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German Pages 105 [112] Year 1930
Die am
6. Juli 1906 gegründete
Straßburger
Wissenschaft-
l i c h e G e s e l l s c h a f t , die 1919 ihren Sitz nach Heidelberg und 1929 nach Frankfurt/M. verlegt hat und Vertreter
aller Zweige der Wissenschaft
umfaßt, veröffentlicht wissenschaftliche Arbeiten verschiedenen Inhalts und Umfangs, die in zwangloser Folge erscheinen und einzeln käuflich sind. Eine Zusammenfassung in Bänden ist nicht beabsichtigt.
Yon der ersten
Reihe dieser Schriften sind 37 Hefte erschienen; im Jahre 1920 ist eine neue Folge begonnen worden.
Schriften der Straßburger Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Universität Frankfurt/M. Neue Folge 11. Heft
Aufbau und Sinn des
Chorfinales in
Beethovens neunter Symphonie von
Otto Baensch
1930 WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G. J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J . GUTTENTAG, BUCHHANDLUNG
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GEORG REIMER
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KARL J . TRÜBNER
BERLIN UND LEIPZIG
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VERLAGS-
VEIT & COMP.
Aufbau und Sinn des
Chorfinales in
Beethovens neunter Symphonie von
Otto B a e n s c h
Übe nicht allein die Kunst, sondern dringe auch in ihr Inneres; sie verdient es, denn nur die Kunst und die Wissenschaft erhöhen den Menschen bis zur Gottheit. Beethoven.
1930 WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G. J: GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG
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GEORG REIMER
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KARL J. T R Ü B N E R
B E R L I K UND L E I P Z I G
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VEIT & COMP.
Vorrede. Das Chorfinale in Beethovens neunter Symphonie hat bis heute noch nicht eine so allgemeine und vorbehaltlose ästhetische Anerkennung gefunden, wie man sie bei der Größe seines Ruhmes erwarten sollte. Sein musikalischer Aufbau gilt mehr oder minder als „formlos", und auch sein musikalischer Gehalt wird vielfach angefochten. So schreibt selbst der hochverdiente Beethovenforscher Theodor von Frimmel: „Die in unseren Tagen zu beobachtende großartige Wirkung des erhabenen Werkes ist gewöhnlich nur durch den Schluß gestört, den man rundweg als lärmend bezeichnen darf . . ., daß es fast so klingt, als ob eine Regimentsmilsik abzöge. Man hätte nach dem runderen Wohlklang der übrigen großartig aufgebauten Symphonie nicht diese scharfen Klänge erwartet" (Beethovenhandbuch, 1926, Bd. I I Seite 296f.). Oder man lese das wohlüberlegte Urteil eines Musikschriftstellers unserer Tage: „Das Ganze zerfällt und zerflattert; es hat wohl Steigerungen und Höhepunkte, aber keinen Höhepunkt, wenigstens keinen, der in Form und Stil seine Begründung fände. Daß dies die Macht des Satzes gegen die vorangegangenen herabsetzt, ist klar . . . Daß gleichwohl der Satz Stellen von einer wahrhaft Beethovenschen Macht und Tiefe hat, bedarf keiner Erwähnung. Sie stehen aber wie Torsi in dem großen Torso dieser Mißgestalt, die so, wie sie auf uns gekommen ist, als Ganzes nur den Eindruck einer ebenso qualvollen wie quälenden Ekstase erzeugt" (Walther Krug, Beethovens Vollendung, eine Streitschrift, 1925, Seite 130f.). In noch höherem Maße, als die Musik, wird Beethovens Textgestaltung beanstandet, sofern man es überhaupt für der Mühe wert erachtet, über diese nachzudenken. Der ausgezeichnete Musikgelehrte Alfred Einstein spricht von der „textlich vergewaltigten Schillerschen Ode", die nur „Mittel zum Zweck" sei (Geschichte der Musik: Aus Natur und Geisteswelt, 438. Band, dritte Auflage, 1927, Seite 93). Unter Vergewaltigung versteht man einen wertvermindernden Eingriff. Der reife Schiller hielt die Freudenode für ein „schlechtes Gedicht". Beethoven hätte demnach seltsamerweise ein schon an sich schlechtes Gedicht geflissentlich noch weiter verschlechtert, um damit ein wohlgeeignetes Mittel zu erhalten zu dem Zwecke, der letzten und größten seiner Symphonien musikalisch den ihrer würdigen Abschluß geben zu können! (Siehe hierzu Seite 77 Anm. 2.) Derlei sehr weit verbreiteten Ansichten gegenüber versuchen die folgenden Blätter eine Rechtfertigung oder, um den uns durch Lessing geläufigen Ausdruck zu gebrauchen, eine „Rettung" des Chorfinales und zugleich auch eine
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„ R e t t u n g " der neunten Symphonie in ihrer Ganzheit: Beethoven hat allerdings Schillers „schlechtes Gedicht" frei als Mittel benutzt, aber als Mittel zu dem es adelnden Zwecke, ein in seiner Gattung unerhört neues, gedanklich überwältigend großartiges und formal höchst vollkommenes Wort- und Tonwerk zu erschaffen, das den mächtigen Gesamtbau der neunten Symphonie sinngemäß krönt. Wie diese Behauptung näher zu verstehen ist, möge man in der Abhandlung selbst nachlesen! Hier sei noch gesagt, daß der Verfasser es ursprünglich allein auf die Ergründung der musikalischen Form des Chorfinales abgesehen hatte. Daß diese Ergründung zu einer „Rettung" führen müsse, konnte er wohl im Lichte allgemeiner ästhetischer Grundsätze vorausahnen, nicht aber, daß die Rettung der musikalischen Form überhaupt erst den Schlüssel zur Einsicht in den Sinngehalt zunächst des Chorfinales selbst, dann aber auch der ganzen Symphonie darbieten würde. Wirklich bildet denn auch das erste Hauptstück so recht eigentlich die Erkenntnis- und Beweisgrundlage f ü r die andern beiden Hauptstücke. Indessen glücklicherweise nicht im selben Maße auch die Verständnisgrundlage! Der Verfasser hat sich nach Möglichkeit bemüht, das zweite und das dritte Hauptstück auch für solche Leser genießbar und faßlich zu machen, denen musikalische Formuntersuchungen ganz ferne liegen, und die einen leichteren, für jeden Gebildeten beschreitbaren Zugang zum Verständnisse der geistigen Bedeutung der Symphonie zu finden erwarten. Solche Leser seien deshalb gebeten, nach der Einleitung alsbald zum zweiten Hauptstücke fortzugehen und sowohl in diesem, wie im dritten Hauptstücke die wenigen auf die musikalischen Formfragen zurückgreifenden Absätze einfach zu überschlagen. Es bleibt dem Verfasser an dieser Stelle noch übrig, allen denen herzlich zu danken, die ihn bei seiner Arbeit liebenswürdigst unterstützt haben: Herrn Bibliothekassessor Dr. Halm-München, dem Antiquariat von Leo Liepmannssohn-Berlin, Herrn Geheimrat Prof. Dr. Sandberger-München, dem Verlage von B. Schotts Söhnen-Mainz, Herrn Oberbibliothekar Dr. Schulz-München, Herrn William Wallace-London, Herrn Prof. Dr. Johannes Wolf-Berlin und Freiher ϊ η Hans von Wolzogen-Bayreuth. Ganz besonders aber ist der Verfasser der S t r a ß b u r g e r W i s s e n s c h a f t l i c h e n G e s e l l s c h a f t verpflichtet, weil sie ihm die Veröffentlichung der hiermit vorliegenden Schrift ermöglichte. Ihr sei deshalb für dieses große Entgegenkommen sein innigster Dank ausgesprochen. M ü n c h e n 1930.
Otto Baensch.
I n h a l t . Einleitung
Seite 3
Die Form der Musik
„
6
Der musikalische Aufbau und der Sinn der Dichtung .
„
22
Der Gesamtsinn der neunten Symphonie
«69
Formtafel
„97
O. B a e n s c h , Aufbau und Sinn des Chorflnales in Beethovens neunter Symphonie.
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Einleitung. Ich wünsche, daß er stets fortfahre, das Höhere und Wahre im Gebiete der Kunst immer mehr und mehr aufzudecken; dies dürfte das bloße Silbenzählen wohl nach und nach in Abnahme bringen. Beethoven.
Die folgenden Untersuchungen wurden zunächst in rein musiktheoretischer Absicht begonnen. Nachdem die bisherigen Erklärungen für den musikalischen Aufbau des großen Chorfinales in Beethovens neunter Symphonie — von Hennig, Kretzschmar, Thayer-Deiters, Frimmel, Schenker und anderen — mich unbefriedigt gelassen hatten, machte ich mich selber an die Lösimg der schwierigen Aufgabe. Nach langem, vergeblichem Suchen fand ich endlich eine Erklärung, die mich voll befriedigt. Ich bin überzeugt, daß sie, wenn es erlaubt ist, dies so offen auszusprechen, „die" richtige ist. Diese Überzeugung gründet sich einmal darauf, daß meine Erklärimg alle Einzelheiten vom Ganzen her zu begreifen erlaubt, so daß keine mehr als ausschweifende Sonderbarkeit erscheinen kann, und ferner und vor allem darauf, daß nach meiner Erklärung sich das Chorfinale als eine musikalische Architektur von allerhöchster Vollkommenheit erweist, der gegenüber jeder, auch der leiseste Vorwurf der Formlosigkeit verstummen muß. Meiner Ansicht nach ist es eine Voraussetzung, die a priori gilt, daß ein Kunstwerk, dessen ästhetische Wirkungskraft erprobt ist, niemals formlos sein kann.1) An der ungeheuren ästhetischen Wirkungskraft des Chorfinales aber gibt es keinen ernst zu nehmenden Zweifel. Zudem ist sein Schöpfer der reife Beethoven, ein Künstler also, dessen überragender Kunstverstand feststeht, so daß es mithin ganz unwahrscheinlich ist, daß er hier versagt haben sollte. Daraus folgt, daß nur eine solche Erklärung der formalen Beschaffenheit des Chorfinales richtig sein kann, die seine Formvoll1
) Vgl. meinen Aufsatz „Kunst und Gefühl" in der Zeitschrift „Logos" Bd. XII, Heft 1, Tübingen 1923, und dazu meinen auf dem dritten Kongreß für Ästhetik erstatteten Mitbericht über Rhythmus in der Zeitschrift für Ästhetik Bd. XXI Seite 98, Stuttgart 1927. Georg Göhler nennt („Die Musik" Jahrgang 1,1902, Seite 1090) das Chorfinale „eine große rhapsodische Phantasie". Karl Nef (Die Neun Symphonien Beethovens, Leipzig 1928, Seite 301) behauptet, „daß das Finale nicht die geschlossene Form hat, wie sonst alle Sinfoniesätze Beethovens. In seiner Art ist es ganz herrlich und unübertrefflich, nur läßt sich nicht sagen, es sei keine Note zuwenig oder zuviel, die unbedingte formale Abrundung fehlt". Derlei Ansichten halte ich schon grundsätzlich für falsch und, sich bei ihnen zu beruhigen, wissenschaftlich nicht für zulässig. Vgl. später Seite 63 Anm. 2. 1*
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endetheit dartut. Meine Erklärung leistet dies. Ich glaube nicht, daß eine andere Erklärung möglich ist, die das gleiche im gleichen Maße leistete. In einem Aufsatze der „Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung" des Jahres 1824x) war der Musikkritiker und spätere berühmte Theoretiker Adolf Bernhard Marx für „eine geistigere Auffassung der Tonkunst" eingetreten und hatte dabei ausgeführt, daß sich „über dem bloßen verständigen Erkennen der Form eines Kunstwerkes und über der bloßen sinnlichen und allgemeinen Gefühlsanregung noch etwas Höheres in den Werken der Tonkunst kundgebe". 2 ) Marx hatte sodann das „Höhere" dadurch erklärt, „daß ein Tonstück fähig war, eine Idee — bestimmte Vorstellungen anzuregen". 3 ) „Auf diese Stelle nahm Beethoven Bezug, als er am 15. und 19. Juni 1825 (prägnanter am neunzehnten) sagte: ,Ich wünsche, daß er [Marx] stets fortfahre, das Höhere und Wahre im Gebiete der Kunst immer mehr und mehr aufzudecken; dies, dürfte das bloße Silbenzählen wohl nach und nach in Abnahme bringen'." 4 ) In einem Konversationshefte vom März 1827 sagt Schindler zu Beethoven: „Sie sind heute recht wohl, da könnten wir wieder etwas poetisieren, ζ. B. vom B-dur-Trio, wo wir letzthin unterbrochen wurden." Und dann: „Ja, Bester! das geht nicht, so weit versteige ich mich nicht, und muß Ihre Sache sein, wenn Sie wieder gesund sind." Zu diesen seinen Worten setzt Schindler die Anmerkung hinzu: „Im Vorgefühl seiner baldigen Auflösung (ein Gefühl, das ihn in jenen Tagen öfters beschlich) verlangte er hier von mir, ich sollte seine Intentionen bei den Sinfonien und Klavierwerken gelegentlich publizieren." 5 ) Unter den „Intentionen" sind hier, wie der Zusammenhang zeigt, nicht musikalische, sondern nur poetische Intentionen zu verstehen. Eingedenk dieser Aussprüche und dieser Forderungen Beethovens — denen sich noch manche ähnlich lautende an die Seite stellen ließen6) — wandte *) Nr. 19—21 (Seite 165f., 173f., 181f.) 2 ) Ebenda Seite 183 b. 3 ) Ebenda Seite 183b. 4 ) Dieser Satz nach: Adolf S a n d b e r g e r , Ausgewählte Aufsätze zur Musikgeschichte Bd· II, München 1924, S. 30; siehe dort auch S. 82. Vgl. dazu: Max U n g e r , Beethoven und seine Verleger usw., Berlin 1921, Seite 89f. 6 ) Siehe K e r s t , Die Erinnerungen an Beethoven, Stuttgart 1913, Bd. II Seite 275. e ) Vgl. P a u l B e k k e r , Beethoven, 8.—10. Tausend, Berlin 1912, Seite 75ff. (über „die poetische Idee"). Mit Recht wollte Beethoven freilich von wildem Poetisieren nichts wissen, wie Schindler berichtet (vgl. seine Beethovenbiographie, Neudruck von Kalischer, Berlin und Leipzig 1909, Seite 150 und besonders Seite 559). Aber anschließend (Seite 560ff.) erzählt Schindler, daß Beethoven die Ausdrücke „poetische Idee" und „poetischer Inhalt" oft zustimmend gebraucht habe, und bringt dann im folgenden manches zur Erläuterung bei (vgl. auch Seite 202). Sporschil gegenüber äußerte sich Beethoven dahin, daß jedem seiner Werke „eine psychische Idee" zugrunde liege (siehe Hans V o l k m a n n , Neues über Beethoven, Berlin und Leipzig 1905, Seite 83). Über poetisierende Musikauslegung vgl. meinen Aufsatz .Kunst und Gefühl" a. a. O. Seite 20f. Sehr lesenswert sind die Ausführungen von Hans B o e t t c h e r (Beethoven als Liederkomponist, Augsburg 1928, Seite 25) über das Verhältnis von Gedanke und Musik bei Beethoven.
ich nun mein Augenmerk dem Chorfinale zu, soweit es Vertonung des Schillerschen Textes ist. Die schwierige Aufgabe, die „Idee" eines Werkes der reinen Instrumentalmusik zu ergründen, liegt hier nicht vor, der Text muß hier die Idee an die Hand geben. Wenn Beethoven das „bloße Silbenzählen", wozu ja auch Formuntersuchungen gehören, verpönt, so beweist doch das Beiwort „bloße", daß er das „Silbenzählen" nicht ganz verwirft, wenn es nur auch zur Gewinnung einer höheren geistigen Auffassung betrieben wird. In der Tat bedarf die w i s s e n s c h a f t l i c h e Erforschung der „Idee" eines Musikwerkes des vorherigen „Silbenzählens", zumal der Feststellung des formalen Aufbaues. Geniale Intuition kann diese Vorstufe überspringen: die Wissenschaft aber wird die intuitiven Erkenntnisse stets auf dem Wege über sie nachprüfen müssen. Und auch das richtige „höhere" Verständnis eines Vokalwerkes wird wissenschaftlich der musikalischen Formuntersuchung nicht entraten dürfen. So betrachtete ich den Text des Chorfinales und seine musikalische Behandlung unter dem Gesichtspunkte des von mir gefundenen Formschemas. Meine Überraschung war groß: mir fiel mancherlei auf, was bisher gar nicht beachtet worden ist; indem ich dessen Bedeutung weiter verfolgte und den Text und seine kompositorische Behandlung auf Beethovens Denkweise und die Inhalte seiner Bildung bezog, ergab sich mir logisoh denknotwendig eine „Idee", ein Sinn des Chorfinales, an den, soviel ich weiß, noch niemand gedacht hat. Ich bin der Meinung, daß ich ihn als den „wahren", das heißt den Sinn, der Beethoven selbst vor Augen gestanden hat, zulänglich bewiesen habe. Ich bin überzeugt, daß Beethoven bei der Abfassung des Chorfinales sich innerlich eine Gesangpantomime vorgestellt hat, deren Idee im Geiste der Dichter und Denker, an denen er sich bildete, das ewige, zwar nie erreichte, aber stets aufgegebene Ziel der Menschheitsgeschichte ist: die Errichtung des Reiches Gottes auf Erden. Mit der neuen Feststellung, daß es sich im Chorfinale um eine geschichtsund religionsphilosophische Eschatologie handelt, erhob sich nun auch erneut die Frage nach der Idee, nach dem Gesamtsinne der neunten Symphonie als ganzer. Auch sie habe ich am Schlüsse noch von meiner Feststellung über den Sinn des Chorfinales her, soweit es möglich ist, zu beantworten gesucht. Um hier überhaupt etwas sagen zu können, habe ich freilich den sicheren Bezirk der beweisenden Wissenschaft, innerhalb dessen ich mich bis dahin peinlichst gehalten habe, ein wenig in das Reich der Vermutungen hinein überschreiten müssen. Doch glaube ich gleichwohl, den „Intentionen" Beethovens auch hier näher gekommen zu sein als andere Erklärer, Ich bespreche demnach in drei Hauptstücken: die Form der Musik, den musikalischen Aufbau und den Sinn der Dichtung, den Gesamtsinn der neunten Symphonie.
Erstes Hauptstück.
Die Form der Musik. Der Herr R.[ossini], weil er keine [Formen] der fehlt — nicht, weil weil er nicht anders Stümper.
der formlos ist, erschaffen kann, er will, sondern kann, wie ein Beethoven.
In seinem ausgezeichneten Buche: „Beethovens Neunte Symphonie" (Universal-Edition 1912) gliedert Heinrich Schenker das Chorfinale in drei Hauptabschnitte. Der erste Abschnitt reicht vom Anfange bis zum Ende des Alia Marcia; der zweite umfaßt das Andante maestoso und das Adagio ma non troppo, ma divoto; der dritte und letzte beginnt mit dem Allegro energico und geht von da fort bis zum Schlüsse. Diese Gliederung scheint mir nicht richtig zu sein. Nach meinem Dafürhalten hat zunächst das Alla Marcia eine Sonderstellung zu beanspruchen. Ferner gehört nach meiner Meinung das Allegro energico ebensowohl mit dem Andante maestoso und Adagio divoto einheitlich zusammen, als mit dem folgenden in den Schluß übergehenden Allegro ma non tanto. Hieraus aber ergibt sich zwar auch eine Dreiteilung, jedoch eine andere, als die von Schenker vorgeschlagene, und zwar: erster Abschnitt: vom Anfange bis vor das Alla Marcia („und der Cherub steht vor Gott"); zweiter Abschnitt: Alla Marcia; dritter Abschnitt: vom Andante maestoso bis zum Schlüsse. Diese Einteilung empfiehlt sich schon dem flüchtigen Blicke, weil bei ihr der Einsatz jedes neuen Abschnittes harmonisch aufs Schärfste gekennzeichnet ist: der Einsatz des zweiten durch die Mollsubdominantparallele, der Einsatz des dritten durch die Dursubdominante. Beide Abschnitte heben also mit einer subdominantischen Nebentonart an, und sie kehren von dieser zur Grundtonart zurück. Bemerkenswert ist dabei, daß außer der Grundtonart D-dur nur die genannten beiden Nebentonarten B-dur und G-dur eine bedeutendere Rolle im Verlaufe des Satzes spielen; alle anderen Ausweichungen, auch die nach der Oberdominante, sind nur vorübergehend. Schenker rechtfertigt seine Gliederung mit folgenden Worten: „Im wesentlichen und großen ging sein [Beethovens] Kompositionsplan im Finale dahin, zuerst die Treuden'melodie selbständig in einem eigenen Abschnitt zu variieren, sodann in einem zweiten ebenso wieder selbständigen Abschnitte die Strophe ,Seid umschlungen Millionen' durchzukomponieren, um dann
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in einem dritten Abschnitte die Anfangsmotive der vorausgegangenen endlich in einer Doppelfuge durchzuführen, und damit den beiden ersten Abschnitten den ersten Abschluß zu geben. Da indessen der Abschluß in jeder Hinsicht der Größe jener Abschnitte zu entsprechen hatte, läßt er auf den dritten noch einen vierten, eben einen Schlußabschnitt folgen, der sogar Kadenzen bringt, wie sie sonst nur in reinen Instrumentalwerken gegen den Schluß hin vorzukommen pflegen, bis endlich als fünfter Abschnitt eine Stretta dem ganzen Finale den allerletzten Abschluß bietet. In Anbetracht dessen aber, daß der 4. [Allegro ma non tanto] und 5. Abschnitt [Prestissimo] lediglich nur mehr Schlußcharakter aufweisen, dürfte man wohl auch So weit gehen, sie einfach nur dem 3. Abschnitt als dessen weitläufige Schlußketten anzugliedern. In diesem Sinne wären also nur drei Abschnitte anzunehmen, deren letzter eben die Doppelfuge samt den Schlüssen in sich begreift." Schenker hat in diesen Worten die Aufgabe, die Beethoven sich in musikalischer Hinsicht gestellt hat, wohl ungefähr gesehen. Beethovens Lösung dieser Aufgabe ist aber in Wirklichkeit sehr viel verwickelter und geistreicher, als Schenker sie sich denkt. Es sei mir nun erlaubt, meine Einteilung im einzelnen durchzusprechen. A. Erster Abschnitt (vom Anfange bis zu den Worten: „und der Cherui) Steht vor Gott"). Der Abschnitt sondert sich deutlich in einen instrumentalen und einen vokalen Teil, jeder Teil wieder beginnt mit einer rezitativischen Einleitung und fügt daran das Thema in mehreren Ausarbeitungen. 1) Die rezitativische Einleitung des instrumentalen Teils zeigt eine Verbindung von Refrain-Form und Bar-Form1). Auf sechs Tutti folgen sechs Rezitative, die zwar inhaltlich verschieden sind, aber durch ihre gemeinsame Rezitativeigenschaft ähnlich wie ein wiederkehrender Refrain wirken. Da die ersten beiden Tutti, trotz anderer Harmonie, motivisch aufs engste verwandt sind (Schreckensfanfare2)!), so bilden sie mit ihren Rezitativen die Stollen eines Bares, zu dessen Abgesang dadurch die übrigen vier Tutti (die Zitate aus dem 1., 2. und 3. Satze und die Vorwegnahme des Anfangs der Freudenmelodie) mit ihren Rezitativen formal näher bestimmt werden (Takt 1—91). Es folgt nun, durch Violoncelli und Kontrabässe unisono vorgetragen, die Freudenmelodie als Thema der kommenden Variationen und zugleich als erstes Hauptthema das ganzen Finales. Der Form nach ist sie ein Reprisenbar mit doppeltem Abgesange: Takt 92—95 bieten den ersten, Takt 96—99 den zweiten Stollen, beide Stollen sind, da der erste dominantisch und der zweite mit der Tonika endigt, als Vorder- und Nachsatz einheitlich verknüpft; 1
) Ich benutze für meine Analyse die Formbegrifie, die Alfred Lorenz in seinem Werke „Das Geheimnis der Form bei Bichard Wagner" (bisher zwei Bände) Berlin 1924 u. 26 aufgestellt hat. 2 ) Wagners bekannter Ausdruck; vgl. Ges. Schriften und Dichtungen Bd. IX 2 Seite 241.
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die Takte 100—107 bilden den ersten Abgesang, dessen Vordersatz neuen Inhalt bringt (100—103)1), und dessen Nachsatz sich als Reprise des zweiten Stollens darstellt (104—107); die Takte 108—115 wiederholen die Takte 100—107 und geben sich damit als zweiten, dem ersten gleichlautenden Abgesang. Das Formschema der Freudenmelodie ist also dieses: ®Ί> a 2 ; b, a 2 ; b, a 2 . An den Vortrag des Themas schließen sich die drei ersten Variationen (116—187). Den instrumentalen Teil rundet eine Coda barförmig ab (188—207): erster Stollen Takt 188—189, zweiter Stollen 190—191, Abgesang 192—198 mit Schluß 199—202. Die letzten fünf Takte dieser Coda (203—207) sind als zum vokalen Teil überleitender Anhang zu betrachten. Ihr eigentliches Ende findet sie bereits in den Takten 201 und 202: vorgreifend sei hier auf das Quartenmotiv in den Hörnern und Trompeten hingewiesen, das in jedem der beiden Takte erscheint, in Takt 201 unterstützt von Kontrafagott und Streichern, in Takt 202 von Flöten, Hoboen, Klarinetten und Fagott. 2) Die rezitativische Einleitung des zweiten, vokalen Teiles ist eine stark verkürzte Abwandlung der des instrumentalen Teiles und ein Parallelgebilde zu dieser. An Stelle der sechs Tutti dort tritt hier der einmalige Vortrag der Schreckensfanfare (208—215) am Anfang, und der Vortrag der Takte, die dort die Freudenmelodie vorwegnahmen, am Schlüsse (237—240), wodurch diese Takte hier zugleich zum unmittelbaren Vorspiel der nächsten Variation werden. Die Stelle der sechs Rezitative übernimmt hier das in der Mitte stehende Baritonsolo (216—236); es ist dreigliedrig: das erste Glied (216ff.) lehnt Sich an das erste Rezitativ, das dritte Glied (230ff.) an das sechste Rezitativ des instrumentalen Teiles an, nur das zweite und zugleich mittlere Glied (224ff.) ist neu erfunden. Die Einleitung ist hier demnach nicht bar-, sondern bogenförmig: Tutti; bekanntes, neues, bekanntes Rezitativ; Tutti. Auf die Einleitung folgen drei Variationen (die vierte, fünfte und sechste) des Freudenthemas (241—320). An die ersten beiden dieser Variationen schließt sich hier jedesmal ein viertaktiger Anhang, der bei den Variationen des ersten Teiles fehlt. Auch an die letzte der drei Variationen ist wiederum dieser Anhang gefügt, nun aber zu einer den zweiten Teil abrundenden Coda erweitert (321 bis 330). Zu erwähnen ist, daß am Ende dieser Coda das Quartenmotiv der Takte 201 und 202 in den Hörnern und Trompeten wiedererscheint, hier aber jedesmal auf 2 Takte vergrößert (326—327 und 328—329) und beim zweiten Male auf das Intervall der Prim zurückgeführt. Wie schon seine Rezitativ-Einleitung der des ersten Teiles entsprach, ist auch der übrige zweite vokale Teil des ersten Abschnittes eine verkürzte Abwandlung und ein Parallelgebilde zum ersten instrumentalen Teile. Die J ) Dieser Vordersatz ist, für sich allein betraohtet, ein winziger Bar: erster Stollen Takt 100, zweiter Stollen Takt 101, Abgesang Takt 102 und 103. Siehe auch nachher Seite 18 Anm. 1.
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Freudenmelodie erscheint statt 4mal nur 3 mal 1 ), die Coda gar zählt dort 19 (ohne den überleitenden Anhang freilich nur 14), hier bloß 10 Takte; beide Coden beginnen aber mit dem gleichen Motive, und ebenso spielt die zweite Coda an ihrem Ende auf das Ende der ersten an (Quartenmotiv der Trompeten!). Durch den überleitenden Anhang der ersten Coda sind beide Teile des ersten Abschnitts eng verbunden. Beide Teile endigen dominantisch, aber der zweite Teil springt mit seinem letzten Takte harmonisch in die erniedrigte VI. Stufe der Dominanttonart über, die — sogleich in die Dominante der Mollsubdominantparallele umzudeuten — als Fermate ausgehalten wird, Und einerseits viel eindringlicher einen Einschnitt bekräftigt, als Takt 207, andererseits, gleichsam wie ein in Musik übersetztes Kolon, Spannung auf das, was kommen wird, erweckt. Es sei nun gesagt, daß mir die beiden Teile des ersten Abschnittes auf Grund der beschriebenen Tatbestände und der noch zu beschreibenden Beschaffenheit der folgenden Abschnitte als die zwei gleichlaufenden GroßStollen eines Groß-Bares erscheinen. Was dem zweiten Großstollen gegenüber dem ersten an zeitlicher Ausdehnung fehlt, ersetzt er durch die reichere Ausgestaltung der Variationen und vor allem durch die Eindruckskraft der in ihm hinzutretenden menschlichen Stimmen. Ist er also nicht so lang wie jener, so ist er doch ihm an innerem Gewichte gleich, wenn nicht gar überlegen. B. Z w e i t e r A b s c h n i t t (Alia Marcia). Der zweite Abschnitt steht durchweg im 6 / 8 Takt; dies, wie das innerhalb seiner unverändert bleibende Tempo, bindet ihn zu einer Einheit für sich zusammen. Nach einer zwölftaktigen, nur den Ton b rhythmisch wiederholenden Einleitung folgt in B-dur die siebente Variation des Themas als reiner Instrumentalvortrag (13—44). Bei diesem Vortrage findet weder eine Wiederholung des Thema-Abgesanges statt, wie bisher stets, noch schließt sich ihr, wie in den vorangegangenen Variationen, ein Anhang an. Dafür wird sie dann sogleich und diesmal mit Wiederholung des Abgesanges und mit Anhang als Vokalvariation (Tenor-Solo, später Männerchor) abermals vorgetragen (45—101). Danach folgt ein von B-dur nach h-moll modulierendes Instrumentalfugato über ein den zweiten Stollen der Freudenmelodie variierendes Thema (101—186) mit nach D-dur zurück leitendem Anhange (187—212). Die Form des Fugatos ist als ein Bar mit zwei Abgesängen aufzufassen. Die ersten vier Takte stellen das Fugato-Thema auf, gleichsam als „Devise" (101—104). Mit der folgenden Quintbeantwortung beginnt der Stollenteil. Dieser steht in c-moll, der Subdominantparallele von B-dur. Jeder Stollen hat zwei Strophen, eine sechstaktige und eine achttaktige. Der erste Stollen ist dominantisch 1
) Hierauf komme ich später, Seite 26, bei Besprechung des Textes noch zurück.
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(105—118): seine erste Strophe setzt mit dem Vortrage des Themas in der dorischen Dur-Unterdominante von c-moll (105—110) ein, also in F-dur die Devise beantwortend, seine zweite Strophe mit dem Vortrage des Themas in der Oberdominante G-dur (111—118). Der zweite Stollen (119—132) bringt in seiner ersten Strophe das Thema in der Grundtonart des Stollenteils c-moll (119—124), in Seiner zweiten Strophe in deren Dur-Parallele Es-dur (125—132). Nach einem kurzen Zwischenspiele (133—138) beginnt der erste Abgesang, der das Thema in b-moll (der Mollvariante von B-dur, deren enharmonische Umdeutung in ais-moll am Ende die Modulation nach h-moll begründet) verarbeitet (139—160). Ihm folgt der zweite Abgesang mit einer Verarbeitung des Themas in h-moll, der Mollparallele von D-dur (161—186). Auch der Anhang des Fugatos zeigt Barform: erster Stollen Takt 187—190, zweiter Stollen 191—194, beide auf der Dominante von h-moll stehend; Abgesang H-dur 195—200, erste Wiederholung des AbgesangeS h-moll 201—206, zweite Wiederholung D-dur 207—212. Den Abschluß des Alla Marcia bildet, nun wieder in klarem D-dur die achte Variation (213—260), mit kurzem auf dem G-dur-Akkord endigenden Nachspiele (261—264). Der zweite Abschnitt bildet zu den beiden Großstollen des ersten Abschnittes den Groß-Abgesang, so daß also erster und zweiter Abschnitt sich in der Form eines Großbares zur Einheit zusammenschließen. Für sich allein betrachtet ist er als Reprisenbar gestaltet. Auf die Einleitung folgt als erster Stollen der Instrumentalvortrag der siebenten Variation, sodann als zweiter Stollen deren Vokalvörtrag. Es wiederholt sich also innerhalb des Großabgesanges das selbe Spiel, wie in der übergeordneten Hauptform: wie dort erst Instrumental-, dann Vokalstollen, so auch hier; nur ist dort der Instrumental-, hier der Vokalstollen der ausgedehntere. Den Abgesang innerhalb des Großabgesanges stellt dann das Fugato mit seinem Anhange sowie die Reprise des Stollens in der achten Variation dar. Da die achte Variation in den Stimmen das Freudenthema melodisch umvariiert und zudem in der Grundtonart bringt, so wie es im ersten Abschnitte zumeist erschien, so gewinnt sie dadurch nun aber auch Reprisenwert in bezug auf den ersten Abschnitt. Die achte Variation ist also einmal Stollenreprise innerhalb des Alla Marcia, das durch sie eben zum Reprisenbar wird. Ferner aber steht sie in ihrer Weise (Tonart und Melodiebehandlung) der Erscheinung des Themas im ersten Abschnitte näher, als der im Beginne des Alla Marcia 1 ); und dadurch wird sie gleichsam zur Vertreterin einer Reprise des Großstollens innerhalb des Großbares, den die ersten beiden Abschnitte gemeinsam ausmachen, dergestalt, daß man also auch diesen Großbar als einen Reprisenbar bezeichnen muß. Man sieht,
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wie die ersten beiden Abschnitte miteinander verhäkelt sind: Großstollen, Großstollen; Großabgesang (Stollen, Stollen; Abgesang [1. Fugato, 2. Reprise sowohl des Stollens, als auch, vertretungsweise, des Großstollens]). Das Stück, könnte jetzt fast zu Ende sein, wenn nicht das zum G-dur-Akkorde führende Nachspiel noch weiteres verhieße. Schenker betrachtet den Einschnitt vor dem Alla Marcia nicht als formbestimmend, obwohl er der stärkste Einschnitt innerhalb des ganzen Finales ist. Wechsel in eine nicht unmittelbar verwandte Tonart, neuer Rhythmus, auffällige Instrumentation (Schlagzeug), eine zwölf Takte lange spannende Einleitung und die anfängliche Nichtfortsetzung der Vokalvariationen in dem Instrumentalvortrage der siebenten Variation, alles dies wirkt zusammen, um in dem Hörer das Gefühl zu erwecken, daß etwas ganz neues beginnt, nämlich, wie wir erklärten, der Großabgesang zu den beiden vorausgegangenen Großstollen. Schenker dagegen faßt, was wir den zweiten Großstollen und den Großabgesang nennen, zu einer Einheit zusammen, die er in ihrer Gesamtheit gleichsam als Nachsatz dem ersten Großstollen als dem Vordersatze zur Seite stellt. Er erwähnt zwar alles, was wir hier als den Einschnitt kennzeichnend aufgezählt haben (Seite 280f. seines Buches), ohne aber seltsamerweise auch nur auf den Gedanken zu kommen, daß dadurch ein formal bedeutsamer Einschnitt gemacht sein könnte. C. D r i t t e r A b s c h n i t t (vom Andante maestoso bis zum Schlüsse). Der dritte Abschnitt ist für die Formbetrachtung der schwierigste. Zunächst erscheinen seine einzelnen Glieder: Andante maestoso, Adagio, Allegro energico, Allegro ma non tanto, Prestissimo fast als disjecta membra, als eine Folge musikalischer Aphorismen, die sich dann nach der geschlossenen Einheit der ersten beiden Abschnitte merkwürdig genug ausnimmt. Das Nachspiel am Schlüsse des vorigen Abschnittes endigt mit einem Ganzschluß in G-dur. Das folgende, aus zwei Strophenpaaren bestehende Andante maestoso nimmt in seinem ersten Strophenpaare (1—16) das G-dur, die Subdominante der Grundtonart auf; das zweite Strophenpaar (17—32) führt weiter in subdominantische Regionen: zuerst F-dur, dann endigt es auf einem Halbschlusse in C-dur. An diesen Halbschluß anknüpfend gewinnt das dem Andante verbundene Adagio sogleich die Tonart g-moll, die innerhalb seiner vorherrschend bleibt; wieder also tritt die Subdominante hervor, diesmal in ihrer Moll-Variante. Formal zeigt das Adagio zwei Stollenpaare (erstes Paar: Takt 1—4 und 5—8; zweites Paar: 9—12 und 13—16) und einen Abgesang (17—20), der etwas verlängert und verändert wiederholt wird (21—28). Während der erste und eigentliche Abgesang die VI. Stufe von g-moll zur harmonischen Unterlage hat, wird diese in der Wiederholung zum Nonenakkord über Α umgewandelt, und das Adagio endigt auf der Wechseldominante von G-dur bzw. g-moll oder der Dominante der Grundtonart D-dur. Andante
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und Adagio schließen sich zwanglos zu einem Bar höherer Ordnung zusammen, innerhalb dessen die beiden Strophenpaare des Andantes, in freier Entsprechung, die zwei Stollen, und das Adagio den Abgesang darstellen. Tonartlich ist in diesem Bare G-dur und g-moll bestimmend mit vorwiegender Neigimg zur Unterdominantregion. Der thematische Inhalt des Andante — Adagio ist neu: mit Recht darf man ihn, insonderheit den Andantebeginn, das zweite Hauptthema nennen.1) Es folgt nun das Allegro energico. In dessen formaler Stellung steckt meiner Meinung nach recht eigentlich das Rätsel, das der Bau des ganzen Satzes dem nachdenkenden Betrachter aufgibt. Die Frage ist dabei die: ist es als Parallelgebilde zum Andante — Adagio aufzufassen, oder im Sinne Schenkers als ein Neuanfang, der vielmehr mit den folgenden Satzgliedern näher zusammenhängt. Das Allegro energico zerfällt in zwei Unterteile: eine Doppelfuge (1—75) und einen wiederum freien Abschluß (76—108). Das zuerst einsetzende der beiden Themen der Doppelfuge ist der ersten Strophe des Andante maestoso entnommen: es ist das leicht variierte zweite Hauptthema. Das mit ihm stets verknüpfte zweite Thema der Doppelfuge ist aus den Stollen der Freudenmelodie, also des ersten Hauptthemas, entwickelt. Die Konstruktion der Doppelfuge hat Schenker vortrefflich beschrieben (Seite 333—337 seines Buches). Seinen Ausführungen ließe sich nur hinzufügen, daß sich auf die ganze Doppelfuge der Begriff einer Reprisenbarform mit doppeltem Abgesange anwenden läßt: erster Stollen Takt 1—16 (Führer und Gefährte), zweiter Stollen 17—32 (Führer und Gefährte); erster Abgesang: erstes Zwischenspiel 32—38 und Reprise des Führers aus dem ersten Stollen 39—46; zweiter Abgesang: zweites Zwischenspiel 47—65 2 ) und erweiterte abschließende Reprise des Führers aus dem zweiten Stollen 66—75. Die Tonart der Doppelfuge ist. D-dur; in ihrem Verlaufe werden nur oberdominantische Regionen — bis zur dritten ja vierten Dominante — berührt. Im Abschlüsse des Allegro energico ist Schenkern merkwürdigerweise die thematische Beziehung auf, das Adagio entgangen. Takt 80—84, 85—87, 88—91 hier entsprechen genau den Takten 13—16 dort; die Takte 76—79 hier sind eine Verknüpfung der dortigen Takte 5—8 und 13—16. Ebenso spielen hier die Takte 100—103 und 104—108 auf die dortigen Takte 17—20 an, während die Takte 92 —99 sich dagegen mit den Takten 17—20 des Andante maestoso verwandt zeigen. Formal möchte ich die Takte 76—79, 80—83 und 84—87, 88—91 als zwei Stollenpaare und die Takte 92—108 als Abgesang, den ganzen zweiten Unter) Siehe jedoch später Seite 67. ) Das zweite Zwischenspiel führt die Themen zweimal in freier Behandlung vor: Sopran, Tenor und Baß, nacheinander einsetzend, das erste, Alt das zweite Thema Takt 47—54; Alt erstes, Baß zweites Thema Takt 55—63; Takt 64 bereitet die Stollenreprise vor, in der der Baß das erste und der Alt das zweite Thema singt. x 2
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teil mithin als Bar auffassen. Dessen Abgesang (92—108) ist dann selbst wieder barförmig: erster Stollen 92—93, zweiter Stollen 94—95, Abgesang in A-dur 96—103, Wiederholung des Abgesangendes in G-dur 104—108; diese Wiederholung ist formal und thematisch eine freie Entsprechung zur Wiederholung des Abgesanges im Adagio. Zu einer einheitlich strengen Form gehen die beiden Unterteile des Allegro energico nicht zusammen, der zweite Unterteil erscheint gleichsam als ein freier Anhang der Doppelfuge. Auffallend sind die Tonartverhältnisse des zweiten Unterteiles, am auffallendsten sein und damit des ganzen Allegro energico Ausgang auf G-dur, dessen Grundakkord den Abschluß bildet (104—108). Schenker hat (Seite 338ff. seines Buches) auch den ganzen zweiten Unterteil harmonisch auf D-dur zu deuten gesucht, so daß dieser demnach auf der IV. Stufe endigte. ..Demnach wäre es falsch," schreibt Schenker, „sie schon darum allein als eine beschließende Harmonie aufzufassen. Vielmehr dient gerade sie, die ja naturgemäß einer weiteren Fortsetzung harrt, dazu, eine desto intensivere Überleitung zum vierten Abschnitt [dem Allegro ma non tanto] herbeizuführen." In der Tat bringen die Takte 1—5 des Allegro ma non tanto die Harmoniefolge: D-dur IV.—V.—I, die gleichsam die Harmoniefolge der Takte 91—108 des Allegro energico: D-dur V.—Ii 7 —IV zur vollständigen Kadenz ergänzt. In alle dem hat Schenker sicherlich recht. Dennoch ist es wichtig und ja zweifellos von Beethoven so beabsichtigt, daß in den Takten 76—79 des Allegro energico die Harmonie scheinbar nach g-moll hinüber wechselt, und daß sodann für den unmittelbaren Eindruck über die tatsächlich herrschende Tonart Dunkel verbreitet wird: bis zum Ende wird der D-dur-Akkord — abgesehen von Takt 104, wo er aber dominantisch schnell vorübergeht — peinlich gemieden, und die in den Takten 91—103 allerdings stark herausgekehrte Dominante (A-dur) gleitet wieder in die Subdominante (G-dur) über, mit der das Allegro energico, in einer pp.-Fermate verhallend, abschließt, dergestalt, daß der Anfang des Allegro ma non tanto, trotzdem er die angebahnte Kadenz vervollständigt, doch als Rückmodulation nach D-dur zur Wirkung gelangt. Wir wollen nun die bereits gestellte Frage zu beantworten trachten, ob das Allegro energico ein Parallelgebilde zum Andante—Adagio ist, oder einen Neuanfang bedeutet. Wenn Andante—Adagio und Allegro energico Parallelgebilde sind, so müssen sie, da sie unmittelbar aufeinander folgen, auch formal zusammengehören. Nun herrschen im Andante—Adagio die Tonarten G-dur und g-moll, nachdem sie durch das G-dur-Nachspiel des zweiten Abschnittes vorbereitet wurden. Aber das Andante endet auf einen C-dur Halbschluß, das Adagio mit der D-dur-Dominante, und erst der Schluß des Allegro energico bringt einen klaren, lang gehaltenen Ausklang auf dem G-dur-Akkord, wie man ihn seit dem Beginne des Andante maestoso erwarten durfte. Mag dieser G-dur-Ausklang in seiner näheren Umgebung auch subdominantischen Wesens sein: im
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Zusammenhange des Ganzen ist er ein Rückgriff und Komplement zu dem G-dur-Beginne des Andante maestoso; und die Anfangstakte des Allegro ma non tanto erscheinen wie eine modulatorische Antwort auf das Nachspiel des zweiten Abschnittes (Alla Marcia), indem, wie dort schnell nach G-dur hin—, hier schnell nach D-dur zurückmoduliert wird. Jedenfalls ist die Annahme nicht abzuweisen, daß Beethoven daö Allegro energico durch seinen G-durSchluß hat an das Andante—Adagio nachträglich noch mehr herandrängen und mit diesem in Einheit gehört wissen wollen. Thematisch stehen Andante— Adagio und Allegro energico, wie dargelegt wurde, im engsten Zusammenhange; die Doppelfuge in ihrem ersten Thema mit der ersten Doppelstrophe des Andante, der zweite Unterteil mit dem Adagio; auch die zweite Doppelstrophe des Andante (17—32) wird im zweiten Unterteile noch anklangweise in den Takten 91—99 nachgeholt, und wenn musikalisch nur dieser Anklang nachzuweisen ist, so darf hier erwähnt werden, daß textlich in den Takten 91—108 die ganze zweite Doppelstrophe verwendet wird, an Stelle des ähnlich lautenden Textes der Takte 17—28 des Adagios, der zwar fortbleibt, aber eben seiner Ähnlichkeit wegen sozusagen doch auch als mitbehandelt angesehen werden darf. Als weiterer Hinweis auf die Parallelität darf gelten, daß, streng und ohne Agogik in dem von Beethoven metronomisch bezeichneten Tempo gespielt, Andante—Adagio und Allegro energico jedes rund eine Dauer von 2 Minuten 40 Sekunden für sich in Anspruch nimmt: beide sind also fast gleich lang. Ferner werden Andante—Adagio und Allegro energico beide vom Chor allein gesungen. Der Gegensatz der Tempi: langsam—schnell kann als Gegensatzsymmetrie gedeutet werden. Eine weitere Gegensatzsymmetrie darf man darin erblicken, daß Andante—Adagio harmonisch weit in unterdominantische, Allegro energico dagegen weit in oberdominantische Regionen schweift. Noch sei darauf aufmerksam gemacht, daß das Allegro energico im zweiteiligen 6 / 4 Takte steht; er bildet den Übergang zwischen dem 3 / 2 Takte des Andante—Adagio und dem Alia breve des Kadenzteiles und der Stretta, so daß die Taktarten des Andante—Adagio und des Schlusses hierdurch rhythmisch vermittelt werden: beweist dies auch nicht den Parallelismus von Andante—Adagio und Allegro energico, oder zum mindesten nicht hinreichend, so ist es doch ein erheblicher Einwand wider die Annahme, daß mit letzterem ein neuer Hauptabschnitt einsetze. Für die Auffassung des Allegro energico als Neuanfang spricht nun aber folgendes. Einmal die Wiederaufnahme der Grundtonart des Satzes in der Doppelfuge. Femer das zweite Thema dieser Fuge, das wieder an die Variationenreihe der ersten beiden Abschnitte anknüpft und diese Reihe gleichsam nach dem Schema „Variationen und Fuge" zum Abschluß bringt. Endlich, daß die Doppelfuge beide Hauptthemen des Satzes vereinigt. Auch kann der Gegensatz des Tempos, den wir vorher im Sinne der Parallelität als Gegensatzsymmetrie deuteten, ebensogut auch zugunsten des Neuanfanges ausgelegt werden.
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Meines Erachtens sind die Gründe für die parallele Zusammengehörigkeit von Andante—Adagio und Allegro energico So schwerwiegend, daß es, trotz dem, was für die Annahme eines Neuanfanges im Allegro energico sprechen mag, doch nicht angängig ist, mit diesem, wie Schenker tut, einen völlig neuen Hauptabschnitt des ganzen Finales beginnen zu lassen. Bevor ich aber endgültig zu der besprochenen Frage Stellung nehme, fahre ich in der Formuntersuchung weiter fort. Das Allegro ma non tanto, der Kadenzteil des Satzes, erscheint mir als ein Bar mit doppeltem Abgesange. Den ersten Stollen bilden die Takte 1—10, den zweiten die Takte 11—20. Ihr motivisches Material entnehmen Sie den Stollen der Freudenmelodie. Dabei ist höchst bemerkenswert, daß die Instrumentaleinleitung jedes der beiden Stollen dem zweiten Thema der Doppelfuge ähnlich gebildet ist (1—5 und 11—15). Während aber auf das zweite Thema der Doppelfuge die vollständigen Textworte der ersten vier Verse des Freudenliedes gesungen wurden, erscheinen diese Textworte hier in den folgenden Gesangstimmen nur in verkürzter Gestalt (5—9 und 15—19). Aus beiden Tatsachen möchte ich schließen, daß die beiden Stollen, mit denen das Allegro ma non tanto anhebt, gewissermaßen nur eine Rekapitulation dessen darstellen, was mit dem zweiten Thema der Doppelfuge bereits gesagt worden ist; ich komme darauf später wieder zurück. Der erste Abgesang umfaßt die Takte 21—51; er besteht aus zwei Gliedern: das erste ist eine sehr freie, teilweise kanonische Behandlung des ersten Unterteiles (vgl. Takt 100—103 des ersten Abschnittes) des Abgesanges der Freudenmelodie, den wir früher in deren Formschema mit b bezeichneten, und reicht bis Takt 43; das zweite Glied wird von einer Kadenz gebildet (44—51). Der zweite Abgesang ist eine veränderte Wiederholung des ersten: sein erstes Glied ist eine Verkürzung des ersten Gliedes des ersten Abgesanges (52—64), sein zweites Glied die abgewandelte und sehr erweiterte Wiederholung der Kadenz (65—80). Nach 8 Takten Überleitung beginnt Prestissimo die Stretta. Auch sie ist wieder barförmig gebaut. Der erste Stollen umfaßt die Takte 1—26, der zweite die Takte 26—53. Ihre Entsprechung ist Sehr frei, aber deutlich. Thematisch lehnen sie sich an das Andante maestoso an. Der Abgesang beginnt in Takt 53 und reicht bis zum Takte 70. Er greift in den Gesangsstimmen und Bläsern der Takte 57, 59, 62, 65, 69 und 70, wie Schenker schön ausführt, auf das Hauptthema des ersten Satzes zurück. Zu erwähnen ist auch, daß die Violoncelli und Kontrabässe der Takte 53—55 die Variante der Stollen der Freudenmelodie anklingen lassen, die als zweites Thema der Doppelfuge und etwas verändert im Beginne der Stollen des Allegro ma non tanto erschien, und daß die Sopranlinie der Takte 66—67 (Maestoso) auf die Sopranlinie der Takte 70—72 (auch 48—49) des Allegro ma non tanto hindeutet. Als ein zweiter Abgesang beendigt sowohl die Stretta als auch das ganze Chorfinale ein instrumentales Nachspiel über die Stollen der Freudenmelodie (70—90),
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mit abermaligem abschließendem Zurückgreifen auf das Hauptthema des ersten Satzes (89—90): es besteht aus zwei als solche leicht zu erkennenden Baren (70—77 und 78—90). Betrachten wir nun den dritten Abschnitt als ganzen, wobei auch die Frage nach der Stellung des Allegro energico ihrer Entscheidung zugeführt werden soll! Bei dieser Betrachtung wollen wir, zunächst unter Vorbehalt urteilend, das Allegro energico als Parallelgebilde des Andante—Adagio ansehen. Dann würde der dritte Abschnitt als ein Bar aufzufassen sein mit dem Andante—Adagio als erstem, dem Allegro energico als zweitem Stollen, und dem Kadenzteil und der Stretta als Abgesang. Wie steht es jetzt, bei der mitgeteilten Annahme über die Form des dritten Abschnittes, mit dem Allegro energico ? Was hat die Tonart D-dur und die Wiederaufnahme der Stollen der Freudenmelodie in ihm zu bedeuten ? Erinnern wir uns daran, daß das Allegro ma non tanto (der Kadenzteil) die Freudenmelodie, die Stollen des Prestissimo (der Stretta) die Thematik des Andante maestoso behandeln, worauf in den Abgesängen der Stretta noch kurz der Anfang der Freudenmelodie wiederkehrt! Am Schlüsse des Finales führt also der Abgesang des ganzen dritten Abschnittes abermals und in freier Gestaltung nacheinander die beiden Hauptthemen vor. Sehen wir jetzt von dem Auftreten der Freudenmelodie im Allegro energico ab, so böte der dritte Abschnitt folgendes Bild: erster Stollen, Andante—Adagio, zweites Hauptthema; zweiter Stollen, Allegro energico, zweites Hauptthema; Abgesang: Kadenzteil über erstes Hauptthema, Stretta über zweites Hauptthema abschließend mit erstem Hauptthema. Diese Anordnung ist klar und sinnvoll und gibt meines Erachtens Beethovens Grundplan richtig wieder. Beethoven hat nun aber den ersten (den Kadenz-)Teil des Abgesanges auf den zweiten Stollen gleichsam vorauswirken lassen. Unter der Vorauswirkung des nahenden Kadenzteiles ist der zweite Stollen, der eigentlich in G-dur stehen müßte, auf die Grundtonart D-dur gestellt worden, und ist weiter dem ersten Fugenthema der Doppelfuge als zweites Thema die Freudenmelodie beigesellt worden, womit der Vorteil einer Verknüpfung der beiden Hauptthemen des Satzes gewonnen wurde; auch der Rhythmus des Allegro energico läßt sich als Übergreifen des zweiteiligen Rhythmusses des Kadenzteiles über den dreiteiligen des Andante—Adagio im gleichen Sinne verstehen. Wenn Schenker meint, daß der G-dur-Akkordabschluß des Allegro energico dazu diene, es nur desto intensiver zum Allegro ma non tanto hinüberzuleiten, und wenn ich ihm gegenüber darauf hinwies, daß dieser G-dur-Akkordabschluß das Allegro energico gegen das Allegro ma non tanto abgrenze und es mit dem Andante— Adagio verbinde, so darf man jetzt sagen, daß beide Ansichten vereinbar sind. Insofern der G-dur-Akkord auf das Andante—Adagio zurückweist, bringt er zum Ausdruck, daß das Allegro energico der zweite parallele Stollen zu jenem ist; insofern er dagegen, als IV. Stufe der Grundtonart, Allegro energico und Allegro ma non tanto miteinander verschweißt, bringt er zum Ausdruck.
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daß das Allegro energico durch den folgenden Beginn des Abgesanges bereits gefärbt und bestimmt wurde und diesen teilweise schon in sich vorausgenommen hat. Wie wir schon beobachten konnten stellen die Takte 1—20 des Allegro ma non tanto eine Rekapitulation dessen dar, was mit dem zweiten Thema der Doppelfuge bereits gesagt worden ist. Das Problem, das das Allegro energico der formalen Untersuchung aufgibt, löst sich also damit, daß in ihm der zweite Stollen des dritten Abschnittes nach einzelnen Seiten hin — Tonart, Auftreten der Freudenmelodie, Rhythmus, Tempo — mit dem Beginne des Abgesanges verschränkt ist. Die Verschränkung ist keine vollständige und läßt den formalen Grundriß der Barform unangetastet, obzwar sie ihn für die theoretische Betrachtung in etwas verundeutlicht und verwischt. Die Vorteile sind groß. Ich erwähnte bereits Schenkers Hinweis auf das Schema „Variationen und Fuge". Vor allem aber drängt sich folgendes auf: das Andante-Adagio mit seiner neuen Thematik, seinem großgeschwungenen Rhythmus und seinem breiten Tempo ist ohne Zweifel der musikalische Höhepunkt des Satzes; einerseits muß nun seine Wiederholung musikalisch als geboten erscheinen, andererseits galt es, nach dem spät erreichten Höhepunkte, ohne ihn abzuschwächen, bald zum Ende zu gelangen; beides wird vereinigt durch die Verschränkung der Wiederholung mit dem Schlußbeginne. Zusammenfassend können wir über den dritten Abschnitt nun folgendes sagen. Er ist ein Reprisenbar. Das Andante-Adagio bildet den ersten, das Allegro energico den zweiten Stollen; Allegro ma non tanto und Prestissimo (Kadenzteil und Stretta) den Abgesang. Den ersten Teil dieses Abgesanges füllt eine freie Behandlung des Freudenliedes aus (Allegro ma non tanto); dieser Teil wirkt auf den vorangegangenen zweiten Stollen (Allegro energico) voraus und ist sozusagen mit seinem Anfange schon in diesen hineingemischt. Der zweite Teil (Prestissimo), selbst barförmig, bringt in seinen beiden Stollen die wenngleich freie und verkürzte Reprise des Hauptstollens des Abschnitts (Prestissimo Takt 1—53) und verwendet in seinen beiden Abgesängen abschließend Motive der Freudenmelodie. Etwas anders und sehr vereinfachend ausgedrückt: Stollen (zweites Hauptthema), Stollen (zweites Hauptthema); Abgesang (1. erstes Hauptthema, 2. Reprise des zweiten Hauptthemas mit Schluß aus erstem Hauptthema). Nun aber bedeutet das im Abgesange (und schon im zweiten Stollen) vorkommende erste Hauptthema auch eine, obwohl sehr freie, Reprise: es ist stellvertretende verkürzte Reprise der Großstollen des ersten Abschnittes! Hierdurch verhält sich der dritte Abschnitt zum ersten ähnlich, wie sich der zweite zu ihm verhalten hatte: sein Abgesang enthält sowohl die Reprise seines eigenen Stollens, als auch die Reprise der Großstollen des ersten Abschnittes. Während aber im zweiten Abschnitte die achte Variation auf einen Schlag beide Reprisenämter ausüben konnte, weil der zweite Abschnitt in seinen Stollen kein neues Thema brachte, sind im dritten Abschnitte die beiden Reprisenämter verschiedenen O. B a e n s c h , Aufbau und Sinn des Chorfinales in Beethovens neunter Symphonie.
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Teilen seines Abgesanges zugewiesen: die Reprise des Großstollens des ersten Abschnittes dem Allegro ma non tanto und dem Ausgange des Prestissimo, die Reprise des Stollens des dritten Abschnittes dem Anfange des Prestissimo. Beethoven hätte freilich die Vereinigung der beiden Reprisenämter auch im dritten Abschnitte auf einen Schlag erreichen können, wenn er an dessen Schluß eine Doppelfuge gestellt hätte. Warum er dies unterließ und lieber so verfuhr, wie er getan hat, hat wohl folgende Gründe. Einmal hätte der Abschluß mit einer Fuge nicht recht zum homophonen Wesen des Werkes gepaßt. Ferner mußte es ihm darauf ankommen, im dritten Abschnitte überhaupt und zumal an dessen Ende das zweite Hauptthema in den Vordergrund zu stellen, so daß das erste Hauptthema das zweite nur umspielen durfte: so verlangte es seine Behandlung des Textes. Um aber doch beide Themen vereinigt zeigen zu können, hat er den Weg gewählt, diese Vereinigung innerhalb des durch den dritten Abschnitt gebildeten Reprisenbares nicht auf die Stollenreprise am Ende des Abgesanges, sondern schon auf den zweiten Stollen zu legen, in der geschilderten Weise, daß nämlich der Anfang des Abgesanges schon im zweiten Stollen mitvorausgenommen und in ihn hineingearbeitet wird. Für die Textbehandlung erwies sich dies als zweckmäßig. Und rein musikalisch kommt es dem fortdrängenden Schwünge des Schlußabschnittes nur zugute: wie ja denn auch sonst häufig zweiter Stollen und Abgesanganfang in engste Beziehung zueinander gesetzt werden.1) Seinem somit erklärten Baue gemäß haben wir den dritten Abschnitt nunmehr als einen zweiten Großabgesang — nach dem ersten Großabgesange, 1 ) Vgl. ζ. B. den Schlußchor von Handels Oratorium „ E s t h e r " . Dieser ist formal ein B a r mit zwei in sich wieder barförmigen Großstollen (Takt 1—85 und 86—143) und einem Großabgesange in Rondoform (144—316), wobei aber der erste H a u p t s a t z dieser Rondoform schon im zweiten Großstollen (107—143) den gemäß dem ersten Großstollen dort fälligen fugierten Teil (den Abgesang innerhalb des barförmigen Großstollens) ersetzt, so daß mithin der Kopf des Großabgesanges anstelle des Abgesanges des zweiten Großstollens t r i t t . Beethovens Verfahren in unserem Satze ist verwickelter u n d verwirrender, aber doch v o n nächstverwandter Art. — Ob Beethoven diesen Chor vor dem Dezember 1826, in dem Stumpff i h m die große Händelausgabe schenkte, je gesehen h a t , muß fraglich bleiben. W e n n Beethoven 1824 Stumpfi gegenüber sagte, daß die P a r t i t u r e n des Messias und des Alexanderfestes i h m durch die H ä n d e gegangen seien (vgl. T h a y e r , Bd. V, Seite 127), so ist daraus nicht zu schließen, daß er andere Werke Händeis nicht gekannt h ä t t e . Händeis Chorkompositionen waren in Wien durch v a n Swieten eingeführt worden (siehe T h a y e r , Bd. I 3 Seite 381, u n d A b e r t , Mozart, Leipzig 1921, Bd. I I Seite 617; ferner D i e t r i c h s t e i n , Über einige neubearbeitete Werke Händeis, Allg. Musikal. Zeitung, Wien 1819, N r . 47). Beethoven h a t über ein Thema aus „ J u d a s Maccabäus" Variationen f ü r Klavier u n d Violoncello geschrieben. — Ein hübsches Beispiel f ü r das Vorauswirken des Abgesanganfanges auf den zweiten Stollen zeigt das Freudenlied selbst in dem winzigen Bar, der den Vordersatz seines Abgesanges bildet (siehe vorher Seite 8, Anm. 1): das Motiv „binden wieder" (zweiter Stollen) wiederholt das Motiv „deine Z a u b e r " (den ersten Stollen), aber in F o r m einer Variante, die durch das Motiv „was die Mode", also vom Abgesanganfange her, beeinflußt ist. Das Eormprinzip f ü r den ganzen dritten Abschnitt des Chorfinales ist im Grunde das nämliche, wie das dieses winzigen Bares von vier T a k t e n !
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den der zweite Abschnitt darstellt — zu den beiden Großstollen des ersten Abschnittes zu betrachten. Dies geht zunächst aus den gleichläufigen Barformen des zweiten und dritten Abschnittes hervor: beide sind Reprisenbare, deren Abgesänge zweigliedrig sind und im zweiten Gliede die Stollenreprise bringen. Ferner ist folgendes ein zweifelloser, obgleich unsymmetrischer Parallelismus zwischen den beiden Abschnitten: im zweiten Abschnitte bildet ein Fugato mit freiem Anhange das erste Glied des Abgesanges, im dritten Abschnitte eine Doppelfuge mit freiem Anhange den zweiten Stollen. Endlich bezog sich der zweite Abschnitt dadurch als Großabgesang auf die beiden Großstollen des ersten Abschnittes, daß das zweite Glied seines Abgesanges sich als verkürzte Reprise der Großstollen erwies: in der selben Weise und ebenso unmittelbar bezieht sich aber auch der dritte Abschnitt als Großabgesang auf die beiden Großstollen des ersten Abschnittes, weil das erste Glied seines Abgesanges (Allegro ma non tanto) und außerdem das zweite Thema seines zweiten Stollens (Allegro energico) und der Schluß seines zweiten Gliedes (Prestissimo) gleichfalls eine verkürzte Reprise der Großstollen darstellen. D a s C h o r f i n a l e als Ganzes. Überblicken wir nun nochmals das Chorfinale nach seinen drei Abschnitten als Ganzes, so erweist es sich, wie eben gesagt, als ein Großbar mit zwei Großstollen und zwei Großabgesängen.1) Der erste Abschnitt bringt die beiden Großstollen, von deren D-moll-Einleitung abgesehen, in der reinen und ungetrübten Grundtonart D-dur. Der zweite Abschnitt läßt den ersten Großabgesang folgen: mit der fremdartigen unterdominantischen Nebentonart B-dur beginnend und sich aufs eindrucksvollste gegen den ersten Abschnitt abhebend, führt er endlich zur Grundtonart zurück, weist aber in seinem kurzen Nachspiele weiter über sich hinaus. Unmittelbar an ihn fügt sich der dritte Abschnitt; als ein zweiter Großabgesang 1
) Es sei hier darauf aufmerksam gemacht, daß auch die Freudenmelodie ein Bar mit zwei Abgesängen war, und daß ferner das Fugato des Alia marcia, das Adagio divoto, das Allegro energico, das Allegro ma non tanto und das Schlußprestissimo dieselbe Form zeigten, so daß in den beiden letzten Abschnitten eigentlich nur das Andante-Adagio als Ganzes eine Ausnahme bildet, das zugleich der einzige Teil ist, in dem die Freudenmelodie nicht auftritt. % Hierzu kommt, daß der Abgesang des zweiten sowohl als auch des dritten Abschnittes zweigliedrig ist: doch darf man hier die beiden Glieder wegen der Reprisenbarform nicht als zwei aufeinanderfolgende unterschiedene Abgesänge betrachten. Immerhin ist es überaus wunderbar, wie die Form des ersten Hauptthemas im ganzen Chorfinale und seinen einzelnen Teilen allenthalben wiederkehrt. — Die Barform überhaupt ist auch in den ersten drei Sätzen der Symphonie häufig. Vgl. zum ersten Satze: A l f r e d L o r e n z , Neues Beethovenjahrbuch, Bd. I, Augsburg 1925, Seite 180f.; zum zweiten Satze meine Abhandlung im Bayreuther Festspielführer 1925, Seite 238ff. Der dritte Satz ist ein Bar: Erster Stollen 1. erstes Thema, 2. zweites Thema; Zweiter Stollen 1. erstes Thema variiert, 2. zweites Thema versetzt; Abgesang 1. Durchführung des ersten Themas (83—98), 2. erstes Thema abermals variiert (99—120), Coda. Durch die teilweise Wiederholung der Stollen —· erstes Thema — im Abgesänge wird der Bar zum Reprisenbare. S c h e n k e r s Einteilung (Seite 195ff. seines Buchs) ist richtig: nur fehlt ihm der zusammenschließende Begriff des Reprisenbars.
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übersteigert er den ersten Großabgesang: in der Unterdominanttonart G-dur setzt er sogleich ein, ohne den Hörer recht darüber zur Besinnung kommen zu lassen, daß wieder ein Abschnitt beginnt, in unmittelbarer Fortsetzung des zweiten Abschnittes; sehr bald zur Grundtonart zurückkehrend gibt er in dieser sich und dem ganzen Werke den gebührenden rauschenden Abschluß. Während der erste Abschnitt mit den beiden Großstollen und der zweite Abschnitt mit dem ersten Großabgesange das erste Hauptthema allein behandeln, führt der dritte Abschnitt mit dem zweiten Großabgesange das zweite Hauptthema ein und endigt, indem er beide Hauptthemen zuerst miteinander verknüpft, dann aufeinander folgen läßt, um zuletzt mit Motiven des ersten Hauptthemas auszuklingen.1) Es sei noch auf die Zeitverhältnisse der von mir festgestellten drei Hauptabschnitte eingegangen. Der erste Abschnitt mit den beiden Großstollen dauert ohne Agogik etwa 8 Minuten; der zweite Abschnitt mit dem ersten Großabgesange etwa 7 Minuten; der dritte Abschnitt mit dem zweiten Großabgesange etwa 9 Minuten. Ich habe bei der Berechnung dieser Zahlen die von Beethoven festgesetzten Metronombezeichnungen zugrunde gelegt.2) Die drei Abschnitte sind ihrer Länge nach also nicht sehr viel voneinander verschieden, der zweite ein wenig kürzer, der dritte abschließende ein wenig länger als der erste. Ich denke, daß diese wohl ausgewogenen Proportionen sehr zugunsten meiner Einteilung sprechen. Die Zeitverhältnisse der von Schenker angenommenen Einteilung sind dagegen in derselben Weise berechnet folgende: erster Abschnitt (bis zum Alla Marcia einschließlich) etwa 15 Minuten, zweiter Abschnitt (Andante-Adagio) etwa 3 Minuten, dritter Abschnitt (Allegro energico bis Schluß) etwa 6 Minuten. Man sieht sofort, daß diese Einteilung nicht richtig sein kann. Gewiß hat Beethoven geplant, zunächst das erste Hauptthema zu variieren, dann ihm ein zweites Hauptthema gegenüberzustellen und schließlich beide Themen zu verbinden. Aber 1 ) Für die Gesamtform verweise ich auch auf die beigegebene Tafel. Diese würde als Architekturbild nooh eindrucksvoller sein, wenn ich bei jeder Variation das beim Thema angegebene Formschema wiederholt hätte, was nur um der Raumersparnis willen unterblieb. Es sei hier noch erwähnt, daß man das Chorfinale seinem Baue nach mit einer Sonate oder Symphonie vergleichen kann. Erster Abschnitt: erster Satz; zweiter Abschnitt: Scherzo; dritter Abschnitt: Adagio und Schlußsatz in eins verbunden (man denke etwa an die Sonaten op. 101 und 110!). Dieser Vergleich ist vielleicht mehr als ein Vergleich: Beethoven kann sehr wohl das Chorfinale mit Bedacht dem Ablaufe der ganzen Symphonie ähnlich gestaltet haben. Indessen gibt der Vergleich über die eigentliche technische Konstruktion keinen Aufschluß. Denn in der Sonate oder Symphonie ist jeder Satz ein auch für sich verständliches Gebilde, die einzelnen Abschnitte des Chorfinales aber sind bloße Glieder seiner Gesamtform und formal nur als solche möglich. 2 ) Vgl. hierzu meine Aufsätze in Sandbergers Neuem Beethoven]ahrbuch Bd.II (1926): „Zur neunten Symphonie" und Bd. III (1927): „Zwei zur Urschrift der neunten Symphonie gehörige verirrte Blätter". Ich habe dort bewiesen, daß das Presto zu Anfang des Finales von Beethoven mit J = 66 (und nicht J = 96, wie fälschlich in allen Partituren steht) metroO ' Ö· nomisiert worden ist.
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in der Ausführung dieses Planes hat er nicht, wie Schenker meint, die schlichte Form a, b, ab benutzt, sondern die im Vorigen geschilderte sehr viel verwickeitere Form eines Großbars mit zwei Großabgesängen, in der freilich das zweite Hauptthema keinen eigenen Abschnitt für sich allein erhalten hat, dafür aber an eine Stelle gerückt worden ist, an der es aufs allerwirksamste seine innere Bedeutung und Kraft entfalten kann.1) Um aber Beethovens Plan des Chorfinales, nachdem er uns in rein musikalischer Betrachtung deutlich wurde, noch vollends verständlich zu machen, sei nun auch auf den Gesangtext eingegangen, so wie er sich innerhalb des kunstreichen musikalischen Gebäudes ausnimmt. x ) Als ich die Abhandlung bis hierher so, wie sie gedruckt ist, fertiggestellt hatte, war mir von der Auslegung des Textes, in der sie gipfelt, noch gar nichts eingefallen. Meine Erklärung der musikalischen Form ist nicht von meiner Textauslegung abhängig, sondern umgekehrt diese von jener. — Nachträglich sei noch folgendes hinzugefügt. Der dritte Abschnitt behandelt auf freie Weise in der Doppelfuge des Allegro energico die beiden Stollen der Freudenmelodie, im Kanon des Allegro ma non tanto den Vordersatz und am Ende des Prestissimo den Nachsatz ihres Abgesanges, mithin Stück für Stück die vollständige Freudenmelodie. Diese freie Behandlung der Freudenmelodie wird durch ein Grave (Andante — Adagio) mit der Aufstellung des zweiten Hauptthemas eingeleitet und findet selbst dann innerhalb der Verarbeitung dieses zweiten Hauptthemas statt, in die sie kunstvoll hineingeflochten ist: man fühlt sich dabei an die Behandlungsart der Choralmelodien in Bachs Choralvorspielen und in seinen Kantaten erinnert. Insofern nun kann man den dritten Abschnitt in seiner Ganzheit als die n e u n t e V a r i a t i o n des ersten Hauptthemas betrachten. Von hier aus stellt sich das Chorfinale als barförmige Variationenreihe dar: der erste Abschnitt bringt die Großstollen, der zweite knüpft daran den Großabgesang, den er mit Fugato und Reprise des unfigurierten Themas in der achten Variation beendigt, und der dritte Abschnitt krönt zuletzt abschließend den Großabgesang und so auch die ganze Variationenreihe mit der neunten Variation, als einer freien Behandlung und Reprise des Themas im allergrößten Stile. Diese Erklärung deckt sich sachlich mit der oben im Texte vorgetragenen, gibt ihr aber vielleicht eine noch einleuchtendere und zwingendere Fassung.
Zweites H a u p t s t ü c k
Der musikalische Aufbau und der Sinn der Dichtung. Das moralische Gesetz in uns und der gestirnte Himmel über uns, Kant!!! Beethoven. Was den großen Ring bewohnet, Huldige der Sympathie! Zu den Sternen leitet sie, Wo der Unbekannte thron etSchiller.
Das Chorfinale stellt eine außerkonfessionelle Gottes- und Menschheitsfeier dar, gleichsam ein Weihefest der Humanitätsreligion. Beetnoven hat die Worte Schillers Ode „An die Freude" entlehnt. Diese Ode ist von Schiller zuerst 1786 in der „Thalia" veröffentlicht worden, und aus diesem Drucke wird Beethoven sie kennengelernt haben, als er Ende des Jahres 1792, zur Zeit seiner Übersiedelung von Bonn nach Wien, den freilich unausgeführt gebliebenen Plan hegte, sie vom Anfange bis zum Schlüsse durchzukomponieren.1) Hier in der neunten Symphonie hat er sich auf eine Auswahl aus Schillers Versen beschränkt. Auch hat er hier den von der ersten Fassung ein wenig abweichenden (und übrigens um den ursprünglichen Schluß gekürzte^) Text der späteren Ausgaben von Schillers Gedichten benutzt.2) In diesen Ausgaben besteht die Ode aus acht achtzeiligen Strophen; an deren *) Vgl. T h a y e r , Beethovens Leben, Bd. I s Seite 303 und Bd. V Seite 19. Dazu Schied e r m a i r , Der junge Beethoven, Leipzig 1925, Seite 221 f. a ) Gedichte von Friedrich Schiller, zweiter Teil, Leipzig (Crusius) 1803 und öfter. Schillers Sämtliche Werke, 3. Bd., Stuttgart (Cotta) 1812. Beethoven hat vielleicht ein Nachdruck vorgelegen, was aber ohne Bedeutung ist. In seinem Nachlasse befanden sich, wie S c h i n d l e r berichtet, „nur die Gedichte und einige Dramen" (Beethovenbiographie, herausgeg. von K a l i s c h e r , Berlin und Leipzig 1909, Seite 528). S c h i n d l e r eignete sich davon den sechsten, Jungfrau und Teil enthaltenden Band der Wiener Ausgabe von 1810 an (siehe L e i t z m a n n , Ludwig van Beethoven, Leipzig 1921, Bd. I I Seite 380). In dem gerichtlichen „Schätzungsprotokoll" der in Beethovens „Verlassenschaftsmasse'· „gehörigen Bücher" vom 5. Mai 1827 (abgedruckt bei L e i t z m a n n I I 381 ff.) wird noch die Grätzer Taschenausgabe der Sämtlichen Werke von 1824 aufgeführt, und zwar „21 verschiedene Bände und drei Kupferhefte" (diese Ausgabe hat aber, nach G o e d e i e , nur 18 Bände und anscheinend keine Kupferhefte, was L e i t z m a n n I I 382 nicht anmerkt). Ihr Vorhandensein widerspricht der obigen Behauptung S c h i n d l e r s . S c h i n d l e r berichtet nun (Seite 726f.) davon, daß man in Beethovens „Nachlaß jeglicher A r t " fremde Gegenstände eingeschmuggelt habe, um bei der Versteigerung für sie „ansehnliche Preise" zu erzielen. Er bezeichnet eine Reihe von Musikalien als eingeschmuggelt. Ob auch die Grätzer Ausgabe eingeschmuggelt worden ist, muß dahingestellt bleiben ( L e i t z m a n n erwähnt die Schwierigkeit leider gar nicht).
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jede sich ein vierzeiliger Chorrefrain schließt. Beethoven hat nur einzelne Strophen und Refrains in folgender Ordnung verwendet: erste, zweite, dritte Strophe, vierten Refrain, erste Strophe, ersten Refrain, dritten Refrain, erste Hälfte des ersten Refrains gleichzeitig mit erster Hälfte der ersten Strophe, Vers 1—3 des dritten, zweite Hälfte des ersten Refrains, die ersten beiden Verse der ersten Strophe verkürzt und deren ganze zweite Hälfte, ersten Refrain, erste Hälfte des ersten Refrains, ersten, zweiten und letztmals ersten Vers der ersten Strophe. Er behandelt dabei die Refrains nicht als solche, wie diese Ordnung schon erweist, sondern auf gleicher Linie mit den Strophen, mithin auch als Strophen. Die Frage ist, ob seine Textanordnung nur musikalisch-musikantisch begründet ist, oder ob ihr ein tieferer Sinn innewohnt. Wer Beethovens Geistesart kennt, wird das zweite voraussetzen müssen1), und um so mehr, als man weiß, daß Beethoven bewußt geplant hat, Teile der Freudenode „zu einem Ganzen" zu bringen, also doch wohl zu einem auch gedanklich sinnvollen „Ganzen". 2 ) Suchen wir darum diesen notwendig vorauszusetzenden tieferen Sinn aufzuspüren! Wir gehen zu diesem Zwecke das Chorfinale noch einmal seiner ganzen Ausdehnung nach durch. Es beginnt mit einem Instrumentalvorspiel, das den ersten Teil der von den Sängern anzustimmenden Feier, wenn auch in etwas abweichender Gestalt, vorausnimmt: es umfaßt die Takte 1—207, also was wir vorher den ersten Großstollen nannten. Die beiden „Schreckensfanfaren" des Anfangs erscheinen gleichsam als das Stimmungsergebnis der vorangegangenen drei Sätze der Symphonie; es wird in den beiden folgenden Rezitativen verworfen (die Stollen der rezitativischen Einleitung). Diese Verwerfung findet ihre zurückgreifende Erläuterung im einzelnen an den Hauptthemen der ersten drei Sätze, wobei die Rezitative von Thema zu Thema freundlicher werden; endlich erlangt das vorklingende Hauptthema des vierten Satzes, unseres Chorfinales, Zustimmung (der Abgesang der rezitativischen Einleitung).3) Und nun folgt der Vortrag des ersten Hauptthemas, seiner drei ersten Variationen und der anschließenden Coda des ersten Großstollens. Mit Takt 208 hebt sich sozusagen der Vorhang und der Satz fängt mit dem Beginne des zweiten Großstollens jetzt gleichsam von neuem an. Wieder x ) Man denke besonders an Beethovens Mitwirkung beim Texte des „Fidelios"! Vgl. darüber: F r i e d r i c h L u d w i g , Beethovens Leonore, Mitteilungen des Universitätsbundes Göttingen, Jahrgang I X , Heft 1, 1927, Seite 12 ff. Ferner lese man die Worte über die C-durMesse im Briefe an Breitkopf u. Härtel vom 8. Juni 1808 ( K a l i s c h e r , Beethovens Sämtliche Briefe Nr. 163, Bd. I Seite 229): „Von meiner Messe, wie überhaupt von mir selbst, sage ich" nicht gerne etwas, jedoch glaube ich, daß ich den T e x t behandelt habe, wie er wenig behandelt worden." 2)
Siehe später Seite 69. Vgl. hierzu in den Skizzen Beethovens die Versuche, den Rezitativen Worte unterzulegen. Siehe T h a y e r , Bd. V Seite 27—30; N o t t e b o h m , Zweite Beethoveniana, Leipzig 1887, Seite 189—191. Ich komme darauf später, Seite 82f., zurück. 3)
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spricht die Schreckensfanfare die nach den drei ersten Sätzen gebliebene Stimmung aus. Der Baritonsolosänger mahnt: „ 0 Freunde, nicht diese Töne!"1) Aber er unterläßt es, seine Mahnung an den Themen der früheren Sätze im einzelnen zu erläutern: nachdem das Instrumentalvorspiel dies bereits geleistet hat, ist ein solcher Rückblick hier nicht abermals nötig. Und So fährt er unmittelbar fort: „sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere". Zweimal ruft er sodann das Wort „Freude" aus und die BäSse des Chores jauchzen ihm, beidemale das Wort wiederholend, unisono zu. Damit ist die rezitativisohe Einleitung des zweiten Großstollens beendigt. Der vielfach und auch von Schenker2) gegen Beethoven erhobene Vorwurf, daß es unlogisch sei, den Sänger „nicht diese Töne" rufen zu lassen, nachdem im vorangegangenen Instrumentalteile „soeben erst die angenehmeren und freudenvolleren gefunden und willkommen geheißen" wurden, scheint sich mir durch den Vergleich dieses Instrumentalteiles mit der Instrumentaleinleitung eines Gesangauftritts auf der Bühne ohne weiteres zu erledigen.3) Das „nicht diese Töne" bezieht sich natürlich nur auf die den Vokalgroßstollen eröffnende Schreckensfanfare und damit auf die drei ersten Sätze. Wenn Schenker dies mit der Begründung ablehnt: „Die Figuration des D-moll-Dreiklangs allein drückt ebensowenig hier wie seinerzeit im ersten Teile schon irgendwelche ,, „Töne" " aus, da vielmehr unter wirklichen „ „Tönen" " Beethoven durchaus nur mehr oder minder ausgeprägte „ „Themen" " als Träger bestimmter Stimmungen verstehen durfte 4 )", so kann ich da offen gestanden mit ihm nicht mehr mit. Mir erscheint dies als (sit venia verbo!) schlimme Schulmeisterei. Der zweite Unterteil des Vokalgroßstollens bringt drei Strophen des Freudenliedes, in denen für die Teilnehmer an der Feier die Bedeutung der Freude im Menschenleben und im Umkreise der ganzen Schöpfung frei poetisch dargelegt wird. Jede Strophe wird zunächst von Solisten vorgetragen, dann wiederholt der Chor jeweils die zweite Hälfte (den Abgesang) gleichsam als Responsion. Die dritte Responsion erweitert sich zu der den Vokalgroß stollen abschließenden Coda und betont den Hinweis auf Gott, den Urheber der Schöpfung. Dieser Teil ist, wenn ich so sagen darf, dogmatisch-lehrhaft; doch wird die Lehre bewegten Gemütes dargeboten und aufgenommen. Bemerkenswert ist nun, daß die erste Strophe vom Baritonsolo allein vorgetragen und lediglich von Baß, Tenor und Alt des Chores respondiert wird, l
) Auffallend ist, daß der Vorhalt in den Violoncelli und Contrabässen des Taktes 16 Wer in der Gesangstimme des Taktes 221 vermieden wird. ?) A. a. 0 . Seite 268, Aus den Skizzen Beethovens geht hervor, daß er „längere Zeit hindurch im Sinne hatte, das Finale mit einem thematisch für sich bestehenden Instrumentalvorspiel zu beginnen". Entwürfe zu dem „Anfang einer Overtur" haben sich erhalten. Siehe N o t t e b o h m a. a. 0 . Seite 186—188. 4 ) Das „ d u r f t e " yon mir gesperrt!
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wogegen sämtliche Stimmen der Solisten und des Chores die anderen beiden Strophen singen und respondieren. Vorgreifend sei gesagt, daß bei jedem ferneren Abschnittbeginne die Männerstimmen die Führung haben: im Alla •Marcia, im Andante maestoso und sogar im Allegro ma non tanto. Schillers Lied an die Freude selbst ist ein in die ideale Sphäre gehobenes Trinklied; als seine Sänger sind von Schiller Männer beim Weine gedacht.1) In Beethovens Strophenauswahl ist die Erinnerung an ein Trinklied — bis auf den Vers: „Küsse gab sie uns und R e b e n " — völlig geschwunden. Es erhebt sich aber die Frage, ob er sich auch Frauen als Teilnehmer an der Feier vorgestellt hat, oder ob Alt und Sopran eigentlich Knabenstimmen sein sollten. Unsere Quellen berichten nichts darüber.2) Daß im Texte der Partitur stets nur von Brüdern, nie aber von Schwestern die Rede ist, läßt sich verständigerweise nicht dafür anführen, daß es sich wie bei Schüler, so auch bei Beethoven um eine Männerfeier handelt. Ich glaube, die Tatsache, daß in der zweiten Strophe mit dem Verse „wer ein holdes Weib errungen" höchst auffallend zum ersten Male der Sopran einsetzt, ist ein genügender Gegenbeweis. Wichtig ist nun aber, daß, wie gesagt, die Männerstimmen an den entscheidenden Stellen den Vorrang haben; nur am Schlüsse des Adagio divoto, im Beginne des Allegro energico und zweimal innerhalb des Allegro ma non tanto gehen auch die Frauenstimmen voran, worüber noch zu reden sein wird. Dieser Vorrang der Männerstimmen hängt damit zusammen, daß das Grundgepräge des Chorfinales, wie wir sehen werden, ein im weitesten und höchsten Sinne politisches ist, und die Politik, nach der Anschauung der Zeit Beethovens wenigstens, von Männern geleitet wird. Wenn hier der dunkle Bariton den lehrhaften Teil beginnt, so ist er als Vertreter des wissenden und an erster Stelle führenden reifen Mannesalters gewählt. Von hier aus begreift sich auch ohne weiteres, warum Beethoven schon das Rezitativ gerade dem Baritonsolo übergeben hat: es redet eben der Versammlungsälteste. Dem selben Gedankengange entspricht es übrigens, wenn im InstrumentalgroßstollenVioloncelli und Kontrabässe die Rezitative und das Thema vortragen; Kretzschmar
Siehe besonders die Strophe 7 mit ihrem Refrain! s
) Man könnte vielleicht denken, daß eine Freimaurerzeremonie auf Beethovens Gestaltung des Chorfinales eingewirkt hat. Aber es ist zweifelhaft, ob Beethoven überhaupt je Freimaurer war, und in späterer Zeit hat er mit Logenbrüdern kaum verkehrt. Vgl. Thayer, Bd. III 2 Seite 197 und 210; Th.v. F r i m m e l , Beethoven-Handbuch, Leipzig 1926, Seite 151f.; A r n o l d S c h m i t z , „Das romantische Beethovenbild", Berlin und Bonn 1927, Seite 86£E. Was S c h m i t z über Beethovens Quelle für die von ihm abgeschriebenen ägyptischen Inschriften sagt, dürfte schwerlich richtig sein: siehe nachher Seite 27, Anm. 3. Damit entfallen dann auch S c h m i t z e n s Folgerungen. Ebenso läßt sich das Wort vom „Isistempel" im Briefe an die Gräfin Erdödy vom 19. Weinmonat 1815, auch ohne daß man eine beabsichtigte „freimaurerische Ausdrucksweise" darin anzunehmen braucht, ganz zwanglos erklären: siehe darüber „Der Bär", Leipzig, Breitkopf u. Härtel 1927, Seite 82f. und die erste Auflage von S c h i n d l e r s Biographie (Münster 1840) Seite 69.
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nennt in seiner Besprechung der letzteren Stelle1) Violoncelli und Kontrabässe „die Väter des Orchesters", womit er, ohne dies freilich zu ahnen, Beethovens Absicht genau trifft. Wenn Schenker sagt, durch das Baritonsolo der Takte 241 ff. gebe sich „kein Zug von Parallelismus gegenüber Takt 92ff., somit auch keine neuerliche Themenauf Stellung kund", so hat er mit dem letzteren gewiß recht: wir sind mit dem Baritonsolo „schon in der ersten vokalen Variation selbst". Deswegen aber den Parallelismus der instrumentalen Themenaufstellung und des Baritonsolos abstreiten zu wollen, scheint mir ein Zweifel an der Sonne Klarheit zu sein. Bei dieser Gelegenheit sei noch nachholend gesagt, daß ich die dritte marschartige Instrumentalvariation schon für eine, im Vorspiel angemessene Vorausdeutung auf das Alia Marcia halte, so daß also das Thema und die beiden ersten Variationen im Instrumentalgroßstollen den drei Strophen des Vokalgroßstollens parallel gingen, die dritte Variation aber das Alla Marcia ankündigte und so den Parallelismus mit dem Vokalgroßstollen durchbräche, dieser dann jedoch in den Coden beider Großstollen wiederhergestellt würde. Wegen der Beziehung auf die dritte Instrumentalvariation aber dem Alla Marcia die Bedeutung eines eigenen und neuen Abschnittes nehmen zu wollen, ist nicht angängig. Wir betrachten nun den Text und die Einzelheiten im zweiten Unterteil des Vokalgroßstollens genauer. Zunächst trägt der Baritonsolist dem Chore die erste Strophe des Freudenliedes allein vor, wie um ihm im allgemeinen zu erläutern, was es mit der von ihm angerufenen Freude für eine Bewandtnis habe: Freude, Schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum! Deine Zauber binden wieder, Was die Mode streng geteilt; Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt. Den gedanklichen Hintergrund des Freudenliedes hat Schiller in dem Abschnitte „Theosophie des Julius" der „Philosophischen Briefe" gezeichnet. Man darf annehmen, daß Beethoven Schillers Prosaschriften gekannt hat. Am 8. August 1809 erbittet er Sich von dem Verlagshause Breitkopf und Härtel in Leipzig „eine Ausgabe von Göthe's und Schillers vollständigen Werken" 2 ), worauf er in einem Briefe an den selben Verlag am 19. September 1 2
) Führer durch den Konzertsaal, I. Abt., Bd. I, 6. Auflage, Leipzig 1921, Seite 247. ) Siehe K a l i s c h e r , Beethovens Sämtliche Briefe Bd. I (1906), Nr. 198, Seite 288.
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1809 nochmals kurz zurückkommt.1) Vielleicht steht es im Zusammenhang damit, wenn er am „Mittwoche, am 2. Winter Monath2) 1809" an Breitkopf und Härtel die Worte schreibt: „Es gibt keine Abhandlung, die sobald zu gelehrt für mich wäre, ohne auch im mindesten Anspruch auf eigentlich Gelehrsamkeit zu machen habe ich mich doch bestrebt von Kindheit.an, den Sinn der Besseren und Weisen jedes Zeitalters zu fassen, Schande für einen Künstler, der es nicht für Schuldigkeit hält, es hierin wenigstens so weit zu bringen."3) Es seien hier nun folgende Worte Schillers angeführt: Ebenda Nr. 201, Seite 292. Es geht aus diesem Briefe nicht klar hervor, ob Beethoven das Gewünschte erhalten hat. Da er aber in den folgenden Briefen an den Verlag die Sache nicht mehr erwähnt, ist es wohl anzunehmen. Daß Ausgaben, wie die hier, gewünschten, in Beethovens Nachlaß nicht aufgeführt werden, dürfte kein Einwand dagegen sein, daß er sie einmal besessen hat. 2 ) November. 3 ) Vgl. K a l i s c h e r , Beethovens Sämtliche Briefe, Bd. I (1906), Nr. 202, Seite 294ff. Beethoven war zweifellos sehr belesen. W a l t e r N o h l hat (Neue Musikzeitung, Jahrgang 47, Stuttgart 1926, Seite 122—124 und 143—146) die „Bücher-Notizen Beethovens aus Zeitungen und Zeitschriften", wie sie sich in den Konversationsheften finden, zusammengestellt. Gewiß hat Beethoven die Bücher, deren Titel er sich aufzeichnete, keineswegs alle gelesen. Aber man empfängt aus dieser Liste einen überwältigenden Eindruck von dem Umfange seiner geistigen Anteilnahme, die sich von der allgemeinen Philosophie und Logik angefangen über alle Wissensgebiete erstreckt. Man bedenke nun: Schindler besaß aus Beethovens Nachlaß ungefähr 400 Konversationshefte und hat von diesen etwa 260 Stück vernichtet; nur 137 befinden sich noch auf der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin, also rund ein Dritteil jener Anzahl (siehe S a n d b e r g e r , Zur neuesten Beethovenliteratur, Neues Beethovenjahrbuch Bd. I I , 1925, Seite 184). Sonach darf man die Liste bloß als etwa den dritten Teil von Beethovens Büchernotizen aus den letzten neun Jahren seines Lebens betrachten! — Auch S c h m i t z weist (a. a. O. Seite 49f.) vortrefflich nach, „daß Beethoven sehr gebildet war". Wenn er aber (Seite 67f.) meint, daß Beethovens Bildungsstreben „zutiefst" einem Bedürfnis nach gesellschaftlichem Ansehn entsprungen sei, so ist das gewiß unrichtig. Beethovens Bildungsstreben war kein abgeleitetes, sondern seiner geistigen Wesenheit ureigentümlich. — Vgl. außerdem noch K a r l W a g n e r , Beethovens Beziehungen zur zeitgenössischen Literatur und Presse, in: Ein Wiener Beethovenbuch, herausgeg. von A. O r e l , Wien 1921, Seite 132ff. Daß Beethoven die „Philosophischen Briefe" gekannt hat, läßt sich besonders wahrscheinlich machen. Die Ode „An die Freude" erschien im Heft 2 des Jahrganges 1786/7 der „Thalia", die „Philosophischen Briefe" im Heft 3 des selben Jahrganges. Wenn Beethoven den ganzen Jahrgang in der Hand gehabt hat, als er die Ode las, mußten ihm auch die „Briefe" in die Augen fallen. Ferner sind die „Briefe" im Jahre 1792 im ersten Bande von Schillers „Kleineren prosaischen Schriften" neu erschienen, also in der Zeit, wo Beethoven zuerst die Absicht faßte, die Ode zu komponieren. Endlich war der jugendliche Professor Fischenich, mit dem Beethoven in Bonn verkehrte, ein begeisterter Schillerverehrer und wohl imstande, Beethoven Schillers Gedanken zu erklären. Fischenich hielt sich von 1791 bis zum Herbste 1792 in Jena auf und befreundete sich dort eng mit Schiller, den er auf Reisen begleitete und in dessen Familienkreise er täglich seine Mahlzeiten einnahm. I m Oktober 1792 verließ er Jena und ist wohl bald nach dem 13., an welchem Tage er Schillern aus Frankfurt schrieb, wieder in Bonn eingetroffen, wo mit Anfang November das Wintersemester beginnen sollte (tatsächlich, wegen der Franzosengefahr, aber erst später begann). Beethoven ist am 2. oder 3. November 1792 nach Wien abgereist. Da wir Fischenichs Brief an Charlotte v. Schiller vom 26. Januar 1793 die Nachricht verdanken, daß Beethoven schon damals die Freudenode komponieren wollte, so ist es als wahrscheinlich anzunehmen, daß Fischenich noch Ende Oktober 1792 mit Beethoven über die Ode gesprochen und auch, daß er ihn dabei auf die „Philosophischen
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„Harmonie, Wahrheit, Ordnung, Schönheit, Vortrefflichkeit geben mirFreude, weil sie mich in den tätigen Zustand ihres Erfinders, ihres Besitzers versetzen, weil sie mir die Gegenwart eines vernünftig empfindenden Wesens verraten und meine Verwandtschaft mit diesem Wesen mich ahnen lassen." „Lebhafte Tätigkeit nennen wir Feuer." „Laßt uns Vortrefflichkeit einsehen, so wird sie unser. Laßt uns vertraut werden mit der hohen idealischen Einheit, so werden wir uns mit Bruderliebe anschließen aneinander. Laßt uns Schönheit und Freude pflanzen, so ernten wir Schönheit und Freude." Freude ist demnach der tätige Affekt der Sympathie, der die Wesen in der Schaffung und im Genüsse vernünftiger Ordnung und Harmonie miteinander vereinigt. Sie ist „schön", weil sie Harmonie ankündigt und stiftet. Sie ist „Götterfunken", weil alle Harmonie auf den göttlichen „Weltenmeister" hinweist und von ihm ausgeht. Sie ist „Tochter aus Elysium", Tochter aus dem „Lande der Hinkunft"1), aus den Gefilden der Seligen, wo „ruhiges Leben Briefe" hingewiesen hat, wenn Beethoven sie bis dahin noch nicht gelesen haben sollte. Vgl. H e n n e s , Andenken an Bartholomäus Fischenich, Stuttgart und Tübingen 1841, Seite 2 und 15; H e n n e s , Fischenich und Charlotte von Schiller, Mainzer Gymnasialprogramm von 1871, Seite 6 und 7; V a r r e n t r a p p , Beiträge zur Geschichte der kurkölnischen Universität Bonn, Bonn 1868, Seite XXI, 38 und 39; dazu T h a y e r , Bd. I 3 , Seite 278, 292 und 303, und S c h i e d e r m a i r a. a. O. Seite 221f. und 234. — Als sicher feststehend darf man ansehen, daß Beethoven Schillers „Sendung Moses" gelesen hat. Denn dieser Abhandlung sind, wie T h a y e r , Bd. I I I 2 , Seite 195f. mit Recht darlegt, die ägyptischen Inschriften entnommen, die Beethoven sich abgeschrieben und eingerahmt auf seinen Schreibtisch gestellt hat. Schiller beruft sich am Schlüsse seiner Abhandlung auf das Buch: Decius (Deckname für C. L. Reinhold), Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerei, Leipzig 1788. L e i t z m a n n I I 374 und ihm folgend S c h m i t z a. a. O. Seite 87 (siehe vorher Seite 25, Anm. 2) meinen, Beethoven habe die Inschriften aus diesem Buche (Seite 54 und 53) abgeschrieben. Jedoch in ihm ist der Wortlaut an einer Stelle ganz anders als bei Schiller und Beethoven. Bei Decius heißt es': „Ich bin alles was ist, war und sein wird, meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgehoben", bei Schiller und Beethoven: „Ich bin Alles, was ist, was war und was sein wird; kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben" (in der dritten Auflage von Schindlers Biographie, Münster 1860, Bd. II, Seite 161 und demgemäß in dem Neudruck von K a l i s c h e r , nach dem ich hier anführe, Seite 505 fehlt das „ u n d " zwischen „war" und „was sein wird": dies ist aber nur die Folge einer Nachlässigkeit, denn die erste Auflage der Biographie, Münster 1840, bringt als „Beilage I " eine Nachbildung der eigenhändigen Abschrift Beethovens, die das „ u n d " zeigt, und druckt auf Seite 250 den Spruch auch ganz richtig einschließlich des „ u n d " ab, so daß er mit der Fassung bei Schiller völlig gleichlautet). An einer anderen Stelle weicht Beethoven von Schiller und Decius ab, in dem Satze: „ E r ist einzig und von ihm selbst usw." hat er das „ u n d " weggelassen (das „einzig" ist hier erstes Prädikat, nicht aber, wie Beethoven gedacht zu haben scheint, nähere Bestimmung zum zweiten Prädikat „von ihm selbst"). Die „Sendung Moses" wird gewiß nicht die einzige Schillerische Prosaschrift gewesen sein, die Beethoven gelesen hat! Übrigens fragt Artaria Beethoven in einem Konversationsheft von Anfang 1825: „Haben Sie gelesen: Über die Sendung Moses von Schiller?" (siehe K a l i s c h e r , Beethoven und Wien, Berlin und Leipzig 1910, Seite 120). — Endlich denke man noch an Beethovens nahe Beziehungen zu Schillers Jugendfreund Andreas Streicher, der ihm gewiß sämtliche Schriften Schillers nach Wunsch zur Verfügung gestellt hat. J
) Vgl. E r w i n R h o d e , Psyche, 5. u. 6. Auflage, Tübingen 1910, Bd. I, Seite 105.
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die Menschen immer beseligt"1), Tochter jener „hohen idealischen Einheit", vermöge deren die Menschen sich „mit Bruderliebe aneinander anschließen", sobald sie in „lebhafter Tätigkeit" „feuertrunken" dahin gelangen, der „Himmlischen" „Heiligtum" zu „betreten". Wenn die Menschen „Brüder werden", dann „binden" die „Zauber" der Freude „wieder", „was die Mode", das heißt die Satzung, Sitte, die sich nach Verlust des glücklichen Naturzustandes zwischen sie stellte, „streng geteilt" hat. In einem seiner ersten Briefe an Körner, am 10. Februar 1785, schreibt Schiller: „Urteilen Sie deswegen von meiner Freundschaft nicht zweideutiger, weil sie vielleicht die Miene der Übereilung trägt. — Gewissen Menschen hat die Natur die langweilige Umzäunung der Mode niedergerissen." Wir erkennen aus diesen Sätzen, was man sich in Schillers und Beethovens Zeit bei dem Worte „Mode" etwa vorstellte. In der ersten Fassung der Freudenode in der „Thalia" lautet der sechste Vers übrigeng „was der Mode Schwert geteilt": danach könnte man auch an die weltliche Gewalt denken, die die Beobachtung der Sitte, der Satzung und des Rechts erzwingt, an den Staat. Da Beethoven die erste Fassung kannte, mochte ihm auch diese Erklärung naheliegen. Es sei nun noch darauf hingewiesen, daß Schiller später in seiner Abhandlung „über naive und sentimentalische Dichtung" dem Dichter „die Aufgabe einer Idylle" stellt, welche die ursprüngliche „Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten, feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten Denkens, der raffiniertesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt, welche, mit einem Wort, den Menschen, der nun nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elysium führt." Schiller versteht hier unter ,,Elysium" die unendliche Aufgabe, die Idee im Sinne Kants, dergemäß die Menschheit sich in ihrer Geschichte vom Naturzustand auf einen Zustand moralisch vollkommener Gemeinschaft hin bewegen soll, so daß der in unendlicher Zukunft liegende „moralische Staat" mithin das Endziel ihrer Geschichte ist, eben das „Elysium". 2 ) Er hat diesen Gedanken 1795—96 1 ) Odyssee IV 565, in der Übersetzung von Voß, die Beethoven besaß; siehe Leitzm a n n a. a. Ο. II, Seite 380. Vgl. auch Schillers Gedicht „Elysium". 2 ) In der Freudenode sowie in der „Theosophie des Julius" bedeutet das Wort „Elysium" auch das Jenseits, den Himmel. Beethoven selbst redet am 17. September 1824 gelegentlich in diesem Sinne von den „Elesäischen Feldern" (siehe K a l i s c h e r , Beethovens Sämtl. Briefe Nr. 1029, Bd. V, Seite 57). Die Verse der Freudenode aber, die diese Bedeutung irgendwie anklingen lassen, gehören alle zu den von Beethoven n i c h t verwendeten: Strophe 5, Refrain 5, Refrain 6, Refrain 8, die von Schiller später gestrichene Strophe 9 und Refrain 9! Beethoven hält sich an die diesseitige Bedeutung, die der Spätere Schiller dem Worte gab, und die die für das Chorfinale wichtigste erste Strophe mit ihrem Refrain ohnehin nahelegt. Dies ist um so auffälliger, als Beethoven sich einmal den Refrain 9 abgeschrieben hat: er muß ihm also besonders gefallen haben; dennoch hat er ihn nicht verwendet (vgl. Ludwig Nohl, Beethovens Brevier, Leipzig 1870, Seite 105). Daß Beethoven die Schillersche Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung kannte, darf man als sicher annehmen, wenn es auch nicht bezeugt ist, da ihn die in ihr behandelten Fragen beschäftigten: in den vorher (Seite 27,
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in seinen Briefen „über die ästhetische Erziehung des Menschen" näher ausgeführt, die Beethoven sicher nicht fremd geblieben sein werden.1) Wir können nun sagen, daß der Baritonsolist, als der Älteste der Versammlung, dem Chore in dem Vortrage der ersten Strophe des Freudenliedes den Plan der elysischen Gemeinschaft entwirft, in den er ihn gewissermaßen einweiht. Bei der Responsion der zweiten Hälfte der Strophe durch den Chor sind, wie schon gesagt wurde, nur Baß, Tenor und Alt beteiligt, nachdem die Bässe allein vorher die beiden Anrufe der Freude respondiert hatten. Erst später in der Responsion der zweiten Strophe tritt der ganze Chor in Tätigkeit. Dies ist musikalisch, als Steigerung, wohl begründet. Man darf es aber auch als ein fortschreitendes Verständnis des Chores für die gehörten Worte betrachten, das sich von den älteren Männern (Bässen) über die jüngeren Männer und älteren Frauen (Tenor und Alt) zu den jüngeren Frauen (Sopran) ausbreitet. Hervorgehoben sei noch die Achtelbewegung in den letzten Vierteln der Takte 254 und 262 bei den Singstimmen, durch die das wichtige Wort „Brüder" so rührend und eindrucksvoll ausgezeichnet wird. An dem Vortrage der zweiten Strophe nehmen alle vier Solisten teil, doch in der ersten VerSzeile zunächst nur Baß, Tenor und Alt, so die Stimmenbesetzung der vorangegangenen Responsion weiterführend, bis mit der dritten Verszeile, zum ersten Male überhaupt, leuchtend der Sopran erklingt. Die Strophe lautet: Wem der große Wurf gelungen, Eines Freundes Freund zu sein, Wer ein holdes Weib errungen, Mische seinen Jubel ein! Ja, wer auch nur eine Seele Sein nennt auf dem Erdenrund! Und wers nie gekonnt der stehle Weinend sich aus diesem Bund. Mit diesen Worten werden die Voraussetzungen angegeben, die die Menschen zum Eintritt in das Freudenreich berechtigen: die Fähigkeit zur Freundschaft, zur Liebe, überhaupt zur innigen Seelensympathie. Die Betonung des Verses Anm. 3) erwähnten Büchernotizen finden wir: „Theorie und litteratur der deutschen Dichtungs Arten von ph. Majer" (1826) und „G. A. Bürger, Lehrbuch der Aesthetik, herausgeg. von Reinhard, 1825" (1826). Kannte er aber die Abhandlung, so muß der in ihr entwickelte Begriff des „Elysiums" ihn aufs äußerste gefesselt und sein Nachdenken angeregt haben. 1 ) In den Büchernotizen zeichnet Beethoven auf: „supplementbände zur Taschenausgabe von Schiller Werken . . . . bei Friedrich christ. wilh. Vogel in leipzig" (1823). Diese Supplementbände, 6 an Zahl, enthalten Fortsetzungen der Geschichten des dreißigjährigen Krieges (von Woltmann) und des Abfalls der Niederlande (von Curths). Wenn Beethoven daran dachte, solche Fortsetzungen zu lesen, so wird er die eignen Schriften Schillers gewiß alle gekannt haben!
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„wer ein holdes Weib errungen" durch den erstmaligen Einsatz des Soprans scheint nicht bloß der Liebe zu gelten, sondern auch der Bedeutung, die das Weib im Freudenreiche gewinnen wird. Die ResponSion der zweiten Hälfte der Strophe leistet, wie bereits erwähnt wurde, diesmal der ganze Chor, so seine Sympathiegemeinschaft vollzählig zum Ausdrucke bringend. Ich weise noch auf die Sforzati beim Worte „nie" in den Takten 281 und 289 und auf die anschließenden diminuendi hin. Die wieder von allen Solisten gesungene dritte Strophe bietet sozusagen eine Metaphysik der Freude: Freude trinken alle Wesen An den Brüsten der Natur; Alle Guten, alle Bösen Folgen ihrer Rosenspur. Küsse gab sie uns und Reben, Einen Freund, geprüft im Tod; Wollust ward dem Wurm gegeben, Und der Cherub steht vor Gott! Die Freude durchdringt die ganze Schöpfung; denn diese ist auf Ordnung, Harmonie und Einheit angelegt, die alle Wesen in der Freude genießen und wirken. Selbst die Bösen, die sich eigensüchtig absondern, müssen doch die allgemeine Harmonie fördern helfen; jeder von ihnen ist, wie Mephistopheles, „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft". In der Liebe, in der fröhlichen Gemeinsamkeit beim Weine wie in der Freundestreue bis zum Tode offenbart sich die Freude, als der die Welt gestaltende Einheitstrieb, der der selbe ist in den Tiefen der Schöpfung, wenn der Wurm Wollust empfindet, und auf ihrer höchsten Spitze, wenn der im Vorhofe Gottes stehende Cherub, Selig Gott schauend1), seine Weisheit mit der göttlichen A.11x ) So nach der von Dionysius Areopagita her übernommenen katholischen Kirchenlehre (vgl. Thomas Aquinas, Summa theo!, p. I qu. 108, art. 5 und 6), die Beethoven als Katholiken bekannt gewesen sein wird. Auch Schillers Vers setzt diese Auffassung voraus. In der Schrift von Decius (siehe vorher Seite 27, Anm. 3), die 1788, also später als die Freudenode erschien, werden die Cherubim, wie der ägyptische Apis, als Sinnbilder der göttlichen Allmacht erläutert (Seite 75ff.). In der „Sendung Moses", die im 10. Heft der „Thalia" 1790 erschien, sagt Schiller im Anschluß datan: „Besonders wurde das Sinnbild des Stiers oder des Apis als das Emblem der Stärke gebraucht, um die Allmacht des höchsten Wesens zu bezeichnen, der Stier aber heißt in der Ursprache Cherub." Beethovens Geist beschäftigte sich jedoch nicht nur mit Gottes Allmacht, sondern auch mit Gottes Allwissenheit: „Seine Allwissenheit ist von eigener Eingebung, und sein Begriff begreift jeden andern. Von allen vielbegreifenden Eigenschaften ist die Allwissenheit die größte — Für sie giebt es keine dreifache Art des Seins — Sie ist von allen unabhängig." So heißt es einmal in den Auszügen aus dem indischen Schrifttum (siehe T h a y e r I I I 2 193 und L e i t z m a n n II 252). In seiner Komposition weist Beethoven vielleicht durch das „ben marcato", das f und ff und die halben Noten auf die göttliche Allmacht hin. Andrerseits hebt er das Vor-Gott-Stehen des Cherubs
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wissenheit erfüllt.1) Hierzu mögen noch folgende Worte aus Schillers „Theosophie" angeführt werden: „Es gibt Augenblicke im Leben, wo wir aufgelegt sind, jede Blume und jedes entlegene Gestirn, jeden Wurm und jeden geahnten höheren Geist an den Bugen zu drücken — ein Umarmen der ganzen Natur, gleich unsrer Geliebten." „Der Mensch, der es So weit gebracht hat, alle Schönheit, Größe, Vortrefflichkeit im Kleinen und Großen der Natur aufzulesen, um zu dieser Mannigfaltigkeit die große Einheit zu finden, ist der Gottheit schon sehr viel näher gerückt." Damit vergleiche man Beethovens Auöspruch: „nur die Kunst und die Wissenschaft erhöhen den Menschen bis zur Gottheit."2) Man kann demnach sagen: mit dem Vortrage der dritten Strophe verschaffen die Solisten dem Chore ein umfassendes Weltbewußtsein und heben ihn dadurch auf der Stufenleiter der Wesen, die vom Wurme zum Cherub hinaufführt, weit empor, der Nähe der Gottheit entgegen. besonders hervor und damit seine Anteilnahme an Gottes Wesen, die eben die Anteilnahme an Gottes Allwissenheit und insofern Seligkeit und Freude ist. ·— G r o v e (Beethoven und seine Neun Symphonien, deutsch von H e h e m a n n , London 1906, Seite 344) sagt: „die in vier Oktaven gehenden Figuren [Takt 326 und 328] bei den Worten »Vor Gott« lassen uns darauf schließen, daß Beethoven mit dem Worte Cherub die Vorstellung eines feurigen Wesens verband". Dies ist wohl unrichtig. Die Streicherfiguren fallen auf das Wort „ G o t t " allein. Will man Sie sinnbildlich deuten, so kann man nur annehmen, daß sie das Herniederstrahlen der göttlichen Kraft und Herrlichkeit in die Tiefen der Schöpfung bezeichnen. Der Cherub nimmt das Strahlen als erstes Geschöpf wahr und leitet es zu den niederen Engeln weiter. Diese sind unter ihm, wie unter ihnen die übrige Welt. Der Cherub steht unmittelbar vor Gott (während der noch höhere Seraph mit Gott, „den des Seraphs Hymne preist", durch die Gottesliebe vereinigt ist). 1 ) A r n o l d S c h m i t z sagt in seinem Buche „Das romantische Beethovenbild", Berlin und Bonn 1927, Seite 159: „Beethoven läßt bekanntlich den Worten »Wollust ward dem Wurm gegeben und der Cherub steht vor Gott« gleich den Siegesmarsch folgen: »Froh wie seine Sonnen fliegen . . . .« Hier erkennen wir an der selbstherrlichen Umgruppierung des Textes, was ihm die Worte »Wollust — Cherub — Siegen« bedeuten: die Idee der sittlichen Selbstüberwindung." — Ich glaube nicht, daß dies so richtig ist. I n Schillers Gedicht ist der Gegensatz Wurm — Cherub ein quantitativ-gradueller, kein qualitativer: in seiner Wollust empfindet der Wurm das Geringstmaß von Freude, in seiner Gottesanschauung der Cherub das Höchstmaß, beides, Wollust und Gottesanschauung, sind Stufen derselben Freude, die das All durchwaltet. In Beethovens Komposition der Strophe ist nicht im mindesten angedeutet, daß er den Gegensatz Wurm — Cherub als Symbol des Kantischen qualitativen Gegensatzes Neigung — Pflicht genommen wissen will. Ich sehe im Siegesmarsche nicht mit S c h m i t z eine Schilderung der sittlichen S e l b s t ü b e r w i n d u n g , sondern eine Schilderung der sittlichen S e l b s t e n t w i c k l u n g . Denn seine Anknüpfung an den ersten Abschnitt ist nicht in der Weise begründet, daß man als Programm des Marsches den Sieg des Cherubs im Menschen über den Wurm in ihm bezeichnen dürfte. Wohl aber darf man annehmen, daß der Siegesmarsch die sittliche Entwicklung der Menschen zu der ihnen erreichbaren höchsten Stufe der Freude, also vom Wurme weg auf den Cherub hin beschreibt. 2 ) I m Brief an Emilie M. zu Hamburg vom 17. Juli 1812; siehe T h a y e r I I I 2 Seite 319. Verwandt klingen die bekannten Worte im Briefe vom August 1823 an den Erzherzog Rudolf ( K a l i s c h e r , Beethovens Sämtl. Briefe Bd. IV, Nr. 958, Seite 329/30): „höheres giebt es nichts, als der Gottheit sich mehr als andere Menschen nähern, und von hier aus die strahlen der Gottheit unter das Menschengeschlecht verbreiten." Man darf in diesen an den Kardinal gerichteten Worten wohl eine Anspielung auf die katholische Engellehre erblicken.
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Dazu stimmt es dann gut, wenn der Chor in seiner Responsion der zweiten Strophenhälfte das Wort von dem vor Gott stehenden Cherub so bedeutsam und nachdrücklich wiederholt. Er fühlt sich selber, dem Cherub gleich, in die Nähe der Gottheit entrückt! Die musikalische Gestaltung der Strophe zeigt eine Auflösung der Freudenmelodie in lebhafte Achtelfiguration. Die Männer (Baß und Tenor) beginnen mit den beiden ersten Verszeilen, dann folgt mit der dritten und vierten Verszeile die Altstimme. Erst in der zweiten Strophenhälfte tritt der Sopran hinzu, indem er das „KüsSe gab sie uns und Reben" dadurch besonders hervorhebt, was der Art und dem Sinne nach der Hervorhebung des „wer ein holdes Weib errungen" in der zweiten Strophe entspricht. Eindrucksvoll choralhaft ist die Wiederholung des „und der Cherub steht vor Gott" in der vom Chore gesungenen Coda. Damit ist der zweite Unterteil des Vokalgroßstollens beendigt. Zusammenfassend dürfen wir über ihn sagen: die Solisten stellen in ihm den Plan der elysiöchen Gemeinschaft auf (erste Strophe), geben die Bedingungen für den Eintritt in sie an (zweite Strophe) und legen zuletzt das Weltbild dar, dem sie gemäß ist und sein Soll (dritte Strophe); und dem, was die Solisten verkündigen, stimmt der Chor in seinen Responsionen zu. Der zweite Abschnitt, das Alla Marcia, beginnt, wie der erste Abschnitt, mit einem Instrumentalvorspiel: kriegerische Klänge, „türkische Musik"1), beschwingter 6/8-Rhythmus! Etwas ganz Neues hebt an! Dem Instrumentalvorspiele folgt die vierte Textstrophe, die, wie gesagt wurde, bei Schiller ein Refrain und keine Strophe ist. Wohl aber ist sie bei Beethoven eine Strophe. Sie lautet: Froh, wie seine Sonnen fliegen Durch des Himmels prächtgen Plan, Laufet2), Brüder, eure Bahn, Freudig, wie ein Held zum Siegen. In den Skizzen findet sich folgende Bemerkung Beethovens zum Alia Marcia: „Türkische Musik — erst pianissimo — einige laute pp m0 — einige Pausen — dann die vollständige Stärke." Siehe N o t t e b o h m a. a. 0 . Seite 186. Was „einige laute pp mo " heißen soll, ist dunkel. Die Takte 13—44 des Alla Marcia hat Beethoven übrigens erst nach Vollendung der Urschrift, die sie noch nicht mit enthält, der Symphonie eingefügt. Siehe darüber meinen Aufsatz in Sandbergers „Neuem Beethovenjahrbuch" Bd. III, 1927, Seite 112. 2 ) S c h m i t z a. a. 0 . Seite 174, Anm. 1 sagt: „Sehr charakteristisch ist auch im Finale der Neunten die Änderung der Textstelle » w a n d e l t Brüder eure Bahn«. Beethoven läßt bekanntlich singen: » l a u f e t Brüder eure Bahn«. Dies mochte ihm »aufgeweckter« erscheinen." — S c h m i t z irrt hier. Die Lesart „laufet" ist die ursprüngliche Schillerische. Sie findet sich in der „Thalia", in der Gedichtsammlung von 1803 und ihren späteren Auflagen, im dritten Bande der Gesamtausgabe von 1812; Beethoven konnte keine andere kennen. Schiller hat im Jahre 1804 eine Auswahl seiner Gedichte für eine geplante Prachtausgabe, die aber nach seinem Tode nicht zustande kam, zusammengestellt und von seinem Diener abschreiben lassen: darin hat er eigenhändig das „laufet" in „wandelt" umgeändert. Diese Tatsache
0 . B a e n s c h , Aufbau und Sinn dee Chorfinales in Beethovens neunter Symphonie.
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Der Vergleich mit den durch den Himmel fliegenden Sonnen hat seinen Ursprung in der Begeisterung für die Sternenwelten, die seit der Renaissance und zumal seit dem Auftreten Giordano Brunos bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lebendig war.1) Wie der junge Schiller, hat auch Beethoven an ihr teilgenommen. In seiner Bücherei befand sich des berühmten Astronomen Johann Eiert Bodes „Anleitung zur Kenntnis des gestirnten Himmels"2) und Kants „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels".3) Aus Kants Werk hat er sich einige Sätze abgeschrieben4), von denen ich die folgenden anführe: „Nicht der ungefähre Zusammenlauf der Atomen des Lucrez hat die Welt gebildet; eingepflanzte Kräfte und Gesetze, die den weisesten Verstand zur Quelle haben, sind ein unwandelbarer Ursprung derjenigen Ordnung gewesen, die aus ihnen nicht von ungefähr, sondern notwendig abfließen mußte."5) „[Der eine Schluß ist ganz richtig:] Wenn in der Verfassung der Welt Ordnung und Schönheit hervorleuchten, so ist ein Gott. Allein der andere ist nicht weniger gegründet: Wenn diese Ordnung aus allgemeinen Naturgesetzen hat herfließen können, So ist die ganze Natur notwendig eine Wirkung der höchsten Weisheit."6) Hiermit halte man zusammen, daß Beethoven 1820 in einem Konversationshefte sich anmerkte: „Das moralische Gesetz in uns und der gestirnte Himmel über uns, Kant!!!" die berühmten Worte aus dem „BeSchluß" von Kants „Kritik der praktischen Vernunft.'"') Auf Grund des ist erst lange nach Beethovens Tode bekannt geworden: als erste bringt das „wandelt" die Ausgabe der Gedichte Schillers von Joachim Meyer, Stuttgart 1845. Vgl. Schillers sämtliche Schriften, historisch-kritische Ausgabe von Goedeke, Teil IV, Stuttgart 1868. Ich bezweifle übrigens, daß Schiller sich beim Drucke der Prachtausgabe endgültig für das „wandelt" tentschieden haben würde, das jetzt alle unsere Ausgaben zeigen. 1
) Vgl. H e r m a n n S c h m a l e n b a c h , „Die religiösen Hintergründe der kantischen Philosophie". Blätter f ü r deutsche Philosophie Bd. I, Berlin 1927/28; siehe bes. Seite 55—56. Man denke auch an Gellerts „Ehre Gottes aus der Natur", die Beethoven komponiert hat. 2 ) „mit Kupfern", Berlin (ohne Jahr). Siehe L e i t z m a n n a. a. Ο. II, Seite 383. I n Beethovens Bücher-Notizen sind mehrere astronomische Schriften aufgezeichnet. 3 ) Siehe L e i t z m a n n a. a. Ο. II, Seite 381. Beethoven besaß die Ausgabe von 1798, Zeitz bei Wilhelm Webel. 4 ) Ebenda Seite 258, Nr. 116—118 der persönlichen Aufzeichnungen. Ich führe Beethovens Auszüge nicht nach dem Fischhofischen Manuskripte an, sondern in der ursprünglichen Fassung Kants. Die kleinen Ungenauigkeiten des Manuskripts sind wohl eine Folge der. schlechten Lesbarkeit von Beethovens Schrift. 5 ) Kants Werke, Ausgabe der Preußischen Akademie, Bd. I, Berlin 1902, Seite 334. Reclamausgabe Seite 131. 6 ) Kants Werke, Akademieausgabe Bd. I, Seite 346. Reclamausgabe Seite 145. - ') Siehe Beethovens Konversationshefte, herausgeg. von W a l t e r N o h l , Bd. I, München 1923—24, Seite 307. Unmittelbar darauf wird „Littrow, [der damalige] Direktor der [Wiener] Sternwarte" erwähnt, dessen „Populäre Astronomie" von 1825 auch in den Bücher-Notizen erscheint (1825). Wie L u d w i g N o h l festgestellt hat (Beethovens Leben, Bd. I I I , Leipzig 1877, Seite 181), entnahm Beethoven die Kantworte einem Aufsatze Littrows: „Kosmologische Betrachtungen" in der „Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Moden", 5. Jahrgang 1820, welchem Jahrgange als Musikbeilage auch Beethovens „Abendlied unterm gestirnten Himmel" beigegeben ist. Die ganze Kantstelle lautet im Urtexte: „Zwei Dinge er-
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Angeführten werden wir sagen dürfen: der frohe Flug der von Gott erschaffenen Sonnen durch des Himmels prächtgen Plan nach den von Gottes Weisheit angeordneten Gesetzen erschien Beethoven als Sinnbild des menschlichen Handelns nach dem moralischen Gesetz. Der Quell des moralischen Handelns ist hier aber wiederum die auf Harmonie und Ordnung zielende Freude. Die Strophe fordert also im Sinne Beethovens zu freudeerfüllter sittlicher Betätigung, zum moralischen Heldentum auf, das heißt, sie fordert dazu auf, die Freude als Gesinnung zur inneren Triebfeder des Handelns zu machen, das Leben der Freudegeöinnttng gemäß zu gestalten. Abermals, wie beim Vortrage der ersten Strophe, ist es ein männlicher Solist, der allein die Strophe singt, was, wie schon angedeutet wurde, formal, als Analogie zu jenem Solovortrage der ersten Strophe, den Beginn des neuen Abschnitts bezeichnet. Der Solist ist jetzt, weil die Strophe praktisch-imperativisch ist und zum Handeln aufruft, ein Tenor als Vertreter jugendstarker Kraft. Hier respondieren lediglich die Männerstimmen des Chores die zweite Strophenhälfte, wogegen vorher nach dem Baritonsolo ihnen noch der Alt beigesellt war: im sittlichen Streben der Gemeinschaft sind die Männer die Helden und Vorkämpfer. Indessen ist der Gesang des Männerchores hier kein eigentliches Respondieren, vielmehr ein Miteinstimmen in des Vorsängers Gesang, der nicht nach dem ersten Abgesange der Freudenmelodie aufhört, sondern sich auch in deren zweiten Abgesang hinein fortsetzt und über diesen hinaus erst mit dem Schlüsse des Anhangs endigt, wobei der Männerchor ihn bis zuletzt begleitet. Während im ersten Abschnitte, den wir als dogmatisch-lehrhaft bezeichnen konnten, der Chor den Abgesang immer erst wiederholt, nachdem die Solisten den Vortrag der Strophen vollendet haben, wie um durch die Wiederholung zu zeigen, daß er das Vorgetragene wohl aufgefaßt habe, stimmt hier der Chor in den Sologesang, ohne dessen Aufhören abzuwarten, mit ein, wie fortgerissen von ihm und als ob sein Wille sich mit dem Willen des Vorsängers verschmölze. Zeigte der erste Abschnitt von Seiten des Chores ein begeistertes Verstehen, so entflammt sich nun des füllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir." In Littrows Aufsatz sind diese Worte frei so wiedergegeben (Seite 107): „Zwei Dinge sind es, die den Menschen über sich selbst erheben und zur ewigen, immer steigenden Bewunderung führen: Das moralische Gesetz in uns, und der gestirnte Himmel über uns." Hier haben wir also den Wortlaut der Beethovenschen Aufzeichnung. Littrow nennt übrigens Kant ausdrücklich. Man darf demnach aus Beethovens Eintragung nicht schließen, daß er die Kritik der praktischen Vernunft gelesen hat, freilich auch nicht, daß er sie nicht gelesen hat. Wie S c h i e d e r m a i r (a. a. O. Seite 332) nachgewiesen hat, ist Kants Philosophie Beethoven bereits während seiner Bonner Jugend- und Universitätszeit in eindrucksvollster Weise nahegetreten und seitdem eine bestimmende Macht seines Lebens gebheben.
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Chores Wille dazu, sich völlig mit "der Freudegesinnung zu durchdringen und aus ihr heraus zu handeln. 1 ) Dem entspricht nun auch der im Vergleich mit dem ersten Abschnitte völlig neuartige Fortgang. Der Chor nimmt jetzt nicht mehr weitere Vorträge der Solisten entgegen. Der Imperativ des Tenors hat gewirkt. Um die folgende Entwicklung, das Instrumentalfugato mit seinem Anhange, richtig zu würdigen, ist es geboten, sogleich deren Endpunkt und Ziel ins Auge zu fassen: die strenge achte ( = fünfte Vokal-) Variation des Freudenliedes. In dieser singt zum ersten Male der Chor, der sich bisher nur respondierend und miteinstimmend verhalten hatte, ohne irgendwelche Anregung von Seiten der Solisten, für sich allein und frei von sich aus mit allen Stimmen das ganze Freudenlied auf den Text der grundlegenden ersten Strophe: hat er im ersten Abschnitte die Freudelehre wohl aufgefaßt, so ist sie nun am Ende des zweiten Abschnittes in ihm durchaus eigene, innerlichst selbsterworbene Gesinnung geworden. Demnach kann das Instrumentalfugato nichts anderes bedeuten, als die völlige innere Aneignung der vom Tenor anbefohlenen Freudegesinnung durch den Chor. Es ist, als ob sich im Chore ein innerer Entwicklungskampf abspiele. Nicht zufällig scheint im Stollenteile des Fugatos Beethovens Kampftonart c-moll auf.2) Das Thema des Fugatos, eine Variante des FreudenJiedanfanges, tritt gleichsam in einen bewegten und verworrenen Gärungsprozeß ein, der sich schließlich im Anhange abklärt. 3 ) Das polyphone Stimmengewirr sammelt sich zu homophoner Einheit. Die moralische Entwicklung des Chores ist beendigt. Begeistert sieht er das Ziel vor sich (Takt 199 bis 200); er vergleicht es mit der unzulänglichen Wirklichkeit (Takt 205—206); dann faßt er sich zum Entschlüsse zusammen (Takt 211—212) und singt aus diesem heraus in der bereits geschilderten Art die erste Strophe: Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum ! Deine Zauber binden wieder, Was die Mode streng geteilt; Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt. Am 12. Januar 1826 schrieb Beethoven, man weiß nicht, an wen: „Handle! sieh die Wissenschaft machte nie glücklich." Er meint natürlich die Wissenschaft allein und für sich, sofern sie nicht für das Handeln fruchtbar wird. Siehe Kantstudien Bd. 31, 1926, Seite 129. η Vgl. vorher Seite 9f. 3 ) Wagner (Ges. Schriften und Dichtungen II 2 , Seite 62) sieht im Fugato einen „freudigen Kampf", „Jünglinge", die sich „mutig in eine Schlacht stürzen". Dem scheint mir das vielfache Moll und die Instrumentation zu widersprechen, die weder die Trompeten und Piccoloflöten, noch das Schlagzeug verwendet. Außerdem ergibt diese Deutung im Zusammenhange des „Ganzen" keinen Sinn.
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Jetzt ist es so weit: jetzt können in der Wirklichkeit des Handelns alle Menschen Brüder werden! Wie in den Takten 254 und 262 des ersten Abschnittes wird auch hier in den Takten 240 und 256 des Alla MarGia das Wort ,,Brüder" melodisch ausgezeichnet; hier erhält es außerdem noch, wie es der Einsicht und Absicht des Chores an dieser Stelle gemäß ist, eine Sforzato! Nachdem der Chor auf die angegebene Weise das Freudenlied innerlichst in seinen Willen, in seine Gesinnung aufgenommen hat, ist eine weitere notengetreue oder figurierte Wiederholung des Liedes als Ganzen nicht mehr erforderlich, und es ist daher höchst sinnvoll und wohl verständlich, daß eine solche fernerhin auch nicht mehr stattfindet. Wie der selbständige Vortrag der ganzen Anfangsstrophe der Freudenode durch den gesamten Chor Ergebnis der mit dem Baritonäolo eingeleiteten vorangegangenen geistigen Bewegung war, so treibt dieses Ergebnis jetzt sofort über sich hinaus. Folgte auf die Einsicht der Wille, so quillt nun aus dem Willen die Tat. Unmittelbar anschließend an das Ende des Alla Marcia strömen die von der Freudegesinnung erfüllten Herzen ihr gesteigertes Fühlen inbrünstig aus. Was sich zuerst in der Coda des ersten Abschnittes bei den Wiederholungen des „und der Cherub steht vor Gott" angekündigt hatte: choralhafter Klang, wird hier im Andante maestoso und Adagio divoto und nochmals am Schlüsse des Allegro energico zum herrschenden Grundgepräge der Musik. Die dort nur erträumte Gottesnähe ist nunmehr, soweit sie dem Menschen überhaupt zugänglich ist, wirklich erreicht. Im bloß durch die wenigen Nachspieltakte des Alla Marcia kurz vorbereiteten Beginne des dritten Abschnittes singt der Chor, gleichsam als würde er jetzt das Freudenreich, das Elysium, in dem alle Menschen Brüder werden, durch die Tat errichten: Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt! Unter den „Millionen" ist, wie der von Beethoven nicht komponierte fünfte Refrain der Freudenode erkennen läßt, die Menschheit zu verstehen.1) Es 1
) Der fünfte Refrain heißt: Duldet mutig Millionen! Duldet für die bessre Welt! Droben überm Sternenzelt Wird ein großer Gott belohnen. Der Eudämoniemus dieser Verse mochte Beethoven sowenig zusagen wie dem späteren durch Kant geschulten Schiller. „Laß den Beweggrund in der Tat und nicht im Ausgang sein. Sei nicht einer von denen, deren Triebfeder zum Handeln die Hoffnung des Lohnes ist." So heißt es in den Auszügen aus dem indischen Schrifttum (siehe Leitzmann II 254; ich glaube allerdings, daß diese Stelle nicht dem indischen, sondern dem deutschen Schrifttume angehört). Freilich hat Beethoven in Goebles „Abendlied" auch die Hoffnung auf jenseitigen Lohn ver-
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gilt also die Verbrüderung aller Menschen und, aus dem Gefühle dieser Verbrüderung heraus, die Umarmung der ganzen Natur, gleich unserer Geliebten".1) Wiederum sind es Männer, die vorangehen, jetzt aber nicht Solisten, sondern eben die Männer des Chores selbst. Unisono singen Sie in neuer eigener Thematik vor, und der Chor in, seiner Gesamtheit respondiert den feierlichen Gesang in voller Harmonie. Weiter führend stimmen die Männer des Chores an: Brüder! überm Sternenzelt Muß ein lieber Vater wohnen. Alle Menschen sind Brüder. Und sie sind es als Kinder Gottes, der als ihrer aller Vater überm Sternenzelt wohnen muß. Auch hier respondiert wieder der gesamte Chor in voller Harmonie, um dann in seiner Gesamtheit fortzufahren: Ihr stürzt nieder Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt? Such' ihn überm Sternenzelt! Über Sternen muß er wohnen. Der brüderlich die Menschheit und die Welt umarmende Chor sang seinen Glauben an den Vater-Gott und nun ergreifen ihn Schauer der Ehrfurcht vor ihm, dem Schöpfer, der hoch über der Welt, über Sternen wohnt. Können die Menschen auch nicht, wie der Cherub, der vor Gott Steht, Gott unmittelbar schauen, so können sie ihn doch ahnen, und sie werden ihn um so inniger ahnen, je vollkommener Freude und Bruderliebe ihre Herzen in Besitz genommen haben. Aber in der Ahnung empfinden sie nicht nur seine Vaterliebe, sondern auch seine überweltliche und übermenschliche Majestät. Die erhebende Gottesnähe ist zugleich niederdrückende Gottesferne. Beethoven schildert Gottes Erhabenheit ganz im Sinne der kantischen und schillerischen Theorie des Erhabenen, was er dadurch erreicht, daß er dem ersten Refrain der Freudenode den dritten Refrain unmittelbar anreiht. Diese Stelle ist, wie der musikalische2), so auch der geistige Höhepunkt des Chorfinales. Schillers Verse sprechen hier aus, was Beethoven selber religiös fühlte und dachte, soweit wir darüber unterrichtet sind. Ich führe folgende Worte Schindlers3) an: „Beethoven war in der katholischen Religion erzogen. Daß tont. Aber hier im Chorfinale handelt es sich ja für ihn, wie wir sahen, nicht um die Unsterblichkeit im Jenseits, sondern um die moralische Vollendung der Menschheit auf Erden. l ) Siehe vorher Seite 32 die angeführten Worte aus Schillers „Theosophie". a ) Siehe vorher Seite 17. 8 ) Vgl. Anton Schindlers Beethoven-Biographie, Neudruck von K a l i s c h e r , Berlin und Leipzig 1909, Seite 505; vgl. dazu Seite 180 und 195f., ferner T h a y e r III 2 , Seite 197f. und IV 335f.
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er wirklich innerlich-religiös war, bezeugt sein ganzer Lebenswandel . . . . Daß er niemals über Religionsgegenstände oder die Dogmen der verschiedenen christlichen Kirchen gesprochen, um seine Ansichten darüber mitzuteilen, war eine der besonderen Eigenheiten. Mit ziemlicher Gewißheit kann aber gesagt werden, daß seine religiösen Ansichten weniger auf dem Kirchenglauben beruhten, als vielmehr im Deismus ihre Quelle gefunden haben.1) Ohne eine gemachte Theorie vor Augen zu haben, erkannte er doch zu offenbar Gott in der Welt, wie auch die Welt in Gott. Die Theorie hierzu bildete sich für ihn in der gesamten Natur und scheint das . . . Buch: Christian Sturms Betrachtungen der Werke Gottes in der Natur2), nebst den aus den philosophischen Systemen der griechischen Weisen geschöpften Belehrungen zumeist sein Wegweiser auf dieser Bahn gewesen zu sein. Es wäre schwer, das Gegenteil zu behaupten, wenn man gesehen, wie er sich den betreffenden Inhalt jener Schriften zu innerem Leben zunutze gemacht hat." Die Worte „Gott in der Welt, wie auch die Welt in Gott" sind hier freilich nicht eigentlich pantheistisch zu verstehen.3) Schindler will nur sagen, daß Beethoven 1
) I n der ersten Auflage seiner Biographie äußert Schindler, daß Beethovens religiöse Anschauungen „sich dem Deismus zuzuneigen" schienen, insofern „man die natürliche Religion darunter versteht". Siehe S c h i e d e r m a i r a. a. 0 . Seite 327. 2 ) Christoph Christian Sturms „Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung auf alle Tage des Jahres" war ein oft aufgelegtes Buch. Mir liegt die 3. Auflage von 1785 vor. Beethoven besaß, neben einer älteren, eine Ausgabe von 1811: siehe S c h i n d l e r Seite 196 und L e i t z m a n n II, Seite 374 und 380. Sturm war protestantischer Hauptpastor an St. Petri in Hamburg. Er suchte die „Vernunftreligion" mit der „Christusreligion" zu vereinigen. Das Buch wurde auch von dem berühmten katholischen Theologen Johann Michael Sailer hochgeschätzt, den Beethoven „im Geiste verehrte". Über Sturm und Sailer vgl. S c h m i t z a. a. O. Seite 91f. und 93f. Dazu S a n d b e r g e r , Ausgewählte Aufsätze I I , München 1924, Seite 255. 3
) Der Pantheismus klingt freilich gelegentlich an, so in den drei ägyptischen Inschriften, die Beethoven „für den Inbegriff der höchsten und reinsten Religion hielt" ( S c h i n d l e r in der ersten Auflage seiner Biographie) und sich daher, aus Schillers „Sendung Moses", abgeschrieben hatte (siehe vorher Seite 27, Anm. 3), oder wenn Beethoven sich in Goethes Westöstlichem Diwan, den er besaß, die Stelle anstrich, wo es von Dschelal-eddln Rumi heißt: „im ganzen aber sucht er durch die Einheitslehre alle Sehnsucht wo nicht zu erfüllen, doch aufzulösen, und anzudeuten, daß im göttlichen Wesen zuletzt alles untertauche und sich verkläre" (siehe L e i t z m a n n I I 287). Immer aber ist Gott als die Welt unendlich überragend gedacht (vgl. auch die Auszüge aus dem indischen Schrifttum, L e i t z m a n n I I 252—254); scholastisch gesprochen hat Beethoven an der „Eminentia" Gottes, auch wo er pantheistischen Gedanken nachhing, stets' festgehalten. Das prägt sich einmal sogar in der Rechtschreibung aus. Beethoven schreibt den ersten der ägyptischen Sprüche so: „Ich Bin, was da ist" (siehe Beilage I zur - ersten Auflage von S c h i n d l e r s Biographie). Allerdings hat Beethoven die großen Anfangsbuchstaben sonst vielfach sehr willkürlich verwendet. Hier aber, da er sich die Sprüche zur täglichen Betrachtung und sonst einwandfrei abgeschrieben hat, möchte· man doch meinen, daß ihm das großgeschriebene „Bin" nur deshalb in die Feder geflossen ist, weil sich in seiner Vorstellung das Von-ihm-selbst-Sein des namenlosen „Wesens aller Wesen" vor dem Da-Sein der andern Dinge deutlichst als das höhere auszeichnete.
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Gottes Wirken der Welt und die Gewirktheit der Welt durch Gott erkannte.1) Der deistische Gott ist überweltlich. Es sei nun noch darauf aufmerksam gemacht, daß bei der Wiederholung des „über Sternen muß er wohnen" (Adagio divoto Takt 24—28) zuerst die Frauen des Chores anheben und dann die Männer folgen, wobei die Entgegensetzung beider Stimmengruppen durch den Decimenabstand zwischen Alt und Tenor besonders deutlich wird. Dies mag klangpoetische Gründe haben2); außerdem dient es zur Vorbereitung des Anfangseinsatzes der Frauenstimmen in der folgenden Doppelfuge. Das Bekenntnis zur Brüderlichkeit der Menschen und zum Gottesglauben wird vom Chore wiederholt, aber nun nicht mehr als einheitlich die Stimmen zusammenfassender Gemeindegesang, sondern es ist, als ob sich die Stimmen das Bekenntnis gegenseitig zuriefen, und erst am Ende, wo sie vom lieben (Gott-) Vater sprechen, gehen sie wieder einig. Hier aber gesellt sich im Beginne des wiederholten Bekenntnisses zu dem: Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt! auch der variierte Anfang der Freudenmelodie, als unmittelbarer Ausdruck der Gesinnung, aus der es hervorgewachsen ist, und zwar auf den Anfang der ersten Strophe: Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum! Jetzt erst hat der Chor das Heiligtum der Freude wirklich betreten, das Elysium ist erreicht. Ich weise noch darauf hin, daß die Doppelfuge, wie Schon bemerkt, mit den Frauenstimmen im Zwiegesange anhebt. Es ist dies, nachdem bisher stets Männer führend waren, außerordentlich auffällig. Hier geschieht es, formal angesehen, aus dem Bedürfnis der Gegensatzsymmetrie: beim ersten *) Schledermair und Schmitz suchen in ihren genannten Büchern nachzuweisen, dad- Beethovens Religiosiät positives katholisches Christentum im Sinne der katholischen Aufklärung seiner Zeit gewesen sei, und es ist nach ihren Darlegungen unzweifelhaft, daß Beethoven sich zeitlebens zum Katholizismus gehalten hat. Damals waren ja die Gegensätze von Vernunft- oder Gefühlereligion, Katholizismus und Protestantismus lange nicht so scharf wie heute, und Beethoven mochte zwischen seiner philosophischen Denkweise und dem Kirchenglauben in rationalistischer Auslegung keinen erheblichen Unterschied finden. Ich komme nachher auf die Frage wieder zurück. Wenn Schmitz a. a. O. Seite 93 meint, Schindler nehme bei Beethoven einen „kirchenfeindlichen" Deismus an, so tut er Schindlern wohl unrecht. Wenigstens sagt Schindler nichts von Kirchenfeindlichkeit und erzählt in seiner Biographie a. a. 0. Seite 483 ohne jegliches Verwundern, daß Beethoven „auf sein Verlangen die heiligen Sterbesakramente mit wahrer Erbauung empfangen" habe. 2 ) Vgl. Thayer V, Seite 54.
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Vortrage des Bekenntnisses gaben die Männer den Ton an, jetzt bei seiner Wiederholung gehen die Frauen voran. Auch darin sehe ich übrigens einen Beweis dafür, das das Allegro energico keinen neuen Abschnitt beginnt.1) In der Fortführung der Doppelfuge werden die beiden Themen stets entweder von Frauen (Sopran und Alt) oder von Männern (Tenor und Baß) vorgetragen, nur an ihrem Ende, im zweiten Zwischenspiele und der Schlußreprise beteiligen sich sowohl Männer als Frauen (Alt und Baß) 2 ): ob dies nur musikalische Gründe hat oder ob es auch einen außermusikalischen Sinn besitzt, sei späterhin erwogen. Im Anhange der Doppelfuge wiederholt der Chor zunächst die Verse: Ihr stürzt nieder Millionen ? Ahnest du den Schöpfer, Welt? Such' ihn überm Sternenzelt! Die einzelnen Stimmengruppen, Baß, Tenor und Alt, singen nacheinander je eine Zeile. Dann wiederholen sie, nun tinter Hinzutritt des Soprans, unisono, nochmals die dritte Zeile. Wieder haben wir die Reihenfolge Männer — Frauen, aber es ist hier so als ob der Chor erst mit dem Eintritt der Frauenstimmen und zumal des Soprans volle Sicherheit gewönne. Zum Abschlüsse singt der Chor, die Art des Gemeindegesangeö wieder aufnehmend, das Brüder! überm Sternenzelt Muß ein lieber Vater wohnen. Der G-dur-pp.-Ausklang malt gleichsam die Ruhe, die der Chor in seinem dem freudigen Brüderlichkeitsgefühle entsprungenen Gottesbewußtsein gefunden hat. Die Solisten haben seit dem Tenorsolo völlig geschwiegen. Jetzt treten auch sie aufs neue in Tätigkeit, indem sie den Kadenzteil eröffnen. In breiter musikalischer Darstellung wird das erreichte Elysium der Freude verherrlicht, und zwar iät es jetzt die Überwindung der streng teilenden Mode durch die Freude, die besonders hervorgehoben wird. Die Solisten beginnen mit dem Anruf der Freude; hier wiederum, wie schon erwähnt wurde, zuerst die Männer (Baß und Tenor): Tochter3), Tochter aus Elysium! 1)
Siehe vorher Seite 13f.
2)
Siehe vorher Seite 12, Anm. 2.
3 ) Die geläufigen Ausgaben bringen hier alle als erstes Wort „Freude", statt „Tochter". Es ist dies eine durch nichts zu rechtfertigende, logischer Schulfuchserei entsprungene Verschlimmbesserung von Seiten späterer Herausgeber. In der Urschrift, im ersten Mainzer Stich und in der Stichvorlage, wie auch in der Abschrift für den König Friedrich Wilhelm I I L (was Herr Prof. Johannes Wolf mir gütigst mitteilte) heißt es an dieser Stelle: „Tochter, Tochter usw." Dies ist also die von Beethoven gewollte Lesart. Der Verlag von B. Schott's
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Die Frauen stimmen mit ein (Alt und Sopran): Freude, Tochter aus Elysium! Das Spiel wiederholt Sich, nun aber mit umgekehrt verteilten Rollen. erst singen die Frauen:
Zu-
Tochter, Tochter aus Elysium! und dann stimmen die Männer ein: Tochter, Tochter aus Elysium! Hier zeigt sich im Kleinen, gleichsam in verkürzter Repetition, die ähnliche Ordnung, wie im vorangegangenen großen Chorteile des dritten Abschnitts: dort begannen die Männer im Andante maestoso, die Frauen im Allegro energico. Sehr beachtenswert ist, daß sowohl beim ersten Einsätze der Männer, als auch nachher in der Wiederholung, wo die Frauen vorangehen, im Texte überall statt „Freude, Tochter usw." zu lesen ist: „Tochter, Tochter usw." Nur wo die Frauen zuerst einsetzen, rufen sie denNamen:,,Freude, Tochter usw.''. Es ist als ob Beethoven das Weibliche im Wesen der Freude ausdrücklich habe betonen wollen! Ganz im Sinne dieser Absicht liegt es, wenn im nun folgenden freien Kanon über die Verse: Deine Zauber binden wieder, Was die Mode streng geteilt. die Einsätze in der Reihenfolge Sopran, Alt, Tenor und Baß, also Frauen — Männer aufeinanderfolgen, während im ersten Abschnitte bei den Solisten die Ordnung Männer — Frauen herrschend war. Die kanonische Führung der Stimmen tritt hier als Sinnbild des brüderlichen Sichzueinandergesellens auf.1) Da, wo von den Solisten der Baß die Worte ,,was die Mode streng geteilt" zu singen anfängt, fügt sich dem Kanon auch der volle Chor ein, tun ihn dann in einem mächtigen Unisono allein zu Ende zu führen. 2 ) Und im Söhnen hatte die Freundlichkeit, mir hierzu zu berichten: „Die Takte 5—7 von Baß und Tenor des AUegro ma non tanto lauten in der Stichvorlage: »Tochter, Tochter aus Elysium«. Beethoven hat dabei eigenhändig die Trennung des Kopisten beim ersten Worte »Tochter« aus »Toch-ter« durch Rasur in »To-chter« korrigiert (das zweitemal ist »Tochter« in einem geschrieben). Es ist also ausgeschlossen, daß Beethoven an dieser Stelle »Freude, Tochter aus Elysium« haben wollte und einen etwaigen Irrtum übersehen hätte." Beethoven hat es demnach erst den Frauen (in Takt 7—9) vorbehalten wollen, die Tochter aus Elysium hier bei ihrem Namen „Freude" anzurufen! Es ist dringend zu wünschen, daß die richtige Lesart überall baldmöglichst hergestellt werde! Vgl. dazu: Arnold Schering, Bach und das Symbol, insbesondere die Symbolik seines Kanons. Bach-Jahrbuch, 22. Jahrgang, Leipzig 1925, .Seite 40ff. 2 ) Dieses Unisono scheint mir durch die Beethoven bekannte erste Fassung des Verses im Thaliadruck eingegeben zu sein: „was der Mode Schwert geteilt". Siehe vorher Seite 29!
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Anschluß daran singt der Chor in seiner Gesamtheit die erste Kadenz auf die Verse.
Alle Menschen werden Brüder, Wo dein Sanfter Flügel weilt.
Nunmehr hebt, nach kurzem Zwischenspiele, der Chor seinerseits aufs neue an und singt abermals: Deine Zauber binden wieder, Was die Mode streng 1 ) geteilt. Und wie er im Begriffe ist, das „Alle Menschen" zu wiederholen, fallen die Solisten ihm ins Wort und führen, was er sagen will, ihrerseits in der großen zweiten Kadenz zu Ende: Alle Mengchen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt. Zum ersten und einzigen Male geschieht es an dieser Stelle, daß die Solisten, die bisher den Chor stets leiteten, ihm nachfolgen und seinem Gesänge, in ihn einstimmend, den Abschluß geben! Es ist wie ein entscheidendes Ereignis.2) Innerhalb der zweiten Kadenz treten nacheinander Sopran, Alt, Tenor und Baß bedeutsam hervor, also wieder zuerst die Frauen, dann die Männer. Betrachten wir jetzt den ganzen Kadenzteil, so haben wir darin die Ordnung: Männer — Frauen, Frauen — Männer, Solisten (Frauen — Männer) — Chor, Chor — Solisten (Frauen — Männer). Und immer stimmen die Frauen in den Gesang der Männer, der Chor in den der Solisten, und umgekehrt die Männer in den Gesang der Frauen, die Solisten in den des Chores ein, ohne das Ende des Vorgesanges abzuwarten. Wurde der Chor durch einen oder alle Solisten im ersten Abschnitte belehrt, im zweiten Abschnitte angefeuert, so daß er sich an dessen Abschluß mündig machen und im Beginne des dritten Abschnittes gleichsam selbständig handeln konnte, so vereinigt er sich hier mit den Solisten in einem wechselseitigen Folgen und Führen, Führen und Folgen, oder besser Einstimmen und Tonangeben, Tonangeben und Einstimmen. Alle Menschen werden Brüder, und auch der Gegensatz von Solisten ) Über die Lesart „frech" an dieser Stelle siehe die spätere Anmerkung auf Seite 56. ) In der Urschrift der neunten Symphonie fehlt die abgekürzte Wiederholung des „Deine Zauber binden wieder usw." durch den Chor. Beethoven hat sie erst später eingeschaltet. Vgl. meinen Aufsatz in Sandbergers „Neuem Beethovenjahrbuch" Bd. II (1926), Seite 162f. Durch diese Einschaltung gewinnt die so wichtige Umkehrung der bisherigen Ordnung SolistenChor in ihr Gegenteil erst dramatische Schlagkraft und volles Leben. Man sieht: auch sehr große Meister setzen manchmal erst spät das Pünktchen auf das i! Bei Beethoven ist der Fall ja nicht vereinzelt: ich erinnere ζ. B. an die nachträgliche Einschaltung des so wichtigen Anfangstaktes im Adagio der Klaviersonate in B-dur, Op. 106 (vgl. den Brief an Eies vom 16. April 1819: K a l i s c h e r , Beethovens Sämtliche Briefe Nr. 764 Bd. IV, Seite 15f.) oder die Verlängerung der Coda des ersten Satzes der achten Symphonie (vgl. N o t t e b o h m , Erste Beethoveniana Seite 25). l
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und Chor, auf den die ersten beiden Abschnitte aufgebaut waren, gleicht sich aus. Nur ganz leise und leicht angedeutet zeigt sich bei den Solisten eine Vorherrschaft des weiblichen Wesens, als Sinnbildes der Freude selbst, der Tochter aus Elysium, die mit ihrem sanften Flügel alle Menschen zu Brüdern vereinigt. Im Vollgefühle dieser Einigkeit erneuert in der Stretta der Chor, ohne dazu irgendwelcher Führer, wenn, auch nur aus den eigenen Reihen, zu bedürfen, sondern sogleich frei aus sich selbst heraus in seiner Gesamtheit einsetzend (eine gesteigerte Entsprechung zum Ende des zweiten Abschnittes), mit brausendem Überschwange sein Bekenntnis: Seid umschlungen Millionen ! Diesen Ruß der ganzen Welt! Brüder! überm Sternenzelt Muß ein lieber Vater wohnen. Und abermals:
Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!
Zum letzten Schlüsse bekräftigt er dann, mit einem seligen Blicke auf den erreichten elysischen Zustand, noch einmal jubelnd seine Freudegesinnung, die ihn zum höohsten Ziele führte, das der Menschheit gesetzt ist, zur Brüderlichkeit aller Menschen im Gefühle ihrer Gotteskindschaft: Freude, schöner Götterfunken! schöner Götterfunken! Tochter aus Elysium!1) Freude, schöner Götterfunken! Götterfunken! — Die Solisten schweigen: aber der Gedanke Beethovens ist doch wohl der, daß sie ihre Stimmen in denen des gesamten Chores mit aufgehen lassen, im Chore mitsingen! Vom Texte und seiner musikalischen Gestaltung aus wären die drei Abschnitte des vokalen Teiles des Chorfinales hiemach etwa zu überschreiben: Lehre (erster Abschnitt), Aufnahme der Lehre in die Gesinnung (zweiter Abschnitt), Auswirkung der Gesinnung, der Lehre gemäß, in der allumfassenden Liebe zu Gott, zur Welt und zu den Menschenbrüdern (dritter Abschnitt).2) 1
) Die Sopranlinie der Takte 66—67 (Maestoso) des Prestissimo: „Tochter aus Elysium" spielt auf die Takte 70—72 (auch 48—49) des Allegro ma non tanto: „alle Menschen werden Brüder" an; vgl. vorher Seite 15. 2 ) Die neunte Symphonie ist bald nach Vollendung der Missa solemnis ausgearbeitet worden. Dies legt die Vermutung nahe, daß für den Aufbau des Chorfinales der Gang der Messe mitbestimmend gewesen sein könnte. Die vierte bis siebente (erste bis vierte Vokal-) Variation würden etwa den Lektionen von Epistel und Evangelium entsprechen, die letzte Variation dem Credo, der zweite Großabgesang aber der Wandlung und der Kommunion.
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Es sei nun folgendes hinzugefügt. Beethoven kannte und liebte, wie man weiß, Piatons Bücher vom Staat.1) piaton unterscheidet darin drei Stände: die Herrscher oder Philosophen, die Krieger und das Volk. Als aber Beethoven den Plan zum Chorfinale entwarf, befand Sich, wie wir später2) sehen werden, im Vordergründe seines Nachdenkens der Gedanke der Ausgleichung der Stände. Mir will nun scheinen, daß die Lehre Piatons von den drei Ständen auf Beethovens schließliche Ausgestaltung des Chorfinales von entscheidendem Einflüsse gewesen ist. 1
) Vgl. Anton Schindlers Beethovenbiographie, Neudruck von K a l i s c h e r , Berlin und Leipzig 1909, Seite 142ff. und 476; S c h i e d e r m a i r , Der junge Beethoven, Leipzig 1925, Seite 29 und 331; S c h m i t z a. a. O. Seite 50 und 160; A l f r e d H e u ß , Beethoven, eine Charakteristik, Leipzig 1921 (Sammlung „Deutscher Geist" Nr. 3) Seite 18. — Schindler schreibt a. a. O. Seite 142: „Dieselbe Übersetzung von F. Schleiermacher, die auch Beethoven zum Studium gedient, liegt mir vor." Dies kann nicht richtig sein, da Schleiermaohers Übersetzung des „Staates" erst 1828 (Berlin bei G. Reimer), also nach Beethovens Tode erschienen ist. Beethoven muß demnach eine andere Übersetzung benutzt haben. 1778—1786 kam eine anonyme Übersetzung der „Werke des Plato" in Lemgo (Verlag der Meyerschen Buchhandlung) heraus, deren zweiter Band von 1780 „die Republik oder ein Gespräch über das Gerechte enthält". Lemgo liegt ja nicht allzu weit von Bonn entfernt: nach S c h i e d e r m a i r a. a. 0 . Seite 29 „offerierten die [Bonner] Buchhandlungen in den 70er und 80er Jahren die neuesten Auflagen der Werke von Plato, Plutarch, Rousseau und Montesquieu" usw. Somit kann Beethoven die Lemgoer Ausgabe bereits in Bonn kennengelernt haben. Eine andere Übersetzung erschien 1799: Piatons Republik oder Unterredung vom Gerechten. Übersetzt von Friedrich Wolff. 2 Bde., Altona bei Joh. Friedr. Hammerich. Diese Übersetzung ist von Joh. Heinr. Voß angeregt worden und wird schon deswegen Verbreitung gefunden haben, so daß Beethoven sie gewiß kennen konnte. Das J a h r 1805 brachte wieder eine Ausgabe: Die Republick (so!) des Piaton, übersetzt von Herrn Kleuker. 2 Teile. Wien und Prag, bei Franz Haas. Diese Ausgabe zeigt den gleichen Text und die gleiche Vorrede wie die anonyme Lemgoer Ausgabe, nur sind in der Vorrede die Sätze entfallen, die sich dort auf die anderen Bände beziehen. Der Verlagsort dieser Ausgabe gibt der Mögüchkeit Raum, daß auch sie Beethoven in die Hände gekommen ist. I n einem Konversationsheft von 1820 sagt Kanne zu Beethoven: „Philosophie und Musik sollen leben! Den Plato müssen Sie in der deutschen Übersetzung von Schleiermacher lesen. Sie müssen, ich bringe ihn Ihnen. Er und der Schölling sind die Größten!" (siehe W a l t e r N o h l a. a. Ο. I, Seite 418). Die ersten beiden Teile von Schleiermachers Piatonübersetzung waren in fünf Bänden 1804—1809 zu Berlin (in der Realschulbuchhandlung) erschienen. Kanne empfiehlt sie Beethoven wohl, weil er diese Übersetzung für die beste hielt. Ich vermute nun, daß er sie ihm gebracht und ihr etwa die in der äußeren Gestalt ihr ähnliche des Staats (der „Republik") von F. C. Wolff beigefügt hat, und daß Schindler dadurch in seiner Erinnerung zu der Meinung gelangte, Beethoven habe den „ S t a a t " in Schleiermachers Übersetzung studiert. Übrigens berichtet Schindler noch, daß Pinterics für Beethoven Auszüge aus Aristoteles und andern antiken Schriftstellern gemacht habe, und merkt dazu an: „Aristoteles' Politik kannte Beethoven genau" (a. a. O. Seite 507). An einer Vertrautheit Beethovens mit Piatons Staatslehre in dem Maße, in dem meine Behauptungen sie voraussetzen, kann kein Zweifel sein! •— Übrigens ist hiernach Schindlers Erzählung, daß Beethoven sich anläßlich der Komposition der Eroica mit Piatons „ S t a a t " beschäftigt habe, durchaus glaubhaft. T h a y e r s Bemerkungen dagegen (II 2 Seite 65) verdienen Zurückweisung. Die beiden Tonarten, die Piaton allein in seinem Staate gelten lassen will (Buch I I I , Kap. 10, Stephanus 399a—c; vgl. Schindler a. a. O. Seite 145), würde ich auf den ersten und vierten Satz der Eroica beziehen, nicht auf den ersten und dritten, wie C a r l V e r i n g es tut (Piatons Staat, Frankfurt am Main 1925, Seite 161). 2
) Siehe nachher Seite 69 und 70.
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Die Solisten des ersten Abschnittes vertreten die Philosophen oder den Stand der Bildung, der Solist des zweiten Abschnittes die Krieger, der Chor das Volk. Und der Verlauf des Chorfinales wäre nun als eine Erziehung des Volkes durch die beiden oberen Stände zur Mündigkeit und freien Selbstherrschaft zu deuten, wobei das Wort Erziehung in dem hohen Sinne zu nehmen ist, in dem es dem 18. Jahrhundert und darüber hinaus Lessingen, Herdern, Schillern, Fichten und Goethen geläufig war:1) Der erste Abschnitt führt uns die Erziehung des Volkes durch die Philosophen vor, die in der Ergreifung des Gottesgedankens durch das Volk gipfelt. Der Krieger im zweiten Abschnitte (,,türkische Musik"!) leitet die Erziehung des Willens, derzufolge dann das Volk sich selbst im Geiste der Philosophen zur Freiheit bestimmt. Der dritte Abschnitt aber gehört zunächst dem selbständig gewordenen Volke: im Andante—Adagio legt es unter eigenen Führern (und in eigener Thematik!), wie in gemeinsamem Gebet, sein Bekenntnis ab; im Allegro energico wiederholt es dies Bekenntnis in aufgelöster, in sich bewegter Einheit. Im Allegro ma non tanto sodann vollzieht es, in Verbundenheit mit den Vertretern der bisherigen höheren Stände und deren Lehre gemäß, die Aufhebung der nun nicht mehr nötigen Standesunterschiede. Der platonische Ständestaat geht nach vollendeter Erziehung friedlich in den weltbürgerlichen2) Volksstaat Vgl. hierzu Adolf S a n d b e r g e r , Ausgewählte Aufsätze zur Musikgeschichte, Bd. II, München 1924, Seite 263 fi. Was insbesondere Goethen anlangt, so sind Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wanderjahre (deren erster Band in erster Fassung 1821 erschien) beide Erziehungsromane, und auch Faust wird in die Klarheit „geführt". Wilhelm Meisters Lehrjahre wollte Beethoven 1807 der Therese Malfatti schicken (vgl. Beethovens Sämtliche Briefe, Ausgabe von K a l i s c h e r , Bd. I, 1906, Seite 205, Brief Nr. 136; dazu Bd. II, 1907, Seite 85, Nr. 293); den Faust wollte er komponieren (vgl. T h a y e r I I I 2 67, IV 286 und V 332). Wie sehr Beethoven sich, nachdem er die Vormundschaft für seinen Neffen Karl übernommen hatte, mit Erziehungsfragen beschäftigte, beweisen die Briefe und Konversationshefte, in denen auch von Salzmann und Pestalozzi die Rede ist ( W a l t e r N o h l I, Seite 315 und 414). Auch sei hier der Bestrebungen Beethovens für religiöse Volkserziehung gedacht (vgl. Schindler a. a. O. Seite 353f.), der er das erwähnte Buch von Sturm zugrunde gelegt wissen wollte. Man denke ferner an Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts", Herders „Ideen" (IX 1), Schillers „Briefe über die aesthetische Erziehung des Menschen". Die äußerste Zuspitzung des Gedankens der Volkserziehung zeigen Fichtes „Reden an die deutsche Nation". Man weiß nicht, ob Beethoven sie kannte; aber sicher hat ihm Varnhagen von Ense 1811 in Teplitz (vgl. T h a y e r I I I 2 274) davon erzählt. Beethovens „große Vorliebe für Lord Brougham" (Schindler Seite 639) wird gewiß nicht nur dem liberalen Politiker und Gegner des Sklavenhandels gegolten haben, sondern auch dem Vorkämpfer für die Hebung der Volkserziehung. 2 ) Aber nicht internationalen: dies widerspräche Beethovens bekannter vaterländischer Gesinnung! Man lese über diese Varnhagens Worte (bei T h a y e r I I I 274): „Daß Beethoven ein heftiger Franzosenhasser und Deutschgesinnter war, ist bekannt, und auch in dieser Richtung standen wir gut zusammen." Beethoven warf den Franzosen vor, daß sie sich Herrschaftsrecht über Deutsche angemaßt hatten (vgl. etwa den Brief an C. Pleyel vom 26. April 1807: siehe K a l i s c h e r , Beethovens Sämtliche Briefe Nr. 114, Bd. I, Seite 181). Man darf hieraus und aus der Vorliebe Beethovens für Volkslieder auch fremder Nationen — er „faßte die Idee einer großen Sammlung von »Chansons de divers nations«" (siehe H a n s B o e t t c h e r , Beethoven als Liederkomponist, 1928, Seite 21f.) — wohl den Schluß ziehen, daß ihm eine freie Gemeinschaft ihr Sondertum pflegender Völker als Idealbild vor Augen gestanden hat.
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über.1') Und im Prestissimo-SchlusSe endlich feiert, keines Führers mehr bedürfend und frei sich selbst bestimmend, die vereinigte, keine Standesunterschiede mehr kennende Volksgemeinschaft nochmals die Brüderlichkeit aller Menschen im Allgefühle der die ganze Welt durchdringenden und sie nun auch beherrschenden Freude. In Piatons Staat sind die Frauen mit den Männern politisch gleichberechtigt. Ich war anfänglich der Meinung, daß das auffällige Hervortreten der Frauen im dritten Abschnitte ihre Gleichberechtigung im Volksstaate bedeuten solle.2) Indessen, wäre dies der Fall, so hätte Beethoven am Ende der Doppelfuge des Allegro energico die Verbindung von Frauen- und Männerstimmen viel eindringlicher machen müssen, als er getan hat. 3 ) Immerhin fordert der Sachverhalt eine Erklärung. 4 ) Ich finde sie in folgendem. Das Weib ist das Sinnbild der Liebe, der Gefühlsseite im Gemeinschaftsbewußtsein und damit der Seligkeit der Vollendung. Aus diesem Grunde bringt Beethoven in der zweiten und dritten Strophe des ersten Abschnittes auf die Verse: „Wer ein holdes Weib errungen" und „Küsse gab sie uns und Reben" so bedeutsam den Sopran zur Geltung. Und aus demselben Grunde führen, nach Gründung des Volksstaates, die durch die Männer geschah, die Frauen die Doppelfuge an, indem nun sie der leidenschaftlichen Wärme des vollkommenen Gemeinschaftsgefühles Ausdruck geben. Wieder aus demselben Grunde treten sie im Allegro ma. non tanto, wo die höheren Stände abdanken, bei den Solisten hervor. Am Ende des Adagios und im Anhange der Doppelfuge sind sie es, die das religiöse Gefühl zur letzten Höhe steigern. So ist auch, trotz der zuerst vorwaltenden Tätigkeit der Männer, am Ende den Frauen ihr Anteil an den Ereignissen zugewiesen.5) Wenn der Volksstaat im Andante maestoso vom Chor errichtet wird, so findet die dort ausgerufene Brüderlichkeit aller Menschen nun aber alsbald ihre Begründung in ihrer Gotteskindschaft: die Errichtung des freien VolksStaates ist zugleich die Errichtung des Gottesreiches! Das Elysium, Schillers „moralischer Staat", verklärt sich zu dem Gottesreiche, in dem die Menschengeschichte ihren Abschluß findet. 1 ) Sehr zutreffend spricht S c h m i t z (a. a. O. Seite 51 f.) von Beethovens Sinn „für politische Pädagogik wie für pädagogische Politik" und von seinem antikischen staatsbürgerlichen Tugendbegrifi. 2 ) Vgl. H e r m a n n R o t h , Beethovens Fidelio (Augsburg bei Filser, ohne Jahr), Seite 13: „In das Beethovensche Weltbild fügt sich . . . . die Frau, die Weib und Persönlichkeit, im individuellen Bunde ebenbürtige Gefährtin ist: ein romantisches, revolutionäres, wenn man auftragen will, Emancipations-Ideal." 3 ) Siehe vorher Seite 41. 4 ) Daß für die Verteilung des Textes an Frauen und Männer im Chorfinäle eine rein musikalische Erklärung nicht zureicht, lehrt ein Vergleich mit der Stimmenverteilung in Beethovens C-dur-Messe und der Missa solemnis. 5
) Vgl. Schillers Gedichte: Würde der Frauen, Macht des Weibes, Das weibliche Ideal.
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Der altchristliche Chiliasmus, die patristische Geschichtsphilosophie erscheinen hier in der Form, die sie in der Vernunftreligion der Aufklärungszeit angenommen hatten, und der dann Kant in seinem Buche über „die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" die philosophisch reifste Ausprägung gab.1) Es wird zweifelhaft bleiben, ob Beethoven dies Buch Kants je vor Augen gelangt ist: der allgemeine Grundgedanke mußte ihm aus dem Zeitbewußtsein heraus geläufig sein. Er ist ihm aber auch in einer besonderen, von Kant mit beeinflußten Ausgestaltung nahe gekommen. In seiner Bücherei befand sich das dreibändige Werk „Ansichten von Religion und Kirchentum" von Ignaz Aurelius Feßler.2) Feßler war ein in der damaligen 1
) Kants Buch erschien 1793. Darin lautet die Überschrift des „dritten Stückes": „Von dem Sieg des guten Prinzips über das böse, und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden." Vgl. hierzu: F r i t z G e r l i c h , Der Kommunismus als Lehre vom Tausendjährigen Reich, München 1920; darin die Abschnitte über Lessing, Kant, Fichte und Hegel Seite 142 bis 205. a ) Berlin bei Joh. Daniel Sander, 1806. Vgl. L e i t z m a n n a. a. Ο. II, Seite 382. Nach dem, was vorher Seite 22, Anm. 2 gesagt wurde, kann es allerdings zweifelhaft erscheinen, ob Beethoven das Feßlersche Werk wirklich besessen hat oder ob es in seinen Nachlaß eingeschmuggelt worden ist. Man darf aber doch annehmen, daß es sein Eigentum war, und zwar aus folgenden Gründen. Es wurde nämlich mit vier anderen Büchern auf Anordnung der Zensur vom 6. Juni 1827 am 5. September 1827 konfisziert und gelangte daher gar nicht mit zur Versteigerung (siehe L e i t z m a n n II, Seite 383). Da seine Zensurwidrigkeit dem von Schindler mitangeschuldigten Versteigerungsagenten bekannt gewesen sein dürfte, so ist es nicht wahrscheinlich, daß es eingeschmuggelt worden ist, bloß um der Konfiskation preisgegeben zu werden. Die vier anderen konfiszierten Bücher waren: 1. Seume, „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802", Braunschweig [und Leipzig] 1803. 2. Seume, „Apokryphen", [ohne Ort], 1811. 3. Kotzebue, „Vom Adel", [Leipzig 1792]. 4. [Wilhelm Christian] Müller, „Paris im Scheitelpunkte", Bremen 1816. Gegenüber Grosheim bekannte sich Beethoven als einen „Verehrer" Seumes ( T h a y e r IV 173 und L e i t z m a n n I I 381), auch besaß er, nach Schindler Seite 528, dessen Gedichte. Kotzebue, dessen „Ruinen von Athen" und „König Stephan" er komponiert hat, schätzte er hoch (siehe seinen Brief an ihn vom 28. Januar 1812; K a l i s c h e r , Beethovens Sämtliche Briefe Bd. II, Seite 54, Nr. 268). Müller war ein Freund Beethovens (siehe K a l i s c h e r , ebenda, Bd. I I I , Seite 156, Nr. 619, Bd. IV, Seite 105, Nr. 817, dazu S c h i n d l e r Seite 347 und L e i t z m a n n I 223f.). Alles spricht dafür, daß die vier genannten Bücher zu Beethovens Nachlaß gehört haben, und so wird das gleiche auch für das Werk Feßlers zu gelten haben. Außerdem steht fest, daß Beethoven für Feßler etwas übrig hatte: in seinen Bücher-Notizen (siehe vorher Seite 27, Anm. 3) hat er sich Feßlers Romane „MarcAurel" und „Aristides und Themistocles" aufgezeichnet, und zwar 1823, als er das Chorfinale ausarbeitete. — Hier sei übrigens noch erwähnt, daß der berühmte Landshuter Professor und spätere Bischof von Regensburg Johann Michael Sailer, den Beethoven „im Geiste verehrte" (siehe vorher Seite 39, Anm. 2), so daß er ihm seinen Neffen zur Erziehung anvertrauen wollte (siehe T h a y e r IV 139f.), und von dem er einige volkstümliche Schriften besaß (siehe L e i t z m a n n I I 381 und 382), in seinen „Grundlehren der Religion, ein Leitfaden zu Vorlesungen aus der Religionslehre" (erste Auflage 1805, zweite 1813) das Reich Gottes im Sinne des damaligen aufgeklärten Katholizismus bespricht. Da heißt es ζ. B. in der 16. Vorlesung: Es wird „einmal ein Tag des Triumphes, ein Tag der Ernte kommen; einmal das Licht über die Finsternis einen vollendeten Sieg erkämpfen; einmal der Weizen von dem Unkraut ganz gesondert werden (Matth. X I I I , 40). Was dem Siege des Lichtes über die Finsternis ein Übergewicht verschaffen wird, ist eben die auf die Fülle der Zeiten berechnete Erscheinung des L i c h t e s d e r W e l t , d. i. die Erscheinung des Menschensohnes auf Erden. Denn durch ihn
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Zeit vielgelesener Schriftsteller, zumal seine historisch-philosophischen Romane haben weite Verbreitung gefunden.1) Aus Ungarn gebürtig (1756) wurde er Kapuzinermönch. Als solcher veranlaßte er den Kaiser Joseph II. zu einer strengen Untersuchimg der Klosterdisziplin in ganz Österreich. 1784 erhielt er eine Professur an der Universität Lemberg. Seine religiöse Entwicklung trieb ihn dann dem Protestantismus zu. Er ging 1787 nach Preußen und später, in Berlin, verkehrte er mit Fichte, mit dem gemeinsam er die Freimaurerloge, der beide angehörten, zu reformieren suchte. 1809 wandte er sich dann nach Rußland, und dort ist er 1839 als Generalsuperintendent und Kirchenrat der lutherischen Gemeinde von St. Petersburg gestorben. In seinen „Ansichten von Religion und Kirchentum" nun vertritt er ein von Kant, Jacobi und Fichte2) beeinflußtes, mystisch gefärbtes freies Christentum. Als dessen Kern erscheint ihm: „Ein religiös-ethischer Staat in ewigem Kampfe gegen eine irreligiöse Welt sollte dem Menschengeschlechte offenbar werden; ein Reich Gottes in der Menschheit, in ewigem Frieden durch Religion, sollte anfangen: denn nur dies tat dem Menschengeschlechte not; Menschen aus allen Weltgegenden, Zeiten und Ständen sollten in dasselbe gerufen und aufgenommen werden; trotz allen Verfolgungen der Irreligiosität, der Macht und des Unverstandes sollte es sich fortpflanzen, in sich fortdauern, und in die ewige Welt hinüberreichen." 3) „Die Genossen des göttlichen Reiches sollen beten; aber ihr Gebet soll nichts anderes sein, als Anschauung des, und Freude über das Hinschwinden der Contingenz, und das Näherwerden ihres Verhältnisses zu dem Universo; oder Erweckung des Enthusiasmus im Streben, dies Verhältnis inniger zu machen."4) „Da überhaupt ein religiös-ethischer Staat, in ewigem Kampfe gegen eine irreligiöse Welt, selbst in Jesu eine reine Vemunftidee, ein Faktum seines inneren Lebens, und die Gründung desselben in der Menschheit ein Problem seines eigenen großen Gemütes war: so konnte er auch die Idee nicht anders als symbolisch darstellen, und das
wird eine Scheidung und eine Sammlung der Kinder Gottes aus allen Verfassungen angebahnet, durch ihn ein Reich Gottes gegründet werden, das fortdauern wird, bis einst Gott Alles in Allem sein wird (Joh. X, 16)." Und in der 18. Vorlesung: „Es lag in der Seele Christi der große Gedanke, ein Reich Gottes auf Erden zu gründen, das alle Völker und alle Zeiten in sich fassen, ja das Heil der Welt darstellen sollte." Der Gedanke, daß das Reich Gottes Aufgabe und Endziel der Menschheitsgeschichte sei, war damals lebendiges Gemeingut der protestantischen und katholischen Theologie, der Philosophie und der höheren Bildung. Vgl. über ihn den Artikel von Palm in der „Allgemeinen deutschen Biographie". ) Feßler a. a. Ο. I, Seite 46. Früher hatten ihn Seneca, Spinoza und der Deismus eingenommen. Von Fichte erwähnt er Seite 74 dessen „poetisch religiös geoflenbarte Bestimmung des Menschen". Fichtes „Bestimmung des Menschen" erschien in Berlin 1800, zur Zeit des Verkehrs zwischen Feßler und Fichte. a ) Feßler a. a. Ο. I, Seite 96f. 4 ) Ebenda Seite 100. Contingenz = Unzulänglichkeit der Wirklichkeit gegenüber der Idee. In Feßlers Worten klingen hier auch Schleiermachers „Reden über die Religion" (Berlin 1799) an. 2
O. B a e n s c h , Aufbau und Sinn des Chorfinales in Beethovens neunter Symphonie.
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Problem nur durch Approximation, durch Errichtung einer symbolischen Gemeinde Gottes auflösen." 1 ) Feßler kommt zu dem Schlüsse, „daß Jesus weder eine neue, noch eine vollkommene, noch eine perfektible Religion offenbaren wollte, sondern seine göttliche Vernunft-Idee von einem religiös-ethischen Staate usw. unter dem Symbol eines göttlichen Reichs usw. manifestiert, zur annähernden Auflösung des Problems, diesen Staat zu gründen, die Errichtung einer symbolischen Gemeinde Gottes beabsichtigt, und überall durch die Offenbarung seiner eigenen, ihm in wohnenden Religion, sich als Stifter, ersten Bürger und Oberhaupt dieses Staates angekündiget habe". 2 ) Während die Religion selbst reine Innerlichkeit ist, bedarf sie zu ihrer Ausbreitung in der Menschheit des „statutarischen" Kirchentums. Feßler bespricht unter diesem Gesichtspunkt in den breiten Ausführungen seines großen Werkes den Katholizismus, den Protestantismus und kleinere Kirchenbildungen. Sie alle sind im Vergleich zu» dem uns aufgegebenen Reiche Gottes unzulängliche Vorstufen, „Sekten". Die Religion ist ewig, aber ihre Verwirklichung im Reiche Gottes ist die in der unendlichen Zeit zu lösende Aufgabe der Menschheit. Und dieser Aufgabe dienen die Kirchen. „Soll jemals das Kirchentum der Idee einer wahren Kirche Gottes näher gebracht, sollen von seiner ursprünglichen Tendenz alle falschen Tendenzen gesondert, getrennt und jene in ihrer vollen Kraft und Reinigkeit wiederhergestellt werden: so müssen die auSerwählten, eigentlichen und wahren Priester Gottes sich von demselben nicht trennen. Die ursprüngliche Tendenz alles Kirchentums zielt dahin ab, daß eine Gemeinde Gottes sichtbar werde, welche zur Versinnbildung eines religiös-ethischen Staates in ewigem Kampfe gegen eine irreligiöse Welt oder zur Erbauung eines göttlichen Reiches in der Menschheit, in ewigem Frieden durch Religion, vereiniget ist. Wer kann zur Wiederherstellung dieser erhabenen Tendenz mitwirken als die in einem Kirchentum vereinigten Geweihten der Religion ? Oder wo wäre, außer der Kirche, ein Bindungsmittel zwischen ihnen und ihren religionslosen Brüdern, welche in den falschen Tendenzen, in den statutarischen Lehrbegriffen und Formen ihres Kirchentumes die Religion noch suchen?" 3 ) F e ß l e r s „Ansichten von Religion" werden !) Ebenda Seite 110. 2 ) Ebenda Seite 174. 3 ) Feßler a. a. Ο. I, Seite 363. — Uchtes 1813 gehaltene Vorlesungen über „die Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche" (WW. Bd. IV) berühren sich in der politischen Auffassung des Christentums mit den Ansichten Feßlers. Sie erschienen aus dem Nachlasse 1820 (Berlin, Reimer). — E s seien hier noch aus Tiedges allerdings hauptsächlich der persönlichen Unsterblichkeit gewidmeter „ U r a n i a " , die Beethoven kannte und besaß (siehe L e i t z m a n n a. a. Ο. I I 382), folgende Verse angeführt: „Die Menschheit ringt schon hier von einem Ziel zum andern; Sie kämpft sich immer mehr zur Menschlichkeit hinauf." (III 312f.) „ U n d doch begeistert uns, wie Frühlings Wiederkunft, Der süße Traum von einem ewigen Frieden ? — Das ist die Stimme der Vernunft." (VI 183f.)
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in mancherlei Weise Beethoven aus der Seele gesprochen haben. Sie gaben ihm die Möglichkeit, seinen „Deismus", wie S c h i n d l e r seine Vernunftreligion nennt, mit seiner Zugehörigkeit zur „Sekte" (um mit F e ß l e r zu reden) des Katholizismus zu vereinigen.1) Was uns hier anliegt, ist, daß sie ihm den Gedanken des Gottesreiches als eines zu verwirklichenden ethisch-religiösen Staates eindringlich zum Bewußtsein gebracht haben werden. Im Chorfinale der neunten Symphonie hat er diesem Gedanken in einer freilich von der Beziehung auf irgendein Kirchentum völlig losgelösten rein philosophischen Weise künstlerische Gestalt verliehen: das Freudenreich, Elysium, ist auch das Gottesreich, das Ziel der Menschengeschichte. Der platonische Ständestaat entwickelt sich zum weltbürgerlichen Volksstaate und eben damit auch zum christlichen Reiche Gottes auf Erden. Im Chorfinale wird uns demnach von Beethoven eine geschichts- und religionsphilosophische Eschatologie vorgeführt. 2 ) Keinesfalls ist es als praktisch-politisches Programm aufzufassen, oder wohnt ihm gar, wie gelegentlich gemeint wird, eine revolutionäre Absicht bei. B a k u n i n S Begeisterung für die neunte Symphonie beruhte auf einem Mißverständnis, und, ebenso jenes bekannte Wort eines Dresdeners Barrikadenkämpfers von 1849, der bei dem Brande des alten Opernhauseä Wagnern zurief: „Herr Kapellmeister, der Freude schöner Götterfunke hat gezündet." 3 ) Beethoven denkt nicht revolutionär, sondern reformatorisch. Nach seiner Überzeugung hat die Erneuerung der Welt von den reifsten Männern und Frauen der gebildeten Stände auszugehen 4 ), deren unendliche Aufgabe es ist, das ganze Volk durch Erziehung und Übermittlung wahrer Geistesbildung und Gottesverehrung dem Endzwecke der Geschichte, dem sittlich-freien Volksstaate, dem auf Brüderlich!) Bs ist schade, daß S c h m i t z in seinen Darlegungen über Beethovens Religiosität (a. a. O. Seite 82 fi.) Feßlers Werk gar nicht erwähnt. Meines Erachtens überschätzt er die '„Positivität" von Beethovens Christentum. Beethoven wird mit Feßler gedacht haben, daß der religiöse Mensch aus dem Kirchentume nicht austritt, „weil er will, daß auf eben dem Wege, den er gewandelt hat, die unendliche Religion allgemein werde dadurch, daß jeder die seine sich selbsttätig bildet. Weil er weiß, daß dieses nur im Helldunkel des Kirchentums möglich ist; daß dieses ihm selbst in seinen bedeutenden Formen immer noch frommt; daß es seinen religionslosen Brüdern noch immerfort not tut; und daß endlich s e i n e Teiln a h m e das Kirchentum selbst auf richtigere Wege leiten und zu einem besseren Leben wecken kann: wird er es auch treu, redlich und dankbar achten, verehren und teilnehmend unterstützen." Vgl. Feßler a. a. Ο. I 362. Dazu vorher hier Seite 40 Anm. 1. 2 ) Seyfried (Beethovens Studien im Generalbasse usw., Wien 1832, Anhang Seite 26) berichtet, daß Beethoven „nebst der seinem Geiste wahlverwandten Poesie" „das Studium der Universalgeschichte" zur Erholung diente. In den Bücher-Notizen sind auch historische Werke aufgezeichnet, so Stollbergs „Geschichte der Religion Jesu Christi" (1825) und Johannes von Müllers „Vierundzwanzig Bücher allgemeiner Geschichten, besonders der [europäischen] Menschheit" (1820). Auch hieraus ist zu schließen, daß Beethoven für die damaligen Spekulationen über das Endziel der Geschichte Sinn gehabt haben wird. 3 ) Siehe Max K o c h , Richard Wagner, zweiter Teil, Berlin 1913, Seite 173. 4 ) Nicht aber von der unreifen Jugend der ungebildeten Volksmenge: diese Meinung hat ihren Ursprung im Irrationalismus des 19. Jahrhunderts.
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keit aller Menschen, und echte Religion gegründeten Reiche Gottes auf Erden asymptotisch immer näher zu führen. Dieser Überzeugung gemäß hat er das Chorfinale aufgebaut: die höheren Stände erziehen das Volk dazu, das Gottesreich mit Freiheit zu errichten. In einem Konversationshefte von 18241) schreibt B e r n a r d : „Statt »Bettler werden Fürstenbrüder« hat es in Ihrem Text geheißen »Alle Menschen werden Brüder«." In dem Beethoven von 1792 her bekannten ersten Thaliadruck der Freudenode 2 ) findet sich in der Anfangsstrophe die von B e r n a r d zuerst angegebene Lesart für den siebenten Vers, die Schiller später durch die von B e r n a r d zu zweit angegebene uns geläufige Lesart ersetzt hat. Nach von Seiten Beethovens erhaltener Antwort schreibt B e r n h a r d weiter: „das geschieht hier alles durch die aristokratische Direktion". Man kann natürlich nicht beweisen, dafi die letzteren Worte zu demselben Gesprächsgegenstande gehören.3) Man darf es aber immerhin als möglich annehmen. Man hätte sich dann zu denken, daß Beethoven etwa gesagt hätte: Schiller habe die erste durch die zweite Lesart ersetzt; die erste Lesart klänge zu revolutionär; bei ihm, Beethoven, würde die Errichtung des Gottesreiches durch E r z i e h u n g des Volkes Seitens der höheren Stände veranlaßt. B e r n a r d s Worte würden solchen Ausführungen eine sinngemäße Bestätigung geben. Im wirklichen Leben seiner Gegenwart, sozusagen als Realpolitiker, hielt Beethoven die englische Verfassung für das nachahmenswerte Vorbild und war er für die Volksherrschaft durchaus nicht eingenommen: „Vox populi, vox Dei?" sagte er zu Hiller, „ich habe nie daran geglaubt." 4 ) Damit steht die Meinung, daß der weltbürgerliche Volksstaat der Endzweck der Geschichte sei, nicht im Widerspruche. 5 ) 6 ) Siehe T h a y e r V, Seite 49, Anm.; vgl. übrigens hierzu T h a y e r III 2 , Seite 153. ) Siehe vorher Seite 22. a ) Bei T h a y e r wird, es als „zweifelhaft" bezeichnet. 4 ) Vgl. S a n d b e r g e r a. a. 0 . Seite 265. Dazu S c h i n d l e r a. a. 0. Seite 307 und 355; W. C. Müller, Etwas über Ludwig van Beethoven (Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung, 1827) Seite 350 und die Ausführungen von S c h m i t z a. a. 0 . Seite 59fi. 5 ) Ebensowenig mit Beethovens „Haß gegen die Kinder Israels in der Kunst" (siehe S c h i n d l e r a. a. O. Seite 519). Übrigens erwog Beethoven im Jahre 1825 die Komposition einer Festkantate zur Einweihung eines Judentempels, doch gefiel ihm der Text nicht; schließlich lehnte er das Angebot der Judengemeinde ab. Siehe F r i m m e l s Beethovenj ahrbuch, Bd. I, München und Leipzig 1908, Seite 51 ff. e ) Es sei mir erlaubt, hier folgende Worte Fichtes anzuführen, die vorzüglich zeigen, wie der Grundgedanke des Chorfinales im Geiste der Zeit Beethovens wurzelt. In der Schrift: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (erste Ausgabe 1794) sagt Fichte (WW. Bd. VI, Seite 306, Reclamausgabe Seite 20; ich kürze ein wenig): „Das Leben im Staate gehört nicht unter die absoluten Zwecke des Menschen, sondern es ist ein M i t t e l zur Gründung einer v o l l k o m m e n e n G e s e l l s c h a f t . Der Staat geht auf seine eigene Vernichtung aus: es i s t der Zweck aller R e g i e r u n g , die R e g i e r u n g ü b e r f l ü s s i g zu machen. Jetzt ist der Zeitpunkt sicher noch nicht, und ich weiß nicht, wieviele Myriaden Jahre oder Myriaden von Myriaden Jahren bis dahin sein mögen; aber es ist sicher, daß auf der Laufbahn des Menschengeschlechtes ein solcher Punkt liegt, wo alle Staatsverbindungen überflüssig sein werden. Es ist derjenige Punkt, wo statt der Stärke oder der Schlauheit die bloße Ver2
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Was uns Beethoven im Chorfinale bietet, ist eine anschauliche Darstellung und Versinnlichung dieses Endzweckes der Geschichte. Die „Idee" des „moralischen Staates", die unendliche Aufgabe des Gottesreiches, die Verwirklichung dessen, wozu die Menschen unzulänglich sind, wozu sie aber im Fortschreiten der Zeit immer mehr und mehr zulänglich werden sollen: hier wird's Ereignis und wir sehen es im künstlerischen Bilde erreicht: Aber sinkt des Mutes kühner Flügel Bei der Schranken peinlichem Gefühl, Dann erblicket von der Schönheit Hügel Freudig das erflogne Ziel.1) In meiner hiermit beendigten Erläuterung zum Texte des Chorfinales lehnte ich mich an die Ergebnisse der rein musikalischen Formanalyse an und ging von ihnen aus. Ich stützte mich ferner auf Beethovens Textauswahl und Textanordnung und zumal auf die Verteilung des Textes an den Chor und die Solisten, an die Männer und die Frauen. Endlich zog ich die zu dem Texte und seiner Gestaltung Verwandtschaft zeigenden Ansichten Beethovens heran, soweit er sie entweder selbst ausgesprochen hat, oder soweit sie als die seinigen überliefert sind, oder soweit man auf Grund der Geistesbildung, die er besaß, und auf Grund der in seiner Zeit herrschenden Gedanken sie bei ihm anzunehmen berechtigt ist. Auf diese Weise ergab sich geradezu zwangsläufig ein einheitlicher Sinn des Chorfinales, der an Großartigkeit des Geniusses Beethovens würdig ist. Ich glaube nicht, daß es möglich ist, einen anderen Sinn aufzufinden, der das Ganze und alle Einzelheiten so vollkommen deckte und der mit Beethovens Überzeugungen so genau übereinstimmte, wie dieser hier dargelegte. Urteile ich damit richtig, so steht man also vor der Wahl: entweder hat Beethoven der hier dargelegte Sinn vorgeschwebt und hat er selbst ihn in der Gestaltung des Chorfinales bewußt zum Ausdrucke bringen wollen, oder aber Beethoven hat rein musikantisch die Verse Schillers zu einem formal sehr vollkommenen Chorstücke verwendet, ohne sich dabei viel zu „denken", so daß demnach der hier dargelegte Sinn zufällig oder durch eine Art von prästabilierter Harmonie zwischen Beethovens Schaffen und diesem Sinne von selbst herausgesprungen wäre. Die Qual der Wahl dürfte nicht groß sein, und man wird sich für das erste entscheiden müssen. Es ist mir zweifellos, daß Beethoven sich über den Sinn des Chorfinales, wie er hier dargelegt wurde, vollständig klar gewesen ist, wenn er vielleicht auch diese Klarheit erst allmählich und während der Ausarbeitung der Komposition erreicht haben mag.
nunft als höchster Richter allgemein anerkannt sein wird." Was Fichte hier „Vernunft" nennt, heißt bei Schiller-Beethoven in gehobener Dichtersprache und von der Seite der geistigen Leidenschaft her gesehen „Freude"; siehe vorher Seite 28. Vgl. Schiller, Das Ideal und das Leben.
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Es igt wohl begreiflich, daß ihm, wie Schindler 1 ) berichtet, die Auswahl der Strophen und Refrains aus der Freudenode Schwierigkeiten bereitet hat. Der einheitliche Sinn, der den Gesangteil durchwirkt und ihn auch gedanklich zusammenhält, und die dramatische Gestaltung im Aufbau machen das Chorfinale zu einer Art von Festspiel. Man darf es sich sehr wohl auch als Gesangpantomime auf der Bühne dargestellt denken: ein geschickter Spielleiter würde es schon fertig bringen können, die Solisten und den Chor so zu bewegen, daß dadurch der Sinn von Beethovens musikalischer Behandlung des Textes zu lebendigster Anschauung käme. Ich versuche es, dies der Einbildungskraft des Lesers etwas nähfer auszumalen.2) Die Bühne der Ratsplatz einer Idealstadt. Links vom Zuschauer, längs der Seitenwand, eben noch sichtbar, die Front eines Palastes im klassizistischen Stile: des Ständehauses. Der Palast hat mehr dem Hintergrunde zu ein Tor, vorne dagegen einen Vorbau, von dem eine breite Freitreppe zur Bühnenebene herunterführt. Auf dem Vorbau stehen oben Männer und Frauen als Vertreter des Standes der Bildung (Philosophen). Abgesondert von ihnen (infolge der streng teilenden Mode = Sitte, Staatsordnung) erfüllt das Volk als bunte Menge den unteren Bühnenraum.3) Antikisierende Trachten; die Philosophen vornehmer und reicher gekleidet als das Volk. Bei Öffnung des Vorhangs Morgendämmerung. Das Volk zeigt niedergeschlagene, mißmutige, verzweifelte Gebärden (Schreckensfanfare!). Der Älteste der Philosophen tritt hervor und singt das erste Baritonsolo. Die älteren Männer des Chores drängen sich nach der linken Seite und jauchzen ihm zu. Dann singt er die erste Strophe. Alle Männer und die älteren Frauen hören aufmerksam zu und respondieren. Das Volk wird allmählich immer freudiger, die Bühne heller. Vier Mitglieder der Philosophen singen die zweite Strophe. An Stelle des Ältesten kann hier ein anderer Baritonist die tiefste Stimme übernehmen. Die Sängerin des „wer ein holdes Weib errungen" tritt bei ihrem Einsatz auffällig hervor; zugleich wird die Anteilnahme der jüngeren Frauen des Chores lebhafter. Das ganze Volk respondiert nachdenklich. Beim Vortrage der dritten Strophe A. a. 0. Seite 385. ) Ich habe die Grundzüge der folgenden Ausführung bereits im „Stuttgarter Neuen Tagblatte", Jahrgang 1928, Nr. 575, veröffentlicht (Morgenblatt vom 7. Dezember). 3 ) Die Anordnung entspräche also, nur aus akustischen Gründen des heutigen Theaters seitlich verschoben, der des altgriechischen Theaters nach klassizistischer Auffassung. Diese war Beethoven sicher bekannt. Breitkopf und Härtel hatten ihm 1809 eine Übersetzung von Tragödien des Euripides zugeschickt, die er „wirklich schön" fand ( K a l i s c h e r , Beethovens Sämtliche Briefe I, Seite 283, Nr. 196). Von allen drei griechischen Tragikern ist in einem Gespräch mit Holz vom Herbst 1826 die Rede ( K a l i s c h e r , Beethoven und Wien, 1910, Seite 121). Beethoven hat demnach die Tragiker gelesen, und man darf annehmen, daß er sich von seinen philologisch gebildeten Freunden darüber hat belehren lassen, wie sie aufgeführt wurden. Das Bild davon hat den Plan des Chorfinales wohl mitbestimmt. 2
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durch die Philosophen tritt wiederum dieselbe Sängerin, die das „wer ein holdes Weib usw." sang, bei dem „Küsse gab sie uns und Reben" auffällig hervor. Das Volk respondiert wie trunken, um zuletzt das „und der Cherub steht vor Gott" begeistert und wie entrückt auszurufen. Mit dem Anfange des Alia Marcia wendet das Volk gespannt seine Blicke nach links hinten, wo sich im Flügel des Ständehauses das Tor befindet. Beim Einsatz von Becken, Triangel und Flöte (Takt 13) treten aus diesem Tor in glänzendem Waffenschmucke einige junge Krieger hervor und begeben sich, vom Volke verwundert betrachtet, zu dem erhöhten Orte der Philosophen. Nachdem sie dort angelangt sind, stellt sich der Anführer der Krieger auf die oberste Stufe der Freitreppe und singt das Tenorsolo. Während seines Gesanges scharen sich die Männer des Volkes unten vor der Freitreppe um ihn und stimmen freudig ein. Die Bühne ist inzwischen schon recht hell geworden. Nach Abschluß des Gesanges führen die Männer des Volkes (mit Takt 105 beginnend) eine dem Sinne des Fugatos entsprechende, dem Gange der Musik folgende Pantomime aus1), der die Frauen auf der rechten Seite der Bühne mit innerlicher (von Takt 161 an vielleicht auch äußerlicher) Anteilnahme zuschauen. Bei Beginn des Anhanges muß die Pantomime beendigt sein. Das Volk steht nun, Männer und Frauen getrennt, in wohlgefällig geordneter Aufstellung da. Begeistert blickt es nach oben (Takt 199f.), dann, sich besinnend, senkt es den Blick nach unten (Takt 205f.), endlich sich entschließend (Takt 211) singt es jubelnd die Wiederholung der ersten Strophe. Die Bühne überstrahlt hellster Glanz. Jetzt treten die Männer des Volks einige Schritte vor und stimmen das „Seid umschlungen Millionen!" und darauf das „Brüder! überm Sternenzelt" an; das gaiize Volk respondiert in feierlicher Haltung (Andante maestoso). Während der Instrumentaleinleitung des Adagios fällt das Volk auf die Knie und singt in dieser Stellung das „Ihr stürzt nieder Millionen". In den Instrumentaltakten nach dem ersten Vortrage des „Über Sternen muß er wohnen", erhebt es sich wieder und, einander zugewandt, singen, nacheinander einsetzend, Frauen und Männer die Wiederholung des vorangegangenen Verses (Sehluß des Adagios). Nun treten die Frauen hervor und heben die Doppelfuge an, während deren das Volk sich, entsprechend der Musik, durcheinander bewegt, und zwar in der Weise, daß am Ende die Trennung von Männern und Frauen, die sich während des Alia Marcia gebildet hatte, wieder aufgehoben wird. Im Beginne des Anhangs zeigen die Männer fragende Gebärden, mit dem Einsätze des Alts und noch mehr mit dem des Soprans gewinnt das ganze Volk Sicherheit und singt so in feierlicher Ruhe den Schluß des Anhanges (und damit des ganzen Allegro energico). Inzwischen haben die Philosophen und Krieger das Tun des Volkes mit höchster 1 ) Diese Pantomime ist die einzige Schwierigkeit, die für die Bühnendarstellung besteht. Ihr Thema muß sein: Übergang von der Unordnung zu Ordnung und Harmonie. Je schlichter und einfacher sie ausgeführt wird, desto besser!
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Aufmerksamkeit undRührung beobachtet. Dabei drängten sich die PhilosophenFrauen vom Vorbau des Ständepalastes auf die Stufen der Freitreppe, dergestalt, daß jetzt nur noch die Männer oben sind: so werden die Takte 1—19 des Allegro ma non tanto vorgetragen, wobei in den Takten 10—17 die Männer den Frauen auf die Freitreppe nachrücken, noch aber oberhalb ihrer haltmachend. Während des folgenden Kanons bewegen sich sämtliche Mitglieder der höheren Stände so durcheinander, daß auch bei ihnen die vorher eingetretene Geschlechtertrennung wieder verschwindet; zugleich steigen sie alle unter leicht angedeuteter Führung der Frauen die Freitreppe vollends hinunter, an deren Fuße sie, beim Einsätze des Unisonos von Seiten des Volkes, stehen bleiben. Darauf singt das Volk die erste Kadenz. Wenn es dann den vorherigen Kanon der höheren Stände seinerseits abgekürzt wiederholt1), begeben sich die höheren Stände von der Freitreppe weg mitten unter das Volk, und ihre vier Vertreter singen dort die zweite Kadenz. Endlich, in der Überleitung zum Prestissimo und in dessen ersten Instrumentaltakten, mischen sie sich ganz zwischen das Volk und tauchen in ihm unter, in der Weise, daß *) Die Mainzer Stichvorlage (und ebenso der Erstdruck der Partitur, der ohne Beethovens Mithilfe nach ihr angefertigt wurde) zeigt an dieser und nur an dieser Stelle die Lesart: „was die Mode f r e c h geteilt". Max Unger sagt (vgl. „Die Musik", X I X . Jahrgang, Heft 7, Seite 486Ii.: „Zur strittigen Textstelle in der I X . Symphonie") darüber: „allzu deutlich ist nach meiner Erinnerung [Unger hat die Stichvorlage in Mainz selber eingesehen] auch das Wort des Kopisten nicht geschrieben, so daß man sich ein Überlesen Beethovens ebenfalls leicht denken kann" [so leicht, wie daß der Kopist aus Beethovens Schreibung des „streng", mißverstehend, das „frech" herausgelesen haben könnte]. Schotts versicherten mich, als ich während der Ausarbeitung meines Aufsatzes „Zur neunten Symphonie" (Neues Beethovenjahrbuch, Bd. II, 1926) bei ihnen anfragte, daß das Wort frech „unzweifelhaft deutlich" geschrieben sei; und inzwischen habe auch ich die Stichvorlage in Mainz selber eingesehen und habe das gleiche feststellen können, so daß ich mir ein Überlesen Beethovens wenn auch denken, so doch jedenfalls nicht „leicht" denken kann. In meinem Aufsatze habe ich die Möglichkeit, daß Beethoven die Lesart „frech" gewollt habe, verteidigt, obwohl, wie ich mir hatte mitteilen lassen, die von Beethoven durchgesehene Berliner Abschrift für den König Friedrich Wilhelm I I I . an der fraglichen Stelle nicht „frech", sondern „streng" zeigt. Unger hat meine Verteidigung mit vielen Gründen bekämpft. Diesen seinen Gründen kann ich nun meinerseits noch zwei weitere und gewichtigere hinzufügen. Der erste ergibt sich aus meiner Textdeutung: es würde äußerst taktlos, ja pöbelhaft sein, wenn das Volk in dem Augenblicke, wo die höheren Stände sich ihrer Vorrechte zu entäußern im Begriffe stehen, und nachdem es ihnen seine Erziehung zur Selbstherrschaft zu verdanken hat, die Mode, d. h. die Staatsordnung, die sie und es bisher berechtigterweise voneinander trennte, zu guterletzt als „frech" verunglimpfen und beschimpfen wollte. Dies widerspräche auch Beethovens Denkweise. Der zweite Gegengrund ist folgender: Herr William Wallace von der Royal Philharmonie Society of London hatte die große Liebenswürdigkeit, für die ihm hier mein herzlichster Dank ausgesprochen sei, die Londoner Abschrift für mich einzusehen und mir darüber zu berichten: auch diese von Beethoven durchgesehene Abschrift zeigt, wie die Berliner, an der strittigen Stelle nicht „frech", sondern „streng". Ich stimme aus diesen Gründen, trotz der unbezweifelbaren Deutlichkeit des „frech" in der Stichvorlage, nunmehr Max Unger zu. Weder Wagners noch meine Verteidigung sind weiterhin aufrechtzuerhalten, und man muß das berühmte „frech" endgültig begraben. Vgl. hierzu noch meinen Aufsatz „Zur neunten Symphonie, nachträgliche Feststellungen" im Bd. IV des Neuen Beethovenjahrbuches.
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im Schlußchore nur noch eine trennungs- und unterschiedslose Volksgemein-* schaft zu erblicken ist.1) — Alle Bewegungen müssen choreographisch sorgfältig vorbereitet und der Musik entsprechend stilisiert sein. Die Darstellung im Theater hat den Vorteil, daß die schwierigen Parte der Solisten nicht durchweg von den gleichen Personen gesungen zu werden brauchen. Nur sollte derselbe Bariton das einleitende Rezitativ und die erste Strophe vortragen und wieder in der zweiten Kadenz mitsingen, an der sich außerdem auch der Anführer der Krieger und die Sängerin des „wer ein holdes Weib errungen" zu beteiligen hätten. Den Tenor in der zweiten und dritten Strophe des Gedichtes müßte ein anderer Sänger übernehmen als der, der den Anführer der Krieger singt. Ich bin dessen gewiß, daß der Versuch einer Aufführung sich sehr belohnen würde. Beethoven selbst hat an eine Aufführung vielleicht nie gedacht. In seinen Skizzen zur rezitativischen Einleitung des ersten Großstollenä hat er Versuche gemacht, den Rezitativen, die ja in der endgültigen Fassung des Chorfinales lediglich instrumental sind, Worte unterzulegen; und da heißt es einmal: „Heute ist ein feierlicher Tag meine Fru [Freunde?], dieser sei gefeiert durch [dem „durch" ist „mit" übergeschrieben] GeSang und Tanz." 2 ) Das Wort „Tanz" ist freilich nicht mit Sicherheit erkennbar.3) Sollte es richtig gelesen sein, so würde daraus immerhin hervorgehen, daß Beethoven bei der Komposition Tanzbewegungen der Sänger vor dem inneren Auge gehabt hat; und diese Tanzbewegungen können dann nur von der Art einer „feierlichen" Pantomime gewesen sein, so wie ich sie soeben zu schildern unternahm. Doch dem Sei, wie ihm wolle: jedenfalls hat Beethoven eine Aufführung nicht verlangt. Man kann daher die historische Berechtigung, eine Solche dennoch zu veranstalten, in Zweifel ziehen. Ich will weder darauf hier näher eingehen, noch auf die Frage nach der ästhetischen Berechtigung.4) 1 ) Die „türkische Musik" (kleine Flöte, Triangel, Becken und große Trommel) findet sich nur in den Takten 1—101 des Alla Marcia und im Schlußprestissimo. Dort begleitet sie sinngemäß das Auftreten der Krieger und die Ansprache ihres Führers. Hier dient sie der Schlußsteigerung. Man darf ihr Wiedererklingen hier aber auch dahin deuten, daß mit dem Aufgehen der höheren Stände, also auch der Krieger, in das Volk dieses sich ganz und gar die Kraft des sittlichen Willens, den die Krieger versinnbildlichen, eingeeignet hat. 2 ) Vgl. Thayer V, Seite 27f. 3 ) Ebenda Seite 28. Dort wird noch die Lesung „Scherz" vermutet, die aber in Anbetracht sowohl der Verse Schillere als auch der Musik Beethovens höchst unwahrscheinlich ist. Nottebohm (zweite Beethoveniana, Leipzig 1887, Seite 190) läßt das Wort überhaupt ungelesen. Kalischer (Beethoven und Wien 1910, Seite 129) liest auch „Tanz". 4 ) Prof. H. J. Moser schreibt mir: „Ich finde Ihren Gedanken wunderschön, wünschte ihn aber doch lieber aufe innere Auge beschränkt." Freiherr Hans von Wolzogen (Bayreuth) dagegen äijßert sich: „Ihr Gedanke einer szenischen Darstellung der Hymne ist mir sympathisch, wenn man auch ein ideales Theater dafür wünschen möchte. Es scheint mir weniger »stilwidrig«, als wie der jetzige Gesangsvortrag am Schlüsse der Symphonie manchen Puristen gilt." Auch Generalmusikdirektor Prof. Dr. Alfred Lorenz und Dr. Karl Grunsky sind der gleichen Ansicht. Ich halte eine Entscheidung des Meinungsstreites durch historisch-ästhe-
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Der Fall dürfte ähnlich liegen wie bei den Oratorien Händeis, deren Darbietung auf der Bühne ja neuerdings mit einzelnen Werken, wie „Acis und Galathea", ,,Saul" und „Herakles" wieder versucht worden ist. Mich will die Erscheinung eines phantasievoll bewegten, strahlenden Bühnenbilder am Schlüsse der Symphonie viel künstlerischer und weihevoller dünken als der oft gerügte Greuel des Anblicks bisher ruhig zuhörender, nun aber plötzlich zu leidenschaftlicher Gesangtätigkeit auffahrender Damen und Herren in wenn auch noch so schönen Abendkleidern und tadellos geschnittenen IVäcken. Dazu kommt ein anderer Gesichtspunkt. Der dem Chorfinale einwohnende Gedankengehalt ist den Menschen des 20. Jahrhunderts fast völlig fremd geworden. Sofern sie ihn ernsthaft erfassen und nicht lediglich „musikgenießend" und, um mit Schopenhauer zu reden, als „begeisterte Schafe" an ihm vorbeihören wollen, werden sie in ihrer weitaus überwiegenden Mehrzahl der anschaulichen Hilfen, die das Bühnenbild der Auffassung gewährt, schwerlich entraten können. 1 ) Das Bühnenbild würde nicht so sehr, wie man ihm vorzuwerfen pflegt, „die Phantasie binden", sondern sie vielmehr in Bewegung setzen und dadurch das Chorfinale als ebenso dichterisches wie musikalisches Gebilde erst zu allseitiger und voller ästhetischer Wirkung bringen. Hier im Zusammenhang unserer Untersuchung aber ist einzig die Feststellung wichtig, daß das Chorfinale nach der ihm von Beethoven gegebenen Beschaffenheit unmittelbar bühnenfähig ist. Beethoven selbst hat eine Aufführung wohl schon deshalb gar nicht erst in Erwägung gezogen, weil er zu seiner Zeit eine solche für das nach den bedingenden rein symphonischen Sätzen als „Oper" allzu kurze Finale doch nirgendwo hätte erwarten dürfen. Ein anderer Grund wird von noch entscheidenderem Gewichte gewesen sein. Eine Bühnendarstellung deä Chorfinales muß ja dessen Grundgedanken unvergleichlich klarer machen als eine Konzertaufführung, muß ihn sozusagen „ad oculos demonstrieren". Dieser Grundgedanke aber zielt auf die Selbstherrschaft des Volkes und die Abdankung der höheren Stände. Denkt Beethoven sich auch beide Ereignisse als „Ideen", die sich erst in unendlich ferner Zukunft beim Abschlüsse der Menschheitsgeschichte verwirklichen werden, und ist das Chorfinale demnach auch, wie wir sahen, durchaus nicht revolutionär gemeint, so kann und konnte es doch, zumal in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, halb verstanden, allzu leicht als revolutionär mißdeutet tische Gründe nicht für möglich. Jedoch spricht eindeutig f ü r eine Aufführung der pädagogische Grund, daß sie den Zuhörer zum Nachdenken zwingt. Auch wird das „innere Auge", auf daa H. J. Moser verweist, ohne Unterstützung durch das äußere Auge nur bei wenigen Akademikern sehend werden, bei der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Zuhörer aber blind bleiben. x ) Mit Recht sagt K a r l Nef (Zeitschrift f. Musik, Jahrgang 92, Leipzig 1926, Seite 347): Beethoven „wollte eine Kunst, bei der der Verstand nicht zu schlummern braucht". Siehe Ι.;
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