Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts: Akteure - Arenen - Aushandlungsprozesse 9783050088198, 9783050045627

Wie formierten sich die gesellschaftlichen Eliten des 19. Jahrhunderts? Auf welchen Wegen gelang es neuen Akteuren aufzu

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German Pages 294 [296] Year 2009

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Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts: Akteure - Arenen - Aushandlungsprozesse
 9783050088198, 9783050045627

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Karsten Holste, Dietlind Hüchtker, Michael G. Müller (Hg.) Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

ELITENWANDEL IN DER MODERNE Herausgegeben von Heinz Reif Band 10 Band 1 Heinz Reif (Hg.) Adel und Bürgertum in Deutschland I. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert Band 2 Heinz Reif (Hg.) Adel und Bürgertum in Deutschland II. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert Band 3 Rene Schiller Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert Band 4 Stephan Malinowski Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat Band 5 Wolfram G. Theilemann Adel im grünen Rock. Adliges Jägertum, Großprivatwaldbesitz und die preußische Forstbeamtenschaft 1866 - 1914 Band 7 Martin Kohlrausch Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie Band 9 Mathias Mesenhöller Ständische Modernisierung. Der kurländische Ritterschaftsadel 1760-1830

Karsten Holste, Dietlind Hüchtker, Michael G. Müller (Hg.)

AUFSTEIGEN UND OBENBLEIBEN IN EUROPÄISCHEN GESELLSCHAFTEN DES 1 9 . JAHRHUNDERTS Akteure - Arenen - Aushandlungsprozesse

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig

Abbildungen auf dem Einband: Zuckerfabrik Klein Wanzleben, Aquarell von Dr. v. Hünichen, 1863, Bördemuseum Ummendorf Skizze aus den Manualakten zum brandenburgischen Provinziallandtag 1824 des Landrates von Winterfeld auf Groß-Spiegelberg, Abgeordneter der uckermärkischen Ritterschaft, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam Rep 6 Β Prenzlau 2 (Landtagssachen)

ISBN 978-3-05-004562-7 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2009 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Jochen Baltzer Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

KARSTEN HOLSTE, DIETLIND HÜCHTKER, MICHAEL G. MÜLLER

Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure - Arenen - Aushandlungsprozesse

9

D A S STAATLICHE CLAUDIA KRAFT

Das „Staatlich-Administrative" als Feld von Aushandlungsprozessen zwischen alten und neuen polnischen Eliten Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts

21

BERNHARD SCHMITT

Der Militärdienst und die Neuformierung adliger Eliten in den habsburgischen und preußischen Teilungsgebieten 1772-1830

49

VICTOR KARADY

Elitenbildung im multiethnischen und multikonfessionellen Nationalstaat: Ungarn in der Doppelmonarchie 1867-1918

63

STEFANO PETRUNGARO

Die Verteidiger der Eliten. Das Gericht als Arena der Elitenvergesellschaftung in Kroatien-Slavonien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

83

6

Inhalt

D A S ÖKONOMISCHE ANDRÄS VÄRI

Der Verein, die Magnaten und die Experten. Der „Ungarische Landes-Wirtschaftsverein" 1821-1890

99

WITOLD MOLIK

Polnische Landwirtschaftsvereine im Großherzogtum Posen im 19. Jahrhundert

115

DIRK SCHAAL

Agrareliten in der mitteldeutschen Rübenzuckerindustrie 1800-1860

131

D A S POLITISCHE KARSTEN HOLSTE

Provinzialstände als Projekt der Elitenvergesellschaftung. Strategien kurmärkischer Adliger in der preußischen Verfassungsdiskussion 1815-1822

147

JOSEF MATZERATH

Ein Landtagsabgeordneter ist ein Landtagsabgeordneter und kein Agent seiner Herkunftsgruppe. Der sächsische Landtag als Arena der Elitenvergesellschaftung

163

LUKAS FASORA

Deutschliberale Politik und Elitenvergesellschaftung in der Gemeindeselbstverwaltung in Mähren 1850-1913

177

YVONNE KLEINMANN

Jüdische Eliten, polnische Traditionen, westliche Modelle und russische Herrschaft. Kulminationen in den Jahren 1804, 1844, 1869 und 1881

193

Inhalt

7

D A S KULTURELLE CHARLOTTE TACKE

Die ,Nobilitierung' von Rehbock und Fasan. Jagd, ,AdeP und ,Adligkeit' in Italien und Deutschland um 1900

223

PHILIP THER

Die Gesellschaft der Oper. Ostmitteleuropa im europäischen Kontext im 19. Jahrhundert

249

HALINA BERESNEVICIÜTE-NOSÄLOVÄ

Kulturelle Öffentlichkeit als Arena der Elitenvergesellschaftung: Wilna und Brünn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

269

AUTORINNEN UND AUTOREN

293

Danksagung

Das Buch ist das Ergebnis einer langjährigen Diskussion über Adel, über Eliten, über Ostmitteleuropa und über die Schwierigkeiten, gegen das Argumentationskorsett einer westeuropäischen oder deutschen „Normalgeschichte" des Wandels im 19. Jahrhundert anzuschreiben. Geführt wurde die Diskussion in dem von der DFG großzügig geforderten Projekt „Von Ständegesellschaften zu Nationalgesellschaften. Elitenwandel und gesellschaftliche Modernisierung in Ostmitteleuropa (1750-1914)" am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig. Dank schulden wir auch Heinz Reif für die Aufnahme in der Reihe "Elitenwandel im 19. Jahrhundert". Halle/Leipzig im Mai 2009

KARSTEN HOLSTE, DIETLIND HÜCHTKER, MICHAEL G. MÜLLER

KARSTEN HOLSTE, DIETLIND HÜCHTKER, MICHAEL G . MÜLLER

Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure - Arenen Aushandlungsprozesse

Die in diesem Band versammelten Beiträge verfolgen das gemeinsame Ziel, neue Wege zum Verständnis von Elitenwandel im 19. Jahrhundert zu erkunden. Sie beabsichtigen, Möglichkeiten aufzuzeigen, Wandel und Kontinuität in europäischen Gesellschaften zu beschreiben, ohne normative Entwicklungslinien als (unausgesprochene) Folie der Argumentation zu nutzen1 - und sie stellen damit Forschungspositionen in Frage, die inzwischen den Charakter von unhinterfragten Setzungen angenommen haben und einen Großteil der Forschung prägen. Zu diesen zählt vor allem die Relevanz, die der Entwicklung spezifischer sozialer Großformationen (wie dem europäischen Bürgertum im 19. Jahrhundert) sowie bestimmter Strukturen (wie Industrialisierung, Marktwirtschaft, Parteiensysteme, Nationalstaat etc.) für die Erklärung gesellschaftlichen Wandels zugeschrieben wurde und wird. Anstatt in diesem Sinn von idealtypischen Verläufen in der Transformationsgeschichte auszugehen, sollen hier die regional besonderen Formierungsbedingungen von Eliten als Entwicklungen je „eigenen Rechts" in den Blick kommen. Deshalb werden Akteure, Arenen und Aushandlungsprozesse zu zentralen Kategorien für die Untersuchung von Elitenwandel erhoben. Wir gehen davon aus, dass Gesellschaft erst im Aufeinandertreffen von Akteuren hergestellt wird, indem soziales, symbolisches sowie materielles Kapital eingebracht und Hierarchien immer wieder neu ausgehandelt wer-

1

Damit knüpft der Band an Konzepte an, die nicht nur das Ende, sondern auch Anfang und Verlauf historischer Entwicklungen zur Disposition stellen, beispielsweise: Samuel Noah EISENSTADT, Multiple Modernities, in: Daedalus 129 (2000), S. 1-29; Christiane EISENBERG, Kulturtransfer als historischer Prozess. Ein Beitrag zur Komparatistik, in: Hartmut KAELBLE/Jürgen SCHIWER (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2003, S. 369-398.

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den. Die Akteure versuchen, Interessen durchzusetzen, Deutungshoheit zu erlangen sowie Status zu gewinnen oder zu sichern: Sie ringen um Aufsteigen oder Obenbleiben. Erfolg in Bezug auf Interessendurchsetzung, Deutungshoheit oder Statussicherung ermöglicht die Formierung von Eliten, wenn er über den Ort der konkreten Aushandlungen hinaus anerkannt, d.h. gesellschaftlich relevant wird. Die Aushandlung von Elitenpositionen findet an verschiedenen Orten sowie auf verschiedenen Handlungsfeldern statt. Die Orte und Handlungsfelder mit Relevanz für die Generierung von Eliten verstehen wir als Arenen.2 Eine Arena ist nicht nur ein Kampf-, sondern auch ein Schauplatz: der Ort einer Inszenierung, an dem Sinn gestiftet, Bedeutung hergestellt wird. Eine Veränderung der Bedeutungen ist möglich, aber die eingesetzten Praktiken müssen sich in einem sinnvollen, d.h. von den Beteiligten und dem Publikum nachvollziehbaren und akzeptierten Kontext bewegen. Die Auseinandersetzungen oder Inszenierungen in einer Arena folgen Regeln, die wiederholbar (performativ) und begrenzt sind: Woanders - in einer anderen Arena - gelten andere Regeln, andere Sinnstiftungen. Das Konzept der Arenen ermöglicht es, Akteure, Handlungs- und Deutungsweisen, Sinnstiftungen, Interessen, Institutionen, Orte und Traditionen in ihrer je konkreten Besonderheit zu analysieren. Akteure, Arenen und Aushandlungsprozesse sind als relational zu verstehen, d.h., sie bedingen sich gegenseitig. Auf diese Weise kann man zeigen, wie im 19. Jahrhundert nicht nur Eliten, im Sinne sozialer Gruppen, neu definiert und mit Legitimität ausgestattet, sondern auch die „Kommandohöhen" der Gesellschaft selbst erst in den Auseinandersetzungen um den gesellschaftlichen Wandel je spezifisch festgelegt wurden. So verloren alte Orte der Macht (Höfe, Ständeversammlungen, Zentren aristokratischer Soziabiliät) zugunsten neuer (Wirtschaftsverbände, Organe der kommunalen oder regionalen Selbstverwaltung, Öffentlichkeit) an Bedeutung. Wenn man diesen Wandel in den Geographien gesellschaftlicher Macht mit bedenkt, lassen sich die Prozesse der Auflösung alter bzw. der Stiftung neuer Loyalitäten im Kontext der Definition und der Besetzung der Kommandohöhen analysieren. Am Ende stehen nicht neue typologische Modelle, welche die Elitenbildung im 19. Jahrhundert erklären sollen, sondern Beschreibungen

2

Das Konzept von Arenen als eigengesetzlich funktionierende und dennoch verbundene Bereiche findet sich beispielsweise auch in der Politologie: Juan J. L I N Z / A 1 fred STEPA N , Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe. Baltimore 1996, S. 13.

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von unterschiedlichen, komplexen Handlungs- und Deutungsweisen, die Elitenpositionen geschaffen, bestätigt oder verändert haben. Mit diesem Ansatz knüpfen wir an verschiedene Diskussionsstränge in der neueren Forschung zur Geschichte der Transformation europäischer Eliten im 19. Jahrhundert an. Lange dominierten von der Modernisierungstheorie beeinflusste Vorstellungen von einem „Königsweg" der Entwicklung „moderner Gesellschaften" und „moderner Nationalstaaten". Die Verbreitung von Bildung und Wissenschaft, ferner die Durchsetzung von Marktwirtschaft bzw. von rationalem wirtschaftlichen Handeln und schließlich die Etablierung neuer post-ständischer Formen politischer Partizipation wurden als die entscheidenden Parameter des Wandels identifiziert. Als ein zentrales Kennzeichen erfolgreicher Modernisierung galt der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland die Formierung des Bürgertums aus den sich in diesen Transformationsprozessen durchsetzenden sozialen Gruppen, während sich die Forschungen zum Wandel in Ostmitteleuropa vor allem auf die Nationsbildung und die Entwicklung der nationalen Bewegungen konzentrierten. Die Ausbildung von Bürgerlichkeit, Nationalisierung und Modernisierung funktionieren in vielerlei Hinsicht als parallel konstruierte master narrativs. Die implizite Ausgangshypothese der deutschen Bürgertumsforschung, dass es das Bürgertum als ein kollektives Subjekt des Wandels im 19. Jahrhundert gegeben habe - gleichsam als natürlichen Protagonisten der kulturellen und politischen Visionen der Aufklärung und des Kampfes um die Verwirklichung der „bürgerlichen Gesellschaft" - erwies sich allerdings im Zuge der empirischen Forschung rasch als brüchig. Weder hatten, wie sich zeigte, die verschiedenen Gruppen, die man sozialgeschichtlich unter dem Begriff Bürgertum zusammenfasste, im 19. Jahrhundert eine einheitliche soziale oder kulturelle, geschweige denn eine gemeinsame politische Agenda. Noch ließen sich die Abgrenzungen zwischen bürgerlichen Protagonisten des Wandels im sozialgeschichtlichen Sinn einerseits und solchen im Sinn des wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen commitments andererseits klar angeben. Damit kam der Bürgertumsforschung in sozialgeschichtlicher Hinsicht ihr Gegenstand gewissermaßen abhanden. Jenseits davon erwies es sich aber als sinnvoll und fruchtbar, nach der (Neu-)Definition von „Bürgerlichkeit", dem Entwurf und der allmählichen Durchsetzung eines „bürgerlichen Wertehimmels" 3 im 19. Jahrhundert zu fragen. Dagegen stehen in der Bürgertumsforschung „Adel" und „Arbei-

3

Manfred HETTUNG/Stefan-Ludwig HOFFMANN, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 333-360.

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terschaft" als homogene Sozialformationen weit weniger infrage - mehr oder minder implizit bedeutet dies, dass sie als traditionale, rückwärtsgewandte oder aber benachteiligte, nachholende Gruppen behandelt wurden, denen kein genuiner Beitrag zu einer modernen (lange nicht von ungefähr bürgerlich genannten) Gesellschaft zugedacht war.4 Die Forschungen zur Nationsbildung in Ostmitteleuropa weisen eine der Bürgertumsforschung ähnliche argumentative Struktur auf, geht es doch ebenso um moderne Formen der sozialen Stratifikation wie Vereins- und Parteibildung, einen partizipatorischen Nationsbegriff, Professionalisierung, kurz um eine „moderne Gesellschaft".5 Die Entwicklung diversifizierter sozialer Strukturen innerhalb der jeweiligen Nationalgesellschaften galt dabei als ein wesentliches Kennzeichen erfolgreicher Bewältigung von Transformationsprozessen. Eliten adliger, nicht-indigener oder jüdischer Provenienz wurden als Protagonisten des Wandels nicht oder nur wenig in Betracht gezogen. Die neuere europaweit vergleichend angelegte Bürgertumsforschung konnte so nur die Schwäche bzw. das Fehlen eines nationalen Bürgertums feststellen und als Modernitätsrückstand und Modernisierungshindernis bewerten. Hinsichtlich weiter Teile Ostmitteleuropas wurde damit das traditionelle Narrativ einer „rückständigen", „verzögerten" und letztlich auch „deformierten" Modernisierungsgeschichte reproduziert und bekräftigt.6

4

Zur Bürgertumsforschung u.a.: Jonathan SPERBER, Bürger, Bürgertum, Bürgerlichkeit, Bürgerliche Gesellschaft: Studies of the German (Upper) Middle Class and Its Sociocultural World, in: Journal of Modern History 69 (1997), S. 271-297; John BREUILLY, The Elusive Class. Some Critical Remarks on the Historiography of the Bourgeoisie, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 385-395; Thomas MERGEL, Die Bürgertumsforschung nach fünfzehn Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 515-538; Andreas SCHULZ, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. München 2005, S. 55-76.

5

Tomasz KIZWALTER, Ο nowoczesnosci narodu. Przypadek Polski. Warszawa 1999; Lech TRZECIAKOWSKI/Krzysztof A. MAKOWSKI (Hg.), Samomodernizacja spoleczenstw w XIX wieku. Irlandczycy, Czesi, Polacy. PoznaA 1999; Ralph SCHATTKOWSKY/Michael G. MÜLLER (Hg.), Identitätenwandel und nationale Mobilisierung in Regionen ethnischer Diversität. Ein regionaler Vergleich zwischen Westpreußen und Galizien am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Marburg 2004; Miroslav HROCH, Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Göttingen 2005. Vera BÄCSKAI (Hg.), Bürgertum und bürgerliche Entwicklung in Mittel- und Osteuropa. Budapest 1986; Waclaw DLUGOBORSKI, Die Bürgertumsforschung in Polen. (SFB-Arbeitspapier/Sonderforschungsbereich Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums - Deutschland im internationalen Vergleich, 3). Bielefeld 1987; Jürgen KOCKA, Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 1-3, Göttingen 1988; Jiri Koralka, Die tschechische Bürgertumsforschung.

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B e i d e Probleme, die Bürgertumsforschung ohne (definierbaren) G e g e n stand und die Ostmitteleuropaforschung ohne (erkennbare) Modernisierungselite, resultieren in gewisser W e i s e aus d e m Vorurteil der vergleichenden gesellschaftsgeschichtlichen Forschung, dass eine starke Position des A d e l s eine sich gleichsam selbst erklärende Ursache für Verzögerungen und Deformationen auf d e m W e g in die Moderne g e w e s e n sei. D a s Obenbleiben des A d e l s war in den auf Modernisierungs- oder Nationalisierungsparameter ausgerichteten Forschungsannahmen eine unbeschreibbare Tatsache, ein Phänomen, das nicht sein konnte. Betrachtet man dieses Obenbleiben aber nicht v o n vornherein als ein Indiz für Rückständigkeit, sondern als Resultat einer Beziehungsgeschichte z w i s c h e n alten und neuen Eliten, so eröffnen sich neue Forschungsperspektiven. 7 Aufgrund dieser Überlegungen entwickelten sich inzwischen weit ausdifferenzierte Forschungen z u m A d e l im 19. Jahrhundert, die danach fragen, w i e die traditionalen Eliten ihre Positionen in Gesellschaft und Staat verteidigten, w e l c h e Teile der alten Eliten w e l c h e Positionen verloren, w i e

7

(SFB-Arbeitspapier/Sonderforschungsbereich Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums - Deutschland im internationalen Vergleich, 5). Bielefeld 1989; Werner CONZE/Jürgen KOCKA (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 1: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen. 2. Aufl., Stuttgart 1992; Hannes STEKL u.a. (Hg.), „Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit". Beiträge zur Geschichte des Bürgertums der Habsburgermonarchie. Wien/Köln 1992; Ryszard KOLODZIEJCZYK, Studia nad dziejami burzuazji w Polsce. Wybor prac ζ lat 1956-1998 wydany ζ okazji 75-lecia urodzin autora. Hg. v. Artur K. F. WOLOSZ. Warszawa u.a. 1998. Jerzy JEDLICKI, Klejnot i bariery spoleczne. Przeobrazenia szlachectwa polskiego w schylkowym okresie feudalizmu. Warszawa 1968; Kiroly HALMOS, Verbürgerlichung als Veradeligung. Zivilisation in Ungarn - Grenzland und Peripherie, in: STEKL, Durch Arbeit, S. 180-192; Andräs VARI, Alte und neue ländliche Eliten im Prozess der Bürokratisierung und Verbürgerlichung (1790-1848). Einige hypothetische Überlegungen, in: STEKL, Durch Arbeit, S. 163-179; Anja Victorine HARTMANN, Kontinuitäten oder revolutionärer Bruch? Eliten im Übergang vom Ancien Regime zur Moderne, in: Zeitschrift für historische Forschung 25 (1998), S. 389420; Michael G. MÜLLER, Die Historisierung des bürgerlichen Projekts - Europa, Osteuropa und die Kategorie der Rückständigkeit, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 163-170; Heinz REIF, Einleitung, in: DERS., Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert. 2 Bde., Berlin 2000-2001, hier Bd.. 1, S. 7-27; Michael G. MÜLLER, Adel und Elitenwandel in Ostmitteleuropa: Fragen an die polnische Adelsgeschichte im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 50 (2001), S. 497-513; DERS., „Neo-Sarmatismus" oder neue Elite? Gedanken zur polnischen Adelsgeschichte im 19. Jahrhundert, in: Jaroslaw DUMANOWSKI u.a. (Hg.), Mi^dzy Zachodem a Wschodem. Studia ku czci profesora Jacka Staszewskiego. T. 2, Τοηιή 2003, S. 435-444.

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sich alte und neue Anwärter auf Elitenpositionen zusammenfanden.8 Eine wesentliche Erkenntnis aus den bisherigen Forschungen ist, dass - sozialgeschichtlich betrachtet - die Kommandohöhen der Gesellschaft meist uneinheitlich besetzt waren. Denn hier kamen neuartige „Elitenkompromisse"9 zum Zuge: Adlige und bürgerliche Akteure trafen aufeinander und waren offenbar trotz unterschiedlicher Wertorientierungen und Loyalitäten zu ihren jeweiligen sozialen Herkunftsgruppen in der Lage, sich zu verständigen und über ihre Interessen zu verhandeln. Zugleich verweisen die Forschungen zur Struktur der nationalen Bewegungen in Ostmitteleuropa direkt oder indirekt auf die Bedeutung des Adels für die Transformation zu einer modernen Gesellschaft - im Übrigen auch auf seine Fähigkeit zur „Selbstmodernisierung", ohne dass es damit angezeigt schiene, den Adel zum „Ersatzbürgertum des Ostens" zu erklären. Eine weitere Erkenntnis ist die, dass auch rein adlig besetzte Kommandohöhen funktionalem Wandel unterlagen, dass etwa gewinnorientiertes Wirtschaften, Anpassung an Veränderungen und „Adligkeit" sehr wohl zusammenpassen konnten, dass aber möglicherweise Schauplätze adligen Handelns in den Blick kommen müssen, deren Relevanz bislang wenig beachtet wurde - wie z.B. die kapitalisierte Landwirtschaft oder die nationalen Bewegungen. In allen Gesellschaften (Regionen) existierten demnach parallele Eliten, die sich auf unterschiedliche Weise konstituierten, ihre je besonderen Interessen vertraten, je eigene Formen der Selbstdarstellung fanden und ihre Visionen von gesellschaftlicher Veränderung entwarfen. Wer waren diese Akteure und wie waren die Kommandohöhen abgegrenzt und organisiert, wenn sie offenbar weder eindeutig adlig, noch eindeutig bürgerlich waren? Diese Fragen beschäftigten das Forschungsprojekt „Von Stände- zu Nationalgesellschaften. Elitenwandel und gesellschaftliche Modernisierung in Ostmitteleuropa, 1750-1914" am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig. Das Konzept, sich dem Problem mit der Frage nach den Arenen von Elitenbildung und Elitenhandeln zu nähern, wurde im Verlauf der Projektarbeit entwickelt. Unmittelbar wird an die für die neuere Adelsforschung besonders produktiven Überlegungen angeknüpft, die europäische Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts als eine Geschichte von Elitenkompromissen zu thematisie-

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REIF, Adel; Eckart CONZE/Monika WIENFORT (Hg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert. Köln 2004; Ronald G. AscH/Rudolf SCHLÖGL (Hg.), Adel in der Neuzeit. Göttingen 2007. Zu den komplexen Formen von „Elitenkompromissen" in Deutschland: Heinz REIF, Adel im 19. und 20. Jahrhundert. München 1999, bes. S. 59-74; vgl. auch am Beispiel Polens: Michael G. MÜLLER, „Landbürger". Elitenkonzepte des polnischen A d e l s i m 19. Jahrhundert, in: CONZE/WIENFORT, A d e l , S. 8 7 - 1 0 6 .

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ren. Darüber hinaus geht es aber darum, die Frage nach den Modi der Herstellung solcher Kompromisse weiter zu vertiefen: In der Konzentration auf die Arenen von Elitenhandeln wird genauer in den Blick genommen, wie welche Akteure unter welchen Bedingungen Ansprüche auf Elitenpositionen etablierten, verteidigten, begründeten - aber auch Elitenfunktionen praktisch ausfüllten. Leitfragen waren demnach: Welche Praktiken in welchen Arenen ermöglichten es Individuen und Gruppen, sich als Eliten zu profilieren, bzw. wie erhielten Arenen Bedeutung fur Eliten? Wie kann man die Vielfalt der Arenen (vom bürgerlichen Wertehimmel bis zur transformierten Landwirtschaft) erfassen, in denen Elitenpositionen nach unterschiedlichen Regeln ausgehandelt wurden? Wie lassen sich Optionen beschreiben, mit den Arenen auch die Regeln (z.B. von Adligkeit zu Professionalität) zu wechseln? Die Arena des Kommunalen als Beispiel: Als die Einsicht und Erfahrung etabliert waren, dass mit Partizipation an der kommunalen Selbstverwaltung für Akteure unterschiedlicher sozialer Herkunft ein möglicher Weg zu politischer Entscheidungsmacht, zu sozialen Privilegien wie auch zu Prestige beschritten werden konnte, entstand eine neuartige Konkurrenz um Elitenpositionen. Professionalität und Einkommen gewannen in Verwaltung, Politik und Kultur an Relevanz gegenüber Herkommen, Tradition, Stand. Gleichzeitig erzeugten die neuen Anforderungen eigene Dynamiken der Hierarchisierung wie auch eigene Definitionen von Wertmaßstäben und entsprechenden sozialen Deutungs- und Distinktionsmustern. Diese Dynamiken - Aushandlungsprozesse - bestimmten demnach sowohl das, was das Kommunale ausmachte, als auch das, was in diesem Kontext als bürgerlich, adlig oder professionell wahrgenommen wurde. Dagegen erschien zwar der Hof auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als relevanter Ort adliger Selbstrepräsentation, jedoch immer weniger als eine Arena, in der sich die Schicksale alter und neuer Anwärter auf Macht und Einfluss entschieden, in der die Praktiken und Bedeutungen von Eliten ausgehandelt, bestimmt und genutzt werden konnten. Im vorliegenden Band werden die Ergebnisse der Projektarbeit vorgestellt. Die Beiträge sind ausgewählt aus einer Reihe von Tagungen, Workshops und Vorträgen, die die Diskussionen vorangebracht haben. Der Band entwirft eine Art Landschaft, in der Elitenhandeln stattfand und neu strukturiert wurde. Dabei geht es nicht darum, die fraglichen Arenen vollständig zu erfassen und zu beschreiben - dies anzustreben, würde das Konzept selbst in Frage stellen. Auch kann es nicht um einen umfassenden Blick auf Europa gehen. Stattdessen entsteht durch die Thematisierungen verschiedener Arenen und Akteure ein kontextabhängiges Bild vom Elitenwandel, das vor allem dessen Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit, aber

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auch dessen permanente Veränderungen impliziert. Wenn die Akteure der im Folgenden behandelten Arenen vielfach Adlige sind, so ist dies vor allem dem oben skizzierten Forschungsweg geschuldet, der Tatsache, dass die meisten hier beteiligten Historikerinnen und Historiker ihre Fragestellungen an der Debatte über das Bürgertum und die funktional äquivalenten Modernisierungseliten im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts orientiert haben. Denkbar wäre es - und das könnte den heuristischen Wert des Ansatzes auch für zukünftige Projekte ausmachen - von Geschlechter- oder Klassendifferenzen auszugehen, deren Einfluss auf den Elitenwandel weit weniger selbstverständlich untersucht wird. Damit kämen die Einstiegsbedingungen (z.B. Zugang zu akademischer Bildung) und die Modi (z.B. Professionalisierung, Partizipation) des Aufstiegs als Arenen in den Blick, auf denen im Kontext der Formierung von Eliten auch Bedeutungen von Geschlecht und Klasse ausgehandelt wurden. Eine erhebliche Einschränkung des hier verhandelten Fragenkreises ist darin zu sehen, dass die Beziehungen, Vernetzungen, gegenseitigen Beeinflussungen der Arenen untereinander nicht thematisiert werden. Diese Aspekte müssen weiteren Forschungen und Diskussionen vorbehalten bleiben. Um aber den Blick für eine solche Verflechtung zu öffnen, erscheint es uns reizvoll, den Band gewissermaßen quer zu lesen. Gerade in der Zusammenschau der unterschiedlichen Arenen ergibt sich ein Bild der Möglichkeiten von Transformationen im 19. Jahrhundert. Der Band gliedert sich in gesellschaftliche Großbereiche - das Staatliche, das Ökonomische, das Politische, das Kulturelle - denen die verschiedenen Themen zugeordnet sind. (Mindestens) zwei Ebenen bestimmen die Analyse: die allgemeinen Handlungsfelder oder Arenen und die konkreten Schauplätze oder Orte. Produktiv im Sinne des Ansatzes ist eine Verbindung von Handlungsfeldern und Schauplätzen: So kann der Kampf um das Feld des Politischen sowohl im Kulturbetrieb als auch auf der Jagd oder bei der Wohltätigkeit stattfinden. Institutionen auf sehr verschiedenen Ebenen - Vereine und Gesellschaften, Kommunen, Parlamente, sogar Opern - sind gleichzeitig als Arenen und als Schauplätze zu verstehen. Entscheidend ist, dass es keine Hierarchie, keinen historisch prästabilisierten Kriterienkatalog für die Einordnung der Arenen gibt. Stattdessen treten Kontaktpunkte, Beziehungen, Konkurrenzen und Konflikte in den Vordergrund, wobei letztere nicht als Indikatoren für gescheiterte Transformationen zu deuten sind. Die Beiträge gehen zum einen von den Akteuren aus, die ihrem Anspruch auf eine Elitenposition in neuen Kontexten Geltung zu verschaffen suchten. Zum anderen analysieren sie Arenen, denen für die Formation neuer Eliten Bedeutung zugesprochen werden kann.

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Am Beispiel von ungarischen und polnischen Landwirtschaftsvereinen (Andräs Väri, Witold Molik) wird gezeigt, wie eine traditionale Elite, die adligen Grundbesitzer - angesichts der Herausforderung, ihre Interessen unter neuen Bedingungen durchsetzen zu müssen - lernte, mit Akteuren anderer ständischer Herkunft bei der Verwirklichung von Zukunftsvorstellungen zu kooperieren. Einerseits galt es, ihre Spitzenpositionen neu zu legitimieren, andererseits erforderte Professionalität unter adliger Führung einen neuen Habitus. Die Vereine stellten Arenen dar, in denen die neuen Spielregeln von Hierarchie und Inklusion ausgehandelt wurden. Während die Landwirtschaftsvereine demnach Beispiele dafür sind, wie neue Institutionen geschaffen wurden, um alten und neuen Elitenanwärtern Legitimation und Kooperation zu ermöglichen, suchten Adlige in der preußischen Provinz Brandenburg ihre Position zu stärken, indem sie sich - nach erfolgloser Kritik am bürokratischen Staat - als dessen „geborene" Unterstützer neu „erfanden" (Karsten Holste). Die jüdischen Eliten der polnisch-litauischen Rzeczpospolita sahen sich nach den Teilungen mit einer zarischen Politik konfrontiert, die darauf zielte, die gemeindliche Autonomie aufzuheben, gleichzeitig aber in Bezug auf Steuereintreibungen auf diese Institution angewiesen war. Diese Unentschiedenheit öffnete das Feld für inneijüdische Auseinandersetzungen, die das gesamte 19. Jahrhundert anhielten und neue Anwärter auf Elitenpositionen in den Gemeinden hervorbrachten (Yvonne Kleinmann). Obwohl in unterschiedlichen Arenen situiert (den preußischen Ständerepräsentationen bzw. den jüdischen Gemeinden) nutzten die Akteure dieser Beispiele den Staat als Legitimationsinstanz. Gezeigt wird, wie die Akteure ihr Selbstverständnis ebenso ausdifferenzierten wie die Schauplätze, an denen Elitenpositionen ausgehandelt und repräsentiert werden konnten. Wie unterschiedlich Arenen in differierenden Kontexten sein konnten und dennoch ähnlich funktionierten, zeigt sich im Vergleich zwischen den Beiträgen zum Wandel jüdischer Selbstverwaltung in Russland und kommunaler in Mähren (Lukas Fasora). Die Ausdifferenzierung jüdischer Elite kann man mit derjenigen gemeindlicher Selbstverwaltung der verschiedenen Handlungsfelder - religiöse, politische, ökonomische oder nationale - parallelisieren. Die Untersuchung zu den mährischen Städten zeigt, dass deren Eliten in Abhängigkeit von den Handlungsfeldern kommunaler Selbstverwaltung - ökonomische, administrative, nationale - in Konkurrenz zu einander traten oder Bündnisse eingingen. Bereits an diesen Beispielen wird deutlich, dass die Akteure nicht primär als Repräsentanten ihrer jeweiligen sozialen Herkunftsgruppen auftraten, sondern sich im Denken und Handeln an den Regeln orientierten, nach denen in den jeweiligen Arenen Elitenpositionen ausgehandelt wur-

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den. Dass sich die neuen und alten Eliten nicht einfach an neue Gegebenheiten anpassten, sondern sich Habitus, Interessen und Institutionen relational zu einander wandelten, zeigen die Beispiele des sächsischen Landtags (Josef Matzerath) und der mitteldeutschen Zuckerindustrie (Dirk Schaal). Der institutionelle Wandel des Landtags im 19. Jahrhundert formte aus den Standesrepräsentanten Landtagsabgeordnete, auch wenn sich Herkunft, Habitus und Selbstverständnis zunächst kaum veränderten. In der mitteldeutschen Zuckerindustrie spielten Gewinnorientierung und Branchenlobbyismus eine zentrale Rolle bei der Entwicklung einer regionalen Wirtschaftselite. Ähnlich wie die Protagonisten der Landwirtschaftsvereine formierten sich die Akteure sächsischer Politik und mitteldeutscher Agrarwirtschaft kontextgebunden zu einer funktional agierenden Elite. Am Beispiel des Staatlich-Administrativen (Claudia Kraft) wird nicht nur nachgezeichnet, wie eine Arena von Elitenhandeln konstituiert wurde, sondern auch wie dies in der Koexistenz alter und neuer Elitenkonzepte möglich war. Wie die Akteure, polnische Adlige, die funktionale Ausdifferenzierung und die Bürokratisierung von Herrschaft gestalteten, verdeutlicht nicht nur deren Fähigkeit zur Selbstreformierung, sondern auch die Ähnlichkeit der Transformationsprozesse in ganz Europa. Interessant ist im polnischen Kontext das Beispiel des Militärischen (Bernhard Schmitt), diente doch das Militär der habsburgischen und der preußischen Teilungsmacht als Möglichkeit, die alten polnischen Eliten, sprich den Adel zu integrieren. Dabei erweist sich auch das Militär als eine Arena, in der Inklusion und Exklusion zwischen den verschiedenen Akteuren neu ausgehandelt wurde, wobei traditionelle Zuschreibungen von Elitenstatus wirksam blieben, sich aber in ihrer Bedeutung wandelten. Im Hinblick auf die Relevanz, die symbolische Inszenierungen für die Anerkennung von Elitenpositionen hatte, hat sich die Beschäftigung mit der Oper (Philipp Ther) und mit kultureller Wohltätigkeit (Haiina Beresneviciüte-Nosälovä) als aufschlussreich erwiesen. An den Beispielen Lemberg und Prag sowie Brünn und Wilna wird gezeigt, wie Schauplätze unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen zu Arenen wurden. Die Akteure, die sich hinsichtlich ihres Herkommens, ihrer Interessen und des von ihnen eingebrachten Sozialprestiges sowie kulturellen Kapitals unterschieden, versicherten sich gegenseitig ihrer Bedeutung und gestalteten und bestätigten so ihre Elitenpositionen. Die Oper wird im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Ort der Stadt, an dem nicht nur kultureller, sondern auch politischer Wandel inszeniert wurde. Am Beispiel der Wohltätigkeit wird die Diskursivität des Aushandelns verdeutlicht. Die Umdeutung von „adligem" in „edles" Prestige verweist auf die symbolische oder metonymische Bedeutung des Geschehens über die Schauplätze selbst

A u f s t e i g e n " und „Obenbleiben"

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hinaus. In diskursiven und konfliktträchtigen Prozessen werden so die Oper und das wohltätige Kulturengagement zu Arenen neuer Hierarchisierungen und neuer Bewertungen von symbolischem und kulturellem Kapital. Damit wird deutlich, dass die (Re-)Konstruktion von Eliten nicht nur das Aufsteigen und Obenbleiben bestimmte, sondern auch die Durchsetzung neuer Gesellschaftskonzepte beeinflusste. Dies wird explizit in den Beiträgen zum ungarischen Bildungssystem (Victor Karady) und der Entwicklung des kroatischen Rechtswesens (Stefano Petrungaro) gezeigt. Die Analyse des Bildungswesens im ungarischen Vielvölkerstaat nach 1867 gibt Aufschlüsse darüber, wie unterschiedlich das Angebot eines „assimilatorischen Gesellschaftsvertrags" - Aufstiegsmöglichkeiten um den Preis der Assimilation - von den religiös und sprachlich differierenden Gruppen angenommen wurde. Das kroatische Rechtswesen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - und insbesondere das Gericht - stellte eine Art Bühne dar, auf der verschiedene Eliten agierten. Die Professionalisierung der Anwälte lässt sich als ein Prozess verstehen, in dessen Rahmen sich die Begründung neuer Elitenpositionen, die praktische Ausgestaltung des Rechtssystems und die Formulierung neuer politischer Positionen gegenseitig bedingten. Diese Beiträge legen nahe, darüber nachzudenken, inwiefern sich neue Gesellschaftskonzepte aus Aushandlungen ergeben, die um das Aufsteigen und Obenbleiben gefuhrt werden. Das Arenen und Akteure die Gesellschaft neu konstruierten, wird am Beispiel der Kultur der Jagd in Deutschland und Italien (Charlotte Tacke) vergleichend explizit gemacht - lässt sich aber auch abschließend als These für den Sammelband festhalten. So erweist sich die Jagd in Italien als ein Schauplatz, auf dem sich das Netzwerk der Notabeingesellschaft formte und manifestierte. In den deutschen Auseinandersetzungen um die Jagd entwickelte sich hingegen mit der (Re-) Konstruktion einer professionalisierten Jagdelite ein semantisches Feld um „Natur" und „Degeneration", das völkisches Gedankengut hervorbrachte. Gerade am Beispiel der Jagd erweist sich, dass das Verständnis von gesellschaftlichem Wandel und von dessen Spielregeln wesentlich erweitert werden kann, wenn die Zusammenhänge zwischen elitären Ansprüchen, Entwicklung von Institutionen und Durchsetzung von Normen in den Blick genommen werden - ein Befund, der es zugleich ermöglicht, eine Verbindung zwischen den verschiedenen Beiträgen, d.h. zwischen den verschiedenen Arenen, Akteuren und Aushandlungsprozessen, herzustellen.

CLAUDIA KRAFT

Das „Staatlich-Administrative" als Feld von Aushandlungsprozessen zwischen alten und neuen polnischen Eliten Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts 1. Untersuchungsgegenstand und -Zeitraum Das „Staatlich-Administrative" als eine „Arena der Elitenvergesellschaftung" kommt als Begriff sperrig daher. Er wurde dennoch gewählt, um zu vermeiden, dass in begrifflich präformierten Feldern wie etwa der Bürokratie gleichfalls präformierte Elitengruppen wie der Adel, das Bürgertum oder der Beamtenstand eher gesucht als untersucht werden. Das StaatlichAdministrative soll als ein Aktionsfeld beschrieben werden, das erst durch die Konzepte und das Handeln der historischen Akteure konstituiert wird. Damit kann der Eigenwert osteuropäischer Entwicklungen herausgearbeitet werden, anstatt sie ausschließlich in den Kategorien der Rückständigkeit bzw. der Kompensation in Relation 211 „allgemeinhistorischen" Prozessen zu zeichnen. 1 Durch eine solche Betrachtungsweise kann ein übergreifender Interpretationsrahmen entworfen werden, der es erlaubt, die Modellhaftigkeit westlicher Entwicklungswege in Frage zu stellen. Indem gesellschaftliche Modernisierungsprozesse im östlichen Europa untersucht werden, können zum Beispiel der anscheinend unaufhebbare Nexus zwischen dem Vorhandensein eines starken und selbstbewussten Bürgertums und gesellschaftlicher Modernisierung hinterfragt und alternative Entwicklungsmodelle dagegen gehalten werden. Die nicht-osteuro1

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Fikret ADANIR u.a., Traditionen und Perspektiven vergleichender Forschung über die historischen Regionen Osteuropas, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1 (1996), S. 1 1 ^ 3 , hier bes. S. 29f. Michael G. MÜLLER, Die Historisierung des bürgerlichen Projekts - Europa, Osteuropa und die Kategorie der Rückständigkeit, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 163-170; DERS., Adel und Elitenwandel in Ostmitteleuropa. Fragen an die polnische Adelsgeschichte im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2002), S. 497-513.

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Claudia Kraft

päische Geschichte kann von diesen Bemühungen nur profitieren, wie etwa neuere Forschungen zur polnischen Geschichte des 19. Jahrhunderts zeigen, die sich mit dem Transfer von Begriffen und Forschungskonzepten kritisch und konstruktiv auseinandersetzen. Denn damit werden Theoriegebäude wie die der Nationalismusforschung reflexiv beleuchtet,3 Konzepte wie das der „Modernisierung"4 oder der „Zivilgesellschaft"5 auf ihre jeweilige Historizität hin untersucht oder alternative Akteursgruppen in das Interessenfeld der Forschung gerückt.6 Diesen Ansätzen fühlt sich auch die vorliegende Untersuchung verpflichtet. Sie wendet sich den Jahrzehnten zwischen der ersten Teilung Polens und dem Wiener Kongress zu. Geprägt durch die Reformprojekte der späten Adelsrepublik, die in den Beratungen des Vierjährigen Sejm und dann in der Maiverfassung von 1791 gipfelten und auch nach den Teilungen und Aufständen zunächst als Bezugspunkte bestehen blieben, stellten sie eine Schlüsselepoche der modernen polnischen Geschichte dar. Zugleich ist dieser Zeitraum durch die permanente Bezugnahme auf außerpolnische Entwicklungen gekennzeichnet, sei es in den Debatten der polnischen Reformer oder ihrer innenpolitischen Gegner oder sei es dann im Zuge der Teilungen durch freiwillige oder erzwungene Adaption an politische und gesellschaftliche Rahmen, die die Teilungsmächte vorgaben. Konzentriert man sich auf die Wandlungen hinsichtlich des Verständnisses von Staatlichkeit und Verwaltung, so wird deutlich, dass es sich hier um eine Schlüsselepoche nicht nur der polnischen, sondern auch der europäischen Geschichte handelt. Lutz Raphael zeigt in seiner gesamteuropäischen Verwaltungsgeschichte des 19. Jahrhunderts - in der Polen allerdings außen vor bleibt dass gerade in den genannten Jahrzehnten das „Verwalten" zu einer berufsmäßigen Tätigkeit wurde und ein neues Staatsverständnis sowie ein neues Selbstverständnis bei der Gruppe der Verwal-

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Tomasz KIZWALTER, Ο nowoczesnosci narodu. Przypadek Polski. Warszawa 1999. DERS., Nowatorstwo i rutyny. Spoleczcfistwo krolestwa polskiego wobec procesow modernizacji 1840-1863. Warszawa 1991; Maciej JANOWSKI, Polen im 19. Jahrhundert: Europa an der Weichsel? in: Claudia KRAFT/Katrin STEFFEN (Hg.), Europas Platz in Polen. Polnische Europakonzeptionen vom Mittelalter bis zum EUBeitritt. Osnabrück 2006, S. 131-155. Maciej JANOWSKI, Gab es im 19. Jahrhundert in Polen eine Zivilgesellschaft? Erste Überlegungen, in: Arnd BAUERKÄMPER (Hg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich. Frankfurt a. M./ New York 2003, S. 293-316. Michael G. MÜLLER, „Landbürger". Elitenkonzepte des polnischen Adels im 19. Jahrhundert, in: Eckart CONZE/Monika WIENFORT (Hg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert. Köln u.a. 2004, S. 87-105.

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tenden entstehen ließ. Zudem beschreibt er mit Pierre Bourdieu diesen neuen „Staatsadel" als eine gesellschaftliche Gruppe, die sich in den sich auf ganz Europa ausdehnenden gesellschaftlichen Transferprozessen nach der Französischen Revolution und den sich daran anschließenden Kriegen als besonders anpassungsfähig erwies.7 Es liegt also nahe zu fragen, inwieweit diese Beobachtung auf den polnischen Kontext zu übertragen ist und welche Prozesse des Wandels bzw. der Kontinuitäten bei den polnischen Akteuren festzustellen sind, die ja in diesem Zeitraum ebenfalls mit mehrfachem radikalen gesellschaftlichen und politischen Wandel konfrontiert wurden. Dabei werden zwei Zeitabschnitte besonders beleuchtet: zunächst die Reformzeit der späten Adelsrepublik, da für diese Fragen des Ausbaus der staatlichen Verwaltung eine zentrale Rolle spielten. Hinsichtlich der seit den Teilungen rasch wechselnden Bezugsebenen und des Kontakts der polnischen Akteure mit eigenen sowie fremden Verwaltungen soll dann das Herzogtum Warschau (1807-1813) im Zentrum des Interesses stehen, da hier ein besonders tief greifender Wandel im Verwaltungs- und ο

Rechtssystem erfolgte. Auf diese Weise werden starre politikgeschichtliche Zäsuren hinterfragt und Kontinuitäten sowie Adaptionsleistungen genauer beleuchtet.9 Die polnische Geschichte wird damit in eine gesamteuropäische Perspektive gerückt, in der die Jahrzehnte um 1800 inzwischen häufig mit dem Begriff der „Übergangsgesellschaften" beschrieben werden, um so deutlich zu machen, dass etwa Sozialformationen nicht abrupt wechseln, sondern sich in oft widersprüchlichen Prozessen auseinander heraus und gegeneinander entwickeln.10 7

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Lutz RAPHAEL, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2000, S. 21 f. Es gab durchaus weitere Bezugsebenen, hinsichtlich derer die hier interessierenden Fragestellungen hätten untersucht werden können. Aus Platzgründen werden Fragen nach Verwaltungspraxis und Staatsverständnis im Kosciuszko-Aufstand in diesem Beitrag nur ganz kurz angerissen. Die Erfahrungen polnischer Akteure in den napoleonischen Legionen bzw. mit den Verwaltungspraktiken der preußischen und österreichischen Teilungsmächte vor 1806 müssen unberücksichtigt bleiben. Vgl. zu letzteren aber den instruktiven Beitrag von: Hans-Jürgen BÖMELBURG, Aufgeklärte Beamte gegen barock-katholische Adelseliten. Ein Vergleich der österreichischen und preußischen Verwaltungspraxis in Galizien und Westpreußen ( 1 7 7 2 1806), in: Walter LEITSCH/Stanislaw TRAWKOWSKI (Hg.), Polen und Österreich im 18. Jahrhundert. Warschau 2000, S. 1 9 ^ 0 . Eine alle anderen Zäsuren überstrahlende Akzentuierung der Teilungen wird auch in Frage gestellt von Maciej JANOWSKI, Polska mysl liberalna do 1918. Krakow 1998, S. 32. Vgl. den Begriff der Übergangsgesellschaft etwa bei: Jörn LEONHARD, Europäische Liberalismen. Zur komparativen Differenzierung eines historischen Phänomens, in: Zeitschrift der Savigny-Stifitung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung

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Im Zentrum der Untersuchung stehen Prozesse der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der Bürokratisierung von Herrschaft. Diese Prozesse erwiesen sich im Untersuchungszeitraum als besonders wichtig fur die Frage nach Elitenkompromissen und -Vergesellschaftung. Angestoßen durch die adelsrepublikanischen Reformprojekte einerseits und die politischen Transformationen im Anschluss an die Teilungen andererseits bewegten sich die Akteure im Zuge des sozialen Wandels gewissermaßen von unten und oben auf das zu untersuchende Feld der Verwaltung zu, da dieses in den jeweiligen Kontexten ein prominenter Raum war, in dem gesellschaftliche Machtverhältnisse ausgehandelt wurden und in dem sich alte und neue Eliten trafen und ein gemeinsames Elitenbewusstsein entwickeln mussten. Das polnische Beispiel ist dabei besonders interessant, weil der Adel als feststehende Statusgruppe in diesem Rahmen gleich in mehrfacher Hinsicht in Frage gestellt wurde: durch die eigenen Adelsreformprojekte und durch die jeweilige Elitenkooptation bzw. den Ausschluss ehemaliger Eliten durch die Teilungsmächte. Dabei soll das Feld des Staatlich-Administrativen nicht im Sinne einer Institutionengeschichte beschrieben werden. Vielmehr wird danach gefragt, welche Anforderungen an die Akteure gestellt wurden, wie diese das Feld durch ihr Handeln gestalteten und welche Erfahrungen ihre Vorstellungen prägten. Das, was die Forschung als Verwaltung bzw. Bürokratie bezeichnet, wird somit durch das Handeln der Akteure erst offensichtlich und nicht etwa als eine Art „objektives Attribut" moderner Staatlichkeit vorausgesetzt.11 Die Akteure rücken damit in den Mittelpunkt der Betrachtung und mit ihnen die Frage, wie sich ihre Einstellung gegenüber dem Feld des Verwaltens und damit die Verwaltung selbst veränderte. Es wird keine Geschichte des Beamtenstandes in Polen vor und nach den Teilungen angestrebt, sondern untersucht, wie das Bild des Beamten in ein Selbstbild von Elite integriert

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121 (2004), S. 313-349; dazu auch: Rudolf VIERHAUS (Hg.), Frühe Neuzeit - Frühe Moderne? Forschungen zu Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen. Göttingen 1992; Anja Victorine HARTMANN, Kontinuitäten oder revolutionärer Bruch? Eliten im Übergang vom Ancien Regime zur Moderne. Eine Standortbestimmung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 25 (1998), S. 3 8 9 ^ 2 0 . Grundlegend dazu auch: Reinhart KOSELLECK, Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: DERS./Reinhart HERZOG (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987, S. 269-282. Vgl. dazu auch die begriffsgeschichtliche Analyse von: Reinhard BLÄNKNER, „Absolutismus" und „frühmoderner Staat". Probleme und Perspektiven der Forschung, in: VIERHAUS, Frühe Neuzeit, S. 48-74, hier S. 50. Die kritische Analyse von Bürokratie als Selbstbeschreibung westlicher Gesellschaften aus der Perspektive der historischen Anthropologie bei: Michael HERZFELD, The Social Production of Indifference. Exploring the Symbolic Roots of Western Bureaucracy. Chicago/London 1992.

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wurde, wobei geiragt wird, ob auf diesem Feld Elitenkompromisse funktionierten oder das Distinktionsbemühen zwischen neuen und alten Eliten überwog. Schließlich geht es auch darum, ob durch codes und Symbole eine neue Gruppenidentität hergestellt werden konnte, die dann nicht zuletzt dazu beitrug, die gesellschaftliche Anerkennung des Feldes „Verwaltung" zu heben. Damit rücken sowohl der Habitus als auch das Handeln der Akteure in den Focus des Interesses, wodurch das aus historischer Perspektive oft als statisch kritisierte Habitus-Konzept Bourdieus dynamisiert wird.12 Als Quellengrundlage dienen programmatische Schriften, in denen die Autoren durch die Formulierung eines Wertekanons für künftige Verwaltungseliten Selbstbilder neu entwarfen oder variierten, sowie Abhandlungen zu Verwaltungsreformprojekten im Umfeld der Reformdiskussionen. Solche Schriften waren vor allem für die Formulierung von Adelsreformprojekten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wichtig. Für die Zeit des Herzogtums Warschau können zudem Selbstzeugnisse von in der Verwaltung tätigen Akteuren bzw. deren Angehörigen herangezogen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zahlreiche Selbstzeugnisse erst Jahrzehnte nach dem Zeitpunkt der Tätigkeit in der Verwaltung entstanden. Damit einher geht eine Verschiebung des Bezugsrahmens: Zum einen wurde nicht selten das „Nationale" in der Rückschau überbetont bzw. in anachronistischer Weise auf die erste Jahrhunderthälfte projiziert, zum anderen wurden diese Selbstzeugnisse häufig von Personen, denen die Kompensation des Statusverlustes durch soziale Praxis kaum möglich war, vor allem im Sinne einer Verarbeitung gesellschaftlicher Abstiegserfahrungen verfasst.

2. Reformentwürfe im späten 18. Jahrhundert Die Reform des Verwaltungsaufbaus der polnisch-litauischen Adelsrepublik schrieb sich in staatliche Modernisierungsprogramme des späten 18. Jahrhunderts in Europa ein. Die Schaffung eines sich durch Leistung auszeichnenden Staatsadels und die Ausweitung des Bildungssystems, das in Sven REICHARDT, Bourdieu für Historiker? Ein kultursoziologisches Angebot an die Sozialgeschichte, in: Thomas MERGEL/Thomas WELSKOPP (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München 1997, S. 71-93. Zur Operationalisierung des Bourdieuschen Kapitalbegriffs für die Adelsforschung vgl. Eckart CoNZE/Monika WIENFORT, Einleitung. Themen und Perspektiven historischer Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert, in: CONZE/ WIENFORT, Adel, S. 1-16, hier bes. S. 9f.

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erster Linie für die Produktion der neuen dienstadligen Eliten verantwortlich war, sind hier zu nennen. Gleichzeitig mussten alle politischen Akteure die Interessen des sozial stark ausdifferenzierten polnischen Adelsstandes in Rechnung stellen. Dreh- und Angelpunkt des gesellschaftlichen Reformprogramms war die Schaffung gesamtstaatlicher Verwaltungsstrukturen, die einerseits der Überwindung fiskalischer und militärischer Schwäche dienten, andererseits ein Feld darstellen sollten, auf dem Prestigeerwerb durch die Tätigkeit für ein neu entworfenes Konzept von Gemeinwohl ermöglicht wurde.13 In den Reformdebatten standen sich zwei Modelle gegenüber: das Adelsreformprogramm der alten, oft magnatischen Adelseliten und die radikale Neudeutung des Begriffes der Adligkeit durch kleinadlige und zum Teil bürgerliche Reformpolitiker. Beide Konzepte reagierten auf die Krise der Adelsrepublik im 18. Jahrhundert. Das Adelsreformprogramm zielte auf den Adel als Geburtsstand und wollte über ein Bildungsprogramm den Gesinnungsadel seiner ständischen Träger reaktivieren und den Adligen somit besser auf seine Pflichten als „Bürger" vorbereiten. Dabei ging man hier noch von einem traditionellen adelsrepublikanischen Verständnis aus, bei dem der einzelne Adlige nicht als Individuum, sondern als Angehöriger seines Standes als politischer Bürger der Republik [rzeczpospolita] verstanden wurde und daher seine bürgerliche Pflicht [obowiqzek obywatelski] zu erfüllen habe. Institutionen, die sich der Ausbildung dieser Elite widmen sollten, waren das bereits 1740 von Stanislaw Konarski (17001773) gegründete Collegium Nobilium sowie die 1765 ins Leben gerufene Ritterschule [Szkoia Rycerska], die in ihren Anfangsjahren von Adam Kazimierz Czartoryski (1734-1823), einem wichtigen Vertreter dieses (groß)-adligen Reformprogramms geleitet wurde.14 In dem ursprünglich

Emanuel ROSTWOROWSKI, Sprawa aukcji wojska na tie sytuacji politycznej przed Sejmem Czteroletnim. Warszawa 1957; Jörg K. HOENSCH, Sozialverfassung und politische Reform. Polen im vorrevolutionären Zeitalter. Köln/Wien 1973; Jerzy MICHALSKI, Ζ problematyki republikafiskiego nurtu polskiej reformatorskiej mysli politycznej w XVIII wieku, in: Kwartalnik Historyzcny 90 (1983), Nr. 2, S. 3 2 7 338; Jerzy MALEC, Polska mysl administracyjna XVIII wieku. Krakow 1986; Michael G. MÜLLER, Staat und Heer in der Adelsrepublik Polen im 18. Jahrhundert, in: Johannes KUNISCH (Hg.), Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der Neuzeit. Berlin 1986, S. 279-295; Anna GRZESKOWIAK-KRWAWICZ, Ο form? rz^du czy ο rz^d dusz? Publicystyka polityczna Sejmu Czteroletniego. Warszawa 2000. {Camilla MROZOWSKA, Szkoia Rycerska Stanislawa Augusta Poniatowskiego (1765-1794). Wroclaw u.a. 1961; Claudia KRAFT, Polnische militärische Eliten in gesellschaftlichen und politischen Umbruchprozessen 1772-1831, in: Helga SCHNABEL-SCHÜLE/Andreas GESTRICH (Hg.), Fremde Herrscher - fremdes Volk.

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von ihm entworfenen und erstmals 1774 in Warschau gedruckten Katechismus für die Schüler (Kadetten) dieser Anstalt hieß es auf die Frage, was ein Kadett sei: „Ein junger Mensch, wohlgeboren, der in die Obhut von Personen gegeben wurde, die seine Sitten bilden, seine Vernunft schärfen und ihn mit Wissen versorgen sollen, um ihn damit seiner adligen Abstammung würdig zu machen." Danach folgte auf die Frage, ob es ausreiche, adlig zu sein, die Antwort: „Sicher nicht, erst Geburt verbunden mit Tugend und guten Eigenschaften verleiht oberste Würde." 15 Die paternalistische Einstellung gegenüber nichtadligen Gesellschaftsschichten, denen gerade wegen ihrer niedrigeren Stellung Respekt entgegenzubringen sei, 16 weist auf ein Bild hin, in dem das soziale Kapital des Adels zwar als in die Krise geraten, aber als noch zu retten galt. Hinsichtlich des Staatsverständnisses herrschte hier die Auffassung vor, dass die Adligen als Stand die Republik verkörperten und daher auch in besonderer Weise für sie verantwortlich waren. Die Vorstellung eines überpersonalen Staates, in dem sich das Gemeinwohl verkörpere, spielte hier noch keine Rolle. 17 Das zweite Reformprogramm richtete sich explizit gegen eine solche eher traditionelle Reformulierung von Adligkeit und das damit einhergehende Elitenverständnis. Zwar zielten die kleinadligen und bürgerlichen Reformpolitiker, deren bekannteste Vertreter Hugo Koll^taj (1750-1812) und Stanislaw Staszic (1755-1826) waren, auch auf die Schaffung einer neuen Elite. Doch hatten sie dabei nicht den tugendmäßig auf Vordermann gebrachten Geburtsstand vor Augen, sondern einen Adel, der entweder durch Besitz oder Leistung vorhanden war bzw. erworben werden konnte. Sie strebten eine Universalisierung des Bildungssystems an und lehnten teure Eliteanstalten wie die Ritterschule in Warschau ab. An ihre Stelle sollten Ausbildungsanstalten für alle Schichten treten, von denen Koll^taj hoffte, dass dort „der Pole dem Polen den Weg zu Tugend und Ehre zeige,

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Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa. Frankfurt a. Μ ./New York 2006, S. 271-295. „Jest to czlowiek mlody dobrze urodzony, oddany pod dozör Osöb, ktore obyczaie jego ksztalcic, rozum polerowac, i wiadomosciami zdobic powinny, na to: aby go uczynity godnym zaszczytu szlachetnego urodzenia. [...] Pewnie ze nie dosyc; urodzenie ζ cnot^ i ζ przymiotami zl^czone naypierwszym iest zaszcytem." Katechizm moralny dla uczniöw Korpusu Kadetöw, in: Zbiör pism tycz^cych si? moralnej edukacji mtodzi korpusu kadetöw. Warszawa 1792, S. 25, 34. [Alle Zitate aus dem Polnischen übersetzt von C. K.] Ebd., S. 26. Damit entsprachen diese Programme in gewisser Weise Vorstellungen des Adelskonservatismus, die den Staat als eine societas civilis von „Hausvätern" konzeptionalisierten und dem Territorialstaat ablehnend gegenüberstanden. Vgl. Heinz REIF, Adel im 19. und 20. Jahrhundert. München 1999, S. 102.

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dass er ihn dort zu einem guten Bürger wie zu einem guten Soldaten forme, dass die Ausbildung der Kadetten die allzu weiche Ausbildung der gegenwärtigen Schulen verbessere, dass durch diese Ausbildung das gesamte Volk einen soldatischen Geist und ein soldatisches Herz bekomme und dass sich Tapferkeit und Mut zusammen mit dem Wunsch nach Gehorsam auf alle Klassen der Bürger ausbreite."18 Hier wurde angestrebt, was Maciej Janowski als „Nivellierung nach oben" bezeichnet hat:19 Es ging vorrangig nicht um die Aufhebung ständischer Privilegien, sondern darum, dass sich die gesamte Gesellschaft in dem Sinne verbürgerlichte, dass immer weitere Schichten in die Lage versetzt wurden, für das Gemeinwohl Verantwortung zu übernehmen. Staszic erklärte dementsprechend, dass der „künftige Stand des Bürgers [przyszfy stan obywatela]" die Rolle bezeichne, die der einzelne im künftigen Staatswesen einnehmen werde. Adlige wie Nichtadlige waren der Republik zu Dienst verpflichtet und aus dieser Tätigkeit sollte ein neuer allgemeiner Bürgerstand entste20

hen. Grundlegend für dieses Projekt war die Vorstellung eines Zentralstaats, dem die alleinige Loyalität des einzelnen galt und in dessen Namen er sich für das Gemeinwohl einsetzte. Deutlich wurden die unterschiedlichen Staatsverständnisse, die den beiden Reformprogrammen inne wohnten, etwa an der semantischen Entwicklung des Begriffes „Verrat [zdrada]": Im Katechismus Czartoryskis taucht dieser Begriff lediglich auf die individuelle Lebensführung der Schüler bezogen auf, nicht aber im Feld der Politik. Verrat am Gemeinwohl bzw. am Gemeinwesen Staat konnte in den politischen Debatten erst Dynamik entfalten, als sich zumindest bei Teilen des Adels das Bewusstsein durchgesetzt hatte, dass der Staat der einzige Adressat der Loyalität 21

seiner Bürger war. Bei dem Teil des Adels, der einem konservativen Republikanismus anhing, ersetzte die politische Gemeinschaft des Adels „[...] azeby Polak Polakowi do cnoty i honoru wskazywal drog$, aby go razem na dobrego obywatela i dobrego formowal zotnierza, aby edukacja kadetöw poprawita zbyt mi^kk^ edukacja szköl terazniejszych, aby przez ηίς cafy narod nabieral ducha i serca zohiierskiego, aby mqstwo i odwaga wraz ζ nalogiem subordynacji rozchodzila si^ na wszystkie obywatelöw klasy", in: Hugo KOLLATAJ, Listy Anonima i prawo polityczne narodu polskiego. Opr. Bogustaw LESNODORSKI/Helena WERESZYCKA. 2 Bde., Warszawa 1954, hier Bd. 1, Brief 3, S. 201f. 19

JANOWSKI, Z i v i l g e s e l l s c h a f t , S. 3 0 7 .

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Stanislaw STASZIC, Uwagi nad zyciem Jana Zamoyskiego (... do dzisiejszego stanu Rzeczypospolitej przystosowane) ( 1 7 8 5 ) . Opr. Stefan CZARNOWSKI. Wroclaw 1 9 5 2 , S. 3 1 , 114. Jaroslaw CZUBATY, Zasada „dwöch sumieri". Normy postQpowania i granice kompromisu politycznego Polakow w sytuacji wyboru (1795-1815). Warszawa 2005, S. 24f., 670.

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der Republik jedoch den überpersonalen Staatsbegriff. 22 Der Adel war der Staat bzw. der Staat gehörte ihm, wie etwa Antoni M^czak das Bewusstsein des Standes beschrieben hat. Je konkreter die Ansätze zur Verwaltungsreform in der von den Nachbarmächten bedrohten Adelsrepublik wurden, desto offensichtlicher traten die Meinungsunterschiede hinsichtlich des Staatsverständnisses zu Tage. Obwohl die meisten adligen Diskussionsteilnehmer daran festhielten, dass die Reform der Republik auf lokaler Ebene beginnen müsse, ähnelten sich radikale Reformer und Verteidiger der alten adligen Privilegien nur oberflächlich.23 Während die traditionellen Adelseliten vor allem die Furcht vor einer starken Zentralgewalt umtrieb und sie sich daher für die Stärkung regionaler Milizen, die unter magnatischem Oberbefehl stehen sollten, einsetzten,24 sprachen sich Reformer wie KoH^taj gegen eine solche Stärkung der oligarchischen Machtbasis aus.25 Stattdessen sollten auf Kreisebene militärische und zivile Ämter entstehen, die ein Betätigungsfeld für die Söhne des Kleinadels und die aufstiegswilligen bürgerlichen und bäuerlichen Schichten bieten würden. Der Autor hob hervor, dass auf diese Weise der Tendenz Einhalt geboten werden könne, dass öffentliche und private Angelegenheiten vermischt würden und aus falsch verstandener Freiheitsliebe private Streitigkeiten den öffentlichen Raum belasteten. Zudem würde damit den verarmten Kleinadligen ein sinnvolles Tätigkeitsfeld geboten.26 Er entwarf hier ein Feld öffentlicher Aufgaben, das zu einer Ausdifferenzierung der Gesellschaft beigetragen hätte. Dem stand jedoch das Staatsverständnis konservativer Adliger und vor allem das vieler 27

Magnaten diametral entgegen. Symptomatisch dafür war etwa die Kritik am Aufbau einer regional organisierten Verwaltung, deren Mitarbeiter sich um öffentliche Angelegenheiten wie Truppenrekrutierung und -Versorgung, Straßenbau oder Armenfürsorge kümmern sollten. Die dazu 1789 als „Zivil-Militärische

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Antoni M a c z a k , Der Staat als Unternehmen. Adel und Amtsträger in Polen und Europa in der Frühen Neuzeit. München 1989, S. 27; ähnlich argumentiert auch: Thomas E r t m a n , Birth of the Leviathan. Building States and Regimes in Medieval and Early Modern Europe. Cambridge 1997, S. 299-315. M i c h a l s k i , Problematyki, S. 336f. Sposob powi^kszenia sil krajowych w Polszcze przez popisowe milicyje. Warszawa 1788. Der Autor der anonymen Schrift war der vermögende wolhynische Adlige Ignacy Krzucki. Vgl. Emanuel R o s t w o r o w s k i , Krzucki, Ignacy h. Topör, in: Polski Stownik Biograficzny. Bd. 15, Wroclaw u.a. 1970, S. 542-544. KOLLATAJ, Listy, Bd. 1, Brief 5, S. 212. Ebd., Bd. 2, S. 341-366, hier bes. S. 350-352 („O poprawie szkoly kadetow i ο wskrzeszeniu milicyi wojewödzkich napisany rok 1784"). MACZAK, Staat, S. 26.

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Ordnungskommissionen [Komisje Porzqdkowe Cywilno-Wojskowe]" ins Leben gerufenen regionalen Verwaltungsbehörden waren weit von den umfassenden Reformplänen eines Koll^taj entfernt. Ihre Mitglieder verrichteten diese Aufgaben ehrenamtlich; die dortige Tätigkeit galt allerdings als Vorbedingung für die Bekleidung bezahlter öffentlicher Ämter. Im Gegensatz zu den anfanglichen Plänen, sie einer Zentralbehörde zu unterstellen, blieben sie lediglich den Kreistagen [sejmiki] - auf denen auch ihre Mitglieder gewählt wurden - rechenschaftspflichtig. Sie stärkten damit das dezentrale Verwaltungsprinzip der Adelsrepublik.28 Dennoch waren sie heftig umstritten. Einer ihrer Kritiker bezweifelte etwa im Jahr 1791 generell die Existenz „öffentlicher Aufgaben" und wies die Aktivitäten der Kommissionen im Straßenbau damit zurück, „dass die Wojewodschaft Jahrhunderte überstanden hat, während man zufrieden stellend auf ungepflegten Wegen reiste, wer jedoch bessere Wege will, der möge sie sich auf eigene Kosten machen."29 Dabei war die Rekrutierung des Personals der Kommissionen ein Zugeständnis an die traditionelle Elite der Adelsrepublik: Ihre überwiegend adligen Mitglieder qualifizierten sich fast alle dadurch, dass sie bereits zuvor Ämter im adelsrepublikanischen System bekleidet hatten, während bürgerliche Kandidaten, die explizit zugelassen waren, nobilitiert sein und ein Eignungsexamen ablegen mussten.30 Auch wenn materielles und soziales Kapital vorlag, musste also auch kulturelles nachgewiesen werden. Die Polemik hinsichtlich bezahlter öffentlicher Ämter und der Hinweis, dass die Übernahme eines Amtes eine Ehre, aber kein Beruf sei, mag überraschend erscheinen, wenn man sich vor Augen hält, dass gerade die hohen Landesämter, die nicht durch die Landtage besetzt wurden, sowohl besoldet als auch den Magnaten vorbehalten waren - die übrigens sehr viel heftiger um dieses Ämterprivileg 31 als um das des Landbesitzes kämpften. Doch auch hier wird wieder deut-

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Zu den Kommissionen vgl. Kommissye porzqdkowe cywilno-woyskowe, woiewödztw, ziem i powiatöw w Koronie, in: Volumina Legum. Bd. 9, Krakow 1889, S. 146-156; Tadeusz KORZON, Wewn^trzne dzieje Polski za Stanislawa Augusta (1764-1794). Badania historyczne ze stanowiska ekonomicznego i administracyjnego. Wyd. 2. Warszawa 1897, hier Bd. 5, S. 196-232; Andrzej ZAHORSKI, Centraine instytucje policyjne w Polsce w dobie rozbiorow. Warszawa 1959, S. 64-68; MALEC, Polska mysl administracyjna, S. 89-93. Uwagi nad Kommissjami porzqdkowymi na Litwie (ktore tatwo mozna rozciqgnqc do Korony), in: Przeglqd Historyczno-Polityczno-Ekonomiczny (1791), S. 321-331, hier S. 325. ZAHORSKI, Centraine instytucje, S. 97-116. Jerzy JEDLICKI, Klejnot i bariery spoleczne: Przeobrazenia szlachectwa polskiego w schylkowym okresie feudalizmu. Warszawa 1968, S. 3 0 - 4 4 ; M A C Z A K , Staat, S . 23-25; KizwALTER, Ο nowoczesnosci, S. 97f.

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lieh, dass sich der adlige Amtsträger als Angehöriger der Schicht verstand, die den Staat politisch repräsentierte; damit war dieses magnatische Verhalten der Diskussion um angeblichen Eigennutz entzogen. Anders sah es bei der Bewertung der Kleinadligen aus, die Ende des 18. Jahrhunderts massenhaft in die Posten der Verwaltungskommissionen drängten. Ihnen wurde 1791 von konservativer Seite vorgehalten, dass ,,[d]as erste Fieber der wiedererweckten Staatsbürgerschaft und die Eigenliebe zur Folge hatten, dass es so viele Kandidaten für die Kommissarsposten gab wie Kleinadlige ohne Amt." 32 Der Vorwurf des Eigennutzes, der im Begriff der „Eigenliebe" mitschwingt, tauchte auch in den satirischen bzw. kritischen Darstellungen des Beamtenapparats im Herzogtum Warschau immer wieder auf. Bevor mit der dritten Teilung im Jahr 1795 die polnisch-litauische Adelsrepublik endgültig unterging, konnte die Führung des KoscisuszkoAufstandes einige der Projekte verwirklichen, die von den Reformern formuliert worden waren, aber gegen den Widerstand der konservativen Adligen nicht hatten durchgesetzt werden können. 33 Mit der Einsetzung von Aufsehern [dozorey] gelang es zum ersten Mal, Vertreter der Staatsgewalt auf der Ebene der Dörfer und der adligen Gutsherrschaften zu etablieren. Sie waren den Zivil-Militärischen Ordnungskommissionen und diese wiederum der zentralen Exekutive des Aufstands, dem Obersten Nationalrat [Najwyzsza Rada Narodowa], Rechenschaft schuldig. Damit wurde ein hierarchisch gegliederter Verwaltungsaufbau errichtet. Hauptaufgabe der dozorey war es, die Bauern vor Willkürakten der Adligen zu schützen, ihre Abgaben an die Aufstandsregierung zu überwachen und generell die Bevölkerung über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären. 34 Vieles erinnerte an die Reformprojekte der Vor-Teilungszeit, so etwa das Versprechen, dass die ehrenamtlich arbeitenden dozorey nach ihrer vierjährigen Amtszeit Anspruch auf ein vergütetes öffentliches Amt erlangten. 35 Um die Bevölkerung gegen mögliche Willkürhandlungen dieser neuen Beamten zu schützen, etablierte der Oberste Nationalrat das Oberste Kriminalge-

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„Pierwsza gor^ezka Obywatelstwa wskrzeszonego, i milosc wlasna sprawita, ze tyle byto Kandydatöw do Kommisarstwa, ile Szlachty bez Urz^du", in: Uwagi nad Kommissjami, S. 322. MALEC, Polska mysl administracyjna, S. 122-124. Rada Najwyzsza Narodowa: Ustanowienie dozoröw i przepisy dla dozorcöw i nauczycielach w dozorach, 26 lipea 1794r., in: Szymon ASKENAZY/Wlodzimierz DZWONKOWSKI (Hg.), Akty powstania Kosciuszki. Protokoty i Dzienniki Rady ZastQpczej Tymczasowej i Rady Najwyzszej Narodowej. 2 Bde., Krakow 1918, hier Art. 1 u. 2, Bd. 2, S. 6-12, hier S. 6-9. Art. 2, Ziffer 12, in: Ebd., S. 9.

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rieht [Sqd Najwyzszy Kryminalny].36 Die Ausnahmesituation des Aufstandes schien wie ein Katalysator auf die Entwicklung des Staatsverständnisses zu wirken. Nun kam es zu einer eindeutigen Ausrichtung der Loyalität auf den zu rettenden Staat und zur Einsetzung von Beamten, die unterstützt bzw. kontrolliert durch die Judikative für die Achtung des sich im Staate verkörpernden Gemeinwohls zuständig waren. 37 Die Betrachtung des späten 18. Jahrhunderts zeigt, dass die Arena des Staatlich-Administrativen in ihrem Bedeutungsgehalt heftig umkämpft war. Der traditionell eingestellte Adel verstand sich als politische Gemeinschaft, woraus resultierte, dass der Staat nur in der Summe seiner adligen Bürger existierte. Damit war die Übernahme von Ämtern ein Bestandteil adliger Identität. Eine Trennung zwischen der Eigenschaft als Standesperson und Staatsbürger erfolgte nicht. In der Auffassung der Reformpolitiker war der Staat eine übergeordnete Entität, der alle Bürger Loyalität schuldeten. Bürger zu sein bedeutete, eine bestimmte, dem Gemeinwesen zuträgliche Funktion im Staat einzunehmen. Damit sollte eine gesellschaftliche Ausdifferenzierung einhergehen; die Übernahme von Ämtern wurde als Beruf betrachtet. Die Arena, in der diese beiden Konzepte aufeinander prallten, war die seit den 1780er Jahren heftig umkämpfte Lokalverwaltung. Für die traditionellen Adligen war sie ein Feld des Ehrerwerbs und der Abwehr zentralstaatlicher Einmischung, für die Reformer materialisierte sich in ihr der zentralstaatliche Regelungsanspruch auf lokaler Ebene. Aufgrund des Fehlens rechtlicher und institutioneller Rahmenbedingungen mussten die Reformpolitiker auf die bestehenden Institutionen der Adelsrepublik zurückgreifen. Während die alten Eliten sich so auch weiterhin auf ihr soziales (und materielles) Kapital stützen konnten, fehlte den neuen Eliten für die Ausbildung kulturellen Kapitals der institutionelle Rückhalt. Auch als sich in der Ausnahmesituation des Kosciuszko-Aufstandes Konzepte des Reformlagers durchsetzen konnten, wird man kaum von einem gemeinsamen Elitebewusstsein der Amtsträger alten und neuen Typs sprechen können.

Rada Najwyzsza Narodowa, Organizacya S^du Naywyzszego Rryminalnego dla Korony i Litwy, 17 ezerwea 1794 r., in: Ebd., Bd. 1, S. 328-332. CZUBATY zeigt in seinen Ausführungen zu den Verhaltensnormen der Polen in den Jahren 1795-1815, dass auch noch im 19. Jahrhundert Modelle der Loyalität gegenüber der Adelsgemeinschaft, die im 18. Jahrhundert dominiert hatten, und gegenüber der Nation bzw. der Idee eines unabhängigen Staates, wie sie hier während des Kosciuszko-Aufstandes zu beobachten waren, nebeneinander existierten. DERS., Zasada, S. 678f.

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3. Das Herzogtum Warschau (1807-1813) Mit den Teilungen gerieten Reformprogramme und alte Eliten unter den Einfluss unterschiedlicher Stile des forcierten staatlichen Verwaltungsausbaus, der seit dem späten 18. Jahrhundert in Europa zu beobachten war. Hier soll vor allem das zentralistische Modell der napoleonischen Verwaltungsstrukturen vorgestellt werden, das im Herzogtum Warschau Einfluss 38

auf Rekrutierung und Selbstverständnis der Beamten hatte. In der Etablierung der zentral gelenkten und hierarchisch organisierten napoleonischen Verwaltung materialisierten sich nun viele Vorstellungen von einer Verwaltungsreform, die im späten 18. Jahrhundert noch heftig umstritten gewesen waren. Die Einführung von Departements-, Kreis- und Stadtverwaltungen ließ eine Gruppe von 5.000 bzw. nach der Vergrößerung des Herzogtums Warschau im Jahr 1809 von 9.000 Beamten entstehen. Im Rahmen der neuen Verwaltungseinteilung kommunizierte die Zentralregierung nicht mehr mittels der Wojewoden bzw. adliger Amtsträger mit dem landsässigen Adel, sondern mittels ihrer eigenen Beamten.39 Dabei ist bekannt, dass die napoleonische Herrschaft bei der Besetzung der herausgehobenen Verwaltungspositionen begüterte Adlige bzw. Adlige, die aufgrund familiärer Traditionen hohes Ansehen besaßen, bevorzugte.40 Zugleich bedeutete die neue privatrechtliche Ordnung des napoleonischen Code Civil einen Frontalangriff auf das ständische System der Adelsrepublik. De iure stellte seine Einführung die gesellschaftliche Ordnung auf völlig neue Grundlagen. Die ständischen Schranken galten als abgeschafft, persönliche Freiheit sowie Besitz und Vertragsfreiheit waren die Grundpfeiler der neuen Ordnung. Artikel vier des Verfassungsgesetzes

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Auch Raphael spricht vom „napoleonischen Modell", das er den „dynastischen Militärstaaten" der Habsburger und Hohenzollern, dem englischen Sonderweg sowie der „nachholenden Modernisierung" Russlands gegenüberstellt. DERS., Recht und Ordnung, S. 4 1 - 7 5 . Ustawa Konstytucyjna Ksi^stwa Warszawskiego ζ 22 VII 1807, in: Dziennik Praw KsiQstwa Warszawskiego. Warszawa 1810, S. II-XLVII (Nr. 8: Landesgliederung und Verwaltung); Wladyslaw ROSTOCKI, Korpus w gQsie piöra uzbrojony. UrzQdnicy warszawscy, ich zycie i praca w Ksi^stwie Warszawskim i Krölestwie Polskim do roku 1831. Warszawa 1972, S. 7 ^ 9 ; Andrzej CHWALBA, Historia Polski 1795-1918. Krakow 2001, S. 237f.; Jaroslaw CZUBATY, Warszawa 18061815: Miasto i ludzie. Warszawa 1997, S. 21-26; Witold KULA, Udzial we wladzy, in: DERS./Janina LESKIEWICZOWA (Hg.), Przemiany spoleczne w Krölestwie Polskim 1815-1864. Wroclaw 1979, S. 4 0 5 ^ 1 9 , hier S. 407. ROSTOCKI, Korpus, S. 10f.; Jacek GOCLON, Polska na krolu pruskim zdobyta. Uströj, administracja i s^downictwa doby Komisji Rz^dz^cej w 1807 roku. Wroclaw 1999, S. 145-154.

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des Herzogtums hob zudem die Leibeigenschaft auf und verkündete die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz.41 Dennoch gelang es den traditionellen Eliten, sich an das zunächst heftig bekämpfte System anzupassen. Sie zeigten sowohl hinsichtlich der Wahrung ihrer materiellen Situation als auch ihres gesellschaftlichen Prestiges eine hohe Anpassungsfähigkeit.42 Zugleich eröffnete der systematische Aufbau einer bis auf die Ebene der Kreise und Städte herabreichenden hierarchisch gegliederten Verwaltung und die Unterhaltung - gemessen an Größe und Einwohnerzahl des Herzogtums - großen Heeres neue gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten 43 Diese Rahmenbedingungen machten das Verwaltungswesen im Herzogtum Warschau zu einem Schauplatz, auf dem durch die Konvertierung von materiellem, sozialem und kulturellem Kapital Prozesse der Elitenvergesellschaftung stattfanden, gleichzeitig aber auch um Abgrenzung und damit verbunden Statuswahrung gerungen wurde. Wieder interessiert hier die Frage, in welche Beziehung sich die Akteure zu dem Feld des Administrativen als Verkörperung von Staatlichkeit setzten und ob damit eine neue Arena für Elitenhandeln bzw. die Konstruktion eines gemeinsamen Elitenbewusstseins entstand. Die Rahmenbedingungen des Herzogtums Warschau boten sich als Anknüpfungspunkte für die adelsrepublikanischen Reformkonzepte an, die ein Verständnis von überpersonaler Staatlichkeit hatten entwickeln wollen, dem die alleinige Loyalität der öffentlichen Amtsträger gelten sollte. Voraussetzung für ein solches neues Staats- und Amtsverständnis war im Herzogtum wie auch in anderen Teilen Europas an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Existenz kodifizierter Rechtsvorschriften als Verfahrensgrundlage sowie einer geschulten Beamtenschaft, die in der Lage war, diese Rechtsvorschriften anzuwenden.44 Nachdem das Projekt der Kodifizierung von Zivil- und Strafgesetzen in der alten Adelsrepublik gescheitert war,45 bildete der Code Civil nun erstmals eine allgemeingül-

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Ustawa konstytucyjna (Titel 1, Art. 4); zum Code Civil vgl. Hipolit GRYNWASER, Pisma. Tom I: Kodeks Napoleona w Polsce. Demokracja szlachecka 1795-1831. 1. Aufl. 1914/1918, Wroclaw 1951, S. 13-163; Boguslaw LESNODORSKI, Elementy feudalne i burzuazyjne w ustroju Ksi^stwa Warszawskiego, in: Czasopismo Prawno-Historyczne 3 (1951), S. 304-332. Christopher BLACKBURN, Napoleon and the Szlachta. New York 1998. GRYNWASER, Kodeks, S. 54-58; JEDLICKI, Klejnot, S. 224-240; BLACKBURN, Napoleon, S. 128f.; KIZWALTER, Ο nowoczesnosci, S. 136f. Eine ähnliche Anpassungsfähigkeit des Adels an radikal veränderte rechtliche Rahmenbedingungen beschreibt für den preußischen Fall: REIF, Adel, S. 42. RAPHAEL, Recht und Ordnung, S. 26-31 sowie S. 76-85. Der sejm lehnte im Jahr 1780 die Annahme einer „Sammlung der Gerichtsgesetze [Zbiör Praw Sqdowych]" ab, die der Reformpolitiker Andrzej Zamoyski (17 Π Ι 792) 1778 zusammengestellt hatte.

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tige Grundlage zur Regelung der zivilrechtlichen Beziehungen. Das Personal, das diese Rechtsvorschriften anwenden sollte, wurde in der 1808 in Warschau gegründeten Rechtsschule [Szkota Praw] ausgebildet, die 1811 in eine Schule der Verwaltungswissenschaften [Szkola Nauk Administracyjnych] umgestaltet wurde. Bereits seit der Gründung des Herzogtums waren angehende Beamte in privaten Vorlesungen über die Anwendung des neuen Gesetzbuches unterrichtet worden.46 Die Bedeutung von Bildungspatenten wuchs merklich und der strengen Normierung der Ausbildung wurde großer Wert beigemessen. Die Einrichtung von Examenskommissionen auf der Ebene der Zentrale und der Departements sollte fur die Überwachung der Bildungsstandards sorgen und immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass der Abschluss dieses Ausbildungsganges den einzigen Weg zur Übernahme höherer Beamtenstellen darstellte - damit sollte u.a. die Überfuhrung ehemaliger Militärs in die Zivilverwaltung verhindert werden.47 Eine Konsequenz dieser funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft war die zunehmend geschlechtliche Codierung von Handlungsräumen. In der alten Adelsrepublik hatten die Höfe vor allem der vermögenden Adligen Kommunikations- und Handlungsorte dargestellt, die sowohl die Interessen der Adelsfamilien, aber vermittelt über die Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft der szlachta, die sich als Nation verstand, immer auch den durch sie repräsentierten Staat betrafen. Öffentlichkeit und Privatheit waren damit nicht streng geschieden und eine Teilhabe der weiblichen Adligen an diesen Angelegenheiten - sei es in den Foren des Salons oder als Verwalterin der Güter - bestimmte ihre gesellschaftliche Stellung 48 Durch die Professionalisierung von Verwaltung entstand nun 44

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Boguslaw LESNODORSKI, Szkota Prawa i Nauk Administracyjnych w Ksi^stwie Warszawskim, in: DERS. u.a., Studia Ζ dziejöw Wydziahi Prawa Uniwersytetu Warszawskiego. Warszawa 1963, S. 7-32. Ebd., S. 18f.; ROSTOCKI, Korpus, S. 21f.; dazu auch: Wypis Ζ Protokohi Sekretaryatu Stanu w Palacu Naszym w Polnie dnia 22 Miesi^ce Maja Roku 1811. Fryderyk August ζ Bozej Laski Kröl Saski, in: Dziennik Praw KsiQStwa Warszawskiego III (1809-1811), S. 323-327. Hier wurde anlässlich der Gründung der Schule der Verwaltungswissenschaften im Jahr 1811 festgelegt, dass nach Ablauf einer Frist von sechs Jahren kein Kandidat mehr ohne Abschluss zur Prüfung vor den Examenskommissionen zugelassen werden dürfe. Ebd., S. 324. Lucja CHAREWICZOWA, Kobieta w dawnej Polsce. Do okresu rozbiorow. 1. Aufl., Lwow 1938, Poznan 2002, S. 22-33; Maria BOGUCKA, Bialoglowa w dawnej Polsce. Kobieta w spoieczeAstwie polskim XVI-XVIII wieku na tie porownawczym. Warszawa 1998; Claudia KRAFT, Die Polin als Staatsbürgerin. Reformdebatten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Edith SAURER u.a. (Hg.), Women's movements. Networks and debates in post-communist countries in the 19th and 20th century. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 523-540, hier bes. S. 5 2 5 529. Ein hervorragendes Beispiel für die herausgehobenen Handlungsmöglichkei-

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eine Sphäre, die exklusiv fur die verwaltenden Spezialisten war und die als Öffentlichkeit, in der das Gemeinwohl verhandelt wurde, deutlich vom privaten Lebensraum unterschieden wurde. Damit wurde das Wirkungsfeld adliger Frauen eingeschränkt, da ihnen der Erwerb von Bildungspatenten, die zunehmend den Zutritt zu dieser Sphäre regelten, nicht möglich war.49 Nur in Ausnahmefällen konnte etwa das durch adlige Mädchenausbildung erworbene kulturelle Kapital ein weiteres öffentlich-politisches Wirken adliger Frauen gewährleisten. Ein Beispiel dafür war die Präfektengattin Anna Nakwaska (1781-1851), die aufgrund ihrer exzellenten Französischkenntnisse, die sie vielen niederen Beamten im Verwaltungsapparat des Herzogtums, aber auch dem Präfekten selbst voraus hatte, an den Amtsgeschäften des Departments Warschau beteiligt war - einerseits nur auf „inoffizielle" Art und Weise, indem sie etwa französische Schriftstücke korrigierte oder Konversation ihres Ehemannes mit französischen Amtsträgern übersetzte, andererseits durchaus offiziell als Inspektorin der Anstalten für Mädchen- und Frauenbildung, aber doch zur Institutionalisierung der Geschlechtertrennung durch die Bildungspatente beitragend.50 Die Ausbildung dieser neuen Sphäre von Öffentlichkeit war eng mit dem Selbstverständnis der dort tätigen Akteure verbunden. Dieses geht etwa aus den Ausführungen eines der Professoren der Rechtsschule, des Juristen Franciszek Ksawery Szaniawski (1768-1830), hervor. Hier wird deutlich, welche Bedeutung den Beamten bei der Ausbildung eines neuen Staats- und Gemeinwohlverständnisses beigemessen wurde: „Alle Mitglieder der Gesellschaft legen einen Teil der eigenen Freiheit in die Personen der Beamten; diese stellen in gewisser Hinsicht den allgemeinen Willen dar und sollen über eine allgemeine Vernunft verfügen. [...] Aus ähnlichen Überlegungen über die Beamten resultiert, dass ihrem Stand Autorität, Priorität und Hochachtung gebührt und dass ihnen Würde und Vorrang zu-

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ten, die sich adligen Frauen in der Adelsrepublik boten, ist die Fürstin Anna Paulina Jablonowska ζ Sapiehöw, die für die Verwaltung ihrer Güter die durch kameralistische Grundsätze geprägte Schrift Ustawy powszechne dla rzqdcöw döbr moich (Warszawa 1786) veröffentlichte. Ähnlich wie andere Angehörige des magnatischen Adels verstand sie ihr Gut als eine Art Staat, auf dem sie gesetzgebende Tätigkeit ausüben konnte. Vgl. dazu auch MALEC, Polska mysl administracyjna, S. 97f.; Janina BERGER-MAYEROWA, Jablonowska Ζ Sapiehöw, Anna Paulina, in: Polski Slownik Biograficzny. Bd. 10, Wroclaw u.a. 1962-1964, S. 210-212. RAPHAEL, Recht und Ordnung, S. 173f. Anna NAKWASKA, Ze wspomnieA wojewodziny Nakwaskiej, in: Kronika Rodzinna. Pismo dwutygodniowy poswi^cone literaturze, sprawom spolecznym i domowym. [Warszawa] 1891, S. 4-6, 169-174, 292-297; Helena MICHALOWSKA, Nakwaska ζ Krajewskich, Anna, in: Polski Slownik Biograficzny. Bd. 22, Wroclaw u.a. 1977, S. 476f.; ROSTOCKI, Korpus, S. 42f.

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teil wird. Die Beamten hören in gewisser Weise auf, den anderen Menschen gleichgestellt zu sein, wenn sie die Aufgaben ihres Amtes ausüben. Die Beleidigung der Beamten ist ein Verbrechen an der gesamten Gesellschaft."51 Ein Beamter zeichne sich durch Verantwortungsgefühl für das Gemeinwohl sowie durch das in geregelter Ausbildung erworbene Wissen aus. Dieses - vor allem juristische - Wissen versetze ihn in die Position, das Gemeinwohl zu befördern.52 Mit dieser Einschätzung ging die Aufwertung von Bildungspatenten einher, die die Eintrittskarte in die Sphäre der neuen Leistungselite darstellten.53 Eine solch herausgehobene Position der Beamten als neuer gesellschaftlicher Elite hielt jedoch dem Vergleich mit der Realität nicht stand. In seiner Geschichte des Herzogtums Warschau erläuterte der Schriftsteller und Ökonom Fryderyk Skarbek (1792-1866) anschaulich, weshalb Hochachtung für die Beamten häufig ausblieb. Das Ideal eines aufgeklärten Staates, in dem Gesetze und nicht Menschen herrschten, sei dem Gros der polnischen Bevölkerung fremd gewesen.54 Ein Verständnis von Staatlichkeit, das jenseits der traditionellen personalen Beziehungen allein den Staat als Adressaten von Loyalität identifizierte und die Vermittlung dieser Loyalität in die Hände von professionellen Beamten legen wollte, stieß auf heftige Kritik, die das Weiterwirken eines traditionellen Amtsverständnisses reflektierte. Als Ökonom lobte Skarbek die bürgerlichen Freiheiten und ökonomischen Entfaltungsmöglichkeiten im Herzogtum. Gleichzeitig übte

„Wszystkie czlonki Towarzystwa cz^stk^ wolnosci wtasney skladai^ w osobach Urz?dniköw; ci wystawiai^ powszechn^ \νο1ς pod pewnym wzgl^dem, i powszechny rozs^dek miec powinni. [...] Ζ podobnych wyobrazeh ο Urz^dnikach pochodzi, ze powagQ, pierwszenstwo, uszanowanie ich stan wznieca: Godnosc, starszeAstwo przywi^zane do ich osob. Pizestai^ byc niejako rownemi drugim ludziom, gdy obowiqzki urz^du swego wykonywaiq.. Zniewazenie UrzQdniköw, iest zbrodni^ przeciw calemu towarzystwu", in: Franciszek Ksawery SZANIAWSKI, Ο urz^dnikach. Rzecz czytana na pierwszym posiedzeniu biegu nauk w szkole prawa, zacz^tego dnia 2go pazdziernika r. 1809. Warszawa 1810, S. 6f. Ebd., S. 10-13. In seiner Auffassung, dass die Herrschaft des Rechts gesellschaftliche Freiheit garantiere (S. 13), trifft sich Szaniawski mit KoU^taj, der dies bereits 1784 postuliert hatte. KOLLATAJ, Ο poprawie, S. 353. RAPHAEL, Recht und Ordnung, S. 169-172. Fryderyk Hr. SKARBEK, Dzieje Ksi^stwa Warszawskiego. 2 Bde., Posen 1860, hier Bd. 1, S. 37. Skarbek war im Verwaltungsapparat des Herzogtums tätig, im Königreich Polen wurde er 1818 Professor am Fachbereich für Recht und Verwaltung der Warschauer Universität und Mitglied der Hauptkommission für die Beamten-Examen [Gtöwna Komisja Egzaminazyjna Urz^dnikow]. Seit 1850 verfasste er die Geschichte des Herzogtums Warschau. Vgl. Kazimierz BARTOSZYNSKI/Stefan KIENIEWICZ, Skarbek, Fryderyk Florian, in: Polski Slownik Biograficzny. Bd. 38, Warszawa/Krakow 1997/98, S. 8-13.

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er heftige Kritik an den besitzlosen Adligen, die im napoleonischen Verwaltungsapparat ihr Auskommen suchten. „Für diese war der Augenblick der Wiedergeburt Polens die Öffnung eines neuen Berufs, in dem sie alles gewinnen und nichts verlieren konnten. Aus ihnen bestand diese für unser Land überflüssige Masse von Leuten, die bereit ist, überall Dienste zu erbringen, wo ihr Bezahlung und Aufstieg sicher ist, die mit der Zeit im Volk immer mehr das etablierte, was die Römer homines novi nannten und wir am treffendsten Zufallskinder nennen können, Leute ohne Vorfahren, ohne Erinnerung an die nationale Vergangenheit und den gegenwärtig Herrschenden Untertan."55 Diese Kritik galt jedoch vor allem der „niederen Klasse der öffentlichen B e a m t e n [nizsza

klasa officyalistöw

publicz-

nych]", die allgemein verhasst gewesen sei: „Bei ihnen nahm die Abneigung der Einwohner gegenüber der Ausführung von Vorschriften und Urteilen der öffentlichen Gewalt ihren Ausgang, die später auf die eigentlichen Beamten übertragen wurde und mit der Zeit eine gewisse moralische Kluft zwischen den Beamten und Bürgern entstehen ließ, die gewöhnlich mit gegenseitiger Abneigung gefüllt war. Die Erinnerung und Tradition der einstigen Beamten der Republik zeichnete diese als Leute, die eher dem staatsbürgerlichen Dienst als der Ausführung des Regierungswillens verpflichtet gewesen waren, und hielt an der Meinung fest, dass der Beamte dem Bürger gegenüber nachsichtig sein, es ihm recht machen und zum Nachteil der Gesetze der Regierung mit Rücksicht auf die Bequemlichkeit der Bürger seine Pflichten vernachlässigen solle. Diese Überzeugung, die unvereinbar mit der öffentlichen Ordnung war, wurde plötzlich durch die Spannkraft der im Herzogtum eingeführten französischen Verwaltung erschüttert; und obgleich man vor allem die höheren Beamten jener Zeit nicht des Machtmissbrauchs und der Verfolgung ihrer Landsleute beschuldigen konnte, gelang es ihnen doch nicht, dem Missfallen ihrer Mitbürger zu entgehen, da sie den alten Vorstellungen hin-

„Dla tej byla chwila odrodzenia SIQ Polski otwarciem nowego zawodu, w ktörym wszystko zyskac a nie stracic niemogla. Ζ niej otworzyla si? owa tyle dla kraju naszego zgubna, massa ludzi gotowych niese wszqdzie ushigi, gdzie zaplatQ i wywyzszenie zapewnione miala, ktora si$ ζ czasem coraz bardziej powi^kszata i utworzyla w narodzie to, co Rzymianie nazywali homines novi, a co my najwtaseiwiej dzieemi okolicznosci, ludzmi bez poprzedniköw, bez pami^ci na przeszlosc narodow^ i oddanych obeenie panuj^cym zwac mozemy", in: SKARBEK, Dzieje, Bd. 1, S. 175. Diese Kritik ähnelte stark jener des Freiherrn vom Stein, die dieser 1821 an der neuen preußischen Beamtenschaft übte. Vgl. das Zitat bei RAPHAEL, Recht und Ordnung, S. 195. Zur adligen Kritik an der „professionell deformierten Persönlichkeit": REIF, Adel, S. 26. Seine Kritik an den niederen Beamten und „Schreiberlingen" drückte Skarbek auch in dem 1834 in Warschau erschienenen Theaterstück Biuralisci aus.

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sichtlich der Berufung der Beamten durch die Erfüllung ihrer Pflichten widersprachen."56 Generell stellte sich Skarbek hinter die neue gesellschaftliche Ordnung und kündigte damit die alte ständische Solidarität auf,57 die andere Adlige weiterhin reklamierten. Er ähnelte in seinen Positionen anderen besitzenden Adligen, die im Verwaltungsapparat des Herzogtums tätig waren und das ehemalige adelsrepublikanische Klientelsystem verurteilten, zugleich aber gerade der Schicht der niederen Beamten skeptisch gegenüberstanden, die in ihren Augen aus bloßem Eigennutz 58

handelten. Während Skarbek aus der Position desjenigen schrieb, der von der neuen Ordnung profitieren konnte, geben Memoiren kleinadliger Provenienz eher die Enttäuschung über den gesellschaftlichen Wandel wider. Der aus Podiasien stammende Roch Sikorski (1793-1860), der seinen Adelstitel verloren hatte, warf einen nostalgischen Blick auf die Beamten der Adelsrepublik, deren Habitus er mit dem der preußischen Beamten verglich, die man vor dem Jahr 1807 kennen gelernt hatte: „Überhaupt hatten wir keine Achtung für die preußischen Beamten; in der alten Republik nämlich war ein Beamter ein landsässiger Adliger aus einem bekannten Geschlecht. Die Gastfreundschaft unserer Beamten war altpolnisch und trotz des Amtes war jeder des anderen Bruder. Sogar die städtischen Ämter waren

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„Od nich zacz^la siq nienawisc mieszkaAcöw ku wykonywaczom polecen i wyrokow wladzy publicznej, ktora pözniej do wlasciwych urz^dniköw przeniosiona zostala, i ζ upfywem czasu ustanowila pewien moralny przedzial mi^dzy urz^dnikami a obywatelami, zwykle zobopölna niech?ci% zapehnony. Pami^c i tradycye ο dawnych urz^dnikach rzeczypospolitej przedstawialy ich jako ludzi raczej ushidze obywatelskiej, jak wykonywaniu woli rz%du poswiQconych, i utrzymywaty to mniemanie, ze urz^dnik obywatelowi poblazac, dogadzac i ζ ujm% praw rz^du przez wzgl^d na dogodnosc obywateli obowi^zki swoje zaniedbywac winien. To przekonanie, tak sprzeczne ζ porz^dkiem publicznym, zostalo nagle wstrz^snione przez spr^zystosc administracyi francuskiej do Xi^stwa zaprowadzonej; i lubo urz^dnikow zwlaszcza wyzszych ζ owego czasu, ο naduzycia wladzy i ο przesladowanie ziomkow obwiniac nie mozna, niemogli oni wszakze ujsc niechqci wspölobywateli, skoro tylko dawne przes^dy ο powolaniu urzQdniczym przez spetnieniu obowi^zkow swoich naruszali", in: SKARBEK, Dzieje, Bd. 2, S. 286f. JEDLICKI, Kleinot, S. 222. Vgl. dazu etwa die Erinnerungen von: Kajetan KO£MIAN, PamiQtniki. 3 Bde., Wroclaw 1972. Kozmian war der Sohn eines vermögenden Landadligen aus der Gegend von Lublin. Nach einem Jurastudium war er im Verwaltungsapparat des Herzogtums Warschau und des Königreichs Polen tätig. (Die Zeit, die er im Herzogtum als Beamter verbrachte, bezeichnete er als die „glücklichste meines Lebens". Ebd., Bd. 2, S. 281.) Seine Erinnerungen verfasste er seit 1850. Vgl. Zofia ZYDANOWICZ, Kozmian, Kajetan h. Nal^cz, in: Polski Slownik Biograficzny. Bd. 15, W r o c l a w / W a r s z a w a / K r a k o w 1 9 7 0 , S. 5 6 - 5 8 .

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mit - größtenteils verarmten - Adligen besetzt."59 Er drückte sein Bedauern über das Ende der ständischen Solidarität aus und kritisierte die neuen Überlebensstrategien seiner ehemaligen Standesgenossen. Kritisch stand er vor allem den niederen, von der Regierung ernannten Beamten gegenüber, die sich aufgrund ihrer geringen Löhne an der Bevölkerung schadlos hielten. Während die Bürger und der Kleinadel weiterhin altpolnische Kleidung [starozytne polskie ubiory] trügen, träten die niederen Beamten in Uniformen nach französischem Stil auf. Die Jugend hatte sich zu seinem Bedauern diesem ausländischen Kleidungsstil auch schon angepasst. Überhaupt missbilligte er das Streben der jungen Generation, im Militär und in der Verwaltung Ämter zu übernehmen und sich in solchen Tätigkeitsfeldern als „große Herren" zu fühlen.60 Die Missachtung, die Sikorski den französischen Uniformen der niederen Beamten entgegenbrachte, repräsentierte nur einen Aspekt des neuen Habitus. Bei den hohen Beamten des Herzogtums gehörten Uniformen fest zum Entwurf einer neuen gesellschaftlichen Elite, und die Debatten darüber, wer eine Uniform tragen dürfe und inwieweit durch diese eine Gleichstellung mit den traditionellen adligen Eliten erfolge, deuteten an, dass es hier um die Konvertierung von kulturellem (Bildung) in soziales Kapital (gesellschaftliches Prestige) ging. Die Diskussionen darüber resultierten im Jahr 1809 in einer Verordnung, die festlegte, dass Mitglieder des Staatsrates und der Gerichtsbarkeit sowie Abgeordnete die offiziellen Adelsuniformen des Herzogtums tragen durften, auch wenn sie nicht adlig waren.61 Deutlich wird hier erneut, dass wir es mit einer Übergangszeit zu tun haben. Neue und alte Merkmale der Elitenzugehörigkeit existierten nebeneinander und wurden von ihren Trägern wechselseitig in Dienst genommen, um die eigene gesellschaftliche Position abzustecken. Ein gutes Beispiel für ein solches Zusammenspiel neuer und alter gesellschaftlicher Platzanweiser war Rajmund Rembielmski (1774-1841). Seine Karriere in der Verwaltung des Herzogtums gründete sich sowohl

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„Wogöle nie mielismy szacunku dla urz^dniköw pruskich; w dawnej bowiem Rzeczypospolitej urzQdnik byt to szlachcic okoliczny ζ rodu znanego. Goscinnosc naszych urz^dnikow byta staropolska i pomimo urz^du byt kazdy kazdemu bratem. Nawet miejskie urz^dy ze szlachty, po wi^kszej cz^sci ogotoconej, sktadaty siq." „Lyki" i „kottuny". Pami^tnik mieszczanina podlaskiego 1790-1816. Wydat Ζ rqkopisu, przypisami i wst^pem opatrzyl Kazimierz BARTOSZEWICZ. Krakow 1918, S. 39. Ebd., S. 116-118. Dekret w sprawie uzywania munduru obywatelskiego przez nieszlacht?, 27 stycznia 1809 r., in: Bronislaw PAWLOWSKI (Hg.), Protokoly Rady Stanu Ksitjstwa Warszawskiego. Bde. 1/1-2 u. 2/1-2, Torirn 1960-1968, S. 7f„ Nr. 11; vgl. auch: ROSTOCKI, Korpus, S. 10.

Das „Staatlich-Administrative" als Feld von Aushandlungsprozessen

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auf seine Herkunft als auch auf die erfolgreiche Adaption an das neue Dienstideal. Er stammte aus einer wohlhabenden Adelsfamilie, hatte sich als geschickter Verwalter seiner Güter erwiesen und machte im Herzogtum eine rasche Karriere zum Departementchef zunächst in Plock, dann in Lomza.62 Wenn man davon ausgehen kann, dass es den Regierenden im Herzogtum Warschau ebenso wie andernorts im Europa jener Zeit darum ging, „einen neuartigen Stand leistungsorientierter Verwalter zu schaffen, die zugleich auch sozial hervorgehobene Repräsentanten des Staates sein konnten",63 entsprach Rembielmski diesem Ideal aufs Beste. In mehreren Schriften entwarf er ganz ähnlich wie Szaniawski das Bild des Beamten als eines überparteilichen Fachmannes, dessen wichtigste Attribute Bildung, Unbestechlichkeit und Gemeinwohlorientierung waren. Scharf wandte er sich gegen das adelsrepublikanische Amtsverständnis und widersprach der Auffassung, dass die Bekleidung eines öffentlichen Amtes ein adliges Vorrecht, aber kein Beruf sei. (Land-)Besitz konnte für die Qualität eines Beamten forderlich sein, war damit doch eventuell gewährleistet, dass dieser die Interessen des eigenen mit denen des gesamten Landes in Einklang bringe. Besitz war jedoch keinesfalls eine hinreichende Voraussetzung für einen guten Beamten, ja er konnte sogar schädlich sein, wenn der Besitzende seine privaten Angelegenheiten über die öffentlichen stellte.64 Rembielmski stand stellvertretend für eine mittlere begüterte Schicht des Adels, die durch die Interessen des Staates die der eigenen Schicht verfolgte und nicht mehr die Interessen der Adelsnation über die des Staates stellte. Daher war er jederzeit bereit, die ehemalige Standesgenossenschaft des Adels, wenn es um die Interessen des Staates ging, gering zu schätzen. So zog er sich 1809 die Kritik seiner Standesgenossen zu, als er im Krieg gegen Österreich als Chef der galizischen Zivilverwaltung drakonische Maßnahmen zur Versorgung der polnischen Truppen einleitete.65 Seine Schriften über das neue Selbstverständnis der Beamten bestätigen die These Michael G. Müllers, dass vor allem der „obengebliebene" Adel neue Elitenkonzepte formulierte. Adligkeit stellte auch im 19. Jahrhundert soziales Kapital dar, doch musste es durch weitere Attribute

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65

Alina BARCZEWSKA-KRUPA, Pokolenie Rajmunda Rembielinskiego na przelomie epok, in: Dies. (Hg.): Rajmund Rembielmski. Jego czasy i jego wspölczesni. Warszawa 1989, S. 6-17; vgl. auch: Kazimierz BADZIAK/Heniyk MICHALAK, Rembielmski, Rajmund Hiacynt hr. Lublicz, in: Polski Slownik Biograficzny. Bd. 31, Wroclaw u.a. 1988/89, S. 82-84. RAPHAEL, Recht und Ordnung, S. 165. Rajmund REMBIELMSKI, Czlowiek stanu, in: Pami^tnik Warszawski (1816), Nr. 4, S. 154-161; DERS., Ο urz?dnikach, in: Ebd., S. 181-191. KULA, Udzial, S. 4 1 3 ; BARCZEWSKA-KRUPA, Pokolenie, S. 1 1 - 1 3 .

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wie Bildung, patriotisches Engagement oder Gemeinwohlorientierung angereichert werden.66 Raphael beschreibt solche Elitenkonzepte für die Angehörigen der Gruppe privilegierter Staatsdiener, „die den Kult des Gemeinwohls im ureigensten Familien- und Gruppeninteresse entwickelten und als die beste Rechtfertigung der eigenen Existenz weiterpflegten."67 Symbolische Darstellung fanden diese Strategien in spezifischen Staats- bzw. Rechtskulten. Gerade Adlige, die in der Adelsrepublik zu den Reformgegnern gehört und Konzepten eines neuen Staatsverständnisses skeptisch gegenüber gestanden hatten, konnten nun auf diese Weise in den veränderten Rahmenbedingungen des Herzogtums zum einen den Makel einer bezahlten Verwaltungstätigkeit kompensieren und sich zum anderen erneut als Elite konzipieren, indem sie sich als sozial herausgehobene Repräsentanten des Staates präsentierten. Ein gutes Beispiel für diese Art von „Ämterveredlung"68 war der vom Justizminister des Herzogtums, Feliks LubieAski (1758-1848), inszenierte Kult um das neue Zivilgesetzbuch. Der aus wohlhabenden Verhältnissen stammende ehemalige Jesuit hatte die Reformprojekte gegen Ende der Adelsrepublik abgelehnt und stand auch dem Code Civil zunächst ablehnend gegenüber.69 Zur Einführung des Gesetzbuchs wies er hingegen - inzwischen das Amt des Justizministers bekleidend - die katholischen Geistlichen an, das Werk in den Kirchen zu seg70

nen. Auf seine Anregung entstanden zahlreiche literarische Verherrlichungen des Werks, in denen der Justizminister als „Kaplan" bezeichnet und seine Rolle als Schützer des Rechts herausgestrichen wurde.71

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MÜLLER, Landbürger, S. 91, lOOf. RAPHAEL, Recht und Ordnung, S. 22. REIF, Adel, S. 25. GRYNWASER, Kodeks, S. 17-21; Tadeusz MENCEL, Lubiehski, Feliks Franciszek hr. Pomian, in: Polski Stownik Biograficzny. Bd. 18. Wroclaw u.a. 1973, S. 478^480. Dies sowie die Auffassung Lubienskis, dass sich die Geistlichen nicht in Bereiche einmischen sollten, die durch das neue Zivilrecht geregelt wurden (etwa die Eheschließung), führte zu einer Polemik zwischen dem katholischen Klerus und dem Justizministerium. Vgl. Szescioletnia korrespondencya wladz duchownych ζ rz^dem swieckim Xi^stwa Warszawskiego. Sluz^ca do Historyi Kosciola Polskiego. Warszawa 1816. Vgl. z.B. Marcin WAGROWSKI, Kosciöl Themidy. Warszawa 1807, in: Ulotna poezja wojen napoleonskich (1805-1814). Wroclaw 1977; Piesni Spiewane w swiatyni ogrodu JW. Lubiehskiego, Ministra Sprawiedliwosci, podczas balu danego przy wprowadzeniu Kodexu Napoleona do XiQstwa Warszawskiego dnia 1. Maia 1808, in: Krötki zbiör wierszy, piesni i mow patryotycznych przy rozmaitych uroczystosciach narodowych, iako tez i przy pochowaniu cial rycerzöw poleglych w obronie Ojczyzny od roku 1806 czyli Epoki oswobodzenia ziemi pol-

Das „Staatlich-Administrative" als Feld von Aushandlungsprozessen

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Neben den Neuentwürfen eines sich vor allem durch Bildung und Gemeinwohlorientierung auszeichnenden Staatsadels blieben ältere Elitenkonzepte weiterhin bestehen bzw. wurden revitalisiert. So formulierte der Sohn des Verfassers des Kadettenkatechismus, Adam Jerzy Czartoryski (1770-1861), gegen Ende der napoleonischen Zeit ein Manifest „Über das Rittertum [Ο rycerstwie]", in dem er das Adelsreformprogramm seines 72

Vaters wieder aufzunehmen schien. Als dem Adel unwürdiges Verhalten identifizierte er nun nicht mehr wie sein Vater die Vernachlässigung der Pflege adliger Anlagen bzw. des Dienstes an der Republik, sondern die „kalte Nutzenrechnung" [zimna rachuba zysku], die er verstärkt in seiner Generation wahrzunehmen glaubte und die auch als ein Hinweis auf die neue Gesellschafts- und Eigentumsordnung im Herzogtum Warschau verstanden werden konnte. In vielen anderen Argumenten erinnert das Dokument jedoch ausgesprochen an den „Katechismus" seines Vaters: Die „Ritter und Ritterinnen" [rycerze i rycerki] seien die Blüte der Gesellschaft, die ihren guten Einfluss auf den Rest derselben ausdehnen sollten. Gute Anlagen, aber auch Besitz bildeten eine Verpflichtung zur Übernahme von Ämtern. Das „Turnierfeld", auf dem das Rittertum heute seine „Waffen kreuzen" solle, waren für ihn die Gesellschaft, die Familie, die Bürgerschaft und das Heer. Tomasz Kizwalter hat dieses Dokument als das erste bezeichnet, in dem die Grundsätze der organischen Arbeit, nämlich die gemeinwohlorientierte Eigeninitiative der Eliten, propagiert wor73

den seien. Man kann es sicher zugleich und nicht unbedingt im Widerspruch zu Kizwalters Bewertung als einen Versuch der Fortsetzung des Adelsreformprojekts aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrachten. Mit Heinz Reif kann man es als einen Versuch der „Re-Invention des Adels als politischer Stand der Beharrung und des Allgemeinwohls, als Gruppe besonderer Leistungsfähigkeit und eigener Ehre"74 bezeichnen. Auffällig ist, dass nicht nur an einer Stelle des Dokuments von „Rittern und Ritterinnen" gesprochen wurde und im Gegensatz zu anderen Elitenkonzepten eine geschlechtlich codierte Einteilung der gesellschaftlichen Handlungsräume in öffentlich und privat unterblieb. Dies scheint dafür zu sprechen, dass hier ein älteres adelsrepublikanisches Reformkonzept erneut in den Dienst genommen wurde. Betrachtet man nämlich die Stel-

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73 74

skiej przez woyska Napoleona az do czasu terazniejszego, przez röznych Autoröw napisanych. Warszawa 1809, S. 133f. Adam Jerzy CZARTORYSKI, Ο rycerstwie, in: Tomasz KizwALTER/Jerzy SKOWRONEK (Hg.), Droga do niepodleglosci czy program defensywny? Praca organiczna: Programy i motywy. Warszawa 1988, S. 79-83. Vgl. die Einleitung zu dem Dokument: Ebd., S. 77-79. REIF, Adel, S. 33.

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Claudia Kraft

lung, die Frauen in jenem Reformkonzept gegen Ende des 18. Jahrhunderts innehatten, wird deutlich, dass ihnen eine fundamental wichtige Rolle in diesem Projekt der Re-Invention des Adels zugewiesen worden war. Indem Adel durch die richtige Erziehung immer wieder neu erworben werden musste, kam den Müttern als Vermittlerinnen von Bildung und patriotischer Gesinnung eine Schlüsselstellung zu, wie man etwa in den Schriften Adam Kazimierz Czartoryskis oder der Reformpädagogen Grzegorz Piramowicz (1735-1801) und Franciszek Bielmski (ca. 1740-1809) 75

nachlesen kann. Die Familie war damit nicht weniger ein Ort für die (Wieder-)Erweckung staatsbürgerlicher Gesinnung als etwa die Armee.76 Es verwundert wenig, dass solche Adelsreformprojekte vor dem Hintergrund einer zunehmend funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die jene nicht mehr an Standesgrenzen, sondern auch an der Geschlechtergrenze segregierte, gerade bei adligen Frauen Anhängerinnen fanden.77 In einer sich nach beruflichem und Bildungsprestige ausdifferenzierenden Gesellschaft, die es zudem im Herzogtum Warschau mit einer zivilrechtlichen Ordnung zu tun bekam, die unbesehen ihres Standes allen Frauen 78 den Status „lebenslänglicher Minderjähriger" zuwies, eröffneten solche Elitenkonzepte Handlungsräume und die Chance, verloren gegangenes Prestige neu zu erwerben. Während solche Konzepte eher auf das Kollektiv der adligen Gemeinschaft gerichtet waren, sind jedoch auch individuelle Strategien zu beobachten. Reif konstatiert, dass gerade adlige Verlierer des Elitenwandels verstärkten Wert auf den „Primat der Lebensführung" legten,79 um damit ihren prekär gewordenen gesellschaftlichen Status zu schützen. Solche Bemühungen kann man gerade auch aus den Tagebüchern adliger Frauen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts herauslesen. Hatten diese etwa durch „ungünstige" Heiraten einen Statusverlust hinnehmen müssen, zeigten sie sich besonders um Distinktion gegenüber gesellschaftlichen Aufsteigern bemüht. So äußerte sich etwa die Enkelin des letzten polni75 76

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KRAFT, Polin, S. 530-537. Bogna LORENCE-KOT, Child-Rearing and Reform: Α Study of Nobility in Eighteenth-Century Poland. Westport, London 1986. Vgl. z.B. die Wiederbelebung des „Ritterideals" bei Izabela Czartoryska (17461835) im Herzogtum Warschau: Alina ALEKSANDROWICZ, Izabela Czartoryska. Polskosc i europejskosc. Lublin 1998, S. 239-259. Slawomira WALCZEWSKA, Damy, rycerzy, feministiki. Kobieccy dyskurs emancypacyjny w Polsce. Krakow 1999, S. 127; Barbara DOLEMEYER, Frau und Familie im Privatrecht des 19. Jahrhunderts, in: Ute GERHARD (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, S. 633-658. REIF, Adel, S. 15 („Primat der Lebensführung": dort zit. nach Harald Winkel).

Das „Staatlich-Administrative" als Feld von Aushandlungsprozessen

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sehen Königs Anna Potocka-W^sowiczowa ζ Tyszkiewiczow (1779— 1867) in ihren Erinnerungen ausgesprochen despektierlich über den aus kleinen Verhältnissen zum General und 1815 zum Statthalter im Königreich Polen aufgestiegenen Jozef Zaj^czek (1752-1826). Etwas gnädiger war ihr Urteil über dessen Ehefrau, die ebenfalls aus niederen Verhältnis80

sen stamme, aber sich immerhin zu benehmen verstehe. Noch unmittelbarer fiel die Konfrontation von Henrietta Bl^dowska ζ Dziafynskich (1794-1869) mit dem gesellschaftlichen Wandel aus. Aus einer traditionsreichen Familie der kresy stammend heiratete sie den verarmten Adligen Aleksander Bl^dowski (1788-1831), der zwar im Heer des Herzogtums Warschau eine rasche Karriere machte, dessen Güter sich aber in einem 81 Zustand steten Niedergangs befanden. Anschaulich beschrieb sie die Besuche auf dem Gut im wolhynischen Pustomyty, wo sie miterleben musste, wie ihr Mann sich mit Schreibern, Gerichtsvollziehern, Angehörigen des verschuldeten Kleinadels und niederen Beamten duzte und „unanständige Gespräche" führte. Bi^dowski, der sich im Gegensatz zu ihr in dieser Gesellschaft wohl zu fühlen schien, wies sie wohl aus gegebenem Anlass an, freundlich zu sein. Ihre Antwort, die sie in ihren Erinnerungen überliefert, lässt den Dünkel erahnen, mit dem sie jenen Personen gegenübertrat: „Diese [Freundlichkeit; C. K.] fiel mir nicht schwer, denn ich wollte niemals jemanden beleidigen, schon gar nicht jemanden, der - wie mir damals schien - unter mir stand. Zu Vertraulichkeiten konnte ich mich niemals herablassen, aber immer bemühte ich mich, so höflich wie nur 82 möglich zu sein, vor allem gegenüber der niederen Klasse." Nach dem Tod ihres Mannes zwang sie ihre wirtschaftliche Lage, den aus bürgerlichen Verhältnissen stammenden Verwalter des Gutes Celestyn Rottermund (geb. um 1780) zu heiraten. Jener gehörte in ihren Augen einst auch zur „niederen Klasse", brachte es im Königreich Polen aber immerhin zum 80

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A n n a POTOCKA-WASOWICZOWA Ζ TYSZKIEWICZÖW, W s p o m n i e n i a n a o e z n e g o s w i -

adka. Opracowata i wst^pem opatrzyta Barbara GROCHULSKA. Warszawa 1965, S. 289-298. Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann Aleksander Potocki, dem Sohn von Stanislaw Kostka Potocki, im Jahr 1821 sah sie sich gesellschaftlichem Statusverlust gegenüber, der durch Heirat mit dem Offizier im Heer des Herzogtums Warschau Stanislaw Dunin-Wqsowicz nicht aufgehalten werden konnte und gegen den sie in ihren Erinnerungen anschrieb. Vgl. Barbara GROCHULSKA, Wst^p , in: Ebd., S. 5-22. BL^DOWSKA, Henrietta Ζ Dziafynskich, Pami^tka przeszlosci. Wspomnienia Ζ lat 1794-1832. Opracowali i wstQpem poprzedzily Ksenia KOSTENICZ/Zofia MAKOWIECKA. Warszawa 1960, S. 5-13 (Wstqj). „Nie bylo mi to trudne, gdyz nigdy nikomu nie chcialam uehybie, tym bardziej, jak mi si$ wtedy zdawaio, nizszym ode mnie. Do poufalosci nigdy nie potrafilam zejsc, leez uprzejm^ ile moglam, staralam si$ byc zawsze, tym bardziej ζ nizsz^ klasif, in: Ebd, S. 198.

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Vorsitzenden der Zivilkammer des Gerichtes in Zytomierz.83 An diesem Beispiel werden gleich mehrere Auf- und Abstiegsprozesse deutlich. Während Blqdowska ihr soziales Kapitel schrittweise einbüsste, gelang es ihrem ersten Mann noch, trotz des Verlustes seines materiellen Kapitals aufgrund der Karriere in den Streitkräften neues soziales Kapital zu erwerben. Der Bürgerliche Rottermund machte sich aufgrund seiner Kenntnisse als Verwalter des Gutes von Bl^dowski unentbehrlich, heiratete in den Adel ein und erwarb ein prestigeträchtiges Amt in der Justiz. Ihm gelang damit die Konvertierung von kulturellem und materiellem Kapital in soziales. Weil für Frauen eine solche Konvertierung ungleich schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich war, dienten die Erinnerungen der Btqdowska dazu, den „Primat der Lebensführung" in der Rückschau zu beschwören. Während die Arena des Staatlich-Administrativen im späten 18. Jahrhunderts vor allem durch die Ausdeutung der jeweiligen Akteursgruppen Gestalt annahm, wirkten im Herzogtum Warschau auch die rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen figurierend. Das neue Amtsverständnis der in der Verwaltung tätigen Akteure konnte sich auf die zunehmende Bedeutung von Bildungspatenten und die Relevanz von Expertenwissen stützen. Damit wurde der Erwerb kulturellen Kapitals wichtiger bzw. die Konvertierung von unterschiedlichen Kapitalsorten dynamisiert, was zu Prozessen der Elitenvergesellschaftung und dem Entstehen einer neuen Elite beitrug, die sich durch ein spezifisches Amtsverständnis auszeichnete. Zugleich kann man auf diesem Feld der dynamischeren Aufund Abstiegsprozesse neue Bestrebungen der Abgrenzung oder der Statuswahrung beobachten. Wichtig auch für einen das polnische Beispiel übergreifenden Interpretationsrahmen erscheint dabei, dass hierbei alte und neue Definitionen von Elite sich nicht einfach in einem linearen Modernisierungsverständnis ablösen, sondern dass multiple Aneignungsprozesse zu beobachten sind.

4. Schluss Die Elitenkonzepte der vorgestellten Protagonisten verdeutlichen, dass die Jahrzehnte zwischen der inneren und äußeren Souveränitätskrise der polnisch-litauischen Adelsrepublik und der halbautonomen Staatlichkeit des Herzogtums Warschau eine genuine Übergangszeit darstellten. Alte und neue Elitenkonzepte existierten nebeneinander und die Akteure konvertierten je nach Rahmenbedingungen materielles, soziales und kulturelles 83

Ebd., S. 10f., 21 lf., 499, Anm. 189.

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Kapital, um ihre gesellschaftliche Stellung zu konsolidieren. Das Staatlich-Administrative als Arena der Elitenvergesellschaftung stellt sich dementsprechend als vielfältiger Handlungsraum dar, der erst durch die Konzepte der Akteure konstituiert wurde. Inwieweit er als ein Forum für die Formierung von Eliten Bedeutung erlangen konnte, hing sehr stark von dem jeweiligen Staatsverständnis ab. Das Staatlich-Administrative eröffnete sich erst als distinkter Handlungsraum, als Staat und Verwaltung als Entitäten konzeptionalisiert wurden, die jenseits der traditionellen Elitengruppe des Adels existierten. Auf diese Weise schien ein Tätigkeitsfeld sachorientierter Spezialisten entstanden zu sein, das vor dem Hintergrund der Aufwertung und Normierung von Bildung prinzipiell für alle geöffnet war. Damit einher ging eine funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die einerseits neue Aufstiegsmöglichkeiten eröffnete, andererseits neue Formen der Exklusion mit sich brachte, wie am Beispiel der Kategorie Geschlecht gezeigt wurde. Traditionelle gesellschaftliche Platzanweiser veränderten ihre Funktionsweise, ohne zu verschwinden. Adligkeit stellte noch immer soziales Kapital dar, doch konnte sie auf unterschiedliche Weise erworben und bestätigt werden. Ähnlich sah es mit symbolischen Repräsentationen von Elitenzugehörigkeit aus. Beamtenuniformen unterstrichen einerseits die Zugehörigkeit zu einer neuen Leistungselite. Indem sie aber in einem traditionellen Bedeutungssystem funktionierten, stärkten sie wiederum das Selbstverständnis der alten Eliten. Bei der Analyse der unterschiedlichen Akteursgruppen wurde deutlich, dass in der Arena des Staatlich-Administrativen Personen agierten, die es verstanden, sowohl ererbte als auch erworbene Fähigkeiten und Eigenschaften so zu repräsentieren, dass sie sich in ein größeres Projekt einschreiben konnten. Eine wichtige Rolle spielte dabei, wie die eigene gesellschaftliche Praxis an neue Entwürfe des Allgemeinwohls und der überpersonalen Loyalität gekoppelt werden konnte. Der Wandel der Bezugsebene von Loyalitäten - von ihrer Ausrichtung auf die Nation als adlige Solidargemeinschaft hin zur Ausrichtung auf den Staat, der als Verkörperung eines gemeinwohlorientierten allgemeinen Willens gesehen wurde - verlief nicht linear. Noch lange existierten unterschiedlich ausgerichtete Elitenentwürfe nebeneinander.

BERNHARD SCHMITT

Der Militärdienst und die Neuformierung adliger Eliten in den habsburgischen und preußischen Teilungsgebieten 1772-1830

1. Die Teilungen Polens, die Teilungsmächte und der polnische Adel Die Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts erschütterten nicht nur das Staatengefüge Europas, sondern ebenso sehr auch die polnische Gesellschaft. Die Adligen mussten sich der Herausforderung stellen, Rang und Position zu sichern. Die Teilungsmächte standen hingegen vor der Entscheidung, ob und wie die alten Eliten der neu erworbenen Gebiete integriert werden sollten. Zunächst war den Teilungsmächten daran gelegen, den Adel als Stand zu stärken.1 Allerdings unterschieden sich der preußische und österreichische Adel von dem polnischen. In Hoch- und Niederadel ausdifferenziert, stellten erstere das wichtigste Rekrutierungsreservoir für Politik, Verwaltung und Militär dar, verfügten jedoch nicht über die politische Machtfülle ihres polnischen Pendants.2 Der polnische Adel hatte einen Prozess der Elitenumbildung in neuem staatlichen Kontext zu bestehen. Zwar sahen sich die adligen Gutsbesitzer [ziemianie] in ihren grundherrlichen Privilegien gestärkt und somit als agrarische Herrenschicht bestätigt. Die ersatzlose Kassation der ständischen Repräsentationsinstitutionen (Landtage und Reichstag) hatte den Adelsstand jedoch um seinen

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Michael G. MÜLLER, Der polnische Adel von 1750 bis 1863, in: Hans-Ulrich WEHLER (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950. Göttingen 1990, S. 217-242, hier S. 223. Francis L. CARSTAN, Der preußische Adel und seine Stellung in Staat und Gesellschaft bis 1945, in: Ebd., S. 112-125; Hannes STEKL, Zwischen Machtverlust und Selbstbehauptung. Österreichs Hocharistokratie vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, in: Ebd., S. 144-165.

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geburtsrechtlich verankerten Elitenstatus in der politischen Arena gebracht, über den er sich in der Alten Republik primär definiert hatte. Zugleich musste sich der Adel in seinem Streben nach gesellschaftlichem „Obenbleiben" in Arenen behaupten, in denen jetzt die landfremde Staatsmacht die Zugangsbedingungen wie auch die Aufstiegskriterien diktierte. Die große Masse des nicht-begüterten Adels hatte unter solchen Voraussetzungen keine Chance mehr, den Anschluss an die Elitenformationen zu halten. Für die Spitzengruppe der Magnaten dagegen galt, dass sie sozusagen frei optieren konnten, ob sie sich in die Konkurrenz um Elitenpositionen in dem jeweiligen Staatsgefüge begeben oder aber - ihres wirtschaftlichen und kulturellen Elitenstatus gewiss - am Rande des Geschehens bleiben wollten. Für die Mittel- und Unterschichten des begüterten Adels indessen wurde es bald zu einer Lebens- und Überlebensfrage, inwieweit es ihnen gelang, sich innerhalb der staatlichen Funktionseliten zu etablieren. ι

Der Bereich des Militärischen war hier zentral. Zunächst bemühten die Teilungsmächte sich darum, den polnischen Adel zu erfassen und zu klassifizieren. Es gab jedoch verhältnismäßig viele Edelleute, die sich nicht in die gängigen Adelsschemata einfügten. Die Situation war daher unübersichtlich, und Preußen musste 1799 einräumen, über den süd- und neuostpreußischen Adel keine genauere Kenntnis zu besitzen.4 Insbesondere das Adelsproletariat stellte aus Sicht der beiden westlichen Teilungsmächte ein Problem dar. Es galt als nicht standesgemäß, weshalb die neuen Herrscher bestrebt waren, seine Angehörigen „den Frey-Bauern in den altständischen Provinzen [zu] assimiliren".5 Dabei war jedoch Vorsicht geboten. Das Adelsproletariat war sehr zahlreich, galt als aufrührerisch und war von einem starken Standesbewusstsein erfüllt.6 Die ständische Zugehörigkeit war beinahe die einzige Res-

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Wie wichtig das Militär zur Konstruktion von Eliten gewesen ist, hat zuletzt wieder herausgestellt: Michael HOCHEDLINGER, Mars Ennobled. The Ascent of the Military and the Creation of a Military Nobility in Mid-Eighteenth-Century Austria, in: German History 17 (1999), S. 148-157. Archiwum Glowne Akt Dawnych [im Folgenden: AG AD], Gen. Dir. Südpreußen/ 169, I, Nr. 115, S. 12-14, Reskript an die Kriegs- und Domänenkammer Kaiisch, Berlin, 23.5.1799. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin [im Folgenden: GStA PK] I. HA, Rep. 7C (Südpreußen), Nr. 4, Fasz. 12, Minister Schroetter an Außenminister Alvensleben, Berlin, 23.5.1800, fol. 4. In Galizien sprach man spätestens in den 1820er Jahren von „Rustikal-Adligen", vgl. Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien [im Folgenden: AVA], Hofkanzlei [im Folgenden: HK], VII.A.4, Karton 1969, Hofkriegsrat [im Folgenden: HKR] an HK, Wien, 21.3.1829. GStA PK, I. HA, Rep. 7C (Südpreußen), Nr. la, Fasz. 1, Bd. 2, Promemoria über den Kleinadel, Kreisdeputierter v. Karsky, Kreis Wyszogrod. Wyszogrod,

Der Militärdienst und die Neuformierung adliger Eliten

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source, über die der Klein- und Kleinstadel verfügte. Umso empfindlicher mussten ihn Veränderungen auf diesem Gebiet treffen. Die Neuordnung des polnischen Adels erwies sich als äußerst schwierig. Da die Standeszugehörigkeit in Polen eher an Kriterien wie Anerkennung durch andere Adelsfamilien, den Besitz eines Wappens und das gewohnheitsmäßige Ausüben adliger Privilegien geknüpft war,7 besaßen nur Q

wenige Familien verbriefte Adelsrechte. Daher war man auf weitere Beweismittel und „Nachrichten von der bisherigen Lebensart, dem Metier, der Verheyrathung, dem Vermögen und den Sitten der Personen" angewiesen. 9 In Galizien lief 1775 ein Verifizierungsverfahren an.10 Angesichts des „ohnehin so vervielfältigten, kaum den Namen verdienenden Adels" wurden jedoch spätestens 1778 Rufe laut, dessen Zahl zu reduzieren.11 Dies war nicht allein auf Ressentiments zurückzuführen. Vielmehr sei „es ein wahres politisches Problem für das dortige Finanzdepartement [...], wie diese zahlreiche Klasse von Menschen nützlich zu beschäftigen seyn wird. Desto bedenklicher wird es, sie noch zu vermehren und dadurch jene Ungelegenheit noch zu vergrößern".12

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29.7.1795, fol. 237-239, Abschrift; AVA, Adelsarchiv, Adelsgeneralia 9, Zahl 10.943/1803, Notizen über den Pohlnischen Adel. Aus der Reise-Relation des Hofrathes v. Baldacci. Jerzy JEDLICKI, Der Adel im Königreich Polen bis zum Jahre 1863, in: Ralph MELVILLE/Armgard von REDEN-DOHNA (Hg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters. 1780-1860. Stuttgart 1988, S. 89-160, hier S. 89f; MÜLLER, Adel, S. 217f. Vgl. z.B. GStA PK, I. HA, Rep. 7C (Südpreußen), Nr. 4, Fasz. 21, Auszug eines Berichts der Ploczkischen Regierung, Thorn, 3.7.1795 oder AVA, Adelsarchiv, Adelsgeneralia, Galizien Karton 596, /A/1800, Mutter-Patent dto. 1.10.1800, Patent zur Einrichtung der Adelsmatrikel in Westgalizien, Druck, zweisprachig. GStA PK, I. HA, Rep. 7C (Südpreußen), Nr. 4, Fasz. 21, Auszug aus einem Reskript Alvenslebens. Berlin, 17.7.1795. Patent zur Einrichtung der galizischen Ständeversammlung vom 13.6.1775, abgedruckt in: Kaiserl. Königl. Theresianisches Gesetzbuch, enthaltend die Gesetze von den Jahren 1774 bis 1776, welche unter der Regierung des Kaisers Joseph des I theils noch ganz bestehen, theils zum Theile abgeändert sind. Bd. 7, Wien 1792, Nr. 1697, S. 220-233. AVA HK, IV.D.l, Adelsakten, Generalien, Galizien, Karton 596, 42 ex 1778, Eingabe des galiz. Guberniums, 28.3.1778. GStA PK, I. HA, Rep. 96A, Tit. 10, A l , fol. 11-12, Finckenstein, Alvensleben, Haugwitz, gemeinsamer Immediatbericht. Berlin, 16.5.1798.

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Preußen verzichtete auf die Immatrikulierung.13 Hier suchte man vielmehr, die Neuformierung der Eliten über die Sphäre des militärischen Dienstes zu steuern. Militärische Elitenpolitik war nicht neu. Die absolutistischen Herrscher rekrutierten ihre Offiziere bevorzugt im Adel, offerierten Karrierechancen, unterwarfen ihn jedoch auch der Disziplinierung durch Ausbildung und Hierarchie. Die Adligen schworen einen Treueid auf den König, dem sie damit in besonderer Weise zu Loyalität verpflichtet waren.14 Es lag nahe, den Adel der Teilungsgebiete in dieses System einzubeziehen. Allerdings ging man angesichts der dortigen Strukturen einen Schritt weiter: Durch die Konstruktion eines differenzierten und differenzierenden Dienstmodells sollte zu einer Neuordnung des Adels geschritten werden.

2. Magnaten und vermögender Adel Grundsätzlich blieben Preußen und Österreich hinsichtlich der Behandlung des Adels der Teilungsgebiete in Bezug auf dessen Militärverhältnisse in herkömmlichen Bahnen: Die adlige Abstammung befreite von der militärischen Dienstpflicht und berechtigte anstandslos zum Offiziersdienst. Das galt in Galizien15 ebenso wie in Süd- und Neuostpreußen. Den anerkanntermaßen adligen Vasallen stand der Eintritt in die Kadettenanstalten oder direkt bei der Armee als Offiziersanwärter frei.16 Für die „bene possessionati [ziemianie]" galt dies uneingeschränkt. Ihnen fiel es ohnehin leicht, ihren Status zu wahren. Sie konnten zum Teil

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Max BÄR, Westpreussen unter Friedrich dem Grossen. Bd. 1,1. Aufl. 1909, Osnabrück 1965, S. 359f. Bei Anlage der Vasallentabellen wurde darauf verzichtet, die Berechtigung der Adelsansprüche zu überprüfen. Zu Südpreußen vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 96, 242 A, Bd. 3, fol. 123, Immediatbericht Hoyms. Breslau, 2.10.1795. HOCHEDLINGER, Mars Ennobled, S. 148-157; Jürgen-Konrad ZABEL, Das preußische Kadettenkorps. Militärische Jugenderziehung als Herrschaftsmittel im preußischen Militärsystem. Frankfurt 1978. S. 38-58. In diesem Sinne AVA, HK, VII A 4, Karton 1966, ex Martio 1797, HKR an HK, 11.3.1797. Bernhard POTEN, Geschichte des Militär-Erziehungs- und Bildungswesens in den Landen deutscher Zunge. Bd. 4: Preußen, Berlin 1896, S. 77; AGAD, Gen. Dir. Südpreußen/169, IX (Militaria), Nr. 185 (Kantonwesen), Kriegs- und Domänenkammer Posen, Entwurf einer Declaration [Erläuterung u. Ergänzung] zum Kantonreglement von 1792, anzuwenden auf Südpreußen, Kriegs- und Domänenrat Puttkammer, Posen, August 1797, fol. 78-94 sowie Stellungnahme der Kammer Petrikau. Petrikau, 24.2.1798, fol. 137-144.

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Adelstitel vorweisen, die durch nicht-polnische Souveräne verliehen und verbrieft worden waren, in der Regel jedoch nachweisen, in der polnischen Republik eindeutig adlige Ämter innegehabt zu haben.17 Gelegentlich verzichteten die neuen Herrscher gar auf Nachweise. Als man 1798 in Süd- und Neuostpreußen die Ansprüche auf Adelstitel überprüfte, „versäumten" große Familien wie die Poniatowski, Radziwiö und Sulkowski die Anmeldung. Die Warschauer Regierung teilte lapidar mit, dass sie „solche wahrscheinlich für überflüssig gehalten haben".18 Daraufhin entschieden der König und die Verwaltungsspitzen, „keine Anstellungen" zu machen und die Titel solcher Familien ohne weitere Nachweise anzuerkennen.19 Ähnlich verfuhr Österreich z.B. mit der Familie Czartoryski.20 Unmittelbar nach den Teilungen machten einige Mitglieder aus führenden Familien der Teilungsgebiete schnell militärisch Karriere. Besonders augenfällig wird dies im Falle der Familie Radziwiü, die innerhalb von zwei Generationen vier Generäle in russischen und preußischen Diensten 21

stellte. Die Bedeutung dieser Familie über die Teilungsgrenzen hinweg spiegelte sich also in ihren militärischen Positionen deutlich wider. Ähnlich war es in Galizien. In der 1782 eingerichteten galizischen Garde bekleidete mit Fürst Adam Kasimir Czartoryski-Sanguszko (1734-1823) einer der namhaftesten Magnaten der polnischen Adelsrepublik die Stelle des Kapitäns. Später wurde er Feldmarschall. Kapitänleutnant der galizischen Garde war Joseph Graf Sierakowski (gest. ca. 1811?).22 Er stieg in 23 der Folge zum Generalmajor auf.

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Habsburgisches Patent vom 13.6.1775; Bericht der Regierung Marienwerder vom 15.4.1777, abgedruckt in: Max BÄR, Westpreussen unter Friedrich dem Grossen. Bd. 2: Quellen, 1. Aufl. 1909, Osnabrück 1965, Nr. 393, S. 338-346; GStA PK, I. HA, Rep. 7C (Südpreußen), Nr. 4, Fasz. 21, Auszug aus einem Reskript Alvenslebens. Berlin, 17.7.1795. GStA PK, I. HA, Rep. 7C, Nr. 4, Fasz. 9, Bericht der Regierung Warschau über die nachgesuchten Legitimationen der Fürsten-, Grafen- und Freiherrentitel. Warschau, 19.10.1798. GStA PK, I. HA, Rep. 7C, Nr. 4, Fasz. 9, Reskript an die Regierung Warschau, Berlin, 8.11.1798, Konzept. AVA, Adelsarchiv, Adelsspecialia, Czartoryski, Adam (9.VI.1785/E), Handbillet des Kaisers Joseph an den Grafen Kollowrat. Wien, 13.4.1784, fol. 12. Detlef SCHWENNICKE (Hg.), Europäische Stammtafeln zur Geschichte der Europäischen Staaten. Bd. 5, Marburg 1978, Tafel 138; GStA PK, IV. HA, Rep. I, Nr. 95, fol. 74. Vgl. auch die Biographien bei Kurt v. PRIESDORFF, Soldatisches Führertum. Bd. 1, Hamburg 1937, S. 13; Bd. 5, Hamburg 1938, S. 388; Bd. 8, Hamburg 1939, S. 137; Bd. 9, Hamburg 1941, S. 456. Peter BROUCEK (Bearb.), Der Allerhöchste Oberbefehl. Die Garden. Wien 1988, S. 77. Oesterreichischer Militaeralmanach für das Jahr 1799. Wien 1799, S. 130.

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Es scheint, dass die Teilungsmächte vor allem anfangs ausgesuchte polnische Adlige mit hohen militärischen Rängen ausstatteten, um den Herrschafitswechsel abzufedern. 1815 gab es ähnliche Schritte, als etwa der polnische General Hamilkar von Rawicz-Kosinski (1769-1823) als Generalleutnant in die preußische Armee übernommen wurde.24 Neben solchen von oben initiierten Karrieren bestand für polnische Adlige in der preußischen Armee die Möglichkeit, sich in den Generalsrang hochzudienen. Dies gelang z.B. den Generälen aus den Familien Twardowski, Podbielski oder Bojanowski. Diese Familien wiesen einige gemeinsame Merkmale auf: Sie waren protestantisch und hatten bereits vor den Teilungen eheliche Verbindungen zum preußischen Adel geknüpft oder in der preußischen Armee gedient.25 Ähnliches galt für Galizien. Auch hier waren die Barrieren für bestimmte Familien niedriger, weil sie Güter in anderen habsburgischen Kronlanden besaßen oder im Dienst des Hauses Österreich gestanden hatten. So war Fürst Andreas Poniatowski (1735-1773) schon 1765 österreichischer Kämmerer, Feldmarschall-Leutnant, Träger des Militärischen Maria-Theresien-Ordens und Regimentsinhaber.26 Folgerichtig wurde sein Sohn, der spätere Kriegsminister des Großherzogtums Warschau, Fürst Joseph Poniatowski (1763-1813), als Major und Werber für neue Husarenabteilungen in Galizien eingesetzt.27

3. Die Inklusion des Kleinadels: Militärische Bildungseinrichtungen Von diesen Einzelfällen sind Inklusionsangebote zu unterscheiden, die sich an weniger begüterte, aber anerkannte Familien richteten. Diese sollten durch Anstellungen beim Militär stabilisiert und an den Staat herangeführt werden. Ihre Loyalität sollte durch Erziehung und militärisch-monarchische Sozialisierung einerseits, materielle Absicherung an-

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Kai Torsten RÖHN, Polnische Adlige im preußischen Offizierskorps 1793-1830. Herkunft, Rekrutierung und Karrieremuster. M.A. [Masch, schrifll.] Trier 2002, S. 83. RÖHN, Adlige, S. 79-82. AVA, Adelsarchiv, Adelsspecialia, Fürst Andreas Poniatowski, 10.12.1765, Notiz, ohne Ort und Datum, fol. 20. Kriegsarchiv [im Folgenden: KA] Wien, HKR, Geschäftsbücher, Nr. 1868, Dep. G, Protokolle, fol. 3096, 90. Sitzung, 10.11.1784; Artikel „Poniatowski (le prince de)", in: Joseph Francois MICHAUD, Biographie Universelle. Ancienne et moderne, Bd. XXXIV (POM-QUO). 1. Aufl., Paris 1854ff„ Graz 1968, S. 53-59.

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Der Militärdienst und die Neuformierung adliger Eliten

dererseits gefestigt werden. Zu diesem Zweck entstanden unterschiedliche Institutionen. In Preußen kamen primär Kadettenanstalten zum Tragen. In Westpreußen wurde 1773 das Haus in Kulm (poln. Chelmno) eingerichtet. Südpreußen erhielt 1793 eine Anstalt in Kaiisch (poln. Kalisz). Neu-Ostpreußen wurde mit Kontingenten in Kaiisch und Kulm bedacht. 28 Zwei 29

der drei in den Provinzen bestehenden preußischen Kadettenhäuser lagen demnach in den Teilungsgebieten und bereiteten die ihren Sprengein entstammenden Kadetten auf die Ausbildung in Berlin vor. Vor allem in Südund Neu-Ostpreußen trug man mit diesem zweistufigen System dem Umstand Rechnung, dass bei weitem nicht alle Adligen die ursprünglichen Eintrittskriterien - ausreichende schulische Vorbildung sowie Lese- und Schreibkenntnisse in Deutsch und Polnisch 30 - erfüllten. Das Sprachkriterium wurde schließlich noch weiter aufgeweicht, und ab 1798 nahm Kaiisch auch solche Schüler auf, die nur wenig oder gar nicht Deutsch sprachen. Hatten diese dann in der ca. dreijährigen Ausbildungszeit genügend Deutsch gelernt, konnten sie die weiterführende Anstalt in Berlin besuchen.31 Die Einrichtung der Kadettenhäuser bot Preußen auch einen Ansatzpunkt zur Verifizierung der Adelsansprüche. Wer sich um eine Kadettenstelle bewarb, musste den Nachweis führen, dazu berechtigt zu sein. Dazu gehörte unter anderem der Nachweis, nicht zum Kleinstadel zu zäh-

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len, der bei dem Korps Towarczys [Kameraden] kantonpflichtig war. Wer demnach das Angebot auf staatliche Erziehung seiner Kinder in Anspruch nehmen wollte, musste sich der Prüfung durch die Behörden stellen.

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Zu Kulm vgl. Hans-Jürgen BÖMELBURG, Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756-1806). München 1995, S. 362f; zu Kaiisch vgl. POTEN, Preußen, S. 77. Zur Einrichtung neu-ostpreußischer Kontingente vgl. AGAD, Gen. Dir. Neu-Ostpreußen/170, VI (Materien), Nr. 663, Schroetter an Major Lingelheim (Kommandeur des Kadettenkorps), Berlin, 4.4.1804, fol. 78. Bei der dritten Anstalt handelte es sich um Stolp [poln. Slupsk] in Ostpreußen. AGAD, Gen. Dir. Neu-Ostpreußen/170, VI (Materien), Nr. 663, fol. 6-7, Avertissement an den südpreußischen Adel. Königsberg, 13.6.1796, Konzept. ADAG Warschau, Gen. Dir. Neu-Ostpreußen/170, VI (Materien), Nr. 663, Generalmajor Beulwitz/Kadettenkorps Berlin an Schroetter. Berlin, 11.6.1798, fol. 12. Als „Towarczys" wurden verarmte Adlige bezeichnet, die nicht als Offiziere oder Unteroffiziere dienten, aus Rücksicht auf ihren Adel jedoch nicht als einfache Mannschaften angesprochen wurden. Zur Geschichte des Begriffs vgl. [Anonym], Hundertfunfzigjährige Jubelfeier der Ulanen, Teil II (Schluß), in: Der Soldatenfreund. Illustrierte Zeitschrift für faßliche Belehrung und Unterhaltung des Deutschen Soldaten. 63 (1896), H. 7, Januar, S. 561-579, hier S. 565-567. AGAD, Gen. Dir. Südpreußen/169, I (Universalia), Nr. 115, Reskript an die Kriegs- und Domänenkammer Kaiisch, Berlin, 23.5.1799, S. 12-14. Zum Korps Towarczys vgl. die Ausführungen zum Kleinstadel.

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In Galizien verlief die Schaffung vergleichbarer Inklusionsangebote zunächst eher schleppend. Zwar dachte Joseph II. bereits unmittelbar nach der ersten Teilung daran, „von den hiesigen besten kleineren Edelleuten wie auch größeren die Kinder" in der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt aufzunehmen. Und auch die Hofkanzlei überlegte, polnische Edelleute in die ungarische Leibgarde einzustellen.33 Zunächst wurden jedoch nur zehn galizische Adlige in die Akademie aufgenommen.34 Als Joseph Jahre später fürchtete, dass die Integration Galiziens scheitern könnte, handelte er mit mehr Nachdruck. Um auf die polnischen Untertanen „sehr guten Eindruck"35 zu machen und den Adelsnachwuchs der neuen Provinz zum Nutzen des Staates zu erziehen, wurde 1782 eine galizische adlige Leibgarde eingerichtet.36 Sie sollte sich aus bereits dienenden Galiziern rekrutieren. 1790/91 strukturierte man die Garde jedoch um und schuf an der Militärakademie Stiftsplätze für galizische Adlige. Hieraus sollte in Zukunft ein umfassend gebildeter, mit Deutschkenntnissen ausgestatteter Gardenachwuchs hervorgehen.37 Das Eintrittsalter bei der Akademie lag bei sieben bis dreizehn Jahren,38 das der Gardisten bei 18 39

bis 20 Jahren. Da die soeben erst in die Akademie eingerückten Kadetten zunächst die mehljährige Ausbildung hinter sich bringen mussten, konnte der Nachwuchsbedarf der Garde vorläufig jedoch nicht aus dieser Quelle gedeckt werden. Erschwerend kam hinzu, dass viele Kadetten in den folgenden Kriegsjahren sofort in den Truppendienst eintraten. Von 38 zwischen 1778 und 1800 aus der Akademie ausgetretenen Galiziern wechsel-

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AVA, HK, II.A.6, Neue Provinzen, Staatsverwaltung, Galizien, Karton 229, Fragepunkte Josephs II., 1773 oder 1774, Beantwortung der Fragepunkte durch die Hofkanzlei [?]; Frage Nr. 127, fol. 49. Bernhard POTEN, Geschichte des Militär-Erziehungs- und Bildungswesens in den Landen deutscher Zunge. Bd. 3: Österreich, Berlin 1893, S. 57. AVA, HK, II.A.6, Staatsverwaltung, Neue Provinzen, Galizien, Karton 230, 1 ex September 1780, fol. 9-23 u. 60, Bericht des Mitregenten Joseph über die Zustände in Galizien. Lemberg, 18.5.1780. Maja LÜDIN, Die Leibgarden am Wiener Hof. Diss. [Masch, schriftl.] Wien 1965, S. 72f. Vgl. auch: Michal BACZKOWSKI, W shizbie Habsburgöw. Polscy ochotnicy w austriackich silach zbrojnych w latach 1772-1815. Krakow 1998, S. 87-96. KA Wien, HKR Hauptreihe, 1791, 21-90, Allerhöchstes Reskript Leopolds an das galizische Landesgubernium, Wien, 18.2.1791. Johann SVOBODA, Die Theresianische Militär-Akademie zu Wiener-Neustadt und ihre Zöglinge von der Gründung der Anstalt bis auf unsere Tage. Bd. 1, Wien 1894. KA Wien, HKR Hauptreihe, 1791, 21-61, HKR an Oberhofmeisteramt, Wien, 16.2.1791; KA Wien, HKR Hauptreihe, 1791, 21-67, Starhemberg an den HKR. Wien, 18.2.1791.

Der Militärdienst und die Neuformierung adliger Eliten

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ten lediglich zwei zur Garde.40 Daher warb man weiter ungediente junge Adlige aus Galizien an, die in sechswöchigen Prüfungen hinreichende „Talente, Wißbegierde, und Geistesanlagen" nachweisen mussten.41 Auch auf dem Gebiet des Truppendienstes schuf man besondere Einrichtungen, um das Engagement der Galizier zu fordern. Zwischen 1791 und 1813 baute man vier Ulanenregimenter auf. Neben der Anwerbung des Kleinstadels in die Mannschaftslaufbahn konzentrierte man sich auf die Unterbringung des weniger begüterten Teils des immatrikulierten Adels, für den je Regiment 48 Kadettenstellen geschaffen wurden.42 Bei der weiteren Verwendung der fertig ausgebildeten Kadetten beziehungsweise Gardisten gingen Preußen und die Habsburgermonarchie getrennte Wege. In Preußen führte ihr Weg ausschließlich ins Militär.43 Allerdings war die Ausbildung nicht rein militärischer Natur. Das Curriculum in Kulm und Kaiisch umfasste Französisch, Geschichte, Mythologie, Geographie und Naturlehre, deutschen Lese- und Schreibunterricht sowie Rechnen.44 In Berlin kamen höhere Mathematik und Ingenieurwesen, Philosophie und Logik sowie Fechten und Tanzen hinzu.45 In der Habsburgermonarchie dachte man dagegen von Anfang an auch an eine Verwendung in zivilen Staatsdiensten. Den Absolventen der Militärakademie und der Garde stand es frei, sich entweder für den Militäroder fur den Verwaltungsdienst, in der Regel in galizischen Kreisämtern, zu entscheiden.46 Daher beinhaltete die Gardistenausbildung auch Praktika beim Wiener Kreisamt. Überhaupt waren die Lehrpläne breiter angelegt als die preußischen. In Wiener Neustadt umfassten sie Lesen, Schreiben, Kalligraphie, Geschichte, Religionslehre, Latein, Geographie, Tschechisch (später durch Polnisch ersetzt),47 Physik, Heraldik, Mathematik, Philoso-

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Vgl. die Auflistung bei SVOBODA, Militär-Akademie. KA Wien, Galizische Adelige Leibgarde, Karton 2, ad Nr. 16 ex Aprili 1794, Bericht des galizischen Guberniums. Lemberg, 17.1.1794. AVA, HK, VII A 4, Karton 1966, 106 ex April 1801, HK, Protokoll vom 16.4.1801, Note des Grafen Woyna zur Mitteilung an Erzherzog Karl; Original der Note in: KA Wien, HKR Hauptreihe, 1801, 3-1154.

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POTEN, P r e u ß e n , S. 6 5 ; BÖMELBURG, S t ä n d e g e s e l l s c h a f t , S. 3 3 6 .

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POTEN, P r e u ß e n , S. 7 4 .

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Ebd., S. 61f. KA Wien, HKR Hauptreihe, 1791, 53-31, Reskript Leopolds II. an das galizische Gubernium, Wien, 10.1.1791. Vgl. KA Wien, Militärschulen, Karton 156, Akten der Oberdirektion der Militärakademie, ad. Nr. 132 ex 1806, Erinnerungen für die Lehrer des Neustädter Kadetenhauses; Gutachten der von Seiner Königlichen Hoheit dem Kriegsminister zusammengesetzten Kommission zur verbesserten Organisierung des Neustädter Kadetenhauses, Wien, 24.4.1806.

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phie, Französisch, Italienisch, Fortifikation, Artilleriekunde, Taktik, Reiten, Tanzen und Fechten.48 Die Gardisten unterrichtete man in Deutsch, wahlweise Französisch oder Englisch, Logik, Moralphilosophie, Mathematik, Metaphysik und Naturrecht, Physik, Straf- und Zivilrecht, Geschichte, Geographie, politische und Kameralwissenschaften, Gesetz- und Patentkunde, Geschäftskenntnis und Kreisamtspraxis sowie Tanzen, Fechten und Reiten.49 In diesem breiten Fächerkanon spiegelte sich das Idealbild des Offiziers wider, der weit mehr sein sollte als ein militärischer Funktionär. Er sollte ein Ehrenmann sein, mit den Konventionen und Sitten der Gesellschaft vertraut, auf dem Gebiet der Künste und Wissenschaften bewandert und urteilsfähig, sowie ausreichend gebildet, um den außermilitärischen Anforderungen seines adligen Standes gerecht zu werden.50 Damit wurden die militärischen Schulen für den polnischen Adelsnachwuchs auch zu Schulen preußischer bzw. habsburgischer Adligkeit. Diese Angebote stießen durchaus auf Interesse. Die Kadettenschulen zu füllen war anscheinend kein Problem; viel mehr mussten immer wieder Antragsteller auf Wartelisten gesetzt werden.51 Politisch Verantwortliche wie der Freiherr Friedrich Leopold von Schroetter (1743-1815) waren ständig um möglichst hohe Anteile an den verfügbaren Kadettenstellen für ihre Provinz bemüht. Sie nahmen damit vor allem auf kinderreiche, unvermögende Familien Rücksicht, die ihre nachgeborenen Söhne auf diese 52

Weise zu versorgen suchten. Lediglich die galizische Garde war etwas exklusiver. In ihren Reihen fanden sich überdurchschnittlich viele Grafen und Freiherren, die an den Kadettenanstalten meist fehlten.53 48 49

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P o t e n , Österreich, S. 54-56, 65. KA Wien, Galizische Adelige Leibgarde, Karton 2, ad Nr. 98 ex Martio 1794, Vortrag „Wegen Verbesserung des Lehrsistems bei der adelichen Leibwache, gallizischer Abteilung", Graf Saurau, Generalfeldwachtmeister Sierakowski, Obristwachtmeister Rottermund. Wien, 26.2.1794. KA Wien, Militärschulen, Karton 156, Akten der Oberdirektion der Militärakademie, ad Nr. 132 ex 1806, Erinnerungen für die Lehrer des Neustädter Kadetenhauses. AGAD, Gen. Dir. Neu-0stpreußen/170, VI (Materien), Nr. 663, Schroetter an Generalleutnant v. Rüchel, Berlin, 9.12.1801, fol. 31-32, Konzept; Kriegs- und Domänenkammer Plock an Schroetter. Plock, 11.10.1801, fol. 25f. AGAD, Gen. Dir. Neu-0stpreußen/170, VI (Materien), Nr. 664, Anfrage der Kriegs- und Domänenkammer Bialystok. Bialystok, 30.1.1797; Schroetter an Oberst Beulwitz/Kadettenkorps Berlin. Königsberg, 13.4.1797, Konzept; Gesuch des Landrats von Bialystok. Bialystok 12.5.1804; Bericht der Kammer Bialystok an Schroetter. Bialystok, 3.9.1804; Gen.Dir. Neu-0stpreußen/170, VI (Materien), Nr. 663, Schroetter an Generalleutnant v. Rüchel. Berlin, 30.1.1802, fol. 39^10, Konzept. Vgl. die Einträge bei: S v o b o d a , Militär-Akademie, S. 117—466 sowie zu den Gardisten: KA Wien, Galizische Adelige Leibgarde, Karton 1, fol. 55-56, Kaiser-

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4. Die Exklusion des Adelsproletariats Auch der Kleinstadel zog bald die Aufmerksamkeit der Herrschenden auf sich. Es gab frühzeitig Vorschläge, Einheiten zu schaffen, die sich vollständig aus polnischen Adligen zusammensetzen sollten, um diese in größerer Zahl zu beschäftigen.54 In Südpreußen trugen diese Projekte von Beginn an einen sozial-, sicherheits- und gesellschaftspolitischen Charakter. Das war primär auf den Kosciuszko-Aufstand zurückzuführen, der zu einem veränderten Umgang mit der Bevölkerung zwang. In Galizien dominierten in den 1770er Jahren dagegen noch militär- und fiskalpolitische Kalküle. Die Entscheidung über die Anwerbung polnischer Soldaten wurde davon abhängig gemacht, ob dies militärisch überhaupt erforderlich und finanzierbar war. Daher lassen sich die meisten Projekte zur Aufstellung habsburgisch-galizischer Einheiten auf Initiativen polnischer Adliger zurückfuhren, die offenkundig ein Arrangement mit der Teilungsmacht suchten.55 Je mehr Erfahrungen Preußen und Österreich in ihren Teilungsgebieten sammelten, desto mehr wurden sich die Verantwortlichen in negativer Weise des Adelsproletariates bewusst. Schon bald ging es schließlich um dessen - verdeckte - Deklassierung.56 Preußen schuf eigens für den süd-

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liches Edikt, Joseph, o.O., o.D., Abschrift; fol. 454, Starhemberg an die vereinigte HK, Wien, 25.6.1806; Karton 2, ad Nr. 92 ex 9bris 1796, 1796, November 12, Starhemberg an das Direktorium in Cameralibus et publico politicis. Wien, 12.11.1796; ad Nr. 88 ex Aug. 1803, Obersthofmeister Starhemberg an Hofkanzler Ugarte. Wien, 18.8.1803; ad 204 ex 8bri 1806, Bericht des galizischen Landesguberniums. Lemberg, 6.6.1806; Karton 3, ad Nr. 94 ex Januar 1799, Obersthofmeister Starhemberg an galizische Hofkanzlei. Wien, 17.1.1799; 39 ex Februario 1804, Vortrag zur Sitzung vom 7.2.1804, Wien; Karton 5, Aktenverzeichnisse der galizischen Adligen Leibgarde, ohne Datum; KA Wien, HKR, Geschäftsbücher, Nr. 1867, Dep. G; Nr. 1868, Dep. G; Nr. 1869, Dep. G; KA Wien, HKR Hauptreihe, 1791, 21-61, Note Starhembergs an den HKR. Wien, 13.2.1791. GStA PK, I. HA, Rep. IC (Südpreußen), Nr. la, Fasz. 1, Bd. 1, fol. 26-35, Darstellung der Mittel, wodurch man sich der Ruhe in Südpreußen versichern, und bey den dasigen Unterthanen eine aufrichtige Liebe und Anhänglichkeit an die preußische Monarchie erweckt werden kann. o.O., o.D.; KA Wien, HKR Hauptreihe, 1778, Protokolle, G5096/9-1075, HKR Präsidialhofnote, Dez. 1778. KA Wien, HKR Hauptreihe, 1772, 75/2, Fürstl. Radziwillscher Generalmajor von Schütz an den HKR, Teschen, 19.5.1772; KA Wien, HKR Hauptreihe, 1778, Protokolle, Galizisches Generalkommando an den HKR, G5199/62-1769; KA Wien, HKR Hauptreihe, 1778, Protokolle, G5092 zu 9-1095; Hauptmann Klauzal von Slewikowitz an den HKR, Jaroslaw, präsentiert den 14.12.1778. AGAD, Gen. Dir. Südpreußen/169, I (Universalia), Nr. 10 (Acta die Unterbringung des armen Adels betreffend), Hoym an das Oberkriegskollegium Berlin,

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und neuostpreußischen Adel ein nach Besitz und Einkommen gestaffeltes System der Dienstverpflichtung beziehungsweise Dienstbefreiung. Die Inhaber von Gütern, deren Größe zehn magdeburgische Hufen überschritt, wurden samt ihren Söhnen vollständig von der Kantonpflicht befreit und zur Offizierslaufbahn zugelassen, mithin dem übrigen preußischen Adel gleichgestellt. Bei fünf bis zehn Hufen war nur der älteste Sohn von der Kantonpflicht befreit; allein er konnte die Adelsprivilegien seines Vaters erben. Unterschritt die Gütergröße schließlich fünf Hufen, waren alle männlichen Familienmitglieder kantonpflichtig. Adlige, die in den neuen Provinzen geboren, aber nicht begütert waren, mussten ein Mindesteinkommen von 150 Talern nachweisen, um in den Genuss der Kantonfreiheit zu gelangen.57 Man gestand dem Kleinstadel jedoch gewisse dienstliche Privilegien zu. Da man annahm, dass ihm vor allem der Kavalleriedienst entgegenkomme, wurden die Eingezogenen in speziellen Reitereinheiten, u.a. dem so genannten Korps Towarczys eingesetzt. Der Dienst sollte durch 58

Erleichterungen und besondere Auszeichnungen attraktiv werden. Österreich verzichtete zwar darauf, das Adelsproletariat militärpflichtig zu machen, ging im übrigen aber einen ähnlichen Weg wie Preußen, indem es Ulanenregimenter aufbaute, in denen die anerkannten polnischen Adligen die Offiziersstellen besetzen sollten, während die Mannschaftsränge dem Kleinstadel vorbehalten blieben.59 Die Musterlisten der Ulanenregimenter zeigen, dass dieses Prinzip auch durchgehalten wurde: Zahlreiche einfache Soldaten tragen in der Rubrik „Beruf die Bezeichnung „Edelmann".60 1817-1820 dienten im ersten und vierten Ulanen-

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Breslau, 16.1.1796, S. 29-30, Konzept; GStA PK, I. HA, Rep. 7C (Südpreußen), Nr. 4, Fasz. 12, Minister Schroetter an Außenminister Alvensleben. Berlin, 23.5.1800, fol. 4. GStA PK, II. HA, GD Südpreußen, I, Nr. 914, KO Nr. 400, an die Militärorganisationskommission, Freiherrn v. Schroetter u. Graf v. Voß. Potsdam, 14.5.1799, S. 239f. AGAD, Gen. Dir. Südpreußen/169, I (Universalia), Nr. 125 (Kantonwesen), Schroetter an Voß, Berlin, 21.6.1799, S. 133; Schroetter an Voß. Berlin, 21.7.1799, S. 134; zusammenfassend Johann David von DZIENGEL, Geschichte des KöniglichenZweiten Ulanen-Regiments. Potsdam 1858. Zur Einrichtung der Ulanenregimenter vgl. AVA, HK, VII A 4, Karton 1966, 106 ex April 1801, HK, Protokoll vom 16.4.1801, Note des Grafen Woyna zur Mitteilung an Erzherzog Karl (Original der Note in KA Wien, HKR Hauptreihe, 1801, 3-1154); KA Wien, HKR Hauptreihe, 1801, 16-322, Instruktion für den Obristwachtmeister Graf von Mier, Schönbrunn, 23.2.1801; KA Wien, HKR Hauptreihe, 1801, 16-322, Erzherzog Karl an Kaiser Franz, Schönbrunn, 11.2.1801. Vgl. KA Wien, Musterlisten der Ulanenregimenter 1, 2, 3 und 4, Karton 7825, 7828, 7 8 3 1 , 7 8 3 4 , 7923,7925.

Der Militärdienst und die Neuformierung adliger Eliten

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regiment zusammen nicht weniger als 238 „Edelleute" im Mannschaftsrang.61 Dass es sich hierbei um eine durchaus erfolgreiche Inklusionsmaßnahme handelte, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass spätestens in den 1820er Jahren das Unteroffizierskorps der vier Ulanenregimenter im Wesentlichen aus dem Adelsproletariat rekrutiert werden konnte.62 Damit wurde aber auch die neue Elitenordnung deutlich, da die Kleinstadligen nun den im Offiziersrang stehenden adligen Grundbesitzern militärisch untergeordnet waren. In Preußen wurde die Exklusion schließlich mit der gesetzlichen Neuregelung des Ankaufs von Bauernstellen untermauert. Bis dahin waren Bauernstellen, die von Kleinstadligen erworben wurden, zum Korps Towarczys kantonpflichtig geworden, die Qualität des Gutes war also dem Stand des neuen Besitzers gefolgt. Nun gestattete man den neu-ostpreußischen Kleinstadligen, die beim Korps Towarczys kantonpflichtig waren, zwar nochmals ausdrücklich, Bauernstellen zu kaufen. Entscheidend war dabei jedoch, dass der Käufer „nicht nur sämtliche auf dem Bauerguthe haftende Pflichten mit demselben übernimmt, sondern auch in aller Absicht in die persönlichen Verhältnisse des bäuerlichen Standes treten will."63 Dies war eine bedeutsame Neuerung: Jetzt folgte der neue Besitzer der Qualität des Besitzes, wurde aus einem Kleinedelmann rechtlich ein Bauer.

5. Zusammenfassung Abschließend bleibt festzuhalten, dass die militarisierte Elitenpolitik Preußens und der Habsburgermonarchie ambivalent war. Einerseits nutzte man das Instrumentarium der Dienstverpflichtung dazu, verdeckt, aber konsequent den ungeliebten Kleinstadel aus dem Adelsstand zu verdrängen. Andererseits „versüßte" man diesem den Übergang und befriedigte seine Ansprüche auf einen hervorgehobenen Status durch militärische Privilegien. Gemessen an der Realität in der Adelsrepublik und der schon dort fortschreitenden Deklassierung des Kleinstadels war das für diesen ein plausibles Angebot, denn reale Machteinbußen waren für die ,golota [Pöbel]"

62 63

Axel EPPER, Galizische Adelige im Ulanenkorps der habsburgischen Armee. Masch, schrift. Trier 2004, S. 81 f. AVA, HK, VII.A.4, Karton 1969, HKR an HK, Wien, 21.3.1829. AGAD, Gen. Dir. Südpreußen/169, I (Universalia), Nr. 126 (Kantonwesen), Dekretschreiben an das Justiz- und neuostpreußische Finanzdepartement und die Militär-Organisations-Kommission, Berlin, 22.12.1803, S. 26-29; Reskript an die Kriegs- und Domänenkammer Kaiisch, Berlin, 6.1.1806, S. 104, Abschrift.

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Bernhard Schmitt

damit nicht mehr verbunden, dafür aber wurden ihr Versorgungsmöglichkeiten gewährt. Die flankierenden, inkludierend wirkenden Maßnahmen machten die partielle Exklusion erträglicher. In den Mannschaftslisten der Ulanenregimenter wurden die galizischen Kleinstadligen weiter als Edelmänner gefuhrt, und in Preußen wurde der besondere Status der Towarczys im Kriegsrecht unter dem Hinweis verankert, dass sie „insgesamt Edelleute sind".64 Darüber hinaus machten die Teilungsmächte jenen Adligen, die voll anerkannt wurden, ein in Relation zu den vorhandenen staatlichen Ressourcen außerordentlich großzügiges Angebot, das auch durchaus genutzt wurde. Die Hauptprofiteure entstammten also der Schicht des geringer bemittelten Adels, deren Standeszugehörigkeit anerkannt wurde, wodurch sie unter Berücksichtigung ihrer ökonomischen Lage in den Genuss staatlicher Karrieremöglichkeiten im Bereich des Militärischen gelangten. Besonders bemerkenswert ist letztlich die Zielstrebigkeit, mit der Preußen und Österreich ihre Elitenpolitik in die Sphäre des Militärischen verlagerten und mit Sicherheitspolitik auf der einen sowie Gesellschaftspolitik auf der anderen Seite verknüpften. Sie vertrauten fest darauf, durch die Diversifizierung ihrer Angebote und eine flexible Gestaltung der Militärpolitik in der Arena des Militärischen die Vergesellschaftung der Eliten in den Teilungsgebieten wirkungsvoll gestalten zu können. Dass dies nicht allein mit dem Ziel geschah, militärische Funktionsträger heranzubilden, zeigt sich eindrucksvoll in einer österreichischen Anweisung, auch diejenigen Militärzöglinge nicht fallen zulassen, die die geforderten Leistungen nicht erbrachten, sondern sie auf jeden Fall anderweitig zu versorgen.65 Schließlich ging es, wie Erzherzog Karl sich von Kaiser Franz belehren lassen musste, nicht nur darum, „die Streitkräfte gegen den Feind zu vermehren, sondern hauptsächlich dem dortländigen armen, größtentheils unbeschäftigten jungen Adel eine Beschäftigung zu verschaffen, durch diese ihn an den Staat anhängiger zu machen, und ausser der Gelegenheit zu setzen, durch seine revoluzionäre Grundsätze dem Staate gefahrlich zu werden."66

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Resolution des Oberkriegskollegiums vom 29.11.1799, in: DZIENGEL, Geschichte,

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KA Wien, Galizische Adelige Leibgarde, Karton 2, ad Nr. 2 ex Aug. 1796, Starhemberg an das Direktorium in Cameralibus et publico politicis, Wien, 28.7.1796. KA Wien, HKR Hauptreihe, 1801, 16-322, Erzherzog Karl an Kaiser Franz. Schönbrunn, 11.2.1801, Resolution des Kaisers.

S. 2 0 3 .

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VICTOR KARADY

Elitenbildung im multiethnischen und multikonfessionellen Nationalstaat: Ungarn in der Doppelmonarchie

1. Ein Nationalstaat ohne nationale Mehrheit Der nach dem so genannten österreichisch-ungarischen Ausgleich entstandene parlamentarische Nationalstaat war eine merkwürdige, in mindestens zwei Hinsichten einzigartige Staatenbildung im modernen Europa. Er war nicht nur multikonfessionell, sondern auch ohne wirkliche ethnische Mehrheitsgruppe, der Prozentsatz der Magyaren - die, die Magyarisch als Muttersprache hatten und sich folglich als kulturell magyarisch verstanden oder „magyarischen Ursprung" beanspruchten - kann gegen Mitte des 19. Jahrhunderts höchstens auf 41-42% der Bevölkerung geschätzt werden, das damals administrativ getrennte Transylvanien Inbegriffen, aber ohne Kroatien.1 Obwohl die sprachlich-kulturelle Einheit eines Staates oder auch irgendeines größeren territorial oder anders definierten gesellschaftlichen Ganzen oft problematisch erscheint - alles hängt ja davon ab, wie man Sprachen von Dialekten, Patois, Argot, regionalen oder schichtenspezifischen Redeweisen unterscheidet - , stellt dies kein wesentliches Definitionsproblem für Ungarn dar. Jeder, der als Mutter- oder Hauptsprache eine Art Magyarisch sprach, verstand sich als ungarisch gegenüber anders definierten Gruppen nichtungarischer sprachlich-ethnischer Identität. Noch im Jahr 1880 hatte man im Lande neben rund 47% so definierten Magyaren, die eine in diesem Teil Europas völlig isolierte finnougrische Ursprache benutzten, 13% Deutschsprachige, 18% rumänisch Sprechende und 22% Slaven und andere, unterschiedliche Sprachgruppen

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1850 wurden die Magyaren auf 41,5% geschätzt, aber diese Angabe enthält vermutlich einen nicht messbaren Anteil „magyarisierter" Bevölkerung. Vgl. Endre KovAcs/Läszlö KATUS (Hg.), Magyarorszäg törtenete, 1848-1890. Bd. 6/2, Budapest 1979, S. 11-49.

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Victor Karady

(vor allem Slovaken und Ruthenen, aber auch Serben, Kroaten, Slovenen, Bulgaren, Armenier2) - darüber hinaus auch Roma, die in den Bevölkerungsstatistiken nicht immer gesondert aufgeführt wurden.3 Die aus der ethnischen Vielfalt resultierenden Probleme der Loyalität zu oder besser Integration in einen nunmehr ungarischen Staat wurden durch die ebenfalls vorhandene religiöse Komplexität weiter erschwert. 1880 gehörten nur 47% der Bevölkerung der römisch-katholischen Kirche an - der Kirche des Hofes, der Mehrheit der Aristokratie, vor allem der größten Grundbesitzer, und der Bevölkerung fast aller anderen Landesteile der Doppelmonarchie. Ihnen standen 10,8% Unierte (griechisch- und armenisch-katholische Christen), 14,1% Griechisch-Orthodoxe, 14,7% Calvinisten, 8,2% Lutheraner, 4,6% Juden und 0,4% Unitarier gegenüber4 abgesehen von durch die Statistiken nicht erfassten, weil vom Staat nicht anerkannten, religiösen Splittergruppen. Dazu kommt, dass Ethnizität und Religion in der postfeudalen Klassengesellschaft in einer sehr komplexen Weise miteinander verwoben waren. Das Magyarentum war ursprünglich im Wesentlichen unter der römisch-katholischen Konfession und den Calvinisten, seltener unter Lutheranern verbreitet. Die Deutschen waren entweder römisch-katholisch oder lutherisch und lebten verstreut in unterschiedlichen Regionen. Die Rumänen waren größtenteils Orthodoxe, zum Teil auch Unierte, konzentriert im Südosten (Siebenbürgen). Für die slavischen Bevölkerungsgruppen war die fast ausschließliche Zugehörigkeit zu einzelnen Konfessionen charakteristisch: Die Slovaken waren meistens römisch-katholisch und eine Minorität lutherisch, die Ruthenen (im östlichen Transkarpatien) uniert (griechisch-katholisch), die Serben orthodox (entlang der Donau), die Kroaten römisch-katholisch (im südwestlichen Transdanubien). Die Juden wurden - wie überall im christlichen Europa im Großen und Ganzen als fremde Minorität angesehen, unabhängig von Sprachgebrauch und internen kulturellen Differenzen. Diese einfachen Zuordnungen geben aber nur einen sehr ungenauen Eindruck von den seit Entwicklung des Nationalstaats entstehenden Integrations- und Vergesellschaftungsproblemen unter der Ägide des vom magyarischen liberalen Adel vertretenen staatsbildenden Nationalismus. Um die Probleme zu verstehen, muss man eine Anzahl weiterer Faktoren und Umstände in Betracht ziehen, namentlich die nach Besitz, Einkommen

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Die Volkszählung von 1910 hat nicht weniger als 21 sprachliche Minderheiten unterschieden, obwohl sich manche bekannte ethnische Bezeichnungen/Gruppen sprachlich kaum noch niederschlugen. Zum Beispiel blieben von den nach früheren Volkszählungen mehr als 15.000 Armeniern 1910 nur noch 121 armenisch Sprechende übrig. Vgl. Magyar statisztikai közlemenyek 61 (1916), S. 112-119. Errechnet nach Karoly KELETI, Magyarorszäg nemzetisegei. Budapest 1882, S. 22. Ebd.

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und Chancen bzw. Bereitschaft zur beruflichen Mobilität differenzierten Klassen- und Schichtstrukturen, die Machtverhältnisse und Handlungsmöglichkeiten in diesem sich als parlamentarische Demokratie ausgebenden, fortdauernden Ständestaat, die Möglichkeiten etlicher Gruppen, Zugang zur politischen Führungsschicht zu bekommen, die symbolischen Werte und politischen Interessen, die diese (ethnisch und konfessionell definierten) Gruppen mit dem Ausbau des Nationalstaates verbanden, und dazu das kulturelle Erbe und die politischen Traditionen, die die Integration in den Staat entweder förderten und erleichterten oder behinderten und erschwerten. Alle diese recht komplexen Grundgegebenheiten der ungarischen Gesellschaft im Zeitalter des Umbruchs zur Moderne können hier nicht einmal skizzenhaft analysiert werden, obwohl alle - in unterschiedlicher Weise - die Umgestaltung der Eliten prägten. Stattdessen versuche ich, diejenigen Wesenszüge herauszukristallisieren, die mit den Entwicklungsmerkmalen der Vergesellschaftung von Minderheitseliten einerseits und den Folgen von Polyethnizität und Multikonfessionalität andererseits zu tun haben. Der Ausbau des Nationalstaates war von Anfang an durch den Primat der Nationalitätenfrage belastet: Wie sichert man Staatstreue in dieser Vielfalt von nichtmagyarischen Gruppen, die insgesamt eine Mehrheit darstellten? Zuerst versuchte man, diese durch Konzessionen an ihre ethnisch-kulturellen Eigenarten zu erreichen, durch Gesetze, die den Nationalitäten und den diese unterstützenden Kirchen eine breite, in Schulwesen und Religionsausübung praktisch umgesetzte Autonomie zusicherten.5 Aber gleichzeitig (und später immer stärker) begann man in entgegen gesetzter Weise die erwünschte politische Loyalität der kulturell, sprachlich, anthropologisch und nach ihrer geschichtlichen Erinnerungswelt fremden nichtmagyarischen, aber meistens vor langer Zeit angesiedelten Bevölkerungsgruppen zumindest durch sprachliche Eingliederung zu verstärken. Die Antwort hieß: Assimilationspolitik durch Schule, administrativen Druck, gesellschaftliche Eingliederungsmaßnahmen und Angebote individueller Begünstigungen und kollektiver Vorteile und zumindest für Juden die Abschaffung der noch bestehenden behindernden Verfügungen. Von Beginn an schien dieses Assimilationsprojekt aufgrund seines offensichtlich ungeheuren Umfangs zum Scheitern verurteilt: Und so war der Anteil von 47% Magyaren zwischen 1880 und 1910 - nach 30 Jahren aktiver Assimilationspolitik - noch immer nur auf 54% gestiegen.6

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Vgl. die sehr „liberalen" Gesetze über Primärerziehung 28/1868 und über Nationalitäten 44/1868. Nach offiziellen Angaben der Volkszählung von 1910, die den tatsächlichen Sprachgebrauch, die „erste benutzte Sprache" und die politisch gefärbte „sprachli-

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2. Der „assimilatorische Gesellschaftsvertrag" Die liberal-nationalistische Regierung versuchte zunächst, die gesellschaftliche Elite der Minderheiten zu magyarisieren. Daher war die liberale Hauptströmung des magyarischen Nationalismus - also die im Vormärz geformte, im Unabhängigkeitskampf von 1848/49 erprobte, teilweise sogar verwirklichte und nach 1867 triumphierende Staatsideologie - für die assimilationsbereiten, nichtmagyarischen Eliten kaum von essentialistischen völkisch-nationalistischen Exklusionskonzepten geprägt. Im Prinzip konnte jeder Mitglied der aufkommenden Elite des Nationalstaates werden, der den Erfordernissen des ungeschriebenen „assimilatorischen Gesellschaftsvertrages" nachkam. Als Gegenleistung für Staatsloyalität sah der Vertrag in der Tat die bedingte Integration von Mitgliedern der Minderheitsgruppen in den Staatsapparat und in die adlige Elite vor sowie gefährdete Gruppen - wie die Juden - gegen Xenophobie zu verteidigen. Im Vertrag wurde ein gewisses Maß an kultureller Anpassung verlangt, das heißt sprachliche und kulturelle Assimilation, die einen reibungslosen sozialen Austausch und Verkehr in den bürgerlichen Mittelschichten und den adligen („gentroiden") Eliten erst möglich machte. Die gesetzlich gesicherten Prinzipien dieses Vertrages bestanden in einer weitgehenden bürgerlichen Gleichberechtigung der Minderheiten, konkret im Recht auf muttersprachlichen Elementarunterricht für jede Bekenntnis- und Nationalitätengruppe, die Offenheit der höheren Bildungsinstitutionen, was freie Schulwahl auf mittlerer Ebene bedeutete, Zugang zum öffentlichen Dienst, auch zur Armee, und zu Posten in den von den Behörden gegründeten und verwalteten Industriezweigen (Post, Bahn, städtische Transportmittel, Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke usw.), sogar staatlich geförderte Mobilitätschancen, namentlich durch vom Staat garantierte Kredite, in der freien Wirtschaft, Verleihung von Adelstiteln für führende Mitglieη

der gutbürgerlicher Minderheitsgruppen bis zum Baron (auch für Juden ) und einen in Mitteleuropa bis dahin unbekannten Grad von Säkularisierung: nämlich die Einführung der Zivilehe und damit die Möglichkeit von jüdisch-christlichen und interkonfessionellen Mischehen, die Gleichberechtigung der „rezipierten" (staatlich unterstützten) Kirchen, wobei seit

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che Loyalität" zusammen erfasste. Vgl. Magyar statisztikai közlemenyek 61 (1916), S. 112-116. Schon in dieser Zeit hatte man öffentlich bemerkt, dass die formelle magyarische Mehrheit ohne die sich als Magyaren bezeichnenden 701.000 Juden (77% des Judentums im Lande, 7,6% der Magyaren und 3,8% der ganzen Bevölkerung) fast verschwunden wäre. Ebd., S. 116-117, 249. In der Doppelmonarchie wurden ca. 280 jüdische Familien in den erblichen Adelsstand erhoben. Vgl. Magyar zsido lexikon. Budapest 1929, S. 642-647.

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1895 das Judentum Inbegriffen war,8 freie Religionswahl mit der Möglichkeit, „bekenntnislos" zu werden,9 ein von kirchlicher Aufsicht befreites Standesamt, staatliche Neutralität in kirchlichen Angelegenheiten in einem Land, wo der Katholizismus noch immer bestimmte symbolische Vorrechte der früheren „Staatsreligion" beibehielt.10 Die Aufforderung zur Assimilation stützte sich demnach auf ein beträchtliches Angebot an Integrationsmöglichkeiten für die Elite und damit verbunden auf spezielle Aufstiegsmöglichkeiten. Diese Assimilationspolitik resultierte sicherlich aus der Minderheitsposition der magyarischen „titulären Elite". Ihre Ergebnisse waren zwar sehr unterschiedlich und reichten letzten Endes nicht, den polyethnischen und multikonfessionellen Nationalstaat zu erhalten. Dennoch war sie wahrscheinlich - vor allem zu Beginn - gegenüber Minderheiten eine der liberalsten in Europa. Ehe wir uns der Rolle des Schulwesens bei der Bildung und Sozialisation von Minderheitseliten zuwenden, muss man die allgemeine Entwicklung skizzieren und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Gesellschaft festhalten: Bei der römisch-katholischen Bevölkerung in Gebieten, die schon gegen 1880 weitgehend magyarisch waren - im Westen (Transdanubien) 65%, im Zentrum (zwischen Donau und Theiss) 74% und im Südosten (Transylvanien) 90% - hatte die Magyarisierung11 bis 1910 keine entscheidenden Fortschritte gemacht. Dagegen gelang dies immer-

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Es gab in der Doppelmonarchie im Bezug auf die staatliche Anerkennung drei regelrechte Statuten, die staatlich anerkannten und geförderten „rezipierten" Kirchen, die „tolerierten" Konfessionsgemeinschaften und die anderen, denen keine staatliche Anerkennung gewährt war und die gelegentlich auch Benachteiligungen, wenn auch keinen Verfolgungen im öffentlichen Leben ausgesetzt waren. In Ungarn waren bis 1895 die Römisch- und Griechisch-Katholischen (Unierten), Orthodoxen, Calvinisten, Lutheraner und Unitarier „rezipiert". Die „Jüdische Rezeption" wurde 1895 als eine große liberale Errungenschaft angesehen, die für das Judentum nicht nur gesetzliche Gleichberechtigung bedeutete, sondern auch kollektive Würde für die Gemeinschaft, die bis dahin trotz vollständiger bürgerlicher Emanzipation seit 1867 fehlte. Bis zur „religionspolitischen" Gesetzgebung der Jahre 1894— 1896 war zum Beispiel das Übertreten ins Judentum gesetzlich unmöglich, ebenso wie eine Ehe zwischen Juden und Christen. Die Baptisten wurden noch im liberalen Zeitalter - 1905 - „rezipiert". Der Zensus von 1910 registrierte schon 8.073 Baptisten, 3.136 Nazarener und 2.295 Bekenntnislose. Vgl. Magyar statisztikai közlemenyek 61 (1916), S. 165. Man mag daran erinnern, dass an der Spitze der Budapester Universität und des Ministeriums für Unterricht und Religion noch immer (bis zum Kommunismus, möglicherweise auch währenddessen und in der Zeit danach) unausgesprochen Katholiken bevorzugt wurden. Gemeint ist hier der statistisch gemessene Sprachgebrauch als Mutter-, Haupt- oder erst gelernte und verwendete Sprache.

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hin einigermaßen bei den katholischen Deutschen (vor allem bei den Banater Schwaben von 32% auf 43%) und etwas besser bei den katholischen Slovaken. Aber am Ende hatte man noch immer insgesamt weniger als zwei Drittel Magyaren unter den Katholiken.12 Bei den Lutheranern kann man ähnliche Phänomene des Sprachwechsels und/oder der sprachlichen Assimilation bzw. eines sich im Sprachgebrauch äußernden Loyalitätsbekenntnisses ebenfalls nur in einigen Regionen beobachten (vor allem im Norden und Westen); im Großen und Ganzen blieb das seit eh und je weitgehend nicht magyarisierte Luthertum bis zum Ende der Doppelmonarchie eher deutsch- oder slovakischsprachig. 1910 gaben unter den Lutheranern nur 32% Magyarisch als Muttersprache an.13 Dieser allgemeine Trend verdeckt jedoch wichtige regionale und subkulturelle Unterschiede. Die Siebenbürger Sachsen zum Beispiel, eine seit dem 13. Jahrhundert eingewanderte und lange mit bedeutenden feudalen Privilegien ausgestattete Volksgruppe, nahmen offenbar am Magyarisierungsprozess praktisch nicht teil: 1910 betrug der Anteil der Magyaren unter ihnen noch immer weniger als 11%, obwohl er bereits 1880 bei 10% lag.14 Die sich am stärksten magyarisierende Gruppe stellten die Juden dar, vor allem die im Zentrum einschließlich Budapest, im Westen und in den meisten Großstädten lebenden „Neologen" (eine auch als „Kongressjudentum" oder „konservative Reformjudenschaft" bezeichnete Strömung, die sich 1868/69 mit der Gründung der „Israelitischen Landeskanzlei" von der Orthodoxie abgegrenzt hatte). 1910 waren die Juden mit 77% die am weitesten magyarisierte Religionsgemeinschaft des Landes, mit allerdings sehr breiten regionalen und subkulturellen Unterschieden. Die jüdische Orthodoxie war an den Assimilationsprozessen offenbar weit weniger beteiligt. In manchen kulturell ganz abgeschlossenen Gebieten, so im nordöstlichen Komitat Märamaros, dem Siedlungsgebiet der jiddischsprachigen Orthodoxie galizischen Schlages (mit starkem chassidischen Einfluss) gab es 1910 noch nicht mehr als 17% „Magyaren mosaischen Glaubens". Die anderen größeren Religionsgemeinschaften blieben hingegen von den Versuchungen sprachlicher Assimilation fast unberührt. Die GriechischOrthodoxen waren fast ausschließlich (bis zu 98%) rumänisch- oder serbischsprachig, sogar die in den westlichen Katholizismus integrierten Unierten waren 1900 nur zu 13% magyarischsprachig.15 Zwei „rein ungarische

13 14 15

Für regionale Details dieser Entwicklung siehe Victor KARADY, Zsidosäg, polgarosodäs, asszimilacio. Budapest 1997, S. 151-195, bes. S. 170-171. Ebd. Ebd., S. 171. Magyar statisztikai közlemenyek 27 (1900), S. 135.

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Bekenntnisgruppen" gab es - die in der Tat fast ausschließlich magyarischen Calvinisten und Unitarier. 1880 bezeichneten sich 97,7% beider Gruppen als Magyaren. Wenn man die sprachliche Assimilation aus den Angaben für die gesprochenen Sprachen ermisst, wird klar, dass die Bewegung im Allgemeinen am meisten die Deutschsprachigen betraf (ob Juden, katholische Schwaben oder Lutheraner - außerhalb von Transylvanien), da ihre Bevölkerungsziffern von 1880 bis 1910 praktisch unverändert geblieben sind (Wachstum nur um 2%), während die ganze Bevölkerung um 33% wuchs und die Gesamtzahl der Magyarischsprechenden um 55% zunahm. Die Slovakischsprachigen (darunter Römisch-Katholische, Lutheraner und einigen Juden) stellten die sich am nächst schnellsten magyarisierende Gruppe (Wachstum um nur 5%).16 Aus diesen Daten ist zu erkennen, dass die Bevölkerung nichtmagyarischer kultureller Bindung grob in zwei Kategorien unterteilt werden kann, in die der Assimilation positiv und in die ihr negativ Gegenüberstehenden, natürlich mit allerlei Übergangspositionen. Ganz eindeutig nahmen die „westlichen" (reformierten) Juden, die meisten Deutschen (ob Katholiken oder Lutheraner) und ein beträchtlicher Teil der Slovaken das Assimilationsangebot in mehr oder minder freiwilliger Weise an, während die anderen es gänzlich zurückwiesen. Die angedeuteten Unterschiede hatten mit dem politischen Engagement im ungarischen Nationalismus zu tun, mit den gruppeneigenen Möglichkeiten der Ausnützung des Angebots für berufliche und gesellschaftliche Mobilität (die auch mit dem Modernisierungsgrad und den objektiven Modernisierungschancen der Gruppe verbunden waren), mit dem Ausmaß dieser Mobilitätschancen in der freien Wirtschaft und auf den öffentlich kontrollierten Berufsmärkten, mit dem Gewicht des durch Magyarisierung gewinnbaren symbolischen Kapitals in der gegebenen Gruppe, mit dem politischen und kulturellen Erbe der Betroffenen und - vor allem - mit den zur Verfugung stehenden alternativen Strategien kollektiven Vorwärtskommens, symbolischer Selbstbehauptung und politischem Sich-Geltung-Verschaffens, ebenso wie - ganz konkret mit dem Vorhandensein eines alternativen nationalistischen Angebots mit starker Anziehungskraft in den Nachbarstaaten (zum Beispiel das Rumänische für Rumänen, das Tschechoslovakische für Slovaken). Diese sehr komplexen Zusammenhänge können im Rahmen dieses Aufsatzes nicht näher behandelt werden. Es soll hier genügen zu betonen, dass fast alle der von der Assimilation erwarteten Vorteile mit gesellschaftlicher Mobilität verbunden waren, das heißt nur für diejenigen wichtig waren, die beruf-

16

Vgl. KARADY, Zsidösäg, polgärosodäs, S. 165.

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lich-gesellschaftlichen Aufstieg, in die Mittelklassen anstrebten oder dort ihre Position zu stärken bzw. zu verbessern suchten. Kurz gesagt: Assimilation, Modernisierung und Mobilität gehörten eng zusammen.

3. Bildung, Mobilität und Assimilation Das Bildungswesen verstand sich als ein Mittel - und zwar das wirksamste - zur sprachlich-kulturellen Assimilation und als Zugang zu praktisch all den prestigeträchtigen Berufszweigen der Mittelklassen (ein Zusammenhang, der im Qualifikationsgesetz von 1883 mit seinem geforderten Bildungsniveau für Posten des öffentlichen Dienstes formell kodifiziert wurde). Das Schulwesen galt als ein institutionalisierter Ort der Vergesellschaftung aller alten und neuen sowie zukünftigen Elitengruppen. Die Ausnutzung des schulischen Angebots und das sich Behaupten auf dem Schulmarkt wurde dadurch gleichsam zum Zeichen für eine erfolgreiche Assimilation. Daher die besondere Bedeutung des Bildungssystems in den auf die Assimilation gerichteten Handlungsstrategien der zur Assimilation positiv eingestellten Minderheitsgruppen - wie Juden und Deutsche. Diese hier nur theoretisch skizzierten Beziehungen zwischen auf Assimilation und auf sozialen Aufstieg ausgerichteten Funktionen der Schule kann für die wichtigsten beteiligten Minderheitsgruppen auch empirisch demonstriert werden, wenn man einige ganz elementare Angaben über die ethnische Zusammensetzung mancher der wichtigsten Elitenpositionen heranzieht. Es ist leicht nachweisbar, dass seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die modernsten Industrie- und Handelszweige, das Bank- und Kreditwesen von jüdischen Unternehmern und Fachleuten aufgebaut und verwaltet wurden. Das beste Indiz dafür stellen die Prozentsätze von jüdischen „Privatbeamten", den Angestellten in privaten Firmen, dar, denn die Kategorie „Unabhängige Unternehmer" in der Gewerbestatistik ist wenig aussagekräftig, da sie sowohl die eigentlichen Fabrikdirektoren und Großunternehmer als auch die kleinen, allein arbeitenden Inhaber von Geschäften und Werkstätten umfasst. 1910 waren im Ackerbau 27%, in der Industrie 47%, im Handel und Kreditwesen 55% sowie im Transportwesen 15% der männlichen Privatbeamten Juden, während jüdische Männer nur etwa 4% der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung im Lande ausmachten.17 Auch die freien Berufen (Anwälte, Ärzte, Publizisten, Ingenieure ) wurden |Q

7 18



in

ΛΛ

21

Errechnet nach: Magyar statisztikai közlemenyek 56 (1915), S. 493, 557, 589, 601. Mit 45% der Rechtsanwälte 1910. Vgl. ebd., S. 737.

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vor allem in der Hauptstadt zu einem hohen Prozentsatz von Juden ausgeübt, die sich fast ausnahmslos zur magyarischen Identität bekannten. Es ist weniger bekannt und auch schwieriger zu beweisen, dass Deutsche und manche Slaven (darunter vor allem Slovaken und Serben) beim Ausbau des modernen Handelswesens und in der großen Industrie auch eine überproportional wichtige Rolle spielten und sich darüber hinaus relativ starke Positionen im öffentlichen Dienst und in der Armee sicherten. Manche Historiker gehen so weit zu behaupten, dass das im Zweiten Weltkrieg geschlossene militärische Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland vieles den Oberoffizieren deutscher Abstammung verdankte, die den Assimilationsprozess im Rahmen der Verbürgerlichung der Militärlaufbahn durchlaufen hatten.22 Die unterschiedlichen Mobilitätsziele und -möglichkeiten jüdischer und christlicher Assimilation haben selbstverständlich nichts oder nicht viel mit „natürlichen Neigungen" oder Einstellungen zu tun, sondern damit, dass der „assimilatorische Gesellschaftsvertrag" nur bedingt für Juden galt. Der Staatsapparat stand ihnen meistens (aber nicht ausschließlich) unter der Bedingung eines Konfessionswechsels offen, während an Christen keine Bedingungen gestellt wurden. Zwar gelangten mehrere getaufte Juden im liberalen Zeitalter bis zu Ministerposten - selbst der Verteidigungsminister am Anfang des ersten Weltkrieges, Baron Samu Hazai (1851-1942), war ein getaufter Jude aber es gab nur einen einzigen ungetauften jüdischen Minister: Vilmos Väzsonyi (1868-1926), Justiz- und Wahlreformminister 1917 bis 1918 unter Kaiser Karl, dem liberalsten aller Herrscher im Habsburgerreich. Nach der antisemitischen Wende in der ungarischen Politik von 1919 bis zum bitteren Ende des Alten Regimes im Jahr 1945 gab es solche Aufstiegsmöglichkeiten nicht mehr. Für nichtjüdische Assimilationswillige blieb der Staatsapparat ein stark ersehntes und offenkundig erreichbares Aufstiegsziel. In den 1920er Jahren, nach der Reduzierung des Landes im Friedensvertrag von Trianon auf seine von Magyaren besiedelten mittleren Regionen, nach dem Zurückströmen von Zehntausenden von Staatsbeamten aus den abgetrennten Gebieten in den Rumpfstaat und nach einer mehr als ein halbes Jahrhundert dauernden Magyarisierung nichtungarischer Familiennamen (was für die in der Verwaltung Arbeitenden manchmal Pflicht, manchmal nur Ehrensache

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Mit 49% der Mediziner und 40% der Tierärzte 1910. Vgl. ebd., S. 771. Mit 43% der Journalisten 1910. Vgl. ebd., S. 775. Mit 37% der Privatingenieuren 1910. Vgl. ebd., 781. Für eine Kritik dieser Simplifikation vgl. Sändor SZAKÄLY, A magyar katonai elit 1938-1945. Budapest 1987, S. 56-58.

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Victor Karady 23

war), enthielt die Leitung ungarischer Ministerien noch immer einen beträchtlichen Prozentsatz von hohen Beamten mit deutschen (insgesamt 24,4%) oder slavischen (12,7%) und anderen nichtungarischen (4,4%) Namen.24 Auch in etlichen Budapester Elitegymnasien gab es zu der Zeit noch immer nur eine Minderheit (40,2%) von Schülern mit ungarischen Namen. Der ausgezeichnete (obwohl rechtsradikale) Statistiker Alajos Koväcs (1877-1963), der diese Angaben publizierte, Fachmann der damals auch in Ostmitteleuropa in Schwung gekommenen „Stammesforschung", identifizierte in den 1930er Jahren nur 42% von „Stammungarn" gegenüber 33% Deutschen, 18% Slaven und 5,5% Anderen unter den Beamten im öffentlichen Dienst, während sich innerhalb der wirtschaftlichen Intelligenz nur 24% „Stammungarn" gegen 19% „Deutsche" und 13% Andere und nicht weniger als 44% Juden fanden.25 Diese Ziffern beweisen also ein deutliches Übergewicht von Personen mit einer Herkunft aus kulturellen Minderheiten in Spitzenpositionen des im Prinzip (und nach sprachstatistischen Angaben) fast rein magyarischen nationalen Rumpfstaates. Im Unterschied zu den Bediensteten des Staatsapparats, deren symbolische (durch Sprache, Familienname usw. nachweisbare) Magyarisierung wie von selbst verlief - der Staat wurde ja seit 1844 offiziell auf Unga27

risch verwaltet hätten die in der freien Wirtschaft Beschäftigten im Prinzip eine Magyarisierung vermeiden können. Dies wäre umso mehr

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25 26

27

Vgl. dazu mein mit Istvän KOZMA veröffentlichtes Buch: Nev es nemzet, csaladnev-valtoztatäs, nevpolitika, es nemzetisegi eröviszonyok Magyarorszägon a feudalizmustol a kommunizmusig. Budapest 2004. Andere diesbezügliche Arbeiten: Victor KARADY, Aspects of Unequal Assimilation in Liberal Hungary. Social Geography of the Movement to Magyarise Alien Family Names before 1918, in: History Department Yearbook (1997/98), S. 49-68; DERS., Symbolic Nation Building in a Multi-Ethnic Society. The Case of Surname Nationalization in Hungary, in: Moshe ZUCKERMANN (Hg.), Ethnizität, Moderne und Enttraditionalisierung. Göttingen 2002, S. 81-103. Vgl. Alajos KovAcs, A nevek es newältoztatäsok statisztikäja, in: Magyar statisztikai szemle (1930), Heft 3, S. 228-240, bes. S. 231. Vgl. KARADY/KOZMA, Nev es nemzet, S. 127 sowie KovAcs, A nevek, passim. Nach der Volkszählung von 1920 gab es nur 10,4% nicht ungarisch Sprechende (als Hauptsprache) im Rumpfstaat. Dieser Prozentsatz sank bis 1930 auf lediglich 7,9%. Vgl. Magyar statisztikai evkönyv (1933), S. 8-11. Die offizielle Staatssprache war bis 1843 Lateinisch (zusammen mit Deutsch und Ungarisch, gelegentlich auch anderen örtlich gesprochenen „Hilfssprachen" im Gerichtswesen oder in den praktischen Angelegenheiten der Verwaltung), dann wurde Magyarisch als Staatssprache gesetzlich anerkannt. Nach dem verlorenen Unabhängigkeitskrieg im Sommer 1849 wurde Deutsch als Verwaltungssprache eingeführt - im Prinzip auch in der Elitenausbildung - bis zu den 1860er Jahren und dem Ausgleich von 1867, als Magyarisch wieder Staatssprache wurde.

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möglich gewesen, als Ungarn einen gemeinsamen Markt mit den meistens deutschsprachigen Kronländern der Doppelmonarchie bildete und das reichsdeutsche und das österreichische Kapital sowie die in deutschsprachigen Universitäten und technischen Hochschulen ausgebildeten Fachleute in der Modernisierung der Industrie eine entscheidende Rolle spielten. Dennoch war die Magyarisierung schon um 1900 unter den meisten Unternehmern und Privatbeamten ganz allgemein vollzogen, obwohl Deutschkenntnisse bei den Intellektuellen, Privatbeamten und Fachleuten aller Art allgemein weiterhin verlangt wurden. Das Verhalten der Juden entsprach den Vorgaben des „Assimilationsvertrags" am meisten. Das ursprünglich fast ausschließlich deutsch- oder jiddischsprachige Judentum von Budapest, wo der Schwerpunkt der ungarischen Industrialisierung lag, 28

war 1910 schon fast bis zu 90% magyarisiert, obwohl Mehrsprachigkeit und vor allem Deutschkenntnisse in der Hauptstadt noch immer ein markantes Merkmal jüdischer29Existenz, beruflicher Mobilität und intellektueller Kreativität darstellten. Damit gelangt man zur Frage, wie das Schulwesen an diesem Prozess der kulturellen Assimilation und der Förderung beruflicher Mobilität teilnahm. Die Frage hat zwei Aspekte. Erstens muss man kurz die strukturellen Wesenszüge des Schulwesens beschreiben. Zweitens muss gefragt werden, wie unterschiedlich die vom Schulwesen gebotenen Möglichkeiten gruppenspezifisch genutzt wurden. Diese Unterschiede waren zugleich quantitativer (die Schulfrequenz betreffend) als auch in mehrfacher Hinsicht qualitativer Art (in Bezug auf Schulzeugnisse, Schulwahl, Studienwahl usw.). Im Folgenden werde ich diese Fragen auf die höhere Bildung begrenzt und in enger Verbindung miteinander behandeln. Damit gerät nur die letzte Phase der Elitenbildung in den Blick, die Funktionsweise der Spitze des seit dem Anfang der Doppelmonarchie30 „systematisierten" (aus aufeinander aufbauenden Teilsystemen bestehenden) ungarischen Schulwesens. Errechnet nach Magyar statisztikai közlemenyek 61 (1916), S. 468, 628. Im Jahr 1910 konnten 65% der Budapester Juden Deutsch gegenüber dem städtischen Durchschnitt von 41% (Juden Inbegriffen). Statistisch gesehen beherrschte ein Jude fast zwei Sprachen, während der Durchschnitt der gesamten Bevölkerung (Juden Inbegriffen) bei 1,6 Sprachen pro Person lag. Vgl. Budapest statisztikai evkönyv (1909-1912), S. 44. Es ist durchaus begründbar, die endgültige „Systematisierung" des ungarischen Bildungswesens nach österreichisch-preußischem Muster im November 1849 anzusetzen, im Erscheinungsjahr des berühmten „Entwurfs" (kaiserlichen Organisationsentwurfes des Schulwesens) für das ganze Habsburgerreich. Der strukturelle Rahmen dieses Systems wurde mit manchen Veränderungen bis nach 1945 aufrechterhalten.

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4. Hochschulwesen: Homogenisierung und Spezifizierung Obwohl schon die auf drei verschiedenen Mittelschulen, dem Gymnasium, der Realschule und der höheren kommerziellen Schule, zu erwerbende Matura31 als wesentliches Distinktionsmittel der weitgehend noch immer vom Adel dominierten „herrischen [ιίπ] Mittelklasse" funktionierte, verstärkte ein Universitäts- oder Hochschulstudium die Zugehörigkeit zur Elite selbstverständlich. Weil die staatliche Bildungspolitik darauf ausgerichtet war, eine soweit wie möglich kulturell einheitliche nationale Elite auszubilden, überrascht es nicht, dass das Hochschulwesen (mit wenigen Ausnahmen) seit dem Ausgleich völlig im Dienst des Assimilationsprojekts stand. Was im Elementarschulwesen als unmöglich erschien, da bis 1918 außer in Budapest die überwiegend ethnisch ausgeprägten oder gespaltenen Kirchen in der Schulverwaltung dominierten, und was in den Mittelschulen nur unvollkommen gelang - die Vereinheitlichung der Bildungsverhältnisse unter dem Zeichen der Magyarisierung des Unterrichts und gleicher Zugangsbedingungen fiir alle - konnte im höheren Schulwesen vollständig verwirklicht werden. Dies bedeutete einerseits, dass im Hochschulwesen ausschließlich magyarisch unterrichtet wurde,32 anderer-

In Ungarn wie sonst im Habsburgerreich boten nach preußischem Muster Gymnasien mit Latein, Realschulen ohne Latein und höhere kommerzielle Schulen das Abitur (Matura) an. Obwohl die akademischen Institutionen, zu denen die drei Abiturarten berechtigten, sich unterschieden, waren ihre sozialen Vorteile und Privilegien im Wesentlichen identisch. Die Matura der Gymnasien mit Latein eröffnete den Zugang zu allen Hochschulen. Mit der Matura der Realschulen ohne Latein durfte man sich nur in die Polytechnische Hochschule und in die anderen Berufshochschulen (außer Theologie) immatrikulieren. Mit kommerziellem Abitur konnte man ausschließlich weitere wirtschaftliche Hochschulen besuchen. Aber alle diese Reifezeugnisse eröffneten das Recht auf kürzeren Militärdienst und den Stand des Reserveoffiziers, Satisfaktions- und „Salonfähigkeit", Recht auf die Titulatur eines Mitglieds der „herrischen Mittelklasse". In Ungarn war die Matura wie im Westen ein wichtiges soziales Distinktionsmittel für die Mittelklasse, eine Schranke zum Volk und ein Standesmaßstab, wie der zeitgenössische französische Wissenschaftler Edmond Goblot es definierte. Vgl. Edmond GOBLOT, La barriere et le niveau. Paris 1906. Mit Ausnahme mancher Priesterseminare und Lehrerbildungsanstalten der ethnischen Minderheiten. 1900 gab es zum Beispiel insgesamt nur zehn theologische Anstalten, deren Lehrveranstaltungen ausschließlich auf magyarisch stattfanden, die anderen haben Latein und/oder eine Minderheitssprache mit oder ohne ergänzendes Magyarisch benutzt. Die Katholische Theologische Fakultät der Universität Budapest lehrte noch 1900 auf Latein. Vgl. Magyar statisztikai evkönyv (1901), S. 346.

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seits, dass der Zugang fast ausnahmslos in allen Anstalten für jeden zur Gebührenzahlung fähigen Abiturienten ohne Vorbehalt offen war.33 Folglich gab es keine Segregationstrends im Hochschulwesen bis 1919. Dazu gehört, dass das Hochschulwesen der Doppelmonarchie bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert (und in wesentlicher Hinsicht auch später) zusammen mit den deutschsprachigen Universitäten und Hochschulen außerhalb der Staatsgrenzen (einschließlich Deutschlands und der Schweiz) einen integrierten Bildungsmarkt darstellte - im Sinne der wechselseitigen automatischen institutionellen Anerkennung der Studiensemester in denselben Fächern unterschiedlicher Hochschulen. In diesem Rahmen wurde demnach die Ausbildung von Minderheitseliten durchaus befördert; manche konnten sogar ihr außerhalb von Ungarn erworbenes Diplom (wie zum Beispiel die Sachsen von Transylvanien) innerhalb des Landes beruflich geltend machen. Neben dieser formalen Gleichheit gab es aber auch eine Reihe von ungleichen Bedingungen, die entscheidend durch die Wahl von Studienrichtungen und Hochschultypen wählen zu können, bestimmt waren. Innerhalb von Ungarn bestanden, kurz gesagt, drei Wahlmöglichkeiten: Erstens gab es bis 1912 zwei klassische Universitäten (in Budapest und seit 1872 in Klausenburg [ung. Kolozsvär, rum. Cluj] sowie eine Technische Hochschule (später Budapester Polytechnische Universität). Die 1912 gegründeten zwei zusätzlichen Universitäten in Preßburg [ung. Pozsony, slovak. Bratislava] und in Debrecen blieben bis in die 1920er Jahre unvollständig.34 Zweitens existierten in Budapest und ausnahmsweise in der Provinz eine kleine Zahl von Fachhochschulen für Kunsterziehung, eine Militärschule [Ludovika Akademia] und eine Bergschule (für Wald- und Mineningenieurswesen in Schemnitz35 [ung. Selmecbänya, slov. Banskä Stiavnica]). Drittens gab es ein Netz von regionalen Fachhochschulen für Jura (zwölf Juristische Akademien), Handel (drei Handelsakademien), Agrono-

Die einzige Ausnahme stellte die Theologie dar. Es ist möglich, dass die Ludovika Akademia (Bildungsanstalt für Offiziersanwärterschaft in der Honved-Armee) mit einer selektiven Aufhahmepolitik für die verschiedenen Minderheitsgruppen ebenfalls nicht für alle gleichermaßen offen war. Vgl. Tibor HAJDU, Tisztikar es közeposztäly. Budapest 1999, S. 277-280. Bei anscheinend diskriminierender Selektion konnte aber die Selbstausschließung von Minderheitskandidaten eine noch wichtigere Rolle spielen. Ohne Medizinische Fakultät. Die Universität von Preßburg wurde infolge des Zusammenbruchs der Doppelmonarchie 1919 nach Fünfkirchen [ung. Pees] und die Universität von Klausenburg nach Szeged verlegt. Nach 1918 nach Ödenburg [ung. Sopron] verlegt.

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mie (fünf Agrarhochschulen) und Theologie (eine sehr große Zahl von Priesterseminaren36). Zuerst komme ich zu den quantitativen Unterschieden: Die sprachlichen Minderheiten hatten die Tendenz - bei all den technischen Problemen der Deutung, die hier nicht ausgeführt werden können - aus der Elitenbildung zu verschwinden oder sich zu magyarisieren. 1910 findet man nicht mehr als 11,7% sich als Nichtungarn Bezeichnende in den Hochschulen gegenüber 20,4% in den Gymnasien und Realschulen, aber 44,2% in den Elementarschulen, also da auch etwas weniger als in der Gesamtbe37

völkerung (45,5%). Diese Unterschiede drücken natürlich sowohl den tatsächlichen Erfolg der Assimilation als auch die ungleichen Bildungsaussichten unterschiedlicher Minderheitsgruppen aus. Es ist zum Beispiel nicht unwesentlich zu bemerken - auch wenn eine nähere Deutung dieser Ziffern den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde - , dass 1910 an den Hochschulen unter den Nichtungarn 37% Deutsche zu finden waren, obwohl ihre Anzahl nur 27% unter den Elementarschülern und 23% in der ganzen Bevölkerung betrug.38 Was die konfessionellen Gruppen in den Hochschulen betrifft, kann man zuerst festhalten, dass nach 1867 die Studentenzahl der Universitäten lange stagnierte, nicht zuletzt, da auch die Zahl der Mittelschulabsolventen kaum anstieg. Von den 1870er Jahren bis zur ersten Hälfte der 1890er Jahre stieg die Zahl der Hörerschaft von ca. 4.700 auf nur 5.600 (um 19%),39 d.h. diese Zunahme erwies sich nur wenig höher als das Bevölkerungswachstum (11%).40 Aber die relative Frequenz nach Glaubensgemeinschaften zeigt eine sehr ungleiche Entwicklung mit weitgehender Stagnation der Zahlen von christlicher und einem dynamischen Anstieg der jüdischen Studentenschaft. 1910 findet man pro 100.000 Einwohner der

37

38 39

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Nicht weniger als 27 für römisch-katholische Christen, fünf für griechisch-katholische Christen, drei für griechisch-Orthodoxe, fünf für Calvinisten, vier für Lutheraner, je eine für Juden und Uni tarier. Außerdem hatte das orthodoxe Judentum die Jeshiva von Preßburg, die ein staatlich anerkanntes, aber - ungleich dem Budapester staatlichen Rabbinerinstitut - nicht gefördertes oder überwachtes Rabbinerseminar war. Vgl. die Angaben für 1910 in: Magyar statisztikai evkönyv (1911), S. 401 f. Vgl. die detaillierten Angaben über die nationale Zusammensetzung der unterschiedlichen Studiengänge/Hochschulen in: Victor K a r a d y , Mennyire volt 'magyar' a honi ertelmiseg a szazadfordulon? in: Miklös L a c k ö (Hg.), Filozöfia es kultüra. Budapest 2001, S. 267-299, bes. S. 270. Ebd. Zusammengestellt aus den Statistischen Jahrbüchern Ungarns [Magyar statisztikai evkönyv], Errechnet nach Angaben in Magyar statisztikai közlemenyek 27 (1900), S. 7 u. ebd. 76 (1935), S. 6.

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jeweiligen Religionsgemeinschaft 54 Studenten unter den römischen Katholiken, 62 unter den Calvinisten, 75 unter den Lutheranern, aber 381 unter den Juden,41 andere Religionsgruppen waren in der Hörerschaft noch weniger präsent. Diese Unterschiede waren noch 40 Jahre früher wesentlich geringer: Während unter den Christen 1870 zwischen 20 (Calvinisten) und 25 (Katholiken) Studenten auf 100.000 Einwohner dieses Bekenntnisses fielen, waren zum selben Zeitpunkt von 100.000 jüdischen Einwohnern 71 Studenten.42 Dies bedeutet aber, dass sich die relative Frequenz bei christlichen Studenten in der untersuchten Periode nur verdoppelte bis verdreifachte (etwas mehr bei Lutheranern), während sie sich bei den Juden mehr als verfünffachte.

5. Studienwahl und ungleiche Modernität In Ergänzung dieser Unterschiede kann man möglicherweise eine weitere Beobachtung machen, indem man versucht, die nationale Herkunft oder den kulturellen „Hintergrund" der Studenten durch eine methodisch nicht unproblematische Analyse der Familiennamen zu erfassen. Die Probleme der Namensforschung können hier nicht erörtert werden 43 Aber es lohnt sich, einige vorläufige Resultate in diesem Zusammenhang mitzuteilen, denn es zeichnet sich ein empirischer Nachweis ab fur eine bedeutende Überrepräsentation von Studenten nichtmagyarischer Herkunft (Juden, Deutsche und Andere) an den zwei größeren Universitäten des Landes (Budapester Universität und Polytechnikum). Der Prozentsatz von Studenten, die aufgrund der Namensanalyse zu denen gezählt werden können, die aus Minoritäten stammten, lag um 1900 bei 65%. Dazu muss man einen unbekannten, aber doch nicht ganz unbedeutenden Prozentsatz von christlichen Studenten hinzurechnen, die ihre Familiennamen magyarisiert hatten (was in der nationalistischen Stimmung der Millenniumsjahre auch bei zukünftigen deutschen oder slovakischen Intellektuellen nicht selten war). Wenn man auch Juden einbezieht, dürfte der Anteil der Studenten nichtmagyarischer Herkunft um die Jahrhundertwende also auf 70% oder noch mehr geschätzt werden, entsprechend der Anteil von ethnischen Ungarn

42 43

Vgl. Viktor KARADY, Iskolarendszer es felekezeti egyenlötlensegek Magyarorszägon (1867-1945). Budapest 1997, S. 79. Ebd., S. 81. Viktor KARADY, Assimilation and Schooling. National and Denominational Minorities in the Universities of Budapest around 1900, in: György RANKI (Hg.), Hungary and European Civilisation. Bloomington 1 9 8 9 , S. 2 8 5 - 3 1 9 . Auf ung. vgl. KARADY, Iskolarendszer, S. 1 9 5 - 2 1 5 .

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auf 30% oder weniger.44 Diese Zahl ist im Vergleich zu den ungefähr 42% Magyaren vor dem Assimilationsprozess deutlich niedriger.45 Dieses Ergebnis, das durch eine Ausweitung der Forschung auf die anderen Hochschulen bestätigt oder modifiziert werden sollte, unterstützt unsere schon angedeutete und für die unteren Bildungseinrichtungen empirisch belegbare Arbeitshypothese, dass manche Minderheiten (vor allem Juden und Deutsche) im Modernisierungsprozess der Doppelmonarchie auch gegenüber Mitgliedern der ethnisch dominierenden „Titularnation" besonders erfolgreich waren. Die auf Basis der allgemeinen Hörerfrequenz postulierte günstige Positionierung der Deutschen und Juden im Prozess der Elitenformierung kann durch ihre empirisch leicht erfassbare Aufteilung innerhalb der unterschiedlichen Bereiche des Hochschulwesens noch eindeutiger belegt werden. Die Fachwahl im Hochschulwesen erweist sich nämlich als konfessionell oder ethnisch-kulturell am strengsten gebunden. Wenn man Magyaren mit christlichen Deutschen, anderen Christen (nach ihren Familiennamen) und Juden in dieser Hinsicht vergleicht, wie ich es aufgrund von empirisch belegten, aber nicht völlig überprüfbaren Hinweisen versucht habe,46 lassen sich diese vier, soziologisch allerdings überkomplexe Gruppen sehr unterschiedlich platzieren, was ihre Wahl aus dem Fächerangebot betrifft. Die Magyaren waren vor allem überrepräsentiert in der Ludovika Akadimia, in den juristischen und den philosophischen Fakultäten (Ausbildung zu Mittelschullehrern) und - eher unerwartet - in der Bergschule. Das ist also eine ziemlich klassische Wahl, die auf den Zugang zu den alten Berufszweigen des öffentlichen Dienstes zielte. Aus der Bergschule gingen auch Kandidaten für die höhere Verwaltung der staatlichen Wälder und Minen hervor. Die Deutschen wiesen hingegen eine auffallend hohe Quote in den Agrarakademien, in der Pharmazie, in der Polytechnischen Universität, in den Handelsakademien und den Akademien für Mineningenieure (ein Spezialfach der Bergschule) auf, womit ihre Fächerwahl viel stärker auf die privaten Wirtschaftsmärkte ausgerichtet war. Bei den anderen christlichen Gruppen - eine soziologisch leider viel zu heterogene Kategorie - findet man die theologischen Anstalten besonders stark frequentiert, aber auch die Agrarakademien und die Pharmazie. Mit 44 45

46

KARADY, Iskolarendszer, S. 201. Für 1842 wurde der Prozentsatz der Magyaren auf 37% der ganzen Bevölkerung gesetzt, aber andere Schätzungen geben höhere Ziffern an, bis zu 42%. Für 1850 war der Prozentsatz - wie schon oben zitiert - genauer auf 41,5% geschätzt. Vgl. Magyarorszäg törtenete 1848-1890, S. 1149. KARADY, Mennyire, S. 289.

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der Priesterausbildung an der Spitze ist dies im Großen und Ganzen die traditionellste Wahl. Bei den Juden kann, wie nicht anders erwartet, mit einer außerordentlichen Überrepräsentation der Medizin (Tiermedizin Inbegriffen) und der Polytechnischen Universität, aber auch der Kunsthochschulen und einer etwas niedrigeren Quote in den juristischen Fakultäten die in unterschiedlichem Sinne „modernste" Studienwahl nachgewiesen werden.47 Jura ist überall eines der wichtigsten Fächer, auch für Juden (wenn man sich auf die absolute Zahl der Studenten bezieht), aber es ist bekannt, dass die Berufsmöglichkeiten für Christen (vor allem im öffentlichen Dienst) und für Juden (Rechtsanwalt) bis zum Ende des Alten Regimes (1867-1948) grundsätzlich unterschiedlich blieben. Untersucht man allein die Religionszugehörigkeit, so hat man genaue Angaben über die Studienwahl zur Verfügung (und nicht nur empirische Schätzungen wie für ethnisch-kulturelle Großkategorien). Auf diese Weise lassen sich auf der Grundlage der drei oder vier, für die betreffenden Gruppen wichtigsten Studienzweige drei größere - zum Teil (für Juden) schon identifizierte - Muster der Studienfachwahl voneinander unterscheiden. Wir nehmen hier als Beispiel das akademische Jahr 1910/11.48 Die „westlichen Christen" (römische Katholiken, Calvinisten, Lutheraner und Unitarier) bilden das erste Muster: Fast die Hälfte ihrer Studenten (44-46%) studierten Jura - ausgenommen die Lutheraner (nur 37%). Darüber hinaus schrieben sie sich überproportional, aber nicht extrem in die Philosophischen Fakultäten ein (bis zu 23% bei den Unitariem und 19,4% bei den Calvinisten gegenüber einer durchschnittlichen Wahl dieser Fakultät durch 9,3% aller Studenten. Der vergleichbare Prozentsatz war 20,3% bei den Lutheranern. Bei den „westlichen Christen" ist eine durchschnittliche oder etwas unterdurchschnittliche Repräsentation in all den anderen Fächern nachweisbar. In weiteren Analysen könnte dieses Muster nach ethnisch-kulturellen und regionalen Kategorien differenziert werden, womit wir die unterschiedlichen Mobilitätsstrategien im Hochschulwesen verfolgen könnten, wobei die am wenigsten moderne Studienwahl (starke Unterrepräsentation am Polytechnikum und in der Medizin) der („rein ungarischen") Calvinisten und Unitarier sich als ziemlich auffallend erweist. Das zweite Muster bilden die zwei griechischen Religionsgruppen, deren erste Wahl Theologie war (44% bei Unierten, 29% bei Orthodoxen), die nicht nur Jura (34—35%), sondern auch alle anderen Studienzweige in

48

Zu den Details dieser Hinweise auf die unterschiedlichen Repräsentationsgrade der angeführten Gruppen in den wichtigsten Studienzweigen vgl. ebd. Quellenmaterial der Rechnungen in: Magyar statisztikai evkönyv (1911), S. 4 0 3 406.

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den Hintergrund drängte. Bei den Orthodoxen kann man aber auch einen unerwartet starken Anteil von Medizinern beobachten: 22% ihrer Studenten gegenüber einem Durchschnitt von 16,8% aller Studenten, dagegen nur einen ganz schwachen Anteil an den Polytechnischen Hochschulen: 2% bei den Unierten gegenüber einem Durchschnitt von 11,5%. Das dritte Muster wird, wie erwartet, von Juden geprägt, deren Verhalten schon oben mit anderen Kategorien als das „modernste" vorgestellt wurde. Das jüdische Muster besteht in einer unterdurchschnittlichen (aber doch starken) Repräsentation der Juristen (37%) sowie einer starken Überrepräsentation von Medizinern (31% gegenüber einem Durchschnitt von 16,8%) und Ingenieursstudenten (15% gegenüber einem Durchschnitt von 11,5%). Die Juden waren auch fast doppelt so oft wie die Anderen (7,4% gegenüber einem Durchschnitt von 4,7%) an Kunststudien interessiert.

6. Zusammenfassung Die hier vorgestellten Beobachtungen zum ungarischen Assimilationsprojekt als ein Beispiel für die unterschiedlichen Wege neuer Elitenanwärter sind Teilergebnisse eines langfristigen, umfassenden historisch-soziologischen Forschungsprojektes, das die genaue prosopographische Erfassung biographischer Daten aller Akademiker der Universitäten und Hochschulen ungarländischen Ursprungs49 in der langen Ausgangsphase des Alten Regimes zum Ziel hat und das weitere wichtige Faktoren im Hinblick auf die oben herausgestellten Unterschiede in der Ausnutzung des Hochschulangebots darbieten wird. Unter diesen werden beispielsweise Beobachtungen bezüglich der sehr gruppenspezifischen Aufnahme eines Auslandsstudiums sein (typisch für Juden und Deutsche, vor allem für Deutsch-Lutheraner, durchschnittlich häufig bei römisch-katholischen Christen, unwahrscheinlich für andere),50 bezüglich der Studienlaufbah-

Bis 1919 die im Ausland Studierenden eingeschlossen. Der empirische Teil des Projektes ist 2007 zum Abschluss gekommen. Vgl. die beispielhaften prosopographischen Veröffentlichungen von SzöGl und seinen Mitarbeitern, z.B. Läszlo SzöGl, Magyarorszägi diakok sväjci es hollandiai egyetemeken 1789-1919. Budapest 2000; DERS., Ungarländische Studenten an den deutschen Universitäten und Hochschulen, 1789-1919. Budapest 2001; Andor MßszÄROS, Magyarorszägi diäkok a prägai egyetemeken 1850-1918. Budapest 2001; Läszlo SzöGi/Jözsef Mihäly Kiss, Magyarorszägi diäkok becsi egyetemeken es föiskoläkon 1849-1867. Budapest 2003; Gäbor PATYI, Magyarorszägi diäkok becsi egyetemeken es föiskoläkon 1890-1918. Budapest 2004.

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nen (z.B. frühzeitiger Abbruch,51 Alter beim Abitur, beim Studienanfang oder bei Erhalt des Diploms - wobei sich bisher die jüdischen Studenten 52

als die weitaus jüngsten erwiesen haben), Anteil der Frauen und ihr Verhalten in der Studentenschaft,53 Modernisierung der Studienwahl in der Zwischenkriegszeit usw. Dieses Projekt führt eine multivariable Analyse der Studentenschaft nach sozialer Herkunft, ethnisch-religiöser Zusammensetzung, Bildungsverhältnissen, schulischer Leistung usw. durch und wird die statistischen Beziehungen zwischen all diesen Faktoren ermitteln, um die Entwicklung des Schulwesens und die aus diesem hervorgehenden Elitengruppen in einen Zusammenhang mit den historischen Etappen der Modernisierung des Landes zu stellen.54 Entscheidend ist dabei die Zäsur des Zusammenbruchs der Doppelmonarchie und des polyethnischen Nationalstaates („in seinen tausendjährigen Grenzen"), nicht nur deshalb, weil der Trianoner Rumpfstaat eine plötzliche, aber dauerhafte „Überfüllungskrise" von Intellektuellen erlebte, sondern auch weil der im Herbst 1920 zum ersten Mal in Europa im Hochschulwesen eingeführte antijüdische Numerus Clausus aufgrund des geschilderten außerordentlichen Gewichts jüdischer Bildungstrends die ganze ungarische Elitenbildung umgestaltet hat. Diese Analyse des Assimilationsprozesses in Bezug auf unterschiedliche wirtschaftlich-gesellschaftliche Mobilitätschancen und -Strategien (namentlich im Schulwesen) der betreffenden Gruppen sollte durch die Erforschung von interethnischen Beziehungen und vor allem Machtverhältnissen ergänzt werden. Das Aufkommen von statutengemäß oft als „Fremde" oder mindestens „gesellschaftliche Außenseiter" bezeichneten ethnischen Eliten in zahlenmäßig dominierender Stellung hat allerlei Konfliktsituationen hervorgerufen, die am einfachsten unter dem Zeichen von Antisemitismus und Xenophobie thematisiert werden können. Sie haben, wie bekannt, letzten Endes auch zum Holocaust - dieser unverarbeitete und unverarbeitbare Skandal der ungarischen Nationalgeschichte - , aber auch (1946/47) zur unterschiedlosen polizeilichen Vertreibung der meisten überlebenden Deutschen geführt.

Vgl. KARADY, Iskolarendszer, S. 23. Vgl. dazu das Beispiel der Universität Klausenburg in Viktor KARADY/Lucian NASTASA, The University of Kolozsvär/Cluj and the Students of the Medical Faculty (1872-1918). Cluj/Budapest/New York 2004, S. 140f. Vgl. dazu KARADY, Iskolarendszer, S. 57-92. Die erste Reihe der empirischen Resultate dieser Erhebung sind schon online zugänglich: Vgl. http://www.wesley.extra.hu [letzter Zugriff am 27.3.2008].

STEFANO PETRUNGARO

Die Verteidiger der Eliten. Das Gericht als Arena der Elitenvergesellschaftung in Kroatien-Slavonien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

In der Regel steht die Aufgabe zu richten und zu strafen in einer Gemeinschaft einem sehr begrenzten Personenkreis zu. Im Europa des Ancien Regime war dies meist der Adel. Aufgrund der feudalen Strukturen der Gesellschaft hatte er die Macht, sowohl über die eigenen Angelegenheiten als auch über die der Anderen zu entscheiden. Die formale Abschaffung des Feudalismus in der Habsburgermonarchie veränderte diese Bedingungen zunächst einmal nur auf dem Papier. Das Gesetz von 1848 musste erst noch in die Praxis umgesetzt werden und dies geschah in den Gerichtssälen. Dementsprechend gewann die Organisation der Justiz bzw. der sie tragenden Strukturen eine große Bedeutung bei der Ausbildung eines modernen, postfeudalen Staates. Es erscheint daher sinnvoll, die institutionellen und sozialen Konstellationen innerhalb der Justiz und ihre konkrete Ausprägung in den Blick zu nehmen. Anders gesagt, bietet es sich an, den Gerichtssaal als Bühne zu betrachten, auf der verschiedene Eliten in Konkurrenz zueinander agierten. Der Anspruch einiger Akteure, eine neue Führungselite an der Spitze einer reformierten Gesellschaft darzustellen, kam hier explizit zum Ausdruck. Versuchen wir also am Beispiel Kroatien-Slavoniens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kontinuitäten und Brüche zu betrachten, die den hier skizzierten juristischen, institutionellen, sozialen und kulturellen Übergang charakterisieren.

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1. „Als erstes lasst uns alle Anwälte töten!"1 Die Gesellschaft, in die Shakespeare seine Figur - Dick, den Fleischer und seine oben zitierten Worte - stellte, war die englische des 15. Jahrhunderts. Genauer gesagt handelte es sich um Blackheath, damals eine Kleinstadt im Südosten von London, in der sich Aufständische versammelt hatten, um ihrem Protest gegen soziale Ungleichheit Ausdruck zu geben. Sie träumten von einer gerechteren Gesellschaft und der erste Schritt zur Verwirklichung dieses Traumes sollte die Abrechnung mit den Vertretern einer Justiz sein, die ganz im Interesse des Adels handelte. Es war diese Justiz, die Shakespeare zu seinem Vers inspiriert hatte, der wiederum eine lang währende Geschichte und eine ganze Reihe durchaus widersprüchlicher Interpretationen erzeugen sollte. Trotz des Aufwandes, den Mitglieder der Anwaltszunft seit dem betrieben haben, um sich gegen die „Verleumdung" ihres Berufsstandes in Shakespeares Stück zu verteidigen, und trotz des unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontextes hätte die Übereinstimmung einiger genereller Umstände mit denen in der Habsburgermonarchie unmittelbar nach 1848 einen kroatischen Fleischer in den 1850er Jahren leicht dazu bringen können, Shakespeares Worte zu benutzen.2 Und wirklich, auch die Bauern in Kroatien-Slavonien gingen oft vom Wort zur Tat über und erhoben sich in ausgedehnten Revolten gegen die administrativ-juristische Praxis im Übergang zur postfeudalen Gesellschaft. Es muss hier daran erinnert werden, dass die erste, partielle Aufhebung der feudalen Beziehungen in Kroatien-Slavonien, wie im Habsburgerreich überhaupt, um das bewegte Jahr 1848 herum erfolgte. Doch ließen die ersten Patente wie auch die nachfolgenden von 1853 und 1857 viele Probleme weitestgehend ungelöst, und zwar die Auseinandersetzungen um die Servitute und dass nicht alle Grundstücke ins Kataster eingetragen worden

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„The first thing we do, let's kill all the lawyers!", in: William SHAKESPEARE, Heinrich VI., 2. Teil, 4. Akt, 2. Szene. Das gleiche könnte man von Ungarn in dieser Zeit sagen: „In vielen Dörfern wurden die ernannten Richter und Notare vom Volke weggejagt oder abgelöst: Die Volksbewegung richtete sich mit besonderer Wucht gegen die verhaßten Bezirksnotare." George BARANY, Ungarns Verwaltung: 1848-1918, in: Adam WANDRUSZKA/ Peter URBANITSCH (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 2: Verwaltung und Rechtswesen. Wien 1975, S. 306-468, hier S. 377; Bela SARLÖS, Das Rechtswesen in Ungarn, in: Ebd., S. 499-537. Obwohl sie im Grundsatz eine ähnliche Geschichte hatten, verzichtet der Autor in diesem Beitrag darauf, die Entwicklung in Ungarn und Kroatien vergleichend zu beschreiben. Die offensichtlichen Sonderentwicklungen in Ungarn und die teilweise unterschiedliche Periodisierung der Ereignisse lassen es nicht sinnvoll erscheinen, den Fall Ungarn mehr als gelegentlich heranzuziehen.

Die Verteidiger der Eliten

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waren (darunter auch Weinberge, Weiden, Quellen und Wälder). Weder für den Adel, noch für die Bauern stellten diese Fragen ein nebensächliches Thema dar. Sie waren auch der Grund für massive Proteste der früheren Leibeigenen, die zwar den Namen, nicht aber die Sache selbst verändert sahen: Der Großteil der ehemals feudalen Ländereien war nun zu privaten geworden und im Besitz derselben Akteure geblieben. Die Punkte, an denen man juristisch ansetzen konnte, waren eben jene Arten von Grundbesitz und jene Gewohnheitsrechte, die der Gesetzgeber nicht genau definiert hatte und zu denen demzufolge ein Gerichtsurteil erwirkt werden konnte. Und in der Tat handelt es sich bei fast allen Zivilprozessen der 1850er und 60er Jahre in Kroatien-Slavonien um solche zwischen ehemaligen Feudalherren und in Gruppen zusammengeschlossenen ehemaligen Leibeigenen. Es versteht sich von selbst, dass die Bauern recht wenig Vertrauen in den Rechtsweg hatten, der angesichts der damit verbundenen Kosten und der geringen Vertrautheit des Volkes mit dem neuen Justizapparat nur unter großen Schwierigkeiten zu begehen war. Die Konsequenz waren die zahlreichen, oben erwähnten Volkserhebungen, von denen einige so heftig waren, dass das Heer eingesetzt wurde. 4 Solche Revolten wurden nicht nur blutig niedergeschlagen, sondern endeten auch mit Verurteilungen durch die Gerichte. Das fuhrt uns zu unserem Untersuchungsgegenstand zurück, der sich als ein guter Seismograph für bestimmte soziale Dynamiken der Epoche erweist. Es scheint, als ob die Revolution von 1848 und die liberalen Beschlüsse des kroatischen Parlamentes [Sabor] nur geringen Wert hatten. Zumal, wenn man berücksichtigt, welche Schwierigkeiten das Parlament bereits bei der Planung einer Justizreform hatte. Wie bekannt endete die Revolution mit der oktroyierten Verfassung (März 1849) und vor allem mit dem Sylvester-Patent (1851), die dem Justizsystem einige Schritte rückwärts

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Eine gute Zusammenfassung bei: Dragutin PAVLICEVIC, SeljaCke bune i nemiri u sredisnjoj Hrvatskoji sezdesetih godina 19. stoljeca, in: Historijski Zbornik XXXIII-XXXIV (1980/81), Nr. 1, S. 13-50, bes. S. 15. Zur Abschaffimg der Leibeigenschaft und zur Neuordnung des Grundbesitzes vgl. aus der sehr großen Zahl der Veröffentlichungen von Bogdan STOJSAVLJEVIC die Zusammenfassung der Ergebnisse zweier vorausgegangener Monografien (Suma i paäa, 1951; Gomjaci, 1959): Povijest sela. Hrvatska - Slavonija - Dalmacija 1848-1918. Zagreb 1973. Aus den zahlreichen Arbeiten von Igor KARAMAN, Privreda i druätvo Hrvatske u 19. stoljecu. Zagreb 1972. Im Allgemeinen: Miijana GROSS (Hg.), Druätveni razvoj u Hrvatskoj (od poöetka 16. stoljeca do pocetka 20. stoljeca). Zagreb 1981. Für die 50er Jahre vgl. Miijana GROSS, Poöeci moderne Hrvatske. Neoapsolutizam u civilnoj Hrvatskoj i Slavoniji 1850-1860. Zagreb 1985, S. 196-204; für die 60er Jahre: PAVUCEVIC, Seijacke bune; Vasilije RRESTIC, Seljacki nemiri u Hrvastkoj i Slavoniji sezdesetih godina XIX vijeka. Zagreb 1964, S. 387—438.

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aufzwang. Das Strafverfahren wurde erneut inquisitorisch, das Untersuchungsverfahren war wieder geheim, und nur die letzte Gerichtsverhandlung erfolgte mündlich und öffentlich, hatte aber keine wesentliche Bedeutung für den Prozessverlauf. Von den modernen Institutionen, die 1850 eingeführt worden waren, behielt man nur die Staatsanwaltschaft bei. Die Justiz blieb an die Verwaltung gebunden, das Geschworenengericht schaffte man 1852 ab, und die Richter fanden sich als „reine Staatsbeamte" 5 wieder. Trotzdem handelte es sich für Kroatien-Slavonien im Vergleich zur feudalen Rechtsprechung um einen außergewöhnlichen Fortschritt. Man denke nur an die Einführung des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (1853), das den alten ungarischen Kodex abschaffte, der auf Feudalrecht basierte.6 Hier interessiert jedoch vor allem die praktische Anwendung dieser juristischen und institutionellen Neuerungen. Gross behauptet, dass „in der Praxis Verwaltung und Justiz in den gleichen Händen wie zuvor blieben" und trotz allem „die alte Unordnung herrschte".7 Eine erste große Schwierigkeit praktischer Art bestand in der Tat in der Ausbildung neuer „Kader", die in der Lage waren, die neuen Gesetze anzuwenden. Wer vor 1848 studiert hatte, musste sich die neuen, vollkommen anderen Gesetzesinhalte aneignen. Die Einarbeitung der Amtsinhaber aus feudaler Zeit in das moderne Justizsystem war dabei wesentlich schwieriger als die in die neuen Verwaltungsstrukturen. Auch wenn Ivan Mazuranic (1814-1890), der entschiedenste Vertreter der konkreten Umsetzung der Justizreformen nach 1848, sich bemühte, die alten Funktionäre auszuschließen, so war doch ein radikaler Austausch des Personals, der „Konο

servativen alter Manier", wie er sie nannte, unmöglich. „Dramatische Berichte" aus einigen Unter-Gespanschaften (d.h. Verwaltungsbezirken) stellten, mehr noch als die Tageszeitungen der Opposition, die neue Situation in den schwärzesten Farben dar. Sie berichteten von illegalen Maßnahmen der Richter und von „der Beschlagnahme bäuerlichen Besitzes im Interesse der alten Herren".9 Man kann also unterstellen, dass die alte Elite über „Verteidiger" im weiteren Sinne verfügte: 5 6

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„Puki drzavni cinovnici", in: GROSS, Poöeci moderne Hrvatske, S. 101. „Das Land [Ungarn; St. P.] hatte weder bürgerliche noch Strafgesetzbücher. Das Zivil- und das Strafrecht sowie die Verfahren wurden teilweise auf Grund von jahrhundertealten, überholten Gesetzen, größtenteils aber durch das Gewohnheitsrecht geregelt", in: SARLÖS, Das Rechtwesen in Ungarn, S. 501. „U praksi su uprava i sudstvo i dalje u istim rukama. [...] Prevladavao je stari nered", in: GROSS, Poceci moderne Hrvatske, S. 103f. „Starokonzervativne Hrvate", in: Ebd., S. 104. „Neki su suci nezakonito odredivali ovrhe seljaökog imetka u interesu bivsih gospostija", in: Ebd.

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die Richter und, wo es sie gab, die Staatsanwälte. Innerhalb eines in Bewegung geratenen Umfeldes wies die richterliche Praxis starke Elemente der Kontinuität in Personen und Urteilen auf. Die alten Richter waren auf ihrem Posten verblieben. Der größere Teil von ihnen, besonders in den Distriktgerichten, hatte nicht einmal studiert. Vielmehr handelte es sich um Verwaltungsangestellte, die sich in ihre Tätigkeit eingearbeitet hatten. Auf das teilweise innovative Gesetz waren sie nicht eingestellt und die Bauern, die eine Unmenge an Klagen anstrengten, verloren regelmäßig ihre Fälle. Wenn sie dann, wie von alters her gewohnt, rebellierten, wurden sie zu Körperstrafen verurteilt. Angesichts einer fortdauernden Mentalität und des chronischen Mangels an Gefängnisplätzen, bedeutete es wenig, dass die Folter abgeschafft worden war. Denn man griff nicht nur in der Untersuchungsphase - legal - auf das Mittel der Folter zurück, sondern sprach auch in großem Ausmaß Körperstrafen aus. Diese waren 1848 zwar abgeschafft, 1852 jedoch wieder eingeführt worden. Im Vergleich zu allen anderen Ländern der Monarchie hielt Zivil-Kroatien-Slavonien 10 zwischen 1856 und 1858 den Rekord in Bezug auf solche Strafen. 11

2. Vom „Betrüger" zum Anwalt Auch wenn die prozessuale Vorgehensweise sie kaum berücksichtigte, erschienen auf der Bühne nun die modernen Anwälte. Das österreichische Gesetz zur Ermittlung im Strafprozess sah die Anwesenheit von Angeklagtem und Anwalt nur in der Schlussdiskussion vor, in erster und zweiter Instanz stand ihnen das Berufungsrecht zu. Dies bedeutete immerhin eine Verbesserung gegenüber der Praxis vor den Reformen, in der die Anwälte am Prozess keinerlei Anteil hatten und lediglich Rechtsberater der Parteien waren. Der neue Berufsstand der Anwälte musste jedoch erst noch abgesichert werden, um sie von der großen Anzahl der ,ßskali" (Synonym für „Betrüger") unterscheiden zu können. Bei diesen handelte es sich um „so genannte Gebildete, die sich als Anwälte ausgaben", de facto das ungarische Gesetzbuch aber nur oberflächlich kannten und ihre Klienten mit exorbitanten Honoraren in die Armut trieben.12 Die Anwaltskam-

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So bezeichnete man das unter ziviler Verwaltung befindliche Gebiet im Gegensatz zu dem unter Militärverwaltung, das Teil der habsburgischen Militärgrenze war. Hier wurden Körperstrafen in Übereinstimmung mit dem Militärrecht wesentlich häufiger verhängt. GROSS, Poceci moderne Hrvatske, S. 115. So das durchaus glaubwürdige Urteil des Polizeichefs Eduard Sadek, zit. in: Ebd., S. 107.

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mer wurde in Kroatien-Slavonien am 24. Juli 1852 gegründet13 und schrieb vor, dass ihre Mitglieder die neuen Gesetze und Bestimmungen kennen mussten. Wer die Zulassung vor 1847 erhalten hatte, war gehalten, eine Prüfung abzulegen, um diese zu erneuern. Dies führte zu einem ungeheuer starken Rückgang der Zahl von Anwälten. Nur 49 erhielten die Erlaubnis, auch ohne Zusatzprüfung weiter zu praktizieren, weil sie ihre Kenntnis des neuen Systems in der Praxis bewiesen hatten. Von 176 Kandidaten für die Zusatzprüfung erschien die Mehrheit nicht einmal zur Prüfung und nur elf Anwälte bestanden sie. Hier spielten offensichtlich auch politische Rücksichten eine Rolle, denn bekanntermaßen liberale Kandidaten hatten es deutlich schwerer. Mangelnde Vorbereitung und politische Einflussnahme führten so dazu, dass noch am Ende der neoabsolutistischen Periode in ganz Kroatien-Slavonien nur 125 Anwälte zugelassen 14

waren. Der Prozess, der nun eingeleitet wurde, war von nicht geringer Bedeutung. Es bildete sich eine neue soziale Klasse, die in ihre Reihen Mitglieder des kleinen und mittleren Adels ebenso aufnahm wie Angehörige des städtischen Bürgertums, eine Mittelschicht, auf die die klassische Dichotomie von Adel und Bürgertum sowohl in Hinsicht auf die soziale Herkunft als auch in Bezug auf die Funktion innerhalb der kroatischen Gesellschaft der Zeit nicht passte.15 Generell erscheint es daher für die in Frage stehende Zeit besser, nicht die Zugehörigkeit zum Adel zum entscheidenden Kriterium zu machen, sondern die politische und soziale Position, die quer zu familiärer Herkunft und ethnisch-konfessioneller Zugehörigkeit stehen konnte. Wenn der eine gesellschaftliche Pol von der grundbesitzenden, stark konservativen Aristokratie gebildet wurde, stand auf der anderen Seite die radikale liberale Strömung. Zwischen diesen Polen gab es weniger markante, vermittelnde Positionen. Diese umfassten das ebenfalls konservative städtische Bürgertum, den liberalen Adel, eine aufgeklärte Funktionärsschicht, eine Mittelschicht, die in der staatlichen Verwaltung tätig war, und schließlich die gemäßigten Liberalen.16 Ähnlich in Ungarn: Die vorläufige Anwaltsordnung stammt von 1849, die definitive von 1868. SARL0S, Das Rechtswesen in Ungarn, S. 657. GROSS, Poieci moderne Hrvatske, S. 107f. Interessant hier der analoge Fall der so genannten gentry, des kleinen und mittleren Adels in Ungarn: „Die Gentry bildete wegen des Fehlens einer breiten, unabhängigen und selbstbewussten bürgerlichen Mittelschicht das Rückgrat des sich entwickelnden Stadtbürgertums, um das sich die assimilierten Kreise und die magyarischen Aufsteiger kleinbürgerlich-bäuerlicher Herkunft scharten.", in: Jörg K. HOENSCH, Geschichte Ungarns 1867-1983. Stuttgart u.a. 1984, S. 44. Maijana GROSS, Entstehung und Struktur des Bürgertums in Kroatien in den ersten drei Jahrzehnten nach 1848 in: Ernst BRUCKMÜLLER u.a. (Hg.), Bürgertum in der Habsburgermonarchie. Wien/Köln 1990, S. 31-42.

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In diesem Zwischenbereich bewegten sich z.B. Politiker wie Josip Jelacic (1801-1859), „Yo\ks-banus" (Banus steht für Gouverneur) und Vertreter politisch-sozialer Reformen, der jedoch gleichzeitig Grundbesitzer und als solcher den Interessen der ehemaligen Feudalherren gegenüber 17

aufgeschlossen war. Innerhalb des neoabsolutistischen Rahmens, der nicht gleichbedeutend mit „Reaktion" war, spielte sich ab, was in Bezug auf Kroatien-Slavonien als „Modernisierung von außen" bezeichnet worden ist. Zu Beginn, in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1848, war es eine österreichische Elite, die ein modernes Rechts- und Verwaltungssystem vorantrieb. Sie versicherte sich der Zusammenarbeit mit lokalen Politikern und einer sich erst herausbildenden Mittelschicht in den Verwaltungsfunktionen. Diese informelle Koalition blieb, obwohl vom mächtigen Grundadel heftig angefeindet, die hegemoniale soziale Gruppe zwischen Konservativen und Liberalen. Seit den 1860er Jahren gewannen dann jedoch die Liberalen an Macht und übernahmen die Position der eben beschriebenen Gruppe. Die Liberalen bildeten nach und nach jene neue Elite, die einige Bürgerliche „adelte", indem sie sie in höchste Staatspositionen erhob, einige Adlige hingegen in Vertreter „postfeudaler" Positionen verwandelte. Diese komplexe sozialpolitische Entwicklung, die hier summarisch angedeutet wurde und erklärtermaßen die gesamten österreichisch-ungarischen sowie die kroatisch-ungarischen Beziehungen außer Acht lässt, spielte sich auch auf dem Gebiet der Justiz ab. Wir haben gesehen, wie die Einführung neuer Gesetze und einer neuen Strafprozessordnimg auch einen, wenn auch langsamen und mit erheblichen Schwierigkeiten verbundenen, unausweichlichen Wandel des Justizpersonals mit sich brachte. Hinzu kamen neue Berufe, wie z.B. der des Staatsanwaltes (in Kroatien 1854) und des Verteidigers. Der Übergang vollzog sich, wie schon gesagt, alles andere als schnell. Eine Beschleunigung des Prozesses erfolgte erst mit dem Ende des Neoabsolutismus. Beginnend mit der Justizreform bewirkten die intensiven Aktivitäten des Parlaments zwischen 1872 und 1875 eine Serie von Reformen, die den kroatischen Staat zutiefst veränderten.18 Nachdem das wichtigste Ziel und die Voraussetzung jeder weiteDffiS., Die Anfange des modernen Kroatien. Gesellschaft, Politik und Kultur in Zivil-Kroatien und -Slawonien in den ersten dreißig Jahren nach 1848. Wien/Köln 1993, S. 47. (Diese Arbeit stellt die gekürzte deutsche Fassung zweier Monografien derselben Autorin dar: Die schon zitierte Poceci moderne Hrvatske und, zus. mit Agneza SZABO, Prema hrvatskome gradanskom druätvu. Drustveni razvoj u civilnoj Hrvatskoj i Slavoniji sezdesetih i sedamdesetih godina 19. stoljeca. Zagreb 1992. Soweit möglich, beziehe ich mich auf die deutsche Ausgabe.) Auch in Ungarn reformierte man die Justiz grundlegend, sobald die politischen Umstände dies zuließen; in diesem Fall nach dem österreichisch-ungarischen Aus-

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ren Reform aus progressiver Sicht, die Trennung von Verwaltung und Justiz, erst einmal erreicht war, erlangte die Reform des Ermittlungsverfahrens und des Vorgehens besonders im Strafprozess fur die Liberalen höchste Bedeutung. „Den zentralen Punkt nahm nun die mündliche und öffentliche Debatte ein, in der über Schuld oder Unschuld des Angeklagten entschieden wurde."19 Schwieriger in der Umsetzung erwies sich das andere wichtige Ziel des Liberalismus, die Einführung des Kollegialgerichts. Nichtsdestotrotz ging die „Ära Mazuranic" als eine große Modernisierungswelle in die moderne Geschichte Kroatiens ein und die Reform der Justiz bildet darin ein Kapitel. Innerhalb dieses Umfeldes etablierten sich Stück für Stück auch die neuen Eliten. Dies überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass die neuen Gesetze zwar im Parlament diskutiert wurden, ihre Anwendung jedoch erst im Gerichtssaal fanden. Schon bei der Umsetzung des Gesetzes zur Aufhebung des Feudalismus in den 1850er und 1860er Jahren konnten wir die Differenz zwischen Gesetzgebung und deren Interpretation beobachten. Im Verlauf der Jahre kamen in den Klagen vor Gericht andere Fragen hinzu, die alle eng mit politischen und ökonomischen Problemen verbunden waren. Zum Beispiel fehlte jede gesetzliche Regelung zum Umgang mit der Auflösung der „erweiterten Familie", die ein ganzes Verwandtschafts- und ökonomisches System umfasste. Anträge von Familien, die diese Bindungen lösen 20

wollten, erforderten Urteile der Gerichte. Darüber hinaus war die immer häufigere und konstante Verschuldung von Bauern Gegenstand zahlreicher Prozesse mit Kreditgebern und auch die langsame, aber stetig fortschreitende Industrialisierung führte zu neuen Gerichtsverfahren. Am En-

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gleich. Das Gesetz, das eine ganze Reihe liberaler Prinzipien enthält, stammt von 1869. Trotzdem verblieben starke Elemente des alten Systems, wie die Kontrolle der vom König ernannten Richter durch die Regierung und das Verbot jeglichen professionellen Zusammenschlusses. „Demzufolge bildeten die Richter eine vollkommen isolierte Kaste im staatlichen und gesellschaftlichen Leben", in: SARLÖS, Das Rechtswesen in Ungarn, S. 525. Nicht viel anders erging es den Staatsanwälten (ebd., S. 526). Im Übrigen müsste die Umsetzung der vom Gesetz von 1869 vorgesehenen Prinzipien in der Praxis genauestens untersucht werden, wenn man berücksichtigt, dass sie „fast ein halbes Jahrhundert" dauerte. BARANY, Ungarns Verwaltung, S. 414. GROSS, Die Anfänge des modernen Kroatien, S. 171. Vgl. die wertvolle, vergleichende Studie zweier Gemeinden, von denen eine in Zivil-Kroatien, die andere innerhalb der Militärgrenze lag: Hannes GRANDITS, Familie und sozialer Wandel im ländlichen Kroatien (18.-20. Jahrhundert). Wien u.a. 2002. Zu den Familienformen in Südosteuropa vgl. Karl KÄSER, Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur. Wien u.a. 1995; zu Kroatien: Jasna Capo ZMEGAC, Seoska drustvenost, in: DIES., u.a. (Hg.), Etnografija. Svagdan i blagdan hrvatskog puka. Zagreb 1998, S. 251-295.

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de dieser Aufzählung, aber sicher nicht am Ende der Prioritätenliste, die die Liberalen im Zusammenhang mit diesem Thema verfolgten, steht die Verteidigung der politischen Freiheiten. In der 20 Jahre währenden Phase des Neoabsolutismus und erneut in der Amtszeit des Banus Karoly Khuen21

Hederväry (1881-1903) wurden diese massiv eingeschränkt. Man kann feststellen, dass von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an nicht mehr allein der Adel sich der Gerichte zur Durchsetzung der eigenen Interessen bediente, sondern immer mehr auch die neuen politischen und industriellen Eliten.22 Waren früher die Richter die „Pflichtverteidiger" der alten Eliten gewesen, so wurden nun die wirklichen „Verteidiger" mit der Vertretung der neuen Eliten beauftragt. „Mit der Reorganisation des Gerichtes der Banal-tafel [Banski stol - Berufungsgericht, dem der Banus vorsitzt] und der Verlegung des Obergerichts von Wien nach Zagreb war der formelle Abbau 23des absolutistischen Verwaltungs- und Gerichtssystems abgeschlossen" und für die neuen Funktionsträger bei Gericht öffnete sich ein bedeutender Aktionsraum. Als Verteidiger der neuen Eliten begannen sie nun eine eigene elitäre Schicht zu bilden. Aber dieser Punkt verdient es, gesondert behandelt zu werden.

Jaroslav SIDAK u.a, Povijest hrvatskog naroda g. 1860-1914. Zagreb 1968. Obwohl in diesem Artikel ein eher vages Elitenkonzept angewandt wird, scheint sich hier doch ein „Elitenwechsel", verbunden mit einem „Elitenwandel" feststellen zu lassen, da sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Kroatien-Slavonien auch die institutionelle Ordnung und nicht nur die sozialen Akteure veränderten. Vgl. Anton STERBLING, Elitenwandel in Südosteuropa: Einige Bemerkungen aus elitentheoretischer Sicht, in: Wolfgang HÖPKEN/Holm SUNDHAUSSEN (Hg.), Eliten in Südosteuropa. Rolle, Kontinuitäten, Brüche in Geschichte und Gegenwart. München 1998, S. 31-47, hier S. 35; wenn auch mehr auf die ehemals ottomanischen Territorien bezogen als Einführung nützlich: Holm SUNDHAUSSEN, Institutionen und institutioneller Wandel in den Balkanländern aus historischer Perspektive, in: Johannes Chr. PAPALEKAS (Hg.), Institutionen und institutioneller Wandel in Südosteuropa. M ü n c h e n 1994, S. 3 5 - 5 4 . V g l . Birgit-Katharine SEEMANN, D a s K o n -

zept der „Elite(n)". Theorie und Anwendbarkeit in der Geschichtsschreibung, in: Karl Christian FÜHRER u.a. (Hg.), Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert. Für Klaus Saul zum Geburtstag. Münster 2 0 0 4 , S. 24—41.

GROSS, Die Anfänge des modernen Kroatien, S. 74.

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3. Elite in der Praxis Da es nicht möglich war, eine vollständige juristische Ausbildung in Zagreb zu erlangen, gingen viele wohlhabende Studenten in die universitären Zentren Graz und Wien, angezogen allein schon vom Ruf, den diese Städte genossen.24 Ihre Herkunft war unterschiedlich und reichte vom Sohn aus mittlerem Adel bis zu dem eines Kaufmanns, alle ausgerichtet auf eine durchaus mögliche - Karriere. Man denke nur an den Adligen Nikola Crnkovic oder den Kaufmannssohn Marijan Derencin (1836-1908).25 Einmal mit einem juristischen Doktortitel in die Heimat zurückgekehrt, stellte sich die Frage, welche Karriere anzustreben war. Einige wurden Richter, viele Staatsangestellte, die wenigen Übrigen verteilten sich auf den Notars-, Staatsanwalts- oder Anwaltsberuf. Die Berufswege waren nur teilweise voneinander getrennt: Der Anwalt konnte nicht Staatsanwalt werden, die Karriere als Staatsangestellter stand ihm hingegen offen. Und wirklich war es dieser zuletzt beschriebene Weg, den die großen Anwaltspersönlichkeiten des modernen Kroatien beschritten - einflussreiche Personen, die sich zwischen den Büros der Ministerien und den Gerichtssälen hin- und herbewegten. Im Falle Kroatiens ist diese Erscheinung das Zeichen auch für ein Defizit der sozialen Gruppe der Anwälte und steht für das Fehlen einer starken, klaren und unterscheidbaren Gruppenidentität im Vergleich zu ähnlichen Berufsgruppen. Die Geschichte der Professionalisierung der Anwälte in Kroatien-Slavonien ist eine Geschichte der Unsicherheiten und verpassten Chancen. In den frühen 1880er Jahren entstand die erste Vereinigung der „Juristen", deren größter Erfolg die Herausgabe einer Monatszeitschrift war, die das Wachstum und die Stärkung einer modernen juristischen Kultur förderte. 24

25

Sarah A. KENT, Hrvatski odvjetnici i politika profesije: dilema profesionalizacije 1884-1894, in: Historijski zbornik 43 (1990), Nr. 1, S. 249-269, hier S. 251. Ersterer wurde vom Banus Khuen-Hederväry zum Vizepräsidenten der Abteilung Justiz der Regierung ernannt, letzterer hatte die gleiche Funktion unter dem Banus Mazuranic bekleidet und war danach Parlamentarier und Führer der „Unabhängigen Volkspartei [Neodvisna narodna stranka]". Man vergleiche beispielsweise die Mitglieder der aristokratischen Familie Koritic, die traditionell Ämter in der Justiz inne hatten und denen es gelang, diese Position zu bestätigen bzw. zu „modernisieren": Maja KATUSICX Prilog poznvanju obitelji Koritic de Mrazovec - Obiteljski fond Koritic u Hrvatskom Drzavnom Arhivu, in: Cris. Casopis Povijesnog drustva Krizevci VII (2005), Nr. 1, S. 60-65. Am Ende des Jahrhunderts war jedoch kein Mitglied des Hochadels unter den Anwälten: KENT, Hrvatski odvjetnici S. 258. Vgl. Hannes STEKL, Bürgertumsforschung und Familiengeschichte, in: DERS. (Hg.), Bürgerliche Familien. Lebenswege im 19. und 20. Jahrhundert. Wien u.a. 2 0 0 0 , S. 9 - 3 3 .

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Da der Zusammenschluss jedoch nicht allein Anwälte, sondern auch Richter, Notare und Justizangestellte umfasste, trug sie nicht zur Stärkung des Gruppenbewusstseins und der Gruppensolidarität bei, wie sich bei zahlreichen Gelegenheiten zeigte. Wenig nützten hier die beiden institutionellen Vertretungsorgane, die „Anwaltskommissionen [Odvjetnicki odbori]" in Zagreb und Osijek. Der Banus Khuen zeigte während seiner Amtszeit keinerlei Interesse daran, die Anwaltsordnung von 1852 aus neoabsolutistischer Zeit zu reformieren, und die Aktivitäten sowie der mögliche Einfluss der Kommissionen blieben in der Sackgasse innerer politischer Gegensätze zwischen einer regierungsfreundlichen und einer regierungsoppositionellen Fraktion stecken. Die Folge dieser Situation war, dass die Kommissionen sich nicht als Anwaltskammern konstituierten, obwohl sie dies hätten tun können, und es folglich nicht gelang, die Anwälte zu einer selbständigen und einflussreichen Berufsgruppe zu machen. Ein Beispiel dafür war die Frage des Numerus Clausus, der den Zugang zum Anwaltsberuf regelte und in den 1880er Jahren erbittert diskutiert wurde. Es gelang nicht, eine Übereinkunft zwischen den verschiedenen Interessen herzustellen, insbesondere nicht zwischen den Anwälten und ihren Vertretern in den Kommissionen. Es war in erster Linie die Zagreber Kommission, die eine konservative Position einnahm und die bestehende Beschränkung verteidigte, die ihr angesichts des Bedarfs Kroatien-Slavoniens schon zu wenig restriktiv erschien. Unter dem Druck ständiger Anfragen zur Eröffnung neuer Anwaltsbüros entschied die hierfür zuständige Banaltafel jedoch, sich über die Haltung der Anwaltskammer hinwegzusetzen. So hatten trotz einer 1880 festgelegten Quote von 24 Anwälten für Zagreb 40 Anwälte eine Lizenz erhalten. Der größere Teil von ihnen arbeitete jedoch nicht im Anwaltsberuf, sondern ging politischen Aktivitäten nach. Daher erlaubte man 1885 die Vergabe einiger weiterer Lizenzen. 26 Das Beispiel der fehlenden einheitlichen Interessen wurde hier gewählt, weil es auf eine Kernfrage der gerade erst entstehenden „freien Berufe" verweist, auf das Problem, die eigene Gruppe so eindeutig zu definieren, dass sie „exklusiv" wird. Leider wissen wir wenig über die ökonomischen Bedingungen, unter denen diese neue Generation von Anwälten lebte, denn die Informationen, die wir den vereinzelten Studien zu diesem Thema entnehmen können, sind widersprüchlich. Einerseits scheint es genügend Aufträge gegeben zu haben, um ihnen einen guten Verdienst zu si27

ehern. Andererseits waren die Anwälte mit der Krise der sowieso schon schwachen, kleinen und mittleren Industrie konfrontiert; hinzu kam das 26 27

KENT, Hrvatski odvjetnici, S. 265. Rene LOVRENCIÖ, Geneza politike „novog kursa". Zagreb 1972, S. 32.

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Problem der „unlauteren Konkurrenz" durch Laien, die Rechtsberatung zu einem deutlich geringeren Preis anboten.28 Die Schicht der Anwälte stellte demnach eine Untergruppe der viel größeren Schicht der inteligencija, der Gebildeten dar. Die 1874 eingeführte Verpflichtung für Anwälte (nicht für Richter oder Staatsanwälte), einen Doktortitel zu erwerben, machte die neuen Generationen mit vollem Recht zu Mitgliedern einer gebildeten Elite mit spezialisiertem, akademischem Wissen, einem der strukturellen Kennzeichen der freien Berufe. Mit einer Definition von Wolfgang Höpken könnte man sagen, dass die kroatischen Anwälte, wie auch andere Kollegen freier Berufe in Südosteuropa, zwar keine „Professionalisierung", wohl aber eine gewisse „Verberuflichung" erreicht hatten, „d.h. es gelang ihnen, ausgehend von einem zunächst noch diffusen Status, ohne feststehende Qualifikationsanforderungen und geregelte Aufgabenbereiche, in fließendem Übergang zu anderen Teilen der inteligencija zu einem festen Berufsbild zu gelangen", ohne jedoch eine eigene Organisation gründen zu können, die sich selbst verwaltete und in der Lage war, autonom zu handeln.29 Die Formierung einer neuen Elite kann daher weniger auf der institutionellen bzw. der Ebene der professionellen Vertretung aufgespürt werden, als vielmehr in der vielschichtigen Praxis. So ist ab den 1880er Jahren zu verzeichnen, dass Anwärter auf den Anwaltsberuf aus Anwaltsfamilien stammten. Dies stellt eine typische, endogene Reproduktionsdynamik der Berufsgruppe dar. Es ist jedoch noch kein hinreichendes Merkmal, um eine eigene Schicht zu kennzeichnen, die sich aus der größeren Gruppe der inteligencija hervorhebt. Vielleicht könnte das zentrale Unterscheidungsmerkmal einfach in der Arbeit liegen: Die Anwälte bewegten sich zusammen mit Staatsanwälten und Richtern nicht nur in den Gerichtssälen, sie trugen auch zum Entscheidungsprozess bei, der mit dem Urteil endete. Dank dem neuen Justizsystem und den Bestimmungen des Strafprozessrechts konnten die Verteidiger in bedeutenden Fällen ausführlich Stellung nehmen. Dies taten sie im Bewusstsein, dass die Protokolle der Debatten vor Gericht regelmäßig in den nationalen Tageszeitungen veröffentlicht wurden. Ähnlich den großen Parlamentsreden füllten die großen Plädoyers ganze Zeitungsseiten und fanden in relativ weiten Teilen der Bevölkerung Verbreitung. Es ist von großem Interesse, sich mit ihrem Inhalt zu beschäftigen.

Es handelt sich um die nadripisari, vgl. auch: KENT, Hrvatski odvjetnici, S. 2 6 3 . Wolfgang HÖPKEN, Zwischen Bürokratie und Bürgertum: „Bürgerliche Berufe" in Südosteuropa, in: HÖPKEN/SUNDHAUSSEN, Eliten in Südosteuropa, S. 69-104, hier S. 9 7 .

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4. Zwischen Alt und Neu Die Anwaltsschicht war mit der alten Elite mehrfach verwoben: „strukturell", weil beide zusammen die verwaltungsmäßig wie juristisch bedeutende Justiz dominierten, „symbolisch", da diese Funktion, die sogar die Entscheidung über Menschenleben beinhaltete, von der Elite und von anderen immer schon als äußerst elitäres Vorrecht betrachtet worden war, und schließlich sozial, weil sie aus Mitgliedern der entstehenden Bourgeoisie und des kleinen und mittleren Adels bestand. Zu fragen wäre noch, ob es trotz der beschriebenen Unterschiede nicht auch Übereinstimmungen in kultureller Hinsicht gab. Wer im Gerichtssaal das Wort ergreift, äußert sich tatsächlich nicht nur zum in Frage stehenden Fall, sondern auch zum Zustand der Gesellschaft an sich. Das Recht und vielleicht noch mehr seine Anwendung sind a priori historisch und kulturell bedingte Phänomene. Aber solche kulturellen und politischen Urteile kamen im Verlauf der hier infrage stehenden Prozesse auch in einer weniger grundsätzlichen und zudem sehr expliziten Wiese zum Ausdruck. Betrachten wir also einige Rechtsfälle vom Jahrhundertende etwas näher, die für uns von Interesse sind, weil erneut die Bauern in sie verwickelt waren. Im Gegensatz zur weiter oben geschilderten Situation erhoben sich diese nicht mehr protestierend gegen die ungerechte Anwendung der antifeudalen Gesetze. Die Zeiten hatten sich geändert und mit ihnen die Gründe für Bauernrevolten, die aber weiterhin ökonomischen Ursprungs waren und aus den Schwierigkeiten der Subsistenz entstanden.30 Die führenden Oppositionspolitiker in den letzten Jahren des Jahrhunderts - muss man wissen - waren mehrheitlich Anwälte, die sich sehr um die Verteidigung der bäuerlichen Interessen bemühten. Obwohl die Bauern noch nicht über das Wahlrecht verfugten, konnten die Anwälte diese zur Stärkung der eigenen politischen Position instrumentalisieren. Obwohl sie „Verteidiger"

Ich beziehe mich hier auf meine im Februar 2006 an der Universität Ca'Foscari Venedig angenommene Dissertation „Un anno burrascoso. I tumulti del 1897 in Croazia-Slavonia". In einem der dort beschriebenen Fälle ging es um einen Mord an drei Staatsbeamten in einem kleinen Dorf, Sjenicak, anlässlich eines Tumultes im September 1897. Zu den Volksunruhen am Ende des 19. Jahrhunderts vgl. die vorhergehende Welle von 1883: Dragutin PAVLlCEVlt, Narodni pokret 1883. u Hrvatskoj. Zagreb 1980. Der Vergleich mit der ungarischen Geschichte scheint eine tiefgehende Übereinstimmung zu offenbaren: „Die bis zum Ende des Jahrhunderts erfolgten partiellen Änderungen in der Gerichtsorganisation und in den Verfahrensrechten können eigentlich nur im Zusammenhang mit der Bauerfrage verstanden werden", in: Sarlös, Das Rechtwesen in Ungarn, S. 527.

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der Bauern waren, kommen in den Reden der Anwälte im Gerichtssaal Urteile und Theorien zum Ausdruck, mit denen sie sich deutlich von diesen unterschieden. So machten sie breiten Gebrauch von zeittypischen Evolutions- und rassistischen Theorien, mit denen sie die genetische Zurückgebliebenheit, die moralische und kulturelle Minderwertigkeit dieser „Grobiane" und Analphabeten und ihren angeblich naturgegebenen Hang zur Gewalt erklärten.31 In vielen Fällen zeigte sich auch die große kulturelle Distanz zwischen städtischer und ländlicher Lebensweise, mehr noch zwischen Gebildeten und Ungebildeten.32 Angesichts dieses Ergebnisses fragt man sich, in wessen Namen diese Anwälte wirklich sprachen. Ihre Plädoyers ähnelten mehr Wahlreden, sie richteten sich weniger an die Richter, als an ein Publikum, das im Parlament hätte sitzen können, letztlich an die gesamte Gesellschaft. Die Anwälte verteidigten vor allem die eigenen Ideen, eher nebenbei die Angeklagten und ganz explizit die eigene Rolle als Intellektuelle, Patrioten und Führer einer künftigen Gesellschaft. Diese Überlegenheit, zumindest gegenüber den Angeklagten, stellte die Anwälte automatisch auf eine Stufe mit Richtern, Staatsanwälten und ganz allgemein mit den Oberschichten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Wenn es einer Bestätigung hierfür bedürfte, so genügte ein flüchtiger Vergleich mit den Argumenten, derer sich dieselben Anwälte in einem Verfahren gegen Angehörige der neuen Eliten bedienten.

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Wenn wir zu Beginn des

Der Anwalt Josip Frank (1844-1911) z.B. bediente sich der Kriminalanthropologie eines Cesare Lombroso (1836-1909), einer der Ursprünge des modernen Rassismus (George L. MOSSE, Rassismus. Ein Krankheitssymptom in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Königstein/Ts. 1978, S. 80-81). Auch der Anwalt Marijan Derenöin griff auf die Massenpsychologie eines Scipio Sighele (1868-1913) zurück, der wiederum den Theorien Gustave Le Bons sehr nahe stand. So wurden die Angeklagten z.B. als „passive" Subjekte mit „schwachen Gehirnen" gekennzeichnet (DERENCIN, Stenografische Akten der Debatte über Sjenicak, in: Obzor (30.11.1897); oder als „unterentwickelt" und mit einem „unterentwickelten geistigen Apparat" versehen (FRANK, Stenografische Akten, abgedruckt in: Ebd., 7.12.1897). Zum Beispiel im Umgang mit Alkohol, im Wortschatz oder in Bezug auf die Zeitmessung: PETRUNGARO, Un anno burrascoso. Ein gutes Beispiel ist hier der Prozess gegen Jurastudenten, die während des Besuchs Kaiser Franz Josephs in Zagreb im Oktober 1895 demonstriert hatten. Die Prozessteilnehmer sind hier dieselben: der Präsident des Gerichtes (Aleksandar Rakodczay), die Verteidiger (Marijan Derencin, Josip Frank, Franko Potoönjak, Mile Stardevic u.a.); es wechseln hingegen die Angeklagten, unter ihnen der Sohn von Frank und der zukünftige politische Führer Stjepan Radic (1871-1928). Vgl. Mirko MADOR, Hrvatski djaci pred sudom. Stenografski izvjeStaj Ο glavnoj razpravi proti hrvatskim sveuöilistnim djacima obdrzanoj pred kr. sudbenim stolom u Zagrebu dne 11-16. studenoga 1895, mit einer Einleitung von Dragutin Pa-

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Artikels feststellten, dass der alte Feudaladel eine konservative Haltung einnahm, so war dies in erster Linie - wenn auch nicht ausschließlich auf ökonomische Interessen zurückzuführen. Hinzu kam, wie bekannt, eine ganze Kultur des Paternalismus, die die Adligen als „natürliche" Führer der Gesellschaft und der schwachen Massen sah, die angeblich unfähig waren, sich selbst zu regieren. Die Analyse einiger Prozessprotokolle vom Ende des 19. Jahrhunderts hat uns gezeigt, dass auch die Anwälte dieser Zeit trotz ihrer progressiven und liberalen Haltung den Massen gegenüber ein starkes Überlegenheitsgefühl hegten. Die Ursache hierfür war vielleicht nicht so sehr die soziale, als vielmehr die kulturelle Differenz zwischen beiden. Von einem Paternalismus adliger Prägung ging man schrittweise zu einem Paternalismus und Moralismus über, der für die bürgerliche inteligencija typisch war. Was nun eine Verbindung zwischen Alt und Neu, zwischen alten Justizfunktionären und den neuen Anwälten schuf, war, neben den gemeinsamen kulturellen Werten, eben ihre Funktion, die Interessen bestimmter elitärer Kreise zu verteidigen. In der Tat bediente sich die Regierung im letzten Viertel des Jahrhunderts der Justiz als Instrument in der politischen Auseinandersetzung und veranlasste unzählige Prozesse gegen oppositionelle Politiker und Publizisten. Die Pressezensur bzw. generell die Zensur der Kultur, der Ausschluss vom aktiven und passiven Wahlrecht, die Rechtsfälle, die mit der beginnenden Industrialisierung verbunden waren, sind nur die wichtigsten Beispiele für die große Bedeutung, die die Entscheidungen der Richter für die Mitglieder der Oberschicht hatten.34 Es bedurfte also gesteigerter Aktivität, um das Gesetz soweit als möglich im eigenen Sinne zu beeinflussen oder auf die Rechtssprechung zumindest von Fall zu Fall einzuwirken.

5. Zwischen Recht und Politik Zusammenfassend kann man sagen, dass der Gerichtsaal im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine immer größere Bedeutung gewann. Er war der Ort, an dem man Politik machte, und der für einige Maßnahmen von großer sozialer und politischer Bedeutung entscheidend war. Parallel zu dieser Entvliöevic. Zagreb 1995; Bosilja JANJATOVIT, Sudski proces zagrebackim studentima u studenome 1895, in: Historijski zbomik L (1997), S. 91-108. Zur neuen sozialen Bedeutung, die das Gerichtsverfahren in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts auch in Cisleithanien gewann, vgl. Werner OGRIS, Die Rechtsentwicklung in Cisleithanien 1848-1918, in: WANDRUSZKA/URBANITSCH, Die Habsburgermonarchie, Bd. 2, S. 538-662, hier S. 572-581.

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Stefano Petrungaro

wicklung gewannen auch die Personen in diesem Raum an Bedeutung und an kultureller, sozialer und professioneller Identität. Diese Identität entwickelte sich zwar erst, gewann jedoch an Kontur. Anwälte, Staatsanwälte und Richter bewegten sich zwischen den Sphären des Rechts und der Politik und stärkten die Verbindung dieser eigentlich schon miteinander verbundenen Räume. Dies gilt sowohl für die Seite der Anklage als auch für die der Verteidigung, die beide von den Veränderungen in der zweiten Jahrhunderthälfte beeinflusst wurden. Unter den neuen Richtern scheint mir Aleksandar Rakodczay (1848-1924) typisch zu sein, der, obwohl Großgrundbesitzer wie seine Vorgänger, über ein modernes Spezialistenwissen verfügte, das er durch ein juristisches Doktoratsstudium und eine lange Praxis erworben hatte. Zunächst 1872/73 als perovoäa [Protokollant] beim kroatisch-slavonisch-dalmatischen Ministerium in Budapest tätig, erklomm er in der Folge die Gipfel der Justizkarriere und brachte es in den 90er Jahren bis zum Präsidenten des höchsten kroatischen Gerichts, des Stol sedmorice. In den Jahren 1907/08 ernannte man ihn dank seiner regierungsfreundlichen Haltung zum Banus für Kroatien-Slavonien. 35 Wenn nun im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Gericht zu einem für heutige Historiker interessanten Untersuchungsfeld wurde, so liegt dies mit Sicherheit auch am Aufstieg der Verteidiger. Diese „politischen" An36

wälte, die auch als Politiker agierten, machten den Gerichtssaal zu einem Ort, an dem sie - zumindest soweit es die Zensur des Gerichtspräsidenten zuließ - das eigene politische Programm und die eigenen Visionen einer künftigen Gesellschaft entwarfen. Das „Forum" (der Gerichtssaal) wurde zu einem Ort der Diskussion und zu einer echten „Arena", in der man „die Klingen kreuzte". Gleichzeitig wurde es zu einem Ort, in dem die neuen Eliten Gestalt gewannen. Die principes fori [Fürsten des Gerichtsaales] verteidigten ihre Klienten und vor allem - zusammen mit den anderen Angehörigen der neuen Eliten - sich selbst. (Übersetzung aus dem Italienischen von Kay Kufeke)

Agneza SZABO, Sredisnje institucije Hrvatske u Zagrebu 1860-1873. Zagreb 1987, Bd. I, S. 130 (hier falschlicher Weise Radkocay genannt, ein häufiger Irrtum in den Quellen und in der Literatur). Povijest Hrvata. Druga knjiga. Od kraja 15. st. do kraja Prvog svjetskog rata. Zagreb 2005, S. 559. Anwälte und Klerus repräsentieren im Kroatien des ausgehenden Jahrhunderts den größeren Teil jener „relativ unabhängigen inteligencija, aus der sich damals die Mehrheit der politischen Führer rekrutierte". LovRENÖt, Geneza politike, S. 33.

ANDRÄS VÄRI

Der Verein, die Magnaten und die Experten. Der „Ungarische LandesWirtschaftsverein" 1821-1890

1. Vergesellschaftung auf unterschiedlichen Ebenen 1830 wurde der „Ungarische Landes-Wirtschaftsverein"1 gegründet, in dem von Beginn an Magnaten, Großgrundbesitzer des gemeinen Adels und Wirtschaftsbeamte zusammenarbeiteten. Alle diese Gruppen kann man als Eliten ansehen. Für die Großgrundbesitzer aus Magnatenschaft und Komitatsadel ist dies vermutlich unbestritten, aber auch die Wirtschaftsbeamten galten als Vertreter der Magnaten und traten mit dem Anspruch auf, Experten zu sein. Im Vormärz geriet das Rollenverständnis dieser Gruppen in Fluss. Die Aristokraten suchten durch eine neue Art der Legitimation ihre traditionelle Elitenposition zu bewahren.2 Der oppositionelle grundbesitzende Adel der Komitate sah in dem Verein eine Möglichkeit, seinen Einfluss auf das öffentliche Leben auszuweiten - manchmal als Ergänzung, manchmal als Fortsetzung seines politischen Kampfes. Die Wirtschaftsbeamten waren bestrebt, ihre Fachkompetenz und Professionalität unter Beweis zu stellen. Sie versuchten, als anerkannte Experten eine Monopolstellung zu erlangen. Die verschiedenen Gruppen hatten neben unterschiedlichen auch gemeinsame Anliegen im Wirtschaftsverein. Hauptziel war der agrotechni-

2

Der Verein wechselte mehrfach den Namen, von Gazdasägi Egyesület (Wirtschaftsverein) über Magyar Gazdasägi Egyesület (Ungarischer Wirtschaftsverein) ab den 1840er Jahren zu .Orszägos Magyar Gazdasägi Egyesület (Ungarischer Wirtschaftsverein) ab 1860, wobei Wirtschaft die Bedeutung von Landwirtschaft hatte. Vgl. Werner CONZE, Adel, Aristokratie, in: Otto BRUNNER u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart 1972, S. 1-48, hier S. 22-40.

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Andras Van

sehe Fortschritt, w a s an und für sich nicht neu war, neu war aber die intensiver werdende Kooperation zwischen verschiedenen Ständen und die zumindest formale Aufwertung der nichtaristokratischen Mitglieder, was sich beispielsweise an deren Beteiligung am Vorstand zeigt. D i e zielgerichtete Kooperation mutet modern an. Sie weist Merkmale einer voranschreitenden Vergesellschaftung auf - Vergesellschaftung nicht im Sinne einer individuellen Sozialisierung, sondern im Sinne v o n Max Weber. Demnach stellten die Assoziationen des 19. Jahrhunderts und besonders des Vormärz - sowohl die „Gesinnungsvereine" als auch die „Zweckverbände" - zweck- und wertrational orientierte Formen der Vergesellschaftung dar. Der Wirtschaftsverein war in erster Linie ein Zweckverband. Dennoch gab es möglicherweise einen, w e n n auch nicht so offensichtlichen Kern einer gemeinsamen „Gesinnung": Gemeinsam war trotz unterschiedlicher Ziele und Konzepte die Vorstellung von einer Integration der ständisch vielfaltig segmentierten Gesellschaft Ungarns, eine Art „Verbürgerlichung" [embourgeoisement],4

w o m i t man sowohl die Übernahme der Maximen

rationalen Wirtschaftshandelns als auch die Verpflichtung auf zivile Formen gesellschaftlicher Interaktion assoziierte. In diesem beschränkten Sin-

3

4

Zu den unterschiedliche Interpretationen vgl. Klaus LICHTBLAU, Vergesellschaftung, in: Joachim RITTER u.a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11, Basel 2001, S. 666-671. Die Definition von Weber sticht durch ihre konsequente Einbeziehung der nichtindividuellen Ebene hervor. Vgl.: Max WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. 2. Aufl., Tübingen 1925, S. 21f.: „§ 9. Vergemeinschaftung soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns [...] auf subjektiv gefiihlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. Vergesellschaftung soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenai«g/eieA oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht. Vergesellschaftung kann insbesondere (aber nicht: nur) auf rationaler Vereinbarung durch gegenseitige Zusage beruhen. Dann wird das vergesellschaftete Handeln im Rationalitätsfall orientiert a) wertrational an dem Glauben an die eigene Verbindlichkeit b) zweckrational an der Erwartung der Loyalität des Partners." Dem entsprechen zweierlei Vereinstypen. Einerseits „der reine, frei paktierte Zweckverein, eine nach Absicht und Mitteln rein auf Verfolgung sachlicher [...] Interessen der Mitglieder abgestellte Vereinbarung". Andererseits „der wertrational motivierte Gesinnungsverein die rationelle Sekte, insoweit, als sie von der Pflege emotionaler und affektueller Interessen absieht und nur ,der Sache' dienen will" [Hervorhebungen im Orig.; A.V.]. Käroly HALMOS, Verbürgerlichung als Veradeligung. Zivilisation in Ungarn Grenzland und Peripherie, in: Hannes STEKL u.a. (Hg.), „Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit". Beiträge zur Geschichte des Bürgertums der Habsburgermonarchie. Wien/Köln 1992, S. 180-192.

Der Verein, die Magnaten und die Experten

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ne war der Wirtschaftsverein ein Übungsfeld für die „Zivilisierung" der Gesellschaft, womit eine langwierige Integration der rechtlich wie lebensweltlich vielfach segmentierten Gesellschaft in ein einheitliches durch das bürgerliche Recht geregeltes und dem Staat direkt unterstelltes Gefüge von sozialen Verhältnissen gemeint war. Allein der Beitritt unterschiedlicher Schichten, Aristokraten, gemeinen Adligen und Wirtschaftsbeamten, machte die Gruppen noch nicht kooperations- und damit den Verein nicht funktionsfähig. Kooperationsfahigkeit musste im Vereinsalltag und in gemeinsamen wirtschaftspolitischen Aktivitäten der Gruppen erst erarbeitet werden. Der Erfolg des Vereins hing folglich wesentlich davon ab, dass seine Mitgliedsgruppen einander akzeptieren lernten. Woran kann man diesen Erfolg messen? Ein Indikator ist die zunehmende Komplexität und Verzweigung der Vereinsaktivitäten, die Zusammenarbeit, Absprachen etc. erforderten. Der Prozess war jedoch langwierig; in der ersten Phase des Vereinsbestehens hat man geradezu den Eindruck, dass moderne Formen der Vergesellschaftung zur Aufrechterhaltung der alten Standesunterschiede genutzt wurden. Bis in die 1870er Jahre war die Zusammenarbeit der Vereinsmitglieder durch die enorme Kluft der Standesunterschiede belastet - die soziale Distanz zwischen Herren und Experten wurde lange Zeit nicht geringer. Dem Forschungsansatz, dass die Vergesellschaftungsformen des Vormärz, das Assoziationswesen, die Überwindung der Ständekluft hervorbrachten, scheint diese Beobachtung zu widersprechen,5 jedoch haben andere Historiker die weiter bestehende soziale Distanz, gleichsam die Spiegelung der alten Gesellschaft im Versuchsfeld der neuen betont.6 In Hinblick auf Aufgaben, Mitglieder, gesellschaftliches Ansehen sind landwirtschaftliche Vereine in dieser Zeit generell in Mitteleuropa im Aufschwung, daher sind die folgenden Überlegungen auch über Raum und Gegenstand hinaus von Interesse.7

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6

7

Ulrich IM HOF, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München 1982; Richard van DÜLMEN, Die Gesellschaft der Aufklärer. Frankfurt a. M. 1986. Fred F. SCHRÄDER, Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft 1550-1850. Frankfurt a. M. 1996. Für Österreich vgl. Ernst BRUCKMÜLLER, Landwirtschaftliche Organisationen und gesellschaftliche Modernisierung. Salzburg 1977.

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Andräs Van

2. Die Vereinsgründung und die Magnaten 1821 entwickelte Graf Istvan Szechenyi (1791-1860) ein Projekt, um der dahinsiechenden Pferdezucht in Ungarn „aufzuhelfen": die Einführung von Pferderennen nach englischem Muster.8 Seit 1822 arbeitete er mit einer Gruppe von gleich gesinnten jungen Magnaten an dessen Verwirklichung. Das erste Rennen wurde 1827 veranstaltet, der Verein 1830 gegründet.9 Nun waren die jungen Aristokraten zwar mit Leib und Seele Pferdeliebhaber, das Projekt verfolgte aber auch andere weitergehende Ziele. Man ging davon aus, dass trotz Metternichs absolutistischem Regierungsstil und dem anachronistisch anmutenden ständischen Widerstand der Ungarn ein sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt erzielt werden könne, wenn es nur gelänge, Soziabilität, Umgang, Sitten und die Etablierung eines räsonierenden Publikums zu befördern.10 Das Pferderennen war somit nicht nur ein Mittel zur Verbesserung der Pferdezucht, sondern diente zusammen mit anderen ähnlich gelagerten Unternehmungen des Grafen Szechenyi diesen Zielen. Schon Anfang des Jahrhunderts war eine lockere Zusammenarbeit unter den Aristokraten üblich, beispielsweise bei der Zeichnung von Anteilsscheinen zur Finanzierung einer Veranstaltung. So begann auch der Wirtschaftsverein als ein jährlich wiederkehrendes Pferderennen, dessen Kosten von den Teilnehmern gemeinsam getragen wurde. Zwischen 1828 und 1836 wurde aus dem lockeren Verbund ein satzungsmäßig arbeitender Verein. Diejenigen, die den Verein gründeten und den Löwenanteil der Kosten noch ein halbes Jahrhundert hindurch trugen, gehörten zu den mächtigsten und reichsten Familien des Landes. Sie fühlten sich - mit den jungen Grafen Istvan Szechenyi, György Kärolyi (1802-1877), Mihäly Esterhäzy (1794-1866), György Andrässy (1797-1872) sowie Baron Miklos Wesselenyi (1796-1850) an der Spitze - als Erneuerer Ungarns. Ihr Ziel war „Zivilisierung": von einer ungehobelten, in der Enge der lokalen Verhältnisse verharrenden ständischen zu einer kultivierten, integrierten und ent-

8

Andräs VÄRI, Angol jätek magyar gyepen, in: Korall 19-20 (2005), Majus, S. 9 9 -

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Zu den Daten über die Geschichte des Wirtschafts Vereins: Andräs VARI, Herren und Landwirte. Ungarische Aristokraten und Agrarier auf dem Weg in die Moderne (1821-1910). Wiesbaden 2008. Vgl. George BARANY, Stephen Szechenyi and the awakening of Hungarian nationalism, 1791-1841. Princeton, N. J. 1968; Andräs Gergely, Szechenyi eszmerendszerenek kialakuläsa. Budapest 1972.

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wicklungsfahigen Zivilgesellschaft.11 Die Betonung liegt auf „kultiviert", in dem Sinne wie es auch zeitgenössische deutsche Aristokraten, wie etwa Fürst Hermann von Pückler-Muskau (1785-1871), verstanden, die damit ihre Bewunderung für das englische Vorbild artikulierten. Der Begriff „Zivilgesellschaft" suggeriert möglicherweise, dass die jungen Aristokraten primär politische Ziele radikaler Art verfolgt hätten, was aber nicht der Fall war. Eine Ausnahme war Szechenyi selbst, der diesen Begriff nicht nur benutzte, sondern auch an ein politisches Projekt dachte. Er beeinflusste damit maßgeblich die geistige und politische Entwicklung der Aristokratie und verfolgte bewusst das Ziel, die Geselligkeitsformen eines Vereins - oder, wie im Falle des Casinos eines Clubs nach englischem Vorbild - zu nutzen. Letztendlich hoffte Szechenyi auf eine andere, „zivilisierte" und integrierte Gesellschaft.

3. Der Verein in seiner ersten Etappe 1830-1848 Der Verein umfasste zu Anfang lediglich die Aristokraten und die reichsten Großgrundbesitzer des gemeinen Adels. 1836-1840 ging er jedoch schrittweise dazu über, eine landwirtschaftliche Interessenvertretung zu werden, indem die Ziele, Agenden, zum Teil auch die Mitgliedschaft erweitert wurden. Das entsprach dem Selbstverständnis der jungen Magnaten, die jenseits der politischen Sphäre agierten und dennoch dem huldigten, was allgemein als Fortschritt angesehen wurde. Damit nahmen sie notgedrungen eine oppositionelle Haltung ein, hatte das Regime von Metternich im aufrührerischen Ungarn doch nicht einmal diejenigen wirtschaftlichen, verwaltungsmäßigen oder technischen Veränderungen zugelassen, die anderswo, z.B. in Preußen, längst durchgesetzt waren.12 Im Zuge der Ausweitung seiner Tätigkeit hatte der Verein damit begonnen, Wirtschaftsforderung zu betreiben. Er beschäftigte sich zunächst mit Schafzucht, eine als „englisch" angesehene Mode unter den Adligen. Das Schaf konnte, rationell gehalten, zur Zeit der im Vergleich zu den Getreidepreisen günstigen Wollpreise in den 1820er bis 1830er Jahren recht viel Gewinn einbringen. Vergleicht man die realen Kosten mit dem Ertrag, war bei den meisten großen Herren Schafzucht jedoch eher eine ohne Rentabi-

Für den Begriff der „Zivilgesellschaft" in Ungarn vgl. Läszlö PFETER, Volt-e magyar tärsadalom a XIX. szäzadban? A jogrend es a civil tarsadalom kepzödese, in: DERS., AZ Elbätöl keletre. Budapest 1998, S. 148-186. Vgl. auch SCHRÄDER, Die Formierung. Vgl. Erzsebet ANDICS, Metternich es Magyarorszäg. Budapest 1975.

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litätskriterien durchgeführte Prestigesache.13 Das tat der Begeisterung jedoch keinen Abbruch. Schafe und Schafzucht waren einige der wenigen Themen, bei denen die Aristokraten dezidierte Meinungen mit Namensnennung in der Fachpresse des Vereins vertreten haben. Damit war der Verein kein reiner Renn- oder Geselligkeitsverein mehr. Ab 1841 brachte er die meistgelesene unpolitische Wochenzeitung heraus, organisierte jährlich Tierschauen und Zuchttiermessen, erhob vor allem in wirtschaftspolitischen Fragen seine Stimme, erarbeitete Gesetzesvorlagen und legte diese dem Landtag vor. Die Botschaft, die die Schafzucht, später die Rinderzucht und der Anbau von Futterpflanzen, verkündete, war eine Doppelte: Einerseits demonstrierten diese Tätigkeiten aristokratische Exzellenz, in etwa dem gleichen Sinn, wie das Sammeln von Kunstobjekten. Andererseits galten die entsprechenden Aktivitäten auch als anschaulicher Unterricht über die Möglichkeiten der Anwendung von Wissenschaft und Technik im Dienst des Allgemeinwohls. Damit waren die Tätigkeiten zugleich patriotisch und den Interessen des Staats dienlich. Diese Gleichzeitigkeit war im von ständischem Unabhängigkeitsstreben geprägten Ungarn wenn auch nicht einmalig, so doch nicht selbstverständlich. Es war gewiss kein Zufall, wenn bis zum Revolutionsjahr 1848 diese dynastisch-patriotischen Motive herausgekehrt wurden. Die Aktivitäten des Vereins können als eine Art nation building im beschränkten Sinn angesehen werden, denn vom Eisenbahnbau bis zur Herausgabe von Fachbüchern galt den Zeitgenossen die Vervollkommnung der Wirtschaft als ein Vorhaben, das nicht nur von individuellem oder betrieblichem Nutzen war, sondern dem Aufbau einer integrierten und entwicklungsfähigen Nation diente.14 Der Anspruch der Aristokraten, im doppelten Sinne dem Allgemeinwohl zu dienen, gewann umso mehr an Glaubwürdigkeit, als die Erweiterung der Tätigkeitsbereiche dem Verein neue Schichten, vor allem den grundbesitzenden Komitatsadel, zuführte. Den aristokratischen Herren traten somit - zumindest in Sachen Schafe, Klee, Stall und Feinheitsgrad von Wolle - kleinere Herren als Schüler, Partner und Vereinsgenossen an die

Johann Gottfried ELSNER, Ungarn durchreiset, beurtheilet und beschrieben. 2 Bde., Leipzig 1840. Für prestige-orientierte Schafhaltung vgl.: Andräs CSITE, Egy presztizsorientält nagybirtoküzem a 18.-19. szazad fordulojän, in: Imre KAPILLER (Hg.), Gazdasägtörteneti tanulmänyok. Zalaegerszeg 1993, S. 77-112. Es konnte auch ganz anders sein: In der Lombardei war die herausragende Eigenschaft des Vereinswesens die völlige Abstinenz des Staatsbeamtentums und sein Charakter als nationaler Gegenpol zum fremden Staat. Vgl. Marco MERIGGI, Das Bürgertum Mailands im Spiegel des Vereinswesens, in: STEKL, Durch Arbeit, S. 279-291.

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Seite. Dies hatte deswegen eine besondere Bedeutung, weil sich Aristokratie und gemeiner Adel in unterschiedliche Richtungen orientierten - die Aristokraten in Richtung Hof, der gemeine Adel in Richtung Ständepolitik. Die Gruppe um Szechenyi wich von der Tradition der Hofverbundenheit nur in Sachen Wirtschaftsverein ab, wo sie ein Diskussionsforum mit dem gemeinen Adel, dem zweiten Politikfaktor im Land, hatte.15 Im Vergleich zu den Kampfarenen Landtag und Komitatsversammlung eignete sich der Verein als neutrales Terrain besser zur Kooperation. Mit der Erweiterung der Vereinsaktivitäten wurde der notwendige Aufwand offenbar so erheblich, dass er nicht mehr nebenbei erledigt werden konnte. Die Aristokraten benötigten Mitarbeiter: Sekretäre, Journalisten, Organisatoren und Experten.

4. Von Bediensteten zu Experten und Angestellten Die Mitarbeiter der großen Herren kamen in der ersten Zeit des Vereins aus den Reihen der herrschaftlichen Bediensteten. Schon seit der Gründung des Pferderennvereins wurden Privatsekretäre eingesetzt, so wie auch bei anderen Unternehmungen von Szechenyi und seinen Freunden (Casino, Theater, Akademie). Diese meist juristisch gebildeten jungen Adligen kümmerten sich auch um die wohltätigen, kulturellen, ja sogar um die politischen Aktivitäten ihrer Magnaten. Im Wirtschaftsverein wirkten sie, wie in den Bildungsvereinen, in eigenem Namen und wurden dort meist auch in den Vorstand gewählt. Dennoch kamen sie nicht qua eigener Person dorthin, sondern, wenn auch unausgesprochen, als Vertreter ihrer jeweiligen Herren. Im Wirtschaftsverein wurden auf diese Weise recht bald „Fachleute" in den Vorstand berufen, in erster Linie Spezialisten auf dem Gebiet der Schafzucht.16 Für all diese Mitarbeiter der ersten Stunde galt, dass, obwohl sie juristisch und literarisch gebildet waren, vor allem ihre Vertrauensstellung zu ihrem jeweiligen Herrn zählte. Von Anfang an hatten sie auch in Bezug

Vgl. Läszlö P6TER, AZ arisztokräcia, a dzsentri es a parlamentäris traditio a XIX. szäzadi Magyarorszägon, in: DERS., AZ Elbätöl keletre, S. 187-218; DERS., The Aristocracy, the Gentry and their Parliamentary Tradition in Nineteenth CenturyHungary, in: The Slavonic and East-European Review LXX (1992), S. 77-110. Vgl. BRUCKMÜLLER, Landwirtschaftliche Organisationen. Für Ungarn vgl.: Andreis VÄRI, Az agrärertelmiseg helyzete a 19. szäzad elsö feieben, in: Szociolögiai Szemle 12 (2002), Nr. 2, S. 59-76.

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auf das Wettrennen vertrauliche Vereinsgeschäfte zu erledigen; so war beispielsweise die Abfassung der Regeln für die unterschiedlichen Rennen eine äußerst heikle Sache, da jeder diese im Hinblick auf die Vorzüge der eigenen Pferde modifizieren wollte. Auch in den 1840ern war es nicht einfach, im Feuergefecht zwischen der Metternich treuen Regierung und der liberalen Opposition Vereinsgeschäfte zu betreiben. Die Vertrauensmänner der Herren, ganz gleich, ob sie als „Privatsekretäre", „Herrschaftsanwälte" oder als „Wirtschaftsbeamte" bezeichnet wurden, setzten das Modell der herrschaftlichen Klientel fort. Sie dienten in der Regel lebenslänglich und identifizierten sich mit ihren Herren so vollständig, dass sie auch in Abwesenheit deren Interessen umfassend und selbständig zu vertreten wussten. Von der Klientel in anderen sozialen Kontexten unterschieden sie sich durch die formelle Anstellung. Im Gegenzug erhielten die meist aus ärmeren adligen Familien stammenden Bediensteten weit mehr als Unterhalt, nämlich die Chance des sozialen Aufstiegs; ja sogar die Chance, selbst in their own rights als Wissenschaftler, Schriftsteller, Theaterkritiker oder Experten des Pferderennens Ansehen zu gewinnen. Da die Öffentlichkeit der 1840er Jahre vor allem von Intellektuellen dominiert war, die Förderung erhielten oder sich eine solche erhofften, bestand eine Art gegenseitiger Übereinkunft, Herrn Laszlo Bärtfay (1797-1858) nur als Literaturkritiker und Kassenwart der Akademie der Wissenschaften wahrzunehmen, Herrn Lajos Kuthy (18131864) nur als Schriftsteller, Herrn Antal Tasner (1808-1861) als den Englandkenner und literary gentleman und keineswegs als Mitverwalter der 17

riesigen Vermögen der Grafen Kärolyi, Batthyany und Szechenyi. Mit der Erweiterung des Aktionsfelds des Wirtschaftsvereins stieg die Zahl der Mitglieder auf 1300 (1847) und entsprechend auch die Zahl der mitwirkenden Experten. Zwar gab es weiterhin nur ein halbes Dutzend bezahlte Angestellte, aber der Redakteur der Wochenzeitschrift des Vereins hatte ein landesweites Netz von Korrespondenten, von Organisatoren für Vereinsfilialen und Ausstellungen in der Provinz und von dergleichen mehr aufgebaut. Diese Erweiterung des um den Verein gespannten Netzes von Personen und Organisationen war möglich, weil die Mitarbeit im Verein eine Art Schützenhilfe für die Professionalisierungsbestrebungen der Wirtschaftsbeamten und Agrarexperten bedeutete. Wie ist das zu verstehen? Die Professionalisierung im Agrarbereich war verglichen mit Ärzten und Anwäl-

17

Zu Werke und Vita von Antal Tasner, Lajos Kuthy und Läszlö Bärtfay vgl. die einschlägigen Einträge in: Jozsef SziNNYEl, Magyar irök elete es munkäi. Bd. I XIV, Budapest 1890-1914.

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ten nur teilweise erfolgreich. Agronomie blieb eine Wissenschaft, bei der jeder von sich behauptete, über grundlegende Kenntnisse zu verfügen. Entsprechend schwierig war es für die Experten der Agrikultur, ihr Wissen als Geheimwissen (arcanum) darzustellen und fachspezifische Bildungsinstitute, -patente sowie ein an diese Qualifikationen gebundenes Monopol der Berufsausübung zu fordern. Die Tätigkeit im Verein diente daher dazu, auf Umwegen eine Prestigeerhöhung, gleichsam eine „Standeshebung" 18

von „Privatbeamten" zu „Experten" zu betreiben. Es ist bezeichnend, dass eine der am energischsten betriebenen Aktionen des Vereins auf die Einführung eines mit Landessteuern ausgestatteten fachlichen Bildungsinstituts zielte. Ein solches für damalige Verhältnisse ungeheuer kostspieliges Projekt konnte in Form einer Gesetzesvorlage 1844 sogar die Unterstützung der unteren Tafel des Landtags gewinnen und scheiterte lediglich an der vom König angeordneten vorzeitigen Schließung desselben. So konnten weiterhin nicht mehr als ein Viertel der im Verein dienenden Wirtschaftsbeamten eine Fachausbildung erhalten. Auch die soziale Distanz zur Aristokratie blieb bestehen. Zwar gingen die jungen Aristokraten aus patriotischer Pflicht zu den Sitzungen des Vereins und der Akademie; wie aus Korrespondenzen und Tagebüchern hervorgeht, langweilten sie sich dort jedoch zu Tode. Ihre Mitarbeiter betrachteten sie im Wesentlichen als nützliche Werkzeuge.19 Erst im letzten Drittel des Jahrhunderts lassen sich Beziehungen persönlicher Art zwischen Aristokraten und adligen Intellektuellen nachweisen.

5. Der Verein in seiner zweiten Etappe 1849-1867 Nach der Zäsur der Revolution und dem einjährigen Freiheitskrieg von 1848/49 wurde der Verein suspendiert. Das Vereinsvermögen, die Dienstleistungen, wie die Baumschule, sowie die Zeitschrift wurden von der „Besatzungsbehörde" einer von ihr eingesetzten kommissarischen Leitung übertragen, die aber nicht mehr zusammentrat und keine Sitzungen mehr 18

19

Andräs VARI, Privatbeamte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Ersatzbürger?, in: Ernst BRUCKMÜLLER u.a. (Hg.), Bürgertum in der Habsburgermonarchie. Wien/Köln 1990, S. 75-93; DERS., Alte und neue ländliche Lokaleliten im Prozeß der Bürokratisierung und Verbürgerlichung, in: STEKL, Durch Arbeit, S. 163-179. Im Ganzen oder teilweise publiziert gibt es Tagebücher von Graf Istvän Szechenyi, Baron Miklös Wesselenyi, Graf György Kärolyi, Graf Menyhert Lönyay und Baron Jözsef Eötvös.

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abhielt. Die den Verein konstituierenden Gruppen, Aristokraten und Experten, mussten schwere Erschütterungen hinnehmen. Als besonders einschneidend empfanden sie die auf die politische Kontrolle der Altkonservativen zielende Verfügung der ungarischen Statthalterei vom 12. Juli 1851, die die „Altkonservative(n) der neudestruktiven Bürokratie preisgegeben" hatte.20 Als einzige noch einigermaßen intakte, regierungsunabhängige Kraft im politischen System hatten sie den ganzen Druck des Neoabsolutismus zu tragen. Erste Annäherungen betrieb die durch das nicht pazifizierbare Ungarn und Italien ihrer Sicherheit beraubte kaiserliche Regierung in Richtung der konservativen Magnaten. Die anderen (liberalen, radikalen) Gruppen waren auch in Bezug auf die nationale Unabhängigkeit unnachgiebiger, die Konservativen schienen eine relative schmerzlose Alternative zum Neoabsolutismus zu bieten. So erhielt eine Gruppe konservativer Magnaten 1857 die Erlaubnis, zusammen mit dem damaligen österreichischen Kommissar, dem Agrarfachmann Läszlo Korizmics (1816-1886), den Wirtschaftsverein wiederzubeleben. Die Magnaten waren ihrem Selbstverständnis nach zwar weiterhin Repräsentanten des „Landes" gegenüber dem König, da aber dieser mit der Niederschlagung der Revolution blutige Rache am Land geübt hatte und seine Unterdrückungsmaschine weiterhin arbeitete, standen sie, was ihre Landestreue anging, vor der Öffentlichkeit in Beweisnot. Wieder einmal implizierten die als unpolitisch angesehenen Vereinsaktivitäten sehr wohl auch politische Dimensionen; wieder repräsentierten die Agrarexperten das patriotische Engagement ihrer Herren. Doch auch die Wirtschaftsbeamten standen unter Druck. Zum einen war ein großer Teil von ihnen in den Freiheitskrieg gezogen und ein noch größerer Teil hatte sich „aufrührerisch" in der Öffentlichkeit geäußert, wofür sie nach der Niederlage von 1849 zur Rechenschaft gezogen worden waren. Noch entschiedener wirkte sich allerdings die durch die Bauernbefreiung von 1848 ausgelöste Liquiditätskrise des Großgrundbesitzes aus. Einige Großbetriebe mussten aufgelöst, viele verpachtet oder parzelliert, die Gutsverwaltung und das Personal entlassen werden.21 Im Interesse der Wirtschaftsbeamten versuchte der wiederbelebte Verein nochmals in mehreren Anläufen bis zur Mitte der 60er Jahre staatlich finanzierte Fach-

Brief von Grafen György Andrässy an den Fürsten Ferdinand Bretzenheim, Hosszüret 16.9.1851. Die Korrespondenz von Bretzenheim wurde publiziert in: Eduard von WERTHEIMER, Zur Geschichte der ungarischen Altkonservativen. Theil II, in: Ungarische Rundschau 3 (1914), Η. 1, S. 52-78, hier S. 59. Antal VÖRÖS, A magyar mezögazdasäg a kapitalista ätalakuläs utjan (1849-1890), in: Peter GUNST/Tamäs HOFFMANN (Hg.), Α magyar mezögazdasäg a X I X - X X . szäzadban (1849-1949). Budapest 1976, S. 9 - 1 5 2 .

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hochschulen durchzusetzen, jedoch nur mit bescheidenem Erfolg. In dieser Zeit kam die formale Professionalisierung der Agrarexperten kaum voran. Die Position der Magnaten dagegen verbesserte und befestigte sich ab Ende der 50er Jahre aufgrund der Entspannung der politischen Verhältnisse sowie der günstigen Agrarkonjunktur erheblich. Diese gegenläufige Entwicklung bei den im Wirtschaftsverein mitwirkenden Gruppen verstärkte sich nach dem Ausgleich mit Ungarn von 1867. Es hätte den Land besitzenden Eliten zwar nun freigestanden, aus dem Wirtschaftsverein eine schlagkräftige landwirtschaftliche Interessenvertretung nach Art der deutschen Landwirtschaftskammer zu machen, Agrarfachhochschulen zu gründen und damit der Agrarintelligenz, ihren langjährigen Mitarbeitern, festere soziale Positionen zu sichern. Nichts davon geschah jedoch. Die Gründe sind wohl zweifach: 1. Ein großer Teil der Maßnahmen, alles was Fachinstitute, Qualifikationen und die Stärkung qualifizierter Bewerber auf dem Arbeitsmarkt betraf, hätte entweder den Großgrundbesitzern Kosten verursacht oder aus der Staatskasse, also aus Steuern finanziert werden müssen. 2. Die Grundbesitzerelite war darüber hinaus auch unabhängig von allfalligen Kosten auf beiden Ohren taub, wenn es um die Lebenslage und die Interessen ihrer Experten ging. Der lediglich instrumenteile Charakter der Einstellungen der Aristokraten zu den Intellektuellen zeigte sich auch im täglichen Umgang, in der weiterhin bestehenden Distanz zwischen Herren und Experten. In den 60er und 70er Jahren beteiligte sich keiner der großen Aristokraten mehr regelmäßig an der Vereinsarbeit, obwohl sie weiterhin den Vorstand stellten. Aber auch die Wirtschaftsbeamten schieden in dieser Zeit aus. Die Mitgliederzahl, die in der Phase des Wiederaufbaus 1857-1861 mit 1200 den Stand von 1847 erreichte, sank bis 1877 um fast die Hälfte auf etwas über 700 Personen. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war dreierlei: 1. Während es den Wirtschaftsbeamten nicht gelang, sich als neuer Berufsstand zu etablieren, und sie damit sozial abstiegen, wurden die aristokratischen Großgrundbesitzer noch reicher und mächtiger als zuvor. 2. Die Aristokraten hatten keinen Bedarf mehr nach einer aktiven, öffentlichen Rolle, für die sie die Beamten und Vertrauten gebraucht hätten. 3. Die Aristokraten begannen nunmehr, nicht nur als Agrarkapitalisten zu agieren, sondern sich auch am Eisenbahnbau und Bankgeschäft zu beteiligen. Als erfolgreiche Kapitalisten und als alte Aristokraten konnten sie die Trümpfe aus zwei unterschiedlichen Systemen kombinieren.

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Damit standen sie weit oberhalb der damaligen ungarischen Gesellschaft; ein Integrationsprojekt wie das des Grafen Szechenyi hatten sie nicht mehr nötig.

6. Der Wirtschaftsverein und die „Geldherrschaft" Mit dem Ausbruch der Absatzkrise in der Landwirtschaft seit 1879 nahm der Verein eine neue Wendung. Die immer weiter fallenden Getreidepreise brachten die gesamte Landwirtschaft um ihren Gewinn. Als Reaktion veranstaltete man eine Reihe von Kongressen, publizierte und gründete Zeitungen. Wenn man sich die publizistische Ernte der Jahre 1879-1890 anschaut, kann man jedoch feststellen, dass es den schreibenden und beratenden Grundbesitzern, Agrarexperten und Pächtern, den investierenden Agrarkapitalisten wie auch den auf dem bisherigen beharrenden Gutsbesitzern gleichermaßen schwer fiel, sich von der liberalen Freihandelstheorie zu verabschieden. Sie waren damit aufgewachsen und bis dahin gut gefahren. Alle Reformvorschläge, die halbwegs nach antiliberaler Kritik an der Wirtschaftspolitik aussahen, schienen für die damaligen Ansichten unerhört viele Befugnisse und Gelder dem Staat überantworten zu wollen. Dies galt insbesondere für die immer wieder zu hörende, aber bis 1893/94 nie ganz entschieden vertretene Forderung nach Schutzzöllen. Es ist schwer abzuschätzen, ob eine Schutzzollpolitik oder andere Maßnahmen geholfen hätten - es ging aber allemal um Maßnahmen, die die Regierung zu treffen hatte, nicht Vereine oder Fachkreise. Daher bestand die Rolle des Wirtschaftsvereins wohl eher darin, ein Diskussionsforum bereitzustellen, als konkrete Maßnahmen in der Agrar- und Handelspolitik auf den Weg zu bringen. Im Verein wurden wirtschaftspolitische Positionen diskutiert und formuliert, um so in den sich polarisierenden Debatten Verbündete zu finden. Trotz des langen Zögerns der Großgrundbesitzer in Bezug auf die Aufgabe der Freihandelspolitik gab es schon im ersten Jahr des Preisverfalls (1878) auf dem Kongress der Landwirte eine Reihe von Stimmen, die den Staat in die Verantwortung nehmen wollten und die Befürchtung äußerten, die alte Elite des Landes sei vom Staat verlassen und vergessen worden bzw. der Staat sei in fremde Hände gefallen. Das Bedürfnis nach Interessenvertretung der Landwirtschaft, nach Aktion, nach Bewegung ist offenbar deutlich früher geboren worden, als dass man klare politische Zielsetzungen gefunden hätte.

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Für die uns interessierende Frage nach Elitenvergesellschaftung ist die Neigung zur „rettenden Tat" bedeutsam geworden. Von dem Moment an, als die aristokratischen und adligen Großgrundbesitzer nach Mobilisierung strebten, brauchten sie wieder Verbündete und Helfer wie schon im Vormärz. Jedoch hatte sich die Situation der Agrarexperten in den drei Jahrzehnten nach 1849 erheblich verändert. Die Beschäftigungsverhältnisse unterschieden sich zwar nicht von den früheren, das Rechtsverhältnis war weiterhin das von Eigentümern und Privatangestellten mit gravierenden Unsicherheiten für letztere. Aber die Kommerzialisierung und Intensivierung der Landwirtschaft einerseits und das Fortschreiten der Agrartechnik seit den 1840ern andererseits hatte die Position der leitenden Wirtschaftsbeamten eindeutig gestärkt. Diese Tendenz beschleunigte sich in den 1880er Jahren, da die erste Antwort der Landwirtschaft auf den Preisverfall Intensivierung war. Die „Oberschicht" der Agrarexperten wirkte nun im Wirtschaftsverein und in seinen Komitatsfilialen aktiv mit. Die Reaktivierung als Mitglieder bescherte dem Verein neue Einkünfte, die bis 1891 soweit anstiegen, dass sie die Einnahmen aus den aristokratischen Stiftungskapitalien um ein Dreifaches überstiegen. In den 1880ern stellten jedoch nicht nur die Wirtschaftsbeamten die Aktivisten und Funktionäre des Vereins. Es kamen vielmehr eine ganze Reihe sozial schwer zuzuordnende Personen aus der Stadt hinzu - Bürokraten aus den Ministerien, Angestellte von Bodenkreditinstituten, Vertreter agrarrelevanter Industrieunternehmungen, Körperschaften u.a. Diese Entwicklung spiegelt einerseits die voranschreitende Bürokratisierung und Kommerzialisierung der Landwirtschaft wider, andererseits ist jedoch die Identifikation der außerhalb der Landwirtschaft beschäftigten Personen, vielfach städtischer Herkunft, mit dem Wirtschaftsverein auffallend. Schließlich hätten sich ein Ingenieur einer Budapester Dreschmaschinenfabrik, ein Taxator (Wertschätzer) des Bodenkreditinstituts mit Sitz daselbst oder der Besitzer einer Budapester Samenhandlung nicht unbedingt mit den Agrarproduzenten identifizieren müssen. Sie taten es aber, und zwar zuhauf. Es drängt sich daher die Vermutung auf, dass für diese Gruppe die Landwirtschaft zum Gegenpol des Finanzkapitals und als solcher symbolisch überhöht wurde, um so ihre eigene Identität zu modellieren. Wie auch immer, wir haben im Wirtschaftsverein nach drei Jahrzehnten von Passivität in den 1880er Jahren wieder junge, aktive, sich erstaunlich „bürgerlich" gebärdende, ernsthaft studierende und arbeitende Aristokraten vor uns, die sozialkonservative Reformpläne entwickelten. Auch diejenigen unter ihnen, die als Landtagsabgeordnete in der liberalen Regierungspartei saßen, unterstützten die Pläne des Vereins. Ob diese irgendwo umgesetzt wurden, beschäftigt uns hier nicht. Was uns aber interessiert,

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ist, dass die jungen Herren, und das ist neu, ihre Ideen zum einen aus zeitgenössischen Sozial- und Wirtschaftstheorien schöpften, zum anderen ihre Entwürfe mit systematisch gesammelten Daten aus der wirtschaftlichen Praxis unterfütterten. Das war die Haltung eines modernen Intellektuellen. Unterstützt wird diese Beobachtung darüber hinaus durch den Diskussionsstil, den die aristokratischen Konservativen (sowohl Vereinsmitglieder wie auch einige Publizisten außerhalb des Vereins) in den 80er Jahren an den Tag legten, denn sie vermieden in den Debatten über ihre Reformvorschläge (homestead, bäuerliches Erbrecht etc.) alles, was hätte autoritär oder konfessionell gebunden erscheinen können. Dagegen argumentierten ihre liberalen Gegner erheblich „herrischer". Die Verhaltensweisen der jungen Aristokraten stärkten auch die Bedeutung ihrer intellektuellen Partner, der Experten. Der doppelte Anspruch der Aristokraten sowohl auf eine aktive, eingreifende Politik als auch auf eine wissenschaftliche Begründung für dieselbe scheint den Kitt bereitgestellt zu haben, der die Gruppen im Wirtschaftsverein doch noch aneinander band. Am Ende verringerte sich folglich die soziale Distanz zwischen den beiden Gruppen, den wirtschaftspolitisch aktiven Großgrundbesitzern und der Agrarintelligenz, doch noch erheblich. Nachzuweisen ist diese These nur schwer, zu messen ist sie schon gar nicht. Es lassen sich jedoch in den 1880er Jahren Beispiele finden, die von einer über das Notwendige und Funktionelle weit hinausgehenden Anerkennung sowohl in den Beziehungen zwischen aristokratischen Arbeitgebern und ihren angestellten Experten als auch in den Beziehungen zwischen den aristokratischen Patronen oder, besser gesagt, den Herren des Wirtschaftsvereins und den in den Partnervereinen arbeitenden Intellektuellen zeugen. Auf etwas festeren Boden gelangt man für die hier nicht mehr zu behandelnden 90er Jahre. Was zunächst auffällt, sind die steilen Karrieren der früheren intellektuellen Bediensteten von großen Herren. In diesem Jahrzehnt wurde aus so manchem Vereinsaktivisten, Journalisten und Experten der früheren Jahre ein Parlamentsabgeordneter. Darüber hinaus gibt es immer wieder Beispiele von größerer Rücksichtnahme, höflicheren Umgangsformen der Herren mit ihren Bediensteten, ja es lassen sich sogar vereinzelt Freundschaften unter Aristokraten und Intellektuellen finden. Im Vergleich mit dem Wandel in der Weltgeschichte sind die Geschehnisse in und um den Ungarischen Landes-Wirtschaftsverein freilich vordergründig belanglos. Auch für die Umgestaltung der Beziehungen zwischen Aristokraten und Intellektuellen gab es selbstverständlich weitere Schauplätze - so beispielsweise die Salons, wo sich Künstler und Aristokraten trafen und sich ebenfalls befreundeten.

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Dennoch hat die Vergesellschaftung von Aristokraten und Agrarexperten in den 1880er Jahren ihren besonderen Reiz. Denn diese Phase des Vereins unterscheidet sich von dem vormärzlichen Vorhaben Szechenyis ganz erheblich: Szechenyi und seine Freunde hatten noch keine Angst vor Wirtschaftsliberalismus. Dagegen versuchte man in der agrarischen Bewegung der 1880er zuerst mit Forderungen nach Wirtschaftsforderungsmaßnahmen, später mit dem Ruf nach Schutzzöllen und zuletzt mit einer Genossenschaftsbewegung gegen die Dynamiken des Weltmarkts anzu22

kämpfen. In der Weiterentwicklung der Zielsetzung des Vereins richteten sich diese Auseinandersetzungen - und darüber waren sich die jungen Aristokraten schon Anfang der 1880er im Klaren - gegen die Macht des Geldmarkts, gegen die Herrschaft des Kapitals und gegen eine liberale politische Ordnung, die all dies ermöglichte und kaschierte. In dieser antiliberalen agrarischen Bewegung, dessen Flaggschiff der Ungarische

Landes-Wirt-

schaftsverein war, fanden die Gruppen des Vereins endlich zueinander. Im Rahmen eines gemeinsamen Anliegens - dem Versuch, die als zerstörerisch angesehenen Kräfte des Weltmarkts zu bändigen, d.h. gegen Elemente der Moderne, vor allem gegen den Kapitalismus anzutreten kamen sich Herren und Intellektuelle entgegen. Die Arena der Gruppen war die Vereinstätigkeit - oder der Schauplatz der konservativ-aristokratischen Auseinandersetzung mit wirtschaftlicher Modernisierung. A m Ende dieser Entwicklung fanden sich zunehmend Gruppen, deren Verbundenheit mit der Landwirtschaft inszeniert, erfunden war. Neben dem realen sozialen Positionskampf verlief eine virtuelle Konkurrenz um symbolische Präsentation. Einige Akteure machten hier, andere dort, noch andere in beiden dieser Wettbewerbe mit. Gab es auch symbolische Arenen? Oder virtuelle Kämpfer in realen Arenen? Oder ist der Wunsch, die historisch bedeutsamen Akteure an besonderen Orten, in „Arenen", aufeinander treffen zu lassen, auch eine bloße Utopie des verzweifelten Historikers, dem Wunsch nach kollektiven Hauptdarstellern (Klasse, Stand, Stamm, Geschlecht usw.) nicht unähnlich? Jedenfalls stand eine solche Utopie hinter der Beschäftigung mit dem langlebigen und einflussreichen Ungarischen Landes-Wirtschaftsverein.

Vgl. Hans-Jürgen PUHLE, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservativismus im wilhelminischen Reich (1893-1914). Hannover 1967; Jens FLEMMING, Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie: ländliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat 1890-1925. Bonn 1978.

WLTOLD

MOLIK

Polnische Landwirtschaftsvereine im Großherzogtum Posen im 19. Jahrhundert

1843 stellte ein anonymer Publizist in einer Posener Zeitschrift fest: „Zweifelsohne muss der zukünftige Historiker seine Aufmerksamkeit auf die Landwirtschaftsvereine [Towarzystwa Rolnicze] richten, wenn er etwas über den Fortschritt des Geistes in diesem polnischen Lande sagen will".1 Schon in ihrer Entstehungszeit erkannte man geradezu prophetisch die maßgebliche Rolle der Landwirtschaftsvereine für die polnische Nationalbewegung und das Wirtschaftsleben des Großherzogtums Posen. Im systematisch entwickelten und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit ausgebauten System polnischer Organisationen in dieser Provinz nahmen die Landwirtschaftsvereine eine Führungsposition ein.2 Ihre Gründung ging der Entstehung anderer polnischer Wirtschafts-, Sozial- und Bildungsvereinigungen voraus. Vor diesem Hintergrund ist die geringe Zahl von Untersuchungen über die Landwirtschaftsvereine erstaunlich, die nur einen kleinen Teil des reichen Schrifttums über die polnische Nationalbewegung und die Entwicklung der Landwirtschaft im Großherzogtum Posen ausmachen. Bislang hat man lediglich die Umstände ihrer Entstehung und ihre Aktivitäten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erforscht.3 Die Geschichte des 1861 ge-

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„Jest rzeczn niew^tpliw% ze nawet przyszty historyk b?dzie musiat zwröcic uwag$ na towarzystwa rolnicze, jezeli b?dzie chciat cos powiedziec ο postQpie ducha na tej ziemi polskiej", in: Dziennik Domowy (1843), Nr. 15, S. 113 [Alle Zitate aus dem Polnischen übersetzt von Christian MYSCHOR], Über das Organisationssystem der polnischen Nationalbewegung im Großherzogtum Posen mehr in: Witold MOLIK, The Poles in the Grand Duchy of Poznan 1850-1914, in: Andreas KAPPELER (Hg.), The Formation of National Elites. Dartmouth 1992, S. 13-39, hier S. 19f. Witold JAK0BCZYK, Pierwsze Centraine Towarzystwo Rolnicze w Poznanskiem, in: Roczniki Historyczne 15 (1939), S. 83-115; DERS., Studia nad dziejami Wielkopolski w XIX w. (dzieje pracy organicznej). Bd. I, Poznah 1951, S. 35-60; Oberfläch-

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gründeten Landwirtschaftlichen Zentralvereins [Centraine Towarzystwo Gospodarcze, CTG] und seiner Filialen, der Kreisvereine, wartet weiterhin auf eine systematische Aufarbeitung.4 Trotz dieser großen Lücken in der Historiographie wissen wir jedoch bedeutend mehr über die Aktivitäten der polnischen Landwirtschaftsvereine als über die vergleichbaren deutschen Vereine im Großherzogtum Posen, die bisher nicht einmal ansatzweise Gegenstand der Forschung geworden sind. Die jährlichen Rechenschaftsberichte des Vorstands und die umfangreichen Berichte von den Hauptversammlungen des Landwirtschaftlichen Zentralvereins wurden im Ziemianin [Der Landadlige] und anderen polnischen Zeitschriften veröffentlicht. Seine Tätigkeit wurde von den preußischen Behörden streng kontrolliert. Auf jeder Hauptversammlung des Zentralvereins war ein Kommissar der Posener Polizeidirektion anwesend, der ein Protokoll erstellte, und jede deutsche Übersetzung des Jahresberichts des Vereinsvorstands schickte man nach Berlin an das Innenministerium. Diese Protokolle und ihre Übersetzungen sowie andere Akten befinden sich heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem.5 Daher ist die Dokumentation der polnischen Landwirtschaftsvereine im Großherzogtum Posen trotz Zerstörung ihrer Archive im Zweiten Weltkrieg durchaus gut erhalten und bildet die Grundlage fur die Erweiterung unseres wissenschaftlichen Fragenkatalogs. Anhand der Entwicklung der polnischen Landwirtschaftsvereine geht die folgende Untersuchung der Frage nach, in wieweit und unter welchen Bedingungen es dem polnischen Landadel im Zuge seines Wandels zu einer Wirtschaftselite gelang, seine Stellung als Elite in der Nationalbewegung zu behaupten und Vertreter anderer gesellschaftlicher Schichten erfolgreich in die von ihm dominierten Institutionen einzubinden. Nachdem das Posener Gebiet 1815 erneut an Preußen gefallen war, befanden sich die Großgrundbesitzer in der Provinz in einer äußerst schwierigen Lage. Viele hatten aufgrund ihres patriotischen Engagements während der napoleonischen Kriege, durch den Novemberaufstand von 1830/31, durch schlechte Bewirtschaftung und Missernten sowie einen verschwenderischen Lebensstil nicht mehr die notwendigen Mittel, um die

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lieh auch in: Zbigniew ZAKRZEWSKI, Towarzystwa ekonomiczne W Wielkopolsce. Szkic historyczny, in: PoznaAskie Roczniki Ekonomiczne 21 (1968), S. 243-264. Grundlegende Quelle für die Geschichte des CTG ist bislang: KsiQga jubileuszowa wydana w 50-t^ rocznicQ zatozenia Centrainego Towarzystwa Gospodarczego w Wielkiem Ksi^stwie Poznanskiem. PoznaA 1911. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin [im Folgenden: GStA PK], Rep. 77, Tit. 862, Nr. 5, Bd. 1-3; Rep. 87 B; Nr. 20.597-20.598, Nr. 21.021, Nr. 21.048.

Polnische Landwirtschaftsvereine im Großherzogtum Posen

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bei preußischen Banken aufgenommenen hohen Kredite abzuzahlen; die Schuldsumme belief sich um 1800 auf insgesamt zwölf Millionen Taler.6 Nach der Bauernbefreiung von 1823 kamen noch die hohen Kosten für die Anpassung der Gutsbetriebe an die Geldwirtschaft hinzu, wie etwa der notwendige Ankauf von Vieh und von Landmaschinen, die die Adelsgüter in der Zeit der Fronwirtschaft nicht benötigt hatten. Auch das Fehlen einer Möglichkeit, günstig Kredite aufzunehmen, machte sich empfindlich bemerkbar. Die Politik der preußischen Regierung wollte dem polnischen Adel versöhnlich entgegen treten und gab 1821 ihre Zustimmung zur Gründung des landwirtschaftlichen Kreditinstituts in Posen, was so manchen Grundbesitzer „vor dem völligen Ruin" rettete. Ein nicht unerheblicher Teil des polnischen Adels konnte seine finanziellen Schwierigkeiten allerdings nicht mehr überwinden und ging bankrott. Bis 1828 mussten im Großherzogtum Posen von 1405 Rittergütern 172 zwangsversteigert werden, und mindestens ebenso viele standen im selben Jahr unter Zwangsverwaltung.7 Vom schnellen Übergang polnischer Güter in deutsche Hand beunruhigt, suchte man in Adelskreisen nach Präventivmaßnahmen. Der Adel war sich der Tatsache bewusst, dass das weitere Schicksal der polnischen Gutsbesitzer vor allem von ihnen selbst abhing - von ihrer Entschlossenheit sowie ihrer „moralischen und wissenschaftlichen Ausbildung". Sie beobachteten das soziale, politische und wirtschaftliche Leben in den entwickelten Ländern Westeuropas genau und glaubten fest an die Kraft, die gegenseitige Hilfe und gemeinschaftliches Handeln mit sich brachten. Wie die Protagonisten der sich gerade formierenden inteligencja wiesen sie mit Nachdruck auf die von der polnischen Gesellschaft zu erbringenden Anpassungsleistungen an den sozialen und ökonomischen Wandel sowie auf die damit verbundenen Gefahren für den Fortbestand der nationalen Identität hin. Aus den weitgehend konvergent geführten Debatten in der inteligencja und im Gutsadel erwuchs in den 1830er Jahren das Programm der so genannten Organischen Arbeit \praca organiczna]. Dieses zielte sowohl auf die Pflege der nationalen Tradition als auch auf den landwirtschaftlichen „Fortschritt", die Förderung von nationalen Bildungseinrichtungen sowie 6

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Wlodzimierz Adolf WOLNIEWICZ, Ο gospodarstwie maj^tkowem czyli ο stosunkach finansowych W. Ks. PoznaAskiego. Leszno 1855, S. 33. Vgl. auch: Witold MOLIK, Rozrzutnosc i oszcz^dnosc ζίβηώήβΙλνΒ polskiego w zaborze pruskim w XIX i na pocz^tku XX wieku, in: Janusz TAZBIR/Andrzej Kazimierz BANACH (Hg.), Rozrzutnosc i sk^pstwo w tradycji kulturowej i rzeczywistosci. Krakow 2005, S. 133-154. Reinhart KOSELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. 2. Aufl., Stuttgart 1975, S. 512. JAKÖBCZYK, Studia, S. 55.

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die Grundlegung eines eigenen Handels- und Industriewesens. Um diese Ziele zu verwirklichen, wurde eine Vielzahl von Vereinen ins Leben gerufen. Der Assoziationsgeist erfasste immer weitere Kreise unter den „aufgeklärten Schichten" der polnischen Gesellschaft.9 „In unserem Posenschen" - so schrieb ein Publizist 1843 - „entsteht beinahe Monat für Monat irgendeine Gesellschaft, die edle oder wohltätige Dinge zum Zwecke hat. Endlich entwachsen wir der Manie, Pläne zu machen, wie sie zu früheren Zeiten nur so hagelten, jedoch nie zur Verwirklichung kamen."10 In der Tat scheiterten die ersten Gründungsversuche von polnischen Gesellschaften meist rasch - nicht zuletzt aufgrund der negativen Haltung, welche die preußischen Behörden dazu einnahmen. Schon am 20. August 1821 beschlossen einige polnische Grundbesitzer, einen Bauernverein für das Großherzogtum Posen [Towarzystwo Rolnikow Wielkiego Ksiqstwa Poznanskiego] zu gründen. Aus dessen Statut geht hervor, dass die Landwirte sich auf den wirtschaftlichen und sozialen Wandel einzustellen versuchten und ihre Güter nach westeuropäischem Vorbild modernisieren wollten. Die Mitglieder des Vereins sollten sich gegenseitig Hilfe leisten und „alle positiven und negativen Erfahrungen" miteinander teilen, „um aus der Landwirtschaft die größtmöglichen Gewinne zu ziehen".11 Sie suchten eine Verständigung mit der Bauernschaft, um dieser bessere Bewirtschaftungsmethoden sowie zivile Verhaltensnormen - so etwa die Achtung fremden Eigentums und solide Arbeit - nahe zu bringen. Es sind allerdings keine weiteren Quellen über diesen Verein erhalten. Wir wissen also nicht, ob er eine breitere Tätigkeit entfaltete und ob die preußischen Behörden ihn überhaupt genehmigten. Jedenfalls bemühten sich die polnischen Grundbesitzer und katholischen Priester in den folgenden Jahren weiterhin um die Schaffung von Vereinen zur Umgestaltung der Verhältnisse in verschiedenen Lebensbereichen. Sie waren „überzeugt, dass man dem gemeinsamen Ziel des öffentlichen Wohls nur mit vereinten Kräften 12 stetig und wirksam näher kommen könne". Am 30. April 1828 versam-

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Przemyslaw M a t u s i k , Idea pracy organicznej w Poznanskiem w dobie Karola Marcinkowskiego, in: Kronika Miasta Poznania (1996), Nr. 3, S. 70. „U nas w Poznahskiem powstaje co miesi^c jakies towarzystwo zamiar szlachetny lub dobroczynny na celu maj^ce. Wychodzimy juz znacznie ζ manii robienia projektow, ktore dawniej sypaly si