Niederschlagung der Revolution, der Umwandlung des Reiches in einen zentralistischen Gesamtstaat und nach Preisgabe der ›virtuellen‹ Verfassungspolitik zwischen 1849 und 1851 – in der neoabsolutistischen Folgezeit die begonnenen Projekte administrativer und gesellschaftlicher Modernisierung – mit gewissen Abstrichen – fortgeführt wurden. Weniger geklärt ist das Problem, wie weit das monarchisch-bürokratische Herrschaftssystem seit 1852 bereit bzw. in der Lage war, nach der Auflösung des Kremsierer Reichstages und später der Aufhebung der Märzverfassung neue Elemente der gesellschaftlichen Partizipation zuzulassen, ohne die zentrifugalen Kräfte, die mit der Revolution aufgebrochen waren, erneut virulent werden zu lassen und die neu errungene Kongruenz von Staat und Reich wieder aufs Spiel zu setzen. Im Zeichen solcher Revision ist der Begriff »Neoabsolutismus« zuletzt in die Kritik geraten, und zwar sowohl als Begriff wie auch als Element einer Epochen­ gliederung. So stellte Helmut Rumpler in einem Tagungsband-Beitrag von 20011 die Epochenqualität der neoabsolutistischen Phase und die Eignung des Begriffs »Neoabsolutismus« für diesen Abschnitt grundsätzlich infrage. Er möchte die Zeit von März 1848 bis zur Sistierung und zum Ausgleich 1865/67 als zusammengehörige Epoche der Reform und Modernisierung gewertet und bezeichnet wissen. In diesem Rahmen sieht er in der Kennzeichnung der 50er Jahre (1852– 59/60) als »Neoabsolutismus« eine unangemessene begriffliche »Engführung«, weil sie lediglich auf die verfassungspolitische Ebene abstellt und überdies als

1 Helmut Rumpler, Der österreichische Neoabsolutismus als Herrschafts- und Regierungssystem, in  : Dušan Kováč [u. a.] (Hgg.), Die Habsburgermonarchie und die Slowaken 1849–1867, Bratislava 2001, S. 9–20.

Verwaltung vor Verfassung 

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zeitgenössischer liberaler Kampfbegriff auf die kaiserliche Autokratie als ausschließliches Merkmal zielt. Eben diese verfassungsrechtliche Ebene hat der Rechtshistoriker Wilhelm Brauneder im Blick, wenn er in wiederholten Darstellungen2 eine Gliederung der österreichischen Verfassungsgeschichte anbietet, die den Epochencharakter des »Neoabsolutismus« unter ganz anderen Kriterien ebenfalls negiert. Hier erscheint die Phase vom »Silvesterpatent« bis zur Sistierungsperiode als verfassungsgeschichtlich zusammengehörige Epoche der »neoständisch beschränkten Monarchie«. Das Februarpatent, das bekanntlich nicht das Modell einer Repräsentativverfassung erfüllte, wird organisch aus den Vorarbeiten zu Provinzial­ aus­schüssen seit 1852 entwickelt, wobei den verfassungspolitischen Auseinan­ dersetzungen von 1859 bis 1861 der Charakter einer verfassungsrechtlich relevanten Zäsur abgesprochen bzw. dem Herrschaftssystem der 50er Jahre das Attribut bloßer neoabsolutistischer Praxis zugesprochen wird. Erst dem Ausgleich und der Dezemberverfassung von 1867 kommt demnach Epochenqualität zu. Dabei wird unterstellt, dass die Intentionen der Planungs-Beteiligten vor und nach 1859 identisch waren bzw. sich organisch aus derselben konzeptionellen Wurzel entwickelten, und dass der Wortlaut der verfassungsrelevanten Entwürfe und Patente diese Kontinuitätsthese stützt. Das planerische Konzept dafür leitet Brauneder in flankierenden Arbeiten aus einer Rezeption des Gedankengutes der Historischen Schule ab.3 So wie Brauneders Konstruktion aus der vormärzlichen Theorie und Praxis neoständischer Repräsentation verständlich wird, folgt Rumplers Konzept der Gesamtepoche 1848–67 als Reformperiode in meiner Einschätzung dem Paradigma des Vorrangs von ›Verwaltung‹ vor ›Verfassung‹. Mit beiden Positionen sind Grundprobleme der Interpretation mitteleuropäischer Strukturgeschichte des 19. Jahrhunderts angesprochen, an die es zunächst zu erinnern gilt. Dabei ist der folgende Rückverweis nicht darauf angelegt, diese Grundprobleme in einem alle Aspekte berücksichtigenden Panorama zu entfalten (das würde eine Einleitung überfrachten)  ; der Rückblick ist vielmehr perspektivisch auf die in unserem

2 Wilhelm Brauneder, Die Verfassungsentwicklung in Österreich 1848 bis 1918, in  : Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hgg.)  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd.  7,1, Wien 2000, S. 69–237, hier S. 138–169  ; zuletzt ders., Verfassungsänderungen als Systemwechsel  : Österreich 1848–1938, in  : Helmut Neuhaus (Hg.), Verfassungsänderungen, Berlin 2012 (= Der Staat, Beih. 20), S. 195–217, 218–224, hier S. 200 ff. 3 Wilhelm Brauneder  : Leseverein und Rechtskultur  : Der Juridisch-politische Leseverein zu Wien 1840–1990, Wien 1992.

439

440

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Verwaltung vor Verfassung

Thema begründete Verknüpfung von ›Verwaltung‹ und ›Verfassung‹ verengt, womit eine etatistische Verkürzung in Kauf genommen wird. Die Auseinandersetzung um die Bezeichnung »Neoabsolutismus«4 weist zurück auf die sachlichen und semantischen Kontroversen weitaus größeren Formats um den Originalbegriff »Absolutismus« für den Fürstenstaat des 17. und 18. Jahrhunderts. Auch hier waren die theoretischen und politischen Auseinandersetzungen unter den Zeitgenossen bis ins frühe 19.  Jahrhundert parteilich kontaminiert. Eine Genese als Kampfbegriff pflegt den Übergang zu seiner historischen Verwendung in wissenschaftlich wertneutraler Absicht nicht zu behindern. Ein solcher Übergang von engagierter zu phänomenalistischer Anwendung bedarf selbstverständlich begriffsgeschichtlicher Rechenschaftslegung, die zu definitorischen Übereinkünften führen muss.5 Im Zusammenhang damit wächst freilich auch seit längerem die Kritik an der sachlichen Brauchbarkeit der Bezeichnung »Absolutismus« für eine ganze Epoche und im Speziellen für die Erfassung der herrschaftlichen und sozialen Wirklichkeit in den prominent als absolutistisch angesehenen kontinentaleuropäischen Fürstenstaaten.6 Dasselbe gilt für die Spätform des »aufgeklärten Absolutismus« mit seinem vermeintlich impliziten begrifflichen Widerspruch, also einer contradictio in adiecto. Die der Aufklärung verpflichtete Herrschaftsbegründung sowie die reformerischen Intentionen dieser Form des Absolutismus sind jedoch nicht zu bestreiten, eindrucksvoll belegbar etwa am Wirken Josefs II. Die im 18. Jahrhundert eingeleiteten, zweifellos noch sehr unvollkommenen Prozesse der administrativen Integration und gesellschaftlichen Steuerung erreichten im napoleonischen Zeitalter mit seinen Reformleistungen in Deutschland eine qualitativ weiterführende Stufe. Die deutsche Forschung hat diese Entwicklungen traditionell an Preußen sowie in jüngerer Zeit an den Rheinbundstaaten aufgearbeitet. Österreich (ohne Ungarn) war an dieser Reformarbeit 4 Zu Begriff und Bewertung des »Neoabsolutismus« vgl. die umfangreiche und instruktive Analyse bei Georg Christoph Berger Waldenegg, Mit vereinten Kräften  ! Zum Verhältnis von Herrschaftspraxis und Systemkonsolidierung im Neoabsolutismus am Beispiel der Nationalanleihe von 1854, Wien/Köln/Weimar 2002, Einleitung S. 15–53. 5 Ausgebreitete Analysen zu Theorien und Begrifflichkeit bei Horst Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz, 2 Bde., Köln/Weimar/Wien 1991. 6 Zu Problemen und Kontroversen vgl. den ausgezeichneten Forschungsbericht von Dagmar Freist, Absolutismus, Darmstadt (WBG) 2008. Zum Josefinismus Leslie Bodi, Zur Problematik des Reformabsolutismus in der Habsburgermonarchie – eine Literaturübersicht (1975 – 1990), in  : Leslie Bodi, Literatur, Politik, Identität – Literature, Politics, Cultural Identity, (= Österreichische und internationalen Literaturprozesse 18), St. Ingbert 2002, S. 298–320.

Verwaltung vor Verfassung 

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zunächst weiterhin beteiligt, etwa durch Kodifikationsleistungen. Diese Prozesse werden heute gern unter dem Leitbegriff »Modernisierung« erfasst, wobei sich für unseren Zusammenhang eher das epochenspezifisch eingeengte Modell der partiellen, zugespitzt der »defensiven« Modernisierung anbietet  :7 Beseitigung standesbezogener Herrschafts- und Eigentumsrechte, Homogenisierung des Untertanenverbandes, Allgemeinheit der Verwaltung und Rechtsprechung, privatrechtlich gesicherte Persönlichkeits- und Eigentumsrechte im Sinne von Mobilisierung und Selbstbestimmung etc. – all dies jedoch zunächst unter prinzipieller Ausklammerung von Mitbestimmungsrechten der Regierten. Hierfür bildete sich die Leitvorstellung einer Trennung von ›Staat‹ und ›Gesellschaft‹ aus. Trotz aller Einschränkungen (etwa auch durch die Stände-Forschung) gibt es gute Gründe, an der Validität des Begriffs »Absolutismus« festzuhalten. Insbesondere kann – vom 19. Jahrhundert her gesehen – in prozessgeschichtlicher Perspektive kein Zweifel darüber bestehen, dass die Ausbildung des modernen Institutionenstaates mit seinen Integrations- und Rationalisierungsleistungen in Mitteleuropa ein Effekt des monarchisch-bürokratischen Absolutismus gewesen ist. Sein hervorstechendes Merkmal war die Ausbildung einer ausdifferenzierten und hierarchisierten Verwaltung. Deren Innovationspotential ist keineswegs über jeden Zweifel erhaben, und gerade die nachfolgende Restaurations- und Vormärzzeit kennt Züge einer bürokratischen Stagnation. Es soll also kein verklärendes Hohelied der Bürokratie angestimmt werden, wenn man in ›realpolitischer‹ Perspektive festhält, dass die Bürokratie in der Innenpolitik der monarchischen Staaten in dieser Phase eine institutionell derartig abgesicherte Position errungen hat, dass ohne sie und gegen sie nicht regiert werden konnte. Die Preußen- und Rheinbund-Forschung hat für diesen Herrschaftstypus die Begriffe »Bürokratischer Absolutismus« oder prägnanter noch »Staatsabsolutismus« entwickelt.8 Dieser Begriff des Staatsabsolutismus sollte bei der Einschätzung des Österreichischen »Neoabsolutismus« beachtet werden. 7 In den Händen der Historiker ist dieser, der sozialwissenschaftlichen – system-funktional stringenten, aber empirisch abgehobenen – »Modernisierungstheorie« entnommene Begriff zu einem Topos geworden, der die einzelnen dort entwickelten Kriterien eher selektiv oder additiv aufnimmt, um den Ausgang aus traditionalen Sozial und Herrschaftsverhältnissen seit dem späten 18. Jahrhundert und über das 19. Jahrhundert hinweg zu beschreiben. Zur Rezeption immer noch Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, München 1975. Vgl. das instruktive kritische Panorama bei Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran  ? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in  : Thomas Mergel, Thomas Welskopp (Hgg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, München 1997, S. 203–232  ; dazu der Kommentar von H.-U. Wehler, a.a.O. S. 351–366, speziell S. 359 f., 365 f. 8 So prominent Walter Demel in seinen Arbeiten zu Bayern. Vgl. jetzt dessen Analyse mit For-

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Verwaltung vor Verfassung

Der Monarch war in diesem System ungeachtet der fortlebenden Tradition des »Gottesgnadentums« faktisch zum Staatsorgan geworden. Dies darf jedoch nicht zu der Vorstellung verleiten, als sei damit eine innerbürokratische Herrschaftskontrolle seiner Machtbefugnisse verbunden gewesen. Als Träger der Souveränität blieben ihm im Rahmen eben dieser Struktur entscheidende Handlungsspielräume gewahrt. Davon gingen verhaltensregulierende Effekte für alle Ratgeber und Verwaltungsspitzen auch dann aus, wenn der Monarch in konkreten zur Entscheidung anstehenden Sachfragen keine persönliche Initiative zeigte. Autokraten im Wortsinn gehören ohnehin eher zu den Ausnahmen. Die schiere Position des Monarchen als letzte Entscheidungsinstanz sicherte die Orientierung der tatsächlich Handelnden auf seine Person hin. Dieses Strukturmerkmal lässt sich der Metapher des »Königsmechanismus« (Norbert Elias) zuordnen. Auch dies wird für den österreichischen »Neoabsolutismus« zu beachten sein. Mit dem Modernisierungskonzept eng verbunden ist freilich das Postulat gesellschaftlicher Partizipation. Das Prinzip der ständischen Herrschaftskontrolle hat in Europa durchgängig gegolten, bis der sich durchsetzende Absolutismus die Stände entmachtet hatte. Die Folgewirkungen der grundstürzenden Französischen Revolution haben die Frage der Konstituierung legitimer Herrschaft auf naturrechtlicher Grundlage in nicht völlig neuer, aber nunmehr unwiderstehlicher Weise als »Konstitutionalismus« auf die Tagesordnung gesetzt9 und in dieser Form auch den deutschen Staatsabsolutismus erreicht,10 der dann den Sturz Napoleons erfolgreich überlebte. Sie löste in Deutschland eine neuartige Verfassungspolitik aus, die hier nun abermals eine staatliche Veranstaltung ›von oben‹ gewesen ist. Deren staatsrechtlicher Ausdruck ist der Oktroi, und ihre integrationspolitischen und finanzpolitischen Motive sind bekannt. Hierbei wurde die Macht der neuen Repräsentativkörperschaften in massiver Weise eingehegt schungsbericht  : Walter Demel, Vom aufgeklärten Reformstaat zum Staatsabsolutismus, München 2010 (=EDG 23).   9 Für den Ansatz, ›Konstitutionalismus‹ als thematisch breit aufgestellte gesellschaftliche Bewegung aufzufassen, vgl. prominent Pierangelo Schiera, Konstitutionalismus und Vormärz in europäischer Perspektive  : Politische Romantik, Integrationsbedarf und die Rolle des Liberalismus, in  : Martin Kirsch und P. Schiera (Hgg.), Verfassungswandel im europäischen Vergleich, Berlin 2001. 10 Für den Übergang vom Präkonstitutionalismus zum Konstitutionalismus Paul Nolte, Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800–1820, Frankfurt/NY 1990. Für den Rheinbund Michael Hecker, Napoleonischer Konstitutionalismus in Deutschland, Berlin 2005  ; Hartwig Brandt, Rheinbündischer Konstitutionalismus, Frankfurt 2007. Zuletzt der (über Bayern hinaus auch vergleichende) Sammelband Alois Schmid (Hg.), Die bayerische Konstitution von 1808, München 2008 (=ZBLG Beih. 35). 2

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durch den taktischen Einbau altständischer Elemente, vor allem aber mit der Fortgeltung konstitutioneller wie extrakonstitutioneller monarchischer Prärogativen, für die der Begriff »Monarchisches Prinzip« steht.11 Unterhalb dieser Ebene der Macht wurden jedoch im Rahmen der »hinkenden Gewaltenteilung« ansehnliche gesellschaftliche Teilhabe- und Kontrollrechte gewährt. Mit der Konzedierung von Budgetrechten und ihrer Blockadefunktion geriet freilich ein ›dysfunktionales‹ Element in das monarchisch-bürokratische Machtmonopol, das erst nach der Jahrhundertmitte nach manchen Kämpfen zu Ungunsten des Parlamentarismus ›entschärft‹ wurde. Preußen hatte sich wegen dieser Dysfunktionalität der hinkenden Gewaltenteilung vorerst dem Schritt zur Konstitutionellen Monarchie verweigert12 und ist diesem Typus erst 1849 gefolgt. Seine ursprüngliche Verweigerung ist nach der bekannten These Kosellecks13 als Deckelung der Machtansprüche ungebrochener altständisch-feudaler Kräfte und der scharfen Spannungen zwischen Alt- und Rheinpreußen gewertet worden, womit  – in der Wirkung eher fraglich – das Reformpotential der Bürokratie gesichert werden sollte. Stattdessen wurden neoständisch zusammengesetzte Provinzialstände mit lediglich konsultativen und Selbstverwaltungsbefugnissen gewährt – ein Vorgang, der auch mit dem späteren Blick auf Österreich sogleich zu behandeln ist. Die Revolution von 1848/49 hat vergeblich versucht, dieses Herrschafts- und Verfassungsgefüge aufzubrechen  ; zugleich hat sie mit den Nationalbewegungen des »Völkerfrühlings« ein neues Moment in die Arena eingeführt  ; auch die neue soziale Frage meldete sich an.14 Der Wille zur Machtbehauptung, aber auch die 11 Unter den allg. Verfassungsgeschichten zuletzt v. a.: Handbuch der Europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bonn 2006  ; Bd. 1 (Hg. Peter Brandt)  : Um 1800 (2006)  ; Bd. 2 (Hg. Werner Daum)  : 1815–1847 (2012). Ferner Martin Kirsch, Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1999. Jetzt auch Arthur Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2009. 12 Zuletzt sehr detailliert Christian Schmitz, Die Vorschläge und Entwürfe zur Realisierung des preußischen Verfassungsversprechens 1806–1819. Eine rechtliche Bilanz zum Frühkonstitutionalismus der Stein-Hardenberg’schen Reformzeit, Göttingen 2010. 13 Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, München1989 (=Ndr.d.2.A.), Kap. II/4, 284–332. 14 Zugriff auf die Fülle der Jubiläums-Literatur um 1998 über die Forschungsübersichten von Dieter Langewiesche, in  : ZfG 47 (1999), S. 615–622  ; Manfred Gailus, in  : ZfG, a.a.O. 623–636  ; Dieter Hein, in  : NPL 44 (1999), S. 276–310  ; Rüdiger Hachtmann, in  : AfS 39 (1999), S. 447–493 und AfS 40 (2000), S. 337–401.

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Verwaltung vor Verfassung

neu aufgebrochenen nationalen und sozialen Konflikte haben es den alten Gewalten ermöglicht, die Bewegungen – am Ende militärisch – niederzuschlagen und den Rahmen der konstitutionellen Monarchie deutschen Typs wieder herzustellen.15 Zugleich wurden die Modernisierungsschübe der Reformlandtage und Konstituanten aufgegriffen und fortgeführt, mit gewissen Revisionen in der ›Reaktionszeit‹ der 50er Jahre.16 Wenn Preußen nunmehr – mit Verfassungsoktroi nach Auflösung der Konsti­ tuante  – dieses Schema übernahm, so mit besonders sorgfältiger Absicherung der monarchischen Prärogative.17 Gleichwohl hat der wiedererstarkte politische Liberalismus in den 60er Jahren den Kampf um das System auf eingeschränkter sozio-politischer Basis nochmals vergeblich aufgenommen, um dann auf die machtpolitischen Rahmenbedingungen einzuschwenken und seine Teilhabe im »Vereinbarungsparlamentarismus« zu realisieren.18 (Das Wirtschaftsbürgertum hatte sich schon stets leichter arrangiert.) Diese epochale ›Erfolgsgeschichte‹ der deutschen konstitutionellen Monarchie hat Arthur Schlegelmilch19 zuletzt veranlasst, die in sich konsistente Eigenständigkeit dieses Typus – gegenüber den bekannten verfassungshistorischen Kontroversen um seine Validität – zu betonen. Diesem Urteil kann man folgen, freilich nur bei Ausklammerung des Aspekts der Partizipation im Modernisierungs-Schema und unter Zugrundelegung eines gwm. Rankeschen Begriffs von ›Epoche‹, also unter Nichtbeachtung der antagonistisch weitertreibenden Faktoren und damit – selbstverständlich – auch unter Ausklammerung demokratischparlamentarischer Wünschbarkeiten. 15 Die Verfassungsfragen sind das Thema der Beiträge in  : Martin Kirsch und Pierangelo Schiera (Hgg.), Verfassungswandel um 1848 im europäischen Vergleich, Berlin 2001. 16 Der rhythmische Gleichlauf der Abfolge  : nachrevolutionäre Reform – Reaktion (ab 1851) – neue Ära (ab 1858/89) in allen Staaten des DB betont bei Harm-Hinrich Brandt, Deutsche Geschichte 1850–1870. Entscheidung über die Nation, Stuttgart 1999, Kap. II. Für Preußen und Österreich  : Arthur Schlegelmilch, Das Projekt der konservativ-liberalen Modernisierung und die Einführung konstitutioneller Systeme in Preußen und Österreich 1848/49, in  : Kirsch/Schiera Verfassungswandel [Anm. 15], S. 155–177. 17 Günter Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49–1857/58. Preußischer Konstitutionalismus – Parlament und Regierung in der Reaktionszeit, Düsseldorf 1982. 18 Begriff nach  : Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1870, Düsseldorf 1985. 19 Arthur Schlegelmilch  : Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2009. Ein kritisches Resümee der Huber-Böckenförde-Kontroverse auch schon bei Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp in Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999, Abschn. I.

Verwaltung vor Verfassung 

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Weniger überzeugend erscheint der Versuch Schlegelmilchs, diesen Erfolgs­ aspekt auch auf die Habsburgermonarchie auszudehnen. Damit kommen deren besonders gelagerten Probleme in den Blick. Die in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmenden Sprengkräfte des Nationalitätenhaders, die Blockade jeder weiteren, föderativen Verfassungsentwicklung durch den Ausgleich von 1867, Parlamentsversagen und Notverordnungsregime, Landtagssuspension  : All das gibt wenig Anlass dazu, die konstitutionelle Monarchie deutschen Typs für Österreich/Cisleithanien (unbeschadet mancher Phasen erfolgreicher Gesetzgebung) im Ganzen als Erfolgsmodell auszugeben. Komplementär dazu wird man in den ungarischen Parlamentarismus aus anderen, aber ebenfalls aus der Nationalitätenproblematik erwachsenden Gründen gleichfalls erhebliche Zweifel setzen. Bei einer vergleichenden Betrachtung der Habsburgermonarchie dürfte es geboten sein, die Ebene der administrativen Integration und die Ebene der Partizipation, also die Verfassungsfrage, getrennt zu behandeln. Hinsichtlich des ersten Komplexes gibt es gute Gründe, die Entwicklung der westlichen Reichshälfte seit den theresianisch-josephinischen Reformen in den zuvor skizzierten mitteleuropäischen Gesamtzusammenhang zu stellen  : Das betrifft vor allem den Vorrang der monarchischen Bürokratie für die staatliche Integration und die bürokratische Trägerschaft der Reformleistungen des aufgeklärten Absolutismus. Das josefinische Reformpotential der Bürokratie wirkte in der franziszeischen Zeit weiter, wurde aber vielfältig auch gebrochen.20 Vor allem blieben die agrar­ sozialen Herrschaftsverhältnisse überall unangetastet. Der praktische Ausfall des Monarchen seit 1835 gab Raum für die Etablierung einer in sich uneinigen oligarchischen Staatsführung  ; die Bürokratie war in hohem Maße von adeligen Interessen durchsetzt. Subkutan lebte die josefinische Reformtradition weiter, etwa in der eher ›bürgerlich‹ besetzten Hofkammer, die ein Hort ökonomischer Modernisierungsimpulse wurde. In entscheidenden (v. a. agrarsozialen) Belangen aber müssen die mit der 48er Revolution ausgelösten Reformen als nachholende Modernisierung gekennzeichnet werden. Schwieriger gestaltet sich die Frage, ob über den Gleichlauf der etatistisch-­ bürokratischen Integration und Reform hinaus das Partizipations- und Integra­ 20 Hierzu v. a. Waltraud Heindl, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780– 1848, Wien/Köln/Graz 1991. Zum Beamtenliberalismus (›Josefinismus‹) auch die Bemerkungen bei Klaus Koch, Frühliberalismus in Österreich bis zum Vorabend der Revolution 1848  ; und einleitend bei Harm-Hinrich Brandt, Liberalismus in Österreich zwischen Revolution und Großer Depression  ; beide in  : Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19.  Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 64–70, 136–160.

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tionsmodell des Konstitutionalismus als Modernisierungsparadigma auf die Habsburgermonarchie übertragbar war. An die ungarische Frage wurde seit dem Scheitern Josefs II. nicht mehr gerührt.21 Für Cisleithanien hatte Wien, wie auch Berlin, nach 1815 den Schritt zu einer zentralen Vertretungskörperschaft nicht getan.22 Anders als Berlin hatte man in Wien aber auch vermieden, die frühneuzeitlichen Landstände durch die moderne Form der neoständischen Provinziallandtage zu substituieren. Der altständische Überhang blieb bestehen und konnte als Erfüllung des Gebotes von Artikel 13 der Bundesakte deklariert werden. Diese Stände waren in ihren Kompetenzen längst bürokratisch eingehegt (was sie im Vormärz nicht daran hinderte, unerwünschte politische Aktivitäten zu entwickeln).23 Ungeachtet dieser monarchisch-bürokratischen Überlagerungen war jedoch im engeren verfassungsrechtlichen Sinn kein Schritt über die »Monarchische Union von Ständestaaten« (Otto Brunner) hinaus getan worden. Damit fehlte es auch an jeder frühzeitigen ›Einübung‹ in Formen repräsentativer Mitwirkung. An die Verfassungsfrage nicht zu rühren war im Vormärz gwm. Staatsraison.24 Der »Völkerfrühling« der 48er Revolution25 entfaltete in der Habsburgermon­ archie rasch seine die Reichseinheit gefährdenden Kräfte, denen sehr früh mit militärischen Mitteln begegnet wurde. Zugleich suchte die Zivilregierung den 21 Metternichs Reformwillen betont bei Wolfram Siemann, Metternich. Staatsmann zwischen Reform und Moderne, München 2010. 22 Über die Besonderheiten Österreichs im deutschen Vergleich Wilhelm Brauneder, Die Verfassungsentwicklung Österreichs und Bayerns im Vormärz  : ein Vergleich, in  : Schmid, Alois (Hg.), Die bayerische Konstitution von 1808, S. 129–145  ; hier auch nochmals die vergebliche frühe Anregung Metternichs zu einem ständischen Zentralausschuss. 23 Hanns Schlitter, Aus Österreichs Vormärz, Bd. 1–4, Zürich/Leipzig/Wien 1920  ; Viktor Bibl  : Die Niederösterreichischen Stände im Vormärz, Wien 1911. 24 Zu den vielfältigen Facetten der »Ära Metternich« vgl. das gleichnamige Kapitel bei Helmut Rumpler  : Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, (=Österreichische Geschichte 1804–1914, hg.v. Wolfram Herwig), Wien 1997, hier Abschn. III  : Die Büchse der Pandora, S. 154–214. 25 Aus der Fülle der jüngsten Lit.: Emil Niederhauser, 1848. Sturm im Habsburgerreich, Wien 1990  ; Ernst Bruckmüller u. Wolfgang Häusler (Hgg.), 1848  – Revolution in Österreich, Wien 1999  ; Jiří Kořalka  : Revolutionen in der Habsburgermonarchie, in  : Dieter Dove, H.-G. Haupt, D. Langewiesche (Hgg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998  ; Rudolf Jaworski, R. Luft (Hgg.)  : 1848/49 – Revolution in Ostmitteleuropa, München 1996  ; Walter Lukan, Die nationalpolitischen Positionen der Kroaten, Serben und Slowenen in der Verfassungssdikussion 1848/49 im Kaisertum Österreich, in  : Kirsch/Schiera, Verfassungswandel [Anm. 15], S. 389–405  ; Brigitte Mazohl-Wallnig  : Verfassungsfrage und Nationalitätenproblem – das Beispiel Lombardo-Venetien, in  : ebda., S. 365–387.

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konstitutionellen Forderungen mit dem Oktroi einer konstitutionell-monarchischen Verfassung und sodann mit der Berufung einer Konstituante für Cisleithanien nachzukommen. Diese brachte dann den Kremsierer Verfassungsentwurf zustande, der nach gewaltsamer Auflösung des Reichstages im März 1849 – in deutlicher Parallelität zum preußischen Vorgehen – abermals durch den Oktroi einer konstitutionell-monarchischen Verfassung, diesmal für das Gesamtreich, ersetzt wurde. Aber auch diese Verfassung wurde – im Unterschied zu Preußen – mit dem ›Silversterpatent‹ von 1851 nach einer eher virtuellen Geltung ersatzlos aufgehoben. Der im europäischen Entwicklungshorizont liegende Import des Modells der konstitutionellen Monarchie war in der Habsburgermonarchie mit Problemen verbunden, an denen sie bis zum Ende ihrer Existenz erfolglos laborierte. Sie fokussieren sich im Prinzip der zentralparlamentarischen Repräsentation, die für die darin zusammengeführten politischen Kräfte stets eine ›Integrationslast‹ mit sich führt. (Dies galt prinzipiell, aber weniger gravierend auch für den süddeutschen Frühkonstitutionalismus.) Je heterogener diese Kräfte  – sei es aufgrund ihrer partikularstaatlichen Herkunft, der Differenzen sozialer Schichtung oder ethnischer Differenzen – desto größer ist die ›Last‹. Neben den erstgenannten Faktoren nahm das ethnische Problem in Österreich bekanntlich mehr und mehr die erstrangige Rolle ein. – Vorboten davon waren schon im Frühnationalismus des Vormärz erkennbar  ; die Revolution brachte das Nationalitätenproblem voll zur Geltung. Die mit dem konstitutionellen Parlamentarismus verbundenen integralen Abstimmungsverfahren, also die Mehrheitsentscheidung, sind strukturell mit der Repräsentation sozial krass inhomogener Gruppen nicht vereinbar. Parlamentarische Mehrheit/Minderheit-Situationen können im Prinzip von den Beteiligten nur dann toleriert werden, wenn durch agonales Ringen um Meinungen die Chance zu einer Umkehr der Mehrheitsverhältnisse besteht. Hierzu ist die Homogenität der Versammelten (wenigstens in Absehung auf die politischen Entscheidungszwecke) Voraussetzung. Bei Einführung repräsentativ-parlamentarischer Verfahren in zusammengesetzten Staaten bedarf es daher der sorgfältigen Abstufung der Entscheidungsebenen (etwa durch Föderalisierung)  ; aber auch innerhalb der jeweiligen Parlamente bedarf es eines Minderheitenschutzes für Materien, die nicht abstimmungsfähig sind  : etwa über individuelle Grundrechte hinaus durch institutionelle Gewähr für Gruppenrechte, durch »itio in partes« u. dgl. Namentlich eine ethnische Minderheitensituation ist eine unveränderbare existenzielle Vorgegebenheit, der gegenüber parlamentarischer Dezisionismus zur Tyrannei wird. Die Konsequenzen einer Missachtung der genannten Vorbe-

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dingungen sind dann  : Nichtbeschickung, Obstruktion, Boykott, also Abstinenz oder Lahmlegung des parlamentarischen Verfahrens. Die cisleithanische Parlamentsgeschichte nach 1867 bietet für diese Dysfunktionalität auf zentraler wie auf Landesebene reiches Anschauungsmaterial. In anderer Weise, aber aus gleichem Grund offenbart der zeitgleiche ungarische Parlamentarismus das tyrannische Element, das der Fiktion einer homogenen nationalen Basis innewohnt. Solche Dilemmata ließen sich im Vormärz bereits erahnen. Sie provozierten schon damals den Umkehrschluss, dass das Muster der konstitutionellen Monarchie, und hier insbesondere die ihm inhärente zentralparlamentarische Repräsentation, auf die Habsburgermonarchie nicht anwendbar sei. Integrationstheoretisch schien der Monarchie damit der ›Modernisierungspfad‹ zu intensiveren Stufen staatlicher Integration verbaut zu sein  ; es hatte bei dem erreichten Stand administrativ vermittelter monarchischer Integration zu verbleiben  : Verwaltung als Verfassung. Die Figur des ›Monarchischen Prinzips‹ gewann auf diese Weise über ihre Herkunft aus dem deutschen Bundesrecht hinaus eine ganz andere Dimension  : Einzig in der Person des gemeinsamen Monarchen wurde der Gesamtverband staatsrechtlich zusammengehalten  – ein ›Reich‹, das unter Absehung von seiner Dynastie nicht gedacht werden konnte.26 Bei Beachtung der vorstehend skizzierten Differenzierungs- und Einhegungsgebote wäre die Doktrin von der Unanwendbarkeit konstitutioneller Mitentscheidungsprinzipien auf die Habsburgermonarchie nicht zwingend gewesen. Hat die Revolution von 1848 solche Lösungen hervorgebracht  ?27 Der schlichte Import des Konstitutionalismus durch die Pillersdorff-Verfassung war zweifellos unzureichend. Die ungarische Parlamentspraxis der Aprilverfassung hat die ungarländischen Nationalitäten missachtet und nur, als Kossuth mit dem Rücken zur Wand stand, einige kosmetische Konzessionen bewirkt.28 Eines weit besseren historischen Rufes erfreut sich der Kremsierer Verfassungsentwurf, den die Repräsentanten der ›Völker‹ Cisleithaniens direkt mit einander ausgehandelt 26 Hierzu Harm-Hinrich Brandt  : Parlamentarismus als staatliches Integrationsproblem – Die Habsburgermonarchie, in  : Adolf M. Birke u. Kurt Kluxen (Hgg.), Deutscher und Britischer Parlamentarismus, München u. a. 1985, S. 69–105. 27 Peter Burian  : Die Nationalitäten in »Ciksleithanien« und das Wahlrecht der Märzrevolution 1848/49. Zur Problematik des Parlamentarismus im alten Österreich, Graz/Köln 1962. 28 Hinweise bei András Gergely, Britischer Parlamentarismus oder Grundgesetz aus Belgien  ? Ungarns Aprilgesetze aus dem Jahre 1848, in Kirsch/Schira, Verfassungswandel [Anm. 15], S.305– 312  ; Karlheinz Mack (Hg.), Revolutionen in Ostmitteleuropa 1789–1989. Schwerpunkt Ungarn, München /Wien 1995  ; darin  : Wolfgang Häusler, Nach Széchenyi. Die Krise der ungarischen Revolution von 1848 und unsere Zeit, a.a.O. S. 59–69, 66 ff.; Harm-Hinrich Brandt, Ungarn im europäischen Kontext  : Reform - Revolution - Rebellion. Ein Korreferat, a.a.O. S. 44–52.

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haben, und der kompensatorisch zu den anationalen Einrichtungen auf Reichsund Landesebene für die darunter liegenden Gebietskörperschaften ethnische Kriterien der Gliederung und Selbstverwaltung vorsah  : nach Inhalt und mehr noch wegen des konsensuellen Verfahrens ein zu Hoffnungen berechtigender Akt, der durch das Regierungshandeln zerstört wurde. Unter dem Motto der »versäumten Gelegenheiten« durchzieht dieses Geschehen seither die Historiographie. Demgegenüber bestehen freilich auch erhebliche historiographische Zweifel daran, dass es einen hinreichenden Verständigungswillen überhaupt gegeben habe, dann v. a. daran, dass die formulierten Lösungen funktioniert hätten.29 Zudem bestand die Einbeziehung Ungarns nur in einer auffordernden Einladung. Die kontrafaktischen Erwägungen bleiben selbstverständlich unentscheidbar  ; sie wurden durch das faktische Handeln von Regierung und Armee überholt. In allen bundeszugehörigen deutschen Staaten wurde die Revolution durch militärische Gewalt niedergeschlagen, der von der Revolution erzeugte Reform- und Partizipationsdruck aber aufgenommen. In Österreich zeitigte die Wahrnehmung der Revolution als elementare Existenzgefährdung des Reichsbestandes freilich von Anfang an eine weit stärkere militärische Akzentuierung der Revolutions-›Deckelung‹ als anderswo. Die zweite Besonderheit liegt darin, dass zwar 1849 wie in Preußen und synchron mit Preußen nach Auflösung der Konstituante erstmals der Weg eines gesamtstaatlichen Verfassungsoktrois in rheinbündischer Manier beschritten wurde, diese Verfassung aber in ihren entscheidenden Bestimmungen ›virtuell‹ blieb und Ende 1851 auch förmlich aufgehoben wurde. Ob diese ›Stadionsche‹ Verfassung mit ihren Selbstverwaltungselementen eine Lösung der föderalen Integrationsprobleme geboten hätte und damit in die Reihe der »versäumten Gelegenheiten« gehört, ist also gleichfalls unentscheidbar. Die Parallelität der Vorgehensweise Preußens und Österreichs an der Wende von 1848/49 im Übergang zur konstitutionellen Monarchie deutschen Typs per Oktroi hat zuletzt Arthur Schlegelmilch30 veranlasst, darin einen paradigmati29 Umfangreiche Lit. Zuletzt kritisch zur Apologie der föderativen Lösung  : Andreas Gottsmann, Der Reichstag von Kremsier und die Regierung Schwarzenberg, Wien 1995, (Lit.). Schlitters Arbeit »Versäumte Gelegenheiten« bezieht sich auf die oktroyierte Märzverfassung  ; als Metapher aber mit Blick auf die österr. Historiographie verallgemeinerbar. 30 Arthur Schlegelmilch  : Das Projekt der konservativ-liberalen Modernisierung und die Einführung konstitutioneller Systeme in Preußen und Österreich 1848/49, in  : Kirsch/Schiera, Verfassungswandel [Anm. 15], S. 155–177, hier S. 164–173. Zum Verständnis dieses Konzepts vgl. auch seine Monographie »Die Alternative…« [Anm. 19] und ferner sein Beitrag  : Preußen-Deutschland und

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schen Vorgang für jene konservativ-liberale Modernisierung zu sehen, die er im Rahmen eines weitgespannten Ansatzes für das 19.  Jahrhundert als ein eigenständiges, dem monarchischen Konstitutionalismus zugehöriges Modell politischen Handelns gewertet wissen will. Richtet man im Sinne unseres Themas (bei Ausklammerung des Längsschnittes und auch der preußischen Situation ab 1849) den Fokus auf Österreich und das Koalitionsministerium Schwarzenbergs, so bestätigt sich diese Bewertung als konstitutionell fundierte konservativ-liberale Reformpolitik durchaus. Nach dem neoabsolutistischen Zwischenspiel, das (bei Anerkennung seiner sozial-ökonomischen Modernisierungsleistungen) schlicht als »Fehlentwicklung« gebrandmarkt wird, stellt für Schlegelmilch die nachfolgende schrittweise Konstitutionalisierung, vollendet in der Dezemberverfassung von 1867, den Anschluss an die Märzverfassung wieder her und bestätigt damit den konservativ-liberalen Entwicklungspfad. Wie es zu dieser zwischenzeitlichen ›Fehlentwicklung‹ kommt, bleibt freilich ebenso im Dunkel wie die Spuren unbeachtet bleiben, welche die absolutistische Dekade in der nachfolgenden Verfassungsentwicklung hinterlassen hat. Nicht so sehr in der Bewertung des absolutistischen Zwischenspiels als vielmehr in seiner Gewichtung liegt dabei für mich das Problem. Unter Kontinuitätsaspekten kann man nämlich ebenso konstatieren, dass sich 1851 die klassische »staatsabsolutistische« Grundkonstellation wieder einstellte  : auf der einen Seite bürokratisch gelenkte Reformpolitik, auf der anderen Seite das Problem, den Regierten Partizipation zu gewähren. Die Reformleistungen der Dekade in Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft sind unbestritten und in der jüngeren Forschung unter dem Signum des Vorrangs von Verwaltung vor Verfassung behandelt worden. Waltraud Heindl hat dafür die Formulierung »Verfassung als Verwaltung« gefunden.31 Die Wahl der Epochenbezeichnung »Neoabsolutismus« zielt dabei auf den Gesamtvorgang ganz in dem oben entwickelten Sinn von »Staatsabsolutismus« und ist nicht auf den autokratischen Herrschaftsanspruch Franz Josephs beschränkt. In der inhaltlichen Beschreibung und Bewertung der Reformen besteht insoweit zu Helmut Rumplers Einschätzungen durchaus kein Unterschied. Österreich-Cisleithanien in der »postliberalen Ära« 1878/79 bis 1914, in  : Otto Büsch, A. Schlegelmilch (Hgg.), Wege europäischen Ordnungswandels. Gesellschaft, Politik und Verfassung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1995, S. 21–70. 31 Waltraud Heindl, Verfassung als Verwaltung  – das neoabsolutistische Experiment, in  : Dušan Kováč [u. a.] (Hg.), Die Habsburgermonarchie und die Slowaken 1849–1867, Bratislava 2001, S.  23–35. Jetzt dies., Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich, Band II  : 1848–1914, Wien 2013  ; darin Kap. IV  : Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment.

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Auch dieser stellt die Reform- und Modernisierungsleistungen der Ära Schwarzenberg-Bach in Verwaltung, Gesellschaft und Wirtschaft nachdrücklich heraus und stellt sie überdies mit den vorangegangenen Leistungen des Revolutionsjahres und der Periode virtueller Verfassung wie auch der nachfolgenden Ära Schmerling in eine zusammenhängende Linie. Wenn er diese Linie aber zu einem epochenübergreifenden Alleinstellungsmerkmal macht, so lässt er nicht nur das Partizipationsproblem in den Hintergrund treten  ; er blendet auch die Repressions- und Konfliktlagen der neoabsolutistischen Phase aus. Die Rede vom »Staatsabsolutismus« In dem von mir skizzierten Sinn darf nicht darüber hinweg täuschen, dass der Neoabsolutismus wesentlich eben auch von der durch Kübeck installierten Autokratie des jungen Herrschers geprägt war, also auch als Absolutismus im klassischen Wortsinn zu sehen ist. Das kaiserliche Selbstverständnis verbietet schon aus sich heraus, die Autokratie als realpolitisch reine Fiktion anzusehen. Selbstverständlich war Franz Joseph der ihm zugedachten Rolle des alle Politikfelder integral beherrschenden Letztentscheiders nicht gewachsen, aber gerade im Fehlen gesicherter Verfahren im Entscheidungsbereich der Staatsspitze liegt das Problem. Vor allem die Sonderstellung des Militärs war ein Systemdefekt ersten Ranges. Die Priorität militärischer Belange im Denken des Kaisers wurzelte in der Rettung des Reiches durch die Armee, in der militärischen Erzwingung der Reichseinheit sowie der von Schwarzenberg diplomatisch herausgespielten (freilich fragilen) Machtstellung der Habsburgermonarchie in Mitteleuropa. Die besondere Anspannung, die sich fortwirkend daraus ergab, lag in der Verknüpfung außen- und innenpolitischer Sicherheitsbedürfnisse. Die militärische und geheimdienstliche Kontrolle des Reiches, insbesondere Ungarns und Italiens erforderte einen erheblichen Aufwand und war bei allen internationalen Konflikten mit zu bedenken. Militärischer Ausnahmezustand und Sondergerichtsbarkeit unterliefen auch für viele Jahre den an sich erfolgreichen Ausbau der Gerichtsbarkeit unter rechtsstaatlichen Kriterien, so dass auch in diesem Sektor die für das neoabsolutistische System charakteristischen Diskrepanzen bestanden. Der fortwährend hohe und in Krisenlagen exorbitante militärische Finanzaufwand, der von ziviler Seite nicht zu kontrollieren war, war es denn auch, der sogar innerhalb der Verwaltungseliten  – um des Reiches willen – am Ende den Wunsch nach wirksamer verwaltungsexterner Budgetkontrolle entstehen ließ.32 32 Zu dieser Einschätzung des Neoabsolutismus  : Harm-Hinrich Brandt, Der Österreichische Neoabsolutismus  : Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde. Göttingen 1978, Bd. 1, S. 246–269  ; Bd. 2, S. 1002–1006, 1024–1029.

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Im Unterschied zum Vormärz blieb im Neoabsolutismus die Partizipationsfrage nicht völlig unbeachtet, was in der nachrevolutionären Situation auch schwerlich denkbar gewesen wäre. Der Konstitutionalismus blieb ausgeschlossen  ; es galt stattdessen Formen zu finden, welche mit der nunmehr das Reich als Gesamtstaat umfassenden monarchischen Herrschaft vereinbar waren und sich dennoch mit den Partizipationsbedürfnissen der ›Völker‹ in ihren politisch relevanten Kräften begegnen konnten. Hier setzen die Darlegungen und Thesen Wilhelm Brauneders an. Ausgangspunkt sind die Vorgaben der Krone im Anschluss an die Silvesterpatente, die die Schaffung »neoständischer«, nach dem Prinzip der »Interessenvertretung« zusammengesetzter Beiräte auf Landes- und Kreisebene vorsahen. Ihnen waren Konsultativrechte und Selbstverwaltungsaufgaben zugedacht. Die Ausarbeitung dieser Statute durchlief einen jahrelangen quälenden Prozess  ; sie blieben bis 1859 unverwirklicht.33 Brauneder leitet das neoständische Konzept dieser Phase österreichischer Verfassungsentwicklung aus der vormärzlichen Rezeption der Historischen Schule her, die an der Mitgliedschaft des nachmaligen Führungspersonals im Wiener Juridisch-Politischen Leseverein, seiner Bibliothek und seinen Debatten festzumachen ist.34 Das ist sehr wohl vorstellbar, auch wenn die konkreten Zeugnisse dazu etwas vage bleiben. Historisches Denken spielte in Restauration und Vormärz gerade in Deutschland bekanntlich eine außerordentlich große Rolle,35 verbunden mit dem Blick auf England in Abgrenzung gegen die Französische Revolution. Man muss nicht die rechtsmetaphysischen Höhen der Historischen Schule in der Begründung ›organischer Entwicklung‹ erklimmen, sondern kann sich an dem griffigeren konservativen Verdikt ahistorischer naturrechtlich begründeter Verfassungskonstruktion und der dagegen gesetzten Alternative orientieren  : Anknüpfung an das historisch Gegebene und dessen Weiterentwicklung nach den jeweili33 Hierzu jetzt  : Georg Seiderer, Oesterreichs Neugestaltung. Verfassungspolitik und Verwaltungsreform im österreichischen Neoabsolutismus unter Alexander Bach 1849–1859, Wien 2015  ; darin Kap. V  : Gemeindeverfassung und adelige Selbstverwaltung, Kap. VI  : Von den Landesverfassungen zu den Landesstatuten. Verfassungspolitik im neoabsolutistischen Staat. 34 Wilhelm Brauneder, Leseverein und Rechtskultur  : der Juridisch-politische Leseverein zu Wien 1840–1990, Wien 1992. 35 Aus der Fülle der Lit. die Beiträge von Schiera und Schlegelmilch in  : Kirsch/Schiera, Verfassungswandel [Anm. 15], mit den dortigen Lit.-Verweisen. Auffällig an der jüngeren ideengeschichtlichen Forschung ist die starke Vernachlässigung des Ideologie-Problems, das sich aus den materiellen Interessenkonstellationen ergibt.

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gen Erfordernissen der Zeit  – nicht Gegenrevolution, sondern das Gegenteil von Revolution. Das deutsche staatsrechtliche Denken war davon bis weit in das liberale Lager ebenso bestimmt wie das Selbstverständnis des reformpolitisch denkenden Beamtentums in seinen gouvernemental -liberalen (in Österreich josefinischen) und gouvernemental-konservativen Schattierungen. Und nicht zuletzt der gutsherrschaftliche Adel, sofern er nicht in der Verteidigung des status quo verharrte, war davon (im Sinne ›defensiver Modernisierung‹) beeinflusst  : prominent die preußischen Hochkonservativen, die später von Friedrich Julius Stahl in dieser Richtung ›erzogen‹ wurden. Aber auch in Österreich finden sich mit Graf Leo Thun und Victor Frh. v. Andrian-Werburg profilierte vormärzliche Vertreter des historischen Denkens. Über den Juridisch-Politischen Leseverein hinaus ist die Rezeption des spezifisch historischen Denkens ebenso greifbar wie die Kontroversen mit den naturrechtlich-liberalen Positionen.36 Exemplarisch sei auf die Auseinandersetzungen um die viel gelesene Kampfschrift »Oesterreich und dessen Zukunft« von Viktor Frh. v. Andrian-Werburg verwiesen.37 Seine Erneuerungs-Vorschläge zielten, unter massiver Bürokratie-Schelte, auf eine Repolitisierung des alten Adels (nach ›englischem Vorbild‹) und eine Revitalisierung der Landstände sowie ihrer Kontroll- und Bewilligungsrechte unter Ausweitung auf bürgerliche und bäuerliche Repräsentanten  ; auch ein vereinigter Ausschuss-Landtag im Zentrum mit Budgetrechten war hier bereits vorgesehen. Von der konstitutionell gerichteten Opposition wurde dies als (reaktionäre) Adelsbewegung wahrgenommen und bekämpft, verbunden mit einer Verteidigung der progressiven josefinschen Traditionen der Bürokratie. Damit kommen die Probleme der neoständischen Vertretungskörperschaften bzw. des neoständischen38 Wahlrechts in den Blick, jenes Komplexes des historischen Denkens, der uns im Sinne unseres Themas vorrangig beschäftigen soll. 36 Madeleine Rietra (Hg.), Jung-Österreich. Dokumente und Materialien zur liberalen österreichischen Opposition 1835–1848, Amsterdam 1980. 37 Madeleine Rietra (Hg.), Wirkungsgeschichte als Kulturgeschichte. Viktor von Andrian-Werburgs Rezeption im Vormärz. Eine Dokumentation. Mit Einleitung, Kommentar und einer Neuausgabe von Österreich und dessen Zukunft (1843), Amsterdam 2001. Dazu jetzt die Tagebuchedition  : Franz Adlgasser (Hg.), Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg. »Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste.« Tagebücher 1839–1858, 3 Bde. Wien u. a. 2011  ; hier Bd. 1, 1839–1847. 38 Die Verwendung des Begriffs »neoständisch« folgt dem grundlegenden Werk von Hartwig Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflussfeld des monarchischen Prinzips, Neuwied/Berlin 1968. Weitergehende Überlegungen bei Harm-Hinrich Brandt, Neoständische Repräsentationstheorie und das frühkonstitutionelle Wahlrecht, in  : Wilhelm Brauneder (Hg.), Wahlen und Wahlrecht, Berlin 2001 (= Der Staat, Beih. 14), S. 133–174.

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Seit der deutschen Restaurationszeit lag diesem Konzept das Modell einer sozialständisch (nicht korporativständisch) gegliederten Gesellschaft und einer entsprechenden Gliederung partikularer Interessen zugrunde. Als Sozialstände in diesem Sinn wurden grosso modo Großgrundbesitz, städtisches Bürgertum und bäuerliche Landbevölkerung angesehen, wobei weitere Feinuntergliederungen möglich waren. Diese »Interessen« galt es zu repräsentieren. Das Näheverhältnis dieses Konzepts zum monarchischen Prinzip liegt auf der Hand  : Die Zusammensetzung der Vertretung folgt dem Prinzip der »repraesentatio singulariter« und nicht dem der »repräsentatio in toto« des modernen Konstitutionalismus  ; die Gesamtrepräsentation liegt idealiter ausschließlich beim Monarchen. In der Restaurationszeit ließ sich in diesem Rahmen der Staatsabsolutismus mit einer nach »Interessen« fraktionierten Partizipation verknüpfen und dabei zugleich den neu erwachten politischen Ansprüchen des alten Ständeadels Genüge tun. Nirgendwo wollten die Regierungen nämlich die frühneuzeitlichen Stände mit ihren Mitherrschaftsansprüchen auf gesellschaftlich veralteter Grundlage wiederbeleben. Das neoständische Modell führte stattdessen die alten und die neu zur Repräsentation befähigten Sozialstände in einer gemeinsamen gewählten Versammlung ohne Kuriengliederung zusammen, benahm damit dem altständischen Adel die Bewegungsfreiheit zu eigenständiger Politik und sicherte ihm zugleich eine hervorragende Stellung in der neuen Körperschaft. Das Mittel dazu war die Verlagerung des Kurienprinzips in die Wahlen, wobei die vorgängige Quotierung der Abgeordnetenmandate nach Wahlkurien die Möglichkeit der Stimmgewichtsdifferenzierung in die Hand der Regierung legte. Im Allgemeinen gewann der (adelige) Großgrundbesitz dabei in der Gewichtung eine nach dem Bevölkerungsmaßstab bevorzugte Stellung. Damit wurde die Integrationslast der Vereinigung in einer Versammlung gemildert. Das Potential dieses Systems zur Stimmgewichtsmanipulation liegt auf der Hand. Unter den Bedingungen des Staatsabsolutismus war dieser Versammlungstypus am ehesten geeignet, die monarchische Souveränität in vollem Umfang zu wahren und die Einräumung von Partizipation nicht in eine substanzielle Beschränkung der monarchisch-bürokratischen Regierungsgewalt ausarten zu lassen  : die Kompetenzen der repraesentatio singulariter waren dabei auf die Konsultative zu reduzieren. Auch in dieser Form behielten die Konsultativkörperschaften ein nicht unbedeutendes politisches Gewicht, da sie in (Mehrheits-/ Minderheits-) Voten und Petitionen qualifizierte Meinungen zur Geltung und Beachtung bringen konnten. Die Dysfunktionalität einer konstitutionellen Blockademacht war damit in jedem Fall vermieden.

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Preußen ist diesen Weg 1823/24 mit der Einführung von Provinzialständen gegangen. Die paradigmatische Bedeutung dieses Vorganges erschließt sich in seiner Entstehungsgeschichte, die von Herbert Obenaus39 detailliert aufgearbeitet worden ist. Sie enthüllt in der Auseinandersetzung mit dem altständischen Feudaladel den Scheincharakter der Anknüpfung an das ›alte Recht‹ und die korporativ-ständische Substanzlosigkeit jeder Erfassung von Sozial›ständen‹ (Großgrundbesitz, städtisches Besitzbürgertum, bäuerlicher Besitz) für die Zwecke der Wahlkurieneinteilung und Stimmgewichtsquotierung. In den folgenden Jahrzehnten haben die Provinzialstände durchaus – immer strikt im Rahmen ihres regionalen Wirkungsbereichs und ihrer Konsultativ- und Selbstverwaltungskompetenzen  – die konservativen Erwartungen erfüllt, im Sinne restaurativer Besitzinteressen politisch integrativ zu wirken und provinzielle Belange zu regeln. Mit dem Instrument der Petitionen und Adressen waren sie auch in der Lage, quasi-konstitutionelle Oppositionspolitik zu treiben und die Bürokratie zu bedrängen. Diese Tendenz, die Provinzialstände als Plattformen für liberale Opposition zu nutzen, nahm im Vormärz zu. Vor allem der Versuch König Friedrich Wilhelms IV. (als Kronprinz wesentlich an der Inaugurierung der Provinzialstände beteiligt), mithilfe dieser Stände die Einlösung des gesamtstaatlichen Verfassungsversprechens von 1815 zu suggerieren, scheiterte. Sowohl die vereinigten Ausschüsse von 1842 als auch der Vereinigte Landtag von 1847 gewährten der Regierung nicht die gewünschte finanzpolitische Unterstützung – Anlass ihrer Einberufung ad hoc –, vielmehr wurde insbesondere der Vereinigte Landtag zur quasi-parlamentarischen Plattform einer Grundsatzopposition des liberalen Bürgertums und seiner konstitutionellen Forderungen. Die Revolution von 1848 ging dann über die Austragung dieser Konflikte hinweg. Nun hat auch der Frühkonstitutionalismus des Dritten Deutschland sich des neoständischen Wahlrechts bedient, auch um die ›Integrationslast‹ des Parlamentarismus zu mildern. Weit überwiegend folgten auch hier die Wahlrechtsbestimmungen nicht dem klassisch-konstitutionellen Modell der Zensuswahl mit Stimmengleichheit oberhalb einer vermögensrechtlich definierten Grenze. Vielmehr wurden auch hier die Stimmgewichte mithilfe eines (in Varianten entwickelten) Wahlkuriensystems und seiner vorab festgelegten Abgeordnetenquoten stark differenziert.40 Die 48er Revolution hat dieses System zugunsten egalitärer 39 Herbert Obenaus  : Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848, Düsseldorf 1984. 40 Peter Michael Ehrle  : Volksvertretungen im Vormärz. Studien zur Zusammensetzung, Wahl und Funktion der deutschen Landtage im Spannungsfeld zwischen monarchischem Prinzip und ständischer Repräsentation, 2 Bde., Frankfurt u. a. 1979.

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Wahlsysteme beseitigt  ; nach deren Scheitern wurden die bisherigen neoständischen Wahlrechte jedoch in den meisten deutschen Staaten restauriert. Dabei übernahm Preußen mit dem Dreiklassenwahlrecht ein neues System besonders krasser Stimmgewichtsdifferenzierung auf plutokratischer Basis, das zuvor für den Bereich der Kommunalwahlen entwickelt worden war. Auch dieses Modell fand später im Gemeindewahlrecht Österreichs Anwendung. In historischer Perspektive frappiert der paradigmatische Charakter der deutschen Prozesse in Restauration und Vormärz für die anschließende Verfassungsgeschichte der Habsburgermonarchie. Sie folgte in ihren Wechsellagen dieser Frontstellung  : Sie begann 1848 mit der Einberufung eines vereinigten Ständeausschusses  ; dies wurde überholt durch die Revolution und ihre Einmündung in konstitutionelle Bewegung mit frühzeitigem Verfassungsoktroi, dann einer Konstituante. Parallel dazu tagten die einzelnen Landstände als Reformlandtage unter Beiziehung bürgerlicher und bäuerlicher Vertreter und bearbeiteten in leichten Varianten die Projekte Grundablösung, Gemeindereform und Landesstatut auf der Grundlage von ›Interessenvertretung‹. Dabei unterwarfen sie sich rasch der konstituionellen Legislativgewalt des Zentrums und nahmen die Rolle von Konsultativ- und Selbstverwaltungskörperschaften an.41 Nach der Zwangsauflösung von Kremsier sah auch die oktroyierte Märzverfassung 1849 für das Gesamtreich eine Volksvertretung im Zentrum und Landtage auf neoständischer Grundlage vor, beide mit Legislativbefugnissen. Das »Silvesterpatent« wiederum beseitigte jegliche Regierungskontrolle und etablierte den Staatsabsolutismus  ; zugleich wurden abermals provinzielle Konsultativ- und Selbstverwaltungskörperschaften bei den Statthaltereien auf neoständischer Basis mit homöopathisch zugemessenen Rechten geplant, freilich bis zur Krise des Systems, die im Sommer 1859 begann, nicht eingeführt. Die jetzt folgenden Auseinandersetzungen endeten vorläufig mit der Februarverfassung von 1861, die  – v. a. mit der Legislativfunktion auf Reichs- und Landesebene – erneut wesentliche Elemente des Konstitutionalismus einführte, die Vertretungskörperschaften jedoch auf neoständischer Basis organisierte. Der dahin führende antagonistische Prozess vollzog sich unter sorgfältiger Einkleidung in den Formen legaler Kontinuität kaiserlicher Willensakte seit 1851. Dies galt am Ende auch für den »Ausgleich« von 1867, der den Gesamtstaat von 1849 zugunsten einer Zweiteilung preisgab und in beiden Teilstaaten das Modell 41 Dazu die Arbeiten von Karl Hugelmann, Die österreichischen Landtage im Jahre 1848, in  : Archiv f. österr. Geschichte 111 (1929), S. 1–495  ; 114 (1938), S. 1–294  ; 115 (1940), S. 1–329. Für die Zeit nach der Revolution Seiderer, 2015 [Anm. 33].

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der konstitutionellen Monarchie komplettierte, dabei deren klassische extrakonstitutionelle Kronprärogativen – Militär und Außenpolitik – in die Sphäre der »gemeinsamen Angelegenheiten« der neuen Doppelmonarchie verschoben. Für die cisleithanische Reichshälfte gilt es dabei zu beachten, dass 1867 der 1861 begründete Beschickungsmodus des Reichsrates erhalten blieb und auch der Übergang zu unmittelbaren Reichsratswahlen 1873 nicht von einer Änderung des neoständischen Systems der Wahlkurien begleitet wurde. Dieser auf die Planungen der 1850er Jahre zurückgehende neoständische ›Überhang‹ zählte zu den dauerhaften Belastungen des österreichischen Parlamentarismus in den Ländern und im Zentrum. Im verfassungsgeschichtlichen Horizont Europas lassen sich die österreichischen Vorgänge von 1860 bis 1867 als nachholende und gwm. ›überfällige‹ Einreihung der Habsburgermonarchie in den säkularen Modernisierungspfad des Konstitutionalismus bewerten. Von dieser Perspektive ist der einleitende Beitrag von Stefan Malfèr42 im Parlamentarismus-Band der Reihe »Die Habsburgermonarchie 1848–1918« getragen, der vom »Siegeszug des Konstitutionalismus« spricht. Der Autor übersieht selbstverständlich nicht die von Boykott und Obstruktion begleitete parlamentarische Praxis  ; er widmet daher den Krisen wie den Diskussionen und vergeblichen Lösungsversuchen für die Systemdefekte, die von der komplexen Verschränkung von Kronlandföderalismus und Multiethnizität bestimmt waren, eine umsichtige Analyse. Noch eindringlicher zeigt Helmut Rumpler in der jenem Band vorangestellten Einleitung die prinzipiellen Grenzen auf, die im Amalgam der antagonistischen Faktoren der parlamentarischen Integration gezogen waren. Komplementär rücken dabei notwendigerweise Krone und Hochbürokratie als die entscheidende Elemente des Staatserhalts erneut in den Fokus  : Verwaltung vor Verfassung demnach eine unausweichliche Konsequenz. Damit gewinnt die Physiognomie des nachrevolutionären Jahrzehnts und hier speziell die Phase des ›Neoabsolutismus‹ an Interesse. Wie weit wurden in ihr strukturbestimmende Grundlagen gelegt  ; wie weit war sie ein transitorisches Phänomen  ? Die Leitfrage ›Verwaltung vor Verfassung‹ kann beide Aspekte einbeziehen. Sie ermöglicht, den Aspekt bürokratischer Modernisierung in der Li42 Stefan Malfèr, Der Konstitutionalismus in der Habsburgermonarchie – Siebzig Jahre Verfassungsdiskussion in »Cisleithanien«, in  : Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7  : Verfassung und Parlamentarismus, Wien 2000, S. 11–67. Dazu die dem Band vorangestellte Einleitung von Helmut Rumpler, a.a.O., S. 1–10. Auch für Schlegelmilch liegt im Gang der Konstitutionalisierung ab 1861 die Bereinigung einer Fehlentwicklung. Vgl. oben Anm. 30 und den zugehörigen Text.

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nie des zentraleuropäischen Entwicklungspfades zu akzentuieren. Fasst man die Geschichte der Habsburgermonarchie von 1849 bis 1867 als epochale Einheit auf, nämlich als den Versuch, im Horizont klassischer europäischer Staatsbildungsvorgänge die Habsburgermonarchie in einen Gesamtstaat umzuformen, so kommt der ›neoabsolutistischen‹ Phase darin eine besondere Schlüsselbedeutung zu.

Der österreichische Reformplan für den Deutschen Bund von 1863 Nach langen Phasen des Vergessens oder der Verachtung ist der Deutsche Bund in den letzten Jahrzehnten zum Gegenstand intensiverer Forschung geworden, die seine Existenz und sein Wirken als offene Chance und nicht ex post aus der Perspektive seines Endes untersucht.1 Hierbei haben sich zwei unterschiedliche Akzente der Fragestellung herausgebildet, je nachdem man nach einer Chance für Mitteleuropa2 im übernationalen Sinn oder nach der Chance einer föderativen deutschen Nation3 fragt. Im Folgenden soll diesen Fragen auf zwei Ebenen nachgegangen werden  : Zum einen geht es um die europäische Funktion des Bundes einschließlich der innerbündischen Machtkonstellationen, zum anderen um die Bundes-Innenpolitik im Sinne einer ausbaufähigen Staatlichkeit. Alle vier Aspekte bzw. Ebenen bündeln sich im österreichischen Reformvorschlag von 1863, weshalb ich ihn als Parabel für das Gesamtproblem ›Deutscher Bund‹ vorstellen und ungeachtet seines Scheiterns die kontrafaktische Frage 1 Letzte knappe Gesamtdarstellung mit Lit. und Bewertungen von Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund. 1815–1866, München 2012. Zur europäischen Funktion Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815–1871, München 32010. Für die nachrevolutionäre Epoche des Bundes  : Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866, Göttingen 2005 (= Schriftenreihe der Hist. Kommss. bei der Bay. Akad. d. Wiss. 71). In dieser Kommission läuft seit den 1990er Jahren das Editionsprojekt  : Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes  : bisher 6 Bände in 3 Abteilungen, 1997–2017  ; zuletzt Jürgen Müller (Bearb.)  : Abtl. 3, Bd. 4  : 1863–1866, Berlin 2017. Dazu auch Eckardt Treichel u. Jürgen Müller, Quellen zur Geschichte […]  : ein Forschungsprojekt der Historischen Kommission, in  : Jahrbuch der Historischen Forschung, Berichtsjahr 2000, Stuttgart 2001, S. 27–36. 2 Hierzu Helmut Rumpler  : Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997 (= Herwig Wolfram (Hg.)  : Österreichische Geschichte 1804–1914). Ferner ders., Föderalismus als Problem der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts (1815–1871), in  : Der Staat 16 (1977), S.215–228  ; Heinrich Lutz u. Helmut Rumpler (Hgg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20.  Jahrhundert, Wien 1982  ; Helmut Rumpler (Hg.)  : Deutscher Bund und deutsche Frage 1815–1866. Europäische Ordnung, deutsche Politik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter der bürgerlich-nationalen Emanzipation, Wien 1990, darin auch Einleitung Rumplers, S. 9–19. 3 Dieter Langewiesche u. Georg Schmidt (Hgg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 1999. Problemaufriss bereits bei  : Dieter Langewiesche  : Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsgegenstand und Forschungsperspektiven, in  : Neue Politische Literatur 40 (1995), S. 190–236. Vgl. auch den Titel von Müller, 2005 [Anm. 1].

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stellen möchte, welche Chancen dieses Projekt bei einvernehmlicher Zustimmung aller Mitgliedsstaaten hätte haben können. Zwei problemorientierte Längsschnitte zur Außen- und Machtpolitik und zur Bundes-Innenpolitik mögen als Einstieg dienen. Die Sicherheitsfunktion des Bundes für Deutschland und Europa Die Wiener Kongress-Akte von 1815 verzahnte den Deutschen Bund als passiven Ordnungsfaktor im Zentrum Europas mit den Gleichgewichts-Interessen der Großmächte, fähig zur Selbstverteidigung, aber unfähig zu jeder nach außen gerichteten Machtpolitik. Die Bundesakte als Teil der Kongressakte vereinigte die souveränen deutschen Einzelstaaten unter dem Prinzip formaler Gleichheit auf der Grundlage des Rechts und mit dem Gebot der Friedenswahrung und der konsensbasierten Solidarität. Größe und Souveränitätsansprüche der Staaten waren aber sehr ungleich ausgeprägt, gipfelnd in der Sonderstellung seiner beiden Großmächte, die sich außerhalb des Bundes volle Handlungsfreiheit vorbehielten.4 Der Bund entwickelte zwar eine elaborierte Kriegsverfassung,5 zu einem Auftreten als Gesamtmacht auf der europäischen Bühne ist er aber vor 1848 nicht herausgefordert worden. Die revolutionären Ereignisse von 1848/49 offenbarten jedoch die spezifischen Schwächen der Großmachtposition Österreichs, die seine Schutzbedürftigkeit im europäischen Horizont erheblich ansteigen ließ und Schwarzenberg zu dem Versuch einer österreichischen Hegemonialpolitik im Bund in Allianz mit den Mittelstaaten veranlasste. In dieser Allianz konnte er 1850 mit russischer Deckung das preußische Projekt eines engeren kleindeutschen Bundesstaates im erweiterten Doppelbund torpedieren. Er scheiterte jedoch mit seinem Plan einer Aufnahme der Gesamtmonarchie in den Bund, die dessen Beistandsverpflichtung auf Ungarn, Galizien und v. a. Italien ausgedehnt hätte.6 4 Zum Wiener Kongress zuletzt Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress, Wien u. a. 2014. Vgl. auch seinen Beitrag  : Föderative Staatlichkeit in der Mitte Europas. Zur Entstehung des Deutschen Bundes, in  : Dietmar Willoweit (Hg  :), Föderalismus in Deutschland. Zu seiner wechselvollen Geschichte vom ostfränkischen Königtum bis zur Bundesrepublik Deutschland, Wien u. a. 1919, S. 215–235. 5 Jürgen Angelow  : Von Wien nach Königgrätz. Die Sicherheitspolitik des Deutschen Bundes im europäischen Gleichgewicht 1815–1866, München 1996. 6 Der bekannte Gang der Ereignisse bis zur Olmützer Punktation und den Dresdner Konferenzen knapp bei Harm-Hinrich Brandt, Deutsche Geschichte 1850–1870. Entscheidung über die Na-

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Der österreichisch-preußische Dualismus, der von Metternich noch eingehegt worden war, bestimmte seit 1849 die deutschlandpolitische Szene. Das geflügelte Wort vom »Kampf um die Vorherrschaft« in Deutschland7 bedarf jedoch einer Differenzierung. Betrachtet man das Verhältnis der deutschen Staaten als Dreiecksverhältnis zwischen Österreich, Preußen und der Trias, so besaß aus Gründen der Geographie nur Preußen die Chance einer Hegemonie über die Trias, nicht aber Österreich. Deshalb bedurfte die Trias zur Wahrung der staatlichen Autonomie der Existenz des Bundes und damit des österreichischen Rückhalts. Die Trias war aber dank interner Rivalitäten zu entschiedenem gemeinsamem Handeln zumeist nicht in der Lage.8 Österreich wiederum bedurfte ebenfalls des Rückhalts am Bund  ; militärisch aber war es dabei in erster Linie auf die Unterstützung durch Preußen angewiesen. Die Trias hatte daher kaum Chancen, die beiden Großmächte auf einvernehmliches Handeln zu verpflichten, wenn Preußen sich dem verweigerte. Von 1850 bis 1866 schwankte Österreich in Krisenlagen daher ständig zwischen einer Separatverständigung mit Preußen und dem Versuch, Preußens Einlenken mit Hilfe der Trias zu erzwingen, was seine Vertrauenswürdigkeit im Lager des Dritten Deutschland nicht beförderte. Am Krimkrieg, Italienischen Krieg und Schleswig-Holstein-Konflikt kann man das studieren. Preußens Tendenz seit 1849, sich machtpolitisch vom Bund zu emanzipieren, fand mit Bismarcks Ernennung 1862 seinen Höhepunkt und führte zur kriegerischen Gründung eines kleindeutschen Machtstaates. Sein hegemonialer Bundesstaat ließ für eine echte Föderation gleichberechtigter Staaten keinen Raum. tion, Stuttgart 1999, S. 53–61. Zur europäischen Perspektive Anselm Doering-Manteuffel, Der Ordnungszwang des Staatensystems  : Zu den Mitteleuropa-Konzepten in der österreichisch-preußischen Rivalität 1849–1851, in  : Adolf M. Birke u. Günther Heydemann (Hgg.), Die Herausforderung des europäischen Staatensystems, Göttingen 1989, S.  119–140. Zur europäischen Perspektive auch Reiner Marcowitz, Der deutsche Dualismus und die europäische Pentarchie  : Die Stellung der Großmächte zur Dresdener Konferenz 1850/51, in  : Flöter, 2002 [Anm.  23], S. 129–158. 7 So der bekannte ältere Titel von Heinrich Friedjung  : Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859 bis 1866, 2 Bde., Stuttgart 1897, 1898  ; hier Bd. 1. 8 Peter Burg, Die Triaspolitik im Deutschen Bund. Das Problem einer partnerschaftlichen Mitwirkung und eigenständigen Entwicklung des Dritten Deutschland, in  : Rumpler (Hg.), 1990 [Anm. 2], S. 136–161  ; Norbert Wehner, Die deutschen Mittelstaaten auf dem Frankfurter Fürstentag 1863, Frankfurt 1993  ; darin Kap. 2  : Das Problem, S. 8–51. Zu Bayern Hubert Glaser, Zwischen Großmächten und Mittelstaaten. Über einige Konstanten der deutschen Politik Bayerns in der Ära von der Pforten, in  : Lutz u. Rumpler (Hgg.), 1982 [Anm. 2], S. 140–188. Vgl. jetzt auch Katharina Weigand, Königlich-bayerische Träume von einem Dritten Deutschland, in  : Willoweit, Föderalismus [Anm. 4], S. 297–311.

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Die Bundesinnenpolitik Die Gründung des Deutschen Bundes stand durchaus nicht unter reaktionären Vorzeichen. Ihre nationale Grundidee hob ihn über einen völkerrechtlichen Verband hinaus  ; in ihren bundesstaatlichen Elementen enthielt seine Verfassung Ansätze zur Förderung einer rechtlichen und wirtschaftlichen Integration. Konkrete Schritte dazu wurden in den ersten Jahren vergeblich versucht, dann aber seit Karlsbad überlagert durch die antirevolutionäre Repressionspolitik seiner beiden Großmächte, auf die sich die bundespolitischen Aktivitäten in folgenschwerer Weise verengten. Insgesamt versagte der Bund vor der Aufgabe, neben der Sicherheitsfunktion eine Wohlfahrtsfunktion zu entwickeln, die imstande gewesen wäre, die dynamischen Kräfte des aufkommenden Bürgertums frühzeitig durch konstruktive Impulse mit seiner Existenz zu versöhnen. Dies ermöglichte Preußen eine Doppelstrategie, die ihm mit der Gründung des Zollvereins ein wichtiges separates Feld hegemonialer Politik eröffnete.9 Gesellschaftliche Prozesse seit 1800 in Deutschland Wenden wir uns noch kurz der Frage zu, wie weit unterhalb der Regierungsebene eine gesellschaftliche Akzeptanz des Reformprojekts von 1863 denkbar war, soweit von einer deutschen Gesellschaft die Rede sein konnte. In prozessgeschichtlicher Perspektive müssen selbstverständlich die dominanten sozio-ökonomischen und ideologischen Grundvorgänge des Jahrhunderts in Rechnung gestellt werden, wozu prominent die seit dem aufgeklärten Absolutismus eingeleitete und im Zeitalter Napoleons vorangetriebene Modernisierung gehört. Später trat die vorsichtige Zulassung parlamentarischer Partizipation hinzu. Diese Prozesse vollzogen sich in Deutschland in den 1815 konsolidierten Einzelstaaten. Dabei soll die besondere Situation Österreichs zunächst unberücksichtigt bleiben. Im engeren Deutschland waren die Staaten das Feld der Innenpolitik, des Partizipations- und Reformverlangens der bürgerlichen Schichten und ihrer Interessenpolitik. All dies blieb auch so nach den vergeblichen Verfassungsbemühungen der Paulskirche. 9 Dazu Hans-Werner Hahn, Mitteleuropäische Wirtschaftsordnung in der Epoche des Deutschen Bundes, in  : Rumpler (Hg.), 1990 [Anm. 2], S. 186–214  ; allgemein ders., Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984  ; ders. (Hg.), Der deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert, Köln u. a. 2012.

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Nationale Prozesse einer horizontalen Integration begannen am frühesten im Bildungsbürgertum und waren hier auch am ehesten nationalistisch konnotiert. Die Universitäten mit ihren gesamtnationalen akademischen Netzen waren hierbei ein wichtiges Ferment. Das Wirtschaftsbürgertum zog im Sinne praktischer Interessen nach, sobald seine Belange nur noch auf nationaler Ebene verhandelt werden konnten. An der kulturellen, wissenschaftlichen und ökonomischen Verbandsbildung und Kongressbewegung kann man das studieren.10 Nach Phasen starker Überwachung und Gängelung in Vormärz und nachrevolutionärem Jahrzehnt erfuhren diese Prozesse in der sog. Neuen Ära einen neuen Schub, und die Politisierung nahm zu. Dies betrifft vor allem die aufblühenden TurnGesangs- und Schützenvereine mit ihren nationalen Festen, aber auch das politische Vereinswesen vorab auf liberaler Seite formierte sich. Auf diese liberale, national orientierte Bewegung mit der zugehörigen Presse fokussiert sich traditionell die Historiographie. Von ideologischer Homogenität wie organisatorischer Schlagkraft konnte freilich keine Rede sein, und auch die landsmannschaftlichen Vorbehalte waren groß.11 Auch entwickelten sich selbstverständlich konservative Gegenbewegungen auf nationaler Ebene, und erst recht sind partikularstaatliche Besonderheiten zu beachten. Die auf den kleindeutsch-preußischen Nationalstaat abzielenden Kräfte waren nicht dominant.12 Österreichs Sonderentwicklung Mit den Reformen Maria Theresias und vor allem Josephs II. war die alte »mon­ archische Union von Ständestaaten« wenigstens in ihren deutsch-böhmischen Erbländern zentral-bürokratisch überformt worden, und auch modernisierende Impulse waren ähnlich bedeutsam wie in Deutschland. Mit dem Ende des Alten 10 Aus der Fülle der Literatur jetzt am prägnantesten  : Handbuch der Deutschen Geschichte [begründet von B. Gebhardt, modernisiert], Bd. 14  : Reformen, Restauration und Revolution 1806– 1849/49, Stuttgart 2010, [behandelt Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur auf einzelstaatlicher wie nationaler Ebene]. 11 James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18.  Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, dt. München 1983, hier. Kap. II und III, S. 61–143. 12 Zur Vereins- und Verbandsbildung ab 1859  : Shlomo Na’aman, Der Deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des deutschen Bürgertums 1859–1867, Düsseldorf 1987  ; Andreas Biefang, Politisches Bürgertum 1857–1868. Nationale Organisationen und Eliten, Düsseldorf 1994, [behandelt Volkswirtekongress, Nationalverein, Handelstag, Abgeordnetentag]  ; Willy Real, Der Deutsche Reformverein. Großdeutsche Stimmen und Kräfte zwischen Villafranca und Königgrätz, Lübeck-Hamburg 1966.

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Reiches und der Gründung des Rheinbundes bestand zu Deutschland nurmehr ein Außenverhältnis. Mit dem Deutschen Bund kehrte Österreich gwm. nach Deutschland zurück, freilich nur im Sinn einer Außensteuerung. Im Inneren wurden dagegen die Reformprozesse weitgehend abgebrochen und die Eigenständigkeit Österreichs bis 1848 durch systematische Abschottung gegenüber Deutschland verteidigt.13 So blieb es im ökonomischen Bereich mit dem unter Joseph eingeführten rigorosen Protektionismus bei einer folgenreichen Abkehr. Die Schutzzollpolitik bestimmte die Unternehmenskultur auch des deutsch-österreichischen Wirtschaftsbürgertums und konterkarierte alle Bemühungen der österreichischen Regierungen um Eintritt in den Deutschen Zollverein bis zum Ende des Deutschen Bundes.14 Auch das deutsch-österreichische Bildungsbürgertum entwickelte eine Tendenz zur mentalen und lebensweltlichen Absonderung, die langfristig zur Ausprägung eines besonderen Österreichertums führte. So ging v. a. von der Reichshauptstadt Wien eine große sozio-kulturelle Anziehungskraft aus.15 Zugleich erforderte die administrative Modernisierung eine ­Alphabetisierung auch der Unterschichten, und dies konnte schulisch nur in den Volkssprachen aller Nationalitäten erfolgen. Die damit einhergehende Sensibilisierung für Sprachenfragen verband sich zugleich mit den Erweckungsbewegungen des Sprachnationalismus und der Wiederentdeckung der (älteren) Autonomie der nichtdeutschen Kronländer.16 Hieraus entwickelte sich der für die Habsburgermonarchie charakteristische Nationalitätenhader, der sich bereits im Vormärz ankündigte17 und in der Revolution vehement aufbrach, v. a. im deutsch-čechischen Verhältnis. Der Versuch einer einvernehmlichen föderalistischen Lösung

13 Dieter Langewiesche  : Deutschland und Österreich. Nationswerdung und Staatsbildung in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert, in  : GWU 42 (1991), S. 754–766  ; überarbeitet wieder in ders.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 172–189. Rechtfertigende Behandlung des Gesamtkomplexes bei Rumpler, 1997 [Anm. 2], S. 200–214. 14 Klaus Koch  : Österreich und der Deutsche Zollverein 1848–1871, in  : Adam Wandruszka u. Peter Urbanitsch (Hgg.)  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd.VI  : Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen, Teil I/VIII  : Die außenwirtschaftlichen Beziehungen der Monarchie (1848–1871), Wien 1989, S.537–560. 15 Hierzu Langewiesche [Anm.  13]. Vgl. allgemein auch Ernst Bruckmüller  : Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung, Wien 1984  ; näher an unserer Epoche ders.: Ein »deutsches« Bürgertum  ?, in  : Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S.  343–354. Zur Wiener Biedermeier-Kultur Rumpler, 1997 [Anm. 2], S. 216–227 16 Ausführlich beschrieben bei Brückmüller, 1984 [Anm. 15], S. 107–129. 17 Daher negativ konnotiert bei Rumpler, 1997 [Anm. 2]  : »Die Büchse der Pandora«, S. 154–214.

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im Kremsierer Verfassungsentwurf verfiel der Nichtbeachtung.18 Der Übergang zum Neoabsolutismus deckelte zwar vorerst jegliche politische Betätigung, sorgte aber gleichzeitig für eine sprachliche Germanisierung im zentralistischen Verwaltungsaufbau.19 Mit dem Übergang zur konstitutionellen Monarchie brachen die Konflikte erneut auf. Die Gesamtstaatsverfassung von 1861 orientierte den Föderalismus ihrer Repräsentativkörperschaften auf engster sozio-politischer Basis an den historischen Kronländern  ; die Nationalitäten kamen darin systemisch nicht vor.20 Faktisch bevorzugten sie namentlich in Böhmen die Deutschen, was zum čechischen Boykott der Reichsrats-Beschickung führte.21 Die Ungarn verhielten sich aus anderen Gründen ebenso, obwohl 1861 die Konstruktion eines »engeren« und »weiteren« Reichsrates die Trennung von 1867 im Grunde schon vorbereitete.22 Die Čechen lehnten zudem die Bundeszugehörigkeit der böhmischen Länder seit 1848 vehement ab. Aber auch die deutsch-liberale Verfassungspartei, die seit 1861 das Parlament beherrschte, fokussierte ihr Interesse auf den habsburgischen Gesamtstaat und hatte, wie wir noch sehen werden, ein überwiegend negatives Verhältnis zu dem Reformplan von 1863. Initiativen zur Bundesreform vor 1863 Nun zurück zu den Plänen zur Reform des Deutschen Bundes nach 1849. Als Gegenkonzept zur preußischen Union entwickelten die Mittelstaaten zusam18 Zum Ganzen jetzt  : Die Habsburgermonarchie [Anm. 14], Bd. VII/1+2  : Verfassung und Parlamentarismus, Wien 2000. Darin VII/1 zum Kremsierer Verfassungsentwurf  : Wilhelm Brauneder, S. 106–120. Andreas Gottsmann, Der Reichstag von Kremsier und die Regierung Schwarzenberg, Wien 1995. 19 Die Habsburgermonarchie [Anm. 14], Bd. III/1+2  : Die Völker des Reiches  ; hier Teil 1 / II B  : Berthold Sutter, Die politische und rechtliche Stellung der Deutschen […], S. 154–339, darin die Identifizierung des Neoabsolutismus mit dem deutschen Hegemonialstreben, S. 178–181. Umfassende Analyse des Sprachenrechts von Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848–1918, a.a.O. Teil 2, S. 975–1206, zum Neoabsolutismus S. 999–1002. 20 Zum Februarpatent Brauneder [Anm. 18], S. 151–163  ; ferner Andreas Gottsmann, a.a.O., Abschn. IV/B 3  : Der konstitutionelle Reichsrat 1861 bis 1865, S. 622–634. 21 Habsburgermonarchie, Verfassung und Parlamentarismus [Anm.  18]  ; hier Bd, VII/2  : Die regionalen Vertretungskörperschaften, darin Otto Urban  : Der Böhmische Landtag, S.  1991–2055, čechischer Boykott des Reichsrats a.a.O., S. 2008 u. 2028 f. 22 Op. cit. Bd. VII,1, Abschn. III  : László Péter, Die Verfassungsentwicklung in Ungarn, darin  : Das Ringen um die Rückkehr zur Verfassung  ; zum Boykott S. 300–311.

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men mit Wien 1850 ein Konzept, das mit den Elementen Bundesdirektorium und Volksvertretung den deutschen Reformwünschen Rechnung trug und hierin bereits auf das Projekt von 1863 vorausweist, mit den Elementen Gesamteintritt der Monarchie samt Zollunion jedoch eine vollkommen neue Dimension der Struktur Mitteleuropas im Blick hatte. Brucks wirtschaftspolitische Pläne eröffneten dabei den Mittelstaaten die Möglichkeit, den Zollverein aufzubrechen. Die Punktation von Olmütz wies den Weg zur Behandlung dieses Programms auf den Dresdner Konferenzen (Dezember 1850 bis Mai 1851), doch Preußen entzog sich den Vereinbarungen wieder und ließ das Projekt ins Leere laufen.23 Die schlichte Rückkehr zum Bund war gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit und für die mittelstaatlichen Politiker ein Desaster  ; sie bot außerdem dem neoabsolutistischen Österreich und einem konservativ gewendeten Preußen eine Plattform für die Rückkehr zu einer gemeinsamen Reaktionspolitik im metternichschen Stil. Die preußische Wirtschaftsbürokratie griff dabei jedoch die alte Doppelstrategie wieder auf und betrieb erfolgreich die weitere Immunisierung des Zollvereins gegen den Zugriff des Bundes und Österreichs.24 Die Frage einer Bundesreform kam jedoch nicht mehr zum Stillstand. Sie stand auch unter dem Druck der Öffentlichkeit, die sich mit Anbruch der sog. Neuen Ära neue Freiräume gewann. Auf Regierungsebene waren es die Mittelstaaten und hier v. a. einzelne engagierte Politiker, prominent Beust, die den Bund voranbringen wollten, zunächst mit Initiativen zu gemeinsamen Institutionen und Gesetzen zur Rechtsvereinheitlichung, dann abermals zur Reform des Bundes im Ganzen. Die jüngere Forschung hat eine Fülle derartiger, zumeist vergeblicher Aktivitäten aufgearbeitet.25 Bei den Plänen zur Reform des Bundes als Ganzen hielt sich das neoabsolutistische Österreich zurück und kam erst aus der Deckung, als mit der Februarverfassung von 1861 erstmals die parlamentarischen Voraussetzungen bestanden. Seit Ende 1861 begannen die Auseinandersetzungen mit Preußen zu eskalieren. So grub Außenminister Bernstorff 1861 das Radowitzsche Projekt des 23 Zu den machtpolitischen Aspekten s. oben  : Text mit Anm. 4. Zu den Reformaspekten der Bundesinnenpolitik  : knappe Darstellung bei Müller, 2005 [Anm. 1], S. 55–68 mit Verweis auf den Dokumentenband Quellen und Darstellungen [Anm.  1], Bd.  III/1. Dazu der Tagungsband Jonas Flöter u. Günther Wartenberg (Hgg.), Die Dresdner Konferenz 1850/51. Föderalisierung des Deutschen Bundes versus Machtinteressen der Einzelstaaten, Leipzig 2002. 24 Ausführliche ereignisgeschichtliche Darstellung bei Müller, 2005 [Anm. 1], S. 69–148. 25 Hier liegt das Hauptgewicht der aus den Quellen erarbeiteten Studien von Müller, 2005 [Anm. 1]  : Teil B  : Nationales Recht, S. 389–564. Zu Beust  : Jonas Flöter, Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850–1866, Köln u. a. 2001.

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engeren und weiteren Bundes von 1849/50 wieder aus. Österreich und die ihm verbundenen Mittelstaaten konterten mit scharfen identischen Noten, die an das Scheitern jener Initiative in Olmütz verwiesen. Komplementär dazu wurde Österreich nunmehr dazu gedrängt, zusammen mit der Trias seinerseits in die Offensive zu gehen. Anlass dazu bot ein Bundesbeschluss vom Februar 1862 zur Einführung einer gemeinsamen Zivil- und Kriminalgesetzgebung, wofür erfolgreich verabschiedete Kommissionsentwürfe vorlagen. Zu deren Einführung und zur Behandlung weiterer Entwürfe sollte nunmehr ad hoc eine Delegiertenversammlung aus den Einzelstaatsparlamenten mit Beschlusskompetenz einberufen werden. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieses Pilotprojekts, das von den Protagonisten auch als solches verstanden wurde, provozierte die Angelegenheit in den Kabinetten wie in der Öffentlichkeit ein großes Echo, das auch dadurch angeheizt wurde, als der inzwischen amtierende Bismarck mit Bundesbruch und Krieg drohte. Das Menetekel vom Ende des Deutschen Bundes ließ viele Regierungen vom Delegiertenprojekt Abstand nehmen, so dass Österreich und seine Freunde im Januar 1863 in Frankfurt eine zwar knappe (7  :9), aber peinliche Abstimmungsniederlage hinnehmen mussten.26 Dies beflügelte den Ballhausplatz freilich umso mehr, ein umfassendes Projekt zur Bundesreform vorzubereiten und jetzt auch damit hervorzutreten. Die aktuelle Situation in Preußen mit seinem unter Bismarck verschärften Verfassungskonflikt und seiner Isolierung im aktuellen Polen-Konflikt (Alvenslevensche Konvention) hatte gerade auch im preußenfreundlichen Liberalismus ein negatives Echo erzeugt. Dies schien die Initiative zusätzlich zu begünstigen, weil ein reaktionäres und isoliertes Preußen leichter zu überspielen war als ein liberal regiertes. Vorbereitung und Verlauf des Frankfurter Fürstentages von 1863 Eine ältere detaillierte ereignisgeschichtliche Schilderung der Vorgeschichte und Vorbereitung des Fürstentages sowie ihres Verlaufs bis zu den nachfolgenden Nürnberger Konferenzen bietet nach wir vor Heinrich Ritter von Srbik in seiner »Deutschen Einheit«.27 Ernst Rudolf Huber behandelt Verlauf und Inhalt in 26 Ereignisgeschichtliche Darstellung dieser Vorgänge bei Müller, 2005 [Anm. 1], S. 327–348. Zum parallelen Ringen um den Zollverein, ausgelöst durch Preußens Handelsvertrag mit Frankreich von 1862, das den Kampf gegen Preußen erschwerte, vgl. den letzten Abschnitt (öffentliche Meinung). 27 Heinrich Ritter von Srbik  : Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit […], Bd. 1 u. 2  : vom Heiligen Reich bis Königgrätz […], Bd. 3 u.4  : von Villafranca bis Königgrätz, München 1940–1942, hier Bd. 3, S. 413–433, Bd. 4, S. 1–77.

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seiner Verfassungsgeschichte ebenso knapp wie zuletzt Jürgen Müller.28 Unverzichtbar sind die dazugehörigen Quelleneditionen.29 Noch bevor die Staatskanzlei in der Reformfrage aktiv wurde, versuchten schon ab 1861 Außenstehende dazu Impulse zu geben. Den Anfang machte Julius Fröbel, der als Paulskirchen-Linker in die USA emigriert und 1857 in die Heimat zurückgekehrt war. Hier wandelte er sich zum glühenden Anhänger einer österreichischen Leitung des Deutschen Bundes mit einem Habsburgischen erblichen deutschen Kaisertum, Bundesexekutive und Parlament. In Wien fand er damit kaum Zugang  ; die Staatskanzlei nutzte aber sein journalistisches Talent zur Propagierung der Bundesreform und veranlasste ihn zu führender Mitwirkung bei der Gründung des Reformvereins.30 Größeren Einfluss in Wien gewannen zwei Chefs der Verwaltung des Hauses Thurn und Taxis, mit dem die Habsburgische Dynastie traditionell eng verbunden war.31 Ernst Frh.  v. Dörnberg und Franz Joseph Frh. v. Gruben hatten als Emissäre des Hauses direkten Zugang zu Kaiser Franz Joseph und bauten eine enge Verbindung zum Leiter des deutschen Referates der Staatskanzlei, Ludwig Frh.  v. Biegeleben auf. Ihre Denkschriften und Entwürfe32 zielten zunächst ebenfalls auf die (vorläufig verdeckte) Wiedererrichtung eines habsburgischen Kaisertums in Deutschland. Biegeleben33 wurde zum wichtigsten Motor des Reformprojekts. Der kleri28 Ernst Rudolf Huber  : Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, Stuttgart 21978, S. 420– 435  ; Müller, 2005 [Anm.  1], S.  348–360  ; ders. in  : Quellen [Anm.  29], Einleitung, S.  XXIII– XXXVI. 29 H. v. Srbik u. Oskar Schmid (Hgg.)  : Quellen zur deutschen Politik Österreichs 1849–1866, Bd.  1–5, 1934–1938, Ndr. Osnabrück 1967, hier Bde. 2 u. 3  ; E. R. Huber. u. Gerhard Granier (Hgg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2  : Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1918, Stuttgart 1964 u. ö. Zum Fürstentag jetzt die maßgebliche Edition in der Serie  : Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes [Anm. 1], Abtl. III/Bd. 4  : Jürgen Müller (Bearb.)  : Vom Frankfurter Fürstentag bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, 2017. (Vgl. auch Hinweis Anm. 1.) 30 Artikel über ihn von Paul Wentzke in  : NDB, Bd. 5 (1961), S. 644–646. Die jüngere Literatur zu Fröbel befasst sich vorrangig mit seinen Schriften im Umfeld der Revolution und des amerikanischen Exils. Umfassender Wilhelm Mommsen, Julius Fröbel. Wirrnis und Weitsicht, in  : HZ 181 (1956), S. 497–532, zum Fürstentag S. 516–521. (Der Reformverein wird später ausführlich behandelt.) 31 Zum Folgenden auch Siegfried Grillmeyer, Habsburgs Diener in Post und Politik. Das Haus Thurn und Taxis zwischen 1745 und 1867, Mainz 2005, hier S. 459–476, 513–519. 32 Srbik / Schmid, Quellen [Anm. 29], Bd. 3, Nrn. 1113, 1114, 1162, 1171. 33 Wegen der Auswertung des Familienarchivs immer noch wichtig die Biographie von Rüdiger Frh. v. Biegeleben, Ludwig von Biegeleben. Ein Vorkämpfer des großdeutschen Gedankens, Leipzig 1930.

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kal-katholische Hesse stand seit 1850 im Dienst der Staatskanzlei und stieg hier zum Leiter der deutschen Abteilung auf. Das Recht zum unmittelbaren Vortrag beim Kaiser ermöglichte ihm eine eigenständige Politik. Er trat glühend für Österreichs Führungsstellung im Bund ein und hasste Preußen und seine zerstörerische Politik, dabei in Fehleinschätzung der beiderseitigen Machtmittel. Als Kenner des Bundesrechts und hervorragender Jurist war er in der Lage, die oft verschwommenen historisierenden Ideen Grubens in einen präzis formulierten und bundesrechtlich haltbaren Reformentwurf zu verwandeln. Dieser Entwurf wurde schließlich der Fürstenversammlung am 17.  August 1863 in Frankfurt vorgelegt  ; er soll mit seinen neuen Institutionen Direktorium und Bundesrat, Versammlung der Bundesabgeordneten, Fürstenversammlung und Bundesgericht später in systematischem Zusammenhang vorgestellt werden. Die Vorbereitung des Fürstentages war zwar taktisch begründbar, aber nicht besonders glücklich. Biegelebens Entwürfe waren zwar nicht an Außenminister Rechberg vorbei dem Kaiser vorgelegt worden  – schließlich musste dies stets über den Ressortchef geschehen  ; der damit eingebunden blieb. Doch hielt Rechberg nicht sehr viel von der Initiative, der er bei dem erwartbaren Widerstand Preußens keine Chancen einräumte. Er beteiligte sich nicht aktiv daran  ; seine Präferenz galt der Verständigung mit der anderen Großmacht.34 Im Gegensatz dazu wurde Staatsminister Schmerling35 lange Zeit hindurch überhaupt nicht über das Projekt informiert und nur über seinen Adlatus Fröbel über die Vorgänge unterrichtet. Dabei war er – mit seiner Vergangenheit als Amtsträger in Frankfurt 1848/49 und ›liberaler‹ Hoffnungsträger der großdeutschen Bewegung – dringend an dem Ganzen interessiert. Der Kaiser, der seinen herrischen Minister mitunter schwer ertrug, konnte sich jederzeit hinter Ressortzuständigkeiten verschanzen  ; er hat daher am Ende auch nur Rechberg und Biegeleben nach Frankfurt mitgenommen. Vor Beginn der Aktion wurde die Schlussredaktion des Entwurfs immerhin vom Kaiser, Rechberg, Schmerling und Biegeleben gemeinsam vollzogen und auch das Vorgehen bei der Einladung nach Frankfurt gemeinsam verabredet. Für dieses Vorgehen war wiederum Biegeleben der Hauptverantwortliche. Der Entwurf wurde geheim gehalten, und vorbereitende Ministerkonferenzen 34 Zu Bernhard Graf von Rechberg und Rothenlöwen zuletzt der Artikel von Peter Urbanitsch in  : NDB Bd. 21 (2003), S. 230 f. (mit Lit.). 35 Zu Anton Ritter von Schmerling zuletzt der Artikel von Helmut Rumpler in  : NDB Bd. 23 (2007), S.  132–134 (mit. Lit.). Lothar Höbelt (Hg.)  : Der Vater der Verfassung. Aus den Denkwürdigkeiten Anton Ritter von Schmerlings, Wien 1993 [= Teildruck der Denkwürdigkeiten, die im HHStA Wien im Nachlass Schmerling-Bienerth liegen], hier S. 231–246, [stark personalisiert].

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wurden vermieden, um das Ganze nicht vorzeitig zu zerreden und den Gegnern keine offenen Flanken zu bieten. Die Idee, ausschließlich die Fürsten persönlich mit dem Projekt zu befassen, bedeutete eine neuerliche Betonung des Monarchischen Prinzips36 und stand zu diesem Zeitpunkt quer zu den konstitutionellen Forderungen des Bürgertums. Insbesondere Franz Joseph, der selbst zum semikonstitutionellen Februarpatent ein distanziertes Verhältnis hatte, wollte damit ein Zeichen setzen, aber auch die übrigen Monarchen – zumeist konservativ – folgten ihm darin. Lediglich Großherzog Friedrich von Baden vertrat auf dem Fürstentag entschieden den Konstitutionalismus. Zugleich sollten die Fürsten überrumpelt werden  ; nicht einmal die treuen Anhänger wurden vorab über allgemeine Andeutungen hinaus informiert. Dabei sollte speziell der preußische König einer Sonderbehandlung unterworfen werden. Biegeleben rechnete nicht damit, dass König Wilhelm erscheinen würde. Deshalb musste seine Unterrichtung und Einladung zeitlich knapp gehalten werden, um rechtzeitige preußische Gegenaktionen zu verhindern. Dahinter stand der Entschluss, in jedem Fall eine Verabschiedung der Reformakte herbeizuführen, den neuen Bund danach mit den Anschlusswilligen zu formieren, Preußen politisch-moralisch zu isolieren und so zum nachträglichen Beitritt zu zwingen.37 Zu einer persönlichen Unterredung mit König Wilhelm, die Franz Joseph wünschte und von der er eine Annahme der Einladung erhoffte, ergab sich die Gelegenheit Anfang Juli 1863 anlässlich eines Kuraufenthalts des Königs in Karlsbad. In Wien befand man jedoch, dass ein solches Treffen für den Erfolg der Überrumpelungs-Strategie zu früh sei, und überredete den Kaiser zu einer Verschiebung auf die Nachkur Wilhelms in Gastein. Hier wurde er Anfang August endlich in dynastischen Vieraugen-Gesprächen über die Grundzüge des Projekts unterrichtet und machte Einwände, die konstitutionell korrekt waren und darüber hinaus preußischen Präferenzen entsprachen  : Vorgängige Ministerbesprechungen und danach erst Fürstenversammlung, dualistische statt vielköpfiger Besetzung des Direktoriums, Vorbehalte gegen ein Bundesparlament überhaupt.38 Bismarck, der am Ort zugegen war, konnte vorerst keine Ablehnung der Teilnahme erreichen. Franz Joseph war optimistisch, ihn in Frankfurt zu sehen. Nur wenig später und kurz nach der Abreise Franz Josephs wurde dem 36 Zu den bekannten Bestimmungen der Wiener Schlussakte von 1820, mit der die Verfassungspolitik der deutschen Staaten eingegrenzt werden sollte  : Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte [Anm. 28], Bd. 1, 1957 u. ö., S. 651–657. 37 Dazu Srbik, Deutsche Einheit [Anm. 27], Bd. 4, S. 33–46. 38 Dazu Promemoria vom 3. 8., Antwort Wilhelms v. 3./4. 8. und Rückantwort Franz Josephs v. 6. 8. bei Müller, 2017 [Anm. 29], Dok. 33–36, S. 186–200.

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König dann die auf den 31. Juli datierte Einladung zum 16. August überbracht.39 Angesichts dieses hinterhältigen Verfahrens hatte Bismarck jetzt leichtes Spiel, seinen Herren zur Absage zu veranlassen, und ein Ausweg war in Wien durch die gleichzeitige Einladung aller Übrigen verbaut worden. Fast alle Bundesfürsten erschienen, auch die Preußenfreunde aus Karlsruhe, Weimar und Coburg  ; der einzig Gewichtige unter den Fehlenden war der dänische König, der mit dem Bund Schleswig-Holsteins wegen im Konflikt war. Der König der Niederlande schickte für Luxemburg einen Prinzen. Manche, wie die Könige von Sachsen und Württemberg,40 begrüßten die Einladung freudig, andere, wie vor allem der bayerische König, waren jedoch verstimmt wegen des österreichischen Verfahrens. Alle waren bereits vor der Reise nach Frankfurt vom preußischen Fernbleiben unterrichtet und daher zumeist skeptisch, dass ein Erfolg des Ganzen zu erwarten war.41 Diese Skepsis beherrschte auch die erste Zusammenkunft, so dass der Kaiser sich bestimmen ließ, König Johann von Sachsen mit einer nochmaligen Kollektiveinladung an den preußischen König nach Baden-Baden zu schicken, wo Wilhelm sich inzwischen im Kreise seiner Verwandten aufhielt. Dieser Akt erzeugte nochmals eine schwere Krise, da er von der weiblichen Verwandtschaft bedrängt worden und auch jetzt von Johanns Erscheinen beeindruckt war. Bismarck musste sogar mit seinem Rücktritt drohen, um ihn von einer Reise abzuhalten.42 Während der Sitzungspause hatten sich die Fürsten der Mittelstaaten vertraulich über das Vorgehen beraten. Fast alle waren wenig geneigt, sich auf eine inhaltliche Verhandlung der Reformakte einzulassen  ; sie wollten nach einer Feststellung der Hauptgrundsätze alles Weitere Ministerkonferenzen überlassen und möglichst bald wieder von Frankfurt abreisen. Großherzog Friedrich von Baden verband damit zusätzlich konstitutionell motivierte Einwände, wonach die Fürsten nur durch verantwortliche Minister handeln konnten, die die Ergebnisse zur Ratifikation vor den Kammern zu vertreten hatten  ; damit blieb er freilich isoliert. Franz Joseph bekundete jedoch seine Entschlossenheit, in Frankfurt Beschlüsse herbeizuführen. Zum Auftakt der eigentlichen Verhandlungen nach König Johanns Rückkehr präsentierte die österreichische Delegation ein Promemoria, mit dem wieder 39 Wortlaut bei Müller, 2017 [Anm. 29], Dok. 32, S. 185 f. 40 König Wilhelm von Württemberg, alt und krank, schickte seinen Sohn, den Kronprinzen Karl. 41 Die Reaktionen minutiös bei Wehner, 1993 [Anm. 8], S. 104–147. 42 Die Baden-Badener Szenen wurden vielfach beschrieben, nicht zuletzt von Bismarck selbst. Vgl. etwa Hans Joachim Schoeps  : Der Weg ins Deutsche Kaiserreich, Berlin 1970, S. 69–71.

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einmal eine Überrumpelung versucht wurde  : Die präsentierten Hauptartikel sollten en bloc angenommen und keine Änderungsanträge gestellt werden  ; nach Zustimmung war sogleich eine Ministerkonferenz für die Detailfragen anzuberaumen, wobei die Minister die Grundsätze nicht weiter anfechten durften. Die dadurch ausgelöste Empörung war beachtlich und veranlasste den Badener, die Überweisung der Reformakte an die Bundesversammlung als dem rechtlich immer noch zuständigen Bundes-Organ anzuregen  ! Unter großem Einsatz gelang es König Johann, einen Kompromiss durchzusetzen, wonach die Hauptpunkte einer freien Beratung mit Beschlussfassung unterworfen werden sollten.43 Mit dem Einstieg in diese Beratungen setzte zum ersten Komplex ein konfliktgeladenes Gezerre und Zusammensetzung und Beschickungsmodus des Direktoriums ein. An dieser wichtigsten neuen Institution wollten alle in irgendeiner Weise beteiligt sein, wobei die Frage der Rangordnung empfindliche dynastische Statuskonflikte freisetzte. In wechselnden Koalitionen wurde eine Vielzahl von Modellen diskutiert, die hier nicht besprochen werden können. Am Ende war es wieder König Johann, dessen Kompromissvorschlag im Benehmen mit dem Kaiser sich durchsetzte. Im Ergebnis erhöhte sich die Zahl der Direktoren von fünf auf sechs und der Rotationsmodus wurde vereinfacht, blieb aber kompliziert genug.44 Das Profil der Behörde soll später in systematischem Zusammenhang besprochen werden  ; die Art des Streites erweist aber bereits hier spezifische Schwächen einer freien Verhandlung unter den souveränitätsbewussten Oberhäuptern selbst. In der Frage der Leitung des Direktoriums gab es eine sehr ernste Debatte über die Frage, ob nicht doch die zweite Großmacht über das Alternat in die Führung eingebunden werden sollte. Nicht nur die Preußenfreunde plädierten für diese Lösung. Doch auf die Erklärung des Kaisers hin, dass er niemals das traditionelle Vorrecht seines Hauses preisgeben werde, wurde diese Erwägung später mehrheitlich (mit 17  :10) Stimmen abgewiesen.45 43 Dazu Wehner, 1993 [Anm.  8], S.  189–201. Text des Promemorias v. 21. 8. Bei Müller, 2017 [Anm.  29], Dok. 57, S.  274–276  ; österr. Entwurf der Reformakte, dat. 17. 8., a.a.O., Dok. 48, S.  239–259. Die Politik Badens (des Großherzogs und Roggenbachs mit Robert v. Mohls und Julius Jollys Zuarbeit) ist ausführlich beschrieben bei Lothar Gall  : Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968, S. 234–242. 44 Müller, 2017 [Anm. 29]  : Sitzungsprotokolle Nr. 4 u. 5 vom 24. u. 25. 8., S. 300 ff. u. 320 f.; dazu zahlreiche Anlagen, S. 313–330. Hergang bei Wehner, 1993 [Anm. 8], S. 202–227, dazu Übersicht im Quellen-Anhang S. 429–443  : Wortlaut der verschiedenen Modelle einer Zusammensetzung und Namen der Urheber. 45 Behandlung bei Wehner [Anm. 8], S. 227–234, überwiegend auf der Basis privater Quellen. So auch die Ausarbeitung Biegelebens vom 30. 8., worin Artikel 5 (Vorsitz Österreich) als beschlossen

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Die Einrichtung des Bundesrates mit seinen Funktionen wurde in der Fürstenversammlung fast ohne Diskussion genehmigt. Lediglich Großherzog Friedrich trat nachdrücklich für seine Aufwertung als Organ zur Instruierung des Direktoriums ein, was jedoch nach einem entsprechenden Votum des Kaisers abgelehnt wurde.46 Starke Divergenzen ergaben sich bei den Fragen der äußeren Sicherheit des Bundes (Artikel 8 des Entwurfs). Die Kompetenz zur Aktion lag hier nunmehr beim Direktorium, das jedoch an die Zustimmung des Bundesrates gebunden war. Bei Angriffen auf das Bundesgebiet trat wie im bisherigen Bundesrecht der Verteidigungsfall automatisch ein. Bei einer den Bund gefährdenden »Störung des europäischen Gleichgewichts« sollte das Direktorium jedoch jetzt ebenfalls militärische Maßnahmen vorbereiten. Bei Angriffen auf nicht-bundeszugehöriges Gebiet eines Bundesmitglieds war die Zustimmung des Bundesrates mit nur einfacher Mehrheit vorgesehen. Dasselbe sollte für die Teilnahme des Bundes an europäischen Kriegen allgemein gelten.47 Abermals wurde die Opposition von Großherzog Friedrich angeführt, der bereits mit der einleitend (Artikel 1 des Entwurfs) genannten Ausdehnung des Bundeszwecks auf die »Machtstellung Deutschlands nach außen« die rein defensive Natur des Bundes gesprengt sah. Die daraus sich ergebende Teilnahme an allgemeinen europäischen Kriegen, gar mit dem Verweis auf eine Gefährdung des europäischen Gleichgewichts, beschwor Risiken für die Mittel- und Kleinstaaten, die solche Händel gar nichts angingen. Auch wollte er die Teilnahme des Bundes an Kriegen wegen außerbündischer Besitzungen auf die Bestimmung von Artikel 47 der Wiener Schlussakte zurückgeführt wissen, wonach Gefahr für das Bundesgebiet konstatiert werden musste. Zumindest eine Zweidrittel-Mehrheit des Bundesrates sei erforderlich. Gegen dessen Mitentscheidung in allen Fragen von Krieg und Frieden wehrte Franz Joseph sich vehement, doch willigte er angesichts der Opposition in eine Komiteeberatung ein. Diese erreichte unter Leitung König Johanns, der den Kaiser unterstützt hatte, die Rückführung auf die defensiven aufgeführt, die Aufregung darüber unter den Fürsten als Täuschungsversuch, die neue Note an alle mit einer Richtigstellung. Die beiden Noten bei Müller [Anm. 29] nicht aufgenommen. Dafür die Frage auf der Tagesordnung der 10. (letzten) Sitzung, wo Franz Josephs Erklärung zu jenem Abstimmungsergebnis führte, das für ihn entschied. Protokoll 1. 9., Müller, a.a.O., S. 416–419. 46 Müller, 2017 [Anm.  29], Protokoll der 4. Sitzung v. 24. 8., S.  306  ; dazu Separatvotum Badens, a.a.O., S. 318 ff. Dazu Näheres im Rahmen des Zuarbeitens von Robert v. Mohl unten bei Anm. 67. 47 Hierzu das Sitzungsprotokoll Nr. 5 v. 25. 8., dazu die Anlage 5 mit dem Votum Friedrichs sowie weitere kleinere Anlagen von Sachsen-Weimar, -Coburg und Oldenburg mit ähnlicher Tendenz, in  : Müller, 2017 [Anm. 29], S. 322 f., dann S. 331–335.

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Natur des Bundes  : Streichung der Formel vom europäischen Gleichgewicht und jeder Kriegsteilnahme, wenn keine Gefährdung der Sicherheit des Bundes vorlag, jedoch Ermöglichung einer Bundeshilfe für Österreich bei einer Zweidrittelmehrheit im Bundesrat.48 Auch in Fragen der inneren Sicherheit sollte das herkömmliche Interventionsrecht des Bundes zugunsten erweiterter Ermessensspielräume des nunmehr zuständigen Direktoriums gestärkt werden. Gegen solche Beeinträchtigungen der einzelstaatlichen Souveränität wehrte sich die Fürstenversammlung mehrheitlich unter Führung des Badeners, so dass die Wiederherstellung der alten Bestimmungen der Wiener Schlussakte durchgesetzt wurde.49 Mit der Einrichtung einer Versammlung der Bundesabgeordneten und der Bestimmungen über ihre Befugnisse (Artikel 16–22 des Entwurfs) sollte den öffentlichen Forderungen nach einer Konstitutionalisierung des Bundes nachgekommen und eine Volksvertretung geschaffen werden. Der Entwurf sah ein Delegiertenparlament vor, und dabei sollte es nach Meinung der überwältigenden Mehrheit der Fürsten auch bleiben  : Der Großherzog von Baden blieb mit seinem Antrag, vom Delegiertenparlament zu direkter Wahl der Volksvertreter überzugehen, ebenso isoliert wie mit dem Vorschlag, die Versammlung jährlich und nicht nur alle drei Jahre einzuberufen. (Doch blieb die Bestimmung, außerordentliche Versammlungen einberufen zu können, erhalten.)50 Im Übrigen waren die Befugnisse der  – immerhin mit Entscheidung- und nicht nur Beratungsrecht ausgestatteten  – Versammlung nur schwach ausgestaltet. Im Budgetrecht (Artikel 14) wurde ihre Position mit der Annahme des Antrags, eine der ›Lückentheorie‹ nachempfundene Beschränkung der Ausgabenbewilligung einzuführen, sogar zusätzlich geschwächt  : Sollte keine Zustimmung zum Budgetentwurf des Direktoriums zustande kommen, so sollte der letzte Haushalt bis auf weiteres fortgelten.51 Immerhin wurde ein Antrag des konservativen Groß48 Bericht Kg. Johanns über das Komitee und Beschluss der Versammlung in  : Sitzungsprotokoll Nr. 7 vom 27. 8., Müller, 2017 [Anm. 29], S. 370 f. Zum Ganzen auch Wehner, 1993 [Anm. 8], S. 234–237. 49 Sitzungsprotokoll Nr. 6 vom 26. 8., Müller 2017 [Anm. 29], S. 349–350  ; dazu die Einsprüche von Baden, a.a.O., S. 357–359, sowie weiterer kleiner Länder, a.a.O., S. 359–361. Zitat der WSA, Artikel 25–28 bei Müller (a.a.O. S. 357 f.) nach Huber, Dokumente [Anm. 29], Bd. 1, S. 94. Vgl. auch Wehner, 1993 [Anm. 8], S. 237–240. 50 Sitzungsprotokoll Nr. 5 vom 25. 8., Müller, 2017 [Anm. 29], S. 323–326  ; dazu Erklärung Badens zu Artikel 16, a.a.O., S. 338. Herzog Ernst v. Coburg wollte die Abgeordneten in Deutschland direkt gewählt, aus Österreich delegiert wissen [!], a.a.O., S. 339 ff. 51 Antrag Ghzg. v. Oldenburg sowie mehrheitlich grundsätzliche Zustimmung   : Müller, 2017 [Anm. 29], Sitzungsprotokoll Nr. 5 vom 25. 8., S. 323  ; dazu Antrag Oldenburg, a.a.O., S. 337  ;

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herzogs von Mecklenburg-Schwerin, das Budgetrecht der Abgeordneten auf bloße Beratung zu reduzieren, mit großer Mehrheit abgelehnt.52 Hingegen führte (im Rahmen der Gesetzgebung) das Problem der Verfassungsänderung und  – darin eingeschlossen  – des Rechts zur Schaffung neuer Bundes-Einrichtungen und zur Ausdehnung der Bundesgesetzgebung auf Materien bisheriger Einzelstaatsgesetzgebung erneut zu heftigen Kontroversen  : Ging es hier doch um Fragen einzelstaatlicher Souveränität und damit um das Grundprinzip eines Staatenbundes überhaupt. Der österreichische Entwurf53 hatte hohe Hürden aufgebaut  : Verfassungsänderungen sollten nur mit Zustimmung des Bundesrates von 17 von 21 Stimmen und von vier Fünftel der Abgeordneten-Versammlung möglich sein. Dies genügte aber den konservativen souveränitätsbewussten Fürsten nicht. Auch die Bundesakte von 1815 sah hierfür Einstimmigkeit vor  ; dabei sollte es bleiben  ! Selbst Kaiser Franz Joseph wollte die darin liegende Blockade zeitgemäßer Weiterentwicklung für die Zukunft überwinden. Doch beugte er sich dem Mehrheitsbeschluss eines zur Vermittlung eingesetzten Komitees, um überhaupt einen Abschluss zu ermöglichen, und seinem Vorbild folgten dann alle bis auf den Großherzog von Baden.54 Das neue Institut der Fürstenversammlung (Artikel 23–25 des Entwurfs),55 die alle drei Jahre im Zusammenhang mit der Abgeordnetenversammlung zusammentreten und die Gesetzesbeschlüsse ratifizieren sollte, unterlag abermals der heftigen Kritik Großherzog Friedrichs aus den schon bekannten Gründen  : Neufassung des Textes, a.a.O., S.  336  ; abschließende Genehmigung (alle außer Baden) in  : Sitzungsprotokoll Nr. 9 vom 29. 8., a.a.O. S. 399. Der Hintergrund der jüngsten bzw. gegenwärtigen Budgetkrisen in Kurhessen und v. a. Preußen ist deutlich. 52 Sitzungsprotokoll Nr. 6 vom 26. 8. Müller [Anm. 29], S. 351 f. In einem zugehörigen Promemoria, das bei Müller nicht abgedruckt ist, widerriet der Mecklenburger grundsätzlich der Konstitutionalisierung des Bundes durch ein Parlament, gar mit Mehrheitsentscheidungen. Hierzu Wehner, 1993 [Anm. 8], S. 253 f. (Die beiden Mecklenburg hatten bekanntlich eine altständische Verfassung.) 53 Zum Direktorium Artikel 11, zur Abgeordnetenversammlung Artikel 20  : Müller [Anm.  29], S.244 und S.  248f. In den Diskussionen der Fürstenversammlung wurden beide Artikel zusammengezogen. 54 Dazu die Sitzungsprotokolle Nr. 5, 6, 7, 8 und 9 vom 25. bis 29.8. In  : Müller, 2017 [Anm. 29], S. 326f., 351f., 371–375, 381f., 396–399  ; dazu der Antrag des Komitees mit Motiven, S. 402 f. 55 Erste umfassende und zugleich kontroverse Aussprache darüber nach Sitzungsprotokoll Nr. 6 vom 26.8., Müller, 2017 [Anm. 29], S. 353–355  ; dazu die Erklärung Friedrichs von Baden als Anlage 14, S. 366–368. Prinz Heinrich der Niederlande (für Luxemburg) wollte die Fürstenversammlung durch den erweiterten Bundesrat als Bundesversammlung bisherigen Umfangs ersetzen  : Erklärung als Anlage 15, a.a.O. S. 368 ff. Dies in der 7. Sitzung vom 27.8. (Protokoll, Müller, S. 370–377, hier S. 375 f.) verworfen.

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Im konstitutionellen System konnten die Fürsten ohne Gegenzeichnung von Ministern gar nicht handeln. Grotesk wurde daher das Ganze durch die Bestimmung, dass die Fürsten von Agnaten vertreten werden konnten, die überhaupt keine Herrschafts-Kompetenz hatten. Dasselbe galt für die Einbeziehung von Standesherren. Da die Fürstenversammlung im Übrigen keine substantiellen Aufgaben haben sollte, plädierte der Badener für völlige Streichung im Entwurf. Dieser Antrag wurde später abgewiesen  ; vorerst bissen sich die Fürsten jedoch an der Frage der Standesherren fest, die sogleich für heftige Kontroversen sorgte.56 Die Bestimmungen der Bundesakte (Artikel 6) waren nicht ohne Gefahren für die einzelstaatliche Souveränität¸ insbesondere das von der Existenz zahlreicher Standesherren und von ständigen Konflikten mit ihnen betroffene Württemberg sträubte sich heftig gegen ihre Aufwertung. Auf der anderen Seite bemühte sich insbesondere der Kaiser (Thurn & Taxis  ?) um ihre Einbeziehung in die Reform. Zudem wurde die Frage der Standesherren mit der Rolle des künftigen Bundesgerichts (Artikel 28–36, hier Artikel 28) verwoben. Schließlich gelang es, die Bedenken der Einzelstaaten mit der Bestimmung zu zerstreuen, dass deren bis 1863 in Geltung befindliche Gesetzgebung vom Bundesgericht nicht angefochten werden durfte. Auf diese Weise konnte der Bestand einer Fürstenversammlung (gegen die Stimme Badens) abgesegnet werden  ; weitere Probleme einer Mitgliedschaft von Standesherren wurden den nachfolgenden Ministerkonferenzen überwiesen.57 Über die Bestimmungen zur neuen Bundesgerichtsbarkeit, die gegenüber den frühen vergeblichen Bemühungen einen wesentlichen Fortschritt darstellte, wurde freilich nicht mehr gründlich debattiert. Franz Joseph hatte es inzwischen eilig, den Fürstentag zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Hierzu verteilte die österreichische Delegation vor der neunten Sitzung ein Promemoria, wonach sollten die Fürsten ihre Vorbehalte und Widersprüche zu Einzelfragen zurückstellen und den Reformentwurf als Ganzes annehmen und auch für sich als bindend erklären sollten.58 Dazu war eine Mehrheit bereit, doch protestierte eine Minderheit, an der Spitze abermals Großherzog Friedrich, heftig gegen die Zumutung von Vorbehaltslosigkeit und Bindung. In der Tat war die Reichweite der Bindung ein Problem, da sie die 56 Die Frage der Standesherren bildete den Hauptgegenstand zur Fürstenversammlung in der sechsten Sitzung [Anm.  55]. Ihre Berücksichtigung in einem Oberhaus der Abgeordnetenversammlung wurde mit großer Mehrheit verworfen. Danach Sitzungsprotokoll Nr. 7 vom 27.8. (Müller, 370–377, hier S. 375)  : Vertagung bis nach der Behandlung des Bundesgerichts. Die besonderen Probleme Württembergs werden behandelt bei Wehner, 1993 [Anm. 8], S. 270—272. 57 Zum Ganzen das Sitzungsprotokoll Nr. 8 vom 28.8., Müller, 2017 [Anm. 29], S. 382–385. 58 Text des Promemorias vom 28.8. Bei Müller, 2017 [Anm. 29], S. 408–410.

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Bereitschaft einschließen konnte, mit Österreich einen Sonderbund auch ohne Preußen einzugehen, was nach Artikel 11 der Bundesakte unzulässig war. Auch konnte Friedrich darauf verweisen, dass Verfassungsänderungen jedenfalls bislang bundesrechtlich die Einstimmigkeit der Mitglieder verlangte. Dieses Problem verwob sich freilich mit der Frage, wie Preußen zu Verhandlungen über die Reformakte einzuladen sei. Die Gegner der Reformakte verlangten, dass die bleibenden Vorbehalte in die Gesamtabstimmung aufzunehmen seien. Mit Recht wand Franz Joseph ein, dass bei diesem Verfahren und bei Fehlen jeder bindenden Verpflichtung die Konferenz zu einem unverbindlichen Meinungsaustausch degradiere. Ein Vermittlungsvorschlag sah daher vor, mit der Annahme des Entwurfs die Bindungsverpflichtung zeitlich bis zur Aufnahme der Folgeverhandlungen zu begrenzen. Mit seiner Bereitschaft, eine Abschwächung dieser Verpflichtung hinzunehmen, machte Franz Joseph den Weg zu einem Kompromiss frei.59 Die Schlussabstimmungen über die Reformakte und über die Zusendung an Preußen ergab eine überwältigende Mehrheit für Österreich  ; nur Friedrich von Baden stimmte entschieden dagegen und verweigerte jede weitere Beteiligung  ; die Herrscher von Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar und Waldeck lehnten nur abgeschwächt und mit der Bereitschaft zu weiterer Zusammenarbeit ab. Prinz Heinrich als Vertreter seines Königs für Luxemburg behielt sich alle Freiheit der Entscheidung vor.60 Das kollektive Begleitschreiben zur Übersendung der Reformakte an Preußen erklärte die Bereitschaft der unterzeichnenden Fürsten und Vertreter der freien Städte, » die künftige Verfassung Deutschlands nach Maßgabe der hier gefassten Beschlüsse, so viel an ihnen liegt, zu vollenden und ins Leben zu führen und zu diesem Zwecke mit den hier nicht vertretenen Bundesfürsten, insbesondere dem Könige von Preußen, eine allseitige Verständigung auf dem Grunde jener Beschlüsse anzustreben.«61 Bismarck ließ seinen König den Reformvorschlag Ende September ablehnen. Vor dem Beginn weiterer Verhandlungen sollten drei Vorbedingungen erfüllt 59 Zum Ganzen die Sitzungsprotokolle Nr. 9 und 10 vom 29.8. und 1.9., Müller, 2017 [Anm. 29], S. 395–402, 416–426  ; dazu ein Bericht des zur Erarbeitung eines Kompromisses eingesetzten Komitees mit Varianten einer Erklärung an Preußen, S. 437 f.; ferner mehrere Anlagen mit der Formulierung spezieller Vorbehalte, darunter eine längere Grundsatz-Erklärung Friedrichs v. Baden zu seiner Ablehnung des Entwurfs, S. 426–436. Zum Verständnis der kontroversen Diskussionen ist in Ergänzung zur blassen Protokollführung von Biegeleben die Darstellung von Wehner, 1993 [Anm. 8], S. 280–306, heranzuziehen, da hier zusätzliche interne Berichte und private Quellen benutzt werden. 60 Sitzungsprotokoll Nr. 10 [Anm. 59], S. 422–423 61 Wortlaut mit Unterschriften als Anlage 14 zu Protokoll Nr. 10 bei Müller, op. cit., S. 438 f.

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werden  : das Veto gegen jeden Bundeskrieg, der nicht die Sicherung des Bundesgebietes selbst betraf, Österreichs und Preußens Parität im Vorsitz und in der Leitung der Bundesangelegenheiten, eine direkt gewählte Volksvertretung mit größeren Befugnissen als vorgesehen anstelle des Delegiertenparlaments.62 In der Zwischenzeit hatte innerhalb der Mittelstaaten und zwischen ihnen und Österreich ein lebhafter Gedankenaustausch stattgefunden, wie man mit Preußen im Gespräch bleiben oder es unter Druck setzen könne. Besonders Beust wagte sich weit vor mit Ideen über die Einschaltung der einzelstaatlichen Kammern, der provisorischen Realisierung eines Direktoriums und eines partiellen Delegiertenparlaments, was alles auf wenig Gegenliebe stieß.63 Die preußischen »Präjudizialpunkte« führte alle in einmütiger Ablehnung zusammen, wenn auch intern mit unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Punkte. Wien schlug vor, zur Beantwortung der preußischen Zurückweisung wie schon 1862 gegen Bernsdorff identische Noten abzufassen. Hierüber und zur Frage, mit welchen weiteren Schritten das Reformprojekt zu verwirklichen sei, sollten Ministerkonferenzen abgehalten werden, die dann Ende Oktober in Nürnberg zustande kamen. Hier traf sich nur mehr eine Minderheit der am Fürstentag versammelten Staaten, nämlich die Königreiche und einige Kleinstaaten. Rechberg und Biegeleben traten nunmehr mit dem schon vorbereiteten Projekt eines Sonderbundes hervor, aber niemand mochte das Wagnis eingehen, auf diese Weise den (höchst unwahrscheinlichen) späteren Anschluss Preußens zu erzwingen. Auch an identischen Noten mochte man sich gar nicht bzw. nur dann einlassen, wenn sich die in Nürnberg Abwesenden beteiligen würden, was ebenfalls zurückgewiesen wurde. So kam man überein, dass jede der anwesenden Regierungen die Ablehnung der preußischen Präjudizialpunkte eigenständig vornehmen sollte. Dies geschah in den nächsten Wochen, wobei Bismarck höchst unterschiedliche Akzentsetzungen wahrnehmen konnte, die ihm zeigten, dass keine feste Front gegen Preußen bestand.64 Auf der europäischen Bühne hatten sich zu dieser Zeit Bismarck und Rechberg bereits auf ein gemeinsames Vorgehen im Schleswig-Holstein-Konflikt verständigt, die die Frage der Bundesreform auch in der Öffentlichkeit vollkommen überlagerte und dazu beitrug, dass das Projekt versandete. 62 Schreiben Kg. Wilhelms an K. Franz Joseph, 22.9.1863, in  : Müller, op. cit., S. 471 f. 63 Die einzelstaatlichen Positionen, darunter insbes. Beust, bei Wehner [Anm. 8], S. 329–349. 64 Wehner [Anm. 8], S. 352–392. Zur Frage identischer Noten bei Müller [Anm. 29] folgende Dokumente  : Zirkulardepesche Rechbergs vom 8.10., S. 511–518, Bericht Platen-Hallermunds an Kg. Georg über die Nürnberger Sitzungen, 24.10., S. 535–541.

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Die Reformakte  : Analyse und kontrafaktische Erwägungen Betrachten wir jetzt den Reformentwurf losgelöst von den Umständen seines Scheiterns. Dabei sollen seine Erfolgschancen auf Grundlage der Unterstellung abgeschätzt werden, dass mit Preußen ein Kompromiss über die Präjudizialpunkte gefunden und der Entwurf – wie bundesrechtlich zwingend – einstimmig verabschiedet wurde. Die Analyse seiner einzelnen Elemente soll daher in einer Verschränkung mit kontrafaktischen Erwägungen vorangehen. Die Akte65 suchte den Staatenbund auf der Grundlage seiner bisherigen Verfassung weiter entwickeln und ihm durch die Ausweitung seines Zwecks und seiner Institutionen ein Element ›nationaler‹ Integration einzufügen. Neben die Ausweitung des traditionellen Sicherheitszwecks hin zur »Machtstellung Deutschlands nach außen« trat jetzt die Wohlfahrt »der deutschen Nation« durch eine darauf bezogene Bundesgesetzgebung sowie durch die Förderung einzelstaatlicher Parallel-Gesetzgebung von Bundeswegen. Der alte »Bundestag« (Engerer Rat) blieb mit einer Verstärkung von 17 auf 21 Stimmen66 als Bundesrat erhalten. Darüber wölbte sich ein Bundesdirektorium als kollektiver Träger der Bundeszentralgewalt. Seine sechs Mitglieder bestanden aus den ständigen Bevollmächtigten der Monarchen Österreichs, Preußens und Bayerns, jährlich wechselnden Vertretern der Könige von Sachsen, Hannover und Württemberg, einem alle drei Jahre zu wählenden Vertreter der mittleren und einem der kleinen Fürstentümer und der Freien Städte. In beiden Gremien übte Österreich bei Stellvertretung durch Preußen den Vorsitz  ; für die Beschlussfassung galt die einfache Mehrheit, für bestimmte, später zu erörternde Fälle im Bundesrat auch die qualifizierte Mehrheit. Zur Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung und Budgetfestsetzung mit Zustimmungsrecht war eine Abgeordnetenversammlung vorgesehen, die alle drei Jahre zusammenzutreten hatte  ; sie bestand aus 302 Delegierten der Einzellandtage, wobei auf die bundeszugehörigen Territorien Österreichs und Preußens mit je 75 knapp die Hälfte entfiel  ; die übrigen Länder folgten in grober Abstufung nach ihrer Größe. Komplementär zum Parlament sollte gleichzeitig eine Fürstenversammlung tagen, die die Bundesgesetze sanktionierte und die Vorstellungen und Beschwerden der Abgeordnetenversammlung behandelte. Schließlich sollte ein Bundesgerichtshof geschaffen werden.

65 Druck bei Huber, Verfassungsdokumente, Bd.  2 [Anm.  29], S.  124–136  ; jetzt auch bei Müller, 2017 [Anm. 29], S. 439–456, dort auch Hinweis auf die zeitgenössischen Veröffentlichungen. 66 Österreich und Preußen sollten jetzt je drei Stimmen führen.

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Das Bundesdirektorium hatte die vollziehende Gewalt des Bundes inne. Das hieß im Außenverhältnis  : völkerrechtliche Vertretung, passives und aktives Gesandtschaftsrecht sowie Kriegserklärungen des Bundes, dann (zusammen mit dem Bundesrat) Abschluss von Verträgen und Friedensschluss. Im Binnenverhältnis hatte das Direktorium die ausschließliche Verfügung über die Bundesexekution nach Maßgabe der alten Bundesexekutions- und -interventionsordnung  ; im Militärwesen oblag ihm die Durchführung der weiter geltenden Bundeskriegsverfassung. Zur Erfüllung seiner Aufgaben sollte das Direktorium sich zur bestehenden Militärkommission weitere Kommissionen für Inneres, Justiz, Finanzen, Handel und Verkehr unterstellen, also den Nukleus einer ressortgegliederten Bundesverwaltung schaffen. Preußen forderte wie schon 1851 die paritätische Bundesleitung. Hiergegen wehrte sich, wie wir sahen, Österreich nach wie vor vehement, obwohl zugleich stets betont wurde, dass es sich bei dem traditionellen Ehrenrecht lediglich um Geschäftsführung ohne eigentliche Macht handele. Ein Ausweg wäre vielleicht gewesen, Preußen mit der Leitung des Bundesrates zu betrauen, was allerdings dessen Aufwertung erfordert hätte. Ein solcher Schritt war angesichts dieses nach der Reformakte sehr schwachen Gremiums ohnehin geboten, wenn die gesamte Konstruktion in sich schlüssig und haltbar sein sollte. Schließlich reprä­ sentierte der Bundesrat mit seinen Viril- und Kuriatstimmen weit eher als das Direktorium die deutschen Staaten in ihrer Gesamtheit und wäre berufen gewesen, das Direktorium effektiv zu kontrollieren. Hierzu hätte, nach einem Vorschlag Robert v. Mohls,67 das Direktorium seine Instruktionen vom Bundesrat erhalten müssen und nicht wie vorgesehen seine Mitglieder direkt von den beteiligten Regierungen. Nach der Reformakte wären die entscheidenden Machtbefugnisse auf das Direktorium übergegangen. Allein das Direktorium handhabte den inneren Not­stand, also jenen Bereich, der seit 1819/20 stets als die Hauptfunktion des Bundes gegolten hatte.68 In der Außenpolitik war die Kompetenz des Direkto­ 67 Der bekannte Heidelberger Staatsrechtler war 1861–66 badischer Bundestagsgesandter und hatte Großerzog Friedrichs Auftreten in der Fürstenversammlung mit seiner Expertise gestützt. [Vgl. Anm. 43]. Unmittelbar nach deren Abschluss veröffentlichte er (anonym)  : Rechtliche und politische Erörterungen über die Bundesreformakte, 1863. Zum Bundesrat a.a.O., S. 35, 42 f. Zu Mohl immer noch Erich Angermann  : Robert von Mohl 1799–1875. Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, Neuwied 1962  ; darin S. 87–91 kritisch zum österreichischen Projekt, sehr scharf aber auch gegen Bismarck (»besoffener Corpsbursch«, »brutale Konfliktpolitik«), und später, passim, kritisch zu 1866 und 1870/71. 68 Die Befugnisse hierzu waren durch die Fürstenversammlung wieder auf die Bestimmungen der

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riums in gewissen Fragen an die Zustimmung des Bundesrates gebunden  : Verträge bedurften der Ratifikation mit einfacher Mehrheit, Friedensschlüsse der Zustimmung mit Zweidrittelmehrheit. Entsprechend der Bundeskriegsver­fas­ sung trat bei Angriff auf das Bundesgebiet der Kriegszustand unmittelbar ein, in diesem Fall lag die Handlungsvollmacht beim Direktorium. Bei Kriegen außerhalb des Bundes sowie speziell zum Schutz nichtbundeszugehöriger Besit­ zungen von Mitgliedern hing der Ermessensspielraum der Kriegsverfassung nunmehr an der Zustimmung des Bundesrats mit Zweidrittelmehrheit. Diese Regelung ersetzte die bundesrechtliche Bestimmung nach Artikel 47 der Wiener Schlussakte, wonach eine Beistandspflicht des Bundes dann gegeben war, wenn – gemäß der Feststellung einer Mehrheit des Bundestages – eine Gefahr auch für das Bundesgebiet gegeben war. Das neue Verfahren war ein Produkt der Erfahrungen, die Österreich im italienischen Krieg von 1859 mit dem Hinauszögern der preußischen Militärhilfe gemacht hatte, das damals eine Sprengung der Kriegsverfassung des Bundes zugunsten Preußens anstrebte.69 Auch 1863 forderte Preußen in den Präjudizialpunkten ein Vetorecht für den Fall, dass das Bundesgebiet selbst nicht angegriffen würde, faktisch also, dass es ­zugunsten ­einer Unterstützung Österreichs in seinen bundesfremden Provinzen mit Hilfe der Mittelstaaten überstimmt werden könnte. Nachvollziehbar daran ist immerhin, dass Preußen militärisch dabei die Hauptlast der Hilfe hätte tragen müssen. Mit dem Veto sprengte es jedoch den föderativen Grundgedanken des Deutschen Bundes grundsätzlich. Im Rahmen der bundesrechtlichen Verfahren hätte Preußen nunmehr seine Position vertreten müssen und für eine Weigerung werben können. Bei der Hürde einer Zweidrittel-Mehrheit wäre es ihm zweifellos gelungen, einen positiven Beschluss zu verhindern, also im Bundesrat zu den drei eigenen fünf weitere von 21 Stimmen auf seine Seite zu ziehen. So war es Bis­marck als Bundesgesandten im Krimkrieg 1854/55 immerhin gelungen, am Ende die österreichischen Forderungen nach Bundes-Gefolgschaft abzuwehren und eine Neutralitätserklärung durchzusetzen. Im italienischen Krieg von 1859 war die Gesamtsituation für Preußen zweifellos brisanter  ; 1863 jedoch war der letztverbliebene Fall der Besitz Venetiens mit dem Festungsviereck, was nach dem Verlust der Lombardei und der Sekundogenituren kaum noch zu halten war. Im Vorfeld des Krieges von 1866 wurde diese Provinz, freilich in einem völlig Wiener Schlussakte (Artikel 25–28) zurückgestutzt worden  : Hilfeersuchen bzw. Zustimmung der Regierungen, [vgl. Anm. 49]. 69 Dieser vielfach behandelte Komplex kann hier nicht noch einmal nachvollzogen werden. Zu den Folgen für die Bundesreformdiskussion zuletzt Müller, 2005 [Anm. 1], S. 276–347 passim.

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neuen Kontext, ja auch zur Disposition gestellt. Ein weiterer möglicher Brennpunkt österreichischer Interessenkonflikte, der Balkan, soll hier nicht behandelt werden  ; wie schon im Krimkrieg berührte er das Bundesinteresse nicht.70 Vom deutschen Volk verlangte der Bestand des Deutschen Bundes schon immer die Anerkennung des von der geschichtlichen Situation her erzwungenen Verzichts auf den nationalen Machtstaat. Als Kompensation bot der Reformentwurf nunmehr erstmals den fortschritts- und integrationsorientierten gesellschaftlichen Kräften die Anerkennung der nationalen Wohlfahrt als Bundeszweck sowie eine Ausweitung der Bundesgesetzgebung unter Mitentscheidung einer Vertretungskörperschaft nach dem Modell der konstitutionellen Monarchie. Deren Konstruktion als Delegiertenparlament entsprach übrigens dem soeben in Österreich eingeführten Modell des Februarpatents. Ein unitarisches, auf unmittelbarer Volkswahl beruhendes Parlament war mit der staatenbündischen Struktur des Bundes kaum vereinbar, für das auch in seinen bundeszugehörigen Teilen multiethnische Österreich war es untragbar. Positiv gewendet entsprach das Delegiertenparlament sehr wohl der staatenbündischen Bundesstruktur  ; es vermittelte in der Person der Abgeordneten die partikularstaatlichen Interessen mit den Gesamtinteressen. Zugleich sollte mit dieser Konstruktion eine Brücke zur fortgeltenden Legislativkompetenz der Einzellandtage geschlagen werden. Der Grundsatz der Weisungsfreiheit sollte aus den Delegierten echte Abgeordnete machen. Die Forderung des dritten preußischen »Präjudizialpunkts« nach einem unmittelbar vom Volk gewählten Parlament war für Bismarck zu diesem Zeitpunkt ein rein taktischer populistischer Ablehnungsgrund, der allerdings bereits auf seine spätere Indienstnahme der kleindeutschen Nationalbewegung vor­ ausweist. Sie wurde in der Fürstenversammlung fast einhellig abgelehnt, schon wegen der Unvereinbarkeit mit den Wahlrechten der einzelstaatlichen Kammern, aber vor allem wegen der impliziten Tendenz, damit vom Staatenbund zum Bundesstaat voranzuschreiten. Der Großherzog von Baden forderte, wie wir sahen, vehement direkte Wahlen. Sein Ratgeber v. Mohl hatte dazu ein eher ambivalentes Verhältnis und bot eigenartige Kompromissvorschläge an.71 70 Auch der Zweibund von 1879 diente für Bismarck bekanntlich dem Zweck, Österreich-Ungarn defensiv zu schützen und zugleich zu fesseln, also von Konflikten mit Russland abzuhalten. 71 Einerseits befand er, Delegierung verhindere gleichzeitigen Wahlkampf in allen Staaten mit der unerwünschten Entfesselung politischer Leidenschaften  : man dürfe die Wahlen nicht den Demokraten überlassen. Andererseits sah er die delegierten Abgeordneten in ungünstiger Zwischenstellung zwischen Landespolitik und Bundespolitik, zumal wenn sie dabei in unterschiedlichen Oppositionskonstellationen standen. (Offensichtlich ging Mohl von klassischer parlamentarischer Arbeit mit Fraktionsbildung aus.) So wünschte er dann anderer Stelle für den Bund ein Zweikam-

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Insgesamt war die Konstruktion des Reformentwurfs freilich darauf angelegt, die Entwicklung parlamentarischer Macht zu verhindern. Das beginnt schon mit dem dreijährigen Rhythmus der Einberufung. Die Forderung, ein Drittel der Delegierten den jeweils Ersten Kammern zu entnehmen, eröffnete den dahinter stehenden Regierungen große Einflussmöglichkeiten, da dort auch ernannte Mitglieder saßen. Das Budgetrecht blieb durch die Einfügung der Lückentheo­rie nach preußischem Muster zahnlos. Vor allem blieb die legislative K ­ ompetenz des Bundes eng begrenzt. Sie orientierte sich sehr stark an den bisherigen Bundes­ aktivitäten, z. B. im Presse- und Vereinswesen. Wichtige Materien wie die klassischen Rechtskodifikationen fehlten  ; die wirtschaftspolitischen Kompetenzen blieben vage. Das waren von vornherein gravierende Defizite. Klassisches parlamentarisches Leben im Sinne politischer Profilierung hätte sich kaum entfaltet, und dies dürfte auch so gewollt worden sein. Eine Ausweitung der legislativen Parlamentsarbeit war zweifellos geboten. Dazu wären Änderungen der neuen Bundesakte erforderlich gewesen, und dies hatte die Fürstenversammlung mit dem Erfordernis der Einstimmigkeit bis zur faktischen Unmöglichkeit verschärft. Nun sah der verabschiedete Entwurf vor, dass das Direktorium mit Zustimmung des Bundesrates über den Dreijahres-­ Rhythmus hinaus auch Sondersitzungen anberaumen konnte. Daraus hätte man eine fallweise itio in partes analog dem weiteren und engeren Reichsrat in Wien entwickeln, also die nichtösterreichischen Abgeordneten zur Behandlung g­ enuin deutscher Fragen einberufen können. Eine derartige partielle Differenzierung hätte dem Bundesverhältnis im Ganzen insofern kaum geschadet, als die Einbe­ rufung auch außerordentlicher Versammlungen in der Hand von Direktorium und Bundesrat blieb. Der parallel zur Bundesversammlung einzuberufende Fürstentag blieb dem Reformentwurf erhalten – trotz aller vom konstitutionellen Standpunkt erhobenen berechtigten Einwände.72 Wahrscheinlich wäre – so Ernst Rudolf Huber – aus dieser Versammlung ein lediglich festlich-dekoratives Element geworden.73 Insgesamt wäre mit dieser komplizierten mehrgliedrigen Bundeskonstruktion ein relativ fragiles Gebilde entstanden, das der sorgsamen Pflege durch die beteiligten Regierungen unter Verzicht auf solche Rivalitäten erfordert hätte, die merparlament (Abgeordnetenhaus und Staatenhaus) und Direktwahlen für das Erstere, wobei für Österreich ein besonderes Wahlverfahren einzuführen sei. Mohl, 1863 [Anm. 67], S. 54–70. 72 Zur Kritik Friedrichs von Baden vgl. oben Anm.  55. Noch schärfer sein Mentor Mohl, 1863 [Anm. 67], S. 47–53. 73 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 1978 [Anm. 28], S. 431.

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die Grundlagen des Bundes infrage gestellt hätten. Legt man die Erfahrung aus den Debatten der Fürstenversammlung mit dem dort erkennbaren gesteigerten Souveränitätsbewusstsein als Maßstab an, so kann die Prognose nicht eben günstig ausfallen.74 Reformentwurf und Fürstentag in der öffentlichen Meinung Der Fürstentag und sein Ergebnis wurden in der politisierten Öffentlichkeit lebhaft kommentiert. Als erste Vereinigung wurde der Deutsche Abgeordnetentag75 damit konfrontiert. Die Zeitgleichheit der Tagung (21.–22. August) konnte bei der Planung ein Jahr zuvor nicht vorhergesehen werden. Die Debatten zum Reformentwurf mussten zudem berücksichtigen, dass der Fürstentag sich noch mitten in seiner Arbeit befand. Dieser Aufgabe unterzog sich der Heidelberger Historiker Ludwig Häusser76 als Leiter, der ein Vertrauter Großherzog Friedrichs war und darauf achtete, dass dessen Auftreten am Fürstentag nicht durch allzu schroffe Manifestationen belastet wurde. Die Mitglieder des Abgeordnetentages, durch Einladung ausgewählte aktuelle und ehemalige Abgeordnete ohne förmliche Beauftragung, waren durchweg Liberale, aber nicht immer Mitglieder des Nationalvereins. Aus dieser Situation ergab sich eine partiell durchaus kontroverse Diskussion, die von Häussers Vorgabe intoniert wurde, bei aller Kritik doch auch den Fürsten entgegen zu kommen. Unter den Opponenten tat sich besonders der alte Karl Theodor Welcker hervor, der mit anderen kompromisslos an der Paulskirchen-Verfassung festhalten wollte. Gegen solchen Dogmatismus wandten sich neben süddeutschen Liberalen (Hölder / Stuttgart, Völk / Augsburg) auch Fortschrittler wie Hermann Schulze-Delitzsch. Häusser brachte am Ende seinen Resolutionsentwurf einstimmig durch unter der Devise, man möge die Fürsten nicht einfach zurückweisen und ihr Ergebnis abwarten. Die Resolution bewertete Österreichs Initiative als Zeugnis für die Reformbedürftigkeit des Bundes, hielt aber am Recht des deutschen Volkes auf eine seiner würdige Verfassung fest, was 74 Dazu die Schlussbemerkungen am Ende dieser Abhandlung. 75 Entstehung und Profil des Abgeordnetentages bei Biefang, 1994 [Anm.  12], S.  221–247. Den zweiten Abgeordnetentag behandelt ausführlich ders., a.a.O., S.  280–287  ; ferner Wehner, 1993 [Anm. 8], S. 393–403. 76 Häusser gehörte wie Georg Gottfried Gervinus, Robert v. Mohl und Julius Jolly zur liberalen Professorengruppe der Universität Heidelberg  ; zum weiteren Umfeld zählten der in Heidelberg im Ruhestand lebende Karl Theodor Welcker, ferner Publizisten wie August Ludwig v. Rochau oder Karl Mathy.

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von weiterem Entgegenkommen der Fürsten abhänge. Volle Befriedigung könne nur eine bundesstaatliche Einheit, wie sie rechtlich 1849 zustande gekommen sei, bieten, doch sei der Abgeordnetentag angesichts der aktuellen innen- und außenpolitischen Krisen nicht in der Lage, sich zu Österreichs Entwurf lediglich verneinend zu verhalten. Im Einzelnen sei gegenüber der Akte ein gewähltes Parlament, die Gleichberechtigung beider Großmächte und statt eines einseitigen Vorgehens der Regierungen die Zustimmung einer Nationalversammlung erforderlich.77 Nationalverein und Reformverein versammelten sich erst im Oktober 1863 und positionierten sich eindeutiger. Der Nationalverein war mit seiner Propagierung eines preußisch geführten Bundesstaates seit der Berufung Bismarcks und der Verschärfung des Verfassungskonflikts in Schwierigkeiten geraten, denen er sich schon im Oktober 1862 dadurch entzog, dass er die Frage eines Oberhauptes offen halten wollte und die Parole ›Freiheit vor Einheit‹ in den Vordergrund schob. In jedem Fall wurde 1863 die Reformakte abgelehnt. Jedoch war es während der Vorbereitung eines Resolutionsentwurfs auch hier (wie beim Abgeordnetentag) zu Diskussionen darüber gekommen, ob man nicht einen Weg zur Verständigung mit den Fürsten offen halten und Prinzipienreiterei vermeiden sollte. Eine Verständigung Österreichs und Preußens böte immerhin die Aussicht auf schrittweise Verbesserung in Richtung auf eine bundesstaatliche Verfassung. Bei der Schlussabstimmung setzte sich jedoch die überwältigende Mehrheit durch  : keine Verhandlungen mit den Fürsten, keine Abschlagszahlungen  !78 Die Resolution stellte fest, die Reformakte genüge in keiner Weise den Ansprüchen der Nation auf Einheit und Freiheit  ; sie verstärke den Einfluss Österreichs und den Partikularismus der Königreiche auf Kosten Preußens, gefährde sogar die freiheitliche Entwicklung in den Einzelstaaten und biete mit ihrer Souveränitätsgarantie keinen Weg zum Bundesstaat. Nicht minder ungeeignet seien die preußischen Gegenvorschläge, wenn sie von einer solchen Regierung überhaupt ernst gemeint sein könnten. Am Rechtsboden der Nation, der Reichsverfassung und des Entscheidungsrechts eines freigewählten Parlaments sei festzuhalten.79 Im Gegensatz dazu erblickte der Deutsche Reformverein80 in der Reformakte auf seiner Jahresversammlung vom 77 Druck der Resolution bei Huber, Dokumente, Bd. 2 [Anm. 29], S. 122 f. Sie zeigt, dass der Abgeordnetentag bei aller Konzilianz im Kern doch auf dem Bundesstaat mit direkt gewähltem Parlament bestand. 78 Zur Tagung des Nationalvereins Biefang, 1994 [Anm. 12], S. 294–296  ; auch Wehner, 1993 [Anm. 8], S. 408–410. 79 Text bei Huber, Dokumente, Bd. 2 [Anm. 29], S. 137 f. 80 Zur Gründung und Mitgliederwerbung Real, Reformverein, 1966 [Anm. 12], S.25–48, zur Bildung von Lokalvereinen S. 77–117.

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28. Oktober 1863 eine geeignete Grundlage als Bundesverfassung. Inhaltlich hatte man sich schon 1862 – anlässlich des von Österreich am Bund lancierten Delegiertenprojekts – mit der Notwendigkeit einer Bundesreform mit einer nationalen Vertretung beschäftigt, wobei damals noch heftige Auseinandersetzungen über die Repräsentation (direkte Wahl vs. Delegation) stattgefunden hatten.81 Nunmehr, 1863, stellte man sich – manche resignierend – auf den Boden der beschlossenen Reformakte, verlangte jedoch Verbesserungen  : Wiederherstellung des unverkürzten Budgetrechts sowie des Mehrheitsprinzips für Verfassungsänderungen, eine zwei- statt dreijährige Versammlungsperiode für die Abgeordneten-Versammlung. So wurde die Resolution einstimmig verabschiedet.82 Auch in den Einzelstaaten wurden die Reaktionen der politisierten Öffentlichkeit in hohem Maße von Nationalverein und Reformverein bestimmt, wobei dem Nationalverein mit den ihm verbundenen Fortschrittsparteien seine straffere Organisation zugutekam. Im Preußen des Verfassungskonflikts wurde Bis­ marcks Konfliktkurs wie auch sein Verfahren gegenüber dem Fürstentag von den Konservativen und ihrer Presse selbstverständlich unterstützt. Die Fortschrittler unterlagen dem Druck der Presseordonnanzen vom Juli 1863 mit ihren Zensur­bestimmungen, doch wurde dies durch den Import der »Wochenschrift« des Nationalvereins etwas kompensiert. Bismarck hatte sich von seinen gegen die Fürstenversammlung gerichteten Forderungen, insbesondere nach direkten Wahlen, innenpolitische Effekte erhofft und das Abgeordnetenhaus im September auflösen lassen, jedoch bei den Wahlen eine neuerliche Niederlage erfahren. Die Fortschrittspartei, die die Bundesreform selbstverständlich ablehnte, erklärte nunmehr die Beseitigung des Regimes Bismarck zum vorrangigen Ziel.83 Auf der anderen Seite hatte der Reformverein nicht einmal im katholischen Rheinpreußen eine Chance zur Lokalvereinsgründung  ; die führenden Politiker versagten sich aus Furcht vor Repressalien jeder Beteiligung, obwohl dort die großdeutschen Sympathien stark waren.84 81 Zur Versammlung von 1862 Real, 1966, op. cit., S. 38–48. 82 Zur Versammlung von 1863 Real, 1966, op. cit., S. 162–170  ; auch Wehner, 1993 [Anm. 8], S. 410– 414. Text der Resolution bei Huber, Dokumente, Bd. 2 [Anm. 29], S. 138. 83 Zu den Verhältnissen in Preußen insgesamt Schöps, 1970, [Anm. 42], Kapitel II  : Der Frankfurter Fürstentag und die öffentliche Meinung in Preußen, S. 57–87  ; zur Reaktion der Konservativen und Liberalen in Preußen S.  69–78. Zur Verknüpfung von Verfassungskonflikt und nationaler Politik bei den Fortschrittlern  : Heinrich August Winkler, Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei 1861–1866, Tübingen 1964, S.  16–33 passim, zum deutschen Dualismus speziell S.  67–90. (Der Fürstentag wird bei Winkler nicht erwähnt.) 84 Real, Reformverein, 1966 [Anm. 12], S. 81–83.

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Auch sonst spielte in der Frage ›Großdeutsch-Kleindeutsch‹ die konfessionelle Differenz eine erhebliche Rolle, so insbesondere im zu zwei Dritteln katholischen Baden, wo die liberale Regierung sich anschickte, den Kulturkampf zu eröffnen und damit die Formierung des politischen Katholizismus zu provozieren. Vor allem im Süden waren daher die Aktivitäten des Reformvereins lebhaft. Die liberalen Honoratioren favorisierten, zumeist ohne dem Nationalverein anzugehören, mit der Regierung die preußische Lösung des Bundesstaates nach der Entmachtung Bismarcks.85 Auch in Württemberg gedieh der Reformverein im katholischen Landesteil, wo sich ebenfalls Konfession und großdeutscher Gedanke verbanden.86 Bei den Liberalen, die sich mit den Demokraten 1859 zur »Fortschrittspartei« formiert hatten, waren die Vorbehalte zum Nationalverein wegen seines propreußischen Kurses zunächst groß und schwanden vor 1864 auch niemals gänzlich. Die Bundesreformpolitik Österreichs wurde dann freilich abgelehnt. Erst die Abspaltung der radikalen und preußenfeindlichen Demokraten machte in der »Deutschen Partei« den Weg zur Anerkennung der kleindeutschen Lösung frei, wobei die Zollvereinsfrage eine erhebliche Rolle spielte.87 Auch im Wirtschaftsbürgertum Sachsens überwog die Sorge um den Erhalt des Zollvereins  ; davon wurde die Parlamentspolitik der Altliberalen bestimmt. Der Reformverein blieb auf schmale adelige Kreise beschränkt. Die Demokraten und Linksliberalen, auch vom Nationalverein, entfalteten lebhafte, aber organisatorisch unkoordinierte Aktivitäten. Der Fürstentag spielte bei allen Diskussionen kaum eine Rolle.88 Anders war die Situation im Königreich Hannover, wo der Nationalverein dank der Aktivitäten Rudolf v. Bennigsens und Johannes Miquels eine starke Position hatte. Beide waren Mitbegründer des Vereins, wobei Bennigsen als sein Vorsitzender und zugleich Führer der liberalen Opposition in der Ständeversammlung das kleindeutsche Programm trotz zeitweiliger taktischer Zurückhaltung nicht 85 Zum Reformverein Real, op. cit, S. 109–112. Die badische Innenpolitik ausführlich bei Gall, 1968, [Anm. 43], S. 171–203  ; zur öffentlichen Unterstützung des Auftretens Großherzog Friedrichs auf dem Fürstentag durch die Liberalen a.a.O., S. 241 f. 86 Zum Reformverein Real, 1966 [Anm. 12], S. 104–109. 87 Zur liberalen Parteientwicklung, auch mit Blick auf die deutsche Frage, Hartwig Brandt, Parlamentarismus in Württemberg 1819–1870, Düsseldorf 1987, S. 689–708. 88 Knapp Real, 1966 [Anm. 12], S. 83–86. Andreas Neemann, Landtag und Politik in der Reaktionszeit. Sachsen 1849/50–1866, Düsseldorf 2000  ; darin zum Zollverein S. 414–429  ; kleindeutsche Nationalbewegung und Bundesreformbestrebungen, S. 446–455  ; politische Organisationen, S. 456–464.

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aus den Augen verlor.89 Auf konservativer Seite stellte sich ihm seit 1862 mit der Gründung des vom König geförderten »Georgs-Verein« entgegen, der sich rasch in den Großdeutschen Verein verwandelte und in der Verbindung von partikularistisch-dynastischer Tradition mit großdeutschen Zielen im ganzen Land eine große Anhängerschaft fand und erhebliche Aktivitäten entwickelte.90 In Bayern waren die Voraussetzungen für die Gründung von Reformvereinen günstig. Die Führer der parlamentarischen ›Mittelpartei‹, Gustav v. Lerchenfeld und Friedrich Graf v. Hegnenberg-Dux, gründeten 1862 in Frankfurt den Reformverein, während zusätzlich der Staatsrechtler Ludwig Weis einen Münchner Verein bildete. Weitere bayerische Vereine folgten  ; unter ihnen war besonders der Würzburger mit großer Anhängerschaft aktiv. Der Münchner und die oberbayerischen Vereine nahmen aber bald eine Sonderentwicklung, da sie sich in Distanzierung von Frankfurt vorrangig mit innerbayerischen Themen befassten und den traditionellen Partikularismus pflegten. Mit dem Scheitern des österreichischen Reformprojekt verloren sich hier die Aktivitäten insgesamt. Der Nationalverein hatte neben der Münchner Presse seine Stütze v. a. im protestantischen Franken. Die erst 1863 gegründete bayerische Fortschrittspartei war wie der Nationalverein durch die Berufung Bismarcks stark verunsichert und hielt sich bei aller Ablehnung der österreichischen Reformvorschläge in der deutschen Führungsfrage lange zurück. die teils großdeutschen Pfälzer Demokraten hielten sich ohnehin abseits.91 In Österreich hatte der Reformverein, der doch zu seiner Verteidigung gegründet wurde, nur wenige Anhänger. Zugleich lehnten die ›Unionisten‹ und die großösterreichische Fraktion der den Reichsrat dominierenden liberalen Verfassungspartei den Reformentwurf ab, da er mit der (am Gesamtstaat einschließlich Ungarns festhaltenden) Februarverfassung nicht in Einklang zu bringen sei.92 Hingegen standen ihre Steirischen »Autonomisten« dem Großdeutschtum 89 Die ältere Literatur zu den Hannoveranern Bennigsen und Miquel stellt mehr auf ihre Rolle im Nationalverein als im Kgr. Hannover ab. Hermann Oncken, Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker, 2 Bde. Stuttgart 1910  ; zum Fürstentag Bd. 1, S. 597–612. Wilhelm Mommsen, Johannes Miquel, Bd.  1 (1828–1866), Stuttgart 1928 [mehr nicht ersch.]  ; zum Fürstentag S. 597–612. Beide Arbeiten wegen des umfangreichen Abdrucks von Briefzeugnissen noch immer wichtig. 90 Ausführlich Real, 1966 [Anm. 12], S. 88–95. 91 Zu Bayern ausführlich Real, 1966, op. cit., S. 99–104, S. 142. Zum Fortschritt in Bayern immer noch sehr detailliert und nuanciert Theodor Schieder, Die kleindeutsche Partei in Bayern, München 1936, hier die Übersicht ›Vorgeschichte und Anfänge‹, S. 1–40  ; zu Zollverein und Reformfrage S. 26–37. 92 Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, 8 Bde., Ndr. Graz 1972, hier Bd.  1,

Der österreichische Reformplan für den Deutschen Bund von 1863 

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aufgeschlossener gegenüber, auch langfristig.93 Erneut erweist sich daran, dass die Reforminitiative von Kaiser und Regierung die entscheidenden (deutsch-österreichischen) politischen Kräfte Cisleithaniens nicht hinter sich versammeln konnte. Kritisches Resümee Der Streifzug durch die öffentliche Meinung mit ihren Parteien hat die ganze Vielfalt der unterschiedlichen Einstellungen zur Frage Großdeutsch oder Kleindeutsch gezeigt, wobei durchaus ein landsmannschaftlich vermitteltes föderatives Nationalgefühl zur Geltung kam. Maßgebend für einen Erfolg der Reformakte von 1863 war aber ausschließlich die Haltung der Fürsten und ihrer Regierungen. Wäre die österreichische Reformakte unter Preußens Beteiligung erfolgreich umzusetzen gewesen  ? Die Struktur der politischen Kräfte im Bund wäre dabei selbstverständlich nicht verändert worden. Wie schon 1851 zeigte sich 1863 abermals, dass das Bestreben Franz Josephs, die österreichische Führung im Bund mithilfe der Mittelstaaten zu sichern und damit den Bund machtpolitisch in die österreichischen Sicherheitsbedürfnisse einzubinden, nicht gelang. Eine Bundeshilfe wäre bei der Konstruktion der Führungsorgane  – wie wir sahen  – auch ohne Vetorecht nur äußerst schwer zu erreichen gewesen, wenn Preußen bremste. Im Grunde war diese Konstellation vom Krimkrieg bis zum Zweibund konstant. Nun waren gerade auch innerhalb Österreichs selbst – wie wir sahen – die bundespolitischen Bemühungen des Kaisers durch die maßgeblichen politischen Kräfte nicht gedeckt. Die Integrationsbedürfnisse Österreichs und Deutschlands verhielten sich eben komplementär zueinander. Freilich ist auch innerösterreichisch eine erfolgreiche politische Integration des Vielvölkerreiches während seines Bestandes niemals gelungen. Die historiographisch beschworene »Chance für Mitteleuropa« jagt m. E. einem Phantom nach. Bezogen auf Deutschland bedarf das Bild einer »föderativen Nation« jedoch ebenfalls der Korrektur, da die Maximen von ›Föderalismus‹ und ›Partikularismus‹ unter den Prämissen des ›Monarchischen Prinzips‹ aufs engste verschränkt S. 147. 93 Berthold Sutter, Die politische und rechtliche Stellung der Deutschen in Österreich 1848 bis 1918, in  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, III/1  : Die Völker des Reiches, Wien 1980, S. 154–339, hier S. 184–188.

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waren. Auch die Reformakte von 1863 war auf Souveränitätswahrung und enge Begrenzung der neuen Bundeskompetenzen, erst recht der parlamentarischen Partizipation angelegt. Das Auftreten der Monarchen in Frankfurt kann einen Eindruck von ihrem Selbstverständnis als Souveräne vermitteln. Im hegemonialen Bundesstaat von 1867/71 war diese Souveränität zwar (zugunsten des preußischen Königs) gebrochen  ; die enge Verknüpfung von Reichsleitung und der Regierung des preußisches Staates verbietet es jedoch erst recht, von einer echten Föderation zu sprechen. Immerhin wurde mit dem Reichstag eine Institution nationaler Partizipation geschaffen. Aber erst die Beseitigung der Monarchen eröffnete die Chance einer von der Nation getragenen Föderation, die freilich erst 1949/90 mit der Verselbständigung der preußischen Provinzen vollendet wurde. Der Begriff und das historiographische Konzept einer »föderativen Nation« sollte für das 19. Jahrhundert, um das es in diesem Beitrag geht, doch wohl diese »Nation« – in partizipatorischer Absicht – einschließen.

Erstveröffentlichungen der Aufsätze Parlamentarismus als staatliches Integrationsproblem  : Die Habsburger-Monarchie, in  : Adolf M. Birke und Kurt Kluxen (Hgg.), Deutscher und britischer Parlamentarismus, (= Prinz Albert Studien 3), München (K.G. Saur) 1985, S. 69–105. Public Finances of Neo-Absolutism in Austria in the 1850s  : Integration and Modernisation, in  : Peter C. Witt, (Hg.), Wealth and Taxation in Central Europe. The History and Sociology of Public Finance, Leamington Spa (Berg) 1987 (= German Historical Perspectives 2), S. 81–109. The Revolution of 1848 and the Problem of Central European Nationalities, in  : Hagen Schulze, (Hg.), Nation-Building in Central Europe, Leamington Spa (Berg) 1987 (=German Historical Perspectives 3), S. 107–134. Liberalismus in Österreich zwischen Revolution und großer Depression, in  : Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen (V.& R.) 1988 (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 79), S. 136–160. Kaiser Franz Joseph und die österreichische Außenpolitik von 1848 bis 1866  ; [verändert, ursprünglich u.d.T.:] Franz Joseph I. von Österreich, 1848–1916, in  : Anton Schindling und Walter Ziegler (Hgg.)  : Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland, München (Beck) 1990, S.  341–381 [Text], S. 496–499 [Lit.]. »Wurmstichiges Orlogschiff«  ? Bismarcks Einschätzung der Habsburgermonarchie. Vortrag, gehalten auf der Tagung »Bismarck und seine Zeit«, Berlin 27.–29.08.1990 [bislang unveröffentlicht]. Ungarn 1848 im europäischen Kontext  : Reform–Revolution–Rebellion. Ein Korreferat, in  : Karlheinz Mack (Hg.), Revolutionen in Ostmitteleuropa 1789–1989, Schwerpunkt Ungarn, Wien, München (Vlg. f. Geschichte und Politik, Oldenbourg) 1995 (= Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 23), S. 44–52. Das Wirtschaftsbürgertum Österreichs von den Anfängen der Industrialisierung bis 1848. In  : Karl Möckl (Hg.), Wirtschaftsbürgertum in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, München (Boldt/Oldenbourg) 1996 (= Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte / Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 21), S. 47–83. Von Bruck zu Naumann  : »Mitteleuropa« in der Zeit der Paulskirche und des Ersten Weltkrieges, in  : Michael Gehler und Rainer F. Schmidt (Hgg.), Ungleiche Partner  ? Öster­ reich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart (Steiner) 1996, S. 315–352. Deutsche Turnvereine in Prag 1861–1914, in  : Waic, Marek (Hg.)  : Česky a Nemci ve svete telovýchovné a sportu / Die Deutschen und Tschechen in der Welt des Turnens und des Sports, Prag (Nakladatelství Karolinum) 2004, S. 23–52 [čech.], 291–326 [dt.]. Deutsche Turnvereine in Brünn 1861–1914, in  : Waic, Marek (Hg.)  : Nemecké telový-

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Erstveröffentlichungen der Aufsätze

chovné a sportovni spolky v českých zemich a Československu / Deutsche Turn- und Sportvereine in den tschechischen Ländern und in der Tschechoslowakei, Prag (Nakla­ datelstvi Karolinum) 2008, S. 37–64 [čech.], S. 295–326 [dt.]. Die Wiener Rothschilds seit 1820 und die Gründung der Credit-Anstalt 1855, in  : Oliver Rathkolb, Theodor Venus, Ulrike Zimmerl (Hgg.), Bank Austria Creditanstalt. 150 Jahre österreichische Bankengeschichte im Zentrum Europas, Wien (P. Zsolnay/Hanser) 2005, S. 37–55. Der österreichische ›Staatsbankrott‹ von 1811 – Vorgeschichte und Folgen. Probleme der Kriegslastenbewältigung in einer schwach integrierten Monarchie, in  : Jürgen Kloosterhuis, Wolfgang Neugebauer (Hgg.)  : Krise, Reformen – und Finanzen. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806, Berlin (Dunker & Humblot) 2008 (= FBPG NF Beih. 9), S. 267–314. Verwaltung vor Verfassung. Zum historischen Ort des ›Neoabsolutismus‹ in der Geschichte Österreichs. Einleitung zu einem Tagungsband, in  : Harm-Hinrich Brandt (Hg.), Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, Wien (Böhlau) 2014 (= Veröff. d. Kommss. f. Neuere Geschichte Österreichs 108), S. 12–34 [dort u.d.T. Verwaltung als Verfassung – Verwaltung und Verfassung  ?]. Der österreichische Reformplan für den Deutschen Bund von 1863, in  : Dietmar Willoweit (Hg.)  : Föderalismus in Deutschland. Zu seiner wechselvollen Geschichte vom ostfränkischen Königtum bis zur Bundesrepublik, Wien (Böhlau) 2019, S. 237–269.