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German Pages 309 Year 2009
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 206
Außerprozessuale Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe
Von
Matthias Mittag
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
MATTHIAS MITTAG
Außerprozessuale Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (y) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 206
Außerprozessuale Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe
Von
Matthias Mittag
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Knut Amelung, Dresden Die Juristische Fakultät der Technischen Universität Dresden hat diese Arbeit im Jahre 2008 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-12986-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für Susanne
Vorwort Die Arbeit wurde im Sommersemester 2008 von der Juristischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertation angenommen. Sie befand sich dabei auf dem Stand von Juli 2007 und wurde für die Drucklegung teilweise aktualisiert und geringfügig überarbeitet. Insbesondere ist das zum 1.1.2008 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG (BGBl. I 2007, S. 3198) eingearbeitet. Mein Dank gebührt vor allen anderen meinem Doktorvater, Prof. Dr. Knut Amelung, der die Untersuchung angeregt, betreut und in jeder Phase ihrer Entstehung durch seine stete Bereitschaft zur Diskussion unterstützt, mir dabei aber immer den notwendigen Freiraum für selbständige wissenschaftliche Arbeit gelassen hat. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Jochen Rozek, an dessen Dresdner Lehrstuhl für öffentliches Recht ich während der Zeit der Entstehung der Arbeit als Assistent beschäftigt war. Er hat mir jegliche wissenschaftliche Freiheit gewährt und aus seiner ganz anderen Sicht auf die Dinge wertvolle Hinweise gegeben sowie sich der Mühe unterzogen, die Erstbegutachtung der Arbeit vorzunehmen. Schließlich bin ich Prof. Dr. Martin Böse (Bonn) für die rasche Erstellung des auswärtigen Gutachtens sowie für zahlreiche Anregungen zu Dank verpflichtet. Privatdozent Dr. Rainer Schröder und Benno Kaplonek von der Dresdner Juristischen Fakultät danke ich für manche Ratschläge. Wertvolle Ratschläge und Aufmunterung habe ich wann immer nötig auch aus Hamburg von Karsten Brandt erfahren; herzlichen Dank dafür. Ohne meine Eltern wäre diese Arbeit nicht entstanden. Sie haben mir das Jurastudium erst ermöglicht und mich nicht nur in der Promotionsphase in jeder erdenklichen Weise unterstützt. Auch dafür danke ich. Schließlich danke ich meiner Frau für ihre Hilfe, vor allem aber dafür, dass sie mich auch in den besonders vereinnahmenden Zeiten die anderen Seiten des Lebens nicht vergessen ließ. Ihr ist die Arbeit gewidmet. Radebeul, im März 2009
Matthias Mittag
Inhaltsverzeichnis
Teil 1 Einleitung 1. Abschnitt Einführung § 1 Problemstellung und Begriffsklärung ................................................................
21
§ 2 Gang der Untersuchung......................................................................................
23
2. Abschnitt Strafprozessuale Grundrechtseingriffe an den Schnittstellen verschiedener Rechtsgebiete § 3 Zwecke strafprozessualer Grundrechtseingriffe ................................................
25
A. „Echte“ strafprozessuale Eingriffsermächtigungen....................................
27
I.
Sachverhaltsaufklärung und Beweissicherung....................................
27
II. Sicherung des Verfahrensfortgangs ....................................................
29
B. „Unechte“ strafprozessuale Eingriffsermächtigungen................................
30
I.
Ermittlungsvorsorge............................................................................
30
II. Verfolgung präventiver Zwecke .........................................................
31
C. Sonderfragen...............................................................................................
33
I.
Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten ..................................
33
II. Einsatz verdeckter Ermittler gemäß § 110a Abs. 1 S. 2 StPO ............
35
III. Vorschriften über die Datenübermittlung ...........................................
35
IV. Erteilung von Auskünften an und Akteneinsicht für den Verletzten (§§ 406d, 406e StPO)..........................................................................
37
§ 4 Funktionen strafprozessualer Eingriffsermächtigungen in den verschiedenen Rechtsgebieten ...................................................................................................
37
§ 5 Normstruktur strafprozessualer Eingriffsermächtigungen.................................
39
10
Inhaltsverzeichnis A. Regulative und konstitutive Normen..........................................................
39
B. Struktur prozessualer Regeln......................................................................
41
§ 6 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Prozesshandlungen .........................
44
A. Zum Begriff der Prozesshandlung..............................................................
44
B. „Mehrfachwirkung“ strafprozessualer Grundrechtseingriffe .....................
45
C. Die Bewertung von Prozesshandlungen .....................................................
47
Teil 2 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt 1. Abschnitt Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Hoheitsakte § 7 Grundrechtseingriffe der Ermittlungsbehörden ................................................. A. Handlungsformen der Eingriffsverwaltung ................................................ I.
52 53
Der Verwaltungsakt ............................................................................
53
II. Der Realakt (tatsächliches Verwaltungshandeln) ...............................
58
B. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe im System staatlicher Handlungsformen.........................................................................................................
61
I.
Der Realakt als Handlungsform der Strafverfolgungsbehörden .........
61
II. Unbestimmte Rechtsbegriffe im Tatbestand strafprozessualer Eingriffsermächtigungen.....................................................................
63
III. Ermessensfehler ..................................................................................
68
§ 8 Richterlich angeordnete Grundrechtseingriffe...................................................
71
A. Funktion der Richtervorbehalte .................................................................. I.
72
Präventiver Grundrechtsschutz ...........................................................
72
II. Der Sonderfall: Molekulargenetische Untersuchungen (§§ 81e ff. StPO) .................................................................................
74
1.
Molekulargenetische Untersuchung nach § 81e StPO ................
74
2.
Molekulargenetische Untersuchung nach § 81g StPO ................
76
3.
Molekulargenetische Untersuchung nach § 81h StPO ................
78
III. Vergleich zur Funktion des Richtervorbehalts im Gefahrenabwehrrecht.............................................................................................
79
B. Die Tauglichkeit der richterlichen Anordnung als Vollstreckungsgrundlage für den Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut .............................
80
Inhaltsverzeichnis
11
2. Abschnitt Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Eingriffe in materielle Grundrechte § 9 Schutzbereich .....................................................................................................
85
§ 10 Eingriff in den Schutzbereich ............................................................................
87
A. Eingriffsbegriff ...........................................................................................
88
I.
Klassischer und „moderner“ Eingriffsbegriff .....................................
88
II. Einschränkung für Bagatellen? ...........................................................
90
III. Einschränkung für mittelbare Grundrechtseingriffe? .........................
91
B. Einwilligung als Eingriffsausschluss..........................................................
94
I.
Abgrenzungsfragen .............................................................................
95
1.
Verzicht als prozessrechtlicher Begriff .......................................
96
2.
Grundrechtsverzicht ....................................................................
96
3.
Besonderheiten grundrechtlicher Schutzbereiche .......................
97
4.
Nichtausübung des grundrechtlichen Abwehrrechts ...................
98
II. Grundrechtlicher Schutz des Einwilligungsrechts ..............................
99
III. Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes.................................................. 101 1.
Der Vorrang des Gesetzes ........................................................... 101
2.
Der Vorbehalt des Gesetzes......................................................... 102
IV. Wirkung der Einwilligung .................................................................. 105 V. Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung................................ 105 1.
Struktur und Rechtfertigung von Einwilligungsgrenzen............. 105
2.
Dispositionsbefugnis ................................................................... 107
3.
Freiwilligkeit ............................................................................... 110
C. Potentielle Eingriffe....................................................................................... 113 I.
Die richterliche Anordnung des Zugriffs auf das grundrechtliche Schutzgut............................................................................................. 114
II. Das zum Eingriff ermächtigende Gesetz ............................................ 115 § 11 Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung strafprozessualer Grundrechtseingriffe ............................................................................................................. 116 A. Vorbehalt des Gesetzes............................................................................... 117 I.
Herleitung und Zweck des Vorbehalts des Gesetzes .......................... 118
II. Analogie und Vorbehalt des Gesetzes ................................................ 120 1.
Analogieverbot aufgrund Art. 103 Abs. 2 GG? .......................... 122
2.
Analogieverbot aufgrund Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG ..................... 123
12
Inhaltsverzeichnis 3.
Analogieverbot aufgrund des allgemeinen Gesetzesvorbehalts .. 125
III. Gewohnheitsrecht und Vorbehalt des Gesetzes .................................. 126 IV. Strafrechtliche Rechtfertigungsnormen als Eingriffsermächtigungen? ............................................................................................... 128 V. Vorbereitende und begleitende Eingriffe............................................ 132 VI. Mittelbarer Grundrechtseingriff und Gesetzesvorbehalt..................... 136 VII. Gesetzesvorbehalt und Generalklausel ............................................... 137 VIII. Zusammenfassung ............................................................................. 142 B. Zitiergebot .................................................................................................. 142 C. Bestimmtheitsgebot .................................................................................... 151 D. Übermaßverbot ........................................................................................... 153 I.
Grundfragen ........................................................................................ 153 1.
Herleitung und wesentlicher Inhalt des Übermaßverbots ........... 153
2.
Die Kollision mit dem Prinzip der „Wirksamkeit der Strafrechtspflege“................................................................................ 156
3.
Zwei Probleme des Übermaßverbots........................................... 160 a)
Unberechenbarkeit der Abwägung ...................................... 160
b)
Unverfügbare Rechtspositionen........................................... 161
II. Einzelfragen ........................................................................................ 166 1.
Übermaßverbot und strafprozessuale Eingriffsermächtigungen . 167
2.
Übermaßverbot und strafprozessuale Grundrechtseingriffe........ 170 a)
Kumulative Anordnung strafprozessualer Grundrechtseingriffe................................................................................ 170
b)
Hinwirken auf einvernehmliches Handeln........................... 171
§ 12 Konsequenz des verfassungswidrigen Grundrechtseingriffs: Öffentlichrechtlicher Abwehranspruch ............................................................................. 173 A. Übertragbarkeit des „Abwehrgedankens“ auf die Prozesssituation ........... 173 B. Voraussetzungen und Grenzen des Abwehranspruchs............................... 176 I.
Verletzung eines subjektiven Rechts durch hoheitliches Handeln ..... 176
II. Rechtswidriger Zustand ...................................................................... 177 III. Verletzung von Grundrechten als informationellen Abwehrrechten („Informationsbeherrschungsrechten“)............................................... 177 IV. Informationelles Erfolgsunrecht als Voraussetzung des Abwehranspruchs............................................................................................. 180 C. Rechtsfolgen für das Strafverfahren und Kritik am abwehrrechtlichen Ansatz ...................................................................................... 182
Inhaltsverzeichnis
13
3. Abschnitt Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe § 13 Die Leitlinien der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ....................... 186 A. Die Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG ....................................................... 186 B. Verfassungsrechtliche Leitlinien für den Rechtsschutz gegen richterliche Anordnungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe................................ 188 C. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG bei erledigten Eingriffen.................................................................................................... 192 I.
Zum Begriff der Erledigung................................................................ 192
II. Die Voraussetzungen des Rechtsschutzes gegen erledigte Eingriffe.. 194 D. Spezifische Folgen für den Rechtsschutz aus der Heimlichkeit eines Eingriffs ...................................................................................................... 200 § 14 Die einfachrechtliche Ausgestaltung des (repressiven) Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe .............................................................. 204 A. Rechtsschutz gegen richterlich angeordnete Grundrechtseingriffe ............ 205 I.
Die Beschwerde gemäß § 304 StPO ................................................... 205
II. Die Neuregelung des § 101 Abs. 7 StPO ............................................ 207 B. Rechtsschutz gegen nicht-richterlich angeordnete Grundrechtseingriffe... 209 C. Rechtsschutz gegen Aspekte des Vollzugs erledigter Eingriffe................. 212 D. Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe und Folgenbeseitigung.................................................................................................. 213
Teil 3 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen 1. Abschnitt Materiell-strafrechtliche Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe § 15 Die Rechtfertigung der Strafverfolgungsbeamten ............................................. 217 A. Die Eingriffsermächtigung als Rechtfertigungsnorm................................. 217 I.
Besonderheiten für den Vollzug richterlicher Anordnungen.............. 217
II. Keine Abweichung durch einen „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff“ ........................................................................................ 218 III. Keine Abweichung durch einen „verwaltungsrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff“ .............................................................................. 222
14
Inhaltsverzeichnis IV. Keine Unterscheidung zwischen „Situationsebene“ und „Sanktionsebene“.................................................................................................. 223 V. Zwischenergebnis................................................................................ 224 B. Materiell-strafrechtliche Rechtfertigungsgründe........................................ 224 I.
Einwilligung........................................................................................ 225
II. Notstand und Notwehr (§§ 32, 34 StGB)............................................ 226 III. Handeln auf Weisung.......................................................................... 228 § 16 Die Duldungspflicht des Betroffenen und sein Recht auf Notwehr .................. 231 2. Abschnitt Die Haftung des Staates für strafprozessuale Grundrechtseingriffe § 17 Das Strafverfolgungsentschädigungsgesetz....................................................... 235 A. Rahmenbedingungen des Anspruchs nach dem StrEG .............................. 236 B. Entschädigungsfähige Grundrechtseingriffe .............................................. 239 C. Der entschädigungsauslösende Umstand.................................................... 241 D. Ausschluss und Versagung der Entschädigung .......................................... 242 E.
Inhalt und Umfang der Entschädigung....................................................... 243
F.
Exkurs: Entschädigung Dritter nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz ................................................................................ 244
§ 18 Haftung nach allgemeinem Staatshaftungsrecht................................................ 245 A. Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) ........................................... 245 I.
Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht ..................................... 246
II. Verschulden ........................................................................................ 248 III. Verursachung eines Schadens............................................................. 249 IV. Haftungsbegrenzungen........................................................................ 250 B. Allgemeiner Aufopferungsanspruch........................................................... 252 C. Insbesondere: Eigentumsbeeinträchtigungen ............................................. 254 I.
Enteignung und Inhalts- und Schrankenbestimmung ......................... 254
II. Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff .................................... 256 III. Ansprüche aus enteignendem Eingriff................................................ 257 IV. Insbesondere: Die Entschädigung für Eingriffe in das Eigentumsgrundrecht Nichtbeschuldigter............................................................ 258 D. Öffentlich-rechtliches Verwahrverhältnis........................................... 260 § 19 Haftung nach EMRK ......................................................................................... 261 A. Art. 5 Abs. 5 EMRK................................................................................... 261
Inhaltsverzeichnis
15
B. Art. 41 EMRK ............................................................................................ 263 Teil 4 Zusammenfassung und Ausblick § 20 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse ................................................. 265 § 21 Ausblick............................................................................................................. 272 A. Die innerprozessualen Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe ...................................................................................................... 272 B. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe und Verwertungsverbote............... 274
Literaturverzeichnis ................................................................................................ 277 Sachverzeichnis ........................................................................................................ 306
Abkürzungsverzeichnis a.A.
andere(r) Ansicht
a.a.O.
am angegebenen Ort
a.E.
am Ende
a.F.
alte(r) Fassung
abl.
ablehnend
Abs.
Absatz
AcP
Archiv für civilistische Praxis (Zeitschrift)
AK
Alternativ-Kommentar
Alt.
Alternative
Anm.
Anmerkung
AöR
Archiv öffentlichen Rechts (Zeitschrift)
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (Zeitschrift)
Art.
Artikel
Aufl.
Auflage
BayObLG
Bayerisches Oberstes Landesgericht
BayObLGSt
Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen (Entscheidungssammlung)
BayVBl.
Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift)
BayVGH
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
BBG
Bundesbeamtengesetz
Bd.
Band
BDVRR
Rundschreiben des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter (Zeitschrift)
Beschl.
Beschluss
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BGH
Bundesgerichtshof
BGHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (Entscheidungssammlung)
BK-GG
Bonner Kommentar zum Grundgesetz
Abkürzungsverzeichnis BMJ
Bundesministerium der Justiz
BRRG
Beamtenrechtsrahmengesetz
Bsp.
Beispiel
bspw.
beispielsweise
17
BT-Drs.
Bundestagsdrucksache
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Entscheidungssammlung)
BVerwG
Bundesverwaltungsgericht
BVerwGE
Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Entscheidungssammlung)
DAG
Deutsches Auslieferungsgesetz
dens.
denselben
ders.
derselbe
Diss.
Dissertation
DJT
Deutscher Juristentag
DÖV
Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift)
DVBl.
Deutsche Verwaltungsblätter (Zeitschrift)
ebd.
ebenda
EGGVG
Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Einl.
Einleitung
Einl. ALR
Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten)
Entsch.
Entscheidung
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift (Zeitschrift)
f.
folgende
ff.
fortfolgende
Fn.
Fußnote
G.
Gesetz
G 10
Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz)
GA
Goltdammers Archiv für Strafrecht (Zeitschrift)
GG
Grundgesetz
18
Abkürzungsverzeichnis
grdl.
grundlegend
GS
Großer Senat
GVG
Gerichtsverfassungsgesetz
Habil.
Habilitationsschrift
h.L.
herrschende Lehre
h.M.
herrschende Meinung
HK-StPO
Heidelberger Kommentar zur StPO
Hrsg.
Herausgeber
HS
Halbsatz
i.d.R.
in der Regel
i.E.
im Einzelnen
insbes.
insbesondere
i.Ü.
im Übrigen
Jh.
Jahrhundert
JöR NF
Jahrbuch des öffentlichen Rechts, neue Folge (Periodikum)
JR
Juristische Rundschau (Zeitschrift)
JuMiG
Justizmitteilungsgesetz
Jura
Juristische Ausbildung (Zeitschrift)
JuS
Juristische Schulung (Zeitschrift)
JVEG
Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz (Gesetz über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetscherinnen, Dolmetschern, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehrenamtlichen Richtern, Zeuginnen, Zeugen und Dritten)
JZ
Juristenzeitung (Zeitschrift)
KG
Kammergericht
KK-StPO
Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung
KMR
Loseblattkommentar zur Strafprozessordnung (begründet von Kleinknecht/Müller/Reitberger)
krit.
kritisch
KritV
Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Zeitschrift)
LG
Landgericht
LK-StGB
Leipziger Kommentar zum StGB
LT-Drs.
Landtags-Drucksache
LVerfG
Landesverfassungsgericht
Abkürzungsverzeichnis m.
mit
MEPolG
Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes
m.(w.)N.
mit (weiteren) Nachweisen
MünchKomm-BGB
Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch
MünchKomm-StGB
Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch
Nachw.
Nachweis(e)
n.F.
neue(r) Fassung
NJ
Neue Justiz (Zeitschrift)
19
NJW
Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)
NK-StGB
Nomos Kommentar zum StGB
Nr.
Nummer
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht (Zeitschrift)
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Zeitschrift)
NWVBl.
Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter (Zeitschrift)
OLG
Oberlandesgericht
OrgKG
Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität
OVG
Oberverwaltungsgericht
PAG Bayern
Bayerisches Polizeiaufgabengesetz
Rdnr.
Randnummer
p.F.V.
positive Forderungsverletzung
RGBl.
Reichsgesetzblatt
Rspr.
Rechtsprechung
S.
Seite, Satz
SächsBG
Sächsisches Beamtengesetz
SächsPolG
Sächsisches Polizeigesetz
SK-StPO
Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung
s.o.
siehe oben
StGB
Strafgesetzbuch
StHG
Staatshaftungsgesetz
StPÄG
Strafprozessrechtsänderungsgesetz
StPO
Strafprozessordnung
StraFo
Strafverteidiger-Forum (Zeitschrift)
StrÄndG
Strafrechtsänderungsgesetz
20
Abkürzungsverzeichnis
StrEG
Strafverfolgungsentschädigungsgesetz (Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen)
StV
Strafverteidiger (Zeitschrift)
StVÄndG
Strafverfahrensänderungsgesetz
TKG
Telekommunikationsgesetz
u.a.
unter anderem
unstr.
unstreitig
Urt.
Urteil
v.
vom
Var.
Variante
VBlBW
Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg (Zeitschrift)
VersG
Versammlungsgesetz
VersR
Versicherungsrecht (Zeitschrift)
VerwArch
Verwaltungsarchiv (Zeitschrift)
VG
Verwaltungsgericht
VGH
Verwaltungsgerichtshof
vgl.
vergleiche
Vorbem.
Vorbemerkungen
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtlehrer (Periodikum)
VwGO
Verwaltungsgerichtsordnung
VwVfG
Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG
Verwaltungsvollstreckungsgesetz
WM
Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschrift)
WRV
Weimarer Reichsverfassung
z.B.
zum Beispiel
ZIS
Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik (Zeitschrift)
ZPO
Zivilprozessordnung
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Zeitschrift)
zutr.
zutreffend
Zweitbearb.
Zweitbearbeitung
ZZP
Zeitschrift für Zivilprozess (Zeitschrift)
Teil 1
Einleitung 1. Abschnitt
Einführung § 1 Problemstellung und Begriffsklärung Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen für Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht wirken an den Schnittstellen verschiedener Rechtsgebiete. Sie sind zunächst von Bedeutung für den konkreten Strafprozess und werden in dieser Bedeutung von der Lehrbuchliteratur zum Strafverfahrensrecht vornehmlich wahrgenommen. Sie wirken aber auch in den materiellrechtlichen Bereich hinein, insbesondere in das Verfassungsrecht, das materielle Strafrecht und das Staatshaftungsrecht. So bezweckt beispielsweise § 81a StPO, den Ermittlungsbehörden Eingriffe zur Beweisgewinnung zu ermöglichen (verfahrensrechtliche Wirkung). Gleichzeitig fungiert die Vorschrift als Rechtfertigung des staatlichen Handelns für einen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (verfassungsrechtliche Wirkung) und des eingreifenden Beamten für eine Körperverletzung oder Nötigung (materiell-strafrechtliche Wirkung). Diese Wirkungen in den verschiedenen Bereichen und ihre Wechselwirkungen sollen Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein. In der Untersuchung werden die Begriffe „strafprozessualer Grundrechtseingriff“ und „strafprozessuale Eingriffsermächtigung“ verwendet. Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei stets die Eingriffsermächtigung, die Norm, denn sie hat die angesprochenen Funktionen. Davon begrifflich und gedanklich zu unterscheiden ist das Gebrauchmachen von der entsprechenden Ermächtigung, der strafprozessuale Grundrechtseingriff. Dem Streit, ob dieser als „strafprozessuale Zwangsmaßnahme“1 oder als „strafprozessualer Grundrechtseingriff“2 zu be___________ 1 So vor allem Schroeder, JZ 1985, 1028 (1029); vgl. aber dens., Strafprozessrecht (2007), Rdnr. 114 („strafprozessuale Zwangsmaßnahmen und sonstige Grundrechtseingriffe“); Rieß/Thym, GA 1981, 189 ff.; Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im
22
Teil 1: Einleitung
zeichnen ist, soll nicht näher nachgegangen werden. Die Verwendung des Begriffs der „Zwangsmaßnahme“ zeigt jedoch, dass die neueren Entwicklungen der Eingriffsbefugnisse zumindest terminologisch nicht hinreichend beachtet werden, denn es kommt bei vielen „modernen“ Maßnahmen gerade nicht auf eine Zwangswirkung an. Man denke nur an die Eingriffe, die ohne jeden näheren Kontakt zum Betroffenen oder gar heimlich vorgenommen werden. Demgegenüber wird mit der Bezeichnung „strafprozessualer Grundrechtseingriff“ vornehmlich auf einen „prozessexternen“ Gesichtspunkt abgestellt, der gleichzeitig den Untersuchungsgegenstand umreißt. Allerdings ist auch diese Begriffsschöpfung nicht ganz präzise, denn die Maßnahmen können auch gegenüber Trägern von Hoheitsgewalt (die nicht Grundrechtsträger sind) angewendet werden.3 Im Rahmen dieser Arbeit werden als strafprozessuale Eingriffsermächtigungen grundsätzlich alle Normen verstanden, die im Strafverfahren Grundlage für Eingriffe in materielle Grundrechte sein können – und zwar unabhängig davon, ob sie dem konkreten Strafverfahren zu dienen bestimmt sind, aus dessen Anlass sie ergriffen werden sollen.4 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe sind dementsprechend alle Eingriffe in materielle Grundrechte, die von den Strafverfolgungsbehörden5 und den Gerichten vorgenommen werden. Dazu gehören richterliche Anordnungen,6 deren Vollzug durch die Strafverfolgungsbehörden und die „selbständigen“ (also von einer richterlichen Anordnung unabhängigen) Grundrechtseingriffe der Ermittlungsbehörden. Ausgeklammert bleiben aber die Endentscheidung (das Urteil) selbst und die hierauf gestützten Vollstreckungsmaßnahmen. Das findet seine Rechtfertigung darin, dass Urteilsfehlerlehre, Rechtsmittelrecht und Strafvollstreckungsrecht jeweils völlig eigen___________ Strafprozessrecht (1995), passim; Hölscher, Der Rechtsschutz und die Mitteilungspflichten bei heimlichen strafprozessualen Zwangsmaßnahmen (2000), S. 1 ff. 2 So insbesondere Amelung, JZ 1987, 737 f.; ders., Der Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1976), S. 15 ff.; Kühne, Strafprozessrecht (2007), Rdnr. 395; Lin, Richtervorbehalt und Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1998), S. 36; Benfer, Rechtseingriffe von Polizei und Staatsanwaltschaft (2005), passim; Brüning, Der Richtervorbehalt im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (2005), S. 30 f.; Köster, Der Rechtsschutz gegen die vom Ermittlungsrichter angeordneten und erledigten strafprozessualen Grundrechtseingriffe (1992), S. 17 f. 3 Vgl. zur Beschlagnahme von Behördenakten BGHSt 38, 237 ff. 4 Damit soll allerdings nicht der Unterschied zwischen Eingriffen geleugnet werden, die dem konkreten „Anlassverfahren“ dienen und solchen, die zu anderen Zwecken vorgenommen werden. Auf diese Unterscheidung wird sogleich (§ 3) zurückzukommen sein. 5 Freilich nur, soweit sie in ihrer Eigenschaft als Strafverfolgungsbehörden handeln. Nicht gemeint sind also Grundrechtseingriffe durch die Polizei im nicht strafverfolgenden Bereich. 6 Vgl. jedoch zur Frage, ob die richterliche Anordnung selbst einen Grundrechtseingriff darstellt unter § 10 C.I.
§ 2 Gang der Untersuchung
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ständige Untersuchungsgegenstände bilden, die den Rahmen der Untersuchung sprengen würden. Die vorliegende Arbeit befasst sich vor allem mit der Beurteilung strafprozessualer Grundrechtseingriffe auf der „außerprozessualen“ (materiellrechtlichen) Ebene:7 Welche allgemeinen Aussagen lassen sich über den strafprozessualen Grundrechtseingriff als Staatsakt machen? Welche allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen sind an die strafprozessuale Eingriffsermächtigung, welche an den strafprozessualen Grundrechtseingriff zu stellen? Und welche Folgen hat es für den Eingriff als Staatsakt, für den handelnden Beamten und den vom Eingriff Betroffenen, wenn die Maßnahme von der Eingriffsermächtigung nicht gedeckt ist? Weitgehend ausgeblendet und nur am Rande gestreift werden dabei die innerprozessualen Wirkungen (insbesondere die Frage der Verwertungsverbote), die vor allem dann problematisch sind, wenn die Rechtmäßigkeitsanforderungen an strafprozessuale Grundrechtseingriffe verfehlt werden.
§ 2 Gang der Untersuchung Die Arbeit gliedert sich wie folgt: Zunächst werden im ersten Teil die für die Beurteilung der Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe notwendigen Grundlagen dargestellt. Der zweite Teil behandelt strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt und damit im Wesentlichen die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit des Eingriffs. Der dritte Teil befasst sich mit dem strafprozessualen Grundrechtseingriff als Rechtsgutsbeschädigung, d.h. mit den materiell-strafrechtlichen Folgen für den eingreifenden Beamten und den vom Eingriff Betroffenen sowie mit staatshaftungsrechtlichen Fragen. Der erste Teil will zu den Problemen hinführen, die daraus entstehen, dass sich strafprozessuale Eingriffsermächtigungen und Grundrechtseingriffe an den Schnittstellen der Rechtsgebiete befinden. Nachdem hierfür die unterschiedlichen Zwecke der verschiedenen strafprozessualen Eingriffsermächtigungen behandelt worden sind (§ 3), soll ein kurzer Überblick darüber gegeben werden, welche verschiedenen Funktionen ein und dieselbe Eingriffsermächtigung in den verschiedenen Rechtsgebieten erfüllt (§ 4). Daran schließen sich Überlegungen zur Normstruktur strafprozessualer Eingriffsermächtigungen an (§ 5), die den Blick darauf lenken, dass inner- und außerprozessuale Funktionen durch unterschiedliche Arten von Normen bestimmt werden. Erste Konsequen___________ 7 Oder genauer gesagt: Im Vordergrund stehen die Wirkungen strafprozessualer Eingriffsermächtigungen als regulative Normen, vgl. zu dem Begriff und den damit verbundenen Fragen ausführlich unter § 5.
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Teil 1: Einleitung
zen hieraus werden im Abschnitt über strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Prozesshandlung gezogen (§ 6). Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit dem strafprozessualen Grundrechtseingriffs als Maßnahme der öffentlichen Gewalt. Dafür wird zuerst die Formalstruktur strafprozessualer Grundrechtseingriffe untersucht (erster Abschnitt) und dabei zunächst auf die Frage eingegangen, ob die ausdifferenzierte Lehre von den Handlungsformen im Verwaltungsrecht für strafprozessuale Grundrechtseingriffe der Strafverfolgungsbehörden nutzbar gemacht werden kann (§ 7). Danach wird das Verhältnis solcher behördlicher Vollzugshandlungen zum Institut des Richtervorbehalts thematisiert (§ 8). Im anschließenden zweiten Abschnitt werden die Fragen behandelt, die sich daraus ergeben, dass die Maßnahmen Eingriffe in materielle Grundrechte darstellen, d.h. insbesondere Fragen des Grundrechtseingriffs (§ 10) sowie der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung (§ 11). Anschließend wird in Konsequenz des verfassungswidrigen Grundrechtseingriffs ein öffentlich-rechtlicher Abwehranspruch befürwortet, der v.a. auch Wirkungen im innerprozessualen Bereich entfalten kann (§ 12). Im abschließenden dritten Abschnitt des zweiten Teils wird der Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe behandelt. Hierfür werden zunächst die verfassungsrechtlichen Anforderungen dargestellt, die die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG an den Rechtsschutz stellt (§ 13). Im Anschluss daran wird die Ausgestaltung des Rechtsschutzes im Verfahrensrecht selbst behandelt (§ 14). Der dritte Teil widmet sich Fragen, die der strafprozessuale Grundrechtseingriff auslöst, weil er die Rechtsgüter des vom Eingriff Betroffenen beschädigt. Der erste Abschnitt behandelt die materiell-strafrechtlichen Fragen strafprozessualer Grundrechtseingriffe. Er geht zunächst auf die Folgen eines Grundrechtseingriffs für den handelnden Beamten und dabei vor allem darauf ein, inwieweit die strafprozessuale Eingriffsermächtigung sein Handeln auch strafrechtlich rechtfertigt (§ 15 A.). Sodann ist zu klären, ob sich der Beamte in Ausübung seiner Diensttätigkeit auch auf die allgemeinen materiell-strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe berufen kann (§ 15 B.). Schließlich wechselt die Arbeit die Perspektive und befasst sich mit der Duldungspflicht und ihren materiell-strafrechtlichen Folgen für denjenigen, in dessen Grundrechte eingegriffen wird (§ 16). Der zweite Abschnitt des dritten Teils ist der staatshaftungsrechtlichen Seite strafprozessualer Grundrechtseingriffe gewidmet. Bekanntlich wird die Entschädigung teilweise durch ein Spezialgesetz, das Strafverfolgungsentschädigungsgesetz, geregelt (§ 17). Es stellt sich aber auch die Frage, inwieweit daneben das allgemeine Staatshaftungsrecht zum Zuge kommen kann, ob der Betroffene insbesondere einen Amtshaftungsanspruch (§ 18 A.), den allgemeinen Aufopferungsanspruch (§ 18 B.) oder Ansprüche aus Eigentumsbeeinträchtigung geltend machen kann (§ 18 C.). Schließlich wird kurz auf die Haftung nach der EMRK eingegangen (§ 19).
§ 3 Zwecke strafprozessualer Grundrechtseingriffe
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Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung (§ 20) und einem Ausblick auf die innerprozessualen Wirkungen der Maßnahmen (§ 21).
2. Abschnitt
Strafprozessuale Grundrechtseingriffe an den Schnittstellen verschiedener Rechtsgebiete Außer- und innerprozessuale Wirkungen strafprozessualer Eingriffsermächtigungen und der auf hierauf beruhenden Grundrechtseingriffe stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind in vielfältiger Weise miteinander verknüpft. Das gilt zunächst für die Zwecke der Eingriffsermächtigungen, die sowohl für ihre verfassungsrechtliche Bewertung von Bedeutung sind, gleichzeitig aber den Blick dafür schärfen, dass nicht alle Eingriffsermächtigungen überhaupt innerprozessuale Funktionen erfüllen (hierzu § 3). Hieran schließt sich ein kurzer Überblick über die verschiedenen Funktionen an, die jede einzelne strafprozessuale Eingriffsermächtigung in verschiedenen Rechtsgebieten erfüllt (§ 4). Inner- und außerprozessuale Funktionen werden dabei insbesondere von Normen unterschiedlichen Typs (nämlich von sog. konstitutiven und regulativen Normen) erfüllt (hierzu § 5). Auf diese normtheoretische Unterscheidung wird auch im späteren Verlauf der Arbeit zurückgegriffen werden. Diesen übergreifenden Teil schließt ein kurzer Überblick über den strafprozessualen Grundrechtseingriff als „mehrfachwirksame“ Prozesshandlung ab (§ 6).
§ 3 Zwecke strafprozessualer Grundrechtseingriffe Über Zwecke strafprozessualer Eingriffsermächtigungen muss man sich aus verschiedenen Gründen klar sein. Zunächst sind die konkreten Ziele einer Vorschrift Anknüpfungspunkt für die verfassungsrechtliche Legitimierung der Norm. Zwecke sind aber nicht nur für die Rechtfertigung der entsprechenden Vorschrift, sondern auch jeder einzelnen Maßnahme von Bedeutung. So kann z.B. eine beweissichernde Maßnahme grundsätzlich dann nicht mehr angewendet werden, wenn das Ziel der Beweissicherung bzw. Sachverhaltserforschung schon erreicht ist, etwa nach dem Schuldspruch im letzten Tatsachenrechtszug. Außerdem ist Klarheit über die Zwecke in einer teleologisch beherrschten Dogmatik generell unentbehrlich. Dass beispielsweise strafprozessuale Grundrechtseingriffe in der Regel das objektivierte Schutzgut materieller Grundrechte beeinträchtigen und dabei nicht in rechtsförmigen Kategorien wie der des Ver-
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Teil 1: Einleitung
waltungsakts funktionieren,8 erklärt sich zuerst durch den Zweck solcher Maßnahmen. Das Ziel der Beweissicherung etwa würde nicht erreicht werden, würden die Ermittlungsbehörden vor einer Haussuchung einen rechtsmittelfähigen Bescheid an den Beschuldigten richten. Mit der Aussage, der Zweck der Norm sei für ihre verfassungsrechtliche Legitimierung von Bedeutung, ist die Frage nach dem Verhältnis von „Ziel“ und „Rechtfertigung“ der Norm angesprochen: Der Abschnitt über Ziele strafprozessualer Grundrechtseingriffe referiert im Wesentlichen über die Zwecke der Normen und ordnet sie in sinnvolle Zusammenhänge ein. Gedanken über die verfassungsrechtliche Legitimation dieser Normen setzen demgegenüber an der „Verwendbarkeit“ dieser Ziele zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Norm und des auf Grundlage der Norm erfolgenden Grundrechtseingriffs an.9 Allerdings ist eine strikte Trennung nicht möglich, weil für die Frage nach dem Zweck zumindest ein Vorverständnis über die Legitimation unabdingbar ist. Die Einordnung der Eingriffsermächtigungen in bestimmte Zweckkategorien setzt aber nicht nur ein solches Vorverständnis im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Legitimation voraus. Sie wird auch dadurch erschwert, dass Normen verschiedenen Zwecken dienen können, sei es, dass die Zwecke je nach Anwendungsbereich der Norm verschiedene sein können,10 sei es, dass die Norm gleichzeitig11 mehreren Zwecken dient. Schließlich lassen sich strafprozessuale Eingriffsermächtigungen detaillierter nach ihren Zwecken einteilen, als dies sogleich geschieht. In dieser Untersuchung geht es aber darum, für verschiedene Klassen von Normen und Eingriffen gemeinsame Prinzipien herauszuarbeiten. Diesem Ziel entsprechend steht nicht die Detailgenauigkeit der funktionalen Analyse im Vordergrund, sondern es wird lediglich ein Raster erstellt, das für die Zuordnung allgemeiner Grundsätze geeignet ist. Eine erste Einteilung strafprozessualer Eingriffsermächtigungen lässt sich danach vornehmen, ob die aufgrund der Normen vorgenommenen Eingriffe das Strafverfahren voranbringen sollen, aus dessen Anlass sie angeordnet werden.12 Ist dies der Fall, erfüllen sie also Funktionen für den konkreten Prozess, kann
___________ 8
Siehe dazu § 7. Siehe dazu § 11 D. 10 Z.B. verfolgt die Untersuchungshaft nach § 112 Abs. 2 StPO die Zwecke der Sicherung von Beweisen, der Abwehr von Störungen vom Prozess und der Sicherung der Vollstreckung. Einzelheiten dazu sogleich unter A. 11 Beispielsweise dient die Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) unmittelbar der Störungsabwehr, mittelbar damit aber auch der Beweissicherung. Vgl. dazu unter A. 12 Amelung, JZ 1987, 737 (739). 9
§ 3 Zwecke strafprozessualer Grundrechtseingriffe
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man von „echten“ strafprozessualen Eingriffsermächtigungen sprechen.13 Seit dem Gewohnheitsverbrechergesetz aus dem Jahr 193314 ermöglicht die StPO aber auch Eingriffe, die nicht dem konkreten Anlassverfahren dienen. Diese können als „unechte“ strafprozessuale Eingriffsermächtigungen bezeichnet werden.15 Die Unterscheidung dient für den Fortgang der Arbeit zugleich als Schwerpunktsetzung: Das Hauptaugenmerk der Untersuchung wird im Folgenden auf Eingriffen liegen, die Funktionen für den Prozess erfüllen, aus dessen Anlass sie angeordnet werden.
A. „Echte“ strafprozessuale Eingriffsermächtigungen „Echte“ strafprozessuale Eingriffsermächtigungen lassen sich funktional in zwei Kategorien einteilen. Auf der einen Seite stehen solche, die der Sicherung von Beweisen und der Aufklärung des Sachverhalts dienen (unter I.).16 Dem stehen Normen zur Sicherung des Verfahrensfortgangs gegenüber (unter II.).
I. Sachverhaltsaufklärung und Beweissicherung
Sachverhaltsaufklärung und Beweissicherung stehen in unmittelbarem Zusammenhang zu der Aufgabe der Staatsanwaltschaft, zur Entschließung über die Erhebung der öffentlichen Klage den Sachverhalt zu erforschen (§ 160 Abs. 1 StPO).17 Hierzu gehören die Anstaltsunterbringung des Beschuldigten zur Vorbereitung eines Gutachtens über seinen psychischen Zustand (§ 81 StPO), die körperliche Untersuchung (§ 81a StPO), die molekulargenetische Untersuchung (§ 81e StPO), die DNA-Reihenuntersuchung (§ 81h StPO), die beweissichernde Sicherstellung und Beschlagnahme (§ 94 StPO), die Durchsuchung von Personen, Sachen und Wohnungen (§§ 102 und 103 StPO), die Postbeschlagnahme (§ 99 StPO), die Überwachung der Telekommunikation (§ 100a StPO), der Einsatz eines sog. „IMSI-Catchers“ (§ 100i Abs. 1 Nr. 1 ___________ 13
Vgl. zu dieser – nicht etablierten – Terminologie Amelung, JZ 1987, 737 (739). Ausführungsgesetz der Reichsregierung zum „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Besserung und Sicherung“ v. 21.11.1933, RGBl. I, S. 1000. 15 Vgl. Amelung, JZ 1987, 737 (739). 16 Amelung, JZ 1987, 737 (739), stellt vornehmlich auf die Sicherung von Beweismitteln ab. Tatsächlich dient aber nicht jeder Eingriff zur Erforschung des Sachverhaltes auch der Sicherung eines Beweismittels, etwa wenn es um Spurenansätze oder die Ermittlung von Prozessvoraussetzungen geht. 17 Dem entsprechen für die Polizei im Vorverfahren § 163 Abs. 1 StPO und für das Gericht in der Hauptverhandlung § 244 Abs. 2 StPO. 14
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Teil 1: Einleitung
StPO), die Erhebung von Verkehrsdaten i.S.v. § 113a TKG (§ 100g StPO),18 die Herstellung von Bildaufnahmen (§ 100h Abs. 1 Nr. 1 StPO) und der Einsatz sonstiger technischer Mittel zu Observationszwecken (§ 100h Abs. 2 StPO), das Abhören des nichtöffentlich gesprochenen Wortes (innerhalb einer Wohnung: § 100c StPO, außerhalb einer Wohnung: § 100f StPO), Maßnahmen zur Identifizierung von Personen (§§ 81b 1. Alt., 163b, 163c StPO; § 127 Abs. 1 StPO gehört ebenfalls in den Zusammenhang), der Einsatz verdeckter Ermittler und V-Leute (zum ersten §§ 110a ff. StPO), die Einrichtung von Kontrollstellen (§ 111 StPO), die Schleppnetzfahndung (§ 163d), die Rasterfahndung (§ 98a StPO), der Datenabgleich nach § 98c StPO, die Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung (§ 163e StPO), die längerfristigen Observation (§ 163f StPO), die Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung (§ 131a StPO) und die Veröffentlichung von Abbildungen (§ 131b StPO). Auch Maßnahmen, die auf Ungehorsam von Zeugen und Sachverständigen reagieren (§§ 51, 70, 77 StPO), wird man hierher zu zählen zu haben. Neben diesen speziellen Rechtsgrundlagen stehen die Ermittlungsgeneralklauseln der §§ 161, 163 StPO, die ebenfalls der Sachverhaltserforschung und Beweissicherung dienen. Da die Anwesenheit des Beschuldigten jedenfalls auch der Erforschung des Sachverhalts dient,19 werden zunächst auch strafprozessuale Eingriffsermächtigungen, die der Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten dienen, der Sachverhaltserforschung und Beweissicherung zugeordnet.20 Dazu zählen – neben den bereits erwähnten Maßnahmen zur Aufenthaltsermittlung der §§ 98a, 98c, § 100i Abs. 1 Nr. 1, 111, 131a, 163d, 163e, 163f StPO – der Haftbefehl wegen Flucht bzw. Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StPO, und zwar bis zur Verkündung des erstinstanzlichen Urteils21), die haftsichernde amtliche Festnahme (§ 127 Abs. 2 StPO), die Hauptverhandlungshaft (§ 127b StPO), die Anordnung der Vorführung des Angeklagten bzw. der Haftbefehl bei Ausbleiben von der Hauptverhandlung (§ 230 Abs. 2 StPO), die gestellungssichernde ___________ 18 Siehe hierzu § 3 bei Fn. 27. Zur derzeit nur eingeschränkten Anwendung des § 100g StPO siehe die einstweilige Anordnung des BVerfG vom 11.3.2008, BVerfG, NVwZ 2008, 543. 19 Einhellige Auffassung: Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), S. 348; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 4 (25. Aufl. 1997), § 230 Rdnr. 1; ders., in: Festschrift für Tröndle (1989), S. 455 (456); Keller, in: AK-StPO, Bd. 2/2 (1993), § 230 Rdnr. 5; Rieß, JZ 1975, 265 (267); Grasberger, GA 1998, 530 (534); Schlüchter, Das Strafverfahren (1983), Rdnr. 449; BGHSt 3, 187 (190); 26, 84 (90). Das gilt unabhängig davon, ob man mit der ganz h.M. den Beschuldigten als Beweismittel im weiteren Sinne ansieht; vgl. dazu nur Rogall, in: SK-StPO (1997), vor § 133 Rdnr. 122, auch zur Gegenansicht. 20 Dieser Aspekt soll für die erste Einteilung genügen. Damit sind die Vorschriften aber noch nicht hinreichend erfasst. Einzelheiten dazu unter C I. 21 Danach dient der gestellungssichernde Haftbefehl ausschließlich der Verfahrenssicherung, nämlich der Sicherung der Vollstreckung des Urteils, vgl. Amelung, JZ 1987, 737 (739).
§ 3 Zwecke strafprozessualer Grundrechtseingriffe
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Vermögensbeschlagnahme (§ 290 StPO), aber auch die Vorführung nach den §§ 134 und 163a Abs. 3 StPO und die Ausschreibung zur Festnahme (§ 131 StPO).
II. Sicherung des Verfahrensfortgangs
Die Eingriffsermächtigungen zur Sicherung des Verfahrensfortganges teilen sich wiederum in zwei Kategorien: die Abwehr von Störungen für das Erkenntnisverfahren einerseits und die Sicherung der Vollstreckung des Strafurteils andererseits.22 Zur Störungsabwehr gehört der Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO). Denn mit ihm sollen Behinderungen abgewendet werden, die dem Strafverfahren – genauer: der Erforschung des Sachverhalts – durch den Beschuldigten drohen. Diese Verknüpfung legt es an sich nahe, die Norm selbst dem Ziel Beweissicherung/Sachverhaltserforschung zuzuordnen. Da es allerdings nicht darum geht, von dem von der Maßnahme Betroffenen selbst Informationen für das Strafverfahren zu erlangen, sondern die Erhaltung und Erlangung anderweitig vorhandener Informationen im Vordergrund steht, liegt die Zuordnung zur Störungsabwehr näher.23 Dem Ziel der Störungsabwehr dienen außerdem die gerichtsverfassungsrechtlichen Ermächtigungen, gegen Störer einer Gerichtsverhandlung vorzugehen (§§ 177 ff. GVG), sowie die Ermächtigung an die Ermittlungsbehörden, gegen Störer einer (außergerichtlichen) Ermittlung vorzugehen (§ 164 StPO). Unter dem Aspekt der Vollstreckungssicherung lassen sich Normen zusammenfassen, die die spätere Vollstreckung des Strafurteils – genauer: der Verurteilung – sichern sollen. Dazu gehört zunächst der Haftbefehl wegen Flucht oder Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StPO), soweit er nach einer Verurteilung verhängt wird, außerdem die Sicherstellung von Gegenständen, wegen derer das Strafurteil wahrscheinlich Verfall oder Einziehung anordnen wird (§ 111b StPO), zudem § 111d StPO, der eine abschließende Regelung zur Sicherung von Zahlungsansprüchen der Staatskasse gegen den Beschuldigten enthält. In diese Gruppe waren auch die §§ 111o und 111p StPO einzuordnen, nach denen das Vermögen des Beschuldigten zur Sicherung einer erwarteten ___________ 22 Amelung, JZ 1987, 737 (739) ordnet Vollstreckungssicherung und Störungsabwehr nicht dem gemeinsamen Oberbegriff der Verfahrenssicherung zu, sondern betrachtet sie als eigenständige Ziele. 23 So auch Amelung, JZ 1987, 737 (740), anders aber die Einteilung bei Schroeder, JZ 1985, 1028 (1030). Damit soll der beweissichernde Zweck aber nicht verneint werden. Es handelt sich um eine Maßnahme, die „gestuften“ Zwecken dient: auf einer ersten (allgemeineren) Stufe der Beweissicherung, auf einer zweiten (spezielleren) Stufe der Störungsabwehr. Hier soll entscheidend sein, dass diese Maßnahme nicht unmittelbar auf die Erlangung von Informationen gerichtet ist.
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Teil 1: Einleitung
Vermögensstrafe mit Arrest belegt oder beschlagnahmt werden konnte. Diese Vorschriften sind nach der Feststellung der Verfassungswidrigkeit des § 43a StGB durch das BVerfG24 gegenstandslos. Nicht eigentlich Vollstreckungssicherung, sondern vielmehr Teil der Vollstreckung selbst sind die Maßnahmen des § 457 StPO, insbesondere der Vollstreckungshaftbefehl (§ 457 Abs. 2 StPO).25
B. „Unechte“ strafprozessuale Eingriffsermächtigungen „Unechte“ strafprozessuale Eingriffsermächtigungen lassen sich zunächst in solche zur Ermittlungsvorsorge (hierzu unter I.) und solche, die präventive Zwecke verfolgen (unter II.), einteilen.
I. Ermittlungsvorsorge
Zum Bereich der Ermittlungsvorsorge26 gehören Normen, die die Erhebung von Informationen für andere, meist künftige Strafverfahren ermöglichen. Das sind die erkennungsdienstliche Behandlung nach § 81b 2. Alt. StPO, die molekulargenetische Untersuchung nach § 81g StPO, aber auch die Datenverarbeitung für Zwecke künftiger Strafverfahren nach § 484 StPO. Neuerdings gehört auch die Vorratsdatenspeicherung von Verkehrsdaten gemäß § 113a TKG dazu.27 Bei der Ermittlungsvorsorge geht es nicht um Gefahrenabwehr (also etwa die Straftatenverhütung), sondern um die schnellere Aufklärung einer künftigen Straftat. Auch der Begriff der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ beschreibt diese Maßnahmen nicht zutreffend. Denn sie sind eben nicht geeignet, künftige Straftaten zu verhindern. Der funktionelle Zusammenhang zur Strafta-
___________ 24
BVerfGE 105, 135 ff. Daraus erklärt sich auch, dass für die Maßnahme trotz Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG keine separate richterliche Erlaubnis notwendig ist. Denn diese existiert ja schon in dem zu vollstreckenden Urteil. 26 Synonym auch als „Strafverfolgungsvorsorge“ bezeichnet, vgl. etwa Eisenberg/ Singelnstein, GA 2006, 168 (169). 27 Diese hat allerdings nicht lediglich eine Vorsorgewirkung für repressive, sondern auch für präventive Ziele, da das TKG die anschließende Übermittlung der Daten nicht lediglich zur Verfolgung von Straftaten, sondern auch zur Gefahrenabwehr und zur Erfüllung nachrichtendienstlicher Aufgaben zulässt (§ 113b TKG). Wegen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der Vorratsdatenspeicherung siehe Graulich, NVwZ 2008, 485 (489); Zöller, GA 2007, 393 (410 ff.). 25
§ 3 Zwecke strafprozessualer Grundrechtseingriffe
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tenaufklärung legt es nahe, dass diese Maßnahmen in der StPO und nicht etwa in den Polizeigesetzen zu regeln sind.28, 29
II. Verfolgung präventiver Zwecke
Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen, die präventiven Zwecken dienen, sind einmal die vorläufigen Maßregeln. Diese beziehen sich auf die „zweite Spur“ des strafrechtlichen Sanktionensystems, die Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 61 StGB). Im Strafverfahren können einige solcher Maßregeln vorläufig verhängt werden: die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO), die einstweilige Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus oder eine Entziehungsanstalt (§ 126a StPO) und das vorläufige Berufsverbot (§ 132a StPO). Hier geht es um Gefahrenabwehr aus Anlass der Strafverfolgung,30 genauso wie die entsprechenden materiell-rechtlichen Maßregeln insgesamt präventiven Charakter haben. Prozessrechtsdogmatisch handelt es sich aber um die Besonderheit, dass für das Urteil vorgesehene Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit bereits vor Erlass des Urteils angeordnet werden. Indem auf eine Gefahrenlage reagiert wird, die Gegenstand des konkreten Verfahrens ist, fügen sich diese Maßnahmen durchaus homogen in das ___________ 28 Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 3 (25. Aufl. 2003), vor § 158 Rdnr. 12a; ders., JR 2006, 269 (275); Wolter, in: SK-StPO (1994), vor § 151 Rdnr. 160, jeweils m.w.N.; Benfer, Rechtseingriffe von Polizei und Staatsanwaltschaft (2005), Rdnr. 1037; Zöller, Informationssysteme und Vorfeldmaßnahmen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Nachrichtendiensten (2002), S. 92; Eisenberg/Singelnstein, GA 2006, 168 (169 ff.); Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts (2007), Kap. F Rdnr. 167; Amelung, NJW 1979, 1687 (1688 Fn. 8): „…dienen der künftigen Repression und das ist noch lange keine Prävention“; Krach, JR 2003, 140 (142); Rudolph, Antizipierte Strafverfolgung (2005), S. 213 ff.; Schenke, JZ 2006, 707 (708); BVerwG, NJW 2006, 1225 (1226). Nach wohl überwiegender a.A. wird die Ermittlungsvorsorge aber der Gefahrenabwehr zugerechnet: BVerwGE 11, 181 (182); 26, 169 (170); BVerwG, DÖV 1983, 378 (379); OVG Münster, DÖV 1983, 603; VGH Mannheim, NJW 1987, 2762; OVG Koblenz, NJW 1994, 2108 (2109); Paeffgen, StV 1999, 625 (626); ders., JZ 1991, 437 (441 ff. m.w.N.); ders., in: Festgabe für Hilger (2003), S. 153 (158 m.w.N.); Krause, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003) § 81b Rdnr. 3; Ohler, StV 2000, 326 (328) für § 81b 2. Alt. StPO; Schlüchter, Das Strafverfahren (1983), Rdnr. 185; Fugmann, NJW 1981, 2227; Meyer-Goßner, StPO (2006), § 81b Rdnr. 3 und § 81g Rdnr. 2. 29 Zu den Problemen, die sich aus einer „Überlappung“ von polizei- und strafverfahrensrechtlichen Vorschriften ergeben Benfer, Rechtseingriffe von Polizei und Staatsanwaltschaft (2005), Rdnr. 1021 m.w.N. 30 § 126a StPO dient daneben allenfalls mittelbar auch der Verfahrenssicherung, also der Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten im Sicherungsverfahren nach §§ 413 ff. StPO; vgl. Hilger, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 1996), § 126a Rdnr. 1; noch strikter Paeffgen, in: SK-StPO (1992), § 126a Rdnr. 2: ausschließlich vorbeugende Wirkung, Verfahrenssicherung sei dagegen nur Rechtsreflex, der aus dem Verwahrtsein folge.
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Teil 1: Einleitung
Prozessrecht ein. Das Strafverfahrensrecht betreibt damit vorläufigen Rechtsgüterschutz.31 Es besteht also eine unmittelbare Verbindung zu den Maßregeln des materiellen Strafrechts; das Strafverfahrensrecht zeichnet gewissermaßen die Zweispurigkeit des strafrechtlichen Sanktionensystems nach. Der Unterschied zu den vollstreckungssichernden strafprozessualen Grundrechtseingriffen liegt darin, dass jene die Vollstreckung des Urteils und deren einstweilige Sicherung fokussieren, während hier der Zweck einer verfahrensabschließenden Maßnahme schon im Vorverfahren selbst verfolgt wird. Präventive Zwecke werden außerdem mit der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) verfolgt. Auch diese Maßnahme dient dem Rechtsgüterschutz. Im Unterschied zu den vorgenannten Eingriffen soll dabei aber gerade nicht auf eine Gefahr reagiert werden, die selbst Gegenstand des Verfahrens ist. Das Strafverfahren stellt lediglich den Anlass dar, auf eine Gefahrenlage durch das Einsperren des Verdächtigen zu reagieren. Es handelt sich damit um Gefahrenabwehrrecht, das sich nicht in die Systematik des Prozessrechts einzufügen vermag.32 In diesen Kontext der Verfolgung präventiver Ziele ist ferner die Vermögensbeschlagnahme nach § 443 StPO einzuordnen. Mit ihr soll vornehmlich der Zweck erreicht werden, den Beschuldigten nach Erhebung der öffentlichen Klage oder Erlass eines Haftbefehls am Einsatz seines Vermögens zur Begehung weiterer Straftaten zu hindern.33 Damit werden also hauptsächlich Gefahrenabwehrzwecke, verfahrensfremde Ziele, verfolgt. Der Gesetzgeber ist aber bei der Änderung der Vorschrift durch das OrgKG vom 15.7.199234 davon ausgegangen, dass die Vermögensbeschlagnahme des § 443 StPO auch zur Verfahrenssicherung anzuwenden ist.35 ___________ 31
Vossler, Strafprozessuale Zwangsmittel als Instrumente des beschleunigten Rechtsgüterschutzes (1998), S. 207; beiläufig Kühne, Strafprozessrecht (2007), Rdnr. 397. Anders Gärditz, Strafprozeß und Prävention (2003), S. 95: Der Verbindung zu den Maßregeln des materiellen Rechts komme kein dogmatischer Erkenntnisgewinn zu. 32 So auch Hilger, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 1996), § 112a Rdnr. 10 m.w.N.; Paeffgen, in: SK-StPO (1994), § 112a Rdnr. 3; Gärditz, Strafprozeß und Prävention (2003), S. 96 ff.; zurückhaltender Humberg, Jura 2005, 376 (377); a.A. aber etwa Boujong, in: KK-StPO (2003), § 112a Rdnr. 5; Ranft, Strafprozeßrecht (2005), Rdnr. 652. 33 Gössel, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 6 (25. Aufl. 2000), § 443 Rdnr. 1; Günther, in: AK-StPO, Bd. 3 (1996), § 443 Rdnr. 5; Paulus, in: KMR-StPO (1991), § 443 Rdnr. 2; Vossler, Strafprozessuale Zwangsmittel als Instrumente des beschleunigten Rechtsgüterschutzes (1998), S. 40; BGHSt 19, 1 (2) zu § 433 StPO a.F. 34 BGBl. I, S. 1302. 35 Vgl. etwa Beschlussempfehlung und Abschlussbericht des Rechtsausschusses zum OrgKG vom 4.6.1992, BT-Drs. 12/2720, S. 47 f. Dem folgend Günther, in: AK-StPO, Bd. 3 (1996), § 443 Rdnr. 5: So soll § 443 StPO Verfahrenssabotagen des Beschuldigten verhindern, weil dieser das Vermögen dazu einsetzen könnte, die Untersuchung zu er-
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C. Sonderfragen I. Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten
Unter A.I. ist bereits kurz die Frage aufgeworfen worden, ob strafprozessuale Eingriffsermächtigungen, die der Anwesenheit des Beschuldigten dienen, mit dem Zweck Sachverhaltserforschung und Beweissicherung hinreichend erfasst sind.36 Dem soll hier nachgegangen werden. Der Zweck jener Normen ergibt sich aus der Funktion der Anwesenheitspflicht des Beschuldigten nach § 230 Abs. 1 StPO. Dem Erfordernis der Sachverhaltsaufklärung wäre mit einer Norm wie § 236 StPO, nach der das Gericht stets befugt ist, das persönliche Erscheinen des Angeklagten anzuordnen (und zwangsweise durchzusetzen), für viele Verfahren hinreichend gedient.37 Die herrschende Meinung geht denn auch davon aus, dass noch ein weiteres hinzutritt, dass nämlich durch die Anwesenheitspflicht auch das rechtliche Gehör gesichert werden soll.38 Das ist deshalb bemerkenswert, weil man bei unbefangener Betrachtung davon ausgehen kann, dass für die Sicherung des rechtlichen Gehörs keine Anwesenheitspflicht vonnöten ist, sondern ein Anwesenheitsrecht ausreicht. Die herrschende Meinung ist demnach nur erklärbar, wenn man dem als Grundrecht ausgestalteten Art. 103 Abs. 1 GG einen objektivrechtlichen Charakter zubilligt, der jedenfalls für das Strafverfahren ein Verzicht auf diesen Schutz unmöglich macht. Da man den Schutzgehalt des rechtlichen Gehörs in der Garantie der Menschenwürde39 und dem Rechtsstaatsprin-
___________ schweren oder die Flucht zu ermöglichen. Anwesenheitssichernde Wirkung kann § 443 StPO jedenfalls über § 290 StPO hinaus haben, weil letzterer erst ab Anklageerhebung greift, vgl. Vossler, Strafprozessuale Zwangsmittel als Instrumente des beschleunigten Rechtsgüterschutzes (1998), S. 40 Fn. 154. 36 Dass sie diesem Zweck zumindest auch dienen, ist anerkannt. Vgl. die Nachweise oben Fn. 19. 37 Julius, GA 1992, 295 (299), Rieß, JZ 1975, 265 (267). 38 Vgl. die oben in § 3 Fn. 19 Genannten. Nach Gollwitzer, in: Festschrift für Tröndle (1989), S. 455 (456), wurzelt die Anwesenheitspflicht außerdem in der „Gemeinschaftsbindung des Einzelnen“, der vor den von der Gemeinschaft berufenen Organen für seine Verfehlungen einzustehen habe und sich deshalb der Klärung des Vorwurfs nicht entziehen könne. Das überzeugt nicht: Sieht man das Gerichtsverfahren gleichsam als Teil dieses Einstehens für eine Verfehlung, ist nicht erklärbar, dass das auch einen Unschuldigen treffen soll. 39 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG (1988), Art. 103 Rdnr. 2; Wassermann, in: AK-GG, Bd. 2 (2. Aufl. 1989), Art. 103 Rdnr. 7; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3 (2000), Art. 103 I Rdnr. 12; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3 (2003), Art. 103 Rdnr. 3; Knemeyer, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI (2001), § 155 Rdnr. 16; BVerfGE 7, 275 (279); 39, 156 (168); 55, 1 (6).
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Teil 1: Einleitung
zip40 verankert sieht, liegt ein solcher Schluss zunächst nahe. Doch scheint Steins Kritik hieran plausibel, der objektive Charakter könne eine Anwesenheitspflicht nicht begründen, wenn man darunter nur eine dem Gehörsrecht entsprechende Verpflichtung der öffentlichen Gewalt entnehme, das Gehör zu gewähren.41 Dies wäre mit der bloßen Ermöglichung der Anwesenheit durchaus abgegolten. Aber dabei wird doch übersehen, dass der Staat sich dafür entschieden hat, Urteile über die Schuld von Personen grundsätzlich nur in deren Anwesenheit zu treffen. Dafür gibt es auch gute Gründe: Das Strafverfahren ist ein schwerwiegenderer Eingriff, als wenn staatliche Gerichte über private Streitigkeiten oder die Rechtmäßigkeit von Verwaltungshandeln entscheiden. Der Staat muss sich nicht dem Vorwurf aussetzen, über den Kopf des Beschuldigten hinweg zu urteilen. Der Beschuldigte kann gegebenenfalls nicht übersehen, ob seine Anwesenheit für seine Verteidigung notwendig sein wird oder nicht, ob er also von der Möglichkeit Gebrauch machen soll, sich Gehör zu verschaffen. Die Entscheidung über die Schuld eines Angeklagten ist ein Prozess, der selbst dadurch gefördert werden kann, dass der Angeklagte der Verhandlung schweigend folgt, weil er nämlich jederzeit die Möglichkeit hat, das Wort zu ergreifen.42 Das verleiht dem Urteil einerseits eine andere Legitimität als eine Entscheidung, die gegen einen Abwesenden ergeht. Die Gewährleistung rechtlichen Gehörs hat also eine Funktion, die über die subjektiven Interessen des Beschuldigten hinausgeht.43 Andererseits sind damit durchaus Fürsorgeaspekte verbunden, die der StPO auch im Übrigen nicht fremd sind: So kann etwa ein Verteidiger auch gegen den Willen des Angeklagten bestellt werden (§ 140 StPO),44 und die Staatsanwaltschaft kann zu Gunsten des Angeklagten, der seine Verurteilung gleichgültig hinnimmt, Rechtsmittel einlegen (§ 296 Abs. 2 StPO). Als Ergebnis ist daher festzuhalten, dass die Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten einerseits der Sachverhaltserforschung dient, andererseits die Sicherung des rechtlichen Gehörs des Beschuldigten bezweckt. ___________ 40
Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3 (2003), Art. 103 Rdnr. 3; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG (1988), Art. 103 Rdnr. 2; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3 (2000), Art. 103 I Rdnr. 12; BVerfGE 9, 89 (95); 39, 156 (168). 41 Stein, ZStW 97 (1985), 303 (312). Er sieht die Anwesenheitspflicht nur im staatlichen Interesse an der Vermeidung einer Fehlverurteilung begründet, ebd., S. 329. 42 Der Satz des BVerfG, Art. 103 Abs. 1 GG verwehre es, dass mit dem Menschen „kurzer Prozess“ gemacht werde (BVerfGE 55, 1 [6]), erfährt hier also eine besondere Ausprägung. 43 Ähnlich der Ansatz von Bernsmann, in: Festschrift für Kriele (1997), S. 697 (703): „Sobald der Verzicht des Angeklagten auf seine ‚Grund‘-Rechte dem Verfahren insgesamt etwas von seiner rechtsstaatlichen Qualität nehmen würde, darf der Rechtsstaat diesen Verzicht nicht akzeptieren.“ Allerdings reiche die Anwesenheitspflicht im Ergebnis zu weit, ebd., S. 708 u. 712. 44 Darauf weist Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), S. 348, hin.
§ 3 Zwecke strafprozessualer Grundrechtseingriffe
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II. Einsatz verdeckter Ermittler gemäß § 110a Abs. 1 S. 2 StPO
Unter B. sind mit den „unechten“ strafprozessualen Eingriffsermächtigungen solche behandelt, die das konkrete Strafverfahren nicht fördern, aus dessen Anlass sie angeordnet worden sind. Dazu gehören auch solche Normen, die präventive Zwecke verfolgen. Teilweise wird auch im Einsatz verdeckter Ermittler nach § 110a Abs. 1 S. 2 StPO eine Maßnahme zur Verfolgung präventiver Zwecke gesehen.45 Diese mit dem OrgKG vom 15.7.199246 eingeführte Vorschrift erlaubt den Einsatz eines verdeckten Ermittlers „zur Aufklärung von Verbrechen […], soweit auf Grund bestimmter Tatsachen die Gefahr der Wiederholung besteht.“ Allerdings wird das vornehmliche Ziel doch durch den Gesetzeswortlaut selbst bestimmt, indem er den Einsatz zur Verbrechensaufklärung gestattet.47 Man wird diese seltsame Vorschrift daher so verstehen müssen, dass die Aufklärung einer begangenen Straftat durch den Einsatz verdeckter Ermittler erleichtert werden soll, wenn und weil mit ihrer Wiederholung zu rechnen ist.48 Dass der Gesetzgeber in dem Fall das Aufklärungsinteresse besonders hoch bewertet, dürfte mit seinem Verständnis der „Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität“ zusammenhängen.49 Ein Zweck, die Begehung weiterer Straftaten zu verhindern, kommt dabei allenfalls mittelbar zum Ausdruck.
III. Vorschriften über die Datenübermittlung
Eigenartig sind schließlich die Vorschriften über die Datenübermittlung, insbesondere die Regelungen des Achten Buches der StPO (§§ 474 ff.) sowie die §§ 12 ff. EGGVG. Mit ihnen sind die Grundlagen für einen im Hinblick auf das Volkszählungsurteil des BVerfG50 verfassungskonformen Umgang mit Da___________ 45 Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 7; vgl. auch Vossler, Strafprozessuale Zwangsmittel als Instrumente des beschleunigten Rechtsgüterschutzes (1998), S. 42. 46 BGBl. I, S. 1302. 47 Die Gesetzesmaterialien geben keine Auskunft über die Motive für diese Formulierung. Im dem OrgKG zugrunde liegenden Gesetzesentwurf des Bundesrates (BT-Drs. 12/989) fehlte eine vergleichbare Vorschrift, sie wurde erst auf Empfehlung des Rechtsausschusses vom 4.6.1992 (BT-Drs. 12/2720) in § 110a StPO aufgenommen. Eine Begründung dafür fehlt. 48 So auch Gärditz, Strafprozeß und Prävention (2003), S. 106 f., mit krit. Würdigung dieser „Ausnutzung“ der strafprozessualen Eingriffssituation für das zusätzliche Betreiben von Gefahrenabwehr. 49 Siehe die genaue Bezeichnung des G v. 15.7.1992 (BGBl. I, S. 1302): „Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG)“. 50 BVerfGE 65, 1 ff.
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Teil 1: Einleitung
ten geschaffen worden.51 Die Vorschriften betreffen – bis auf wenige Ausnahmen52 – nicht das konkrete Strafverfahren, aus dessen Anlass die Daten erhoben worden sind. Sie gehen vielmehr von einer Zweckänderung der personenbezogenen Informationen aus53 und sind damit „unechte“ strafprozessuale Eingriffsermächtigungen. Soweit es bei ihnen um Datenspeicherung oder -übermittlung zum Zwecke der Verfolgung anderer Straftaten geht (§ 484 i.V.m. § 487, aber auch § 474 Abs. 1 StPO), handelt es sich um Eingriffsermächtigungen zur Ermittlungsvorsorge. Dem ähnlich sind § 479 StPO, der die Übermittlung personenbezogener Informationen zum Zwecke der Strafverfolgung (und der Ahndung von Ordnungswidrigkeiten) zulässt, und § 483 Abs. 2 StPO, der die Nutzung von nach § 483 Abs. 1 StPO erhobenen Daten u.a. für andere Strafverfahren erlaubt. Im Übrigen werden vor allem verfahrensfremde Zwecke verfolgt. Diese auf den ersten Blick inhomogenen Regelungen erklären sich aus der Notwendigkeit, den „Datenausgang“ (auch) dort zu regeln, wo die Daten vorgehalten werden.54 Die Vorschriften bilden damit einen Annex zum Strafverfahren.55, 56 Dem konkreten Strafverfahren dienen allerdings die §§ 492 ff. StPO, die das länderübergreifende staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister regeln. Sie lassen sich zwar nicht in die unter A.I. aufgeführten Gruppen „echter“ strafprozes___________ 51
Die jetzigen §§ 492-495 StPO wurden als §§ 474 ff. StPO durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz v. 28.10.1994 (BGBl. I, S. 3186), die §§ 474-491 StPO durch das StVÄG 1999 v. 2.8.2000 (BGBl. I, S. 1253) und die §§ 12-22 EGGVG durch das JuMiG v. 18.6.1997 (BGBl. I, S. 1430) eingefügt. 52 Das sind die Dateiregelungen der §§ 483 Abs. 1, 485 StPO. § 483 StPO enthält die Befugnis für Gericht und Strafverfolgungsbehörden, erhobene personenbezogene Daten zum Zwecke des Strafverfahrens in Dateien zu speichern. § 485 erlaubt die Speicherung personenbezogener Daten für die Vorgangsverwaltung. Zu den §§ 492 ff. StPO sogleich. 53 Hilger, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 6 (25. Aufl. 2001), vor § 474 Rdnr. 2; Böttcher, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 7 (25. Aufl. 2001), vor § 12 EGGVG Rdnr. 4. 54 Auf das hier damit befürwortete „2-Türen-Modell“, nach dem es für eine (zweckändernde) Datenübermittlung einer Ermächtigung grundsätzlich sowohl für die abgebende, als auch für die entgegennehmende Stelle bedarf (und nach welchem der Gesetzgeber die Tür für die abgebende Stelle vor allem auch „geschlossen halten“ darf), kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. hierzu ausführlich Paeffgen, in: Festgabe für Hilger (2003), S. 153 (162 ff.). 55 Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass sie verfassungsrechtlich unbedenklich sind. Zur Übermittlung zu präventiven Zwecken etwa Würtenberger, in: Festgabe für Hilger (2003), S. 263 (264 ff.). 56 Nicht eigentlich die Datenübermittlung, sondern Fragen der Beweisverwertung regelt § 478 Abs. 2 S. 2 StPO in der seit dem 1.1.2008 geltenden Fassung. Die Vorschrift korrespondiert mit § 161 Abs. 2 StPO n.F. Während die erstgenannte den Umgang mit Informationen im Strafverfahren regelt, die in einem anderen Strafverfahren nach Vorschriften der StPO erhoben worden sind, hat die letztgenannte die Verwendung von Informationen, die nach anderen Gesetzen erhoben worden sind, im Strafverfahren zu Gegenstand.
§ 4 Funktionen in verschiedenen Rechtsgebieten
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sualer Eingriffsermächtigungen einordnen. Sie sollen aber einerseits die Verfolgung von („überörtlich“ agierenden) Mehrfachtätern erleichtern, andererseits sollen Doppelverfahren (durch frühzeitige Verfahrenskonzentration) vermieden, die Grundlage für Einstellungen nach §§ 153 ff. StPO geschaffen, insgesamt also die Verfahren koordiniert und beschleunigt werden.57 Nur am Rande dient das Verfahrensregister der Ermittlungsvorsorge, etwa indem für künftige Entscheidung über die Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen Abwägungsmaterial gesammelt wird oder das System die Möglichkeit der Beiziehung von Akten in künftigen Verfahren erleichtert.58
IV. Erteilung von Auskünften an und Akteneinsicht für den Verletzten (§§ 406d, 406e StPO)
Eine Sonderstellung nehmen auch die §§ 406d und 406e StPO ein. Erteilung von Auskünften an und Akteneinsicht für den Verletzten dienen (anders etwa als die Akteneinsicht für den Angeklagten [§ 147 StPO], den Privat- [§ 385 Abs. 3 StPO] oder den Nebenkläger [§§ 397 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 385 Abs. 3 StPO]) nicht dem Fortgang des eigentlichen Strafverfahrens, also der Entscheidung darüber, ob sich ein Verdacht bestätigt. Aber dem Strafverfahrensrecht sind doch immerhin auch sonst Institute nicht fremd, die den Verletzten bei der Durchsetzung seiner Ansprüche unterstützen sollen (vgl. §§ 403 ff., 111k StPO). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll der Verletzte ein selbstständiges Prozesssubjekt im weiteren Sinne sein, das seine berechtigten Interessen wahrnehmen und auch nötigenfalls im Verfahren selbst vertreten kann.59 § 4 Funktionen in verschiedenen Rechtsgebieten
§ 4 Funktionen strafprozessualer Eingriffsermächtigungen in den verschiedenen Rechtsgebieten Für den an den Beginn der Untersuchung gestellten Satz, strafprozessuale Eingriffsermächtigungen wirkten an den Schnittstellen der Rechtsgebiete, kommt es maßgeblich auf die Funktionen der Normen in den verschiedenen Rechtsgebieten an, nicht auf die in § 3 dargestellten innerprozessualen Zwecke. Die Eingriffsermächtigungen betreffen einmal das Prozessrecht: Die Anwen___________ 57 Zu den Zwecken etwa Hilger, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 6 (25. Aufl. 2001), vor § 492 Rdnr. 2; Gemählich, in: KMR-StPO (2006), § 492 Rdnr. 1. Zur grundrechtssichernden Funktion des § 492 StPO durch Abstimmung der Ermittlungstätigkeit vgl. auch BVerfGE 112, 304 (320). 58 Hilger, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 6 (25. Aufl. 2001), vor § 492 Rdnr. 3. 59 Hilger, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 6 (25. Aufl. 2001), vor § 406d Rdnr. 2 f. m.w.N.
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Teil 1: Einleitung
dung der Normen ist ein wichtiges Instrument der Strafverfolgungsorgane und Gerichte, das Strafverfahren durchzuführen. Diese Eingriffsermächtigungen sind aber auch materiell-rechtlich relevant: Stellt ein strafprozessualer Grundrechtseingriff einerseits einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in ein Grundrecht, andererseits eine rechtfertigungsbedürftige Verwirklichung eines Strafgesetzes dar, finden diese Maßnahmen ihre Rechtfertigung in der entsprechenden Eingriffsermächtigung. Diese Ermächtigung hat damit prozessrechtliche, verfassungsrechtliche, materiell-strafrechtliche sowie staatshaftungsrechtliche Funktionen, ist also „multifunktionell“.60 Niese hat für das Phänomen der prozessualen und materiell-rechtlichen Wirkung einer prozessualen Handlung den Begriff der „doppelfunktionellen Prozesshandlung“ geprägt.61 Diese Begriffsschöpfung hat zwar für das Strafverfahrensrecht weitgehend Zustimmung gefunden.62 Zutreffend ist aber schon darauf hingewiesen worden, dass nicht eigentlich der strafprozessuale Grundrechtseingriff als Prozesshandlung mehrere Funktionen erfüllt;63 vielmehr ist es – wie soeben gezeigt – die zugrunde liegende Norm, die Funktionen in verschiedenen Rechtsgebieten erfüllt. Zudem hat Niese in seiner Arbeit über die Doppelfunktionalität von Prozesshandlungen die beiden materiell-rechtlichen Funktionen der Normen nicht unterschieden, sondern nur prozessualen und materiellen Raum voneinander getrennt. Die Unterscheidung der Wirkungen im materiellen Recht erscheint aber besonders wichtig, weil die Behandlung strafprozessualer Grundrechtseingriffe im materiellen Strafrecht und im Verfassungsrecht durchaus spezifische Probleme mit sich bringt. Zum Beispiel können für die verfassungsrechtliche Frage, ob ein Grundrechtseingriff wegen einer Einwilligung des Betroffenen ausgeschlossen ist, durchaus andere Kriterien entscheiden, als ___________ 60 Vgl. Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß (1977), S. 23. Grunst, Prozeßhandlungen im Strafprozeß (2002), S. 97 f., meint, man müsse verschiedene Normebenen auch innerhalb der einzelnen Rechtsgebiete unterscheiden. Ob damit ein Erkenntnisgewinn verbunden ist, mag hier dahinstehen. 61 Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950), passim. 62 Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil I (1964), Rdnr. 35 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht (1968), S. 238; Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1976), S. 14; Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Strafprozeßrechts (1979), S. 142; Gössel, Strafverfahrensrecht (1977), S. 160; Kühne, Strafprozessrecht (2007), Rdnr. 673; Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (25. Aufl. 1998), Einl. J Rdnr. 15; ebenso Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (26. Aufl. 2006), Einl. K Rdnr. 15; Schäfer, Strafprozeßrecht (1976), Kap. 10 Rdnr. 6; krit. Ranft, Strafprozeßrecht (2005), Rdnr. 415; Schroeder, Strafprozessrecht (2007), Rdnr. 394; Sax, in: KMR-StPO (Vorkommentierung, ohne Jahr), Einl. X Rdnr. 4. 63 Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß (1977), S. 23. Auch Peters, Strafprozeß (1985), S. 254, weist darauf hin, dass die Funktion der Prozesshandlungen durchaus auf das Prozessrecht beschränkt sei, sie lediglich materiellrechtliche Begleiterscheinungen habe. Er schlägt daher den Begriff der „Doppelwirksamkeit“ vor. Niese hat das wohl selbst erkannt (Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen [1950], S. 56).
§ 5 Normstruktur strafprozessualer Eingriffsermächtigungen
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das Problem, ob der handelnde Polizist wegen einer Einwilligung strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Im Übrigen ist die grundrechtliche Relevanz viel zu lange vernachlässigt worden.64
§ 5 Normstruktur strafprozessualer Eingriffsermächtigungen65 Die verschiedenen Funktionen strafprozessualer Eingriffsermächtigungen korrespondieren mit einer besonderen Struktur der Normen im Gefüge des Prozessrechts. Man kann in Anlehnung an den Sprachphilosophen Searle zwischen zwei verschiedenen Arten von Normen unterscheiden, zwischen regulativen und konstitutiven Normen („regulative and constitutive rules“).66 Diese Unterscheidung hilft zumindest, das komplexe Zusammenspiel von Normen, die die Aufnahme von Informationen regeln (die Eingriffsermächtigungen) und Normen, die die Verwertung der Informationen (also den Komplex der Entscheidungsfindung) zum Gegenstand haben, angemessen in Worte zu fassen.
A. Regulative und konstitutive Normen Regulative Normen regeln Interessen, die von dem Vorhandensein der betreffenden Normen logisch unabhängig sind. Das durch die Norm geregelte Problem besteht unabhängig davon, ob eine entsprechende Norm existiert oder nicht. Regulative Normen sind meist als Imperative formuliert (oder können jedenfalls als solche umformuliert werden). Befolgt man solche Regeln nicht, verhält man sich rechtswidrig und muss mit einer Sanktion rechnen, etwa Strafe oder Schadensersatz. Dementsprechend sind beispielsweise die Straftatbestände des StGB oder Schadensersatzvorschriften des BGB regulative Normen. Konstitutive Normen hingegen diktieren kein Verhalten, sie sind vielmehr eine Art von Spielregeln.67 Diese Spielregeln formulieren die Voraussetzungen, ___________ 64
Siehe dazu nur § 6 B. Siehe hierzu bereits ausführlich Mittag, German Law Journal 7 (2006), S. 637 ff. 66 Searle, Speech Acts (1969), S. 33 ff. Für Rechtsregeln ist die Unterscheidung allerdings schon früher angelegt: Siehe Hart, The Concept of Law (1961), S. 9 und Rawls, The Philosophical Review 64 (1955), S. 3 (22 und 25). 67 Searle, Speech Acts (1969), S. 33 f. m. Fn. 1, führt als – außerrechtliches – Bsp. an, dass man das Rücken von Figuren auf einem Brett mit 64 Feldern nur dann als „Schachspielen“ charakterisieren kann, wenn konstitutive Regeln existieren, die eine solche Zuordnung ermöglichen. Man sieht daran, dass bestimmte Interaktionen – sowohl rechtliche, als auch soziale – ohne die Existenz konstitutiver Normen überhaupt nicht erklärbar sind. Für regulative Normen gilt das nicht: Sie sind Regeln, die die unabhängig von ihnen selbst bestehenden Interessen in einer bestimmten Weise zum Ausgleich bringen sollen. 65
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Teil 1: Einleitung
unter denen man einen bestimmten Erfolg erreichen kann.68 Hält man die Regeln nicht ein, kann man den angestrebten Erfolg nicht erreichen. Eine Verhaltenssteuerung erfolgt im Gegensatz zu regulativen Normen nicht durch angedrohte Sanktionen, sondern durch das Interesse des jeweiligen Interaktionssubjekts, den anvisierten Erfolg zu erreichen. Konstitutive Normen sind etwa Vorschriften des BGB, die die Voraussetzungen für den Vertragsschluss regeln, aber auch die Vorschriften des Grundgesetzes über das Gesetzgebungsverfahren des Bundes. Die hier nachgezeichnete Unterscheidung ist zwar in der Rechtstheorie inzwischen verbreitet,69 aber nicht unumstritten geblieben.70 Ein erster Einwand bezieht sich auf das Fundament der Unterscheidung selbst: Ihr wird teilweise entgegengehalten, alle Normen seien regulativ, weil alle Normen geschaffen seien, um Verhalten zu regulieren.71 Allerdings geht der Einwand an der soeben beschriebenen Wirkungsweise der verschiedenen Normarten vorbei: Regulative und konstitutive Normen haben erstens verschiedene Interessen zum Gegenstand. Zweitens regulieren sie – wie gezeigt – das Verhalten der Normadressaten in vollkommen verschiedener Weise. Nicht vollständig davon zu trennen ist ein zweiter Einwand, der allerdings nicht so einfach zu entkräften ist: Können regulative Normen gleichzeitig auch konstitutive Normen sein?72 Es scheint, die Unterscheidung wäre – für den Fall, dass die Frage zu bejahen wäre – kaum mehr sinnvoll. Womöglich hängt die Beantwortung von dem jeweiligen Kontext und dem jeweiligen Zusammenspiel regulativer und konstitutiver Normen ___________ 68
Konstitutive Normen können dabei auch ein „System“ bilden. Ein Erfolg kann dann voraussetzen, dass mehrere konstitutive Normen (in einer bestimmten Reihenfolge) beachtet worden sind. Vgl. hierzu Dickey, American Journal of Jurisprudence 15 (1980), 89 (97). 69 Sie ist in der angelsächsischen Literatur allerdings ungleich verbreiteter, siehe nur Fletcher, Basic Concepts of Legal Thought (1996), S. 45; Dickey, American Journal of Jurisprudence 15 (1980), 89 ff.; aus der – spärlichen – deutschen Literatur Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2001), S. 205; für das Strafverfahren Philipps, in: Festschrift für Bockelmann (1979), S. 831 (840); Amelung, in: Festgabe für Hilger (2003), S. 327 (330); für das materielle Strafrecht Amelung, Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten (1998), S. 14 ff.; Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht (2001), S. 178. 70 Zu Einwänden aus philosophischer Sicht Cherry, The Philosophical Quarterly 23 (1973), S. 301 ff. Die Kritik von Ohly, „Volenti non fit iniuria“ (2001), S. 207 m. Fn. 169, kann hier dahinstehen: Sie trifft nicht die normtheoretische Unterscheidung als solche, sondern ihre Fruchtbarkeit für die Qualifizierung einer Einwilligungserklärung als Rechtsgeschäft. 71 In diesem Sinne Warnock, The Objekt of Morality (1971), S. 73; Raz, Practical Reason and Norms (1975), S. 109. 72 Aufgeworfen – und bejaht – haben diese Frage Raz, Practical Reason and Norms (1975), S. 109; Dickey, American Journal of Jurisprudence 15 (1980), 89 (108); ferner Atria, On Law and Legal Reasoning (2001), S. 15.
§ 5 Normstruktur strafprozessualer Eingriffsermächtigungen
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in einem bestimmten Normenkomplex zusammen. Die Auseinandersetzung muss damit noch zurückgestellt werden; nur das Ergebnis mag an dieser Stelle zunächst genügen: In dem hier vertretenen System strafprozessualer Regeln ist eine Norm entweder konstitutiv oder regulativ, nie aber beides gleichzeitig.
B. Struktur prozessualer Regeln Die Unterscheidung zwischen regulativen und konstitutiven Normen ist auch auf den Strafprozess übertragbar: Einige Vorschriften des Prozessrechts regeln die Voraussetzungen, unter denen die Interaktionssubjekte die jeweils nächste Prozesslage erreichen können. Sie sind damit konstitutiv. Die wichtigste Prozesslage ist dabei natürlich das Urteil. Konstitutive Normen sind aber nicht nur für das Ergebnis des Prozesses relevant. Es gibt auch konstitutive Normen, deren unmittelbarer Bezugspunkt eben nicht „Bestand des Urteils“, sondern etwa „Verwertbarkeit einer Information“ ist. Das kann bspw. auch für den Erlass eines Haftbefehls von Bedeutung sein. Aber das Hauptaugenmerk liegt doch stets auf der Frage, welche Folgen es für das Urteil hat, wenn das Gericht bestimmte Informationen verwertet. Das rechtfertigt es, als Bezugspunkt konstitutiver Normen den Bestand hier des Urteils zu wählen. Bevor genau darauf eingegangen werden kann, welche Normen konstitutiv, welche regulativ sind, ist auf zwei Besonderheiten hinzuweisen, wie konstitutive Normen speziell im Strafprozess wirken: Erstens kann mit der Umschreibung, dass konstitutive Normen Bedingungen zur Erzeugung eines bestimmten Erfolges aufstellen, nicht gemeint sein, dass die Einhaltung dieser Bedingungen Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Urteils sind. Urteile, die an einem Verfahrensmangel leiden, sind nicht per se nichtig, sondern (nur) aufhebbar. Das liegt daran, dass das Gesetz dem (Straf-)Urteil den „Vertrauensvorschuss“ zuteil werden lässt, den Staatsakte regelmäßig genießen.73 Die Verfehlung des Prozesserfolgs muss also in einem geordneten gerichtlichen Verfahren festgestellt werden. Zweitens hat nicht jede Abweichung von einer solchen konstitutiven Norm im Kontext des Strafprozesses die Aufhebbarkeit des Prozessresultats Urteil zur Folge. Das ist in § 337 Abs. 1 StPO festgelegt, der einen Beruhenszusammenhang zwischen der fehlerhaften Anwendung der Prozessnorm und dem Ergebnis der Anwendung, dem Urteil, fordert. Diese Modifikation gilt allerdings nicht für solche konstitutiven Normen, deren Verfehlung einen absoluten Revisionsgrund darstellt (§ 338 StPO). Welche Prozessnormen sind nun aber konstitutiv, welche regulativ? Regulative Normen schützen Interessen, die vom Vorhandensein jener Norm, des ge___________ 73
Amelung, in: Festgabe für Hilger (2003), S. 327 (332).
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Teil 1: Einleitung
samten Interaktionsprozesses, unabhängig sind. Damit sind solche prozessualen Vorschriften, die Schutznormen für materielle Grundrechte sind, regulative Normen.74 Mit ihren Bedingungen für den Eingriff des Staates in die Freiheitsrechte des Bürgers sollen sie Interessen zum Ausgleich bringen, die von ihrer eigenen Existenz unabhängig sind. Daher ist etwa § 105 Abs. 1 StPO eine regulative Norm, weil er im Zusammenhang mit dem Schutz materieller Grundrechte steht (er setzt Art. 13 Abs. 2 GG um) und vorgefundene Interessen zum Ausgleich bringen soll. Auf der anderen Seite ist z.B. § 258 StPO eine konstitutive Norm. Denn auch wenn sie grundgesetzliche Direktiven umsetzt (nämlich Art. 103 Abs. 1 StPO), sind es doch Direktiven ausschließlich für das gerichtliche Verfahren. Diese Norm schützt also keine materiellen Interessen, sondern solche, die ohne einen Prozess nicht existierten. Die Einhaltung von Normen, die nicht auf den Ausgleich materieller Interessen gerichtet sind, ist damit für das Urteil konstitutiv. Hingegen hat der Verstoß gegen eine regulative Norm nicht automatisch zur Folge, dass der Prozesserfolg „Urteil“ keinen Bestand hat. Die „Sanktion“ ist zunächst eine außerprozessuale, nämlich mit dem Verdikt der Verfassungs-, meist auch der Strafrechtswidrigkeit verbunden. Aus „innerprozessualer Sicht“ ist aber vor allem relevant, welche Folgen ein Verstoß gegen eine regulative Norm für den Prozess selbst hat. Die Frage ist deshalb wichtig, weil natürlich auch bei fehlerhaftem Gebrauchmachen von Eingriffsermächtigungen (der Verletzung regulativer Normen also) Informationen erhoben werden, die im Fortgang des Prozesses relevant sein können. Dieser Umstand erfordert Normen, die zeigen, wie mit solchen Informationen innerprozessual umzugehen ist. Solche Normen sind also regulativen Normen nachgeschaltet und – da sie den Weg zur Entscheidung bestimmen – konstitutiv. Sie regeln den Transfer von Informationen, die aus der Verletzung regulativer Normen entstehen, in den Prozess. Diese „Transferregeln“ sind meist ungeschrieben und aus allgemeinen Prinzipien zu gewinnen, wie es etwa bei den Beweisverwertungsverboten geschieht.75, 76 „Transferregeln“ können aber auch normiert sein, wie das in § 136a Abs. 3 S. 2 StPO geschehen ist. § 136a Abs. 1 und 2 StPO steht im Zusammenhang mit dem Schutz materieller Grundrechte, hat also regulativen Charakter. § 136a Abs. 3 S. 1 StPO erklärt die dort genannten Vernehmungsmethoden ohne Rücksicht auf eine Einwilligung als verboten, betrifft also ebenfalls den Grundrechtsschutz. Mit § 136a Abs. 3 S. 2 StPO wechselt der Gesetzgeber aber die Perspektive und ordnet für einen Verstoß gegen § 136a StPO die Unverwertbarkeit der gewonnenen Aus___________ 74
Amelung, in: Festgabe für Hilger (2003), S. 327 (335 ff.). Hierbei werden Verschränkungen zwischen den Normkomplexen deutlich. Die (konstitutiven) Regeln über Beweisverwertungsverbote können auf Wertungen regulativer Normen zurückgehen. Vgl. dazu näher bei § 6 B. 76 Zum Normcharakter der Beweisverwertungsverbote Rogall, JZ 2008, 818 (822). 75
§ 5 Normstruktur strafprozessualer Eingriffsermächtigungen
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sagen im Prozess an. Das ist eine konstitutive Norm.77 § 136a StPO verfolgt damit einen verallgemeinerungsfähigen Grundgedanken des Zusammenspiels regulativer und konstitutiver Normen und bildet gleichzeitig einen normativen Anhaltspunkt für diese normtheoretische Unterscheidung. Damit ist zugleich die unter A. aufgeworfene Frage nach der Beziehung zwischen regulativen und konstitutiven Normen beantwortet: Nach dem hier entwickelten System sind prozessuale Normen nicht „janusköpfig“, also niemals sowohl regulativ oder konstitutiv. Ob die Einhaltung einer regulativen Norm im Kontext des Prozesses konstitutiv ist, wird durch die ihr nachgeschaltete Transferregel bestimmt, die ihrerseits eine konstitutive Norm ist. Allerdings stehen regulative und konstitutive Normen nicht beziehungslos nebeneinander. Verschränkungen zwischen den beiden Normkomplexen ergeben sich daraus, dass Normen des „strafprozessualen Formalismus“ – konstitutive Normen – durchaus auch auf materielle Interessen zurückgehen: „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ besagt, dass materiellen Grundrechten Anforderungen an die Ausgestaltung des Verfahrens (also dem Inhalt konstitutiver Normen) entnommen werden.78 Verfahren – also auch der Inhalt konstitutiver Normen – steht vor allem im Dienst des materiellen Rechts. Konstitutive Normen erfüllen damit eine instrumentelle Funktion. Der mit dieser normtheoretischen Unterscheidung verbundene Erkenntnisgewinn ist allerdings begrenzt. Denn über den Inhalt der angesprochenen „allgemeinen Prinzipien“, aus denen sich die „Transferregeln“ ergeben, sagt die Unterscheidung nichts. Festzuhalten ist nach dem Ausgeführten aber immerhin: Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen sind regulative Normen. Ihre Verletzung hat daher nicht automatisch zur Folge, dass das Prozessergebnis keinen Bestand haben könnte. Soweit aus ihrer Anwendung aber Informationen resultieren können oder – allgemeiner – eine bestimmte Prozesslage faktisch erreicht worden ist, bestimmen konstitutive „Transferregeln“, ob und wie diese Informationen im Prozess verwendet werden dürfen, wie also mit der erreichten Prozesslage umzugehen ist. Die Einhaltung dieser Norm ist für den Bestand des Urteils konstitutiv.
___________ 77
Mit jenen „Transferregeln“ werden hier die sog. unselbständigen Verwertungsverbote beschrieben. Auch bei selbständigen Verwertungsverboten handelt es sich aber um konstitutive Normen. 78 Vgl. nur Denninger, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 113 Rdnr. 8 ff.
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Teil 1: Einleitung
§ 6 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Prozesshandlungen A. Zum Begriff der Prozesshandlung Wenn strafprozessuale Grundrechtseingriffe im Folgenden als Prozesshandlungen bezeichnet werden, ist der Begriff zunächst kurz zu definieren. Über ihn ist trotz jahrzehntelanger Bemühungen bisher noch keine Einigkeit erzielt worden.79 Es ist daher zunächst offen zu legen, was der Begriff der Prozesshandlung für die folgende Darstellung leisten kann und soll: Es geht darum, der prozessualen Dimension strafprozessualer Grundrechtseingriffe einen geeigneten Ausdruck zu verleihen. Es soll also kein Versuch unternommen werden, die Berechtigung des Begriffs der Prozesshandlung als „prozessualen Grundbegriff“ nachzuweisen.80 Nur die Bedenken gegen eine so ambitionierte Begriffsbildung seien kurz angedeutet. Die StPO verwendet den Begriff der Prozesshandlung nicht. Also werden zumeist prozessuale Verhaltensweisen unter Kriterien zusammengefasst, die zuvor als Begriffsbestandteile deklariert werden.81 Damit besteht die Gefahr, schon in den Begriff der Prozesshandlung „hineinzulegen“, was man erst anhand des Begriffs in einem Auslegungsvorgang herleiten will. Die Schwierigkeiten verstärken sich, versucht man, zivilprozessuale und strafprozessuale Verhaltensformen unter einen einheitlichen Prozesshandlungsbegriff zu subsumieren.82 Der Begriff der Prozesshandlung hat im Zivilprozessrecht schon deshalb einen anderen Stellenwert, weil er vom Gesetz selbst verwendet wird.83 Außerdem nimmt er dort auch eine wichtige Unterscheidungsfunktion war, wo es um die Frage geht, ob Parteiverhalten dem materiellen Recht oder dem Prozessrecht unterliegt.84 Hier soll der Begriff der Prozesshandlung als Zusammenfassung der im Strafverfahren relevanten Akte verwendet werden, die geeignet sind, den Pro___________ 79
Nach einem Satz von Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950), S. 82, „beginnt beinahe jede Arbeit über Prozeßhandlungen […] mit der Aufstellung eines eigenen Prozeßhandlungsbegriffs.“ Das hat sich auch in letzter Zeit nicht geändert, vgl. nur die umfangreichen Darstellungen bei Grunst, Prozeßhandlungen im Strafprozeß (2002), S. 117 ff., und Paulus, in: Gedächtnisschrift für Meyer (1990), S. 309 (310 ff.). 80 Dies versuchen etwa Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950), S. 82 ff.; Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (1929), S. 167 ff. („Mittelpunkt des Prozeßrechts“). 81 Dencker, Willensfehler bei Rechtsmittelverzicht und Rechtsmittelzurücknahme im Strafprozeß (1972), S. 21; vgl. auch die weiteren Verweise auf den methodisch fragwürdigen Umgang mit dem Prozesshandlungsbegriff ebd., S. 20 ff. 82 Vgl. etwa die soeben in Fn. 80 Genannten als Vertreter einer allgemeinen Prozessrechtslehre. Kritisch dazu Baumgärtel, Wesen und Begriff der Prozeßhandlung einer Partei im Zivilprozeß (1972), S. 1. 83 Etwa in §§ 67, 230, 295 ZPO. 84 Dazu Jauernig, Zivilprozeßrecht (2003), S. 123.
§ 6 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Prozesshandlungen
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zess voranzubringen. Prozesshandlungen sind also Handlungen, die konstitutive Normen konkretisieren85 oder auf die Auslösung von Wirkungen konstitutiver Normen gerichtet sind. Nach diesem Verständnis können jedenfalls die „echten“ strafprozessualen Grundrechtseingriffe zur Sachverhaltsaufklärung und Beweissicherung als Prozesshandlungen bezeichnet werden.86 Denn sie sind darauf gerichtet, Wirkungen konstitutiver Normen auszulösen. Beispielsweise erfolgt eine Beschlagnahme, um die hieraus resultierenden Informationen im Prozess verwenden zu können, um also den Mechanismus der den regulativen Eingriffsnormen nachgeschalteten konstitutiven Normen auszulösen. Aber auch „unechte“ strafprozessuale Grundrechtseingriffe zur Ermittlungsvorsorge sind Prozesshandlungen. Denn sie sind darauf gerichtet, in einem Folgeprozess die Wirkungen konstitutiver Normen auszulösen.
B. „Mehrfachwirkung“ strafprozessualer Grundrechtseingriffe Kehrseite der schon angesprochenen Multifunktionalität strafprozessualer Eingriffsermächtigungen87 ist eine „Mehrfachwirkung“ strafprozessualer Grundrechtseingriffe. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe entfalten Wirkungen in mehreren Rechtsgebieten, nämlich im Strafverfahrensrecht, Verfassungsrecht, materiellen Strafrecht und im Staatshaftungsrecht. Im Verfahrensrecht sind sie – jedenfalls sofern sie „echt“ sind – als Prozesshandlungen Instrumente, das Strafverfahren voranzubringen. Dabei handelt es sich also um innerprozessuale Wirkungen. Aus der Sicht des Verfassungsrechts stellen sie einen rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtseingriff, aus der Sicht des materiellen Strafrechts meist eine rechtfertigungsbedürftige Verwirklichung eines Straftatbestandes dar. Zudem sind sie Anknüpfungspunkt für die Frage nach der Haftung des Staates. Die drei letztgenannten Phänomene lassen sich als außerprozessuale Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe zusammenfassen. Sie stehen hier im Vordergrund. Es gibt auch gute Gründe, auf die auf den ersten Blick beinahe banale Einsicht der Mehrfachwirkung strafprozessualer Grundrechtseingriffe hinzuweisen. So wurde teilweise bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts Rechtsschutz gegen solche Grundrechtseingriffe mit der Begründung versagt, ___________ 85 Die Begriffsbestimmung rückt damit in die Nähe der Definition von Paulus, in: Gedächtnisschrift für Meyer (1990), S. 309 (317). Danach sind Prozesshandlungen Konkretisierungen von Verfahrensnormen. 86 Diese Zuordnung ist nicht selbstverständlich. Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), S. 164, etwa versteht nur „Erklärungen, die eine Rechtsfolge willensgemäß auslösen“, demzufolge keine Realakte als Prozesshandlungen. Dagegen zutreffend Paulus, in: Gedächtnisschrift für Meyer (1990), S. 309 (317). 87 Vgl. oben § 4.
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eine gerichtliche Überprüfung bloßer Prozesshandlungen sei ausgeschlossen.88 Stellt man aber für die Beurteilung der Rechtsschutzmöglichkeit nicht auf die innerprozessualen, sondern auf die verfassungsrechtlichen Wirkungen des Grundrechtseingriffs ab, darf Rechtsschutz im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG nicht verwehrt werden.89 Denn zwar können Grundrechte über das Verfahren selbst, nämlich durch das Verfahrensergebnis, geschützt werden.90 Das funktioniert aber eben nur soweit, als durch das Verfahrensergebnis selbst – etwa die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe – in materielle Grundrechte eingegriffen wird. Hier geht es aber gerade um Eingriffe in Grundrechtspositionen, die im Laufe des Verfahrens – verfahrensbegleitend – vorgenommen werden.91 Dem ist einmal bei der Auslegung von § 305 StPO Rechnung zu tragen. Nach Satz 1 dieser Vorschrift unterliegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen, nicht der Beschwerde. § 305 S. 2 StPO zählt strafprozessuale Grundrechtseingriffe auf, für die der Beschwerdeausschluss nicht gelten soll. Die Vorschrift enthält dabei aber keine abschließende Aufzählung, sondern bringt nur einen Grundgedanken zum Ausdruck, der jedenfalls für alle mehrfachwirksamen (grundrechtsrelevanten) Prozesshandlungen gilt. Und diese grundrechtliche Auswirkung zwingt zum anderen, dem Betroffenen überhaupt die Möglichkeit des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe der Strafverfolgungsbehörden einzuräumen – sei es analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO oder nach § 23 EGGVG. Art. 19 Abs. 4 GG zwingt also, neben dem „eigentlichen“ Strafprozess einen „Nebenprozess“ zu eröffnen, wenn durch den „Hauptprozess“ (das Urteil) angemessener Rechts___________ 88 OLG Karlsruhe, DÖV 1976, 170 (171); OLG Hamm, NJW 1970, 1985; OLG Braunschweig, GA 1965, 345; OLG Düsseldorf, NJW 1965, 2217; zustimmend Meyer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (23. Aufl. 1976), § 81a Rdnr. 71. 89 Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1976), S. 14; Rieß/Thym, GA 1981, 189 (200 f.); Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (25. Aufl. 1998), Einl. J Rdnr. 15; ebenso Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (26. Aufl. 2006), Einl. K Rdnr. 15; Bachmann, Probleme des Rechtsschutzes gegen Grundrechtseingriffe im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (1994), S. 110 f.; Lin, Richtervorbehalt und Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1998), S. 126 ff. In Anbetracht der soeben in Fn. 88 angeführten Rspr. irrt Sax, in: KMR-StPO (Vorkommentierung, ohne Jahr), Einl. X Rdnr. 4, wenn er meint, die Unterscheidung prozessualer und materiell-rechtlicher Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe sei die „im Grunde von niemandem je übersehene Folgerung daraus, dass die prozessualen Normen selbst ‚doppelfunktionell‘“ seien. 90 Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 39: Aspekt des Grundrechtsschutzes durch Verfahren (Verfahren als Sicherung von Grundrechten). Vgl. für das Verwaltungsverfahren Bergner, Grundrechtsschutz durch Verfahren (1998), S. 109. 91 Dabei steht der Grundrechtsschutz im Verfahren im Vordergrund (Verfahren als Gefährdung von Grundrechten), vgl. Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 40; siehe ferner zu diesem Aspekt Gusy, StV 2002, 153 (157).
§ 6 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Prozesshandlungen
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schutz nicht gewährt, die Grundrechtsbeeinträchtigung also nicht beseitigt werden kann. Ein weiterer Grund, die Wirkungen in verschiedenen Rechtsgebieten zu beachten, sind die unterschiedlichen Folgen, die ein Verstoß gegen eine strafprozessuale Eingriffsermächtigung haben kann. Für das materielle (Straf- und Verfassungs-)Recht stellt der Verstoß gegen die Eingriffsermächtigung eine (gegebenenfalls sanktionierungsbedürftige) Verletzung des Rechts dar. Innerprozessual ist die Frage relevant, wie sich dieser Verstoß gegen eine regulative Norm auf das Ergebnis des Prozesses auswirkt. Das hängt vom Inhalt der der regulativen Norm nachgeschalteten konstitutiven Norm ab.92
C. Die Bewertung von Prozesshandlungen Häufig diskutiert wird die Frage, wie Prozesshandlungen zu bewerten seien. Damit ist folgendes gemeint: Im Bereich des materiellen Rechts werden Handlungen gemeinhin in die Kategorien „rechtmäßig“ oder „rechtswidrig“ eingeordnet. Dementsprechend werden strafprozessuale Grundrechtseingriffe als verfassungswidrig bezeichnet, wenn die Voraussetzungen der strafprozessualen Rechtsgrundlage oder besondere verfassungsrechtliche Postulate an den Eingriff als Staatsakt nicht erfüllt sind. Ebenso trifft den handelnden Amtsträger das materiell-strafrechtliche Verdikt der Rechtswidrigkeit, wenn er mit seiner Maßnahme die Grenzen der strafprozessualen Rechtsgrundlage überschreitet und diese Handlung durch ein Strafgesetz verboten wird.93 Nach verbreiteter Auffassung unterliegen Prozesshandlungen aber besonderen Bewertungen. Dabei geht es um die Frage, ob die überkommene Trennung von prozessualem und materiellem Recht zu einer prozessrechtsspezifischen Beurteilung von Prozesshandlungen drängt. Das wird mit der Begründung behauptet, die innerhalb des Prozesses als eines abgesonderten Wirklichkeitsausschnitts vorgenommenen Handlungen seien im Hinblick auf ihre Urteilsbezogenheit zu bewerten. Dieser funktionale Zusammenhang erfordere prozessrechtliche Wertkategorien, die notwendig andere seien als die des materiellen Rechts.94 Eine Prozesshandlung als solche interessiert danach nur unter dem Gesichtspunkt, ob sie als Schritt zum Urteil hin zugelassen ist. Dementspre___________ 92
s.o. § 5 B. Das ist streitig, siehe hierzu ausführlich § 15. 94 So schon Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage (1925), S. 367 ff.; Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (1929), S. 437 ff.; ders., Allgemeine Prozeßrechtslehre (1951), S. 214 ff.; Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950), S. 91 ff.; zustimmend Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil I (1964), Rdnr. 62 f. und 227 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht (1968), S. 239; Peters, Strafprozeß (1985), S. 261 ff. 93
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Teil 1: Einleitung
chend bewertet man Prozesshandlungen als „gültig“–„ungültig“, „wirksam“– „unwirksam“, „zulässig“–„unzulässig“ oder „begründet“–„unbegründet“.95 Auch für diese Frage kann auf die Unterscheidung zwischen regulativen und konstitutiven Normen zurückgegriffen werden. Handlungen, die sich an regulativen Normen zu messen haben, bezeichnet man allgemein als rechtmäßig oder rechtswidrig. Bei Handlungen, die konstitutive Normen konkretisieren, ist vor allem interessant, ob sie die Voraussetzungen dieser Normen erfüllen und damit Grundlage des mit der Handlung bezweckten Erfolges sein können. Dies ist allerdings kein spezifisch prozessrechtliches Problem: Auch im materiellen (Zivil-)Recht gibt es Handlungen, die nicht als rechtmäßig oder rechtswidrig eingestuft werden, sondern danach, ob sie als Schritt zu einem bestimmten Ziel hin zugelassen werden können. Eine Willenserklärung zu einem Vertragsschluss oder eine Anfechtungserklärung wird beispielsweise niemand als rechtmäßig oder rechtswidrig beurteilen wollen. Das liegt aber daran, dass Regeln, die über die Wirksamkeit eines Vertrages entscheiden, konstitutive Normen sind. Die Frage nach der Bewertung von Prozesshandlungen hat also entgegen Eb. Schmidt96 nichts damit zu tun, dass der Prozess ein Wirklichkeitsausschnitt ohne Bezug zu sozialen Lebensinteressen wäre.97 Es geht nur darum, dass für die Bewertung der Konkretisierung konstitutiver Normen eine andere Fragestellung wichtiger ist. Die für die „Umsetzung“ strafprozessualer Grundrechtseingriffe in den Prozess maßgebliche Kategorie könnte „Zulässigkeit“ genannt werden. Ein Beispiel für diese Differenzierung: Eine Beschlagnahme, die den Voraussetzungen des § 94 StPO nicht genügt, ist rechtswidrig. Für den weiteren Verlauf des Prozesses ist interessant, ob die Verwertung der daraus gewonnen Information zulässig ist, ob also konstitutive Normen existieren, die eine solche Verwertung zulassen. Das ist – wie ausgeführt98 – eine Frage allgemeiner Prinzipien. Nicht übersehen wird dabei dreierlei: Erstens existieren für einen Teil dieses Bereichs genauere Maßstäbe als die soeben nachgezeichneten; sie sollen an
___________ 95 Zu den Feinheiten verschiedener Nuancierungen Peters, Strafprozeß (1985), S. 261 ff.; Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (26. Aufl. 2006), Einl. K Rdnr. 16 ff. Kritisch dagegen Nowakowski, JurBl. 1955, 30 (31), der zwar den genannten Attributen ihre Berechtigung nicht abspricht, gleichwohl auch an den herkömmlichen Kategorien „rechtmäßig“ – „rechtswidrig“ festhalten will. Abl. auch Grunst, Prozeßhandlungen im Strafprozeß (2002), S. 212 ff.; Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (26. Aufl. 2006), Einl. M Rdnr. 10. 96 Lehrkommentar zur StPO, Teil I (1964), Rdnr. 63. 97 Umfassende Kritik dazu auch bei Grunst, Prozeßhandlungen im Strafprozeß (2002), S. 212 ff. 98 Oben § 5.
§ 6 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Prozesshandlungen
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dieser Stelle jedoch nicht interessieren.99 Zweitens geht die Qualifizierung mancher Prozessnormen als konstitutive Regeln nicht so weit, dass es in diesem Normbereich keine Rechte und Pflichten geben könnte.100 Das heißt, dass etwa der Angeklagte durchaus einen Anspruch auf positive Bescheidung eines Beweisantrages haben kann. Deshalb kann man den Verstoß gegen die entsprechende konstitutive Norm des § 244 Abs. 3 StPO auch als rechtswidrig bezeichnen.101 Das ist aber nur eine terminologische Frage. Mit dem Terminus der „Zulässigkeit“ soll für den besonderen Normbereich der (nicht sanktionierenden) konstitutiven Regeln sensibilisiert werden – insbesondere insoweit, als darauf hinzuweisen ist, dass für die Verletzung einer regulativen Prozessnorm ein allgemeiner Automatismus für den Inhalt der nachgeschalteten konstitutiven Norm nicht besteht.102 Das führt schließlich zu einer dritten Bemerkung: Mit der Ausrichtung der Denkweise ausschließlich auf das Urteil mag der Prozess nicht für die Gesamtheit der Interaktionen hinreichend beschrieben sein. Es gibt Mitwirkungsbefugnisse und Rechte, die nicht davon beherrscht werden, ob sie als Schritt hin zum Urteil zugelassen sind.103 Das ist z.B. der Fall, wenn der Angeklagte nach § 238 Abs. 2 StPO die Einführung bestimmter Beweise beanstandet. Entscheidend ist aber: Konstitutiven Charakter haben die Normen, die den Umgang des Gerichts mit solchen Interaktionen regeln. ___________ 99 So kann etwa bei der Einlegung eines Rechtsmittels noch viel genauer danach unterschieden werden, ob die Einlegung als solche wirksam ist, ob sie zulässig (in einem engeren als dem hier gebrauchten Sinne: formal ordnungsgemäß) und begründet (inhaltlich gerechtfertigt) ist. Das sind die Maßstäbe, mit denen sich die herkömmliche Dogmatik befasst, wenn „prozessuale Wertkategorien“ diskutiert werden. Vgl. nur Peters, Strafprozeß (1985), S. 261 ff. 100 Die Auffassung, es gebe im Bereich des Prozessrechts keine Rechte und Pflichten, sondern nur Lasten und Möglichkeiten (so Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage [1925], S. 81 ff., 268 ff., 335 ff.; zustimmend Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen [1950], S. 64 ff.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil I [1964], Rdnr. 65 ff.), gilt als überwunden. Vgl. nur aus allgemein-prozessrechtlicher Sicht Nakano, ZZP 79 (1966), 99 (104); Schaper, Studien zur Theorie und Soziologie des gerichtlichen Verfahrens (1985), S. 74 ff.; aus Sicht des Zivilprozessrechts Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht (1970), S. 13 ff.; Lent, ZZP 67 (1954), 344 (345); Arens, AcP 173 (1973), 250 (252 f.); aus Sicht des Strafprozessrechts Henkel, Strafverfahrensrecht (hier 1. Aufl. 1953), S. 293; Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Strafprozeßrechts (1979), S. 156 f., 159 f. 101 Bsp. von Grunst, Prozeßhandlungen im Strafprozeß (2002), S. 214. Das gilt natürlich auch für die Beurteilung beispielsweise einer Beschlagnahme (also eines strafprozessualen Grundrechtseingriffs), die selbst Anwendung einer regulativen Norm ist, gleichzeitig aber Prozesshandlung, also auf das Auslösen von Wirkungen konstitutiver Normen gerichtet. 102 Vgl. hierzu das Bsp. oben bei Fn. 98. 103 Baumgärtel, Wesen und Begriff der Prozeßhandlung einer Partei im Zivilprozeß (1972), S. 86; Grunst, Prozeßhandlungen im Strafprozeß (2002), S. 85 erachten dies in der Kritik an der Lehre Goldschmidts über die dynamische Betrachtungsweise des Prozesses als maßgeblich.
Teil 2
Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt Um die Aspekte strafprozessualer Grundrechtseingriffe als Akte des öffentlichen Rechts zu erfassen, ist es zweckmäßig, zwei Perspektiven zu unterscheiden. Zum einen sind sie Hoheitsakte und sollen daher zunächst im Hinblick auf diese Erscheinung untersucht werden. Das geschieht dadurch, dass einerseits Gemeinsamkeiten mit, andererseits signifikante Unterschiede zu einem anderen staatlichen Hoheitsakt, dem Verwaltungsakt, herausgearbeitet werden (1. Abschnitt). Davon zu unterscheiden – wenngleich logisch nicht vollkommen zu trennen – ist die Perspektive des Bürgers, in dessen Freiheitsrechte eingegriffen wird. Deshalb sind in einem zweiten Schritt strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Eingriffe in materielle Grundrechte zu behandeln (2. Abschnitt). In einem weiteren Abschnitt wird mit dem Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe ein beide Perspektiven betreffender Problemkreis erörtert (3. Abschnitt). Dem sollen aber zunächst einige Bemerkungen zur Struktur der Schutzbereiche von materiellen Grundrechten vorangestellt werden, weil Struktur und Eingriffsmodalitäten schon für die Erörterung des strafprozessualen Grundrechtseingriffs als staatlichen Hoheitsakt von Bedeutung sind. Eine Diskussion über Grundrechtseingriffe kann zudem nur geführt werden, wenn man sich darüber im Klaren ist, „worin“ eigentlich eingegriffen wird. Gegenstand des Grundrechtsschutzes ist das grundrechtliche Schutzgut.1 Im Hinblick auf das Schutzgut kann mit Isensee zwischen subjektiven und objektivierten Schutzgütern unterschieden werden.2 Als subjektives Schutzgut wird dabei die Selbstbestimmung des Grundrechtsträgers in einem bestimmten Sachgebiet verstanden, z.B. die Freiheit der Meinungsbildung oder Berufswahl. Hier schützt das Grundrecht nicht einen objektiven Wert, etwa eine bestimmte Religion oder Meinung, sondern die Freiheit, eine Meinung zu äußern oder eine Re___________ 1
Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr.
41. 2 Dazu und zum Folgenden Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 41.
Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
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ligion auszuüben. Objektivierte Schutzgüter sind physische oder ideelle Substanzen, die als solche geschützt sind, z.B. Leben, körperliche Unversehrtheit, Menschenwürde, Brief-, Post-, Fernmeldegeheimnis oder Wohnung. Bei subjektiven Schutzgütern ist der Grundrechtstatbestand damit zweigliedrig, muss also ein bestimmter – nicht als solcher geschützter – Wert (z.B. „Meinung“) von der Freiheit unterschieden werden, mit diesem Wert umzugehen. Bei objektivierten Schutzgütern ist demgegenüber der Schutzbereich eingliedrig: Geschützt wird also bspw. die Wohnung. Es sind aber auch Verschränkungen denkbar, nämlich indem das Schutzgut eines Grundrechts sowohl subjektiven, als auch objektiven Charakter haben kann.3 So ist etwa die Eigentumsgarantie subjektiv, soweit sie den freien Gebrauch der Sache betrifft und objektiv, soweit die Integrität eines Eigentumsobjekts bzw. die Eigentümerstellung betroffen ist. Im Folgenden wird es vorwiegend um Akte des Staates gehen, die das objektivierte Schutzgut beeinträchtigen, also um den Zugriff auf den „realen Kern eines Grundrechts“4. Dieser Zugriff ist ein charakteristisches Merkmal echter strafprozessualer Grundrechtseingriffe.
1. Abschnitt
Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Hoheitsakte Der Gang der Untersuchung wird auf dieser ersten Ebene von der StPO selbst vorgegeben. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe unterscheiden sich grundlegend danach, ob sie von den Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaft oder Polizei) vorgenommen (hierzu § 7.) oder auf deren Antrag von einem Richter angeordnet werden (§ 8). Die Ermittlungsbehörden dürfen nämlich grundsätzlich nur in Eilfällen5, teilweise gar nicht6 ohne richterliche Anordnung ___________ 3 Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 41; Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (4). 4 Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (4). Amelung (ebd., S. 5) bezeichnet das objektivierte Schutzgut auch als „Grundrechtsgut“ und versteht den Rechtsgutsbegriff damit enger als etwa Ipsen, JZ 1997, 473 (476), der als Rechtsgut den jeweiligen Grundrechtsinhalt begreift, wozu nach hier vorgenommener Differenzierung subjektive und objektive Schutzgüter zählen. 5 Exemplarisch §§ 81a Abs. 2; 81c Abs. 5 (Voraussetzung nach dem Gesetz jeweils: „Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung“); 98 Abs. 1 S. 1, Abs. 2; 100 Abs. 1 StPO (Voraussetzung nach dem Gesetz jeweils: „Gefahr im Verzug“). 6 Das betrifft z.B. Maßnahmen des „großen Lauschangriffs“: §§ 100d Abs. 1, 100c StPO; vgl. auch Art. 13 Abs. 3 S. 3 und 4 GG.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
in Grundrechte eingreifen. Nur ausnahmsweise ist ihnen ein solcher Eingriff generell ohne eine entsprechende richterliche Anordnung erlaubt.7
§ 7 Grundrechtseingriffe der Ermittlungsbehörden Zunächst werden die Grundrechtseingriffe der Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaft und strafverfolgende Polizei) mit Maßnahmen des Eingriffsverwaltungsrechts verglichen und anhand dieses Vergleichs in die Dogmatik staatlicher Handlungsformen eingeordnet.8 Der Wert eines solchen Vergleichs ergibt sich aus folgender Überlegung: Maßnahmen der Eingriffsverwaltung und strafprozessuale Grundrechtseingriffe sollen zwar nicht im engeren Sinne die gleichen Probleme lösen.9 Aber die verfassungsrechtlichen Vorgaben für beide Maßnahmentypen sind doch weitgehend vergleichbar.10 Die unterschiedliche Umsetzung dieser Vorgaben ist schon deshalb von Interesse, weil zur Erfassung von Grundrechtseingriffen der Verwaltung ein differenziertes System von Handlungsformen existiert, das genau zwischen Existenz des Eingriffs, seiner Wirksamkeit, Rechtmäßigkeit und Vollziehbarkeit unterscheidet und anhand dessen sich ein ebenso differenziertes Rechtsschutzsystem entwickelt hat. Für strafprozessuale Grundrechtseingriffe ist diese Abstraktionslage lange nicht erreicht. Hinzu kommt, dass die Zuordnung konkreter Maßnahmen zu den Rechtsgebieten und ihren speziellen Regeln sehr schwierig sein kann.11 Man denke etwa an polizeiliche Identitätsfeststellungen, Durchsuchungen, Sicherstellungen oder Beschlagnahmen.12 Es liegt also nahe, die Einordnung strafpro___________ 7 §§ 81b, 163b, 164 StPO als spezielle Eingriffsermächtigungen, §§ 161 und 163 StPO als Ermittlungsgeneralklauseln. 8 Vgl. hierzu auch Amelung, JZ 1987, 737 (743 ff.); ders., in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 ff. 9 Damit unterscheidet sich der Untersuchungsansatz von der klassischen Methode der funktionalen Rechtsvergleichung, die bei einem bestimmten Problem ansetzt und die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten vergleicht. 10 Jedenfalls insoweit, als es um Eingriffe in materielle Grundrechte geht. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben werden unter § 11 thematisiert, vgl. aber auch § 7 B.II. und III. 11 Zu dieser Abgrenzung Benfer, Rechtseingriffe von Polizei und Staatsanwaltschaft (2005), Rdnr. 16 ff.; Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts (2007), Kap. E Rdnr. 192; Würtenberger, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. II (2000), S. 416 f.; Schoch, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht (2005), 2. Kap. Rdnr. 9; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht (2005), § 2 Rdnr. 7; Gusy, Polizeirecht (2003), Rdnr. 155; BVerwGE 47, 255 (265); OVG Münster, NJW 1980, 855; VGH München, NVwZ 1986, 655. 12 Ein Beispiel: Beschlagnahmt die Polizei die Strumpfmaske eines Demonstranten (vgl. § 17a Abs. 2 Nr. 1 VersG) zu Beweiszwecken zur Verfolgung einer Straftat (§§ 29 Abs. 2 Nr. 2 VersG, 94 StPO) oder zur Beseitigung einer Störung für polizeiliche Schutzgüter (§ 17a Abs. 4 VersG)?
§ 7 Grundrechtseingriffe der Ermittlungsbehörden
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zessualer Grundrechtseingriffe in das System staatlicher Handlungsformen mit Blick auf das Eingriffsverwaltungsrecht vorzunehmen.13
A. Handlungsformen der Eingriffsverwaltung14 I. Der Verwaltungsakt
Der Zentralbegriff der verwaltungsrechtlichen (Eingriffs-)Dogmatik ist spätestens15 seit Otto Mayer der Verwaltungsakt. Nach Mayer ist ein Verwaltungsakt „ein der Verwaltung zugehöriger obrigkeitlicher Ausspruch, der dem Unterthanen gegenüber im Einzelfall bestimmt, was für ihn Rechtens sein soll“.16 Damit ist auch noch heute Gültiges gesagt,17 wie die Legaldefinition in § 35 S. 1 VwVfG18 zeigt. Sie bezeichnet als Verwaltungsakt „jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf un___________ 13 Eine Fixierung auf die Handlungsformenlehre hat zwar schon für das Verwaltungsrecht vielfältige Kritik erfahren, prägnant zusammengefasst von Bauer, Die Verwaltung 25 (1992), 301 (311 ff.). Diese Kritik ist aber nicht geeignet, die Nützlichkeit der Lehre von den Handlungsformen für diese Untersuchung in Frage zu stellen. „Innersystematische Defizite“ (dazu Bauer ebd., S. 311) bedürfen einer systemimmanenten Lösung, auch die übrigen Defizite hindern einen Vergleich nicht: Unzulängliche Einbeziehung des Bürgers (Stichwort: „informell-kooperatives“ Verwaltungshandeln) und unzulängliche Erfassung mehrseitiger Rechtsverhältnisse (dazu Bauer ebd., S. 314 f.) treffen den Untersuchungsgegenstand (Bezug zu strafprozessualen Grundrechtseingriffen) nicht. Die umfassenderen Rechtsbeziehung (dazu Bauer ebd., S. 314) sollen mit der vorliegenden Arbeit gerade erfasst werden. 14 Dargestellt werden nur die Handlungsformen Verwaltungsakt und Realakt. Die anderen Handlungsformen der Verwaltung (insbesondere Vertrag und Norm [Rechtsverordnung, Satzung]) sind für den Untersuchungsgegenstand ersichtlich nicht von Interesse. 15 Der Begriff dürfte eine Übersetzung des französischen acte administratif sein. Der deutsche Terminus findet sich in der Staatsrechtslehre schon seit dem ersten Drittel des 19. Jh. Vgl. Schmidt-De Caluwe, Der Verwaltungsakt in der Lehre Otto Mayers (1999), S. 19 f.; Schröder, Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel (2006), S. 12 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2 (1992), S. 411. Otto Mayer setzte – in den Worten Stolleis’ (ebd.) – „gewissermaßen den Schlusspunkt, sowohl sprachlich, als auch dogmatisch“. 16 Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1 (1924), S. 93. 17 Vgl. nur Ruffert, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 20 Rdnr. 2. Zur Lage vor Erlass der Verwaltungsverfahrensgesetze Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1 (1973), S. 195 ff. 18 Das VwVfG des Bundes gilt – vereinfacht gesagt – nur für die Verwaltungstätigkeit des Bundes (§ 1 VwVfG-Bund). Im Übrigen sind die Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder einschlägig, die aber kaum Abweichendes regeln. Das rechtfertigt es, künftig nur auf die Regeln des VwVfG-Bund zu verweisen.
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mittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist“. Die Funktionen dieses Rechtsinstituts sind aber heute nur teilweise die gleichen wie noch zu Zeiten Otto Mayers. –
Früher war ein maßgeblicher Zweck des Verwaltungsaktes, Rechtsschutz des Bürgers zu ermöglichen („wo kein Verwaltungsakt, da kein Rechtsschutz“).19 Diese „Rechtsschutzeröffnungsfunktion“ hat sich aber theoretisch schon unter dem Grundgesetz (Art. 19 Abs. 4 GG), praktisch allerdings erst mit Erlass der VwGO (vgl. § 40 VwGO) im Jahre 1960 erledigt.20 Seither kommt dem Verwaltungsakt lediglich „rechtsschutzorganisierende“ Funktion zu, d.h. er bestimmt die Klageart und die mit ihr verbundenen besonderen Sachentscheidungsvoraussetzungen.
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Heute steht zum einen die Funktion der Rechtssicherheit und der Konkretisierung des Rechts im Vordergrund.21 Durch den Verwaltungsakt wird das Recht im Einzelfall einseitig, verbindlich und (jedenfalls grundsätzlich) dauerhaft festgestellt.22 Er entfaltet zu diesem Zweck nach Ablauf der Anfechtungsfrist Bestandskraft.23 Damit sind sowohl Bürger als auch Verwaltung an den erlassenen Verwaltungsakt gebunden.24 Letztlich dürfte es dieses „Festzurren“ des Rechtsverhältnisses zwischen Bürger und Verwaltung sein, das den Verwaltungsakt für beide Seiten zu einem nahezu unverzichtbaren Instrument macht.
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Zum anderen ist der Verwaltungsakt Vollstreckungsgrundlage.25 Ähnlich wie ein gerichtliches Urteil dient er als Vollstreckungstitel der eingreifen-
___________ 19 Vgl. nur Bachof, VVDStRL 30 (1972), S. 193 (231); Ossenbühl, JuS 1979, 681 (683 f.). 20 Tatsächlich hat vor Erlass dieses Gesetzes das aktionenrechtliche Denken für die Verwaltungsgerichtsgesetze der Jahre 1946 ff. noch immer vorgeherrscht. Vgl. nur Bachof, VVDStRL 30 (1972), S. 193 (231 f.) m.w.N. Dieses „Missverständnis“ war auch für die Ausuferungen des Verwaltungsaktsbegriffs verantwortlich (zu diesen sogleich). Zum Verlust der Rechtsschutzfunktion ferner Schweickhardt, DÖV 1965, 759 ff., Frotscher, DÖV 1971, 259 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 9 Rdnr. 38. 21 Ruffert, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 20 Rdnr. 5; Martens, DVBl. 1968, 322 (324). 22 Wendt, JA 1980, 25 (28).; Ossenbühl, JuS 1979, 681 (683); Hennecke, Der Landkreis 1993, 451; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 9 Rdnr. 39 („fehlerunabhängige Rechtswirksamkeit“); Löwer, JuS 1980, 805 (806). 23 Die Funktion der Bestandskraft ist also Rechtssicherheit, vgl. Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, 185 (188); Merten, NJW 1983, 1993 (1994); BVerfGE 60, 253 (269 f). Damit bestehen gewisse Ähnlichkeiten zur Bindung der Parteien im gerichtlichen Verfahren durch die Rechtskraft. Zu den Unterschieden vgl. aber Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, 185 (187 f.); Merten, NJW 1983, 1993 (1995). 24 Allerdings gibt es von diesem Prinzip einige Durchbrechungen, z.B. §§ 48, 49, 51 VwVfG. 25 Ossenbühl, JuS 1979, 681 (683); Löwer, JuS 1980, 805 (806).
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den Verwaltung. Die Verwaltung besitzt damit im Gegensatz zum Bürger das Erkenntnis- und Vollstreckungsprivileg,26 was sich dadurch rechtfertigt, dass der Staat anderenfalls kaum wirkungsvoll seine Verwaltungsaufgaben erfüllen könnte.27 Als Konsequenz der Titulierungsbefugnis der Verwaltung wird der Betroffene in eine prozessuale Angriffsposition gezwungen.28 –
Im Zusammenhang mit den beiden vorgenannten Funktionen des Verwaltungsaktes erreicht die zuerst erwähnte Rechtsschutzfunktion eine noch weitergehende Dimension: Handelt der Staat durch Verwaltungsakt, kann der Betroffene als Beteiligter des Verwaltungsverfahrens erstens am Zustandekommen des Verwaltungsaktes mitwirken, beispielsweise indem er angehört wird (§ 28 VwVfG).29 Zweitens hat er die Möglichkeit des Rechtsschutzes, bevor der Staat die durch den Verwaltungsakt auferlegte Pflicht zwangsweise durchsetzt, meist durch Zugriff auf den realen Kern, also das objektivierte Schutzgut des Grundrechts30 oder in den Worten Otto Mayers durch die „behördliche Tat“31. Das Handeln mittels Verwaltungsakt führt damit in doppelter Weise zu rechtlichem Gehör des Betroffenen: zum einen im Verwaltungsverfahren selbst (§ 28 VwVfG), zum anderen im Rahmen einer behördlichen (§§ 68 ff. VwGO) bzw. gerichtlichen Überprüfung des Verwaltungsaktes. Damit wird der Betroffene gegenüber realem Verwaltungshandeln erheblich privilegiert.32 Der Verwaltungsakt hat also die im ersten Spiegelstrich beschriebene rechtsschutzverkürzende Funktion verloren, geblieben ist eine rechtsschutzerweiternde Funktion.
Die soeben nachgezeichneten Funktionen bestimmen auch die Struktur des Verwaltungsaktes und des nachfolgenden Vollstreckungsverfahrens. Otto Mayer hat den Verwaltungsakt erklärtermaßen parallel zum gerichtlichen Urteil ___________ 26
Ossenbühl, JuS 1979, 681 (683); Löwer, JuS 1980, 805 (806). Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 2 (2000), S. 14. Dieses Privileg der Verwaltung ist nach ganz h.M. verfassungsrechtlich unbedenklich, vgl. nur Erichsen/ Rauschenberg, Jura 1998, 31 (32) m.w.N. 28 Löwer, JuS 1980, 805 (806); Bauer, NVwZ 1987, 112. 29 Zum Grundrechtsschutz durch (Verwaltungs-)Verfahren grundlegend BVerfGE 52, 380 (390); 53, 30 (65); krit. aber Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (74 ff., 83 ff.). 30 Vgl. dazu vor § 7. 31 Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1 (1924), S. 96. 32 Als Privilegierung kommt dies schon bei Otto Mayer selbst zum Ausdruck, wenn er schreibt, die Verwaltung dürfe in einem Rechtsstaat nicht einfach zur Tat schreiten, sondern müsse zuvor hoheitlich-verbindlich feststellen, was im Einzelfall Rechtens sei. Vgl. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1 (1924), S. 59, 93. Dazu Martens, DVBl. 1968, 322 (323); Pietzner, VerwArch 82 (1991), 291 (292); ders., VerwArch 84 (1993), 261 (262): „Vor die Tat, den realen Zwangseingriff, setzt also der Rechtsstaat das Wort und gibt dem Bürger die Gelegenheit, den Vollstreckungszwang durch Pflichterfüllung [zu ergänzen wäre: oder durch Rechtsschutz] abzuwenden.“ 27
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konstruiert.33 Diese Parallelen sind auch unter der Geltung des VwVfG noch erkennbar: Der Verwaltungsakt stellt eine Entscheidung der Behörde dar, an deren Entstehen der Betroffene nach Maßgabe der Verwaltungsverfahrensgesetze beteiligt wird.34 Wirksamkeit gegenüber dem Betroffenen erlangt die Verfügung mit entsprechender Bekanntgabe (§ 43 VwVfG). Die Entscheidung manifestiert die materielle Rechtslage, soweit der Betroffene gegen den Verfügungssatz nicht vorgeht. Schließlich stellt der Verwaltungsakt – jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit35 – einen Vollstreckungstitel dar. Im Vollstreckungsverfahren gelten allgemeine Vollstreckungsregeln: Die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung ist von der Rechtmäßigkeit des Vollstreckungstitels, also vor allem seiner materiell-rechtlichen Richtigkeit, grundsätzlich unabhängig.36 Ein bestandskräftiger Verwaltungsakt kann demnach ungeachtet seiner Rechtswidrigkeit rechtmäßig vollstreckt werden, es sei denn, er ist nichtig.37 Mit dieser Regel soll „ausgeglichen“ werden, was zu den Funktionen des Verwaltungsaktes gesagt wurde: Er stellt eine Privilegierung gegenüber dem sofortigen, realen Handeln der Verwaltung dar, indem er dem Betroffenen Rechtswahrnehmungsmöglichkeiten in Form von Beteiligung am Verwaltungsverfahren und Rechtsschutzmöglichkeiten in Form der Anfechtbarkeit des Verwaltungsaktes eröffnet. Die soeben dargestellte Vollstreckungsregel ist die Kehrseite dieser Privilegierung und findet in ihr auch ihre Rechtfertigung.38 Die Privilegierung wird sogar noch gesteigert, indem der Betroffene in einem formalisierten Vollstreckungsverfahren Gelegenheit erhält, den Zugriff auf seine ___________ 33 Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1 (1924), S. 93 ff. Dazu Obermayer, Verwaltungsakt und innerdienstlicher Rechtsakt (1956), S. 28 f.; Schröder, Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel (2006), S. 30; Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (7 ff.); Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 2 (2000), S. 14; Bettermann, in: Gedächtnisschrift für Jellinek (1955), S. 361; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 9 Rdnr. 42. Den dogmatischen Bedenken gegen eine solche Parallelisierung soll hier nicht nachgegangen werden, vgl. dazu insbesondere Schmidt-De Caluwe, Der Verwaltungsakt in der Lehre Otto Mayers (1999), S. 232 ff. Denn im Gegensatz zur Rechtslage Anfang des 20. Jh. wird diese Struktur von den Verwaltungsverfahrensgesetzen vorausgesetzt und ist damit keine „gesetzesfreie Konstruktion“. 34 Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (7 f.), auch zum Folgenden. 35 Vgl. § 6 Abs. 1 VwVG-Bund, der als allgemeine Vollstreckungsvoraussetzung die Unanfechtbarkeit oder die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes formuliert. Nach h.M. ist eine Vollstreckung vor Bestandskraft (bei fehlender sofortiger Vollziehbarkeit) damit nicht zulässig, auch wenn der Betroffene keinen Rechtsbehelf eingelegt hat, vgl. Erichsen/Rauschenberg, Jura 1998, 31 (37) m.w.N. 36 Zur Entwicklung dieser vollstreckungsrechtlichen Regel im Zivilprozessrecht Gaul, ZZP 112 (1999), 135 (146). 37 Erichsen/Rauschenberg, Jura 1998, 31 (37); Schenke/Baumeister, NVwZ 1993, 1 (2). 38 Ähnlich Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (8), der allerdings vor allem auf die Beteiligung an der Entstehung der Vollstreckungsgrundlage abstellt.
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grundrechtlichen Schutzgüter durch Vollstreckungseingriffe zu verhindern.39 Zudem findet die Struktur des Vollstreckungsverfahrens ihre Legitimierung in nicht zu gering einzuschätzenden Effektivitäts- und Praktikabilitätsgesichtspunkten:40 Zum einen sollen die Fragen, die im Verfahren vor Erlass des Verwaltungsaktes zu prüfen waren, nicht noch einmal geprüft werden. Zum anderen ist das Vollstreckungspersonal häufig nicht in gleicher Weise zur Prüfung materieller Rechtsfragen geschult, wie der Beamte, der für den Erlass des Verwaltungsaktes zuständig ist.41 Nach der Legaldefinition des § 35 S. 1 VwVfG liegt ein Verwaltungsakt vor, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: Maßnahme einer Behörde, auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts, Einzelfall, Regelungswirkung, unmittelbare Rechtswirkungen nach außen. Im Hinblick auf den funktionellen Vergleich zu strafprozessualen Grundrechtseingriffen interessiert lediglich das Merkmal der Regelungswirkung näher. Eine Maßnahme hat dann Regelungscharakter, wenn sie nach ihrem Erklärungsgehalt darauf gerichtet ist, eine Rechtsfolge zu setzen.42 Die Rechtsfolge besteht in der Begründung, Änderung, Aufhebung oder verbindlichen Feststellung von Rechten bzw. Pflichten.43 Der Verwaltungsakt setzt damit die Erklärung des Willens voraus,44 der sich in befehlenden, gestaltenden und feststellenden Regelungsinhalten zeigt. Der befehlende Verwaltungsakt ist der „klassische“ Anwendungsfall der Eingriffsverwaltung, nur er ist vollstreckungsfähig und -bedürftig. Mit ihm korrespondiert auch der „klassische Grundrechtseingriff“, der nicht nur die Rechtsförmigkeit, sondern ___________ 39 Dazu i.E. Pietzner, VerwArch 84 (1993), 261 ff.; vgl. auch Schenke/Baumeister, NVwZ 1993, 1 (6 ff.). Wo dies nicht Fall ist – nämlich in Eilsituationen – findet das wiederum seine besondere Rechtfertigung im öffentlichen Interesse, besonders dringliche Gefahren eben besonders schnell abzuwehren. Vgl. Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (9); Pietzner, VerwArch 82 (1991), 291 (292). Das reicht von der Entbehrlichkeit besonderer vollstreckungsrechtlicher Formalien (Androhung, vgl. § 13 Abs. 1 S. 1 VwVG-Bund) bis hin zur Entbehrlichkeit eines zu vollstreckenden Verwaltungsaktes überhaupt, sog. Sofortvollzug (vgl. etwa § 6 Abs. 2 VwVG-Bund) bzw. unmittelbare Ausführung einiger Länderpolizeigesetze (z.B. § 6 SächsPolG). 40 Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (8); vgl. auch Schenke/Baumeister, NVwZ 1993, 1 (2). 41 Allerdings ist einzuräumen, dass dieser Aspekt jedenfalls für das Polizeirecht (dessen Maßnahmen denen des Strafverfahrensrechts noch am ähnlichsten sind) häufig nicht maßgeblich ist. Im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht, insbesondere bei den sog. polizeilichen Standardmaßnahmen, ist der Beamte, der den Verwaltungsakt erlässt, häufig auch der, der ihn vollstreckt. 42 Ruffert, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 20 Rdnr. 24; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 9 Rdnr. 6; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 2 (2000), S. 31 f. 43 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 9 Rdnr. 6; Rasch, DVBl. 1992, 207 (208). 44 Ruffert, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 12 Rdnr. 15 m.w.N.
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eben auch Imperativität („Befehls- und Zwangsgewalt“) voraussetzt.45 Dem Betroffenen wird dabei eine Pflicht auferlegt; das Befolgen dieser Pflicht kann im Vollstreckungsverfahren erzwungen werden bzw. nimmt die Verwaltung eine entsprechende Handlung selbst vor.
II. Der Realakt (tatsächliches Verwaltungshandeln)
Keine Regelungswirkung – weil nicht auf das Bewirken einer Rechtsfolge gerichtet – entfalten nach dem soeben Ausgeführten rein tatsächliche Verwaltungshandlungen, sog. Realakte.46 Die Abgrenzung zwischen realem Verwaltungshandeln und dem Handeln durch Verwaltungsakt erfolgt ausschließlich über das Merkmal der Regelungswirkung, nicht etwa über den Eingriffscharakter einer Maßnahme.47 Realakte sind damit bspw. das Festhalten oder das Durchsuchen einer Person. Vor allem im Gefahrenabwehr- oder Verwaltungsvollstreckungsrecht wird dieses Ergebnis teilweise dadurch umgangen, dass behördlichen Tathandlungen Regelungscharakter über den Umweg eines (konkludenten) Duldungsbefehls zugesprochen wird.48 Vollzieht ein Beamter nicht einen Verwaltungsakt, sondern wendet schlicht das Gesetz an, soll nach dieser Auffassung der entsprechenden realen Maßnahme gleichzeitig die Erklärung beigemessen werden, der Betroffene habe die Maßnahme zu dulden. Diese Erklärung soll regelnden Charakter haben. Die Auffassung überzeugt aber weder dogmatisch, noch besteht für eine solche Konstruktion überhaupt ein Bedürfnis. Historisch steht dahinter, dass Rechtsschutz bis zum Erlass der VwGO nur gegen Verwaltungsakte gewährt wurde. Der Verwaltungsakt hat aber – wie gezeigt – eine solche rechtsschutzbegrenzende Funktion nicht mehr. Dogmatisch leuchtet an der Konstruktion zunächst nicht ein, dass sie die Anwesenheit (und Aufnahmefähigkeit) des Betroffenen voraussetzt, da die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes stets die ___________ 45
Ausführlicher § 10 A.I. Auch als schlichtes oder tatsächliches Verwaltungshandeln bezeichnet. Zu terminologischen Fragen vgl. Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln (1995), S. 17 ff. 47 A.A. BayVGH, NVwZ 1988, 1055; Erfmeyer, DÖV 1999, 719 (723). Zu den Gründen dieser Überdehnung des Verwaltungsaktsbegriffs sogleich im Text. 48 So etwa BVerwGE 26, 161 (164); BayVGH, NVwZ 1988, 1055; VG Frankfurt, NJW 1981, 2372; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1 (1973), S. 199; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 2 (2000), S. 32; Rasch, DVBl. 1992, 207 (210 f.); Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (2005), Rdnr. 115 f; Remmert, Jura 2007, 736 (738); ähnlich Erfmeyer, DÖV 1999, 719 (723). Damit soll aber nicht gesagt werden, dass polizeiliche Standardmaßnahmen (z.B. der Platzverweis) nicht auch Verwaltungsakte sein können; vgl. Lambiris, Klassische Standardbefugnisse im Polizeirecht (2002), S. 118 ff. 46
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Bekanntgabe bedingt (§ 43 VwVfG).49 Es mag im Übrigen zutreffen, dass entsprechende Realakte aus Verhältnismäßigkeitsgründen von Befehlen, also Verwaltungsakten, begleitet sein werden (und müssen).50 So wird der Durchsuchung eines Kofferraums die Aufforderung an den Betroffenen vorausgehen (müssen), den Kofferraum zu öffnen. Allerdings ist ein solcher Befehl vollstreckungsrechtlich nicht mit der realen Durchsuchungshandlung verknüpft. Denn als Vollstreckung einer solchen Anweisung stellte sich allenfalls das gewaltsame Öffnen des Kofferraums, nicht aber die Durchsuchung selbst dar.51 Das von den Befürwortern einer Duldungsanordnung beschworene Postulat der „Vorherigkeit sprachlicher vor tatsächlicher Gewalt“ hat also nichts mit der Regelungswirkung der Maßnahme, sondern mit ihrer Verhältnismäßigkeit zu tun.52 Auch das Argument, es bedürfe – da Realakte ihrer Natur nach nicht vollstreckbar seien – zumindest dann eines Duldungsbefehls, wenn der Betroffene mit der Maßnahme nicht einverstanden sei,53 überzeugt nicht. Dahinter steht zwar der zutreffende Gedanke, dass eine entsprechende Maßnahme nur dann rechtmäßig ist, wenn der Betroffene sie dulden muss. Immerhin ist es ein schützenswertes und nachvollziehbares Interesse der handelnden Beamten, nicht dem Widerstand des Betroffenen ausgesetzt zu sein. Allerdings ergibt sich die Duldungspflicht nicht erst aus einer fiktiven Begleitverfügung, sondern bereits aus dem Gesetz selbst.54 Der Einwand, dass damit „wichtige vollstreckungsrechtliche Folgen, die der Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips dienen, ohne einen hierfür ersichtlichen Grund umgangen“ würden,55 überzeugt nicht. Denn dass der Betroffene über den Verlauf der Maßnahme informiert werden bzw. vor Anwendung von Zwang z.B. eine Androhung erfolgen muss, ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (dem Übermaßverbot) selbst. Es ist nach alldem nicht notwendig, gewissermaßen als „Scharnier“ zwischen Gesetz und Realakt einen Verwaltungsakt zu fingieren, als dessen Vollzug man den Realakt ansieht. ___________ 49 Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr (1985), S. 217; Pietzner, VerwArch 84 (1993), 261 (265); Erichsen/Rauschenberg, Jura 1998, 31 (42); Finger, JuS 2005, 116 (118) m.w.N. Die Gegenauffassung begnügt sich mit der (weiteren) Hilfskonstruktion des „adressatenlosen Verwaltungsakts“ oder damit, ausnahmsweise doch von einem Realakt auszugehen (vgl. dazu Finger ebd.). 50 So zu Recht Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts (2007), Kap. F Rdnr. 53. 51 Anders ist die Lage nur ausnahmsweise, z.B. beim Aufenthaltsverbot, Platzverweis oder der Vorladung, vgl. Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts (2007), Kap. F Rdnr. 54. 52 Anders aber wohl Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (2005), Rdnr. 116. 53 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (2005), Rdnr. 116. 54 Renck, JuS 1970, 113 (114); Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (12 f.). 55 So Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (2005), Rdnr. 116 m. Fn. 205.
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Der Umgang mit realem Verwaltungshandeln wird dadurch erschwert, dass es dogmatisch wenig durchdrungen erscheint. Das liegt vor allem daran, dass der Begriff des Realaktes als Sammelbezeichnung und „Auffangkategorie“ für verschiedenes nichtregelndes Verwaltungshandeln benutzt wird.56 Von Robbers57 stammt der Vorschlag, die Strukturierung schlichten Verwaltungshandelns in Anlehnung an die Verwaltungsaktsdogmatik am Merkmal der Regelung festzumachen. Er unterscheidet dabei zwischen regelungsvorbereitenden, regelungsersetzenden, regelungsvermeidenden, regelungsausführenden und aufgabengeprägten (d.h. nicht regelungsbezogenen) Handlungen. Allerdings ist mit dieser Einordnung für den hiesigen Untersuchungsgegenstand nichts gewonnen. Wenn etwa in die Kategorie der regelungsausführenden Realakte die Verwaltungsvollstreckung eingeordnet wird,58 ist das zwar zutreffend. Ein Erkenntnisgewinn ist damit aber nicht verbunden. Hier soll demgegenüber lediglich unterschieden werden zwischen gesetzesakzessorischen (also den eine gesetzliche Vorschrift konkretisierenden) Realakten und solchen, die nicht gesetzesakzessorisch sind. Für den für diese Untersuchung nur interessierenden Bereich der Grundrechtseingriffe ist – wegen des Vorbehalts des Gesetzes59 – lediglich der erstgenannte Bereich von Bedeutung. Und für diesen gilt die schlichte Feststellung, dass ein Realakt rechtswidrig ist, soweit er nicht die Eingriffsvoraussetzungen erfüllt, die das Gesetz formuliert, oder Ermessensfehler vorliegen.60 Und das gilt unabhängig von einem Bezug zu einer Regelung: So ist der Vollstreckungsakt rechtswidrig, wenn die (allgemeinen oder besonderen) gesetzlichen Vollstreckungsvoraussetzungen nicht vorliegen; die polizeiliche Standardmaßnahme ist rechtswidrig, wenn deren Tatbestandsvoraussetzungen nicht gegeben sind oder die Polizei ermessensfehlerhaft gehandelt hat. Fehlerfolge des rechtswidrigen Realaktes ist das Entstehen eines Gegenrechts, des öffentlich-rechtlichen Abwehranspruchs (Folgenbeseitigungsanspruch, Unterlassungsanspruch).61
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Zu dieser misslichen Situation Bauer, Die Verwaltung 25 (1992), 301 (312); Robbers, DÖV 1987, 272. 57 DÖV 1987, 272 (274 ff.); ebenso Rasch, DVBl. 1992, 207 (208). 58 Robbers, DÖV 1987, 272 (279). 59 Dazu im Einzelnen unter § 11 A. 60 Vgl. für polizeiliche Standardmaßnahmen etwa Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr (1985), S. 217. Vgl. wegen weiterer Anforderungen insbesondere an das Verfahren Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren (2002), Rdnr. 481 ff. Zu den Folgen der Rechtswidrigkeit für den handelnden Beamten (Verlust des Schutzes des § 113 StGB, Notwehrrecht des Betroffenen nach § 32 StGB) §§ 15 und 16. 61 Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren (2002), Rdnr. 484 ff.; Di Fabio, in: Becker-Schwarze (Hrsg.): Wandel der Handlungsformen im öffentlichen Recht (1991), S. 47 (54).
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B. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe im System staatlicher Handlungsformen I. Der Realakt als Handlungsform der Strafverfolgungsbehörden
Bisweilen sind strafprozessuale Grundrechtseingriffe schlicht als Verwaltungsakte bezeichnet worden.62 Das trifft aber in aller Regel nicht zu. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe haben keine Regelungswirkung.63 Sie funktionieren gerade nicht in der Kommunikationsform des „Befehls“. Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen lassen vielmehr den direkten Zugriff auf die objektivierten Schutzgüter materieller Grundrechte zu. Das erklärt sich vor allem daraus, dass strafprozessuale Grundrechtseingriffe nur dann erfolgreich sein können, wenn sie für den Betroffenen unangekündigt erfolgen.64 Es gilt das schon oben65 Gesagte: Das Ziel der Beweissicherung würde bspw. nicht erreicht werden, würden die Ermittlungsbehörden vor einer Haussuchung einen Verwaltungsakt an den Beschuldigten richten. Andererseits wäre es mit der herrschenden Interpretation des Grundsatzes nemo tenetur se ipsum accusare nicht vereinbar, dem Beschuldigten mittels Verfügung die Pflicht aufzuerlegen, zur Sachverhaltserforschung dieses oder jenes zu tun.66 Dass die Figur der „konkludenten Duldungsanordnung“ nicht geeignet ist, die Verfügungsqualität strafprozessualer Grundrechtseingriffe zu begründen, ist schon gezeigt worden.67 Viele strafprozessuale Eingriffsermächtigungen sind darüber hinaus überhaupt nicht auf zu duldenden Zwang, sondern gerade auf das Vorgehen ohne jeglichen Kontakt zum Betroffenen bzw. ohne sein Wissen ausgerichtet. Die staatsanwaltschaftliche Anordnung kann – ungeachtet der schon beschriebenen dogmatischen Bedenken – dem Betroffenen gegenüber ___________ 62 Etwa von Gössel, JuS 1979, 162 (163); Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung (1980), S. 70 ff. 63 Eine Ausnahme stellt bspw. das vorläufige Berufsverbot nach § 132a StPO dar, ein unechter strafprozessualer Grundrechtseingriff. Dabei handelt es sich um einen richterlichen Befehl an den Beschuldigten, die Ausübung seines Berufs zu unterlassen. 64 Vgl. Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (7). 65 § 3. 66 Die h.M. unterscheidet insoweit zwischen aktivem Tun (mit dem Nemo-teneturGrundsatz unvereinbar) und passivem Dulden (mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz vereinbar), vgl. nur Rogall, in: SK-StPO (1995), vor § 133 Rdnr. 141 und 143. Eine Gegenansicht stützt den Nemo-tenetur-Grundsatz jedoch auf Art. 103 Abs. 1 GG, so dass einer solchen Unterscheidung die Grundlage entzogen und damit ein Verstoß gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz nicht zwangsläufige Folge etwa einer Präsentationspflicht von Beweismaterial ist, vgl. Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 166 ff., 438. 67 s.o. § 7 A.II. A.A. aber Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung (1980), S. 70.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
auch schon deshalb keine Duldungspflichten auferlegen, weil sie ihm nicht bekannt gegeben wird.68 § 35 StPO gilt nur für gerichtliche Entscheidungen, nicht für staatsanwaltschaftliche Anordnungen.69 Die Duldungspflicht ergibt sich auch hier aus dem Gesetz selbst. Wenn dennoch eine grundsätzliche Pflicht zur Bekanntgabe postuliert wird,70 hat das seine Grundlage nicht in der Begründung der Wirksamkeit als Rechtsakt, sondern darin, dass die Bekanntgabe den Schaden für den Betroffenen begrenzen (Übermaßverbot) und ihm Unterstützung beim Rechtsschutz geben kann.71 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe der Strafverfolgungsbehörden sind damit Realakte. Dass diese – wie häufig auch gefahrenabwehrrechtliche bzw. vollstreckungsrechtliche – Realakte direkt auf das objektivierte grundrechtliche Schutzgut zugreifen, dem Betroffenen also die „Privilegierung“ einer anfechtbaren Behördenentscheidung nicht zugute kommt, ist zunächst im Hinblick auf die Anforderungen des Übermaßverbots zu berücksichtigen.72 Zudem ist dieser Direktzugriff mit einem Mitwirkungs- und Rechtsschutzdefizit verbunden. Dieses Defizit wird in zweifacher Weise ausgeglichen: Zum einen ist es ein Grund zur Einschaltung des Ermittlungsrichters (präventiver Rechtsschutz), zum anderen wird Ausgleich in der Möglichkeit von Rechtsschutz gegen erledigte Akte geschaffen.73 Die Beurteilung strafprozessualer Grundrechtseingriffe der Ermittlungsbehörden unterscheidet sich nicht grundlegend von der Beurteilung von Realakten im Verwaltungsrecht: Erfüllt die Maßnahme nicht die Eingriffsvoraussetzungen, die der Tatbestand der strafprozessualen Eingriffsermächtigung formuliert, oder enthält sie auf der Rechtsfolgenseite Ermessensfehler, ist sie rechtswidrig. Zwei Teilbereiche sind von besonderem Interesse, zum einen der Umgang mit unbestimmten Rechtsbegriffen im Tatbestand strafprozessualer Eingriffsermächtigungen (hierzu unter II.), zum anderen die Frage, inwieweit die Ermes-
___________ 68
Anders Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung (1980), S. 70, die aber das Problem der (Nicht-)Bekanntgabe übersieht. 69 Graalmann-Scheerer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (26. Aufl. 2006), § 35 Rdnr. 18. Vgl. auch die amtliche Überschrift des vierten Abschnitts. 70 Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (17 ff.). 71 Genau genommen handelt es sich hier nicht um die „Bekanntgabe“ im Sinne des ansonsten gebrauchten terminus technicus, sondern um die Pflicht der Strafverfolgungsbehörden, dem Betroffenen einverständliches Handeln zu ermöglichen, um seine Rechtsgüter zu schonen. Vgl. hierzu § 11 D.II.2.b). Zu den Konsequenzen für den Rechtsschutz vgl. § 13 D. 72 Hierzu § 11 D. 73 Zum Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe s. §§ 13 und 14, zum Richtervorbehalt sogleich § 8.
§ 7 Grundrechtseingriffe der Ermittlungsbehörden
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sensfehlerlehre des Verwaltungsrechts auf strafprozessuale Grundrechtseingriffe übertragen werden kann (unter III.).74
II. Unbestimmte Rechtsbegriffe im Tatbestand strafprozessualer Eingriffsermächtigungen
Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen enthalten durchweg unbestimmte Rechtsbegriffe, wie z.B. „Verdacht“75, „tatsächliche Anhaltspunkte“, „Gefahr im Verzug“, „Straftat von erheblicher Bedeutung“, „Bedeutung als Beweismittel“, „anderweitige Ermittlung aussichtslos oder wesentlich erschwert“. Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe fordert stets die Frage nach der gerichtlichen Kontrolldichte heraus: Ist das Gebrauchmachen von der Ermächtigung gerichtlich voll überprüfbar oder verbleiben den Strafverfolgungsbehörden Beurteilungsspielräume? Relevant ist die Frage nach der Kontrolldichte sowohl für den „Nebenprozess“ des selbständigen Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe76 als auch für das Hauptverfahren selbst.77 Strafprozessuale Rechtsprechung und Schrifttum haben das Problem lange Zeit nicht recht erkannt: Traditionell hat sich das Reichsgericht etwa lapidar auf den Standpunkt gestellt, die Annahme von „Gefahr im Verzug“ falle nicht in den Bereich richterlicher Überprüfung.78 Der BGH ist dem gefolgt.79 Im Verwaltungsrecht ist die Diskussion um die gerichtliche Kontrolldichte der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe ungleich intensiver geführt worden. Ein Blick auf jene Diskussion lohnt umso mehr, als die Argumente für die Lückenlosigkeit richterlicher Kontrolle durchweg verfassungsrechtlicher Natur sind. Diesen Argumenten kann sich auch die strafverfahrensrechtliche Dogmatik nicht verschließen. Dieser Appell erscheint umso dringlicher, als der BGH das Problem noch 1995 zugunsten eines Beurteilungsspielraums „gelöst“ hat, ohne von der Parallelproblematik im Verwaltungs- bzw. Verfassungsrecht überhaupt Notiz genommen zu haben.80 ___________ 74
Dass diese Fragen zu trennen sind, erscheint heute selbstverständlich, ist aber nicht immer in dieser Weise gesehen worden; siehe nur § 7 in Fn. 79. 75 Zumeist als Bestandteil der Definition des Beschuldigten, vgl. nur BGHSt 10, 8 (12). Denn dass eine Person als Beschuldigte anzusehen ist, setzt einen Verdacht gegen sie voraus. 76 Hierzu unter §§ 13 und 14. 77 Zur Relevanz der materiellen, aber auch der formellen Eingriffsvoraussetzungen (insbesondere der Anordnungskompetenz bei Gefahr im Verzug) siehe § 12. 78 RGSt 23, 334. 79 BGH (Zivilsenat), JZ 1962, 609 (610): Die Entscheidung über das Vorliegen von Gefahr im Verzug liege im pflichtgemäßen Ermessen des Handelnden. 80 BGHSt 41, 30 (Leitsatz und 33 f.).
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
In verwaltungs- bzw. verfassungsrechtlicher Rechtsprechung und Literatur herrscht inzwischen die Sicht vor, dass den Behörden ein Beurteilungsspielraum für die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe grundsätzlich nicht zusteht.81 Das BVerfG will einen Beurteilungsspielraum (nur) dann anerkennen, wenn „unbestimmte Rechtsbegriffe […] wegen hoher Komplexität oder besonderer Dynamik der geregelten Materie so vage [sind] und ihrer Konkretisierung im Nachvollzug der Verwaltungsentscheidung so schwierig [ist], daß die gerichtliche Kontrolle an die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung stößt.“82 Diese äußerst restriktive Anerkennung eines Beurteilungsspielraums ist vor allem in dem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG begründet. Denn dieses Recht garantiert nicht nur den Zugang zu den Gerichten, sondern auch die Wirksamkeit des Rechtsschutzes.83 Hieraus folgt auch die Verpflichtung, die angegriffenen Akte vollständig nachzuprüfen, was eine Bindung an die im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen und Wertungen im Grundsatz ausschließt.84 Diese Verpflichtung kann nur insoweit gelockert sein, als eine Überprüfung im Hinblick auf die besondere Entscheidungssituation oder die besondere Sachmaterie nicht (oder nicht in vollem Umfang) möglich ist, d.h. auf sachlich und damit auch rechtlich unüberwindbare Grenzen stößt.85 Das BVerfG legt weiter mit Blick auf die betroffenen Grundrechtspositionen die an die Einräumung eines Beurteilungsspielraums zu stellenden Anforderungen umso höher, je intensiver der mit der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe einhergehende Grundrechtseingriff ist.86 Teilweise wird dieses Ergebnis durch die Annahme relativiert, ein Beurteilungsspielraum komme (ausnahmsweise) dann in Betracht, wenn die betreffende Vorschrift die Behörde zu einer eigenen Beurteilung ermächtige (sog. normative Ermächtigungslehre).87 Allerdings lassen sich den Gesetzen kaum eindeutige Aussagen entnehmen, ob den Behörden ein Beurteilungsspielraum eingeräumt sein soll oder nicht, so dass die Anwendung dieser Auffassung mit er___________ 81
Aus der verfassungsgerichtlichen Rspr. BVerfGE 88, 40 (56 f.); 84, 34 (49 ff.); 84, 59 (77); aus der Literatur Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 8 Rdnr. 358; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 7 Rdnr. 62; jeweils m.w.N. auch zur Entwicklung des Meinungsstandes. 82 BVerfGE 84, 34 (50). 83 BVerfGE 35, 382 (401 f.); im Zusammenhang mit unbestimmten Rechtsbegriffen BVerfGE 84, 34 (49) – st. Rspr.; ferner Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Art. 19 Rdnr. 62 m.w.N.; siehe ferner § 13 A. 84 BVerfGE 84, 34 (49). 85 Treffend Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 7 Rdnr. 62. 86 BVerfGE 83, 130 (148); 84, 34 (54 f.); 84, 59 (79); 88, 40 (59); kritisch hierzu aber wegen angeblichen Verlusts an Rechtssicherheit Redeker, NVwZ 1992, 305 (309). 87 Kopp/Ramsauer, VwVfG (2005), § 40 Rdnr. 72 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, GG (2003), Art. 19 IV Rdnr. 185 ff.; BVerwGE 100, 221 (225).
§ 7 Grundrechtseingriffe der Ermittlungsbehörden
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heblichen Unsicherheiten verbunden ist.88 Zudem reicht die Einräumung eines Beurteilungsspielraums durch den Gesetzgeber allein nicht aus, um die Kontrolldichte einer gerichtlichen Nachprüfung zu reduzieren. Vor dem Hintergrund der Verfassungsgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, die nicht unter Gesetzesvorbehalt steht, ist dies nur soweit zulässig, als damit sachbedingte Ausnahmegründe aufgenommen und geregelt werden.89 Mit der normativen Ermächtigungslehre ist damit nichts gewonnen; zu folgen ist der restriktiven Auffassung des BVerfG. Auch für unbestimmte Rechtsbegriffe in präventivpolizeilichen Eingriffsermächtigungen (Stichwort „Gefahr“) wird ein Beurteilungsspielraum von der herrschenden Auffassung nicht anerkannt.90 Damit wird nicht verkannt, dass zur Ausfüllung des Gefahrenbegriffs prognostische Urteile zu fällen sind. Das bedeutet aber – insbesondere im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG – nicht, dass die gerichtliche Kontrolle hinter den rechtlichen Bindungen der Verwaltung zurückbliebe.91 Denn prognostische Elemente sind letztlich (nur) Teil der Unbestimmtheit von Rechtsbegriffen. Die Rechtsprechung stößt insoweit auch nicht an ihre Funktionsgrenzen. Sie hat aber auf die besonderen faktischen Bedingungen polizeilichen Handelns Bedacht zu nehmen und darf nicht etwa eine nachträgliche Einschätzung der Lage an die Stelle der Einschätzung ex ante setzen. Das Gericht muss vielmehr die Entscheidung des Beamten in der konkreten Situation nachvollziehen.92 Vor diesem dogmatischen Hintergrund lässt sich ein Beurteilungsspielraum für die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe in den strafprozessualen Eingriffsermächtigungen nicht begründen. Auch hier beanspruchen die Argumente Geltung, die aus verfassungsrechtlicher Sicht gegen den Beurteilungsspielraum von Verwaltungsbehörden vom BVerfG ins Feld geführt worden sind: Art. 19 Abs. 4 GG gilt auch für Grundrechtseingriffe der Strafverfolgungsbehörden,93 der Aspekt der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung94 spricht bei straf___________ 88
So auch Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 8 Rdnr. 358. Treffend Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 7 Rdnr. 62. 90 Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (2005), Rdnr. 51; Rachor, in: Lisken/ Denninger, Handbuch des Polizeirechts (2007), Kap. F Rdnr. 150; ausführlich Lingemann, Die Gefahrenprognose als Basis eines polizeilichen Beurteilungsspielraums? (1985), S. 58 ff. (zusammenfassend S. 123 f.); weniger strikt aber Drews/Wacke/Vogel/ Martens, Gefahrenabwehr (1986), S. 266. 91 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (2005), Rdnr. 51. 92 Vgl. BVerfGE 103, 142 (159) bereits zur gerichtlichen Überprüfung der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe in strafprozessualen Eingriffsermächtigungen. 93 Zur Frage, inwieweit Art. 19 Abs. 4 GG auch den Rechtsschutz gegen richterliche Anordnungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe betrifft, unten § 13 B. Ausführlich hierzu und differenzierend Störmer, ZStW 108 (1996), 494 (500 ff.). 94 Siehe oben Fn. 86. 89
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prozessualen Grundrechtseingriffen regelmäßig erst recht gegen die Anerkennung eines Beurteilungsspielraums.95 Für das Tatbestandsmerkmal des Tatverdachts spricht sich der BGH allerdings noch in einer jüngeren Entscheidung für einen Beurteilungsspielraum aus.96 Nach seiner Auffassung soll namentlich bei der Anordnung einer Telefonüberwachung (§ 100a StPO) für die Frage, ob ein auf bestimmte Tatsachen gestützter Tatverdacht gegeben ist und der Subsidiaritätsgrundsatz der Anordnung nicht entgegensteht, ein Beurteilungsspielraum anzuerkennen sein. Der BGH sichert seine Auffassung aber kaum – v.a. nicht unter Rückgriff auf die zahlreiche verwaltungs- und verfassungsrechtliche Literatur und Rechtsprechung zum Beurteilungsspielraum – argumentativ ab, sondern beruft sich auf eine Entscheidung eines Vorprüfungsausschusses des BVerfG aus dem Jahr 1983.97 Auch diese Entscheidung bleibt aber eine Begründung schuldig und betrifft darüber hinaus den Anfangsverdacht des § 152 Abs. 2 StPO („zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“), der in eine andere Interessenlage eingebettet ist. Es ist nämlich ein Unterschied, ob eine bestimmte Sachlage zum Anlass genommen wird, ein Ermittlungsverfahren zur Verdachtsklärung einzuleiten oder ob sie die Grundlage für einen konkreten Ermittlungseingriff geben soll. Denn das Ermittlungsverfahren (um dessen Eröffnung es bei § 152 Abs. 2 StPO geht) ist selbst gerade darauf angelegt, zu überprüfen, ob sich der Verdacht, der seine Eröffnung legitimiert, bestätigt. Es mag deshalb ein geringeres Interesse bestehen, die Entscheidung über die Eröffnung des Ermittlungsverfahrens einer eigenständigen gerichtlichen Überprüfung zuzuführen.98 Die Entscheidung des Vorprüfungsausschusses, soweit man sie nicht ohnehin durch die spätere Senatsrechtsprechung des BVerfG zu Beurteilungsspielräumen als überholt betrachten muss, ist deshalb von vornherein nicht auf strafprozessuale Eingriffsermächtigungen übertragbar; denn für diese stellt sich die Frage der Überprü___________ 95 Anders als Schmidt, NJ 2008, 390 (391 f.), meint, ist auch nicht ersichtlich, weshalb aus der materiell-rechtsprechenden Tätigkeit des Ermittlungsrichters und einer Stellung der Staatsanwaltschaft „zwischen Exekutive und Judikative“ folgen sollte, dass die „verwaltungsrechtliche Diskussion über Beurteilungsspielräume“ nicht auf das Strafprozessrecht übertragen werden könnte. Diese Argumentation übersieht, dass es sich nicht um verwaltungsrechtliche, sondern um verfassungsrechtliche Gründe gegen Beurteilungsspielräume handelt. 96 BGHSt 41, 30 (Leitsatz und v.a. 33 f.); ebenso und m.w.N. aus der Rechtsprechung Schmidt, NJ 2008, 390 (391 ff.) aus Sicht des Tatrichters. 97 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), NJW 1984, 1451 (1452). 98 Hiermit soll allerdings nicht gesagt werden, dass den Strafverfolgungsbehörden bei der Anwendung des § 152 Abs. 2 StPO ein Beurteilungsspielraum zuzuerkennen wäre, sondern nur, dass eine etwaige Anerkennung keine taugliche Grundlage für die Beurteilung der Rechtslage bei strafprozessualen Eingriffsermächtigungen sein kann. Gegen einen Beurteilungsspielraum etwa Störmer, ZStW 108 (1996), 494 (512 ff.).
§ 7 Grundrechtseingriffe der Ermittlungsbehörden
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fung des Eingriffs in einem (im Vergleich zum eigentlichen Strafverfahren) „Nebenprozess“ aus Gründen wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG).99 Mustergültig hat das BVerfG diese Problemlage in seiner bahnbrechenden Entscheidung zur Ausnahmekompetenz der Strafverfolgungsbehörde für Durchsuchungen von Wohnungen bei Gefahr im Verzug aufgearbeitet.100 Das BVerfG lehnt mit durchweg überzeugender Argumentation und unter Verweis auf Art. 19 Abs. 4 GG einen Beurteilungsspielraum der Strafverfolgungsbehörden ab. Auch die besonderen faktischen Bedingungen polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Handelns sollen nicht zu einer Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle führen.101 Allerdings sei bei der gerichtlichen Kontrolle auf jene Besonderheiten Bedacht zu nehmen. Der Richter dürfe insbesondere seine – ohne zeitlichen Druck und unter Berücksichtigung der weiteren Entwicklung gewonnene – nachträgliche Einschätzung der Lage nicht an die Stelle der Einschätzung der Beamten setzen. Insbesondere sei auf die konkreten Bedingungen der Entscheidungen und den zur Prüfung der Lage zur Verfügung stehenden zeitlichen Rahmen zu achten. Ausgangspunkt der Prüfung ist also – wie für den präventiv-polizeilichen Gefahrenbegriff – die Beurteilung ex ante: „Beruht die Entscheidung auf den einschlägigen Tatsachen und ist sie nach der Sachlage, wie sie sich den handelnden Amtsträgern darstellte, nahe liegend oder jedenfalls plausibel, so darf der Richter sie bei seiner Entscheidung als zutreffend zu Grunde legen, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass die getroffene Einschätzung mit der eines sachkundigen und pflichtgemäß handelnden Strafverfolgungsbeamten nicht in Einklang zu bringen ist.“102 Dem ist nichts hinzuzufügen. Ein Beurteilungsspielraum für die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe in strafprozessualen Eingriffsermächtigungen (insbesondere „Verdacht“, „Gefahr im Verzug“) besteht damit nicht.103
___________ 99 Siehe § 6 B.: Grundrechtsschutz im Verfahren, nicht Grundrechtsschutz durch Verfahren. 100 BVerfGE 103, 142 (155 ff.). 101 BVerfGE 103, 142 (159); ebenso BVerfG (Kammer), NJW 2002, 1333 f. 102 BVerfGE 103, 142 (159). 103 Im Ergebnis ebenso Kühne, Strafprozessrecht (2007), Rdnr. 340; Bernsmann, NStZ 1995, 512; ausführlich Schulz, Normiertes Misstrauen (2001), S. 620 ff.; Störmer, ZStW 108 (1996), 494 (512 ff.); ders., StV 1995, 653 (655 ff.); Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung (1980), S. 108 ff.; Bach, Jura 2007, 12 (14 f.); Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), vor § 94 Rdnr. 127 für „Gefahr im Verzug“; wohl auch Krehl, JR 2001, 491 (493); a.A. hingegen Lohner, Der Tatverdacht im Ermittlungsverfahren (1994), S. 50; Beulke, Strafprozessrecht (2006), Rdnr. 311; ders., in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 3 (25. Aufl. 2001), § 152 Rdnr. 28; Schmidt, NJ 2008, 390 (391 f.); für Subsidiaritätsklauseln Zöller, StraFo 2008, 15 (19 f.).
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt III. Ermessensfehler
Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen sind Ermessensvorschriften.104 Denn die Verfolgung einer Straftat (das „Ob“) obliegt zwar unter der Ägide des Legalitätsprinzips nicht dem Ermessen der Strafverfolgungsbehörden, aber die Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens (das „Wie“) ist doch von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten beherrscht.105 Die Zweckmäßigkeit des Vorgehens ist gerichtlich grundsätzlich nicht überprüfbar. Unabhängig davon, dass das Strafverfahrensrecht keine Vorschrift kennt, die nach dem Vorbild des § 40 VwVfG die rechtlichen Grenzen des Ermessens zum Gegenstand hat,106 können die Strafverfolgungsbehörden in ihrem Entschließungsermessen aber nicht völlig frei sein, sondern unterliegen rechtlichen Bindungen. Diese ergeben sich vor allem aus dem Rechtsstaatsprinzip, das „freies Ermessen“ von Exekutivorganen ausschließt.107 Eine Eingriffsermächtigung muss den Grundrechtseingriff für den Betroffenen vorhersehbar und berechenbar erscheinen lassen.108 Dabei darf das Gesetz die Entscheidung über die Grenzen der Freiheit des Bürgers nicht einseitig in das Ermessen der Verwaltung legen.109 In diesem Sinne sind die Eingriffsermächtigungen der StPO auszulegen. Die StPO ermächtigt danach also nicht zu freier Ermessensausübung, sondern eröffnet nur rechtlich gebundenes Ermessen. Es liegt zunächst nahe, die rechtlichen Grenzen des Ermessens der Strafverfolgungsbehörden an der für das Verwaltungsrecht entwickelten Ermessensfehlerlehre anzulehnen.110 Diese unterscheidet in der Sache – allerdings meist ohne es offen zu legen111 – zwischen Fehlern, die sich im Ergebnis der Ermessensausübung zeigen (Ergebnisfehler) und Fehlern, die dem Vorgang der Ermessensbetätigung anhaften (Vorgangsfehler).112 Ein Fehler im Ergebnis der ___________ 104
Vgl. Fincke, ZStW 95 (1983), 918 (936). Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung (1980), S. 38. Vgl. zur Freiheit zur Verfahrensgestaltung auch Gärditz, AöR 129 (2004), 584 (588 f.); BVerfGE 96, 345 (366 f.). 106 Zu diesem Inhalt des § 40 VwVfG vgl. nur Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG (2001), § 40 Rdnr. 1. 107 BVerfGE 14, 105 (114); 49, 168 (184). 108 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I (1984), S. 830. 109 Vgl. – allerdings zu unbestimmten Rechtsbegriffen – BVerfGE 78, 214 (226). 110 Davon geht auch ohne weitere Begründung Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung (1980), S. 54 ff., aus. 111 Siehe nur als einen der prominentesten Vertreter der herrschenden Ermessensfehlerlehre Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 7 Rdnr. 19 ff. Anders aber Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung (2004), Rdnr. 86, und Alexy, JZ 1986, 701 (707). Dagegen ist die ausdrückliche Unterscheidung von „Vorgang“ und „Ergebnis“ im Planungsrecht verbreitet, vgl. nur BVerwGE 45, 309 (313 ff.). 112 Vgl. die zutreffende Interpretation der h.L. von Alexy, JZ 1986, 701 (702). 105
§ 7 Grundrechtseingriffe der Ermittlungsbehörden
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Ermessensausübung ist die sog. Ermessensüberschreitung. Dass dieser Fehler auch beim Gebrauchmachen von strafprozessualen Eingriffsermächtigungen auftreten kann, ist eine fast banale Einsicht. Er soll nämlich vorliegen, wenn eine nicht mehr im Rahmen der Ermessensvorschrift liegenden Rechtsfolge gewählt wird.113 Ergreifen die Strafverfolgungsbehörden Maßnahmen, die von der Eingriffsermächtigung nicht gedeckt werden, handeln sie ohne weiteres rechtswidrig. Ein Ergebnisfehler ist schließlich auch der Verstoß der Maßnahme gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen das Übermaßverbot.114 Dass ein solcher Fehler zur Rechtswidrigkeit eines strafprozessualen Grundrechtseingriffs führt, ist längst anerkannt.115 Schwieriger ist zu beurteilen, ob auch für den Bereich strafprozessualer Grundrechtseingriffe Fehler im Vorgang der Ermessensbetätigung anzuerkennen sind, die zur Rechtswidrigkeit einer Maßnahme führen. Die Verwaltungsrechtslehre unterscheidet herkömmlich zwischen der Ermessensunterschreitung (Ermessensnichtgebrauch) und dem Ermessensfehlgebrauch. Ermessensunterschreitung liegt danach vor, wenn eine Behörde von dem ihr eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch macht, sich also zu Unrecht für gebunden hält.116 Ermessensfehlgebrauch bedeutet, dass sich die Behörde nicht ausschließlich vom Zweck der Ermessensvorschrift leiten lässt.117 Die Schwierigkeiten, diese Fehlerquellen auf das Handeln der Strafverfolgungsbehörden zu übertragen, sind einmal praktischer Natur. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe sind Realakte, und soweit Staatsanwaltschaft oder Polizei aus eigener oder Notkompetenz handeln, äußert sich ihre Motivation regelmäßig nicht in einer Begründung,118 die auf die Überprüfung von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten ausgerichtet ist. Das ist aber für sich genommen kein Grund, Vorgangsfehler nicht auch für ___________ 113 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 7 Rdnr. 20. Dieser Fehler kann aber gleichermaßen bei gebundenen Akten vorkommen, liegt er doch im Verstoß gegen das Verbot, den Rahmen einer gesetzlich erteilten Ermächtigung zu überschreiten. Es handelt sich damit nicht eigentlich um eine fehlerhafte Ausübung des eingeräumten Ermessens, vielmehr um einen – in den Worten von Alexy, JZ 1986, 701 (707) – „unspezifischen Ermessensfehler“. 114 Vgl. nur BVerfGE 49, 168 (184). Es ist gleichgültig, ob man diesen Fehler als eigenständigen Ergebnisfehler oder als Unterfall der Ermessensüberschreitung ausweist. Allerdings kann die Abgrenzung in diesem Bereich zum Vorgangsfehler mitunter schwierig sein, etwa wenn die Handlungsmotivation bzw. der Abwägungsvorgang gegen grundrechtliche Wertungen verstößt, vgl. Alexy, JZ 1986, 701 (710). Das dürfte allerdings bei strafprozessualen Grundrechtseingriffen weit seltener sein, als beim Handeln von Verwaltungsbehörden. 115 Vgl. nur BVerfGE 19, 342 (347); 20, 45 (49); 20, 162 (186 f.); 34, 369 (380); 44, 353 (373); 53, 152 (158); 59, 95 (97). Zum Übermaßverbot siehe § 11 D. 116 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 7 Rdnr. 21. 117 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 7 Rdnr. 22. 118 Zur Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Motivation und Begründung eingehend Alexy, JZ 1986, 701 (707 f.).
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strafprozessuale Grundrechtseingriffe anzuerkennen. Schließlich müssen sich auch Realakte der Verwaltung an den entsprechenden Kriterien messen lassen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass strafprozessuale Eingriffsermächtigungen sog. Koppelungsvorschriften (Mischtatbestände) sind. Sie setzen sich – wie unter II. gezeigt – stets aus unbestimmten Rechtsbegriffen auf der Tatbestandsseite und aus Ermessen auf der Rechtsfolgenseite zusammen. Sind dabei die im Gesetzestatbestand verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe so umfassend, dass sie die wesentlichen Sachgründe für die Entscheidung absorbieren, finden die maßgeblichen Erwägungen schon auf der Tatbestandsseite statt und bleiben kaum weitere Sachgründe übrig, die im Rahmen der Ermessensausübung der Sachentscheidung zugrunde gelegt werden könnten.119 Aus dem zutreffenden Ergebnis120 kann also grundsätzlich auf die Rechtmäßigkeit des Gesamtakts geschlossen werden kann. So erschiene es beispielsweise nicht sachgerecht, die Verhaftung eines Verdächtigen, dessen Flucht zu besorgen ist, wegen Ermessensunterschreitung für rechtswidrig zu halten, wenn die Strafverfolgungsbehörden ihr Entschließungsermessen nicht erkennbar und nachprüfbar betätigt haben. Ähnlich verhält es sich, wenn sich Polizei und Staatsanwaltschaft nicht ausschließlich vom Zweck der jeweiligen Eingriffsermächtigung121 haben leiten lassen. Die Ermittlungen in Strafsachen sind ganz wesentlich auch vom Taktieren der Verfolgungsbehörden, dem Spielen mit verdeckten Karten, geprägt. Hieraus folgt, dass sie sich bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen auch – nicht ausschließlich – von anderen, taktischen Erwägungen leiten lassen dürfen, als lediglich den Zwecken der Eingriffsermächtigungen. So darf beispielsweise die Staatsanwaltschaft mit der Beantragung eines Haftbefehls, dessen tatbestandliche Voraussetzungen vorliegen, auch die Erwartung verbinden, der Beschuldigte werde unter dem Druck des Freiheitsentzuges aussagen.122 Die Grenze der Rechtmäßigkeit dürfte dort zu ziehen sein, wo sich Staatsanwaltschaft oder Polizei von Erwägungen leiten lassen, die in keinem Zusammenhang mit den Zielen des Strafverfahrens stehen. Ermessensfehlgebrauch läge auch vor, wenn – trotz grundsätzlicher Übereinstimmung mit den Zielvorstellungen des Strafverfahrens – überhaupt nicht die Absicht bestand, von der an sich zulässigen Maßnahme zu deren eigentlichem Zweck Gebrauch ___________ 119 Die Verwaltungsrechtslehre spricht in solchen Fällen von Ermessensschwund, vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 7 Rdnr. 49; Ossenbühl, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht (12. Aufl. 2002), § 10 Rdnr. 48; krit. aber Seewald, Jura 1980, 175 (181). 120 Von dieser Einschränkung unberührt bleiben somit die Ermessensfehler, die das Ergebnis der Ermessensausübung betreffen. 121 Zu den Zwecken strafprozessualer Eingriffsermächtigungen s.o. § 3. 122 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren (2001), S. 70; vgl. auch BGH, NJW 1995, 2933 (2936) zur Verwertung einer entsprechenden Aussage.
§ 8 Richterlich angeordnete Grundrechtseingriffe
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zu machen.123 Das dürfte selten der Fall sein. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Ermessensfehlerlehre des Verwaltungsrechts nicht unbesehen auf strafprozessuale Grundrechtseingriffe übertragen werden kann, sondern an die Gegebenheiten des Strafprozesses anzupassen ist. Die Fehlerfolge strafprozessualer Grundrechtseingriffe ist zunächst nicht anders als bei Realakten der Eingriffsverwaltung: Es entsteht ein öffentlichrechtlicher Abwehranspruch,124 der freilich den Besonderheiten des Strafprozesses anzupassen ist. Anders ausgedrückt: Der in Anwendung regulativer Normen entstandene Abwehranspruch ist in den Kontext konstitutiver Normen zu bringen.
§ 8 Richterlich angeordnete Grundrechtseingriffe Die meisten strafprozessualen Eingriffsermächtigungen behalten die Anordnung eines Grundrechtseingriffs dem Richter vor. Eine der zentralen Fragen für die Betrachtung der richterlichen Anordnung als staatlichem Hoheitsakt ist, ob sie eine Vollstreckungsgrundlage für den Vollzug durch die Ermittlungsbehörden, also für den Zugriff auf das objektive Grundrechtsgut, darstellt.125 Akzeptiert man diese Parallele zum Verwaltungsakt, kann nach den oben dargestellten vollstreckungsrechtlichen Regeln jener Zugriff auch dann rechtmäßig sein, wenn die richterliche Anordnung selbst rechtswidrig ist.126 Bevor auf diese Frage im Einzelnen eingegangen wird (unter B.), ist zunächst ein Blick auf die Funktion des Richtervorbehalts zu werfen (A.). ___________ 123 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren (2001), S. 71 (Untersuchungshaft ausschließlich oder ganz überwiegend von der Intention der Aussageerzwingung getragen); BGHSt 32, 362 (364); Meyer-Goßner, StPO (2006), vor § 112 Rdnr. 4. Enger wohl Seebode, JR 1988, 427 (430); Bosch, StV 1999, 333 (338), die bereits von einem Missbrauch ausgehen, wenn der Maßnahme nicht ausschließlich der prozessordnungsgemäße Zweck zugrunde lag. Der BGHSt 32, 362 ff. zugrunde liegende Fall betraf allerdings eher die Ausgestaltung der Untersuchungshaft, als ihre Anordnung. Denn es ging um die Verlegung eines Mithäftlings auf die Zelle des Angeklagten zum Zwecke der Geständnisgewinnung. Zur Eingriffsqualität einer solchen Maßnahme siehe § 10 A.III. 124 Dazu im Einzelnen § 12 und § 14 D.; siehe zu den Folgen für den handelnden Amtsträger § 15. 125 In diesem Sinne Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (13 ff.); siehe auch Gusy, StV 2002, 153 (156), nach dem die Durchsuchungsanordnung als „Duldungstitel“ fungiere. 126 Allerdings bedeutete dies nicht, dass für den Fall rechtswidriger richterlicher Anordnungen im Fall des Vollzugs kein Erfolgsunrecht vorläge. Konsequenzen hat das vor allem für den Abwehranspruch des Betroffenen (hierzu § 12), dessen Rechtsschutz (siehe §§ 13, 14) sowie für staatshaftungsrechtliche Fragen (siehe v.a. § 18 A I.).
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
A. Funktion der Richtervorbehalte I. Präventiver Grundrechtsschutz
Nachdem früher die richterliche Erlaubnis vorwiegend als Ausgleich für eine gewisse „Schwere des Grundrechtseingriffs“ angesehen wurde,127 steht in jüngerer Zeit der Gedanke des präventiven (Grund-)Rechtsschutzes im Vordergrund.128 Der Richter soll rechtsstaatliche Garantien sichern, einerseits als neutraler Dritter ausgleichen, dass die Strafverfolgungsbehörden in einer „strafprozessualen Kampfsituation“ eben diese Neutralität nicht besitzen, die zur Abwägung der Freiheitsinteressen des Betroffenen grundsätzlich notwendig ist.129 Andererseits sollen die Richtervorbehalte die fehlende Mitwirkung des Betroffenen ausgleichen, die im Eingriffsverwaltungsrecht dem Verwaltungsakt seine rechtsstaatliche Legitimität verleiht. Vielfach wird das auf die Kurzformel gebracht, es werde damit das fehlende rechtliche Gehör ausgeglichen.130 Diese Verkürzung ruft die Kritik hervor, der Richtervorbehalt könne das Fehlen rechtlichen Gehörs nicht ausgleichen, weil nach Art. 103 Abs. 1 GG erst die Einschaltung eines Richters selbst die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs ___________ 127 Etwa Bettermann, in: ders./Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Band III/2 (1959), S. 781; wohl auch Niese, ZStW 63 (1951), 199 (216); Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), § 105 Rdnr. 10. Auch die Materialien gehen von dem Aspekt des tiefen Eingriffs in persönliche Rechte Betroffener aus, vgl. m.N. zur Gesetzesgeschichte Hilger, in: Gedächtnisschrift für Meyer (1990), S. 209 (212). 128 Siehe BVerfGE 103, 142 (151); BVerfG (Kammer), StV 2002, 348; BVerfG (Kammer), NJW 2003, 2303 (2304); zuvor schon BVerfGE 9, 89 (97); 57, 346 (355 f.); 76, 83 (91); Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 75; Amelung, NStZ 2001, 337 (338); Hilger, in: Gedächtnisschrift für Meyer (1990), S. 209 (222 und 225); Wohlers, GA 1992, 214; Kolz, Einwilligung und Richtervorbehalt (2006), S. 129 f.; a.A. Rabe von Kühlewein, Der Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozeßrecht (2001), S. 89, 410 ff., dagegen zutr. Amelung, NStZ 2001, 337 (343). 129 Ähnlich Amelung, JZ 1987, 737 (741); Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung (1980), S. 53 f.; Ranft, Strafprozeßrecht (2005), Rdnr. 600; Kolz, Einwilligung und Richtervorbehalt (2006), S. 130; aus staatsanwaltlicher Sicht Beichel/Kieninger, NStZ 2003, 10 (12). Anders Brüning, ZIS 2006, 29 (30), die maßgeblich auf eine „Doppelbelastung“ des Betroffenen abstellt, die sich daraus ergibt, dass der prozessexterne Gesichtspunkt des Grundrechtseingriffs mit dem prozessinternen Gesichtspunkt der Informationsverwendung verknüpft ist. Diese Erwägung spielt zwar eine wichtige Rolle, kann aber bspw. nicht den Zweck der verfassungsrechtlichen Richtervorbehalte (insbesondere der Art. 13 Abs. 2, 104 Abs. 2 GG) erklären, die gleichermaßen für strafverfolgende und gefahrenabwehrende Maßnahmen gelten. Die innerprozessuale Funktion der Richtervorbehalte stellt eher eine Art Reflexwirkung der außerprozessualen Funktion dar, ist aber für den Informationsfluss in den Prozess in der Tat von herausragender Bedeutung. Siehe hierzu v.a. § 12 B.IV. 130 Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 75; Schnarr, NStZ 1991, 209 (210); Amelung, ZZP 88 (1975), 74 (80).
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auslöse.131 Aber mit „rechtlichem Gehör“ ist insoweit nicht die grundrechtliche Gewährleistung des Art. 103 Abs. 1 GG gemeint. Vielmehr geht es um den Ausgleich der fehlenden Mitverantwortung des Betroffenen an der Entscheidung über den Eingriff in seine Grundrechte und um die fehlende Rechtsschutzmöglichkeit vor dem Zugriff auf das objektive Schutzgut des Grundrechts. Auch die Behauptung Rabe von Kühleweins132, der Richter, der ohne rechtliches Gehör entscheide, sei wegen fehlender Informationen nicht in der Lage, die Belange des Betroffenen zu berücksichtigen, dürfte die Problemlage nicht ganz zutreffend beschreiben. Zwar hat eine Entscheidung durchaus eine andere Qualität, wenn sie unter Abwägung beiderseitig vorgebrachter Argumente ergeht. Aber es ist nicht ersichtlich, weshalb der Richter nicht in der Lage sein sollte, (Grund-)Rechtspositionen des Betroffenen – zumal neutraler als die Ermittlungsbehörden – in einer Abwägung über die Anordnungsentscheidung angemessen zu berücksichtigen. Das Problem der einseitigen Instruktion des Ermittlungsrichters ist damit nicht bedeutungslos: Es spielt zum einen eine Rolle für die Frage, ob gegen eine richterliche Entscheidung Rechtsschutz verfassungsrechtlich geboten ist.133 Zum anderen darf die (notwendige) Einseitigkeit der Instruktion nicht von den Ermittlungsbehörden missbraucht werden, um den Ermittlungsrichter nicht nur einseitig, sondern auch unvollständig über die abwägungsrelevanten Belange zu informieren. Dies hat wiederum unmittelbare Bedeutung für die Eignung der richterlichen Anordnung als Vollstreckungsgrundlage134 sowie – jedenfalls nach Auffassung des BGH – für die staatshaftungsrechtliche Relevanz des Antrags der Strafverfolgungsbehörden auf Erlass einer richterlichen Anordnung.135 Neben dieser hier nur relevanten außerprozessualen Funktion hat der Richtervorbehalt im Strafverfahrensrecht noch eine spezifische innerprozessuale Funktion. Dahinter steht, dass die Befassung des Richters im Verfahren nicht nur die – im Strafverfahren durch regulative Normen geschützten – Grundrechte sichern soll. Gleichzeitig hat die Einschaltung des Richters auch den Effekt, den Informationsfluss von außen in den Prozess zu regulieren und zu begren-
___________ 131 So Lin, Richtervorbehalt und Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1998), S. 273; Rabe von Kühlewein, Der Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozeßrecht (2001), S. 413; Bachmann, Probleme des Rechtsschutzes gegen Grundrechtseingriffe im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (1994), S. 73; Brüning, Der Richtervorbehalt im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (2005), S. 116; dies., ZIS 2006, 29. 132 Der Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozeßrecht (2001), S. 413. 133 Dazu im Einzelnen bei § 13 B. 134 Hierzu sogleich § 8 B. 135 Siehe BGH, NJW 2003, 3693 (3694); hierzu ausführlich § 18 A.
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zen.136 Dies hat Konsequenzen für die Frage, wie innerprozessual mit der Nichtbeachtung des Richtervorbehalts umzugehen ist.137 Außerprozessual – genauer gesagt für den Nebenprozess des separaten Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (gemäß oder analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO) – hat hingegen die rechtswidrige Nichtbeachtung des Richtervorbehalts zur Folge, dass der ohne richterliche Anordnung vorgenommene strafprozessuale Grundrechtseingriff formell rechtswidrig und seine Rechtswidrigkeit festzustellen ist.138
II. Der Sonderfall: Molekulargenetische Untersuchungen (§§ 81e ff. StPO)
Mit dem Zweck des präventiven Grundrechtsschutzes nicht hinreichend erfasst werden allerdings die Richtervorbehalte in Zusammenhang mit den verschiedenen Formen der molekulargenetischen Untersuchungen (DNA-Analysen). Die verschiedenen Ermächtigungen bieten dabei kein einheitliches Bild. Es ist zu unterscheiden zwischen der molekulargenetischen Untersuchung nach § 81e StPO (1.), der molekulargenetischen Untersuchung nach § 81g StPO (2.) und der molekulargenetischen Untersuchung nach § 81h StPO (3.).
1. Molekulargenetische Untersuchung nach § 81e StPO Nach § 81e Abs. 1 StPO sind molekulargenetische Untersuchungen (an nach Maßgabe von §§ 81a, 81c StPO erlangtem Material) zulässig zur Feststellung der Abstammung oder der Tatsache, ob aufgefundenes Spurenmaterial von dem Beschuldigten oder dem Verletzten stammt. § 81e Abs. 2 StPO gestattet molekulargenetische Untersuchungen an aufgefundenem oder sichergestelltem Spurenmaterial. Während § 81f Abs. 1 StPO a.F. den Richtervorbehalt für beide Möglichkeiten molekulargenetischer Untersuchungen regelte, ist nach § 81f Abs. 1 StPO n.F.139 der Richtervorbehalt nunmehr auf Untersuchungen nach § 81e Abs. 1 StPO beschränkt. Dies ist vor dem Hintergrund des Gedankens des präventiven Rechtsschutzes konsequent: Bei (anonymen) Tatspuren sind –
___________ 136 Vgl. hierzu Amelung/Mittag, NStZ 2005, 614 (615 f.); ferner Brüning, ZIS 2006, 29 (30); Zöller, StraFo 2008, 15 (20). 137 Siehe ausführlich unter § 12 B.IV. 138 Zu diesem Unterschied Mittag, JR 2005, 386 (389). 139 § 81f Abs. 1 StPO i.d.F. des Gesetzes zur Novellierung der forensischen DNAAnalyse v. 12.8.2005, BGBl. I 2005, S. 2360 ff.
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anders als bei der Untersuchung von Körperzellen des Beschuldigten – konkret zu prüfende grundrechtliche Positionen Betroffener kaum ersichtlich.140 Nicht plausibel ist allerdings, dass teilweise auch der Richtervorbehalt für Untersuchungen nach § 81e Abs. 1 StPO als zu weitgehend angesehen wird, weil „keine präventiven Rechtsschutzinteressen ersichtlich“ seien.141 Denn insoweit sind konkrete grundrechtliche Positionen des Betroffenen abzuwägen. Die gegenteilige Auffassung Rogalls resultiert aus der notwendigen Verknüpfung der molekulargenetischen Untersuchung in § 81e Abs. 1 StPO mit den Ermächtigungen der Entnahme zu Körperzellen nach § 81a bzw. § 81c StPO, die ebenfalls unter Richtervorbehalt stehen (§ 81a Abs. 2, § 81c Abs. 5 StPO): „War die Entnahme der Körperzellen nach den §§ 81a, 81c StPO zulässig, weil ein Aufklärungserfolg zu erwarten war, so ist damit auch die Untersuchung des gewonnenen Materials zulässig. Sie muss damit von Rechts wegen erfolgen.“142 Hiergegen ist aber zweierlei einzuwenden: Zum einen muss die Entnahme der Körperzellen nach den §§ 81a, 81c StPO nicht zwingend erfolgt sein, um sie anschließend einer molekulargenetischen Untersuchung zu unterziehen. Es kann bspw. auch die Situation eintreten, dass eine Blutprobe zum Zweck der Blutalkoholkontrolle entnommen worden ist und sich im Nachhinein die Notwendigkeit ergibt, die Probe molekulargenetisch zu untersuchen. Dabei hat der Richter aber andere grundrechtliche Positionen des Betroffenen zu berücksichtigen, so dass die Beteiligung des Richters unter dem Gesichtspunkt des präventiven Grundrechtsschutzes nicht zu weit greift. Der zweite Einwand betrifft den Vergleich der subsidiären Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft (bzw. deren Ermittlungspersonen) bei Gefahr im Verzug nach § 81a Abs. 2 StPO auf der einen und § 81f Abs. 1 S. 1 StPO auf der anderen Seite. Rogall führt an anderer Stelle zu Recht aus, dass für die Entnahme der Körperzellen Situationen von „Gefahr im Verzug“ – wenn auch vor dem Hintergrund eines neuerdings strengeren Verständnisses – häufiger vorkommen können, für die Untersuchung der entnommenen Körperzellen im Grunde aber kaum denkbar ist.143 Wenn das aber so ist, dann stellt der Richtervorbehalt für die molekulargenetische Untersuchung eine weitergehende Sicherung grundrechtlicher Positionen dar. Zuzugeben ist Rogall aber, dass diese Sicherung auch erreicht würde, wenn der Gesetzgeber den Richtervorbehalt darauf beschränkte, dass die Entnahme von Körperzellen nach den §§ 81a, 81c StPO entweder nicht von einem Richter oder von einem Richter, aber nicht ausdrücklich im Hinblick auf ___________ 140 Ähnlich Senge, NJW 2005, 3028 (3029): Richtervorbehalt habe zu keinem messbaren Gewinn an Rechtsstaatlichkeit geführt. 141 So Rogall, in: Festschrift für Schroeder (2006), S. 691 (693, 701). 142 Rogall, in: Festschrift für Schroeder (2006), S. 691 (702) – Hervorhebung auch dort. 143 Rogall, in: Festschrift für Schroeder (2006), S. 691 (702).
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eine molekulargenetische Untersuchung der zu erlangenden Körperzellen angeordnet worden ist. Nur insoweit kann man allerdings davon sprechen, der Richtervorbehalt des § 81f Abs. 1 StPO gehe zu weit.
2. Molekulargenetische Untersuchung nach § 81g StPO Grundlegend anders stellt sich die Lage bei der Anordnung der molekulargenetischen Untersuchung nach § 81g Abs. 3 S. 2 StPO144 dar. Nach § 81g Abs. 1 StPO, auf den sich der Richtervorbehalt des Abs. 3 S. 2 bezieht, dürfen einem Beschuldigten zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren Körperzellen entnommen und molekulargenetisch untersucht werden, wenn bestimmte qualifizierte Voraussetzungen vorliegen. Der Gedanke des präventiven Rechtsschutzes dürfte bei diesem „unechten“ strafprozessualen Grundrechtseingriff nur eine untergeordnete Rolle spielen. Da Zweck der Maßnahme Ermittlungsvorsorge ist145 und der unmittelbare und vor allem überraschende Zugriff auf das objektive grundrechtliche Schutzgut nicht im Vordergrund steht, besteht an sich kein Grund, dem Betroffenen vor dem direkten Zugriff auf seine Rechtsgüter nicht die Möglichkeit des Rechtsschutzes einzuräumen. Die durch den Richtervorbehalt bezweckten Sicherungen rechtsstaatlichen Verfahrens könnten also „direkter“ verwirklicht werden, beispielsweise durch Erlass einer Anordnung der Staatsanwaltschaft nach Vorbild des Verwaltungsaktes, gegen die der Betroffene gerichtlichen Rechtsschutz suchen kann.146 Dieser Sondersituation wird aber immerhin dadurch Rechnung getragen, dass vor Erlass der richterlichen Anordnung dem Betroffenen nach Maßgabe des § 33 Abs. 3 StPO rechtliches Gehör zu gewähren ist.147 Damit entfällt ___________ 144
Entspricht § 81g Abs. 3 StPO a.F. (i.V.m. § 81f Abs. 1 S. 1 StPO). s.o. § 3 B I. 146 Einen Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz stellte eine solche Verpflichtung nicht dar; vgl. hierzu zunächst § 7 bei und in Fn. 66. Denn es geht insoweit um die molekulargenetische Untersuchung schon vorhandener Körperzellen, nicht um die Auferlegung einer Handlungspflicht. Selbst wenn man aber weiter ginge und – de lege ferenda – eine Verpflichtung des Betroffenen zur Abgabe von Körperzellen zur DNAIdentitätsfeststellung in Betracht zöge, wäre eine Verletzung des nemo-tenetur-Grundsatzes nicht sicher. Denn betroffen wäre nicht die Freiheit vom Zwang der Selbstbelastung in einem anhängigen Strafverfahren. Es ist ja noch kein Ermittlungsverfahren im Gang, auf das dieser unechte strafprozessuale Grundrechtseingriff bezogen ist. Nemo tenetur dürfte aber der Verteidigungsfreiheit des Beschuldigten im aktuellen Strafverfahren dienen. 147 Vath, Der genetische Fingerabdruck zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren (2003), S. 94. Rackow, Das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz und seine Probleme (2001), S. 129 f. m.w.N. Ausnahmen i.S.d. § 33 Abs. 4 StPO sind nicht denkbar, da eine Anhörung nicht den Zweck der Maßnahme – Identitätsfeststellung zur Speicherung/Ermittlungsvorsorge – gefährden kann. 145
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die ansonsten für die richterliche Anordnung typische einseitige Instruktion des entscheidenden Richters durch die Ermittlungsbehörden. Der rechtsstaatliche Gewinn des Richtervorbehalts gegenüber einer staatsanwaltschaftlichen Anordnung liegt darin, dass der Betroffene – anders als beim Verwaltungsakt – nicht von vornherein in eine prozessuale Angriffssituation gedrängt wird, will er erreichen, dass die Maßnahme von einer unabhängigen Instanz überprüft wird. Materiell entscheidender Grund, die Maßnahme einem Richter vorzubehalten, dürfte sein, dass der Gesetzgeber wegen der Schwere und Tragweite des Eingriffs für den Betroffenen die Anordnung von einer (Gefahren-)Prognose über die Wiederholungsgefahr abhängig gemacht hat und diesen Abwägungsvorgang einer neutralen und unabhängigen Instanz, dem Richter, zuweisen wollte.148 Allerdings gilt Ähnliches wie für die molekulargenetische Untersuchung nach § 81e Abs. 1 StPO: § 81g Abs. 3 StPO stellt sowohl die Entnahme der Körperzellen, als auch die molekulargenetische Untersuchung selbst unter Richtervorbehalt. Da aber die Körperzellen von vornherein nur für die molekulargenetische Untersuchung nach § 81g Abs. 1 StPO verwendet werden dürfen (§ 81g Abs. 2 StPO), wäre dem Anliegen des Gesetzgebers Rechnung getragen, würde man die Anordnung der molekulargenetischen Untersuchung nur für die seltenen Fälle149 unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung stellen, dass die Entnahme von Körperzellen wegen Gefahr im Verzug nicht vom Richter, sondern vom Staatsanwalt bzw. einer Ermittlungsperson angeordnet worden ist (vgl. § 81g Abs. 3 S. 1 StPO). Anderenfalls reichte es im Hinblick auf den Zweck des Richtervorbehalts aus, den Richter nur einmal mit dem Vorgang zu befassen, soweit sich sicherstellen lässt, dass er die widerstreitenden Interessen nach Maßgabe des § 81g Abs. 1 StPO schon bei der Anordnung der Entnahme der Körperzellen abwägen kann.150 Denn es kommt maßgeblich darauf an, dass der Richter die (auf Art und Ausführung der Tat, die Persönlichkeit des Betroffenen oder sonstige Erkenntnisse zu stützende) Prognose stellt, dass gegen den Betroffenen künftig Strafverfahren wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Diese Prognose kann er aber auch schon bei der Anordnung der Entnahme der Körperzellen anstellen. ___________ 148
Vgl. dazu den zugrunde liegenden Gesetzentwurf, BT-Drs. 13/10791, S. 5: „Der Richtervorbehalt gewährleistet, daß auch die Gefahrenprognose durch den Richter getroffen wird.“ Das BVerfG spricht davon, dass der Richtervorbehalt das Interesse des Betroffenen an effektivem Grundrechtsschutz dadurch schütze, dass Gerichte zur Einzelfallprüfung gezwungen seien, vgl. BVerfGE (Kammer) 103, 21 (34) [Hervorhebung nur hier]. 149 Vgl. hierzu Rogall, in: SK-StPO (2004), § 81g Rdnr. 42. 150 Seltsam ist, dass Rogall diese „Doppel-Anordnungskompetenz“ des Richters nach § 81g Abs. 3 StPO – anders als für die die Entnahme von Körperzellen und deren molekulargenetische Untersuchung nach §§ 81a/81c, 81f Abs. 1 StPO (siehe hierzu § 8 Fn. 142) – nicht kritisiert; vgl. Rogall, in: Festschrift für Schroeder (2006), S. 691 (704 und 708 f.) sowie für § 81g StPO a.F. ders., in: SK-StPO (2004), § 81g Rdnr. 43.
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3. Molekulargenetische Untersuchung nach § 81h StPO Wieder anders ist der neue Richtervorbehalt des § 81h Abs. 2 StPO151 zu beurteilen. § 81h StPO regelt die Situation des „freiwilligen“152 DNA-Reihentests, dessen Durchführung bei dem Verdacht, dass bestimmte Straftaten begangen worden sind, durch den Richter gestattet werden kann. Der Gedanke des präventiven Grundrechtsschutzes dürfte ebenso wie der Aspekt der Schwere und Tragweite des Eingriffs jedenfalls nach der Konzeption durch den Gesetzgeber nicht tragen: Die Körperzellenentnahme und DNA-Analyse soll nämlich nur mit schriftlicher Einwilligung erfolgen dürfen (§ 81h Abs. 1 StPO). Stellt dies aber eine wirksame Einwilligung nach Maßgabe der Grundrechtsdogmatik dar, handelt es sich nicht um einen Grundrechtseingriff.153 Für den Gedanken des präventiven Grundrechtsschutzes wäre dann aber kein Raum.154 Zudem erscheint eine Abwägung konkret betroffener Grundrechtspositionen durch den Richter bei der hiermit erfassten Vielzahl der Betroffenen nur schwer vorstellbar. Indes wird dieser Befund relativiert, wenn man sich klar macht, dass es mit der Freiwilligkeit vor dem Hintergrund des von den Strafverfolgungsbehörden regelmäßig aufgebauten Drucks, sich der Maßnahme zu unterziehen, nicht weit her sein kann.155 Auch der Gesetzgeber kann nicht aus eigener Machtvollkommenheit regeln, dass die Teilnahme an einem solchen Test freiwillig ist, sondern ist an die – im wesentlichen verfassungsrechtlich-teleologisch herzuleitenden – Kriterien der Freiwilligkeit gebunden.156 Damit ist nicht gesagt, dass § 81h StPO verfassungswidrig wäre; allerdings verfolgt die Vorschrift einen Begriff der Freiwilligkeit, der notwendigerweise hinter dem Kriterium der Freiwilligkeit zurückbleibt, nach dem ein freiwilliges Handeln einen Grundrechtseingriff ausschließt.157 Es ist daher zu begrüßen, dass – so man die Maßnahme rechtspolitisch überhaupt zulassen will – der Gesetzgeber es dem Richter übertragen hat, die Fälle zu überwachen und zu begrenzen, in denen von den Strafverfolgungsbehörden solcher Druck aufgebaut wird.158 § 81h Abs. 2 StPO dient damit in eigener Weise dem präventiven Grundrechtsschutz. ___________ 151 Eingefügt mit Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse v. 12.8.2005, BGBl. I 2005, S. 3028 ff. 152 Siehe zur „Freiwilligkeit“ eines solchen Tests sogleich im Text. 153 Siehe zu diesen Maßgaben § 10 B. 154 Rogall, in: Festschrift für Schroeder (2006), S. 691 (711). 155 Siehe zu den engen Kriterien der Freiwilligkeit, die einen Eingriff entfallen ließen, unter § 10 B.V.3. 156 A.A. offenbar Rogall, in: Festschrift für Schroeder (2006), S. 691 (711). 157 Siehe hierzu § 10 B.V.3. 158 Nachdrücklich a.A. Rogall, in: SK-StPO (2004), § 81g Rdnr. 3 f.; weniger streng aber ders., in: Festschrift für Schroeder (2006), S. 691 (711); ähnlich wie hier hingegen Saliger/Ademi, JuS 2008, 193 (194).
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III. Vergleich zur Funktion des Richtervorbehalts im Gefahrenabwehrrecht
Nach den Ausführungen über den Zweck des Richtervorbehalts für strafprozessuale Grundrechtseingriffe stellt sich allerdings die Frage, weshalb für polizeiliche Realakte im Verwaltungsrecht die vorherige Befassung eines Richters in der Regel nicht vorgesehen ist.159 Denn auch dort wird vielfach ohne Mitwirkung des Betroffenen im Vorfeld und ohne vorherige Rechtsschutzmöglichkeiten direkt auf die objektiven grundrechtlichen Schutzgüter zugegriffen.160 Bei solchen gefahrenabwehrrechtlichen Zugriffen hat man es aber zum einen häufig mit Situationen zu tun, in denen eine Befassung des Richters den Erfolg der Maßnahme gefährden würde – eine Situation, die der StPO als Ausnahme vom Richtervorbehalt wohlbekannt ist. Ist eine solche Eilsituation nicht gegeben, verlangt das Rechtsstaatsprinzip die Anhörung des Betroffenen vor dem Zugriff auf das objektive Grundrechtsgut.161 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe sind demgegenüber institutionalisierte Überraschungseingriffe. Sofern Heimlichkeit im Polizeirecht eine Rolle spielt, ist es vor dem skizzierten Hintergrund des präventiven Rechtsschutzes hingegen bedenklich, wenn die Maßnahmen keinem Richtervorbehalt unterliegen.162 Das mag vom gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum aber noch getragen sein. Außerdem ist das Gefahrenabwehrrecht nicht von jener „strafprozessualen Kampfsituation“ beherrscht, die per se die Gefahr der nur unzureichend neutralen Abwägung der widerstreitenden verfassungsrechtlichen Prinzipien (insbesondere die Berücksichtigung
___________ 159
Zur Entwicklung eingehend Aschmann, Der Richtervorbehalt im deutschen Polizeirecht (1999), S. 93 ff. 160 Die Frage ist berechtigt, trotzdem der Richtervorbehalt des Polizeirechts ersichtlich keine innerprozessuale Funktion hat. Denn jene innerprozessuale Funktion des Richtervorbehalts ist gleichsam „nur“ Reflex der außerprozessualen Funktion des präventiven Grundrechtsschutzes. 161 Auch wenn § 28 VwVfG dies (wegen der Realaktqualität des Direktzugriffs) nicht erfasst, so hat doch diese Vorschrift auch eine verfassungsrechtliche Grundlage. Das BVerfG sieht sie im „Recht auf faires Verfahren“ und damit im Rechtsstaatsprinzip, vgl. nur BVerfGE 101, 397 (405). Teilweise werden neben dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auch Art. 103 Abs. 1 GG analog bzw. Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen, vgl. Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG (2001), § 28 Rdnr. 3. Zum Grundrechtsschutz durch Verfahren vgl. schon § 6 Fn. 90 und § 7 Fn. 29. 162 Vgl. etwa aus dem NRWPolG § 16 (polizeiliche Observation), § 20 (verdeckter Ermittler). Verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit konstatiert Gusy, GA 2003, 672 (674), der daraus für den Zweck der Richtervorbehalte schließt, dass sie präventiven Rechtsschutz für schwere Grundrechtseingriffe böten. Krit. zum Richtervorbehalt im Polizeirecht allgemein Götz, NVwZ 1990, 725 (728).
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
der Grundrechte des Betroffenen) mit sich bringt.163 Vor allem aber sind die Nachteile, die dem Betroffenen durch heimliche oder überraschende Grundrechtseingriffe und damit die Schaffung vollendeter Tatsachen drohen, im Strafverfahren von einer anderen Qualität, als im Gefahrenabwehrrecht: Hier droht ihm Strafe, dort eine Beeinträchtigung, die in der Regel wieder ausgeglichen werden kann.
B. Die Tauglichkeit der richterlichen Anordnung als Vollstreckungsgrundlage für den Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut Für die Frage, ob die richterliche Anordnung mit dem Verwaltungsakt als Vollstreckungsgrundlage vergleichbar ist, fallen zunächst die Unterschiede der beiden Rechtsinstitute ins Auge. Zunächst wird der Betroffene vor der richterlichen Anordnung eines strafprozessualen Grundrechtseingriffs entgegen § 33 Abs. 3 StPO nach Maßgabe des § 33 Abs. 4 StPO nicht angehört, wenn die Anhörung den Zweck der Maßnahme gefährdet.164 Eine solche Gefährdung liegt aber regelmäßig vor. Zudem wird die richterliche Anordnung dem Betroffenen in der Regel nicht bekannt gegeben. Das steht zwar in Widerspruch zum Wortlaut des § 35 Abs. 2 S. 2 StPO, der die Bekanntmachung richterlicher Entscheidungen vorsieht. Allerdings wird man von der Bekanntgabepflicht eine Ausnahme machen müssen, wenn durch die Bekanntgabe der richterlichen Anordnung der Untersuchungserfolg gefährdet würde. Davon geht jedenfalls § 36 Abs. 2 StPO aus, der nicht von ungefähr die Zustellung in Zusammenhang mit der Vollstreckung der richterlichen Anordnung stellt. Die Vorschrift kann so verstanden werden, dass die Staatsanwaltschaft die Bekanntgabe der Entscheidung nicht vor ihrer Vollstreckung besorgen muss, wenn die Vollstreckung durch die vorherige Bekanntmachung der Entscheidung gefährdet würde.165 Im Unterschied dazu ist die Bekanntgabe für die Wirksamkeit des Vollstreckungstitels Verwaltungsakt konstitutiv (§ 43 VwVfG). ___________ 163 Ob sich diese Argumentation in Anbetracht des präventiv-polizeilichen Umgangs mit terroristischen oder „pseudoterroristischen“ Bedrohungen künftig aufrechterhalten lässt, erscheint allerdings ungewiss. 164 Das BVerfG hat diese Grundsätze schon früh konstituiert, vgl. BVerfGE 9, 89 (97); 18, 399 (404). Der Gesetzgeber hat sich mit der Einführung der §§ 33 Abs. 3 und 4, 33a StPO durch das StPÄG 1964, BGBl. I S. 1067 (1077) hieran orientiert. Vgl. dazu BT-Drs. 3/2037, S. 18. 165 Graalmann-Scheerer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (26. Aufl. 2006), § 36 Rdnr. 16; Meyer-Goßner, StPO (2006), § 36 Rdnr. 10. Anders Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (14), der zum gleichen Ergebnis nicht über die Anwendung von § 36 Abs. 2 StPO, sondern durch Analogie zu § 33 Abs. 4 StPO kommt.
§ 8 Richterlich angeordnete Grundrechtseingriffe
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Die richterliche Anordnung steht damit von ihrer Erscheinungsform einem innerstaatlichen Akt nahe. Der Richter ist im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren auch eher „Erlaubender“, als „Anordnender“. Denn nach wie vor ist die Staatsanwaltschaft Herrin über das Ermittlungsverfahren und kann demgemäß selbst bestimmen, wann166 und ob überhaupt von der Erlaubnis zum Zugriff auf objektive grundrechtliche Schutzgüter Gebrauch gemacht wird.167 Bei der richterlichen Anordnung handelt es sich daher nicht um eine „Anordnung“ im Rechtssinne, sondern um eine bloße „Gestattung“. Daher ist dem Richter die Prüfung von reinen Zweckmäßigkeitserwägungen auch versagt (vgl. § 162 Abs. 2 StPO). In der Anhörung und der Rechtsschutzmöglichkeit vor Vollstreckungszugriff fehlen also die Privilegierungen, die im Eingriffsverwaltungsrecht kompensieren, dass ohne gerichtliche Endentscheidungen vollstreckbare Titel geschaffen werden. Es ist also fraglich, ob diese Defizite ausgeglichen werden. Nach Amelung168 wird dieser Ausgleich vor allem dadurch geschaffen, dass die richterliche Beteiligung den vollziehenden Verfolgungsbehörden wegen der Überprüfung durch eine neutrale Instanz eine sicherere Rechtsgrundlage verschaffe als der bloße Vollzug des Gesetzes. An den Entscheidungen des Richters bestehe einerseits ein institutionelles Interesse, weil das Institut des Richtervorbehalts generell die Freiheit der Bürger schütze, andererseits auch ein individuelles Interesse der strafverfolgenden Beamten, da das Verständnis der richterlichen Erlaubnis als Vollstreckungsgrundlage – und damit die grundsätzliche Rechtmäßigkeit des Vollzugsaktes unabhängig von der Rechtmäßigkeit der richterlichen Anordnung – den Beamten vor der Notwehr des Betroffenen schütze. Damit sei den Strafverfolgungsbehörden zudem Anreiz gegeben, den Richtervorbehalt ernster zu nehmen als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen sei, was mittelbar wiederum den Freiheitsinteressen der Bürger zugute käme. In der Tat wird man in der Anordnung eines neutralen, unabhängigen Richters zur präventiven Kontrolle des Grundrechtseingriffs eine taugliche Vollstre-
___________ 166 Freilich kann eine richterliche Anordnung nur so lange vollzogen werden, wie die tatsächlichen und rechtlichen Umstände unverändert sind. Nach BVerfGE 96, 44 (54) ist spätestens nach Ablauf eines halben Jahres davon auszugehen, dass eine richterliche Durchsuchungsanordnung nicht mehr Rahmen, Grenzen und Zweck der Durchsuchung im Sinne eines effektiven Grundrechtsschutzes zu sichern vermag und damit ihre rechtfertigende Kraft verloren hat. 167 Amelung, in: AK-StPO, Bd. 2/1 (1992), § 105 Rdnr. 18; Schnarr, NStZ 1991, 209 (210); Rabe von Kühlewein, GA 2002, 637 (647 f.). Das ist i.Ü. auch für polizeirechtliche Richtervorbehalte nicht anders, vgl. nur Aschmann, Der Richtervorbehalt im deutschen Polizeirecht (1999), S. 57, 68. 168 Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (14 ff.).
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
ckungsgrundlage sehen müssen.169 Neben den soeben genannten materiellen Gründen für eine solche Konstruktion spricht vor allem die Systematik des Gesetzes dafür. Zwar konstituiert die StPO – insbesondere § 36 Abs. 2 – anders als die Verwaltungsvollstreckungsgesetze für Verwaltungsakte nicht ausdrücklich Anforderungen an die Vollstreckungsfähigkeit richterlicher Anordnungen. Allerdings ergibt sich aus dem Rechtsmittelrecht, nämlich aus § 307 StPO, dass eine richterliche Anordnung ungeachtet der Einlegung einer Beschwerde vollzogen werden darf.170 Das Gesetz impliziert mit der Regelung der Vollstreckungsfähigkeit der richterlichen Anordnung,171 dass deren Vollzug unabhängig von ihrer Rechtmäßigkeit selbst zulässig, also rechtmäßig ist.172, 173 Das ist auch seit jeher so gesehen worden, geht der Betroffene doch nur dann gegen den Vollzugsakt der Strafverfolgungsbehörden vor, wenn dieser den durch die richterliche Anordnung gezogenen Rahmen überschreitet. Anderenfalls ist Rechtsschutzgegenstand stets allein die richterliche Anordnung.174 Die Grenze der Rechtmäßigkeit des Vollzuges ist – neben der Übereinstimmung von Vollzugsakt und richterlicher Anordnung – aber die Existenz der zu vollziehenden Entscheidung. Die richterliche Anordnung muss (noch)175 wirksam, darf also nicht nichtig sein. Ob richterliche Entscheidungen nichtig sein können, ist streitig und wird vor allem für Urteile kontrovers diskutiert.176 Die ___________ 169 Ebenso Gusy, StV 2002, 153 (156): „Konkreter Duldungstitel ist die Durchsuchungsanordnung selbst.“ 170 Das ist der Unterschied zum Verwaltungsprozessrecht, das die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage kennt (§ 80 Abs. 1 VwGO) und es damit notwendig macht, die fehlende aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs als allgemeine Vollstreckungsvoraussetzung zu formulieren (vgl. § 6 Abs. 1 VwVG). Damit ist aber nicht gesagt, dass im Strafprozessrecht der Vollstreckungszugriff nicht aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten begrenzt sein kann, s.o. § 7 Fn. 54 und § 8 Fn. 166. 171 Zum Schluss von der fehlenden aufschiebenden Wirkung auf die Vollstreckungsfähigkeit vgl. Paulus, in: KMR-StPO (ohne Jahr), § 36 Rdnr. 16. 172 Ähnlich auch Popp, Verfahrenstheoretische Grundlagen der Fehlerkorrektur im Strafverfahren (2005), S. 446. 173 Dass richterliche Anordnungen damit auch sofort vollziehbar sind, d.h. Vollstreckungshürden, wie sie in den Verwaltungsvollstreckungsgesetzen (Unanfechtbarkeit bzw. keine aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln, vgl. nur § 6 Abs. 1 VwVGBund) nicht bestehen, versteht sich vor diesem Hintergrund von selbst. 174 Vgl. BGH, NJW 1999, 3499; Amelung, in: Festschrift 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 911 (928); siehe hierzu ausführlich § 14 C. Zur Frage, ob die richterliche Anordnung selbst einen Grundrechtseingriff darstellt, siehe § 10 C.I. 175 Nach Rspr. des BVerfG verliert eine Durchsuchungsanordnung ihre Kraft als Duldungstitel spätestens 6 Monate nach ihrer Anordnung, vgl. BVerfGE 96, 44 (54). Näher hierzu § 13 Fn. 763. 176 Vgl. nur Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (26. Aufl. 2006), Einl. K Rdnr. 105 ff.; Grünwald, ZStW 76 (1964), 250 ff.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil I (1964), Rdnr. 253 ff. Äußerungen zu richterlichen Beschlüssen sind rar: Nichtigkeit ablehnend für prozessabschließende Beschlüsse Geppert, GA 1972, 165 ff., für
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Gründe, die gegen die Möglichkeit der Nichtigkeit vorgebracht werden, treffen aber zum größten Teil richterliche Grundrechtseingriffe im Ermittlungsverfahren nicht. Es sind im Wesentlichen folgende: –
Verstoß gegen den ne-bis-in-idem-Grundsatz,177
–
Unvereinbarkeit mit den gesetzlichen Beschränkungen der prozessualen Möglichkeiten, eine gerichtliche Entscheidung zu beseitigen,178
–
Unklarheit des Maßstabes zur Feststellung der Nichtigkeit.179
Der ne-bis-in-idem-Grundsatz ist bei der richterlichen Anordnung strafprozessualer Grundrechtseingriffe ebenso wenig betroffen, wie die Beschränkungen der prozessualen Möglichkeiten, eine gerichtliche Entscheidung zu beseitigen. Denn die richterliche Anordnung im Ermittlungsverfahren erwächst nach derzeitiger Ausgestaltung nicht in formeller Rechtskraft.180 Es existiert auch kein Katalog nach Vorbild des § 338 StPO, der zeigte, dass selbst schwerste Rechtsverstöße nicht zur Nichtigkeit, sondern nur zur Aufhebbarkeit führten. Der Einwand, der Maßstab für die Beurteilung der Nichtigkeit sei unklar, ist zwar nicht von der Hand zu weisen. Allerdings sind bislang auch kaum Anstrengungen unternommen worden, einen klaren Maßstab herauszuarbeiten. Schließlich ist die Rechtslage auch für Verwaltungsakte ähnlich. § 44 VwVfG knüpft an die schon vor Erlass dieser Vorschrift herrschende Evidenztheorie an, nach der ein Verwaltungsakt nichtig ist, der an einem besonders schweren Fehler leidet, der mit der Rechtsordnung unter keinen Umständen vereinbar und darüber hinaus offenkundig ist.181 Diese Formel sollte man auch für richterliche Anordnungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe nutzbar machen, dabei allerdings – weiter einengend – berücksichtigen, dass richterliche Entscheidun___________ Verweisungsbeschlüsse Bernsmann, JZ 2000, 215 f. und Gollwitzer, in: Festschrift für Rieß (2002), S. 134 (139 ff.). Die richterliche Anordnung strafprozessualer Grundrechtseingriffe wird – soweit ersichtlich – nur von Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (16) thematisiert. 177 Grünwald, ZStW 76 (1964), 250 (256). 178 So Grünwald, ZStW 76 (1964), 250 (256), der eine Missachtung der Vorschriften über die Wiederaufnahme konstatiert, ferner Meyer-Goßner, StPO (2006), Einl. Rdnr. 107. Vgl. auch Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), S. 416, der Zurückhaltung im Umgang mit der Feststellung der Nichtigkeit von Strafurteilen anmahnt, weil § 338 StPO zeige, dass selbst grobe Verfahrensmängel das Urteil nicht nichtig, sondern nur angreifbar machten. 179 Grünwald, ZStW 76 (1964), 250 (260 f.). 180 Trepper, Zur Rechtskraft strafprozessualer Beschlüsse (1996), S. 74 m.w.N.; Weidemann, Die Stellung der Beschwerde im funktionalen Zusammenhang der Rechtsmittel des Strafprozesses (1999), S. 79. 181 BVerwGE 19, 284 (287); 27, 295 (299); 70, 41 (43); BVerfGE 34, 9 (25); Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG (2001), § 44 Rdnr. 99.
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gen in einem besonderen Maße die Vermutung der Wirksamkeit für sich haben.182 An einem solch schwerwiegenden und offensichtlichen Mangel kann – wie Amelung zutreffend ausführt183 – eine richterliche Anordnung leiden, die auf einem Sachvortrag beruht, dessen Fehlerhaftigkeit die Strafverfolgungsbehörden dadurch zu verantworten haben, dass sie den Ermittlungsrichter bewusst unvollständig über verdachtsbegründende oder entlastende Tatsachen informieren.184 Polizei und Staatsanwaltschaft sollen sich nicht die Möglichkeit rechtmäßigen Vollstreckungszugriffs durch lückenhaften Tatsachenvortrag verschaffen dürfen. Das Tatsachenmaterial darf von der Ermittlungsbehörde zwar gesichtet und gewichtet werden; es darf – zumindest in Fällen, in denen bereits die Ermittlungsakte derart umfangreich ist, dass der Richter in angemessener Zeit kaum über den Antrag entscheiden könnte – auch Nebensächliches ausgesondert werden.185 Das dem Richter unterbreitete Aktenmaterial muss aber doch so beschaffen sein, dass sich dieser ein vollständiges Bild über das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen für die Anordnung der beantragten Maßnahme machen kann.186 Beruht der Fehler der richterlichen Anordnung hingegen auf unvollständigem Tatsachenvortrag bzw. zurückgehaltenen Aktenteilen, ist der Beschluss nichtig und damit als Vollstreckungsgrundlage untauglich. Unmittelbare Folgen haben diese Überlegungen vor allem für das materielle Recht: Wie ist der handelnde Beamte persönlich für den Zugriff auf Rechtsgüter des Betroffenen verantwortlich? Welche Rechte hat der Betroffene, sich gegen diesen Zugriff zur Wehr zu setzen?187 Mittelbar sind die Fragen aber auch für den Rechtsschutz relevant: Wogegen – die richterliche Anordnung oder die Vollzugshandlung – muss der Betroffene vorgehen?188
___________ 182
Für Urteile und verfahrensbeendende Beschlüsse dürfte wegen der geschilderten, berechtigten Einwände ein noch strengerer Maßstab anzulegen oder die Möglichkeit der Nichtigkeit ganz zu verneinen sein. Die Frage kann hier aber auf sich beruhen. 183 Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (16); zurückhaltender („nur für extrem liegende Ausnahmefälle“) Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (16. Aufl. 2006), Einl. K. Rdnr. 128. 184 Vgl. in staatshaftungsrechtlichem Zusammenhang BGH, NJW 2003, 3693 (3694 f.). 185 BGH, NJW 2003, 3693 (3695); Gusy, JZ 2004, 459 (460). 186 BGH, NJW 2003, 3693 (3695); Gusy, JZ 2004, 459 (460). 187 Siehe §§ 15 und 16. 188 Hierzu § 14 A. und C.
§ 9 Schutzbereich
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2. Abschnitt
Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Eingriffe in materielle Grundrechte Eingriffe in materielle Grundrechte und die entsprechenden Eingriffsermächtigungen sind Gegenstand einer zweiten Betrachtungsperspektive, bei der es maßgeblich auf die Sicht des Betroffenen ankommt. Es stellt sich also die Frage, wie die Eingriffsermächtigungen und die auf ihnen beruhenden Eingriffsakte den Anforderungen der materiellen Grundrechte gerecht werden. Dabei sollen die Systematik der Grundrechtsprüfung dargestellt und gleichzeitig die allgemeinen Anforderungen an Grundrechtseingriffe behandelt werden. Auch wenn die einzelnen materiellen Grundrechte historische, sprachliche und rechtliche Besonderheiten aufweisen, liegt ihnen primär als Abwehrrechten doch eine gemeinsame Struktur zugrunde: die Ausrichtung auf den staatlichen Eingriff.189 Keiner Erörterung bedürfen im vorliegenden Zusammenhang Fragen der Grundrechtsberechtigung oder Grundrechtsverpflichtung. Es geht hier vielmehr um die Kriterien sachlicher Gewährleistung, d.h. den Schutzbereich und den Eingriff in den Schutzbereich (nachfolgend § 9 und § 10), sowie die Kriterien der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs im Strafverfahren (§ 11). Es liegt auf der Hand, dass sich die Ausführungen bei der Weite des Themas und der Fülle des hierzu existierenden Materials mit einem groben Pinselstrich begnügen müssen.
§ 9 Schutzbereich Der Schutzbereich bezeichnet das Thema des Grundrechtsschutzes190 und bestimmt gleichzeitig seinen Gegenstand, das grundrechtliche Schutzgut.191 Im Vordergrund strafprozessualer Grundrechtseingriffe stehen vorwiegend die objektivierten grundrechtlichen Schutzgüter, auf die der strafverfolgende Staat in ___________ 189 Siehe nur Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 37, auch zur im Folgenden verwendeten Terminologie. 190 Ob die „thematische Einschlägigkeit“ eines Grundrechts im Sinne eines „Regelungs-“ oder „Lebensbereichs“ noch vom Schutzbereich zu unterscheiden ist (so etwa Erichsen, Jura 1987, 367 [369 f.]; siehe dazu auch Lerche, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 121 Rdnr. 14), darf hier offen bleiben. Die Relevanz einer solchen Unterscheidung bestünde v.a. im Verhältnis von Spezialgrundrechten und dem Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG. 191 Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 40.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
der Regel real zugreift.192 Die Bestimmung des Schutzbereichs dient ferner der Klärung, ob ein bestimmtes Verhalten staatlichen Eingriffen entzogen ist oder staatliche Eingriffe nur unter verfassungsrechtlicher Rechtfertigung zulässig sind. Der Schutzbereich markiert die „potentielle Reichweite“ des Grundrechtsschutzes;193 der Freiheit des Bürgers kommt insoweit zunächst lediglich eine Prima-facie-Bedeutung zu.194 „Definitive Freiheit“ ist erst dann gewährleistet, wenn das entsprechende Verhalten nicht rechtswirksam eingeschränkt wurde.195 Der Schutzbereich wirkt also so, dass der Staat, der in diesen „Bereich“ eingreifen will, unter Rechtfertigungszwang gerät – im Unterschied zum Grundrechtsträger, der sein Verhalten innerhalb des Schutzbereichs gerade nicht rechtfertigen muss.196 Die Einordnung in bestimmte grundrechtliche Schutzbereiche bestimmt damit vor allem die Modalitäten der Rechtfertigung des Eingriffs. In Anlehnung an Alexys Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien197 kann man die Begriffe Schutzbereich und Schutzgut mit Isensee198 wie folgt ins Verhältnis setzen: Der Schutzbereich des Grundrechts stellt eine Regel dar, ___________ 192 193
Siehe dazu schon vor § 7. Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr.
40. 194
So die vorzugswürdige „Außentheorie“. Nach ihr ist zu unterscheiden zwischen dem „Recht an sich“, das nicht beschränkt ist und dem, was von dem Recht nach Hinzufügung einer Schranke bleibt, dem eingeschränkten Recht. Nach der „Innentheorie“ ist nicht zwischen zwei Gegenständen – dem Recht und der Schranke bzw. dem eingeschränkten Recht – zu unterscheiden. Das Recht hat danach vielmehr einen bestimmten Inhalt; die Grenze dieses Rechts wird von dem bestimmt, was die „Außentheorie“ als Schranke formuliert, die Grenze ist dem Recht gleichsam immanent. Danach könnte es aber keinen Eingriff in ein Recht geben, der verfassungsrechtlich gerechtfertigt wäre, weil das Recht nur so weit geht, wie keine rechtmäßige Grenze existiert. Sieht man in grundrechtlichen Schutzgütern aber Prinzipien – dazu sogleich im Text –, dürfte diese Annahme nicht zutreffen. Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 250 ff., insbes. S. 253; eingehend und m.w.N. auch v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 15 ff. 195 Vgl. zu dieser Konsequenz v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 16. 196 Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 47; v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 38; vgl. auch Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik (1977), S. 152, der von „potentiellem Grundrechtsschutz“ spricht. 197 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 75 f.: Prinzipien sind danach Normen, die auf Optimierung gerichtet sind, also Gebote, die in unterschiedlichem Maße erfüllt werden können. Regeln sind Normen, die entweder erfüllt sind oder nicht. Auch nach Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 42 ist das grundrechtliche Schutzgut ein Optimierungsgebot und damit Prinzip. Praktisch wird dies v.a. für das Übermaßverbot, das den Umgang der öffentlichen Gewalt bei Kollision von Prinzipien regelt. Kritisch zur Prinzipientheorie jüngst Klement, JZ 2008, 756 ff. 198 Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 42.
§ 10 Eingriff in den Schutzbereich
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weil er genau bestimmt, wo der Grundrechtsschutz und damit der Rechtfertigungszwang durch den Staat beginnt. Beim grundrechtlichen Schutzgut selbst handelt es sich hingegen um ein Prinzip, ein Optimierungsgebot, das je nach Konstellation mal mehr, mal weniger Minderung durch staatliche Eingriffe verträgt. Diese Einsicht ist wichtig für die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des strafprozessualen Grundrechtseingriffs, insbesondere im Hinblick auf das Übermaßverbot. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass der Schutzbereich und damit auch der Inhalt des grundrechtlichen Schutzgutes durch Auslegung zu bestimmen ist; Abwägung spielt erst auf der Ebene der Rechtfertigung eine Rolle.199 Abwägung setzt also zunächst Auslegung voraus.
§ 10 Eingriff in den Schutzbereich Mit der Figur des Eingriffs soll geklärt werden, ob das konkrete grundrechtliche Schutzgut eine Minderung erfahren hat, oder allgemeiner: ob die Freiheit des Bürgers beschränkt worden ist. Wird eine hoheitliche Maßnahme als Eingriff in ein konkretes Grundrecht angesehen, entfaltet der oben beschriebene Prima-facie-Schutz des Grundrechts seine Wirkung. Der Eingriff muss zunächst als unzulässig angesehen werden, es sei denn, er ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt.200 Damit stellt sich die Frage, wann hoheitliches Handeln einen Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts darstellt. Dieser Frage nachgehend werden zunächst der Begriff des Grundrechtseingriffs entwickelt und sich hieraus ergebende Fragen für strafprozessuale Grundrechtseingriffe behandelt (unter A.). Sodann wird untersucht, unter welchen Umständen eine Einwilligung des Betroffenen die Eingriffsqualität eines staatlichen Zugriffs auf das grundrechtliche Schutzgut entfallen lassen kann (unter B.). Abschließend ist zu klären, wie sich die richterliche Anordnung und das zu einem Eingriff ermächtigende Gesetz zu der Kategorie des Eingriffs verhalten (unter C.). ___________ 199 Vgl. auch Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 54. Das gleiche gilt für die Ermittlung der Schranken (Isensee ebd.). 200 v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 91. Ob diese Einsicht es rechtfertigt, vom üblichen dreiteiligen Aufbau einer Grundrechtsprüfung (1. Eröffnung des Schutzbereichs, 2. Eingriff, 3. Rechtfertigung) zugunsten einer zweistufigen Prüfung (1. Eingriff in den Schutzbereich, 2. Rechtfertigung) abzuweichen (so v. Arnauld, ebd.), darf hier offen bleiben. Für eine enge Verknüpfung von Schutzbereich und Eingriff spricht aber der Charakter der Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, deren Sinn eben Schutz vor staatlichen Eingriffen ist. Erst dann entsteht ein Rechtfertigungsdruck für den Staat, erst dann entfalten die Grundrechte also ihren Prima-facie-Schutz. Daraus folgt u.a., dass die Schutzbereichsprüfung immer im Hinblick auf den möglichen Eingriff erfolgt. Ähnlich Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 276 f., der dem Begriff der Schranke den Begriff des Grundrechtstatbestands gegenüberstellt und als vorzugswürdig einen „Schutzgut/Eingriff-Tatbestand“ verwendet.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
A. Eingriffsbegriff I. Klassischer und „moderner“ Eingriffsbegriff
Ob hoheitliches Handeln einen Grundrechtseingriff darstellt, wird vorderhand anhand des sog. „klassischen Eingriffsbegriffs“ untersucht. Seine Merkmale sind:201 –
Rechtsförmigkeit, also rechtliche, nicht nur tatsächliche Qualität der Beeinträchtigung,
–
Unmittelbarkeit der Beeinträchtigung,
–
Finalität des hoheitlichen Handelns,
–
Imperativität, also die Beeinträchtigung durch Befehl und Durchsetzbarkeit mit staatlichem Zwang.
Es ist deutlich, dass sich diese Kriterien zur Bestimmung des Grundrechtseingriffs am Begriff des Verwaltungsaktes orientieren. Diese Orientierung erweist sich aber nicht nur als zu eng,202 sondern als von vornherein verfehlt. Dabei ist schon zweifelhaft, ob der Eingriffsbegriff im Wortsinne überhaupt „klassisch“ ist, denn die Grundrechte sind als subjektive Rechte gerade in Reaktion auf den realen Zugriff auf Freiheitsrechte entstanden.203 Die Fixierung auf den „klassischen“ Eingriffsbegriff erklärt sich zum Teil damit, dass es bis Mitte des 20. Jh. keine Möglichkeit gab, verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutz zu erlangen. Rechtsschutz gegen Eingriffe der Verwaltung beschränkte sich vielmehr auf die Möglichkeit, gegen Verwaltungsakte vorzugehen.204 Damit bot die geltende Rechtslage gar keinen Anlass, eine ausgefeilte Dogmatik
___________ 201
Bethge, VVDStRL 56 (1997), 7 (38); Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 61; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff (1992), S. 176; Weber-Dürler, VVDStRL 56 (1997), 57 (60 f.); Bleckmann/Eckhoff, DVBl. 1988, 373 f.; BVerfGE 105, 279 (300). 202 So die inzwischen einhellige Auffassung, vgl. etwa Lerche, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 121 Rdnr. 52; Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 149 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II (2006), Rdnr. 239. 203 In den amerikanischen Kolonien führten englische Handelsmonopole und die Besteuerungspraxis zu Schmuggelhandel, auf den die Engländer mit Haussuchungen und Verhaftungen reagierten, vgl. nur Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß (1978), S. 58. Die Situation eskalierte 1773 in Boston („Boston Tea Party“) und führte schließlich zur amerikanischen Revolution. Im absolutistischen Frankreich löste die Verhaftungspraxis 1789 den Sturm auf die Bastille aus, womit die französische Revolution entfacht wurde. Ergebnis war jeweils die rechtliche Institutionalisierung von Freiheitsrechten. 204 s.o. § 7 A.I.
§ 10 Eingriff in den Schutzbereich
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des Grundrechtseingriffs auszuarbeiten.205 Man wird daher sagen können, dass Staatsrechtslehre und Rechtsprechung bei Erlass des Grundgesetzes mit der „Belastung“ des 19. Jh., also des faktischen Gleichlaufs von Verwaltungsakt und rechtsschutzfähigem Eingriff, „gestartet“ sind. Jedenfalls Rechtsförmigkeit und Imperativität scheiden wegen ihrer zu strengen Ausrichtung am Verwaltungsakt von vornherein als Bestandteile eines Eingriffsbegriffs aus. Nach einer gängigen Definition eines „modernen“ Eingriffsbegriffs ist Eingriff jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, erschwert oder behindert.206 Die Weite dieser Definition führt aber zu einem dem oben beschriebenen genau entgegengesetzten Folgeproblem: Der Eingriffsbegriff ist nicht zu eng, sondern – womöglich – zu weit. Fraglich ist damit, ob und gegebenenfalls wie der Eingriff angemessen eingegrenzt werden muss. Zu klären ist also, ob es Grundrechtsbeeinträchtigungen gibt, die keine rechtfertigungsbedürftigen Eingriffe sind. Diese Frage ist auch für den Schutz materieller Grundrechte im Strafverfahren von Interesse. Allerdings braucht sie hierfür nicht in aller Breite behandelt werden: Unschärfen ergeben sich nämlich vor allem bei Maßnahmen, die aus dem „klassischen“ Eingriffsbegriff fallen, weil sie nur mittelbar oder nicht zweckgerichtet den Schutzbereich beeinträchtigen.207 Strafprozessuale Maßnahmen tragen aber regelmäßig unmittelbare und finale Züge. Das Problem kann also bis auf zwei Teilaspekte – die im Folgenden behandelt werden – ausgeblendet werden.
___________ 205
Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 86; ferner Bleckmann/Eckhoff, DVBl. 1988, 373. Sachs (ebd., S. 94 f.) weist aber darauf hin, dass dem „klassischen“ Eingriffsbegriff auch in der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit nie ein abschließender Charakter zukam, er nicht mehr als ein Typus war; ähnlich Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 148 f. Allerdings wird diese Aussage doch dadurch relativiert, dass praktisch Rechtsschutz gegen (aus heutiger Sicht unzweifelhaft eingreifende) Realakte nicht gewährt oder – in den Worten Otto Mayers, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1 (1924), S. 97 m. Fn. 9 – aus ihnen ein Verwaltungsakt „nötigenfalls ‚erdichtet‘“ wurde. 206 v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 98; Bethge, VVDStRL 56 (1997), 7 (40); enger aber Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II (2006), Rdnr. 240 (lediglich „ganz oder teilweise unmöglich macht“). Das BVerfG scheint diesen „modernen“ Eingriffsbegriff jedenfalls teilweise dem Begriff der „Beeinträchtigung“ vorzubehalten, siehe etwa BVerfGE 105, 279 (300 f.). 207 Vgl. nur v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 94 ff.; Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte (1988), S. 44 ff.; Bleckmann/ Eckhoff, DVBl. 1988, 373 ff.; Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 151 ff.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt II. Einschränkung für Bagatellen?
Bei dem ersten dieser beiden Teilaspekte geht es unter dem Blickwinkel des Strafverfahrens unter anderem darum, ob jedes staatliche Handeln, das der Aufnahme einer Information dient,208 einen Grundrechtseingriff darstellt. In die Grundrechtslehre übertragen: Steht der Begriff des Grundrechtseingriffs unter Bagatellvorbehalt?209 Mit der Verneinung der Frage wäre für die rechtliche Zulässigkeit von Bagatelleingriffen zunächst nichts gesagt, wäre doch mit einer Ablehnung einer Geringfügigkeitsschwelle lediglich die Ebene der Rechtfertigung eröffnet. An nur geringfügige Beeinträchtigungen würden materiell (im Rahmen der Verhältnismäßigkeit) auch geringere Anforderungen an die Rechtfertigung gestellt.210 Gegen eine solche Bagatellgrenze spricht zunächst, dass dem GG eine solche Begrenzung auf eine – wie auch immer zu bestimmende – hinreichend intensive Beeinträchtigung nicht zu entnehmen ist: Art. 1 Abs. 3 GG bindet die öffentliche Gewalt nicht nur bei Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter von Gewicht; ebenso wenig enthalten die einzelnen Grundrechtsbestimmungen entsprechende Einschränkungen.211 Hinzu kommt, dass die Grenze der Geringfügigkeit nur schwer zu ziehen ist,212 man also den Begriff des Eingriffs durch eine solche Klausel mit erheblicher Unschärfe belastet. Solche Grenzfälle dürften hingegen für die Abwägung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung kaum Schwierigkeiten bereiten.213 Auch die Besorgnis, die Staatsgewalt sei überfordert oder gar gelähmt, wollte man für jede geringfügige
___________ 208 Beispiele: Über den Beschuldigten werden Auskünfte von Privaten eingeholt; ein Polizist läuft dem Verdächtigen auf einer Straße nach, beobachtet ihn und sammelt Informationen. 209 In diesem Sinne Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 66; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff (1992), S. 255 ff.; Pieroth/ Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II (2006), Rdnr. 248; Benfer, Rechtseingriffe von Polizei und Staatsanwaltschaft (2003), Rdnr. 11 ff.; a.A. Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 204 ff.; v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 98; Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 156; Bethge, VVDStRL 56 (1997), 7 (45); Weber-Dürler, VVDStRL 56 (1997), 57 (87). 210 Zutreffend v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 99 gegen Eckhoff, Der Grundrechtseingriff (1992), S. 256, der schon den Überprüfungsaufwand, der mit der Annahme eines Grundrechtseingriffs verbunden wäre, für unverhältnismäßig hält. Vgl. auch Weber-Dürler, VVDStRL 56 (1997), 57 (87). 211 v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 98. 212 Bethge, VVDStRL 56 (1997), 7 (45); Weber-Dürler, VVDStRL 56 (1997), 57 (87). 213 Vgl. zur Rolle der Intensität im Abwägungsvorgang Weber-Dürler, VVDStRL 56 (1997), 57 (87).
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Beeinträchtigung eine gesetzliche Grundlage fordern,214 scheint übertrieben: Der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes fordert lediglich eine Befugnisnorm, die nicht notwendigerweise detailliert und ausdifferenziert sein muss.215 Gerade geringfügige Eingriffe können damit auf Eingriffsgeneralklauseln gestützt werden. Für das Strafverfahren existieren in den §§ 161/163 StPO die Ermittlungsgeneralklauseln, die seit dem StVÄndG 1999216 als Befugnisnormen ausgestaltet sind und damit auch dem Vorbehalt des Gesetzes genügen. Dass mit einer solchen Erweiterung eine „Hypertrophie“ des Rechtsschutzes verbunden wäre, muss schließlich nicht ernsthaft befürchtet werden: Soweit sich geringfügige Beeinträchtigungen noch nicht erledigt haben, spricht nichts dagegen, eine solche Beeinträchtigung auch gerichtlich abzuwehren. Ist hingegen – was bei strafverfahrensrechtlichen Ermittlungen die Regel sein wird – Erledigung eingetreten, ist Rechtsschutz nur dann zuzulassen, wenn die Beeinträchtigung noch in irgendeiner Weise fortwirkt und im Hauptverfahren selbst nicht beseitigt werden kann.217 Ein Bagatellvorbehalt ist damit nicht gerechtfertigt. Das gilt gerade auch für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung: Nach den insoweit überzeugenden Ausführungen des BVerfG bergen die Datenverarbeitungsmöglichkeiten die Gefahr in sich, dass die Bürger „nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit etwas über sie weiß.“218 Auch die Aufnahme solcher belangloser Daten birgt die Gefahr in sich, durch Verknüpfung mit weiteren (für sich genommen belanglosen) Daten zu einem Persönlichkeitsprofil beizutragen. Hieraus schließt das BVerfG mit dem berühmt gewordenen Satz: „Insoweit gibt es unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein ‚belangloses‘ Datum mehr.“219
III. Einschränkung für mittelbare Grundrechtseingriffe?
Bei dem zweiten Teilaspekt geht es um eine Ausnahme von der Regel, dass im Strafverfahren nur unmittelbar auf grundrechtliche Schutzgüter zugegriffen wird, also um mittelbare Beeinträchtigungen. Kennzeichen mittelbarer Beeinträchtigungen ist, dass der beeinträchtigende Akt nur über Zwischenschritte zu ___________ 214 Sodan, DÖV 1987, 858 (863); in diesem Sinne auch Weber-Dürler, VVDStRL 56 (1997), 57 (76). 215 So auch v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 98. 216 G v. 2.8.2000, BGBl. I, S. 1253. 217 Zu diesen Grundsätzen ausführlich § 13 C. 218 BVerfGE 65, 1 (43). 219 BVerfGE 65, 1 (45). Speziell für die Informationserhebung im Strafverfahren gegen eine Bagatellklausel auch Puschke, Die kumulative Anordnung von Informationsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung (2006), S. 69 f.
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einem Beeinträchtigungserfolg führt.220 Mittelbare Beeinträchtigungen treten im Strafverfahren vor allem in der Konstellation auf, dass die Strafverfolgungsbehörden Privatpersonen dazu anhalten, vom Beschuldigten Informationen zu erlangen. Aufgeworfen wird damit die Eingriffsqualität der verdeckten Ermittlung durch V-Leute und die staatlich veranlasste nichtoffene Befragung durch Private („Hörfalle“). Bei diesen Maßnahmen tritt zwischen den staatlichen Akt – das Heranziehen eines Privaten – und den Beeinträchtigungserfolg – die Erlangung ermittlungsrelevanter Informationen durch die Strafverfolgungsbehörden – noch der Entschluss des Privaten, in dem entsprechenden Sinne tätig zu werden, das Erlangen der Information in seiner Hand und die Weitergabe derselben an die Strafverfolgungsbehörden. Nach der oben aufgeführten – weiten – Eingriffsdefinition handelt es sich um einen Grundrechtseingriff, denn die Maßnahme beeinträchtigt den Betroffenen zumindest221 in seinem durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG gewährten informationellen Selbstbestimmungsrecht (genauer: einem Informationsbeherrschungsrecht),222 also dem Recht, zu bestimmen, welche Informationen er gegenüber dem Staat preisgeben will. Aber es ist schon soeben die Frage aufgeworfen worden, ob diese weite Definition begrenzt werden muss. Letztlich handelt es sich bei der Frage, ob mittelbare Beeinträchtigungen als Eingriffe zu qualifizieren sind, um ein Zurechnungsproblem. Begibt man sich auf diese Wertungsebene, ist die Maßgabe plausibel, dass den Staat nicht zur Rechtfertigung zwingen kann, was ihm als Grundrechtsadressaten nicht mehr zugerechnet werden kann223 – auch wenn in Grenzbereichen die Tauglichkeit dieser Formel fraglich ist.224, 225 Ein solcher Grenzbereich liegt bei den hier interessie___________ 220 Vgl. auch Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 146, der „Unmittelbarkeit“ als eine der „Regelungsintensität“ bei Imperativen vergleichbare enge Verbindung zwischen Staatsakt und die durch ihn bedingte Grundrechtsbeeinträchtigung bezeichnet; ferner v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 95. 221 Für die Hörfalle liegt ein Eingriff in das speziellere Grundrecht des Art. 10 GG (Fernmeldegeheimnis) vor, vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2007), Art. 10 Rdnr. 11; a.A. hingegen BGHSt 42, 139 (154). 222 Renzikowski, JZ 1997, 710 (715); vgl. zu dem Begriff Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 30 ff. 223 Treffend v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 101. Die Dogmatik zum mittelbaren Grundrechtseingriff ist aber alles andere als gefestigt: So wird teilweise Finalität im Hinblick auf den Beeinträchtigungserfolg gefordert (so etwa BVerwGE 90, 112 [120] m.w.N. aus der verwaltungsgerichtlichen Rspr.; siehe auch Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 192 ff.), nach a.A. soll eine bloße mittelbar faktische Beeinträchtigung nicht ausreichen (ausführliche Nachweise bei Bleckmann/Eckhoff, DVBl. 1988, 373 [374]). 224 Immerhin können mit ihr Extremfälle bewältigt werden. Oft wird das Bsp. angeführt, eine Personenkontrolle führe zu einem Verkehrsstau und die Frage aufgeworfen, ob diese Maßnahme einen Eingriff in Grundrechte der (im Stau stehenden) Verkehrsteil-
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renden Beeinträchtigungen aber schon nicht vor: Die Strafverfolgungsbehörden instrumentalisieren private Dritte, sie wählen bewusst eine längere „Kausalkette“ zwischen Staatsakt und Beeinträchtigungserfolg, weil der „kürzere Weg“, der direkte Zugriff auf den Betroffenen zur Erlangung der Information, nicht die gleiche Wirkung verspricht. Jedenfalls in solchen Fällen der Instrumentalisierung, die letztlich eine „Flucht in die Mittelbarkeit der Beeinträchtigung“ darstellt, liegt ein Grundrechtseingriff vor.226, 227 Der Staat trägt damit die Rechtfertigungslast; er braucht v.a. eine gesetzliche Eingriffsermächtigung.228 Eine Zurechnung zum Staat hat nach dem Gesagten hingegen zu unterbleiben, wenn eine Privatperson von sich aus – also ohne vorherige Instrumentali___________ nehmer darstelle. Statt hierauf mit der aus den oben aufgeführten Gründen unhaltbaren Forderung zu reagieren, bei dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG am klassischen Eingriffsbegriff festzuhalten (Nachweise bei Weber-Dürler, VVDStRL 56 [1997], 57 [83]), sollte der weite Eingriffsbegriff sinnvoll begrenzt werden. 225 Nach v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 101 ff., stehen für Grenzfälle zur Zurechnung einer Beeinträchtigung zum Staat als Grundrechtsadressaten eine Reihe von Kriterien zur Verfügung, etwa: Sinn und Zweck des Grundrechtsschutzes, Schutzrichtung der Freiheitsrechte, Ausschluss selbstverantwortlichen Handelns des Grundrechtsträgers, Verletzung einer Schutzpflicht durch den Staat, Vorliegen bloßer Unglücksfälle. 226 Im Ergebnis ebenso für „Hörfallen“ Renzikowski, JZ 1997, 710 (715); Meurer, in: Festschrift für Roxin (2001), S. 1281 (1290 ff.); Sternberg-Lieben, Jura 1995, 299 (303 f.), der zur Rechtfertigung der „Hörfalle“ allerdings unzutreffend auf die seinerzeit noch nicht als Befugnisnormen ausgestalteten Ermittlungsgeneralklauseln der §§ 161/163 StPO zurückgreift; für V-Leute Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), S. 66; Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht (1992), S. 90/92; Eschelbach, in: KMR-StPO (2005), Einl. 39; Lagodny, StV 1996, 167 (170); Duttge, JZ 1996, 556 (562 f.) für das allgemeine Persönlichkeitsrecht; Makrutzki, Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß (2000), S. 104 ff.; Weiler, Grundlagen und Grenzen des Polizeilichen Einsatzes von Vertrauenspersonen im Strafverfahren (2001), S. 170 ff.; Erfurth, Verdeckte Ermittlungen (1997), S. 48; Lammer, Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß (1992), S. 25 ff.; Ellbogen, Die verdeckte Ermittlungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden durch die Zusammenarbeit mit V-Personen und Informanten (2004), S. 71 (Beeinträchtigung der informationellen Selbstbestimmung); ähnlich Eifert, NVwZ 2008, 521 (522); BVerfG (Kammer), NStZ 2000, 489 (490) (obiter); a.A. (kein Grundrechtseingriff) hingegen für „Hörfallen“ BGHSt 42, 139 (145 ff., insbes. 150 f., 154); für VLeute Krey, Rechtsprobleme des strafprozessualen Einsatzes Verdeckter Ermittler (1993), Rdnr. 17 (zu V-Leuten), 102 ff. m.w.N. (zu verdeckten Ermittlern). Auch der Gesetzgeber ging anlässlich der Regelung des verdeckten Ermittlers durch das OrgKG v. 15.7.1992 (BGBl. I, S. 1302) in den §§ 110a ff. StPO fälschlicherweise davon aus, VLeute seien lediglich Zeugen, ihre Heranziehung im Ermittlungsverfahren daher von den Vorschriften der StPO hinreichend erfasst (siehe Gesetzentwurf des Bundesrates, BTDrs. 12/989, S. 41); hiergegen zutr. Rogall, NStZ 2000, 489 (492). 227 Entsprechend für den Eingriff in das Grundrecht aus Art. 10 GG durch die gerichtlich angeordnete Auskunft über die Verbindungsdaten der Telekommunikation durch private Telekommunikationsunternehmen BVerfGE 107, 299 (313 f.). 228 Ob eine solche Eingriffsermächtigung in den Ermittlungsgeneralklauseln der §§ 161/163 StPO vorliegt, ist fragwürdig. Siehe dazu bei § 11 A.VI. und VII.
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sierung durch den Staat als Mittler zwischen sich und dem Grundrechtsträger – den Strafverfolgungsbehörden Gesprächsinhalte offenbart.229 Die strafverfahrensrechtliche Diskussion scheint diese grundrechtliche Dimension des gezielten Einsatzes Privater bisweilen zu vernachlässigen und sich eher der Frage zuzuwenden, ob mit dem Einsatz Privater Vernehmungssituationen umgangen werden.230 Das mag darin begründet sein, dass die Aussagefreiheit absolut geschützt ist und im Hinblick auf die Prozesssituation einen weitergehenden Schutz garantiert als die materiellen Grundrechte.231
B. Einwilligung als Eingriffsausschluss Einer Einwilligung des Betroffenen kann – über die „klassischen“ Anwendungsfelder im Straf- oder Deliktsrecht hinaus – auch für Grundrechtseingriffe Bedeutung zukommen.232 Das war unter der Geltung des Grundgesetzes nicht immer unumstritten. Noch Forsthoff hat aus dem Machtgefälle zwischen Staat und Bürger geschlossen, dass der Staat bei einvernehmlichem Handeln mit dem Bürger seine Übermacht zur gesetzeswidrigen Benachteiligung des Privaten nutzen könnte.233 Dieser Einwand mag im Kern berechtigt sein, denkt man etwa daran, dass der Verzichtsgedanke234 verwendet wurde, um Grundrechtseingriffe in freiwillig begründeten „besonderen Gewaltverhältnissen“ ohne ermächtigendes Gesetz zuzulassen.235 Der Einwand schießt dennoch über das Ziel hinaus: Besteht die Gefahr, der Staat werde seine Übermacht im Einzelfall in dem befürchteten Sinn ausnutzen, wird man der Einwilligungsmöglichkeit für diesen Fall einen Riegel vorschieben müssen, indem man etwa dem Bürger die Dispositionsbefugnis über bestimmte Rechtsgüter abspricht oder an die Freiwilligkeit einer Einwilligung entsprechend hohe Voraussetzungen stellt. Das berechtigt ___________ 229 Zutr. Lagodny, StV 1996, 167 (170); Renzikowski, JZ 1997, 710 (715); Bethge, VVDStRL 56 (1997), 7 (45 m. Fn. 257). 230 Exemplarisch nur Seitz, NStZ 1995, 519; Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), S. 202 für „Hörfallen“; Sternberg-Lieben, JZ 1995, 844 (848); Weßlau, Vorfeldermittlungen (1989), S. 211 ff. für V-Leute; siehe aber § 10 Fn. 226. 231 Für den Einsatz verdeckter Ermittler BGHSt 52, 11 ff. (insbesondere Rdnr. 19 ff.). 232 Grdl. Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 9 ff. m.w.N. 233 So v.a. zum subordinationsrechtlichen Vertrag, allerdings mit umfassenderem Anspruch Forsthoff, DVBl. 1957, 724 (725); im Anschluss daran auch Schenke, JuS 1977, 281 (286); ausf. und m.w.N. Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 79 ff. 234 Zur Terminologie sogleich unter I. 235 So etwa Jesch, Gesetz und Verwaltung (1968), S. 209 f. m.w.N.; bezeichnenderweise aber auch Forsthoff selbst, siehe dens., Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1 (1973), S. 128.
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aber nicht dazu, die Möglichkeit eines solchen Eingriffsausschlusses generell zu versagen. Sie ist vielmehr gerade für das Strafverfahren von großer Bedeutung, nicht zuletzt weil es strafprozessuale Vorschriften gibt, die mindestens implizit von einer Einwilligungsmöglichkeit ausgehen (z.B. §§ 81a Abs. 1 S. 2, 81c Abs. 1, 94 Abs. 2 StPO). Von Bedeutung ist auch, ob sich Ermittlungsbeamte etwa bei der Haussuchung auf den Standpunkt zurückziehen können, der Betroffene habe in die Maßnahme eingewilligt, weshalb eine richterliche Anordnung entbehrlich sei. Auch die jüngeren – wenngleich durch die neue Gesetzeslage obsolet gewordenen236 – Diskussionen, ob eine Einwilligung in eine DNA-Analyse eine richterliche Anordnung ersetzen kann237 oder um freiwillige DNA-Reihentests238 zeigen die Aktualität und Brisanz der Einwilligung in strafprozessuale Grundrechtseingriffe.
I. Abgrenzungsfragen
Die Einwilligung als Eingriffsausschluss ist von verschiedenen Problemkreisen abzugrenzen: Erstens ist die Einwilligung in den Kontext des Prozessrechts einzuordnen und insbesondere von prozessrechtlichen (Parallel-)Instituten zu unterscheiden (1.). Zweitens ist das Verhältnis zu dem Rechtsinstitut zu klären, das die Staatsrechtlehre als Grundrechtsverzicht bezeichnet (2.). Drittens besteht ein Unterschied, ob grundrechtlicher Schutz von vornherein nicht gewährt wird, wenn der Staat im Einvernehmen mit dem Grundrechtsträger handelt (3.). Viertens gilt es, die Einwilligung abzugrenzen von der bloßen Nichtausübung des aus dem Grundrecht folgenden Abwehrrechts (4.). ___________ 236 Vgl. die Änderung der §§ 81f und 81g und die Einfügung des § 81h StPO durch das Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse v. 12.8.2005, BGBl. I 2005, S. 2360 ff.; siehe bereits § 8 A.II.3. 237 In diesem Sinn etwa Rogall, in: SK-StPO (2004), § 81g Rdnr. 49; Sprenger/Fischer, NJW 1999, 1830 (1831 ff.); Rackow, Das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz und seine Probleme (2001), S. 137; E. Volk, NStZ 1999, 165 (169); LG Hamburg, NJW 2000, 2288; dagegen Krause, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), § 81f Rdnr. 15; Vath, Der genetische Fingerabdruck zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren (2003), S. 100; Graalmann-Scheerer, JR 1999, 453 (455); Busch, StraFo 2002, 46 (48 f.); LG Wuppertal, NJW 2000, 2687 f. Der Gesetzgeber hat den Richtervorbehalt inzwischen für den Fall der Freiwilligkeit dispensiert, vgl. § 81f Abs. 1 und § 81g Abs. 3 StPO n.F. 238 Gegen die Zulässigkeit „freiwilliger“ Reihentest auf der Grundlage der bis 2005 geltenden Rechtslage hatten u.a. keine Bedenken Krause, in: Löwe/Rosenberg, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), § 81f Rdnr. 16; BVerfG (Kammer), NJW 1996, 1587 (1588); abl. hingegen Satzger, JZ 2001, 639 (647 f.); Graalmann-Scheerer, ZRP 2002, 72 (75 f.); siehe auch § 10 B.V.3. bei Fn. 316 f. Inzwischen lässt § 81h StPO n.F. freiwillige DNAReihentests in bestimmten Fällen aufgrund richterlicher Gestattung zu.
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1. Verzicht als prozessrechtlicher Begriff Im Hinblick auf das Prozessrecht ist die hier bereits näher behandelte Unterscheidung zwischen regulativen und konstitutiven Normen bedeutsam.239 Die Einwilligungsfrage stellt sich, wenn es um den Eingriff in materielle Grundrechte geht. Sie steht damit im Kontext regulativer Normen, nimmt regulativen Verbotsnormen also ihren Verbotscharakter. Der Verzicht betrifft das Problem der Einhaltung konstitutiver Verfahrensnormen, genauer gesagt: wenn die Abweichung von konstitutiven Normen in Rede steht.240 Das zeigt sich auch in den Wirkungen der beiden Institute: Die Einwilligung schließt im Ergebnis die Verletzung materieller Rechte aus. Sie schafft nur eine „Momentaufnahme“ und kann vor der Beeinträchtigung der Rechtsposition vom Berechtigten wieder aus der Welt geschafft werden. Beim Verzicht geht es nicht um solche Rechtspositionen, sondern um Verfahrenslagen. Mit Verzicht auf die Einhaltung prozessualer Normen wird eine neue Prozesslage auf dem Weg hin zur Entscheidung erreicht, die der Betreffende in aller Regel nicht mehr „rückwärts“ verlassen kann.241 Hieraus ergibt sich zugleich folgende Definition für die Einwilligung: Sie ist im Unterschied zum Verzicht eine Erklärung, mit der der Betreffende kundtut, die Beeinträchtigung eines durch regulative Normen geschützten Rechtsguts hinzunehmen. Die Einwilligung wird vor der Rechtsgutsbeeinträchtigung abgegeben und ist bis zu dieser jederzeit widerrufbar.
2. Grundrechtsverzicht Sichtet man die Stellungnahmen der Staatsrechtslehre zur Einwilligung in Grundrechtsbeeinträchtigungen, fällt eine gewisse Schieflage auf, die dadurch entsteht, dass die hier behandelte Frage meist unter dem Aspekt des Grundrechtsverzichts diskutiert bzw. die Einwilligung als Unterfall des Verzichts behandelt wird.242 Dies ist zumindest terminologisch misslich. Der Begriff des ___________ 239
s.o. § 5. Vgl. zum Verzicht (allerdings ohne die hier vertretene normtheoretische Unterscheidung ausdrücklich nachzuvollziehen) etwa Müller, Zum Problem der Verzichtbarkeit und Unverzichtbarkeit von Verfahrensnormen im Strafprozeß (1984), v.a. S. 46 ff.; Schmid, Die „Verwirkung“ von Verfahrensrügen im Strafprozess (1967), S. 89 ff; Hanack, in: Löwe/Rosenberg, Bd. 5 (25. Aufl. 1998), § 337 Rdnr. 269 ff.; Frisch, in: SKStPO (2004), § 337 Rdnr. 206 ff. 241 Vgl. etwa zum Rechtsmittelverzicht BGH, NJW 1984, 1974 (1975); NStZ 1984, 181; NStZ 1997, 148; weitere Fälle bei Frisch, in: SK-StPO (2004), § 337 Rdnr. 210. 242 Siehe etwa Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 887 ff., insbes. S. 893; Lerche, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 122 Rdnr. 45; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik (1977), S. 92 ff.; Robbers, JuS 1985, 925 ff.; Quaritsch, in: Gedächtnisschrift für Martens (1987), S. 407 ff.; Merten, in: Festschrift für Schmitt Glaeser (2003), 53 (61); Sei240
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Verzichts sollte – entsprechend dem unter 1. Ausgeführten – verwendet werden, wenn es um die Einhaltung konstitutiver Normen geht, der Begriff der Einwilligung, wenn die Abweichung von regulativen Normen in Rede steht. Da die materiellen Grundrechte die vorgefundenen Interessen zwischen dem Staat und seinen Bürgern zum Gegenstand haben und damit vorhandene Güter schützen, handelt es sich um regulative Normen.243 Geht es also darum, ob der Staat in Übereinstimmung mit dem Willen des Bürgers den Schutzbereich dieser Rechte beeinträchtigt, sollte von „Einwilligung“ gesprochen werden.
3. Besonderheiten grundrechtlicher Schutzbereiche Von der Einwilligung in die Beeinträchtigung eines von einem Grundrecht geschützten Rechtsguts ist der Fall zu unterscheiden, dass das Handeln entsprechend dem Willen des Betroffenen schon dem Text des Grundgesetzes nach kein Eingriff in den Schutzbereich sein kann, wenn also das grundrechtliche Schutzgut nach Wortlaut und Teleologie des Grundrechtstatbestandes nur bei Handeln gegen bzw. ohne den Willen des Betroffenen tangiert sein kann. Wer einverstanden ist, leistet z.B. schon begrifflich keine „Zwangsarbeit“ i.S.d. Art. 12 Abs. 2 GG, gegen dessen Willen wird sein Kind nicht von der Familie getrennt (Art. 6 Abs. 3 GG), der wird nicht gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen (Art. 4 Abs. 3 GG);244 und wer sein Eigentum vertraglich auf den Staat überträgt, wird nicht enteignet.
___________ fert, Jura 2007, 99 ff.; Fischinger, JuS 2007, 808; Spieß, Der Grundrechtsverzicht (1997), passim (differenzierend aber etwa S. 12); Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527 ff. (differenzierend auf S. 530 f.); Bleckmann, JZ 1988, 57 ff. (Bezeichnung als Einwilligung auf S. 59 f.); terminologisch uneinheitlich auch Eckhoff, Der Grundrechtseingriff (1992), S. 183 ff.; Sturm, in: Festschrift für Geiger (1974), S. 173 ff. Wie hier Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 19 ff.; ders., StV 1985, 257 ff.; Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 54 ff.; Püttner/Brühl, JZ 1987, 529 (530); Bethge, VVDStRL 56 (1997), 7 (44); gegen den Begriff des Verzichts auch Dreier, in: ders., GG, Bd. 1 (2004), Vorb. Rdnr. 129 („schillernd“; deutlicher allerdings in der 1. Aufl. 1996, Vorb. Rdnr. 83, wonach der Ausdruck vermieden werden sollte); Sachs, VerwArch 76 (1985), 398 (419): irreführendes Etikett; ders., Verfassungsrecht II – Grundrechte (2000), S. 114. 243 s.o. § 5. 244 Beispiele von Sachs, VerwArch 76 (1985), 398 (419 f.); siehe auch Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 25; zum „Sonderfall“ Menschenwürde siehe B.V.2.
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4. Nichtausübung des grundrechtlichen Abwehrrechts Grundrechte sind Abwehrrechte, also Rechte, Eingriffe des Staates von sich fernzuhalten,245 deren prozessuale Durchsetzbarkeit über Art. 19 Abs. 4 GG sichergestellt wird. Übt nun ein Grundrechtsträger diese Berechtigung, gegen eine Verletzung seines Grundrechts den Rechtsweg zu beschreiten, nicht aus, hat das mit dem Phänomen der Einwilligung nichts zu tun. Die Verletzung eines Grundrechts ist unabhängig davon gegeben, ob sie vom Betroffenen klaglos hingenommen wird. Denn die Pflicht der Staatsgewalt, sich ungerechtfertigter Grundrechtseingriffe zu enthalten, ist objektivrechtlicher Natur.246 Diese Selbstverständlichkeit muss aber gerade für strafprozessuale Grundrechtseingriffe betont werden, sah doch der BGH im widerspruchslosen Hinnehmen der Verlesung eines Briefes in der Hauptverhandlung einen „Verzicht“ des Angeklagten in das Grundrecht aus Art. 10 GG.247 Richtigerweise hätte sich in diesem Fall die Frage gestellt, wie sich die Verletzung des Grundrechts – also der Verstoß gegen regulative Normen – auf die Situation des Prozessrechts auswirkt, ob also konstitutive Normen die Verwertung verbieten und ob gegebenenfalls im fehlenden Widerspruch des Angeklagten ein Verzicht auf die die Beweisverwertung verbietenden, konstitutiven Normen (nicht auf das Grundrecht) gesehen werden kann.248 ___________ 245 Statt vieler Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111, Rdnr. 1 ff. 246 Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 75. 247 BGHSt 19, 273 (279 f.); siehe dazu krit. Amelung, StV 1985, 257 (258); dens., in: Rüthers/Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat (1984), S. 1 (3); Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 58. 248 Die Rechtsprechung sieht darin, dass der verteidigte Angeklagte keinen Widerspruch gegen die Verwertung erhebt, einen Verzicht auf die Rügemöglichkeit des Verstoßes im Revisionsverfahren, vgl. zunächst für Verstöße gegen das Belehrungsgebot des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO BGHSt 38, 214 (225 f.); 39, 349 (352); 42, 15 (22); 50, 272 (274 f.); verallgemeinert für Beweisverbote schließlich von BGH, NJW 1996, 2239 (2241); ferner BGHSt 51, 1 (3); weitere Nachw. bei Ignor, in: Festschrift für Rieß (2002), S. 185 (187). Siehe im Zusammenhang mit der Einwilligung Amelung, StV 1985, 257 (258) m. Fn. 8; zur die Widerspruchslösung ablehnenden h.L. Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, Bd. 4 (25. Aufl. 1999), § 257 Rdnr. 12. Dass ein stillschweigender Verzicht auf die Einhaltung konstitutiver Normen möglich ist, ist aber zu bezweifeln. Denn man wird doch aus dem Umstand, dass es sich bei dem Verzicht um eine Prozesshandlung handelt, herleiten müssen, dass er unmissverständlich, v.a. also ausdrücklich, jedenfalls aber konkludent (also durch Verhalten mit Erklärungsgehalt, nicht stillschweigend) erfolgen muss. Auch wenn man das Problem nicht durch die Figur des Verzichts auf eine Rechtsposition, sondern – möglicherweise von praktischen Zwängen veranlasst – der Verwirkung der Rüge eines Verfahrensfehlers zu lösen sucht, kommt man nicht daran vorbei, dass die StPO im Gegensatz zur ZPO (§ 295) gerade keine allgemeine Präklusionsvorschrift enthält, die Raum für die Widerspruchslösung ließe.
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II. Grundrechtlicher Schutz des Einwilligungsrechts
Fraglich ist zunächst, ob und gegebenenfalls wodurch die Einwilligungsfreiheit des Betroffenen grundrechtlich geschützt ist. Es liegt vorderhand nahe, diese Frage unter Rückgriff auf das Problem der „Ausübung der negativen Grundrechtsfreiheiten“ zu lösen. Unter diesem Schlagwort geht die überwiegende Auffassung davon aus, dass die Freiheitsrechte des GG nicht nur die positive Freiheit schützen, von dem Grundrecht Gebrauch zu machen, sondern auch dessen Kehrseite, gleichsam die Freiheit, die das Grundrecht gewährt, nicht auszuüben.249 Ein solcher Rückgriff ist aber wegen der Unterschiedlichkeit der Problemlage nicht angebracht: Bei den „negativen Freiheiten“ geht es um den Nichtgebrauch einer speziellen, grundrechtlich gewährleisteten Freiheit. Wird in ein solches Recht eingegriffen, werden demnach Handlungszwänge begründet. Damit handelt es sich per se um einen bedenklichen, rechtfertigungsbedürftigen Vorgang. Die Einwilligung in eine Fremdbeeinträchtigung eines grundrechtlich geschützten Gutes hat aber mit solchen Handlungszwängen nichts zu tun; insbesondere begründete eine eventuelle Einschränkung der Einwilligungsfreiheit – unter der Prämisse, eine solche Einschränkung könnte einen Grundrechtseingriff darstellen – keinen solchen Zwang.250 Für einen grundrechtlichen Schutz der Einwilligungsfreiheit sind dagegen zwei Wege denkbar:251 Zum einen könnte dieser aus Art. 2 Abs. 1 GG, zum anderen aus dem speziellen Grundrecht hergeleitet werden, dessen Schutzgut beeinträchtigt wird. Auch wenn Grundrechte geschaffen wurden, um den Einbruch in die Freiheitssphäre des Bürgers abzuwehren und nicht, um „fremden Einfluss in sie hineinzuholen“252, führt dies aber nicht dazu, dass die Einwilligungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG vermittelt würde. Denn es liegt doch nahe, dass das Grundrecht dem Einzelnen das Recht gibt, mit dem grundrechtlichen Schutzgut253 nach Belieben zu verfahren. Ausprägung dieser Freiheit ist
___________ 249 Z.B. die Freiheit, keiner Vereinigung i.S.v. Art. 9 GG beizutreten oder keine Meinung i.S.v. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zu äußern usw. Allgemein z.B. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1995), Rdnr. 288. 250 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 28. 251 Sachs, VerwArch 76 (1985), 398 (411), geht hingegen – wie sich zeigen wird unzutreffend – davon aus, die Einwilligungsfreiheit sei gar nicht verfassungsrechtlich geschützt. 252 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 29. 253 Siehe zu dem Begriff vor § 7.
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auch die Befugnis, das Schutzgut entsprechend seinem Prinzipiencharakter „staatlicher Minderung“254 anheim zu stellen.255 Die Verfassung ist also nicht einwilligungsfeindlich. Aus dem Bekenntnis zur Unveräußerlichkeit der Menschenrechte in Art. 1 Abs. 2 GG kann jedenfalls nicht darauf geschlossen werden, dass die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes unzulässig wäre.256 Selbst eine Relativierung auf die Einwilligungsgrenze des Menschenwürdekerns257 würde den Gehalt dieser Vorschrift wohl überfrachten, ist sie doch im historischen Kontext zu verstehen und verbietet eher einen umfassenden Verzicht auf die naturrechtlichen Menschenrechte.258 Auch aus einer „objektivrechtlichen Bedeutung [der Grundrechte] als negative Kompetenzbestimmungen“ kann nicht geschlossen werden, die Grundrechte stünden generell nicht zur Disposition des Einzelnen.259 Denn Grundrechte sind doch zuvörderst subjektive Rechte des Einzelnen, mit seinen ___________ 254
Zum Schutzgut als Prinzip, der Möglichkeit „staatlicher Minderung“ und dem Verhältnis zum Schutzbereich als Regel siehe vor § 7 und § 9. 255 A.A. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 907 f.; Quaritsch, in: Gedächtnisschrift für Martens (1987), S. 407 (410); Kolz, Einwilligung und Richtervorbehalt (2006), S. 56 f.; Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 29 f., der die Einwilligungsfreiheit grundsätzlich in Art. 2 Abs. 1 GG, hingegen in dem entsprechenden Spezialgrundrecht nur dann geschützt sieht, wenn die Einwilligung das einzige Mittel ist, ein Grundrechtsgut zu sichern. Vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) erfasst sieht den „Verzicht“ Seifert, Jura 2007, 99 (102). Wie hier hingegen Robbers, JuS 1985, 925 (927); Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik (1977), S. 123 f. Ähnlich auch Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht (1997), S. 19 f., allerdings für die Freiheit, in eine Rechtsgutsbeeinträchtigung durch Private einzuwilligen. 256 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 29; Bleckmann, JZ 1988, 57 (58) zum Grundrechtsverzicht; Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527 (538); a.A. Malorny, JA 1974, 475 (478) für „Menschenrechte“. 257 So für den Grundrechtsverzicht Sturm, in: Festschrift für Geiger (1974), S. 173 (189), tendenziell auch Robbers, JuS 1985, 925 (929). Den Menschenwürdegehalt der Grundrechte sieht auch Dürig in: Maunz/Dürig, GG (Erstkommentierung 1958), Art. 1 Rdnr. 81, über Art. 1 Abs. 2 abgesichert. 258 So zum Grundrechtsverzicht Bleckmann, JZ 1988, 57 (58); Dreier, in: ders., GG, Bd. 1 (2004), Art. 1 II Rdnr. 17. 259 So aber Müller/Pieroth, Politische Freiheitsrechte der Rundfunkmitarbeiter (1976), S. 36 (Klammerzusatz nur hier). Allerdings hat die Untersuchung von Müller/ Pieroth eine Schieflage. Sie behandeln (ebd., S. 34 f.) zwar das Bsp., eine Person gestatte die Durchsuchung ihrer Wohnung ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl, indes differenzieren sie im Folgenden zwischen vier Fallgruppen, die das genannte Bsp. (das einzig der Einwilligung im hier behandelten Sinn entspricht) nicht mehr widerspiegeln. So wird das Problem unter der Fallgruppe diskutiert: „Der einzelne verpflichtet sich, Eingriffe in seine Grundrechte hinzunehmen.“ Von einer Verpflichtung kann aber bei der Einwilligung keine Rede sein; sie stellt vielmehr lediglich eine „Momentaufnahme“ dar, die durch Abwesenheit eines Eingriffsverbots gekennzeichnet ist und jederzeit für die Zukunft geändert werden kann.
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grundrechtlich geschützten Rechtsgütern nach seinem Belieben zu verfahren. Dass die Grundrechte negative Kompetenzbestimmungen darstellen, ist zwar zutreffend, hat aber Konsequenzen nur insoweit, dass die staatliche Gewalt an die Grundrechte gebunden und Grundrechtsverletzungen unabhängig davon vorliegen, ob der Betreffende das aus seinem Grundrecht resultierende Abwehrrecht geltend macht.260 Wenn Müller/Pieroth den Inhalt dieser Beschränkung mit der Feststellung „Grundrechte reichen nur so weit, wie sie reichen“ umschreiben,261 zeigt das im Übrigen deutlich, dass sie die Frage, ob die Grundrechte denn so weit reichen, Einwilligungen des Betroffenen in die Beeinträchtigung eines grundrechtlichen Schutzguts auszuschließen, selbst nicht beantwortet haben.262
III. Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes
Trotz Einwilligung erfährt das grundrechtliche Schutzgut eine Beeinträchtigung. Das fordert die Frage heraus, ob ausschließlich die Einwilligungsbefugnis des Betroffenen selbst zu begrenzen ist oder ob auch der Staatsakt, der sich mit der Einwilligung deckt, seinerseits rechtfertigende Voraussetzungen erfüllen muss. Das wird vor allem für Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes diskutiert.263
1. Der Vorrang des Gesetzes Verhältnismäßig leicht ist die Frage nach einem Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes zu beantworten. Ein Verstoß gegen den Gesetzesvorrang liegt zunächst ohne weiteres vor, wenn das einfache Recht die Einwilligung für unbeachtlich erklärt, wie z.B. § 136a Abs. 3 S. 1 StPO. Der Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut darf dann nicht auf eine Einwilligung gestützt werden. Ob die Abweichung von einer vorhandenen gesetzlichen Norm im Übrigen im Einvernehmen mit dem Betroffenen gegen diesen Grundsatz verstößt, ist eine Frage der Auslegung, insbesondere der teleologischen Interpretation der betreffenden Eingriffsermächtigung (und gegebenenfalls des Grundrechts, in das ein___________ 260
s.o. B.I.4. Müller/Pieroth, Politische Freiheitsrechte der Rundfunkmitarbeiter (1976), S. 36. 262 So treffend Sachs, VerwArch 76 (1985), 398 (419); abl. auch Bleckmann, JZ 1988, 57 (58). 263 Bleckmann, JZ 1988, 57 (60 ff.); Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 61; Sachs, VerwArch 76 (1985), 398 (412 ff.); Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527 (534 ff.). 261
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gegriffen wird).264 Ergibt diese Interpretation, dass von einer solchen Norm nicht nur Interessen des Schutzgutinhabers, sondern auch Allgemeininteressen berührt bzw. geschützt werden, würde ein entgegenstehendes Handeln des Staates – gleich ob mit oder ohne Einwilligung des Betroffenen – einen Verstoß gegen den Gesetzesvorrang darstellen. Folgt man also bspw. der Auffassung, § 114b Abs. 1 StPO, der – wie Art. 104 Abs. 4 GG – die Benachrichtigung eines Angehörigen oder einer Vertrauensperson des Beschuldigten vorsieht, diene auch öffentlichen Interessen,265 ist die Abweichung von der Norm auch im Einvernehmen mit dem Verhafteten nicht zulässig, weil diesem die Dispositionsbefugnis fehlt. Ein anderes Bsp. für die insoweit vorzunehmende Auslegung des einfachen Rechts war die Frage, ob von § 81f Abs. 1 StPO a.F.266 (Richtervorbehalt für molekulargenetische Untersuchungen) im Einvernehmen mit dem Beschuldigten abgewichen werden konnte.267 Eine weitere, damit noch nicht beantwortete Frage ist, ob ein solcher einfachgesetzlicher Ausschluss der Einwilligung einen Grundrechtseingriff darstellt.268
2. Der Vorbehalt des Gesetzes Schwieriger ist die Frage für den Gesetzesvorbehalt zu beantworten. Die historischen Wurzeln des Gesetzesvorbehalts liegen in der Vorstellung, die Locke mit dem Satz „the supreme power cannot take from any man any part of his property without his own consent“ zum Ausdruck gebracht hat.269 Der „own consent“ im Lockeschen Sinn ist der Kern eines demokratischen Gesetzesbegriffs, basierend auf der Zustimmung der Mehrheit, nicht die individuellpersönliche Einwilligung in die Beeinträchtigung durch einen Hoheitsakt: „the consent of the majority, giving it either by themselves, or their representatives chosen by them“.270 Allerdings ist mit diesem Gedanken die Möglichkeit, dass der Einzelne freiwillig Grundrechtsbeeinträchtigungen hinnimmt, durchaus vereinbar.271 Sie wendet den Gesetzesvorbehalt gewissermaßen vom Allgemei___________ 264 Vgl. Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 71; Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527 (535); siehe auch zur Parallelfrage der Befugnis, über ein grundrechtliches Schutzgut zu disponieren, B.V.2. 265 Siehe Nachweise § 10 Fn. 309. 266 Geändert durch Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse v. 12.8.2005, BGBl. I 2005, S. 2360 ff. 267 Siehe Nachweise in § 10 Fn. 237. 268 Siehe dazu B.V.1. 269 Locke, Two Treatises of civil Government (1690), Book II, Chapter XI, 138. 270 Locke, Two Treatises of civil Government (1690), Book II, Chapter XI, 140; dazu Jesch, Gesetz und Verwaltung (1968), S. 119. 271 Sachs, VerwArch 76 (1985), 398 (414); Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 65; Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527
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nen ins Besondere bzw. – anders ausgedrückt – der Konsens des von einer Beeinträchtigung Betroffenen „ist hier nicht nur in einer durch einen Mehrheitsentscheid vermittelten, sondern in seiner ursprünglicheren und aktuellen Form vorhanden.“272 Allerdings geben die neueren Entwicklungen um den Gesetzesvorbehalt Anlass, das Problem über diese historische Dimension hinaus zu beleuchten. Nimmt man etwa die Lehre vom Totalvorbehalt273 wörtlich, bedarf jedes staatliche Handeln einer gesetzlichen Ermächtigung, gleich ob das Handeln einverständlich erfolgt oder nicht. Es ist aber zweifelhaft, dass die Lehre in dieser Weise verstanden werden will. Schließlich geht es dabei vornehmlich um die Gewährung staatlicher Begünstigungen, also um eine Erweiterung des Gesetzesvorbehalts auf den Bereich staatlicher Leistungen. Dies hat mit dem hier erörterten Problem nicht unmittelbar zu tun. Jesch, der erste deutsche Verfechter jener Lehre, der den Totalvorbehalt vornehmlich aus der besonderen demokratischen Legitimation des Parlaments herleitet,274 sieht sich denn auch unter Heranziehung des Satzes „volenti non fit iniuria“ nicht gehindert, bei Eingriffen im Rahmen freiwillig eingegangener „besonderer Gewaltverhältnisse“ auf eine gesetzliche Eingriffsermächtigung zu verzichten.275 Wörtlich verstanden werden kann die Lehre vom Totalvorbehalt wohl hingegen bei Rupp, der die Verwaltung beim Tätigwerden außerhalb des Vorbehaltsbereichs gleichsam außerhalb der „Rechtsakzessorietät“ sieht,276 den Totalvorbehalt also weniger aus dem Demokratie-, sondern vielmehr aus dem Rechtsstaatsprinzip herleitet. Soweit Rupp das Gespenst der „rechtsfreien Verwaltungswillkür“ heraufbeschwört, schießt er aber über das Ziel hinaus. Denn staatliches Handeln ohne gesetzliche Grundlage ist weder per se „rechtsfrei“, noch willkürlich. Und soweit er dem Grundsatz „volenti non fit iniuria“ (damit also dem Einwilligungsphänomen) die Gültigkeit nicht nur für die Leistungs-, sondern auch für jegliche Eingriffssituation abspricht,277 setzt er sich den gleichen Bedenken aus, die ___________ (534); a.A. aber Sturm, in: Festschrift für Geiger (1974), S. 173 (174). Nach der Feststellung von Erichsen (Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Grundlagen der Lehre vom fehlerhaften belastenden Verwaltungsakt und seiner Aufhebung im Prozeß [1971], S. 141) sollten die in den frühkonstitutionellen Verfassungen aufgenommenen Regelungen über den Gesetzesvorbehalt der Auffassung Rechnung tragen, dass der Einzelne bei Eingriffen in seine Individualspähre zustimmen müsse. 272 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 65. 273 Zur Lehre Totalvorbehalt siehe zunächst Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III (1996), § 62 Rdnr. 18 ff. m.w.N. aus dem ablehnenden Schrifttum. 274 Jesch, Gesetz und Verwaltung (1968), insbes. S. 204 f. 275 Jesch, Gesetz und Verwaltung (1968), S. 209 f. 276 Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre (1965), S. 117. 277 Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre (1965), S. 142.
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schon gegen Forsthoff geltend gemacht worden sind: Dass der Bürger nämlich vor „freiheitswidriger Bettlergesinnung“ geschützt werden müsse,278 trifft die Einwilligungsproblematik allenfalls insoweit, dass die Einwilligung maßvollen Beschränkungen unterliegen muss. Das macht sie aber nicht als Rechtsinstitut unzulässig.279 Schließlich kann die Einwilligung Berührungspunkte mit dem Vorbehalt des Gesetzes unter dem Gesichtspunkt der „Wesentlichkeitstheorie“ haben. Nach dieser „Theorie“ sind alle wesentlichen Entscheidungen dem Parlament vorbehalten.280 Bekanntlich nimmt das BVerfG „Wesentlichkeit“ vor allem dann an, wenn das in Rede stehende staatliche Verhalten wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte ist,281 wohingegen bloße „Grundrechtsrelevanz“ nicht genügen soll, da nahezu jedes staatliches Verhalten in irgendeiner Weise grundrechtsrelevant sei.282 Zwar mag das autonome Verfahren des Einzelnen mit seinem grundrechtlichen Schutzgut – und darüber wird nach hier vertretener Auffassung die Einwilligungsfreiheit grundrechtlich geschützt – für seine Grundrechtsverwirklichung wesentlich sein. Die „Wesentlichkeitstheorie“ hat hingegen die Frage zu stellen, ob das staatliche Handeln in diesem Bereich eine solche Bedeutung für die Grundrechtsverwirklichung hat. Hiervon wird man gerade nicht ausgehen können: Will man es bspw. der Feuerwehr verwehren, auf die Bitte eines Grundstückseigentümers bei der Entfernung eines Wespennests behilflich zu sein? Soll der Grundstückseigentümer den Bezirksschonsteinfeger nicht zu einer Kontrolle außer der Reihe ohne gesetzliche Grundlage zu sich bitten dürfen, ein Wehrpflichtiger einer nicht vorgesehenen Untersuchung beim Bundeswehrarzt nicht zustimmen dürfen?283 Diese Beispiele zeigen, dass staatliches Handeln in Übereinstimmung mit einer autonomen Verfügung über ein Grundrechtsgut nicht „wesentlich“ sein kann, zumal, wenn es um eine jederzeit widerrufliche Willensbetätigung ohne künftige Bindung des Betroffenen geht. „Wesentlich“ ist hingegen die Fremdbestimmung über die Angelegenheiten des Einzelnen.284 Damit schließt der Gesetzesvorbehalt jede heteronome Beeinträchtigung grundrechtlicher Schutzgüter aus, die nicht gesetzlich geregelt
___________ 278
So Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre (1965), S. 142. s.o. B vor I. 280 Siehe nur Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III (1996), § 62 Rdnr. 41 m.w.N.; Kloepfer, JZ 1984, 685 (689 ff.). 281 Siehe nur BVerfGE 47, 46 (79); 80, 124 (132); 98, 218 (251). 282 Siehe zu dieser Einschränkung nur Detterbeck, Jura 2002, 235 (237). 283 Beispiele bei Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 68; Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527 (537); Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik (1977), S. 99. 284 Treffend Sachs, VerwArch 76 (1985), 398 (418). 279
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ist.285 Ist Einwilligung hingegen autonom, d.h. freiwillig erteilt, greift der Gesetzesvorbehalt nicht.
IV. Wirkung der Einwilligung
Hieraus ergibt sich schließlich auch, dass staatliches Handeln, das ein grundrechtliches Schutzgut aufgrund autonomer Selbstbestimmung des Betroffenen beeinträchtigt, keinen Grundrechtseingriff darstellen kann, der selbst rechtfertigungsbedürftig wäre. Da ein Eingriff einseitiges Handeln des Staates voraussetzt,286 stellt die Einwilligung einen Eingriffsausschluss dar.287 Sie unterbricht den Zurechnungszusammenhang zur Staatsgewalt.288 Die Einwilligung unterliegt damit ausschließlich Voraussetzungen, die das grundrechtliche Schutzgut und die Entscheidung des Einwilligenden betreffen; der Staatsakt, der sich mit einer solchermaßen zulässigen und wirksamen Einwilligung deckt, muss hingegen keine weiteren rechtfertigenden Voraussetzungen erfüllen.
V. Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung
1. Struktur und Rechtfertigung von Einwilligungsgrenzen Einwilligungen in strafprozessuale Grundrechtseingriffe sind nicht unbegrenzt möglich. Zwei Arten von Beschränkungen sind zu beachten: Einmal unterliegt die Einwilligung Begrenzungen, die sich daraus ergeben, dass die Einwilligungsfreiheit vom grundrechtlich geschützten Recht umfasst ist, über das betreffende Schutzgut nach Belieben zu verfahren. Es versteht sich von selbst, ___________ 285 Sachs, VerwArch 76 (1985), 398 (418). Ähnlich Bleckmann, JZ 1988, 57 (61), nach dem der Gesetzesvorbehalt von seiner Funktion her dann greife, wenn das Individuum zur Durchsetzung seiner durch die klassischen und sozialen Grundrechte geschützten Interessen selbst nicht in der Lage ist, etwa wenn die Verhandlungsmacht des Individuums wesentlich geringer ist, als die des staatlichen Gegenüber. 286 Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111, Rdnr. 60. 287 Ebenso Bethge, VVDStRL 56 (1997), 7 (44); Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 203; Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 60; Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte (1988), S. 59; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik (1977), S. 99; Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen (2000), S. 131; Seifert, Jura 2007, 99 (101). A.A. hingegen Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 918, nach dem eine wirksame Einwilligung die Rechtswidrigkeit des Eingriff beseitige; ebenso Kolz, Einwilligung und Richtervorbehalt (2006), S. 71 ff.; Fischinger, JuS 2007, 808 (813). 288 Sachs, JuS 1995, 303 (307); Bethge, VVDStRL 56 (1997), 7 (44).
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dass eine Einwilligung nur soweit zulässig ist, wie der Betreffende tatsächlich die Freiheit hat, mit seinem grundrechtlichen Schutzgut verfahren, wie er also über das Schutzgut disponieren darf. Das ist eine Frage der – vor allem teleologischen – Interpretation des Schutzgutes. Diese Einwilligungsschranken sind damit der Einwilligungsbefugnis gleichsam immanent. Sie stellen von vornherein keinen Grundrechtseingriff dar.289 Neben diesen sich aus der Natur der Einwilligung ergebenden Schranken ist es zum anderen auch denkbar, dass einfaches Gesetzesrecht einer Einwilligung entgegensteht. So schließt z.B. § 136a Abs. 3 S. 1 StPO die Einwilligung in die in § 136a Abs. 1 und 2 StPO verbotenen Grundrechtsbeeinträchtigungen aus.290 Fraglich ist, ob solche Vorschriften einen Eingriff in das vom jeweiligen Spezialgrundrecht geschützte Einwilligungsrecht darstellen. Die Frage ist zu verneinen. Zwar wird im Ergebnis die Freiheit des Betreffenden auf einvernehmliches Handeln mit dem Staat beschränkt. Dabei handelt es sich aber schlicht um ein Problem des Vorrangs des Gesetzes. Solche Vorschriften sind vor allem an den Staat gerichtet, sich einvernehmlichen Handelns mit seinen Bürgern zu enthalten. Sie stellen also eine Selbstbeschränkung staatlichen Handelns dar. Der Staat darf in solchen Fällen einer Einwilligung des Bürgers keine Beachtung schenken. Dies bringt im Übrigen auch der Wortlaut des § 136a Abs. 3 S. 1 StPO zum Ausdruck, indem er nicht die Einwilligung des Bürgers verbietet, sondern an die staatliche Stelle das Verbot richtet, von den Abs. 1 und 2 des § 136a StPO abzuweichen, selbst wenn der Bürger eingewilligt hat. Eine solche Selbstbeschränkung des Staates darf ihrerseits keiner Rechtfertigungsprüfung unterzogen werden. Im Unterschied dazu stellt eine Vorschrift, die – wie für Fälle der Sittenwidrigkeit etwa § 228 StGB – einvernehmliches Handeln von Privatleuten untereinander verbietet oder beschränkt, sehr wohl einen Eingriff in das sich aus dem jeweiligen Spezialgrundrecht ergebende Recht dar, über das grundrechtliche Schutzgut nach Belieben zu verfügen.291 Denn dabei handelt es sich nicht um eine Selbstbeschränkung des Staates, sondern um eine Bevormundung Privater durch den Staat. Das ist aber nicht das Thema dieser Untersuchung. Es bleiben damit die eingangs erwähnten Einwilligungsschranken zu behandeln, die sich aus der Natur der Einwilligung als autonome Verfügung über ein ___________ 289 A.A. Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 31; Seifert, Jura 2007, 99 (102). 290 Gegebenenfalls ist der Wortlaut einer Norm insoweit nicht eindeutig und ergibt sich ein Einwilligungsausschluss erst durch Auslegung der Vorschrift; s.o. III.1. zum Vorrang des Gesetzes. 291 Ebenso Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht (1997), S. 24 ff.; Amelung/Eymann, JuS 2001, 937 (940), nehmen hingegen einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG an.
§ 10 Eingriff in den Schutzbereich
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grundrechtliches Schutzgut ergeben. Eine Einwilligung in strafprozessuale Grundrechtseingriffe ist damit an zwei Voraussetzungen geknüpft: Zum einen muss der Betroffene in die Beeinträchtigung einer Rechtsposition einwilligen, über die er disponieren kann (2.), zum anderen muss die Einwilligung aus freien Stücken, also autonom, freiwillig erfolgen (3.).
2. Dispositionsbefugnis Die Einwilligungsfreiheit ist – wie oben ausgeführt292 – Bestandteil der Freiheit des Einzelnen, mit den grundrechtlich geschützten Rechtsgütern nach Belieben zu verfahren. Hieraus ergibt sich, dass die Dispositionsbefugnis nicht unendlich ist. Sie reicht nur so weit, wie nach Auslegung der Grundrechtsnorm der Einzelne tatsächlich über das grundrechtlich geschützte Gut verfügen darf.293 Als eine allgemeine Einwilligungsschranke könnte in diesem Zusammenhang der Menschenwürdekern des betreffenden Grundrechts294 bzw. die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG gelten.295 Fraglich ist also, ob die Einwilligungsfreiheit endet, wo die Menschenwürde betroffen ist. Eine solche Grenze, die sich aus dem objektiv-rechtlichen Charakter der Menschenwürde ergeben könnte, dürfte aber nur selten relevant werden. Die Schwierigkeiten, den Begriff der Menschenwürde zu bestimmen, haben den Blickwinkel vom Schutzbereich hin auf den Eingriffstatbestand gelenkt.296 Nach der klassischen „Objekt-Formel“ von Dürig liegt ein Eingriff in die Menschenwürde vor, wenn ___________ 292
s.o. II. Nach Amelung, der die Einwilligungsfreiheit von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt sieht, ergeben sich diese Grenzen aus dem Schrankenvorbehalt dieses Grundrechts. Schranken sind danach v.a. die Rechte anderer und das Sittengesetz: Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 56 ff.; ders., StV 1985, 257 (258 ff.). 294 Nach Dürig, in: Maunz/Dürig, GG (Erstkommentierung 1958), Art. 1 Rdnr. 81, ist der Menschenwürdegehalt mit dem Wesensgehalt des Art. 19 Abs. 2 GG identisch. Die heute h.M. geht aber von der normativen Eigenständigkeit der Vorschriften aus, siehe nur Dreier, in: ders., GG, Bd. 1 (2004), Art. 1 I Rdnr. 163 m.w.N. Nach st. Rspr. des BVerfG wohnt den Grundrechten ein absolut geschützter Kern der Menschenwürde inne, siehe zuletzt BVerfGE 109, 279 (310 ff.) m.w.N.; krit. dazu Dreier ebd. m.w.N. 295 So Dreier, in: ders., GG, Bd. 1 (2004), Vorb. Rdnr. 133; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 923 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II (2006), Rdnr. 137; krit. Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte (2000), S. 115; Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen (2000), S. 148 ff.; zurückhaltend Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik (1977), S. 101. 296 Siehe nur Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Art. 1 Rdnr. 22 m.w.N. aus dem kaum überschaubaren Schrifttum; aus der Rspr. zuletzt BVerfGE 109, 279 (312). 293
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
„der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“297 Trotz aller Kritik an dieser Formel,298 die v.a. in ihrer Vagheit begründet ist, öffnet sie die Augen dafür, dass die Würde des Menschen bei einverständlichem Handeln zwischen Staat und Bürger – ähnlich der unter B.I.3. genannten Grundrechte – in der Regel nicht betroffen ist.299 Jeder darf z.B. gegenüber staatlichen Repräsentanten freiwillig Fakten seiner Intimsphäre offenbaren, deren Erzwingung Art. 1 Abs. 1 GG verletzte;300 der Soldat darf sich zur Vorbereitung bestimmter Einsätze damit einverstanden erklären, sich im Rahmen eines Überlebenstrainings „menschenunwürdig“ (etwa von Regenwürmern, Käfern etc.) zu ernähren oder bei Verhörssimulationen erniedrigend behandeln zu lassen.301 Eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG wird damit jedenfalls dann ausscheiden, wenn die Betroffenheit in der Menschenwürde im Wesentlichen aus dem Mittel des Eingriffs „Handeln gegen den Willen des Betroffenen“ folgt. Die bedeutendste Verbindung zur Menschenwürde hat das Strafverfahren in den verbotenen Vernehmungsmethoden des § 136a StPO. Gerade für diese kann die hier erörterte Frage aber nach den Ausführungen unter B.V.1. dahinstehen; eine Einwilligung würde den Staat schon kraft positiven, einfachen Rechts nicht berechtigen, von § 136a StPO abzuweichen. Anders sieht es aber etwa für die Anwendung eines Polygraphen im Strafverfahren aus: Hatte das BVerfG diese noch Anfang der 80er-Jahre – wenig überzeugend – auch dann als unzulässigen Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht angesehen, wenn der Betroffene eine solche Maßnahme beantragt hat,302 erkannte der BGH Ende der 90er-Jahre zutreffend, dass zur Menschenwürde eben auch gehört, „über sich selbst verfü___________ 297 Dürig, AöR 81 (1956), 117 (127); ders., in: Maunz/Dürig, GG (Erstkommentierung 1958), Art. 1 Rdnr. 28. Dem ist das BVerfG weitgehend gefolgt BVerfGE 9, 89 (95); 27, 1 (6); 45, 187 (228); 50, 166 (175); 72, 105 (116); zurückhaltender, wenngleich eher ergebnisorientiert in der Entscheidung zur Telefonüberwachung BVerfGE, 30, 1 (25): die Objektformel könne nur die Richtung andeuten; krit. dazu die abweichende Meinung von Geller, v. Schlabrendorff und Rupp, BVerfGE 30, 33 (40). Bezeichnenderweise hat das BVerfG auch in seiner Entscheidung zur akustischen Wohnraumüberwachung unter Verweis auf die letztgenannte Entscheidung in der gleichen Zurückhaltung argumentiert: BVerfGE 109, 279 (312). 298 Nachw. bei Dreier, in: ders., GG, Bd. 1 (2004), Art. 1 I Rdnr. 53; Quaritsch, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 120 Rdnr. 134. 299 Ebenso Dreier, in: ders., GG, Bd. 1 (2004), Vorb. Rdnr. 133; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik (1977), S. 101; ähnlich Fischinger, JuS 2007, 808 (811); krit., wenngleich eher zu Problemen einverständlichen Handelns Privater auch Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen (2000), S. 148 ff.; von einem Vorrang des Autonomieanspruchs spricht Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Art. 1 Rdnr. 34. 300 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik (1977), S. 101. 301 Merten, Festschrift für Schmitt Glaeser (2003), S. 53 (65). 302 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), NJW 1982, 375.
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gen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten zu können.“303 Freilich scheiterte die Zulassung des „Lügendetektors“ im Strafverfahren jedenfalls nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Standard der entsprechenden Geräte an der nach der Überzeugung des BGH fehlenden Beweiseignung (§ 244 Abs. 3 S. 2 Var. 2 StPO).304 Eine weitere allgemeine Einwilligungsgrenze bildet die Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Güter Dritter. Es ist selbstverständlich, dass die Grundrechte nur den freien Umgang mit den eigenen Grundrechtsgütern schützen. Eine Einwilligung also, die zur Folge hätte, dass auch Schutzgüter Dritter beeinträchtigt würden, wäre insoweit unbeachtlich. Diese Grenze ist gerade auch für strafprozessuale Grundrechtseingriffe von Interesse, denkt man daran, dass eine Wohnung häufig von mehreren Personen bewohnt wird, die Polizei aber gegebenenfalls nur von einer hereingebeten wird. Es ist zwar denkbar, dass der Inhaber des betreffenden Wohnungsgrundrechts dem anderen gestattet, den Zutritt zur Wohnung zu erlauben. Doch wird das für den Einlass von Strafverfolgungsbehörden längst nicht immer eindeutig der Fall sein.305 In solchen Fällen ist eine Haussuchung nicht von einer wirksamen Einwilligung gedeckt. Gleiches gilt, wenn Strafverfolgungsbehörden bei einer Hörfalle zwar die Einwilligung des einen, nicht aber des anderen Gesprächsteilnehmers haben.306 Die Sicherstellung und Beschlagnahme von beschlagnahmefreien Gegenständen i.S.d. § 97 StPO ist schließlich nur dann zulässig, wenn nicht nur der Zeugnisverweigerungsberechtigte den Gegenstand freiwillig herausgibt, sondern auch all jene Personen einwilligen, die ein rechtlich (etwa durch § 203 StGB) geschütztes Interesse an der Geheimhaltung der Gegenstände haben.307 Es genügt also nicht, wenn nur der Verteidiger die Post des Beschuldigten herausgeben will; auch der Beschuldigte selbst muss einverstanden sein. Denn der Verteidiger darf über Informationsbeherrschungsrechte des Beschuldigten nicht disponieren. Im Übrigen muss die Auslegung der betreffenden Grundrechtsnorm darüber Auskunft geben, ob eine Einwilligung zulässig ist oder nicht. Letzteres ist dann der Fall, wenn die Auslegung ergibt, dass die Norm auch öffentliche Interessen schützen will, die von ihrem Sinn und Zweck her eine Abweichung vom
___________ 303
BGHSt 44, 308 (317). BGHSt 44, 308 (319 ff.). 305 Siehe Amelung, StV 1985, 257 (260); ders., Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, S. 59 f. 306 Sternberg-Lieben, Jura 1995, 299 (301); siehe zur Hörfalle als Grundrechtseingriff oben A.III. 307 Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 60. 304
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Normprogramm nicht zulassen.308 Für Art. 104 Abs. 4 GG, nach dem von jeder richterlichen Entscheidung über eine Freiheitsentziehung unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen ist, wird dies heftig diskutiert.309 Nimmt man die Intention des Grundgesetzgebers ernst, aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus heraus der Gefahr vorbeugen zu wollen, dass Personen festgenommen werden und dadurch „spurlos verschwinden“,310 wird man dem Betreffenden über Art. 104 Abs. 4 GG keine Dispositionsbefugnis zugestehen können.
3. Freiwilligkeit Soll die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines grundrechtlichen Schutzgutes rechtfertigende Wirkung entfalten, muss sie freiwillig erklärt werden. Denn nur die autonome Bestimmung über das Schutzgut kann das Rechtfertigungsbedürfnis des Staates entfallen lassen; jede heteronome Beeinflussung des Schutzgutes stellt hingegen einen Grundrechtseingriff dar. Diese Feststellung ist gleichzeitig für die teleologische Bestimmung des Freiwilligkeitskriteriums von Bedeutung: Das Kriterium soll ausschließen, dass der Staat unter dem Deckmantel der Autonomie des Betroffenen handelt, wo er gesetzmäßig handeln müsste, also den Vorbehalt des Gesetzes und die gesetzlich geregelten Eingriffsvoraussetzungen zu beachten hätte.311 Freiwillig kann eine Einwilligung damit nicht sein, wenn mit der staatlichen Offerte zu einvernehmlichem Handeln die Kopplung eines für den Fall der Nichteinwilligung zu befürchtenden Nachteils verbunden ist, der seinerseits einen Grundrechtseingriff darstellte.312 Fragen also z.B. Strafverfolgungsbeamte ___________ 308 Nicht ausreichend für eine solche Einschränkung ist, dass die Grundrechte nach verbreiteter Auffassung eine „objektive Wertordnung“ garantieren. Vgl. zu dem aus dem Begriff herleitbaren Bündel an objektiv-rechtlichen Gehalten Dreier, in: ders., GG, Bd. 1 (2004), Vorb. Rdnr. 94 ff. Solche möglichen objektiven Gehalte sind eben kein Wert „an sich“, sondern ihre (möglichen) Aussagen müssen konkret aus dem betreffenden Grundrecht abgeleitet werden. 309 Gegen eine „Verzichtbarkeit“ auf die Benachrichtigungspflicht Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527 (549); Amelung, StV 1985, 257 (259); Degenhart, in: Sachs, GG (2007), Art. 104 Rdnr. 25 f.; dafür Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3 (2003), Art. 104 Rdnr. 39; Händel, in: Festschrift für Krebs (1969), S. 149 (162 ff.); differenzierend Dürig, in: Maunz/Dürig, GG (1958), Art. 104 Rdnr. 43; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 3 (2005), Art. 104 Rdnr. 74. 310 So die klassische Formulierung von v. Mangoldt, Das Bonner GG (1953), Art. 104 Anm. 2 a.E. 311 Amelung, StV 1985, 257 (261); ders., Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 83. 312 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 85.
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nach Einlass in die Wohnung eines Beschuldigten und erklären, sie würden mit einem Durchsuchungsbeschluss wiederkommen, sollte der Betreffende sie nicht in die Wohnung einlassen, liegt keine freiwillige Einwilligung vor. Auch die Kopplung an Verdächtigungen und (im Strafverfahren aber weniger relevant) Beweisnachteile kann die Freiwilligkeit der Einwilligung ausschließen.313 Eine Person bspw., die einer Aufforderung zu einem DNA-Reihentest nicht nachkommen will, muss befürchten, dass gegen sie als eine von vielleicht wenigen Verweigerern des Tests ein Tatverdacht aufkommt. Nur in einer solchen Eingrenzung der als Täter in Betracht kommenden Personen (Nichtteilnehmer am Test), allenfalls noch in der Erwartung, der Täter werde sich dem Druck beugen, sich einer entsprechenden Analyse zu stellen, kann ja überhaupt der Sinn eines solchen Reihentests liegen.314 Dann kann aber die Einwilligung zu einem solchen Test nicht autonom sein.315 Folglich stellen DNA-Massentests unter solchen Bedingungen Grundrechtseingriffe dar, die einer Eingriffsermächtigung bedürfen.316 Sie ist inzwischen in § 81h StPO vorhanden.317 Schwierigkeiten ergeben sich schließlich auch für die Beurteilung der Freiwilligkeit von Einwilligungen Inhaftierter, denn sie sind in der Ausübung ihrer Rechte derart vom Staat abhängig, dass sie durch kaum kontrollierbaren Druck zu Erklärungen gebracht werden können, die nicht in ihrem Interesse liegen.318 Deshalb wird man darauf abstellen müssen, ob das staatliche Handeln, in das der Betroffene eingewilligt hat, nach objektiver Betrachtung für ihn eigennützig ist.319 Ist das nicht der Fall, liegt ein Grundrechtseingriff vor, bedarf es also einer gesetzlichen Grundlage. ___________ 313 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 90. 314 Eindrucksvoll die Beschreibung der polizeilichen Vorgehensweise von Heitborn/ Steinbild, Kriminalistik 1990, 185 (188), in einem Telgter Fall: „Zu den anberaumten Terminen erschienen 89 der 92 vorgeladenen Männer. […] Sämtliche Personen erklärten ihre Bereitwilligkeit zur Blutprobenentnahme, wozu sicherlich in einigen Fällen das intensive persönliche Vorgespräch beigetragen haben dürfte. Die restlichen drei Männer verweigerten trotz nochmaliger Kontaktierung jegliche Zusammenarbeit mit uns. Relativ problemlos konnten hier jedoch Beschlüsse gemäß § 81a StPO erwirkt und vollstreckt werden.“ 315 Ähnlich auch Kerner/Trüg, in: Festschrift für Weber (2004), S. 457 (470 f.). 316 A.A. BVerfG (Kammer), NJW 1996, 1587 (1588). Wie hier (in Bezug auf einen Massenaufruf zur Abgabe eines Fingerabdrucks) Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 90; ders., StV 1985, 257 (261 f.); vgl. i.Ü. die Nachweise § 10 Fn. 238. 317 Gesetz vom 12.8.2005, BGBl. I 2005, S. 2360. Die im Text dargelegten Ungereimtheiten im Hinblick auf die „Freiwilligkeit“ sind damit indes nicht beseitigt. 318 Siehe Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 91, der in dem Zusammenhang von einer „totalen Organisation“ spricht. 319 Näher Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 91 ff.
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Freiwillig kann eine Einwilligung aber auch dann nicht sein, wenn sich der Bürger nicht darüber im Klaren ist, ob er das staatliche Handeln unabhängig von seiner Einwilligung dulden muss. Schon aus dem eingangs erwähnten Machtgefälle320 zwischen Staat und Bürger ergibt sich, dass der Staat das Risiko eines diesbezüglichen Irrtums des Bürgers tragen muss. Der Bürger muss in einem solchen Fall über das Vorliegen einer Duldungspflicht und die Folgen einer Nichteinwilligung aufgeklärt werden. Nur dann kann er autonom darüber entscheiden, ob und wie er über sein grundrechtlich geschütztes Rechtsgut disponieren will. Das gilt erst recht, wenn Strafverfolgungsbehörden an den Betreffenden herantreten und eine Einwilligung erfragen. Bittet bspw. ein Polizist an der Wohnungstür um Einwilligung in eine Haussuchung, kann das zweierlei bedeuten:321 Zum einen kann der Fall vorliegen, dass die Voraussetzungen einer Haussuchung nicht gegeben sind, weil etwa ein richterlicher Durchsuchungsbefehl ebenso wenig vorliegt, wie Gefahr im Verzug, und der Polizist also deshalb die Einwilligung des Hausrechtsinhabers sucht. Zum anderen kann diese Bitte bei Vorliegen von Gefahr im Verzug (nicht nur ein Gebot der Höflichkeit, sondern) Ausfluss des Übermaßverbots322 sein, nicht sofort mit Gewalt in die Wohnung einzudringen, sondern zunächst das mildere Mittel des einverständlichen Handelns zu wählen. Nur in dem ersten Fall sind die Strafverfolgungsbehörden für die Rechtmäßigkeit ihres Handelns auf die Einwilligung des Betreffenden angewiesen. In diesem Fall ist also darüber zu belehren, dass die formellen Eingriffsvoraussetzungen nicht vorliegen und dass der Betreffende für den Fall der Nichteinwilligung keine Nachteile zu befürchten hat.323 Nur wenn er diese Kenntnis hat, kann er autonom darüber entscheiden, ob er in die Beeinträchtigung eines grundrechtlichen Schutzgutes einwilligen will oder nicht. Klärt ihn der Beamte nicht in diesem Sinne auf, kann der Bürger über das Grundrechtsgut nicht selbstbestimmt verfügen. Nach dem zu Sinn und Zweck des Freiwilligkeitskriteriums Gesagten ist Freiwilligkeit schließlich nicht gegeben, wenn der Betreffende darüber im Unklaren gelassen wird, dass der Staat ihm gegenüber handelt. Nur wenn er weiß, dass er sich einer staatlichen Maßnahme gegenüber sieht, kann er autonom darüber bestimmen, ob er dem Staat durch sein Einverständnis die Rechtfertigungslast für diese Maßnahme abnimmt. Denn die Einwilligung in die staatliche Beeinträchtigung grundrechtlicher Schutzgüter unterscheidet sich signifi___________ 320
s.o. B. vor I. Bsp. von Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 98. 322 Zur Pflicht, zunächst auf einvernehmliches Handeln hinzuwirken („eingriffsmildernde“ Einwilligung) siehe § 11 D.II.2.b). 323 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 99 ff. 321
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kant von der Situation, dass einer Privatperson gestattet wird, Schutzgüter zu beeinträchtigen. Das zeigt sich schon daran, dass der Private nur gehalten ist, einfaches Gesetzesrecht zu beachten, der Staat aber grundrechtsverpflichtet ist. Zwar kann ein Privater mit erlangten Informationen, Fakten grundsätzlich nach Belieben verfahren, sie also etwa auch staatlichen (Strafverfolgungs-)Behörden mitteilen. Allerdings werden diese nicht annähernd mit der gleichen Zwangsläufigkeit dem Staat zugespielt, wie wenn dieser die Information unter dem Deckmantel nichtstaatlichen Handelns gleich selbst erhebt.324 Demzufolge ist die Eingriffsqualität sowohl der unter A.III. aufgeführten Instrumentalisierung Privater für die staatliche Ermittlungstätigkeit, als auch der verdeckten Ermittlung durch Polizeibeamte nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil der Betreffende dem eingeschalteten Privaten die erhofften Informationen scheinbar freiwillig gibt.325
C. Potentielle Eingriffe Die bereits an anderer Stelle nachgezeichnete „moderne“ Definition, wonach ein staatlicher Grundrechtseingriff jeder Akt ist, der dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, erschwert oder behindert,326 wirft neben den schon behandelten Fragen noch ein weiteres Problem auf: Es stellt sich die Frage, ob bereits die bloße richterliche Anordnung eines Eingriffs ohne Rücksicht auf ihren Vollzug (hierzu unter I.) ___________ 324
Unrichtig daher einerseits BGHSt 40, 211 (215), wonach über die Freiwilligkeit seines Tun und die jederzeitige Möglichkeit der Weitergabe oder Verbreitung nicht im Zweifel sein könne, wer sich privat zu ihm bekannten Beweisumständen äußere. Es ist andererseits auch von vornherein verfehlt, Imme Roxins (Die Rechtsfolgen schwerwiegender Rechtsstaatsverstöße in der Strafrechtspflege [2000], S. 117 ff.) für die Tatprovokation entwickelten Ansatz, nach dem es jeder Person freistehe, sich für oder gegen eine Straftat zu entscheiden, demzufolge die staatliche Tatprovokation kein Grundrechtseingriff sei, auf das hier zu behandelnde Problem zu übertragen. Das erwägt indes offenbar Makrutzki, Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß (2000), S. 104. Denn der hier in Rede stehende Grundrechtseingriff ist die Erhebung von Informationen von dem Betreffenden, keine irgendwie geartete Beeinflussung seines Willens. Gleiches gilt für die Frage, ob der Einsatz von V-Leuten gegen §§ 136, 136a StPO verstoßen kann, die mit der hier behandelten Problemlage nicht ohne weiteres vergleichbar ist; auch das scheint Makrutzki, Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß (2000), S. 104, zu übersehen. 325 Im Ergebnis ebenso Meurer, in: Festschrift für Roxin (2001), S. 1281 (1291); Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 103 f.; ders., in: Rüthers/Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat (1984), S. 1 (24); Makrutzki, Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß (2000), S. 106; Weiler, Grundlagen und Grenzen des Polizeilichen Einsatzes von Vertrauenspersonen im Strafverfahren (2001), S. 181; a.A. aber BGHSt 40, 211 (215), vgl. dazu § 10 Fn. 324. 326 s.o. A.I.
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sowie das zu einem Eingriff ermächtigende Gesetz (unter II.) selbst Grundrechtseingriffe darstellen.
I. Die richterliche Anordnung des Zugriffs auf das grundrechtliche Schutzgut
Die Besonderheit der richterlichen Anordnung liegt darin, dass sie auf das objektivierte grundrechtliche Schutzgut selbst nicht zugreift. Das hat diese Anordnung mit dem Verwaltungsakt gemein, der auf das Schutzgut ebenfalls nicht direkt einwirkt. Allerdings muss der Verwaltungsakt, der einen Duldungstitel darstellen soll, einen vollstreckungsfähigen Inhalt haben, d.h. einen Befehl an den Adressaten richten.327 Aufgrund eines solchen befehlenden Inhalts greift der Verwaltungsakt bereits in Grundrechte ein. Genau hieran fehlt es aber bei der richterlichen Anordnung eines Grundrechtseingriffs, die – jedenfalls im Ermittlungsverfahren – den Strafverfolgungsbehörden lediglich die Möglichkeit eröffnet, auf das grundrechtliche Schutzgut einzuwirken. Sie bleibt also so lange ein staatliches Internum, bis sich Staatsanwaltschaft bzw. Polizei entschließen, von ihr Gebrauch zu machen. Die richterliche Anordnung ist dabei zunächst nur formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für den Zugriff auf das Schutzgut. Ob und wann es zu einer solchen Maßnahme kommt, liegt in der Verantwortung der Strafverfolgungsbehörden. Entschließen sie sich aber, von der Anordnung Gebrauch zu machen, ändert die Anordnung ihren Charakter: Sie erlangt Außenwirkung durch Vollzug, fungiert dann als Vollstreckungsgrundlage328 und ist auch Gegenstand des Rechtsschutzes.329 Gleichzeitig wird sie dem Betroffenen mit ihrem Vollzug (sofern dieser offen stattfindet) bekannt gegeben (vgl. § 36 Abs. 2 StPO).330 Die richterliche Anordnung hat also gleichsam eine Doppelstellung inne, nämlich als formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für den Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut auf der einen, sowie als Zurechnungsobjekt für jenen Zugriff ab dessen Beginn auf der anderen Seite. Erst ab ihrem Vollzug also kann man davon sprechen, dass die richterliche Anordnung selbst einen Grundrechtseingriff darstellt. Als bloßes Internum greift sie vorher nicht unmittelbar, sondern nur potentiell in Grundrechte ein.331 ___________ 327
Siehe nur Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 20 Rdnr. 6. Siehe hierzu ausführlich § 8 B. 329 Siehe § 13 B. sowie § 14 A. und C. 330 Die Außenwirkung im hier verstandenen Sinn hängt allerdings nicht von der Bekanntgabe ab. Auch im Fall des verdeckten Gebrauchmachens von der Anordnung durch die Strafverfolgungsbehörden fungiert die richterliche Anordnung als Grundlage des Zugriffs auf das grundrechtliche Schutzgut. 331 Der Terminus des mittelbaren Eingriffs wird an dieser Stelle vermieden. Er ist hier reserviert für den tatsächlichen Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut, der aller328
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Das bedeutet allerdings nicht, dass die Anordnung als potentieller Eingriff nicht schon Vorwirkungen zeitigen könnte. Insbesondere kann der Betroffene gegen sie unter Umständen schon im Wege des vorbeugenden Rechtsschutzes vorgehen, sollte er zufällig von ihr Kenntnis erlangen. Die richterliche Erlaubnis, die ja ihrerseits ein Akt des präventiven, also vorbeugenden Rechtsschutzes ist,332 kann also gleichsam Gegenstand eines weiteren Verfahrens vorbeugenden Rechtsschutzes werden. Die Anforderungen, die herkömmlich von Verfassungs wegen (Art. 19 Abs. 4 GG) an die Eröffnung vorbeugenden Rechtsschutzes gestellt werden,333 dürften regelmäßig erfüllt sein: Der strafprozessuale Grundrechtseingriff stellt in aller Regel einen überraschenden Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut dar. Hat der potentiell Betroffene aber überraschende Maßnahmen zu gewärtigen, die darauf angelegt sind, dass vor ihrem Stattfinden Rechtsschutz nicht gewährt werden kann, ist seine Rechtsposition zumindest bereits in einer Weise gefährdet, die ein besonderes Interesse an vorbeugendem Rechtsschutz auslöst.334
II. Das zum Eingriff ermächtigende Gesetz
Das Sonderproblem, ob ein Gesetz, das erst zu Grundrechtseingriffen ermächtigt,335 selbst einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff darstellt, betrifft den von einem strafprozessualen Grundrechtseingriff betroffenen, Rechtsschutz suchenden Bürger zwar nicht unmittelbar, weil das jeweilige rechtsschutzgewährende Instanzgericht die Maßstäbe verfassungsrechtlicher Rechtfertigung natürlich auch an die Eingriffsermächtigung anzulegen hat.336 Relevant wird die Frage daher nur, wenn man gegen Eingriffsermächtigungen selbst verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz suchen will. Auch dann gilt, dass das ermächtigende Gesetz nicht bereits unmittelbar auf das grundrechtliche Schutzgut zugreift, sondern vielmehr die Strafverfolgungsbehörden hierzu erst ermächtigt. Nicht ganz eindeutig ist hierzu die Position des BVerfG, das der Verfassungsbeschwerde gegen die §§ 100c ff. StPO a.F. (großer Lauschangriff) teilweise ___________ dings nicht unmittelbar auf den Staat zurückzuführen ist, sondern für den es zunächst dazwischentretender Ereignisse bedarf. 332 Vgl. hierzu neben den Ausführungen unter § 8 A.I. vor allem Gusy, JZ 1998, 167 ff. 333 Statt vieler ausführlich Schenke, in: BK-GG (Zweitbearb. 1982), Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 391 ff. 334 Siehe auch § 13 B. 335 Es geht dabei also nicht um Gesetze, die „self executing“ sind. Für diese steht die Möglichkeit, in Grundrechte einzugreifen, außer Frage. 336 Kommt das Gericht bei dieser Prüfung zu dem Ergebnis, das ermächtigende Gesetz sei verfassungswidrig, hat es nach Art. 100 Abs. 1 GG zu verfahren.
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stattgegeben hat.337 Das lässt zwei Schlüsse zu: Entweder das BVerfG schreibt diesen Normen bereits eingreifende Wirkung zu338 oder es ermöglicht eine Art von vorbeugendem Rechtsschutz gegen Gesetze.339 Zumindest letzteres erscheint für strafprozessuale Grundrechtseingriffe sachgerecht. Hat der potentiell Betroffene überraschende Maßnahmen zu gewärtigen, die darauf angelegt sind, dass vor Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut Rechtsschutz nicht gewährt wird, sind seine grundrechtlichen Schutzgüter jedenfalls in größerem Maße gefährdet, als dies etwa im Allgemeinen bei Gesetzen der Fall ist, die zu Grundrechtseingriffen ermächtigen. § 11 Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
§ 11 Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung strafprozessualer Grundrechtseingriffe Nach der bereits erläuterten Struktur des Grundrechtsschutzes gerät der Staat unter Rechtfertigungszwang, greift er in den Schutzbereich eines Freiheitsgrundrechts ein.340 Die Frage, ob die durch die Eröffnung eines Schutzbereichs prima facie gewährte Freiheit rechtmäßig eingeschränkt worden ist (und damit auch die Frage nach den Kriterien der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen) beurteilt sich maßgeblich danach, in welches Grundrecht eingegriffen wird. Die unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen Grundrechte sollen im Rahmen dieser Arbeit nicht dargestellt werden. Stattdessen werden die allgemeinen verfassungsrechtlichen Fragen der Rechtfertigung behandelt, die sich gerade bei strafprozessualen Grundrechtseingriffen typischerweise stellen. Auch dabei sind gedanklich der strafprozessuale Grundrechtseingriff (der Einzelakt) und die den Akt ermächtigende Norm stets auseinander zu halten. So ist denkbar, dass manche Fragen aus___________ 337
BVerfGE 109, 279 (325 ff.). Allgemein für die Eingriffsqualität eines ermächtigenden Gesetzes Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht (1961), S. 106; Pietzcker, in: Festschrift für Dürig (1990), S. 345 (354); Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte (1988), S. 51 f.; für Art. 8 EMRK EGMR, NJW 2007, 1433 (1434): Drohen einer Überwachung durch das G 10 sei bereits ein Eingriff; zurückhaltender Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 126 (Beeinträchtigung durch Umgestaltung der einer durch das Nichtbestehen einer Eingriffsermächtigung geprägten Rechtsposition); Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 255 m. Fn. 13 (potentiell und mittelbar einschränkend oder eingreifend); a.A. aber Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II (2006), Rdnr. 207. 339 In diesem Sinn auch Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht (1979), S. 142 f. – Das BVerfG überwindet (im Rahmen Zulässigkeitsprüfung der Verfassungsbeschwerde) auch das Erfordernis der Unmittelbarkeit der Beeinträchtigung, siehe BVerfGE 109, 279 (306 f.) sowie BVerfG (Kammer), Beschl. v. 11.5.2007 – 2 BvR 543/06, Rdnr. 30 f. 340 s.o. § 9. 338
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schließlich die Eingriffsermächtigung (z.B. das Zitiergebot, Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG), manche sowohl diese als auch den Einzelakt betreffen (Ist das zum Eingriff ermächtigende Gesetz, ist der Eingriff selbst verhältnismäßig?). Bevor die Probleme im Einzelnen behandelt werden, sind die im Folgenden verwendeten Begriffe zu klären: Die Begriffe „Schranke“ und „Eingriff“ werden häufig synonym verwendet.341 Unter „Eingriff“ wird hier hingegen das Handeln des Staates verstanden, das das grundrechtliche Schutzgut tatsächlich beeinträchtigt. Als „Schranke“ wird der rechtliche Zustand bezeichnet, der aus dem Handeln des Staates hervorgeht.342 Der Begriff der „Schranken-Schranke“ bezeichnet die Bindungen, denen der Staat bei der Beschränkung von Freiheitsrechten unterworfen ist. Allerdings soll mit dieser Begrifflichkeit nicht impliziert werden, es handele sich um „nachträgliche“ Begrenzungen einer zunächst umfassend gewährleisteten staatlichen Einschränkungsmöglichkeit.343 Das Gegenteil ist der Fall: Fällt das Verhalten eines Privaten in den Schutzbereich eines Freiheitsrechts, sind staatliche Eingriffe prima facie unzulässig, es sei denn sie sind verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Auf der Ebene der SchrankenSchranken bewegen sich im Wesentlichen die folgenden Ausführungen. Ein Aspekt wird dabei ausgeblendet, nämlich die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Eingriffsermächtigungen der StPO. Dies geschieht nicht, weil Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG, der dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz u.a. für den Bereich des „gerichtlichen Verfahrens“ zuspricht, problemlos alle Eingriffsermächtigungen der StPO erfasst, sondern weil die Problemfälle ausschließlich im Bereich der unechten strafprozessualen Grundrechtseingriffe liegen, die hier nur am Rande behandelt werden.344
A. Vorbehalt des Gesetzes Es entspricht heute allgemeiner Auffassung, dass Eingriffe in Grundrechte einer gesetzlichen Grundlage bedürfen.345 So einfach diese Regel erscheint, so ___________ 341 Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II (2006), Rdnr. 208; siehe auch Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 58. 342 Es wird damit dem Vorschlag von Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 58, gefolgt. Anders v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 111, der als „Schranke“ den gerechtfertigten Grundrechtseingriff sieht. 343 Treffend v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 141. 344 Hierzu ausführlich Gärditz, Strafprozeß und Prävention (2003), S. 290 ff. 345 Statt aller Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (1980), Art. 20, Kap. VI Rdnr. 55. Weiterungen der „Wesentlichkeitsrechtsprechung“ des BVerfG können hier dahinstehen, geht es doch per definitionem nur um Grundrechtseingriffe.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
vielschichtig sind die Probleme im Umgang mit ihr.346 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe werfen vor dem Hintergrund des Gesetzesvorbehalts spezifische Probleme auf: die Frage nach einem Analogieverbot (hierzu unter II.), nach der Anerkennung von Gewohnheitsrecht (unter III.) und von strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen als Eingriffsermächtigungen (unter IV.), das Problem der vorbereitenden und begleitenden Eingriffe (unter V.), der mittelbaren Grundrechtseingriffe (unter VI.) sowie der Vereinbarkeit der Ermittlungsgeneralklauseln mit dem Verfassungsgrundsatz (unter VII.). Bevor auf diese Fragen eingegangen werden kann, sind die verfassungsrechtliche Herleitung und der Zweck des Vorbehalts des Gesetzes zu klären (unter I.).
I. Herleitung und Zweck des Vorbehalts des Gesetzes
Das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseingriffe ergibt sich zunächst – soweit nicht vorbehaltlos gewährte Grundrechte in Rede stehen – unmittelbar aus den Grundrechtsbestimmungen selbst. Dabei sind durchaus qualitative Unterschiede auszumachen, so dass sich Gesetze u.U. an verschiedenen Standards messen lassen müssen. So sind – für strafprozessuale Grundrechtseingriffe besonders relevant – Freiheitsbeschränkungen nach Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG ausdrücklich nur „auf Grund eines förmlichen Gesetzes“ zulässig, während die Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG „auf Grund eines Gesetzes“ eingeschränkt werden kann. Auch Eingriffe in Grundrechte, die nach dem Verfassungstext nicht unter Gesetzesvorbehalt stehen und in die nur zugunsten anderer Rechtsgüter von Verfassungsrang eingegriffen werden darf, bedürfen trotz Fehlens eines ausdrücklichen Vorbehalts einer formellgesetzlichen Grundlage. Das ergibt sich schon aus der folgenden systematischen Erwägung: Wenn schon solche Grundrechte, für die der Grundgesetzgeber Eingriffskautelen geschaffen hat, eine gesetzliche Grundlage für Eingriffe erfordern, muss dies erst recht (a minore ad maius) für Grundrechte gelten, deren Stellenwert dem Verfassungsgeber so herausgehoben erschien, dass er sie nicht unter Gesetzesvorbehalt stellen wollte.347 Flankierend dazu ergibt sich der Vorbehalt des Gesetzes für Eingriffe in Grundrechte aus Art. 20 Abs. 2 und 3 GG, hat dabei aber nicht nur ein rechtsstaatliches, sondern auch ein demokratisches Moment.348 Der Vorbehalt des ___________ 346
Vgl. zu Gesetzesvorbehalt und Einwilligung bereits oben § 10 B.III.2. BVerfGE 83, 130 (142); 108, 282 (297, 303); v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 161 f.; v. Münch, in: ders./Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Vorbem. Rdnr. 57; Rottmann, EuGRZ 1985, 277 (290); Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II (2006), Rdnr. 333. 348 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III (1996), § 62 Rdnr. 32; Bumke, BDVRR 2004, 76 (78 f.); Jesch, Gesetz und Verwaltung (1968), ins347
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Gesetzes hat also einerseits den Zweck, den Bürger vor der Willkür der vollziehenden Gewalt zu schützen und soll gleichzeitig sicherstellen, dass Eingriffe nur aufgrund abstrakter Rechtsnormen möglich und damit für den Bürger voraussehbar und berechenbar sind (rechtsstaatliche Komponente).349 Auf der anderen Seite soll der Vorbehalt des Gesetzes sicherstellen, dass die wesentlichen Entscheidungen der demokratisch legitimierte Gesetzgeber trifft; denn Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger bedürfen der besonderen demokratischen Legitimation.350 Das Verhältnis des schon spezialgesetzlich geregelten zu dem von Art. 20 GG vorausgesetzten „Allgemeinvorbehalt“ ist freilich nicht unumstritten. Das BVerfG nimmt an, die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte seien (lediglich) Ausprägungen des Allgemeinvorbehalts.351 Dies überzeugt jedoch nicht: Im Gegenteil sind die grundrechtlichen Vorbehalte die spezielleren Vorschriften, die vorrangig Anwendung beanspruchen.352 Das zeigt sich v.a. an den sog. qualifizierten Gesetzesvorbehalten (z.B. in Art. 11 Abs. 2 GG), die über die Anforderungen des Allgemeinvorbehalts hinausgehen. Ob die grundrechtlichen Vorbehalte dabei den Allgemeinvorbehalt wirklich umfassend verdrängt haben (dieser also insoweit obsolet ist),353 erscheint dagegen nicht sicher. Immerhin könnte der Gedanke des Allgemeinvorbehalts ergänzend für die Frage herangezogen werden, ob Eingriffe in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte einer gesetzlichen Grundlage bedürfen.354 Darüber hinaus kann die im Rahmen des Allgemeinvorbehalts entwickelte Wesentlichkeitslehre durchaus auch bei der Frage der Reichweite der grundrechtlichen Vorbehalte (Stichworte: Tauglichkeit von Generalklauseln als Eingriffsermächtigungen, Problematik der „Begleiteingriffe“, mittelbarer Grundrechtseingriff und Gesetzesvorbehalt) he-
___________ bes. S. 204 f. (zu dessen Weiterungen zu einem Totalvorbehalt s.o. § 10 bei Fn. 274); Kloepfer, JZ 1984, 685; siehe auch BVerfGE 47, 46 (78 f.); 58, 257 (278). Versuche, den Vorbehalt des Gesetzes allein aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleiten, erscheinen demgegenüber nicht mehr zeitgemäß. Teilweise wird dieser „Allgemeinvorbehalt“ im Verfassungsgewohnheitsrecht verankert gesehen, in diesem Sinn etwa Herzog, in: Maunz/ Dürig, GG (1980), Art. 20, Kap. VI Rdnr. 79. 349 Kloepfer, JZ 1984, 685; Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 15; ferner BVerfGE 8, 274 (325). 350 Diese demokratische Komponente ist auch Grundgedanke der sog. „Wesentlichkeitstheorie“; vgl. hierzu ausführlich Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III (1996), § 62 Rdnr. 35 ff. 351 BVerfGE 49, 89 (127). 352 v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 159 f. 353 So etwa Vogel, VVDStRL 24 (1966), 125 (151); Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 327; krit. dazu aber Rottmann, EuGRZ 1985, 277 (290); Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken (1981), S. 41 f. 354 Siehe dazu schon § 11 bei Fn. 347.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
rangezogen werden. Treffend ist im Hinblick auf dieses Verhältnis von „Synergieeffekten“ gesprochen worden.355
II. Analogie und Vorbehalt des Gesetzes
Fraglich ist zunächst, ob strafprozessuale Grundrechtseingriffe auf die analoge Anwendung von Eingriffsermächtigungen gestützt werden dürfen. Dieses Problem wird – wenn auch nur in kleinem Kreis356 – durchaus auch im strafverfahrensrechtlichen Schrifttum diskutiert. Unter einem Analogieschluss wird im Allgemeinen verstanden die Anwendung der Rechtsfolge einer Rechtsnorm X über den Wortsinn (eines) ihrer Tatbestandsmerkmale hinaus auf ungeregelte Sachverhalte, die dem durch X geregelten Sachverhalt ähnlich und deshalb gleich zu behandeln sind.357, 358 Entscheidendes Abgrenzungskriterium zur Auslegung (im engeren Sinn) ist dabei die Überschreitung des Wortsinns der Rechtsnorm X. Kein Analogieschluss und damit eigenständig zu behandeln ist die Anwendung eines strafrechtlichen Rechtfertigungsgrundes als strafprozessuale Eingriffsermächtigung.359 Dabei geht es nämlich nicht um die Frage, ob eine Überschreitung des Wortsinns von Tatbestandsmerkmalen einer Norm vorliegt, sondern ob materiell-strafrechtliche Vorschriften als Teil nicht strafprozessrechtlicher Kodifikationen überhaupt als Eingriffsermächtigungen im Kontext des Strafverfahrens taugen. Ebenfalls kein Problem des Analogieschlusses – wenngleich eine Frage der Überschreitung des Wortsinns – ist das Problem, inwieweit vorbereitende oder begleitende Maßnahmen von strafprozessualen Eingriffsermächtigungen noch gedeckt sind.360 Im Hinblick auf den Gesetzesvorbehalt vergleichbar (und die Ergebnisse deshalb übertragbar) sind aber Fälle der Anwendung einer nicht gesetzlich angeordneten Rechtsfolge. Nicht eigentlich ein Fall der Analogie, wohl aber der Überschreitung des Wortsinns ermächtigender Normen stellt damit die – vom BGH jüngst verneinte – ___________ 355
Bethge, VVDStRL 56 (1997), 7 (28). Ausführlich Mertens, Strafprozessuale Grundrechtseingriffe und Bindung an den Wortsinn der ermächtigenden Norm (1996), passim; ferner Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren (1992), insbes. S. 51 ff.; Maier, Die Garantiefunktion des Gesetzes im Strafprozeß (1991), insbes. S. 81 ff.; Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 26 ff.; Krey, in: Festschrift für Blau (1985), S. 123 (147 ff.); für das Verwaltungsrecht Schmidt, VerwArch 97 (2006), 139 (155 ff.). 357 Siehe etwa Rüthers, Rechtstheorie (2005), Rdnr. 889; ausführlich Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1995), S. 202 ff. 358 Vollkommen ausgeblendet bleibt hier der Aspekt, ob die Voraussetzung zur Analogiebildung überhaupt vorliegen. 359 Hierzu unten IV. 360 Hierzu unten V. 356
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Frage dar, ob die sog. „Online-Durchsuchung“ auf § 102 StPO gestützt werden kann.361 Analogieschlüsse sind in der strafverfahrensrechtlichen Rechtsprechung und Literatur verhältnismäßig selten, treten aber – wie die folgenden Beispiele zeigen – überraschenderweise vor allem im besonders grundrechtssensiblen Bereich der Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit auf:362 –
Anordnung der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr nach Begehung eines Vollrausches (§ 323a StGB) mit einem in § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO genannten Sexualdelikt als objektive Bedingung der Strafbarkeit, § 112a Abs. 1 StPO analog;363
–
Haft zur Erzwingung des Eides, § 70 Abs. 2 StPO analog;364
–
analoge Anwendung der früheren §§ 10 bzw. 30 DAG auf die Verhaftung zum Zwecke der Rückführung;365
–
Durchsuchung der Person des Nichtbeschuldigten, § 102 analog.366
___________ 361 Der BGH hat hierin zutreffend eine unzulässige Überschreitung des Wortsinns der Norm gesehen: BGHSt 51, 211 (212 ff., insbes. 219); in der Sache bereits ebenso Zöller, GA 2000, 563 (572 f.); Böckenförde, Die Ermittlung im Netz (2003), S. 222 ff.; Beulke/ Meininghaus, StV 2007, 63 (64); Jahn/Kudlich, JR 2007, 57 (60); a.A. noch BGH (Ermittlungsrichter), StV 2007, 60 (61); Hofmann, NStZ 2005, 121 (123 ff.). 362 Die Arbeit kann insoweit auf die wertvolle analytische Vorarbeit von Mertens, Strafprozessuale Grundrechtseingriffe und Bindung an den Wortsinn der ermächtigenden Norm (1996), S. 24 ff., zurückgreifen. Eine Analyse der Rspr. zu Eingriffsbefugnissen findet sich auch bei Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren (1992), S. 73 ff. 363 OLG Frankfurt, NJW 1965, 1728 f.; OLG Hamm, NJW 1974, 1667; MeyerGoßner, StPO (2006), § 112a Rdnr. 4. 364 Meyer-Goßner, StPO (2006), § 70 Rdnr. 12; Lemke, in: AK-StPO, Bd. 1 (1988), § 70 Rdnr. 7; Peters, Strafprozeß (1985), S. 358; Senge, in: KK-StPO (2003), § 70 Rdnr. 5; Neubeck, in: KMR-StPO (2006), § 70 Rdnr. 15; Dahs, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (25. Aufl. 1998), § 70 Rdnr. 17. 365 BGHSt 22, 58 (65); dagegen aber BVerfGE 29, 183 (195 f.). Inzwischen gesetzlich geregelt in § 68 Abs. 2 IRG. 366 § 103 Abs. 1 S. 1 StPO gestattet nur die Durchsuchung von Räumen, nicht der Person des Nichtbeschuldigten. Im Gegensatz dazu ermächtigt § 102 StPO sowohl zur Durchsuchung von Räumen, als auch der Person des Beschuldigten. Bei der „Auslegung“ des Durchsuchungsbegriffs des § 103 Abs. 1 StPO dahin, er gestatte – wie auch § 102 StPO – die Durchsuchung der Person des Beschuldigten (in diesem Sinne bereits RGSt 14, 189 [194]; 42, 440; Meyer-Goßner, StPO [2006], § 103 Rdnr. 3; Nack, in: KKStPO [2003], § 102 Rdnr. 3; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, Bd. 2 [25. Aufl. 2003], § 103 Rdnr. 15; Schroeder, JuS 2004, 858 [859]; a.A. Amelung, in: AK-StPO, Bd. 2/1 [1992], § 103 Rdnr. 7), handelt es sich in der Sache um eine Analogie zu § 102 StPO, jedenfalls aber um eine Überschreitung des Wortsinns der Rechtsfolge des § 103 StPO („Raum“).
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In Erwägung gezogen, von der Rechtsprechung aber ausdrücklich nicht zugelassen, wurden folgende Analogieschlüsse: –
analoge Anwendung der §§ 110a ff. auf V-Leute;367
–
analoge Anwendung von § 100a StPO auf Raumgesprächsüberwachung oder heimliche Tonbandaufzeichnung zum Stimmvergleich.368
Die Probleme der Zulässigkeit von Analogieschlüssen lassen sich abschichten, indem die analoge Anwendbarkeit strafprozessualer Eingriffsermächtigungen auf ihre Vereinbarkeit mit den verschiedenen verfassungsrechtlichen Anforderungen an Eingriffsermächtigungen untersucht wird. Als solche Gewährleistungen kommen in Betracht: das besondere Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG (hierzu unter 1.), der besondere Vorbehalt des förmlichen Gesetzes in Art. 104 Abs. 1 GG (unter 2.) sowie der allgemein durch die Grundrechte verbürgte Gesetzesvorbehalt, ergänzt durch den „Allgemeinvorbehalt“ (unter 3.).
1. Analogieverbot aufgrund Art. 103 Abs. 2 GG? Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Dieses „Gesetzlichkeitsprinzip“ umfasst nach allgemeiner Auffassung das Verbot der Analogie („nulla poena sine lege stricta“).369 Erstmals ernsthaft diskutiert wurde die Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG auf Vorschriften, die dem Verfahrensrecht zuzuordnen sind, aus Anlass der Verlängerung der Verjährungsfristen, um alsbald verjährende nationalsozialistische Verbrechen weiter verfolgen zu können.370 Diese Diskussion hat sich danach ein Stück weit verselbständigt, diskutiert worden ist auch die Anwendbarkeit des Gesetzlichkeitsprinzips auf verfahrensrechtliche Vorschriften, die die Voraussetzungen der Verfolgbarkeit regeln.371 In der Tat ist zu erwägen, ob mit diesen Vorschriften i.S.d. Art. 103 ___________ 367
BGHSt 41, 42 (44); Nack, in: KK-StPO (2003), § 110a Rdnr. 9; Schäfer, in: Löwe/ Rosenberg, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), vor § 94 Rdnr. 23 m.w.N.; Makrutzki, Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß (2000), S. 113 ff. mit zutreffender Kritik an der Begründung des BGH. 368 BGHSt 31, 296 (298) – Raumgesprächsüberwachung; BGHSt 34, 39 (50) – heimliche Tonbandaufnahmen. 369 Statt aller Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3 (2005), Art. 103 Rdnr. 97. 370 Zu dieser Diskussion Pföhler, Die Unanwendbarkeit des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots im Strafverfahrensrecht (1988), S. 44 ff. 371 Für eine Anwendung von Art. 103 Abs. 2 GG insbesondere Grünwald, MDR 1965, 521 (523).
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Abs. 2 GG „die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt“ wird. Der Wortlaut der Vorschrift würde indes deutlich überspannt, wollte man Eingriffsermächtigungen zur Beweis- und Verfahrenssicherung hierunter fassen.372 Auch die Entstehungsgeschichte spricht dagegen, wollte der Grundgesetzgeber doch in Reaktion auf die „Analogienovelle“ aus dem Jahr 1935373 dem rechtsstaatlichen nullum-crimen-Grundsatz für den Gesetzgeber unüberwindbaren Verfassungsrang zukommen lassen.374 Dass eine Erweiterung über das materielle Strafrecht hinaus gewollt war, lässt sich demgegenüber nicht nachweisen.375 Umgekehrt ist allerdings nicht der (Umkehr-)Schluss gerechtfertigt, Art. 103 Abs. 2 GG zeige als Singularität des (materiellen) Strafrechts gerade, dass in anderen Bereichen des öffentlichen Rechts kein Analogieverbot gelte.376 Es ist nicht ersichtlich, warum Sinn und Zweck anderer Verfassungsvorschriften nicht Anlass zu ähnlich weitreichenden rechtsstaatlichen Folgerungen geben könnten.
2. Analogieverbot aufgrund Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG Für den Bereich der Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit könnte aber die analoge Anwendung strafprozessualer Eingriffsermächtigungen aufgrund der besonderen Schrankenregelung des Art. 104 Abs. 1 GG ausgeschlossen sein. Nach dieser Vorschrift darf die Freiheit der Person „nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes“ beschränkt werden. Der Vorbehalt des förmlichen Gesetzes schließt nach h.M. die Rechtsfortbildung praeter legem, die Analogie, ___________ 372
Zutr. Mertens, Strafprozessuale Grundrechtseingriffe und Bindung an den Wortsinn der ermächtigenden Norm (1996), S. 55; a.A. hingegen Jäger, GA 2006, 615 (619 ff.), der aus einer „strafrechtsdienenden“ und rechtsgüterschützenden Funktion des Strafverfahrensrechts die Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG auch für prozessuale Normen ableiten will; noch weiter Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (26. Aufl. 2006), Einl. M Rdnr. 49 (Analogieverbot wegen Gleichordnung des strafrechtlichen und strafprozessualen Eingriffs). 373 § 2 des StGB in der Fassung des Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches v. 26.6.1935, RGBl. I, S. 839: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gefundenem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.“ 374 Zur Entstehungsgeschichte JöR NF Bd. 1 (1951), 741 ff. unter Bezugnahme auf Art. 136 Abs. 1 des Entwurfes nach dem Herrenchiemsee-Konvent. 375 Zutr. Mertens, Strafprozessuale Grundrechtseingriffe und Bindung an den Wortsinn der ermächtigenden Norm (1996), S. 55 f.; ebenso BVerfGE 112, 304 (315); ausführlich zur Entwicklung des Analogieverbots Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren (1992), S. 88 ff. 376 In diesem Sinne aber Teile der steuerrechtlichen Literatur, Nachweise hierzu und zutr. dagegen Mertens, Strafprozessuale Grundrechtseingriffe und Bindung an den Wortsinn der ermächtigenden Norm (1996), S. 58 ff.
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aus.377 Dafür spricht schon der Gesetzeswortlaut, da ein „förmliches Gesetz“ nur ein solches ist, das von den für die Gesetzgebung zuständigen Stellen in dem für die Gesetzgebung vorgeschriebenen Verfahren beschlossen wird.378 Dass der Analogieschluss eine zulässige Maßnahme „auf Grund eines förmlichen Gesetzes“ sein könnte – wie Mertens erwägt379 –, würde schon dem Wortlaut der Vorschrift nicht gerecht. Der Befund der grammatikalischen Auslegung wird auch durch Sinn und Zweck der Vorschrift gestützt: Historischer Hintergrund ihrer Ausgestaltung (Vorbehalt des förmlichen Gesetzes, Richtervorbehalt, Misshandlungsverbot, Benachrichtigungsgebot) war – neben den Bestreben, überkommene habeas-corpus-Garantien zu sichern – die Außerkraftsetzung des Grundrechts des Art. 114 WRV durch die nationalsozialistischen Machthaber im Jahre 1933.380 Art. 104 GG will den Gesetzgeber zu einer strikt förmlichen, Freiheitsbeschränkungen berechenbar und kontrollierbar haltenden Rechtsordnung verpflichten.381 Nur der Gesetzgeber hat in diesem Grundrechtsbereich das Rechtssetzungsmonopol. Das Grundgesetz reagiert damit besonders sensibel auf Gefährdungslagen für die Freiheit des Einzelnen durch den Missbrauch politischer oder gesellschaftlicher Macht.382 Mit diesem Grundgedanken der strikten Bindung an förmliche Gesetze ist es unvereinbar, Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit auf Grund bloßer Analogieschlüsse zuzulassen. Als Zwischenergebnis ist damit festzuhalten, dass Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit auf Grund einer analogen Anwendung von Eingriffsermächtigungen gegen Art. 104 Abs. 1 GG verstoßen.
___________ 377 BVerfGE 29, 183 (195 f.); BVerfG (Kammer), Beschl. v. 16.5.2007 – 2 BvR 2106/05, Rdnr. 19; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3 (2005), Art. 104 Rdnr. 26; ders., NJW 1992, 457 (460 f.); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3 (2000), Art. 104 Rdnr. 25; Krey, in: Festschrift für Blau (1985), S. 123 (148); Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3 (2003), Art. 104 Rdnr. 10; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 448; Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 163; zu weitgehend aber wohl Schmidt, VerwArch 97 (2006), 139 (157), der bereits aus Art. 104 Abs. 1 GG herleiten will, dass Standardbefugnisse, die zwangsläufig mit dem (nur) vorübergehenden Festhalten einer Person verbunden sind (z.B. Befragung, Identitätsfeststellung), keiner analogen Anwendung zugänglich sind. 378 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG (1958), Art. 104 Rdnr. 14. 379 Mertens, Strafprozessuale Grundrechtseingriffe und Bindung an den Wortsinn der ermächtigenden Norm (1996), S. 82. 380 Vgl. § 1 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat (NotVO) v. 28.2.1933, RGBl. I 1933, S. 83; siehe zur Geschichte Gusy, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 3 (2005), Art. 104 Rdnr. 2 ff., inbes. Rdnr. 5. 381 Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3 (2003), Art. 104 Rdnr. 3. 382 Treffend Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3 (2000), Art. 104 Rdnr. 16; zahlreiche Beispiele aus der Geschichte des Verhaftungsrechts bei Amelung, Jura 2005, 447 ff.
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3. Analogieverbot aufgrund des allgemeinen Gesetzesvorbehalts Für das von Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 Abs. 1 GG geschützte Rechtsgut erkennt – wie gezeigt – bereits der Verfassungsgeber an, dass ein gesteigertes Interesse an der Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns besteht, dem die analoge Anwendung von Eingriffsermächtigungen nicht genügt. Für Eingriffe in die übrigen grundrechtlichen Schutzgüter durch strafprozessuale Ermittlungs- und Verfahrenssicherungsmaßnahmen besteht ein derart gesteigertes Interesse ebenfalls, wenn auch aus einem anderen Grund. Der Vorbehalt des Gesetzes hat – wie unter I. gezeigt – eine demokratische und eine rechtsstaatliche Dimension. Als Ausfluss des Demokratieprinzips erfordert der Gesetzesvorbehalt, dass die wesentlichen (v.a. grundrechtsrelevanten) Entscheidungen der demokratisch legitimierte Gesetzgeber trifft. Dieser Grundgedanke spricht schon dafür, dass Analogien – als Rechtsfindung des Rechtsanwenders – im Bereich staatlicher Eingriffe grundsätzlich unzulässig sein dürften. Mag man unter diesem Aspekt noch Ausnahmen rechtfertigen können,383 ergibt sich das Analogieverbot jedenfalls für strafprozessuale Grundrechtseingriffe aus der rechtsstaatlichen Dimension des Gesetzesvorbehalts: Sie soll sicherstellen, dass Eingriffe für den Bürger vorhersehbar und berechenbar sind. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe sind institutionalisierte Überraschungseingriffe;384 der überraschende Zugriff auf grundrechtliche Schutzgüter ist geradezu „Erfolgsbedingung“ strafverfolgenden Handelns, das darüber hinaus von einer „strafprozessualen Kampfsituation“ geprägt ist, die die Gefahr der nur unzureichend neutralen Abwägung widerstreitender verfassungsrechtlicher Prinzipien mit sich bringt. Aus diesem Grund gewinnt die Berechenbarkeit staatlicher Eingriffstätigkeit für den von strafprozessualen Grundrechtseingriffen Betroffenen eine besondere Bedeutung. Deshalb wird man auf eine gesetzgeberische Entscheidung über strafprozessuale Eingriffsmöglichkeiten nicht verzichten dürfen. Die analoge Heranziehung von Eingriffsermächtigungen wird dem Vorbehalt des Gesetzes jedenfalls im Kontext strafprozessualer Grundrechtseingriffe nicht gerecht. Analogien sind insoweit verfassungswidrig.385 ___________ 383 Vgl. etwa BVerfGE 80, 269 (279); 82, 6 (11 ff.); 98, 49 (59 f.); Sachs, in: ders., GG (2007), vor Art. 1 Rdnr. 112; Ennuschat, JuS 1998, 905 (908); Schmidt, VerwArch 97 (2006), 139 (158); Hemke, Methodik der Analogiebildung im öffentlichen Recht (2006), S. 268 ff.; offen jedenfalls BVerfG, NJW 2006, 2093 (2094); Analogien mit dem Gesetzesvorbehalt generell für unvereinbar hält aber BVerfG (Kammer), NJW 1996, 3146; ebenso Konzak, NVwZ 1997, 872 (873). 384 s.o. § 8 A.III. 385 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt – wenngleich allgemein auf staatliche Eingriffstätigkeit bezogen – ein Teil der Lehre: Krey, in: Festschrift für Blau (1985), S. 123 (147 f.); Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 27; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), vor § 94 Rdnr. 23; Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren (1992), S. 156 f.; Gusy, StV 2002, 153 (156); Jahn/Kudlich, JR
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt III. Gewohnheitsrecht und Vorbehalt des Gesetzes
Eine zweite Frage ist die Tauglichkeit von Gewohnheitsrecht als Ermächtigung für strafprozessuale Grundrechtseingriffe. Bis vor wenigen Jahren war sie – wenn auch wenig diskutiert386 – z.B. relevant für die Beurteilung von (auch kurzfristigen) Observationen, die durchweg Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellen.387 Für solche Eingriffe ist erwogen worden, sie könnten sich auf (vorkonstitutionelles) Gewohnheitsrecht stützen und entbehrten deshalb einer formal-gesetzlichen Eingriffsermächtigung.388 Dass sich die Diskussion inzwischen entschärft hat, liegt v.a. an der Umgestaltung der §§ 161, 163 StPO von Aufgabenzuweisungsnormen zu Befugnisnormen durch das StVÄG 1999 im Jahr 2000.389 Für die Frage, ob Gewohnheitsrecht zu Eingriffen ermächtigen kann, ist zu unterscheiden: Die Schaffung von Eingriffsermächtigungen durch nachkonstitutionelles Gewohnheitsrecht ist von vornherein ausgeschlossen. Mit den unter I. genannten Zwecken des Gesetzesvorbehaltes deckt sich die Herausbildung gewohnheitsrechtlicher Eingriffsermächtigungen nicht.390 Darüber hinaus erscheint schon der Ansatz verfehlt, unter dem Regime des Grundgesetzes könne sich Gewohnheitsrecht herausbilden, das tragenden Prinzipien der Verfassung widerspricht.391 Indes soll nach verbreiteter Auffassung vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht taugliche Eingriffsermächtigung sein können.392 Für diese Auffassung ___________ 2007, 57 (60). Ähnlich i.Ü. auch schon BGHSt 34, 39 (50); 31, 296 (298), die eine Analogie zu § 100a StPO (auch) aus Gründen des Gesetzesvorbehaltes ablehnen. 386 Siehe aber Bottke, in: Gedächtnisschrift für Meyer (1990), S. 37 (40). 387 Siehe nur Hilger, NStZ 2000, 561 (564); Hefendehl, StV 2001, 700 (704); ausführlich Nimtz, Die strafprozessuale Observation nach dem Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 (2003), S. 52 ff. (insbes. S. 60); a.A. noch Rebmann, NJW 1985, 1 (3 f.). 388 Offen etwa Krey, in: Festschrift für Blau (1985), S. 123 (146). 389 BGBl. I, S. 1253. Auch der Ausschluss von Verteidigern, den BGH, NJW 1972, 2140 (2141), auf Gewohnheitsrecht stützen wollte (aufgehoben aber von BVerfGE 34, 293 ff. [insbes. 310]), ist inzwischen in den §§ 138a ff. StPO geregelt. 390 Ebenso BVerfGE 22, 114 (121); Witthohn, Gewohnheitsrecht als Eingriffsermächtigung (1997), S. 115; Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 29; Krey, in: Festschrift für Blau (1985), S. 123 (144 f.). 391 Zutreffend Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 444; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), vor § 94 Rdnr. 70; a.A. offenbar Ennuschat, JuS 1998, 905 (908). 392 So etwa BVerfGE 9, 338 (343); 15, 226 (233 f.); 22, 114 (121); 28, 21 (28); 34, 293 (303); 36, 212 (216); 60, 215 (229 f.); Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte (1997), § 12 Rdnr. 60; einschränkend Krey, in: Festschrift für Blau (1985), S. 123 (146 f.); Kirn, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3 (2003), Art. 123 Rdnr. 8; Wolff, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3 (2005), Art. 123 Rdnr. 35. Von „grundsätzlichen Beden-
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kann – wie auch für die Frage, ob sich vorkonstitutionelles Recht an Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG messen lassen muss393 – grundsätzlich Art. 123 Abs. 1 GG in Anspruch genommen werden.394 Nach dieser Vorschrift gilt Recht (nicht: gelten Gesetze) aus der Zeit vor dem Zusammentreten des Bundestages fort, soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht. Art. 123 Abs. 1 GG stellt dabei auf eine materielle, inhaltliche Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz ab; anders ließe sich sein Ziel kaum erfüllen.395 Einschränkend wird allerdings auch von Befürwortern dieser Auffassung die Tauglichkeit von vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht als Eingriffsermächtigung dort verneint, wo das Grundgesetz ausdrücklich ein formelles Gesetz als Ermächtigung verlangt (Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG).396 Überzeugender dürfte demgegenüber sein, vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht generell jedenfalls nach über 50 Jahren der Geltung des Grundgesetzes die Tauglichkeit abzusprechen, als Ermächtigung für Grundrechtseingriffe fungieren zu können.397 Das ergibt sich letztlich aus dem – aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten398 – Erfordernis der Rechtssicherheit. Eine strikte Akzeptanz von vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht als Eingriffsermächtigung stünde im Widerspruch zu dem Gebot, Eingriffsermächtigungen dem Wandel des Verfassungsrechts (insbesondere dem Verständnis der materiellen Aussagen der Verfassung) anzupassen.399 Demzufolge kann Gewohnheitsrecht, das mit dem heutigen materiellen Verfassungsrecht in ___________ ken“ gegen das Fortgelten von eingreifendem Gewohnheitsrecht spricht hingegen BVerfGE 32, 54 (75), ohne allerdings jenen Bedenken weiter nachzugehen. 393 Hierzu unten B. 394 So BVerfGE 34, 293 (303); 41, 251 (263); Kirn, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3 (2003), Art. 123 Rdnr. 8; Wolff, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3 (2005), Art. 123 Rdnr. 35; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 442. Anders allerdings der Begründungsansatz von Krey, in: Festschrift für Blau (1985), S. 123 (146), der neben dem Gesichtspunkt der Kontinuität der Staatstätigkeit auch die „Unmöglichkeit, alle denkbaren Notsituationen im voraus durch hinreichend bestimmte Eingriffsermächtigungen erfassen zu können“ für die Möglichkeit, Eingriffe auf Gewohnheitsrecht stützen zu dürfen, anführt. Während der erste Gesichtspunkt nur wiedergibt, was durch Art. 123 Abs. 1 GG positiviert ist, überzeugt das zweite Argument schon deshalb nicht, weil es nicht erklären kann, weshalb nur vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht zulässig sein soll. 395 BVerfGE 10, 354 (361); Maunz, in: ders./Dürig, GG (1964), Art. 123 Rdnr. 9; Wolff, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3 (2005), Art. 123 Rdnr. 31. 396 BVerfGE 29, 183 (196); Krey, in: Festschrift für Blau (1985), S. 123 (146). 397 Ebenso Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht (1992), S. 66; Bottge, Gedächtnisschrift für Meyer (1990), S. 37 (40); Schäfer, in: Löwe/ Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003) vor § 94 Rdnr. 69; wohl auch Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 30. 398 Siehe nur Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2 (2005), Art. 20 Rdnr. 288 ff. 399 Ähnlich Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht (1992), S. 66.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
Widerspruch steht, keine taugliche Grundlage für Eingriffe in Grundrechte sein. Damit entstünde aber eine Gemengelage von „von vornherein nicht“, von „nicht mehr“ und von „immer noch“ fortgeltendem Gewohnheitsrecht, die mit dem Grundsatz der Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns – zumal im Bereich staatlicher Eingriffe – kaum vereinbar wäre. Diese Bedenken wiegen umso stärker, nimmt man auf die soeben unter II. geschilderten Besonderheiten strafprozessualer Grundrechtseingriffe Bedacht. Auch die Schwierigkeiten, nach über 50 Jahren die Voraussetzungen von Gewohnheitsrecht (dauerhafte tatsächliche Übung und allgemeine Anerkennung400) für den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfassung zuverlässig zu bestimmen, sprechen gegen das Fortgelten vorkonstitutionellen Gewohnheitsrechts als Ermächtigung für Eingriffe in Grundrechte. Es ist darüber hinaus auch nicht davon auszugehen, dass die hier vertretene Auffassung nach einem solch langen Zeitraum eine ernstzunehmende Belastung für den Gesetzgeber bedeuten würde.
IV. Strafrechtliche Rechtfertigungsnormen als Eingriffsermächtigungen?
Ob strafrechtliche Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB401, als Ermächtigungen für Grundrechtseingriffe taugen, ist v.a. vor dem Hintergrund der „Terrorismuswelle“ – und nach Normierung des rechtfertigenden Notstandes im StGB – in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder402 diskutiert worden.403 Für die polizeirechtliche Parallelproblematik existieren sog. Notrechtsvorbehalte in den Polizeigesetzen, nach denen – bei Unterschieden in der Formulierung – die Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt bleiben.404 Für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sind die materiell-strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe der §§ 32 und 34 StGB nicht von ___________ 400
Siehe nur Rüthers, Rechtstheorie (2005), Rdnr. 232. Zur Einwilligung s.o. § 10 B. Die Einwilligung ist jedoch kein spezifisch strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund; insofern trifft die hier geführte Diskussion die obigen Ausführungen nicht. 402 Siehe zur Diskussion in der Weimarer Republik Amelung, NJW 1977, 833 (838). 403 Zur Auseinandersetzung mit der – insbesondere unter § 11 in Fn. 410 aufgeführten – Rspr. bspw. Amelung, NJW 1977, 833 ff.; Schwabe, NJW 1977, 1902 ff. mit Entgegnung von Amelung, NJW 1978, 623 f.; Lange, NJW 1978, 784 ff.; Sydow, JuS 1978, 222 ff.; Kirchhof, NJW 1978, 969 ff.; Gössel, JuS 1979, 162 (164 f.). 404 Vgl. etwa Art. 60 Abs. 2 PAG Bayern, weniger deutlich aber bspw. § 34 Abs. 6 SächsPolG. Nach Rogall, JuS 1992, 551 (553), hätten jene Notrechtsvorbehalte auch für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand eine Schlüsselrolle, was sich aber daraus erklärt, dass Rogall auf die zwangsweise Durchsetzung strafprozessualer Eingriffsermächtigungen die polizeirechtlichen Vorschriften über unmittelbaren Zwang anwenden will, denen die Notrechtsvorbehalte stets angegliedert sind (siehe hierzu unter V.). Wer dem folgt, für den sind jedenfalls für einen Teilbereich der hier skizzierten Probleme jene Notrechtsvorbehalte von Bedeutung. 401
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herausgehobener Bedeutung, sind sie doch ersichtlich auf die Abwehr von Gefahren ausgerichtet. Es drängt sich daher die Vermutung auf, sie seien jedenfalls für „echte“ strafprozessuale Grundrechtseingriffe irrelevant. Werden sie gleichwohl behandelt, geschieht dies zum einen, weil sich die Praxis ungeachtet jener präventiven Zielrichtung der Rechtfertigungsgründe nicht von einer Anwendung auch im Kontext des Strafverfahrens abzuhalten lassen scheint.405 Zum anderen können bei repressiv intendierten Einsätzen – vor allem bei tätlichen Angriffen auf Vollzugsbeamte – Gemengelagen entstehen, für die die Eingriffsbefugnisse nach der Rechtsprechung teilweise aus den Vorschriften der StPO, teilweise eben aus den materiell-strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen (v.a. § 32 StGB) hergeleitet werden.406 Dass diese Frage derzeit kaum diskutiert wird, ist vor allem damit zu erklären, dass hierfür derzeit kaum aktueller Anlass zu bestehen scheint. Das liegt einerseits daran, dass es eine der „Terrorismuswelle“ der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts vergleichbare, unmittelbar das Strafverfahren betreffende Krise (jedenfalls in Deutschland noch) nicht gibt, zum anderen aber auch daran, dass in Reaktion auf die Diskussion (vermeintliche) Lücken in den Eingriffsermächtigungen teilweise geschlossen worden sind.407 Befremdlich ist allerdings, wenn sich StPO-Kommentare ohne Problembewusstsein zu der lapidaren Behauptung hinreißen lassen, der Polizei stünden „das Notwehr- und Nothilferecht (§§ 32, 35 StGB) sowie das Recht des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) zu.“408 Bei der Frage um die (im weitesten Sinne) „Anwendbarkeit“ dieser Vorschrift sind zwei Problemkreise auseinander zu halten, von denen nur der erste an dieser Stelle von Interesse ist. Erstens: Erweitern jene Rechtfertigungsnor___________ 405
Siehe etwa zur Kontaktsperre (die allerdings ebenfalls keinen „echten“ strafprozessualen Grundrechtseingriff darstellt) § 11 Fn. 407; für die Einrichtung einer Fangschaltung (durch die Bundespost) zur Ermittlung des Urhebers beleidigender Anrufe OLG Saarbrücken, NStZ 1991, 386; offen BGHSt 34, 39 (51 f.), siehe hierzu auch § 11 Fn. 410. 406 Siehe hierzu den Fall aus BayObLGSt 1990, 141 ff.: Bei dem Versuch, den Beschuldigten zwangsweise zur Entnahme einer Blutprobe in das Krankenhaus zu verbringen, riss sich dieser los, schlug im Laufe der Auseinandersetzung um sich und traf dabei auch den Vollzugsbeamten. Der Vollzugsbeamte schlug zurück. Das BayObLG war (unmittelbar) freilich nur mit der Beurteilung der Strafbarkeit des Vollzugsbeamten, nicht mit der Frage einer Eingriffsbefugnis befasst. Krit. zur Annahme des Gerichts, der Vollzugsbeamte sei nach § 32 StGB gerechtfertigt, Rogall, JuS 1992, 551 ff., dessen Lösung (Rechtfertigung des Beamten schon durch § 81a StPO) allerdings ebenfalls nicht zu überzeugen vermag (siehe hierzu unten V.). 407 Siehe etwa zur Kontaktsperre, für deren Rechtfertigung BGHSt 27, 260 (262) noch auf § 34 StGB zurückgegriffen hat, §§ 31 ff. EGGVG. 408 Krehl, in: HK-StPO (2001), § 163 Rdnr. 5; ähnlich Plöd, in: KMR-StPO (2001), § 163 Rdnr. 15.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
men die staatlichen Handlungsbefugnisse, ist also ein strafprozessualer Grundrechtseingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen einer strafrechtlichen Rechtfertigungsnorm gegeben sind? Zweitens: Kann sich der Strafverfolgungsbeamte zum Ausschluss seiner Strafbarkeit auf die Rechtfertigungsgründe des StGB berufen?409 Die Rechtsprechung hat in der Vergangenheit die erste Frage mehrfach bejaht.410 In Anbetracht des Wortlauts des § 34 StGB (er spricht von „Tat“), seinem Standort im Allgemeinen Teil des StGB und der Geschichte seiner Entstehung – insbesondere des Bestrebens, den schon damals für das Strafrecht anerkannten Rechtfertigungsgrund des Notstandes zu positivieren411 – dürfte hingegen kein Zweifel bestehen, dass nichts anderes normiert worden ist, als ein Rechtfertigungsgrund des Straf- und Deliktsrechts,412 insbesondere keine öffentlich-rechtliche Ermächtigung zum Eingreifen in Grundrechte.413 Hinzu kommt, dass § 34 StGB naturgemäß gar nichts darüber aussagt, wen genau er ermächtigen würde.414 Vor allem die teleologischen Zusammenhänge sprechen dagegen, staatliche Eingriffstätigkeit auf die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe stützen zu ___________ 409
Siehe hierzu § 15 B. Z.B. BGHSt 27, 260 (262 f.) zur Kontaktsperre; OLG Saarbrücken, NStZ 1991, 386; OLG München, NJW 1972, 2275 (betrifft i.e.S. allerdings nur die Strafbarkeit des Beamten); ferner für außergewöhnlich Umstände und nicht allein zu dem Zweck, Beweismittel zu beschaffen (d.h. nur zu präventiven Zwecken) BGHSt 31, 304 (307); offen gelassen, ob der Umstand, dass die Klärung eines schwerwiegenden Tatvorwurfs mit den von der StPO zugelassenen Beweismitteln nicht herbeigeführt werden kann und die eine Gefahr für ein höherwertiges Rechtsgut darstellt BGHSt 34, 39 (51 f.). Dass der BGH wohl auch heute nicht von seiner Rechtsprechung abrückte, zeigt das obiter dictum in der Entscheidung v. 18.4.2007 – 5 StR 546/06, Rdnr. 23. Für weitere Beispiele der Rechtfertigung von Lauschangriffen durch Verfassungsschutz („Lauschaffäre Traube“) und Justizbehörden (Gespräche zwischen den „Bader-Meinhof-Angeklagten“ und ihren Rechtsanwälten) siehe nur Sydow, JuS 1978, 222 (223); Amelung, NJW 1977, 833. Für eine Begründung hoheitlicher Eingriffsrechte aufgrund der §§ 32 und 34 StGB auch Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1 (2006), § 15 Rdnr. 112 sowie § 16 Rdnr. 103 f. 411 Zur historischen Auslegung im Hinblick auf die hier diskutierte Frage ausführlich Zieschang, in: LK-StGB, Bd. 2 (12. Aufl. 2006), § 34 Rdnr. 10. 412 So der treffende Ausgangspunkt der Erörterung von Sydow, JuS 1978, 222 (223). 413 So im Ergebnis auch die Vorstellung der Väter des MEPolG zum polizeirechtlichen Notrechtsvorbehalt, vgl. Heise/Riegel, Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes (1978), S. 22: „Die Notwehrvorschriften des Strafrechts und des Zivilrechts vermögen jedoch ein Verhalten nur strafrechtlich oder zivilrechtlich zu rechtfertigen; sie sind nicht Ermächtigungsgrundlage für hoheitliches Handeln.“ Ähnlich auch die Begründung für die wortgleiche Vorgängernorm des § 10 Abs. 3 UZwG (Bund) BT-Drs. 3/38, S. 8; in Sachsen für § 34 Abs. 6 SächsPolG LT-Drs. 1/238, S. 2. 414 Hierauf weist Amelung, NJW 1977, 833 (837), zutreffend hin. Als Stichworte seien nur genannt: Trennung von Prävention und Repression? Handlungsermächtigung an Polizei oder Staatsanwaltschaft? Vorbehalt richterlicher Anordnung? 410
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können. Strafrechtliche Rechtfertigungsgründe haben einen ganz spezifischen grundrechtlichen Bezug; sie sind in einen vollkommen anderen Interessenskonflikt eingebettet als staatliche Eingriffsermächtigungen. Mit Strafgesetzen werden Grundrechte, v.a. die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), eingeschränkt. Strafrechtliche Rechtfertigungsgründe sind darauf gerichtet, die Regel der allgemeinen Handlungsfreiheit des Bürgers wiederherzustellen, indem sie dem Betroffenen erlauben, von seiner grundrechtlichen Freiheit Gebrauch zu machen und den Tatbestand einer Strafnorm zu verwirklichen. Wollte man diese Vorschriften dazu verwenden, Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen, also grundrechtliche Freiheit einzuschränken, würde ihr Sinn und Zweck in das Gegenteil verkehrt.415 Daraus folgt ferner, dass die erforderliche Abwägung der widerstreitenden Interessen für den Eingriff in Grundrechte im Kontext des Strafverfahrens in jenen Fallkonstellationen gerade nicht der Gesetzgeber getroffen hat.416 Das umfassende Ersetzen einer solchen Abwägung durch den Normanwender verstößt gegen den Vorbehalt des Gesetzes.417 Das Abstellen des BGH in seiner Kontaktsperre-Entscheidung418 auf einen allgemeinen (nunmehr in § 34 StGB niedergelegten) Rechtsgedanken, nach dem die Verletzung eines Rechtes in Kauf genommen werden müsse, wenn es nur so möglich sei, ein höheres Rechtsgut zu retten, geht hingegen am Problem vorbei. Die Argumentation ersetzt in unzulässiger Weise formelle Sicherungen durch den Hinweis auf materielle Gesichtspunkte. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass der Grundsatz „Not kennt kein Gebot“ auf das Verhältnis des Staates zu seinen ___________ 415 Treffend Sydow, JuS 1978, 222 (224); Zieschang, in: LK-StGB, Bd. 1 (12. Aufl. 2006), § 34 Rdnr. 8. 416 Amelung, NJW 1977, 833 (836). 417 Im Ergebnis ebenso Amelung, NJW 1977, 833 (835 ff.); ders., NJW 1978, 623 (624); Sydow, JuS 1978, 222 (225); Rogall, JuS 1992, 551 (558); Renzikowski, Notstand und Notwehr (1994), S. 297; Zieschang, in: LK-StGB, Bd. 1 (12. Aufl. 2006) § 34 Rdnr. 6 m.w.N.; Beaucamp, JA 2003, 402 (403 f.); speziell für das Polizeirecht Kirchhof, NJW 1978, 969 (972 f.); Gusy, Polizeirecht (2003), Rdnr. 177 f.; Fechner, Grenzen polizeilicher Notwehr (1991), S. 98; mit besonders ausführlicher Diskussion des Streitstandes Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes (2004), S. 416 ff.; a.A. aber BGHSt 27, 260 (262 f.) sowie die weitere in § 11 Fn. 410 aufgeführte Rspr.; Schwabe, NJW 1977, 1902 (1906 f.); Gössel, JuS 1979, 162 (164 f.); Lange, NJW 1978, 784 ff.; Erb, in: MünchKomm-StGB, Bd. 1 (2003), § 34 Rdnr. 45 für außergewöhnliche Notsituationen der Gefahrenabwehr; ein „Notrecht des Staates“, das „in Extremsituationen Eingriffen […] den Makel des Rechtsbruchs zu nehmen vermag, sofern es sich nur um vorübergehende Grundrechtsbeschränkungen ohne irreparable, erhebliche Dauerschäden“ handele, postuliert auch Krey, in: Festschrift für Blau (1985), S. 123 (147); ders., Rechtsprobleme des strafprozessualen Einsatzes Verdeckter Ermittler (1993), Rdnr. 311 ff., 604 ff. Differenzierend schließlich Pawlik, Der rechtfertigende Notstand (2002), S. 213, nach dem § 34 StGB insoweit Geltung beansprucht, als „ein Eingriff nicht zur Durchsetzung einer Eingriffskompetenz, sondern lediglich ‚bei Gelegenheit‘ der Amtsausübung“ erfolge. 418 BGHSt 27, 260 (262 f.).
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
Bürgern zumindest insoweit nicht anwendbar ist, als es um den Eingriff in die Grundrechte von Bürgern geht.
V. Vorbereitende und begleitende Eingriffe
Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen bestimmen regelmäßig hinreichend detailliert die Maßnahme, auf die es „eigentlich“ ankommt, um den mit ihr verfolgten Zweck zu erreichen (z.B. Sicherstellung, Beschlagnahme, Durchsuchung, Verhaftung usw.). Es kann aber zu Situationen kommen, in denen vorbereitende Handlungen oder weitere Zwischenschritte erforderlich sind, um die eigentliche Maßnahme erfolgreich zu ergreifen. Das ist problematisch, wenn sich solche vorbereitenden oder begleitenden Maßnahmen bei isolierter Betrachtung selbst als Grundrechtseingriffe darstellen. Die Diskussion ist vor einigen Jahren für kurze Zeit intensiv geführt worden aus Anlass verschiedener Entscheidungen zu der Frage, ob zum Abhören des nicht öffentlich gesprochenen Wortes in Kraftfahrzeugen (vgl. § 100f StPO [= § 100c Abs. 1 Nr. 2 StPO a.F.]) das Fahrzeug heimlich geöffnet und gegebenenfalls zum Anbringen der Wanze in eine Werkstatt verbracht werden darf.419 Der Ermittlungsrichter des BGH hat die erste Frage bejaht, die zweite verneint.420 Im Übrigen stellt sich das Problem für eine Vielzahl strafprozessualer Grundrechtseingriffe und Eingriffsermächtigungen. So ist bspw. fraglich, –
ob die §§ 102 f. StPO nicht nur das „Suchen“, sondern auch die Beschädigung von Sachen – man denke an Eingangs- oder Schranktüren – legitimieren;421
–
ob § 81a StPO nicht nur die Eingriffsermächtigung für den Untersuchungsakt, sondern auch für gegebenenfalls notwendige Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit darstellt (Festhalten zum Zweck der Untersuchung, Festhalten zum Zweck des Wartens auf einen Arzt, Festhalten und Verbringen zu einem Arzt bzw. einer Polizeidienststelle usw.);422
___________ 419 Siehe BGH (Ermittlungsrichter), NJW 1997, 2189; LG Freiburg, NJW 1996, 3021 f.; AG Kaufbeuren, StV 1998, 534 f.; hierzu Gropp, JZ 1998, 501 (504 f.); Schneider, NStZ 1999, 388 ff.; Janker, NJW 1998, 269 ff.; Martensen, JuS 1999, 433 ff.; Heger, JR 1998, 163 ff.; Steinhögl, StV 1998, 535 f.; jüngst Keller, Kriminalistik 2006, 537 (541). 420 BGH (Ermittlungsrichter), NJW 1997, 2189; ebenso LG Freiburg, NJW 1996, 3021 f. 421 In diesem Sinn Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), § 105 Rdnr. 58; Meyer-Goßner, StPO (2006), § 105 Rdnr. 13. 422 In dem Sinn Krause, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), § 81a Rdnr. 77; Senge, in: KK-StPO (2003), § 81a Rdnr. 9; Meyer-Goßner, StPO (2006), § 81a Rdnr. 29; Rogall, JuS 1992, 551 (554); OLG Dresden, NJW 2001, 3643 (3644).
§ 11 Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
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–
ob eine Rechtsgrundlage für die zwangsweise Durchführung einer (Identifizierungs-)Gegenüberstellung sowie für das Verändern des Erscheinungsbildes einer Person zur Vorbereitung einer Gegenüberstellung notwendig ist und existiert;423
–
ob (ganz ähnlich wie für die Diskussion bei § 100f StPO [§ 100c Abs. 1 Nr. 2 StPO a.F.]) § 100c Abs. 1 StPO (§ 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO a.F.) für den großen Lauschangriff nicht nur zum Abhören bzw. Aufzeichnen, sondern auch zum Betreten einer (oder weniger euphemistisch: zum Einbruch in eine) Wohnung zum Zweck des Anbringens einer Wanze ermächtigt.424
Auf die Ermittlungsgeneralklauseln der §§ 161, 163 StPO können vorbereitende oder begleitende Eingriffe nicht gestützt werden.425 Ein Teil der aufgeworfenen Probleme könnte durch die Anwendung der Vorschriften über den unmittelbaren Zwang der UZw-Gesetze (Bund und Länder) bzw. die entsprechenden Vorschriften in den Polizeigesetzen der Länder gelöst werden.426 Nach diesen Normen ist die Anwendung unmittelbaren Zwangs grundsätzlich zulässig, wenn der Zweck der Maßnahme auf anderem Wege nicht erreicht werden kann (vgl. etwa § 32 Abs. 1 SächsPolG). Das UZwG des Bundes kann die Lücke aber schon deshalb nicht schließen, weil es ausdrücklich nur für Bundesbeamte gilt, im Strafverfahren grundsätzlich aber Landesbeamte handeln. Die Landespolizeigesetze verweisen auf die Verfolgung polizeilicher Ziele, sind also ausdrücklich auf Gefahrenabwehr ausgerichtet. Die Anwendung der Vorschriften stellte damit eine verbotene427 Analogie dar.428 Abweichendes gilt al___________ Umfassend und m.w.N. Mertens, Strafprozessuale Grundrechtseingriffe und Bindung an den Wortsinn der ermächtigenden Norm (1996), S. 36 ff. 423 Krause, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), § 81a Rdnr. 46 (zur zwangsweisen Durchführung einer Identifizierungsgegenüberstellung) und Rdnr. 47 (zur Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes); v. Bubnoff, in: LK-StGB, Bd. 4 (11. Aufl. 1993), § 113 Rdnr. 36a (Eingriffsermächtigung sei § 81a StPO analog). 424 Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), § 100c Rdnr. 7; siehe aus dem verfassungsrechtlichen Schrifttum ferner Hermes, in: Dreier, GG, Bd. 1 (2004), Art. 13 Rdnr. 61; Berkemann, in: AK-GG (2001), Art. 13 Rdnr. 130; Papier, in: Maunz/ Dürig, GG (1999), Art. 13 Rdnr. 79. 425 Siehe zur Grenze der Ermittlungsgeneralklauseln sogleich unter VII. 426 In diesem Sinn Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 36 m.w.N; Amelung, in: AK-StPO, Bd. 2/1 (1992), § 105 Rdnr. 38; von Rogall, JuS 1992, 551 (553) gar als „allgemeine Auffassung“ bezeichnet. 427 s.o. II. 428 Anders, aber nicht überzeugend Benfer, NJW 2002, 2688 (2689). Nach seiner Auffassung stellt das der Durchsetzung einer eine strafprozessuale Maßnahme verhindernde Unterlassen eines Beschuldigten (etwa das Nichteinlassen der Polizisten in eine zu durchsuchende Wohnung) eine Gefahr für Durchführung und Erfolg einer strafprozessualen Maßnahme und damit eine Gefahr für die „Effizienz der Strafverfolgung“ dar, die unter direkter Anwendung der polizeirechtlichen Vorschriften über den unmittelbaren Zwang (also etwa das Eintreten der Wohnungstür) abgewehrt werden könne. Eine
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
lenfalls dann, wenn Polizeibeamte zur Eigensicherung handeln;429 dann handelt es sich aber nicht um strafprozessuale Grundrechtseingriffe. Bietet der vorgenannte Weg keine adäquate Lösung, ist zu erwägen, diese in § 36 Abs. 2 StPO zu suchen. Die Vorschrift ermächtigt nämlich die Staatsanwaltschaft, „das Erforderliche“ zu veranlassen, um richterliche Entscheidungen zu vollstrecken. Solche richterlichen Entscheidungen sind auch ermittlungsrichterliche Anordnungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe.430 Das „Erforderliche“ i.d.S. könnten die Maßnahmen sein, die typischerweise notwendig sind, um die mit der Eingriffsermächtigung selbst angesprochenen Maßnahme ergreifen zu können. Davon aber abgesehen, dass § 36 Abs. 2 StPO die Zulässigkeit der Begleiteingriffe gar nicht lückenlos begründen könnte – schließlich werden nicht alle Maßnahmen ermittlungsrichterlich gestattet –, handelt es sich bei der Vorschrift nicht um eine Befugnis-, sondern um eine reine Zuständigkeitsnorm.431 Auch der Vollstreckungszugriff bedarf der Eingriffsermächtigung, soweit er Grundrechtseingriff ist. Letztlich stellt sich damit die Frage, ob die betreffenden Eingriffsermächtigungen der StPO selbst zu solchen vorbereitenden oder begleitenden Maßnahmen ermächtigen. Nach der eingangs erwähnten Entscheidung des Ermittlungsrichters des BGH ist dies der Fall und damit eine solche Maßnahme immer dann zulässig, wenn sie typischerweise unerlässlich ist, um den mit der Eingriffsermächtigung tatsächlich bezweckten Eingriff vorzunehmen oder es sich um Maßnahmen handelt, die „nur geringfügig in den Rechtskreis des Betroffenen eingreifen.“432 Zumindest letztgenannte Legitimierung von Begleitmaßnahmen ist nachdrücklich abzulehnen: Der Verweis darauf, dass solche Eingriffe dem Betroffenen im Hinblick auf den hohen Rang des staatlichen Strafanspruchs zugemutet werden könnten,433 zeigt ein unzulässiges Ersetzen einer für einen Grundrechtseingriff nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes erforderlichen gesetzlichen Grundlage durch Verhältnismäßigkeitserwägungen. Ob Maßnahmen, die typischerweise unerlässlich sind, um den mit der Ermächtigung bezweckten Eingriff vorzunehmen, zulässig sind, ist eine Frage der Auslegung der Vorschrift. Auch wenn begleitende Eingriffe – notwendige Zwi___________ solche Sichtweise vermischt allerdings Aspekte der Erfüllung gefahrenabwehrender und strafverfolgender Aufgaben der Polizei in unzulässiger Weise. 429 Siehe Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 38. 430 Weßlau, in: SK-StPO (2004), § 36 Rdnr. 9; Meyer-Goßner, StPO (2006), § 36 Rdnr. 12. 431 Vgl. Weßlau, in: SK-StPO (2004), § 36 Rdnr. 1. 432 BGH (Ermittlungsrichter), NJW 1997, 2189; zustimmend Heger, JR 1998, 163 (164); zustimmend jedenfalls im Hinblick auf die Typizität Schneider, NStZ 1999, 388 (389); Martensen, JuS 1999, 433 (436); Keller, Kriminalistik 2006, 537 (541). 433 BGH (Ermittlungsrichter), NJW 1997, 2189.
§ 11 Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
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schenschritte – vom Sinn und Zweck der Vorschrift erfasst sind und sie auch der Gesetzgeber ausdrücklich mit umfasst sah, ist der Wortlaut der Norm Grenze der Auslegung. Eine Überschreitung des Wortsinns der ermächtigenden Norm ist nicht gestattet.434 Welche Grundrechte von der Maßnahme betroffen sind, ist damit nicht maßgeblich.435 Als eine solche Überschreitung des Wortsinns erscheinen alle oben genannten Beispiele von Vorbereitungs- oder Begleitmaßnahmen. So kann etwa das Aufbrechen einer Wohnung oder eines Behältnisses nicht als Durchsuchen angesehen werden. Das zeigt auch ein Vergleich mit der Parallelnorm der ZPO: Während § 758 Abs. 1 ZPO den Gerichtsvollzieher unter Umständen ermächtigt, die Wohnung des Schuldners zu durchsuchen, befugt § 758 Abs. 2 ZPO den Gerichtsvollzieher darüber hinaus zum Öffnen von Haustür und Behältnissen und § 758 Abs. 3 ZPO zur Anwendung von Gewalt für den Fall des Widerstandes. Das gleiche gilt für das Eindringen in das (bzw. Aufbrechen des) Kfz und dessen Verbringen in eine Werkstatt im Fall des § 100f StPO,436 für das Verändern des Erscheinungsbildes einer Person zum Zweck der Gegenüberstellung,437 und das Festhalten und Verbringen des Betroffenen im Vorfeld der Untersuchung nach § 81a StPO.438 Dieses Ergebnis ist äußerst unbefriedigend, da solche Maßnahmen materiell grundsätzlich keinen durchgreifenden Bedenken begegnen. Allerdings ist es Sache des Gesetzgebers, den Maßnahmen eine hinreichende Rechtsgrundlage zu geben. Noch unbefriedigender ist die Lage beim großen Lauschangriff (§ 100c StPO). Auch wenn der Gesetzgeber bei der Schaffung der Eingriffsermächtigung davon ausging, die Rechtsgrundlage erfasse auch das Einbrechen in die bzw. das Betreten der Wohnung des Betroffenen,439 hat dies im Wortlaut der Vorschrift keinen Niederschlag gefunden. Denn § 100c Abs. 1 StPO spricht ___________ 434
Zu den Gründen kann auf das unter II. Ausgeführte verwiesen werden. A.A. Gropp, JZ 1998, 501 (505); LG Freiburg, NJW 1996, 3021 (3022), die annehmen, dass vorbereitende oder begleitende Maßnahmen immer (aber auch nur) dann nicht auf die Eingriffsermächtigung gestützt werden könnten, wenn sie in andere als von der Eingriffsermächtigung „eigentlich“ beschränkte Grundrechte eingreifen. 436 A.A. die ganz h.M., siehe – allerdings mit durchaus verschiedenen Akzentuierungen – die in § 11 Fn. 419 Genannten, von denen nur Steinhögl, StV 1998, 535 f., die hier vertretene Auffassung teilt. 437 A.A. Krause, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), § 81a Rdnr. 46 f.; wie hier hingegen Mertens, Strafprozessuale Grundrechtseingriffe und Bindung an den Wortsinn der ermächtigenden Norm (1996), S. 40 ff. 438 A.A. Rogall, JuS 1992, 551 (554), der das unbefriedigende Ergebnis der hier vertretenen Auffassung allerdings zu Recht herausstellt. Dass die hier vertretene Auffassung dem Gesetzgeber – wie Rogall meint – letztlich eine „törichte Gesetzgebung“ unterstellt, mag zutreffen. Allerdings sollte das nicht dazu führen, ihn von den (nicht ohne Grund!) strikten Bindungen rechtsstaatlichen Handelns zu befreien. Diesen misslichen Zustand zu beseitigen, ist Aufgabe des Gesetzgebers, nicht des Normanwenders, siehe dazu sogleich im Text. 439 BT-Drs. 13/8651. 435
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
lediglich vom „Abhören“ bzw. „Aufzeichnen“. Doch bestehen hier – anders etwa als bei den Begleitmaßnahmen für Durchsuchungen440 – erhebliche Zweifel, ob der einfache Gesetzgeber überhaupt befugt ist, Abhilfe zu schaffen. Denn die Schrankenregelung des Art. 13 Abs. 3 GG n.F. hat einen ebenso unvollständigen Wortlaut wie die Eingriffsermächtigung selbst („dürfen […] technische Mittel […] eingesetzt werden […]“).441, 442 Die Schrankenregelungen des Art. 13 GG stellen auch im übrigen keine Grundlage für hinreichende Eingriffsermächtigungen dar: Weder würde der Einbruch in die Wohnung zum Zwecke des Installierens von Abhörvorrichtungen eine Durchsuchung i.S.v. Art. 13 Abs. 2 GG darstellen, noch wäre der auf Gefahrenabwehr ausgerichtete Art. 13 Abs. 7 GG einschlägig. Dem könnte im Hinblick darauf, dass die Schrankenregelung des Art. 13 Abs. 3 GG anderenfalls praktisch leer liefe, allenfalls durch die Annahme ergänzender, ungeschriebener Schranken abgeholfen werden. Vor dem Hintergrund der überaus detaillierten Regelung der Schranken des Art. 13 GG erscheint eine solche Annahme aber nicht unbedingt überzeugend.443 Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Begleitende oder vorbereitende Maßnahmen, die unter den Wortlaut der strafprozessualen Eingriffsermächtigungen nicht subsumiert werden können, verstoßen gegen den Vorbehalt des Gesetzes und sind damit verfassungswidrig. Zur Behebung dieser unbefriedigenden Lage ist der – ggf. verfassungsändernde – Gesetzgeber, nicht der Normanwender berufen.
VI. Mittelbarer Grundrechtseingriff und Gesetzesvorbehalt
Im Zuge der Entscheidungen des BVerfG zu staatlichen Warnungen ist wieder vermehrt die Frage diskutiert worden, ob auch mittelbare Grundrechtsbe-
___________ 440
Art. 13 Abs. 2 GG eröffnet dem einfachen Gesetzgeber die Möglichkeit zur Ermächtigung von vorbereitenden oder begleitenden Maßnahmen, etwa dem Öffnen von Türen oder Behältnissen (vgl. § 758 Abs. 2 ZPO). Die Schrankenregelung gestattet die Durchsuchung in der durch die Gesetze vorgeschriebenen Form. 441 Anders als bei der Schaffung der Eingriffsermächtigung kann auch den Gesetzesmaterialien nicht entnommen werden, dass die Schranke des Art. 13 Abs. 3 GG n.F. auch das Betreten der Wohnung erfassen soll (vgl. BT-Drs. 13/8650, S. 4 f.). 442 Anders aber die ganz h.M. im verfassungsrechtlichen Schrifttum: Hermes, in: Dreier, GG, Bd. 1 (2004), Art. 13 Rdnr. 61; Berkemann, in: AK-GG (2001), Art. 13 Rdnr. 130; Papier, in: Maunz/Dürig, GG (1999), Art. 13 Rdnr. 79; wie hier kritisch Heger, JR 1998, 163 (165). 443 Vgl. zum abschließenden Charakter der Schranken des Art. 13 GG Mittag, NVwZ 2005, 649 (651 f.).
§ 11 Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
137
einträchtigungen dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegen.444 Diese Frage ist auch für strafprozessuale Grundrechteingriffe relevant, ist doch schon festgestellt worden, dass diese auch mittelbare Eingriffe sein können.445 Das BVerfG führt aus, der Vorbehalt des Gesetzes verlange für eine Warnung als lediglich mittelbare Beeinträchtigung über die Aufgabenzuweisung hinaus keine besondere Ermächtigung durch den Gesetzgeber, es sei denn, die Maßnahme stellte sich nach Zielsetzung und Wirkung als „Ersatz für eine staatliche Maßnahme dar, die als Grundrechtseingriff im herkömmlichen Sinne zu qualifizieren“ sei.446 Die Anforderungen an eine gesetzliche Ermächtigung würden dadurch mitbestimmt, ob diese dazu beitragen könne, die im Rechtsstaats- und Demokratieprinzip wurzelnden Anliegen des Gesetzesvorbehalts zu erfüllen, was auch von den Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers abhänge. Kurz: Der Sachbereich muss staatlicher Normierung überhaupt zugänglich sein.447 Unabhängig davon, ob man diese Konstruktion des BVerfG für überzeugend hält,448 stellt sich die Lage der mittelbaren strafprozessualen Grundrechtseingriffe gerade so dar, dass die Strafverfolgungsbehörden private Dritte instrumentalisieren, weil unmittelbare Eingriffe nicht den gleichen Erfolg versprechen.449 In diesem Fall bestehen keine Zweifel, dass sich die Funktionen des Gesetzesvorbehalts erfüllen lassen. Ebenso wenig zweifelhaft ist, dass der Gesetzgeber die Fälle der Instrumentalisierung Privater für das Strafverfahren zu regeln imstande wäre. Die Frage, ob faktisch-mittelbare Beeinträchtigungen dem Gesetzesvorbehalt unterliegen, stellt sich für das Strafverfahren daher nicht in der gleichen Schärfe wie etwa für staatliche Warnungen und ist zu bejahen.
VII. Gesetzesvorbehalt und Generalklausel
Noch bis Ende der 90er-Jahre ist zum Teil recht harsch über die Reichweite des Gesetzesvorbehaltes, insbesondere für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG), gestritten worden.450 In den Schutzbereich informationeller Selbstbestimmung wird immer ___________ 444
BVerfGE 105, 279 (303 f.); Bumke, BDVRR 2004, 76 (79); Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (222); ausführlich Klement, DÖV 2005, 507 ff. 445 s.o. § 10 A.III. 446 BVerfGE 105, 279 (303). 447 BVerfGE 105, 279 (304). 448 Kritik hierzu zu Recht von Klement, DÖV 2005, 507 (511 ff.); ähnlich wie das BVerfG hingegen Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (223). 449 s.o. § 10 A.III. 450 Vgl. zu informationeller Selbstbestimmung und Gesetzesvorbehalt grdl. Schwan, VerwArch 66 (1975), 120 (127 ff. et passim); ferner die Fundamentalkritik von Rogall,
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
dann eingegriffen, wenn Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte Daten – gleich welcher Art – aufnehmen, speichern, verwenden oder (v.a. unter Änderung des bisherigen Zwecks der Aufnahme bzw. Speicherung) übermitteln.451 Für jeden dieser Eingriffe bedarf es damit einer Eingriffsermächtigung.452 Zwar sind auch die dadurch entstehenden Gefahren insbesondere für das Recht der informationellen Selbstbestimmung nicht ganz von der Hand zu weisen: Soweit der Gesetzgeber in Ansehung dieses Grundrechts seine Aufgabe lediglich darin sieht, vermeintliche Ermächtigungslücken zu schließen, ist dem Anliegen des Datenschutzes nicht gedient.453 Allerdings ist der Gesetzgeber hierdurch doch immerhin gezwungen, die maßgeblichen Abwägungen selbst und kontrollierbar zu treffen und nicht der Exekutive zu überlassen. Für strafprozessuale Grundrechtseingriffe ist der Diskussion im Wesentlichen durch das StVÄG 1999 die Schärfe genommen. Wesentliche Fragen der Datenverarbeitung sind nunmehr in den §§ 474 ff. StPO geregelt.454 Darüber hinaus sind die Generalklauseln der §§ 161, 163 StPO statt als Aufgabeneröffnungs- als Befugnisnormen ausgestaltet worden. Die StPO löst sich damit zu einem gewissen Teil vom bis dahin verfolgten Prinzip der Einzelermächtigung.455, 456 Fraglich ist allerdings, wie dieser „gewisse Teil“ genau zu bestimmen ist, wann es also einer Einzelermächtigung bedarf, wann die Ermittlungsgeneralklausel genügt.457 Der Wortlaut der § 161 Abs. 1 S. 1 und § 163 Abs. 1 S. 2 StPO befugt die Strafverfolgungsbehörden zu „Ermittlungen jeder Art […], soweit nicht andere gesetzliche Vorschriften ihre Befugnisse besonders regeln.“ Damit ist zunächst ausgeschlossen, dass die Strafverfolgungsbehörden auf die Ermittlungsgeneralklausel zurückgreifen können, wenn die betreffende Maßnahme durch eine spezialgesetzliche Ermächtigung geregelt ist, deren tat___________ Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht (1992), S. 29 ff. et passim; krit. auch Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht (1995), S. 78 f. 451 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG (2001), Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 176. Die Zuordnung staatlicher Tätigkeit als Grundrechtseingriff steht nicht unter Bagatellvorbehalt, s.o. § 10 A.II. 452 Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Art. 2 Rdnr. 38; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG (2001), Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 177. 453 Paeffgen, in: Festgabe für Hilger (2003), S. 153 (156 f.); kritisch zu den Befugnisgeneralklauseln der §§ 161/163 StPO unter diesem Aspekt v.a. Dencker, in: Festschrift für Meyer-Goßner (2001), S. 237 (241 f.). 454 Vgl. dazu oben § 3 C.III. 455 Vgl. etwa Hilger, in: Festschrift für Rieß (2002), S. 171 (181). 456 Gleichsam „mit erledigt“ ist damit das Problem des großzügigen Umgangs der Rspr. mit der defizitären Ausgestaltung der Eingriffsermächtigungen durch einen „Übergangsbonus“, den der Gesetzgeber beinahe zwei Jahrzehnte für sich in Anspruch genommen hat. Siehe hierzu m.w.N. § 11 Fn. 481. 457 Hierzu auch Hefendehl, StV 2001, 700 (703).
§ 11 Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
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bestandliche Voraussetzungen aber nicht erfüllt sind.458 Einigkeit dürfte aber auch darin bestehen, dass die Generalklauseln nicht lückenlos alle Ermittlungsmaßnahmen zulassen, die gesetzlich nicht besonders geregelt sind. Vielmehr wäre durch den Gesetzgeber präziser zu formulieren gewesen (und sind die Vorschriften auch in diesem Sinn zu lesen), dass Ermittlungen jeder Art zulässig sind, soweit nicht andere Vorschriften die Befugnisse besonders regeln oder regeln müssten.459 Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich, dass der Gesetzgeber keine umfassende Eingriffsermächtigung schaffen wollte, sondern solche Ermittlungshandlungen regeln wollte, die „weniger gewichtige Eingriffe in Grundrechte“ zum Gegenstand haben.460 In der Sache hat der Gesetzgeber damit eine hinreichende Grundlage für die – vor allem von der Praxis schon früher vertretene – „Schwellentheorie“ geschaffen.461 Nach jener „Schwellentheorie“ sollen Ermittlungsmaßnahmen auf Grund der Aufgabeneröffnungsnormen der §§ 161, 163 StPO a.F. zulässig gewesen sein, die eine gewisse Schwelle an Eingriffsintensität nicht überschritten.462 Diese Auffassung hat das – sich aus dem Vorbehalt des Gesetzes ergebende – Erfordernis der Befugnisnorm durch Erwägungen ersetzt, die erst auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit Platz greifen. Sie war deshalb abzulehnen. Nach der „Heraufstufung“ zur Befugnisnorm sind diese Bedenken jedenfalls nicht mehr angebracht. Generell bestehen gegen die Einführung einer Ermittlungsgeneralklausel keine durchgreifenden Bedenken, sofern in dieser nicht eine umfassende Ermächtigung zu jedweden Eingriffen gesehen wird, die die Strafverfolgungsbehörden für notwendig erachten. Auch im Gefahrenabwehrrecht werden Eingriffsgeneralklauseln verwendet, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit inzwischen als gesichert gelten kann.463 Zu berücksichtigen ist aber – deshalb sind Einschränkungen auch unerlässlich – dass präventiver Rechtsgüterschutz durch Gefahrenabwehr als Legitimation polizeirechtlicher Grundrechtseingriffe eine andere Qualität hat, als strafverfolgendes Vorgehen. Das ergibt sich zum einen daraus, dass im Hinblick auf den Beschuldigten im Strafverfahren vor ___________ 458
Siehe nur BT-Drs. 14/1484, S. 23. Vgl. auch Hilger, in: Festschrift für Rieß (2002), S. 171 (181); Wohlers, in: SKStPO (2002), § 161 Rdnr. 10 ff.; unklar hingegen Plöd, in: KMR-StPO (2001), § 161 Rdnr. 1 auf der einen Seite (die Staatsanwaltschaft werde ermächtigt zu Ermittlungen jeder Art, unabhängig von der Schwere des Eingriffs), Rdnr. 15 auf der anderen Seite (die Anwendung von Zwang bedürfe stets einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung). 460 BT-Drs. 14/1484, S. 17. 461 Zutreffend Hilger, in: Festschrift für Rieß (2002), S. 171 (181); Meyer-Goßner, StPO (2006), § 161 Rdnr. 1; Krehl, in: HK-StPO (2001), § 161 Rdnr. 1; Pfeiffer, StPO (2005), § 161 Rdnr. 1. 462 Vgl. hierzu zusammenfassend und m.w.N. Hefendehl, StV 2001, 700 f. 463 Siehe BVerfGE 54, 143 (144 f.); Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (2005), Rdnr. 49; Gusy, Polizeirecht (2003), Rdnr. 315; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht (2005), § 7 Rdnr. 5. 459
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Verurteilung wegen der Unschuldsvermutung nur von einem Verdacht ausgegangen werden darf, während im Polizeirecht die für die zur Heranziehung eines Störers erforderliche Tatsachenbasis belastungsfähiger sein kann bzw. im Fall des lediglichen Gefahrverdachts Abstriche in der Intensität des Eingriffs gemacht werden464 („Legitimitätsplus“). Zum anderen ist das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht darauf angelegt, für eine von vornherein nicht überschaubare Zahl von verschiedensten Gefahrenlagen Reaktionsmöglichkeiten (und damit Eingriffsermächtigungen) bereit zu halten („Bedürfnisplus“). Hingegen ist das Strafverfahren an eine engere Zielsetzung gebunden, so dass das Bedürfnis an Eingriffsermächtigungen beschränkter ist. Diese Gründe berechtigen zwar nicht zu der Schlussfolgerung, dass der Gesetzgeber vom Prinzip der Einzelermächtigung nicht hätte partiell abrücken dürfen. Denn eine legislatorische Beschreibung aller im Einzelfall als zulässig denkbaren Maßnahmen ist auch für das begrenzte Ziel der „Ermittlung“ angesichts der sich ständig ändernden Erscheinungsformen kriminellen Verhaltens und des Anpassens der Ermittlungsmaßnahmen nicht möglich.465 Aber sie zeigen, dass die Reichweite der Generalklausel für strafverfolgende Eingriffe begrenzter sein muss, als für gefahrenabwehrende Eingriffe. Allerdings ist das Kriterium des Nichtüberschreitens einer „gewissen Schwelle an Eingriffsintensität“ – von dem sich der Gesetzgeber offenbar hat leiten lassen – vage und bedarf der näheren Bestimmung. Eine erste Präzisierung kann erfolgen, indem man Maßnahmen ausschließt, deren Eingriffsintensität spezialgesetzlich geregelten vergleichbar ist.466 Damit ist es z.B. ausgeschlossen, den Einsatz von V-Leuten – als mittelbaren Grundrechtseingriff467 – unter Rückgriff auf die Ermittlungsgeneralklauseln der §§ 161, 163 StPO zu legitimieren.468 Denn das „Einschleusen“ Privater, also das Instrumentalisieren nicht grundrechtsverpflichteter Personen zur Informationserhebung, steht dem „Einschleusen“ von Polizeibeamten, also grundrechtsverpflichteten Personen, in der Eingriffsintensität nicht nach. Teilweise präzisierend, teilweise ergänzend wird weiter vorgeschlagen, die Unzulässigkeit einer Maßnahme (bzw. eines Maßnahmetypus) anhand der Kri___________ 464
Zum Problem Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (2005), Rdnr. 88 ff. Hilger, NStZ 2000, 561 (563 f.). 466 Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 3 (25. Aufl. 2003), § 163 Rdnr. 42. 467 s.o. § 10 A.III. 468 Im Ergebnis ebenso Hefendehl, StV 2001, 700 (704); Puschke, Die kumulative Anordnung von Informationsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung (2006), S. 48; für Nachweise zur alten Rechtslage (nach der die §§ 161, 163 StPO nicht als Befugnisnorm ausgestaltet waren) Wohlers, in: SK-StPO (2002), § 161 Rdnr. 16. Vgl. auch BVerfG (Kammer), NStZ 2000, 489 (490), das in einem obiter dictum eine „spezielle gesetzliche Ermächtigungsgrundlage“ für den Einsatz von V-Leuten postuliert. 465
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terien „Einwirkung auf den Beschuldigten mittels Zwangs“469, „Heimlichkeit der Maßnahme“470 bzw. „Eingriff in die staatlichem Zugriff grundsätzlich entzogene Privatsphäre“471 zu bestimmen. Für die notwendige weitere Eingrenzung des Anwendungsbereiches der Generalklausel ist zunächst daran anzuknüpfen, dass der Gesetzgeber die Strafverfolgungsbehörde zur Erhebung von Informationen i.S.d. Beweissicherung und Sachverhaltsaufklärung befugen und damit die Vorgaben des BVerfG aus dem Volkszählungsurteil umsetzen wollte,472 das in jedem Erheben jeglicher Art von Informationen einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) sieht.473 Aus diesem gesetzgeberischen Ziel ergibt sich, dass Maßnahmen, die mit körperlichen Zwangswirkungen verbunden sind, nicht von den §§ 161, 163 StPO erfasst sind.474 Denn es handelt sich dann jedenfalls nicht um die „bloße“ Aufnahme von Informationen, sondern um Eingriffe in Grundrechte, die hiermit nicht zwangsläufig in Verbindung stehen. Gleiches gilt für Eingriffe in durch besondere Grundrechte geschützte private Sphären, wie Überwachung der Telekommunikation (als Eingriff in Art. 10 GG) oder Erhebung von Informationen aus der durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützten räumlichen Sphäre. Die Heimlichkeit der Ermittlungsmaßnahme kann einen Rückgriff auf die Ermittlungsgeneralklausel hingegen nicht generell ausschließen.475 Die kurzfristige Observation etwa läuft naturgemäß regelmäßig ohne Kenntnis des Betroffenen ab und fällt nach dem Willen des Gesetzgebers unter die §§ 161, 163 StPO.476 Es ist zwar richtig, dass heimliche Maßnahmen zur Verkürzung des Rechtsschutzes des Betroffenen führen,477 indes dürfte das für Eingriffe un___________ 469 Hefendehl, StV 2001, 700 (703 f.); Plöd, in: KMR-StPO (2001), § 161 Rdnr. 15; Wohlers, in: SK-StPO (2002), § 161 Rdnr. 11. 470 Hefendehl, StV 2001, 700 (703); a.A. Plöd, in: KMR-StPO (2001), § 161 Rdnr. 15; für die Rechtslage vor der Umgestaltung der §§ 161, 163 StPO in Befugnisnormen BGHSt 42, 139 (150). 471 Hefendehl, StV 2001, 700 (703); Perschke, Die Zulässigkeit nicht spezialgesetzlich geregelter Ermittlungsmethoden im Strafverfahren (1997), S. 106 ff. 472 Siehe BT-Drs. 14/1484, S. 16 f., 23. 473 BVerfGE 65, 1 (42 ff.). 474 Schon aus diesem Grund können die §§ 161, 163 StPO vorbereitende und begleitende Eingriffe nicht rechtfertigen, da diese gerade auf die zwangsweise Durchsetzung der Maßnahmen abzielen; s.o. V. 475 Siehe auch die Ausnahme für die kurzfristige Observation im öffentlichen Raum Hefendehl, StV 2001, 700 (704); Wohlers, in: SK-StPO (2002), § 161 Rdnr. 14. 476 Siehe BT-Drs. 14/1484, S. 23. 477 Unklar Hefendehl, StV 2001, 700 (703), der namentlich aus dem rechtsschutzverkürzenden Charakter heimlichen Vorgehens und dessen Verdecktheit die Notwendigkeit einer spezialgesetzlichen Grundlage folgert. Auf der anderen Seite sieht er die kurzfristige Observation nicht als heimliche Maßnahme an (und damit von der Ermittlungsgene-
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
terhalb einer gewissen Erheblichkeitsschwelle hinzunehmen sein.478 Daraus folgt, dass die kurzfristige Observation nur insoweit von den Ermittlungsgeneralklauseln getragen wird, als sie nicht mit dem Eindringen in die räumlich geschützte Privatsphäre bzw. besonders geschützte Vertrauensbeziehungen verbunden ist.479
VIII. Zusammenfassung
Strafprozessuale Grundrechtseingriffe bedürfen zu ihrer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einer gesetzlichen Grundlage. Die Grenze der Zulässigkeit strafprozessualer Grundrechtseingriffe ist der Wortsinn der vorhandenen Eingriffsermächtigungen.480 Die Diskussion, ob dem Gesetzgeber ein „Übergangsbonus“ für die Umsetzung der Vorgaben des BVerfG zum informationellen Selbstbestimmungsrecht zusteht,481 hat sich in der Sache (erst!) durch Erlass des StVÄG 1999 im Jahr 2000 erledigt. Schon bis dahin konnte allerdings – unabhängig davon, dass ein „Übergangsbonus“ vor dem Hintergrund des Vorbehalts des Gesetzes problematisch ist – bei einer Zeitspanne von über fünfzehn Jahren seit dem Volkszählungsurteil des BVerfG kaum mehr von einer „Übergangszeit“ gesprochen werden.482
B. Zitiergebot Eine zweite Schranken-Schranke für Grundrechtseingriffe stellt Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG dar, nach dem das einschränkende Gesetz das betreffende Grundrecht unter Angabe des Verfassungsartikels zu nennen hat. Die äußerst ___________ ralklausel gedeckt), soweit sie nur im öffentlichen Raum stattfindet. Aber auch in diesen Fällen ist die Maßnahme – soll sie erfolgreich sein: notwendigerweise – verdeckt und verkürzt damit mangels Kenntnis des Betroffenen dessen Rechtsschutzmöglichkeit. 478 Vgl. aber zum Rechtsschutz § 13 D. 479 Zutr. Wohlers, in: SK-StPO (2002), § 161 Rdnr. 14; ohne diese Einschränkung allerdings BT-Drs. 14/1484, S. 23. 480 Vgl. die Ausführungen unter II. und III.; vgl. jüngst auch BVerfG, NJW 2005, 1917 (1920). 481 Siehe hierzu jeweils mit zahlreichen Nachweisen aus Rspr. und Literatur Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), vor § 94 Rdnr. 71 ff.; Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 53; Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht (1992), S. 102 f. 482 A.A. („Übergangsbonus“ jeweils noch nicht abgelaufen) aber BayVerfGH, NJW 1986, 915 (916); OLG Frankfurt, NJW 1995, 1102 f.; OLG Hamm, NStZ 1986, 236; NJW 1988, 1402; noch weiter (Übergangsfrist ohne jede kalendarisch zu bemessende Frist) Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht (1992), S. 103; OLG Karlsruhe, NStZ 1994, 50 (51 f.).
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restriktive Handhabung dieser Grundgesetzbestimmung vor allem durch das BVerfG (dazu sogleich) nährt die Vermutung, dass die derzeit herrschende Grundrechtsdogmatik vor allem auf materiell-rechtliche Wertungen fixiert ist und für formell-rechtliche Sicherungsvorkehrungen wenig Verständnis aufbringt.483 Im Wesentlichen wirft das Zitiergebot zwei Fragen auf, die freilich eng miteinander verknüpft sind, nämlich zum einen die der inhaltlichen Reichweite des Gebots, zum anderen die der Folgen eines Verstoßes. Da es sich nach dem eindeutigen Wortlaut („muss“) um eine zwingende formell-rechtliche Anforderung an das einschränkende Gesetz handelt, kann für die zweite Frage heute als gesichert gelten, dass der Gesetzgeber, der das Zitiergebot missachtet, kein verfassungsmäßiges Gesetz zustande bringt.484 Die früher vertretene Auffassung, bei dem Zitiergebot handele es sich um eine bloße Soll-Vorschrift485 wird neben dem eindeutigen Wortlaut auch der Entstehungsgeschichte nicht gerecht. Der Vorsitzende des Grundsatzausschusses Hermann v. Mangoldt erhob im Parlamentarischen Rat wiederholt Einwände gegen das Zitiergebot mit seinen „Fesseln für den Gesetzgeber, die ihm seine Arbeit unnötig erschweren“. Der Parlamentarische Rat behielt das Zitiergebot dennoch bei, „nachdem Abg. Dr. Dehler […] erklärt hatte: ‚Wir wollen diese Fesseln des Gesetzgebers.‘“486 Vor allem diese Fehlerfolge dürfte die restriktive inhaltliche Auslegung des Gebots durch das BVerfG bedingen. Das BVerfG hält die Nennung des eingeschränkten Grundrechts in folgenden Fällen für entbehrlich: 1.
bei vorkonstitutionellen Gesetzen;487
2.
bei Gesetzen, die „bereits geltende Grundrechtsschranken unverändert oder mit geringen Abweichungen wiederholen“;488
___________ 483
So treffend Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 19 Rdnr.
65. 484 Ganz h.M., siehe jeweils m.w.N. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 19 Rdnr. 102; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (1981), Art. 19 I Rdnr. 60; v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 201; BVerfGE 113, 348 (366); 5, 13 (15 f.). Abschwächend im Hinblick auf die Rechtsfolge Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 760; Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 246; hierzu § 11 bei Fn. 540. 485 Insbesondere Klein, in: v. Mangoldt/Klein, GG, Bd. 1 (2. Aufl. 1957), Art. 19 Anm. IV 3; weitere Nachweise bei Bethge, DVBl. 1972, 365 m. Fn. 8. 486 Siehe zur Gesetzesgeschichte JöR NF, Bd. 1 (1951), S. 176 (180). 487 BVerfGE 2, 121 (122 f.); 5, 13 (16); 28, 36 (46). 488 BVerfGE 5, 13 (16); 15, 288 (293); 16, 194 (199 f.); 28, 36 (46); 35, 185 (189); noch weiter BVerfGE 61, 82 (113), wonach schon der Rückgriff auf „herkömmliche Einschränkungsarten“ das Zitiergebot entfallen lasse.
144
Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
3.
bei „offenkundigen“ Grundrechtseingriffen;489
4.
bei Vorhandensein speziellerer Vorschriften, wie Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG für Enteignungen490 oder Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG für grundgesetzändernde Gesetze;
5.
bei den „allgemeinen Gesetzen“ i.S.v. Art. 5 Abs. 2 GG;491
6.
bei Eingriffen in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG;492
7.
bei Grundrechten, die nach dem Verfassungstext nicht unter Gesetzesvorbehalt stehen;493
8.
bei Vorschriften, die nicht final und unmittelbar in den Schutzbereich eingreifen;494
bei Eingriffen in die Berufsfreiheit und die Eigentumsgarantie.495 Die Reichweite des Zitiergebots lässt sich nur mit Blick auf Teleologie der Grundgesetzvorschrift sowie den Willen des Grundgesetzgebers bestimmen. Sinn und Zweck des Zitiergebots ist ein zweifacher: Es hat zum einen, wie „Formvorschriften“ üblicherweise, eine Warn- und Besinnungsfunktion.496 Der Gesetzgeber soll in Grundrechte nur eingreifen dürfen, wenn er sich dessen bewusst ist und die entsprechenden Interessen gegeneinander abgewogen hat. Zum anderen dient die Vorschrift auch der Rechtsgewissheit. Dem Gesetzesanwender dient es der Kenntnisnahme von der Grundrechtsrelevanz der betreffenden Vorschrift und damit dem Vorbeugen „unbedachter Grundrechtsverkürzungen“ bei der Gesetzesanwendung (Hinweisfunktion),497 und dem Bürger wird sichtbar gemacht, dass das Gesetz einen Grundrechtseingriff ermöglicht (Informationsfunktion).498, 499 Vor diesem Hintergrund würde dem Zitiergebot ___________ 9.
489
BVerfGE 35, 185 (188 f.). BVerfGE 24, 367 (398). 491 BVerfGE 28, 282 (289, 291 ff.); 33, 52 (77 f.); 44, 197 (201 f.); 64, 72 (80); BVerfG (Kammer), DVBl. 1994, 103 (104). 492 BVerfGE 10, 89 (99); 28, 36 (46). 493 BVerfGE 83, 130 (154). 494 Zum einen BVerfGE 28, 36 (46), wonach das Zitiergebot nur für Gesetze gelte, die „darauf abzielen, ein Grundrecht […] einzuschränken.“; siehe außerdem BVerfG (Kammer), NJW 1999, 3399 (3400) zu § 8 Abs. 1 S. 2 Transplantationsgesetz. 495 BVerfGE 21, 92 (93); 24, 367 (396, 398); 64, 72 (79 f.). 496 Unstreitig, siehe nur Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 747; Lerche, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 122 Rdnr. 41; Dreier, in: ders., GG, Bd. 1 (2004), Art. 19 I Rdnr. 18; BVerfGE 113, 348 (366). 497 Dreier, in: ders., GG, Bd. 1 (2004), Art. 19 I Rdnr. 18. 498 Lerche, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 122 Rdnr. 41; v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 190; Dreier, in: ders., GG, Bd. 1 (2004), Art. 19 I Rdnr. 18; Selk, JuS 1992, 816 (817) m. Nachw. insbesondere aus den Beratungen im Parlamentarischen Rat. 490
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in höherem Maße Rechnung getragen, käme der Gesetzgeber seiner Zitierpflicht in (den Schlussvorschriften) der jeweiligen Kodifikation (also der StPO) selbst und nicht lediglich in den StPO-Änderungsgesetzen („Artikelgesetzen“) nach. Im Hinblick auf den Zweck des Zitiergebots auf keinen Fall ausreichend ist es hingegen, sich bei der Einführung einer neuen Eingriffsermächtigung darauf zurückzuziehen, dass in dem Gesetz, in das die Ermächtigung eingefügt wird, das betreffende Grundrecht bereits gem. Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG zitiert wird.500 Zumindest in solchen Fällen ist das Zitieren in dem ändernden Gesetz unentbehrlich. Dass der Gesetzgeber das Grundrecht gar jeweils im Anschluss an die einschränkende Vorschrift zu zitieren hätte,501 wird man hingegen nicht verlangen können. Vor diesem Hintergrund kann einer Restriktion des Zitiergebots in dem eingangs dargestellten Umfang nicht gefolgt werden.502 Insbesondere die Prämisse des BVerfG, „als Formvorschrift [bedürfe] die Norm enger Auslegung, wenn sie nicht zu einer leeren Förmlichkeit erstarren und den die verfassungsmäßige Ordnung konkretisierenden Gesetzgeber in seiner Arbeit unnötig behindern soll“,503 ist methodisch in keiner Weise überzeugend. Sie steht weder mit der Entstehungsgeschichte,504 noch mit dem Sinn und Zweck förmlicher Sicherungen in Einklang.505 Dem BVerfG ist allerdings darin zuzustimmen, dass vorkonstitutionelle Gesetze nicht wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot verfassungswidrig sein können (Fallgruppe 1), da der vor Inkrafttreten des GG tätig werdende Gesetzgeber dieses Gebot nicht kennen konnte.506 Zudem soll nach Art. 123 Abs. 1 GG ___________ 499 Das BVerfG scheint hingegen davon auszugehen, Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG erfülle allein eine Warnfunktion im Hinblick auf den Gesetzgeber, in diese Richtung jedenfalls BVerfGE 5, 13 (16); 35, 185 (188). 500 BVerfGE 113, 348 (366 f.). 501 In diese Richtung etwa Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (1981), Art. 19 I Rdnr. 56. 502 Dabei mögen Einzelheiten, die für strafprozessuale Grundrechtseingriffe nicht im Vordergrund stehen, auf sich beruhen. Hierzu gehören z.B.: Subsidiarität gegenüber Spezialnormen (für Enteignungen und verfassungsändernde Gesetze), Beschränkung des Zitiergebots bei bestimmten Freiheitsrechten, insbesondere dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht; hierzu umfassend v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 190 ff. 503 BVerfGE 28, 36 (46); in diesem Sinne auch BVerfGE 35, 185 (188); BVerfG (Kammer), NJW 1999, 3399 (3400). 504 Vgl. oben § 11 bei Fn. 486. 505 „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“ (v. Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 2. Teil/2. Abteilung [1923], S. 471). 506 Allgemeine Ansicht: siehe neben den in § 11 Fn. 487 genannten Entscheidungen Dreier, in: ders., GG, Bd. 1 (2004), Art. 19 I Rdnr. 22; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (1981), Art. 19 I Rdnr. 51.
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Recht aus der Zeit vor dem ersten Zusammentritt des Bundestages fortgelten, soweit es dem GG nicht widerspricht; dieses Ziel wäre aber kaum erreichbar gewesen, hätte der Grundgesetzgeber das Zitiergebot auf solche Vorschriften ausdehnen wollen.507 Art. 123 Abs. 1 GG stellt demnach auf eine materielle, inhaltliche Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz ab.508 Mit dem beschriebenen Sinn und Zweck des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG ist die hieran anknüpfende Einschränkung, das Zitiergebot sei nicht anwendbar, wenn ein Gesetz bereits bestehende Grundrechtsschranken nachzeichnet oder mit geringen Abweichungen wiederholt (Fallgruppe 2), indes nicht vereinbar. Der Gesetzgeber, der eine schon bestehende Regelung neu erlässt, setzt einen neuen Geltungsbefehl; seine Entscheidung für diesen Geltungsbefehl muss er an den jeweils betroffenen Grundrechten messen und muss dafür auch die aktuellen verfassungsrechtlichen Bindungen beachten.509 Der Zweck der „Warn- und Besinnungsfunktion“ gilt gerade auch für den Gesetzgeber, der eine Norm wiederholt, sie also bestätigt und damit willentlich in Kraft lässt; auch seine bestätigende Haltung hat er genauso sorgfältig zu prüfen, wie eine Erstvornahme.510 Deshalb vermag die Entscheidung des BVerfG511 zur Verfassungsmäßigkeit des § 81a StPO nicht zu überzeugen, welcher 1950 seine damals geltende Fassung erhalten, aber schon 1933 eingeführt worden war.512 Erst recht nicht überzeugend ist aber die Entscheidung des BVerfG513 zur Verfassungsmäßigkeit des § 112a StPO, in der das Gericht meint, die Ausdehnung eines bestehenden Haftgrundes auf bisher nicht erfasste Straftatbestände sei keine neue Eingriffsmöglichkeit und damit nicht anders zu bewerten als die Schaffung neuer, mit Freiheitsstrafe bedrohter Straftatbestände. Im Gegenteil bedarf die Erweiterung ___________ 507 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 19 Rdnr. 85; v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 191. 508 Siehe bereits § 11 A.III. 509 So zu Recht Bethge, DVBl. 1972, 365 (367); v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 192; Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG; Bd. 1 (2005), Art. 19 Rdnr. 82; vorsichtig kritisch auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (1981), Art. 19 I Rdnr. 52; offen Lerche, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 122 Rdnr. 43; a.A. etwa Selk, JuS 1992, 816 (818); Menger, in: BK-GG (Zweitbearb. 1979), Art. 19 Abs. 1 Rdnr. 167; Antoni, in: Hömig, GG (2007), Art. 19 Rdnr. 4. 510 Treffend Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 751. 511 BVerfGE 16, 194 (199 f.). 512 Dass es sich dabei um das Ausführungsgesetz der Reichsregierung zum „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Besserung und Sicherung“ (v. 21.11.1933, RGBl. I, S. 1000) und damit nicht einmal um einen parlamentarischen Akt gehandelt hat, macht die Annahme der „bloßen Fortgeltung“ einer schon bestehenden Einschränkung noch bedenklicher. 513 BVerfGE 35, 185 (189).
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einer Eingriffsermächtigung durch bisher nicht erfasste „Anlasstatbestände“ einer erneuten Abwägung des Gesetzgebers im Hinblick auf den Ausgleich der widerstreitenden Interessen, deren formelles Pendant das Gebot darstellt, das eingeschränkte Grundrecht zu benennen. Im Ergebnis ebenfalls nicht überzeugend ist die teleologische Reduktion des Zitiergebots dahin, dass es für offensichtliche Grundrechtsbeschränkungen keine Geltung beanspruche (Fallgruppe 3).514 Das BVerfG misst der Warn- und Besinnungsfunktion in diesen Fällen keine maßgebliche Bedeutung zu, da der Gesetzgeber „den grundrechtsbeschränkenden Gehalt der in Frage stehenden Norm erkannt und erwogen“ habe.515 Das BVerfG stellt hierbei jedoch zu einseitig auf den Adressaten des Zitiergebots ab und lässt damit die Verdeutlichungsfunktion für Gesetzesanwender und Bürger außer Betracht.516 Darüber hinaus würde sich stets die Frage stellen, welcher Eingriff nun offenkundig ist, insbesondere auch auf welche Beurteilungsperspektive es ankommt (objektive Perspektive, sachkundiger Parlamentarier, Mitglied des Rechtsausschusses?).517 Nicht zuletzt bleibt auch der fade Beigeschmack, dass für Ermächtigungen, die zu den stärksten Eingriffen in die Rechte der Bürger befugen, die formalen Sicherungen des Grundgesetzes am restriktivsten interpretiert werden. Ob das BVerfG diese Rechtsprechung noch aufrechterhält, ist aber nach einer jüngeren Entscheidung zur präventivpolizeilichen Telefonüberwachung aus dem Jahr 2005518 ungewiss. Nach dieser Entscheidung verstößt eine Ermächtigung zur Telekommunikationsüberwachung – für die die Offenkundigkeit des Eingriffs in Art. 10 GG gegeben sein dürfte – auch dann gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG, wenn sich der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung über die Eingriffsqualität bewusst war.519 Am Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG setzen die Ausnahmen an, die sich auf die Art des einzuschränkenden Grundrechts beziehen (Fallgruppen 5, 6, 7, 9). Das BVerfG leitet aus dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG (der mit Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG über dessen Wort „außerdem“ verknüpft ist) zunächst ab, dass Einschränkungen von Grundrechten, die nach dem Verfassungstext keinem Gesetzesvorbehalt unterliegen, dem Zitiergebot nicht unterfallen.520 In ___________ 514 Dass es sich dabei nicht um eine bloße Auslegung handelt, liegt auf der Hand. Vgl. dazu auch v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 193. 515 BVerfGE 35, 185 (189). 516 So zu Recht Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 757; v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 194; Dreier, in: ders., GG, Bd. 1 (2004), Art. 19 I Rdnr. 24 m. Fn. 90. 517 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 757. 518 BVerfGE 113, 348 (366). 519 BVerfGE 113, 348 (366). 520 BVerfGE 83, 130 (154); Selk, JuS 1992, 816 (817).
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der Tat stellt Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG auf die Einschränkungsmöglichkeit „nach diesem Grundgesetz“ ab. Allerdings sind Wortlaut und Systematik insoweit unergiebig. So zweifelt niemand ernsthaft daran, dass in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte trotz eines fehlenden Vorbehalts und letztlich entgegen der Systematik verfassungsrechtlich gerechtfertigt eingegriffen werden kann. Lässt man eine solche Eingriffsmöglichkeit zu, kann es dem Sinn und Zweck des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG nur entsprechen, den Gesetzgeber zum Benennen der entsprechenden Grundrechte zu bewegen. Anderenfalls wären die formalen Sicherungen des Grundgesetzes für Grundrechte, für die der Verfassungsgeber noch nicht einmal eine Einschränkungsmöglichkeit vorgesehen hat, geringer, als für Grundrechte, die schon nach dem Wortlaut der Verfassung unter Vorbehalt stehen.521 Letztlich kann für alle anderen Freiheitsrechte grundsätzlich522 nichts anderes gelten.523 Die Argumentation des BVerfG, die Warn- und Besinnungsfunktion des Zitiergebots sei von geringerem Gewicht, wo der Gesetzgeber lediglich im Grundgesetz enthaltene Schranken- und Regelungsvorbehalte aktualisiere bzw. entsprechende Inhaltsbestimmungen vornehme, weil ihm ohnehin bewusst sei, dass er sich im grundrechtssensiblen Bereich bewege,524 erscheint demgegenüber wie ein „Taschenspielertrick“. Es gilt das zur Frage der „offensichtlichen Grundrechtsbeschränkung“ Ausgeführte. Aber selbst wenn dieser Gedanke im Hinblick auf den Gesetzgeber tragfähig wäre, wird mit einer derart restriktiven Handhabung des Zitiergebots doch missachtet, dass dieses eben auch Zwecke im Hinblick auf den Normanwender und den Grundrechtsberechtigten erfüllt. Auch für den Vorbehalt der „allgemeinen Gesetze“ kann nichts anderes gelten.525 Zwar dürfen sich solche Gesetze, die diese Schranke etwa zur Einschränkung der Meinungsfreiheit ausfüllen, nicht gegen eine Meinung als solche richten.526 Damit verliert aber nicht automatisch das Zitiergebot seinen Anwendungsbereich.527 Das Gesetz darf sich nicht gegen einen bestimmten Meinungsinhalt richten; beschränkt es aber allgemein die Freiheit der Äußerung, so muss der Gesetzgeber durch Nennung des Grundgesetzartikels zeigen, dass er sich der Einschränkung des Grundrechts bewusst war.528 ___________ 521 Ebenso Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 19 Rdnr. 95; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (1981), Art. 19 I Rdnr. 58; v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 194 ff. 522 Zum Sonderfall des Art. 2 Abs. 1 GG sogleich im Text. 523 Ebenso Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 19 Rdnr. 95. 524 So in der Sache BVerfGE 21, 92 (93); 64, 72 (80); 83, 130 (154). 525 Siehe aber § 11 Fn. 491. 526 Siehe nur Wendt, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Art. 5 Rdnr. 69 f. m.w.N. 527 So aber wohl Bethge, DVBl. 1972, 365 (368); Menger, BK-GG (Zweitbearbeitung), Art. 19 Abs. 1 Rdnr. 170. 528 Treffend v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 197 f.
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Eine Ausnahme von der Zitierpflicht – d.h. eine teleologische Reduktion des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG – ist lediglich für das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG hinnehmbar.529 Das liegt darin begründet, dass das Grundrecht als Auffangrecht530 in fast jeder Konstellation berührt sein kann. Würde man unter dieser Prämisse von dem Gesetzgeber stets (auch) die Nennung von Art. 2 Abs. 1 GG verlangen, wäre Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG letztlich seiner Warn- und Besinnungsfunktion beraubt, das Zitieren würde „zum Ritual erstarren und aus der Formvorschrift eine reine Förmlichkeit.“531 Soweit eine Einschränkung des Zitiergebots für nicht-finale bzw. mittelbare Grundrechtseingriffe gefordert wird (Fallgruppe 8),532 ist mit v. Arnauld zu differenzieren:533 Sinn und Zweck des Zitiergebots würden verfehlt, wollte man es so weit einschränken, dass es dem Gesetzgeber gerade um die entsprechende (und dann auch unter Angabe des Artikels zu benennende) Einschränkungen gegangen sein muss.534 Denn der Warnung bedarf es auch, soweit das Gesetz einem anderen Zweck dienen mag, die Einschränkung eines bestimmten Grundrechts aber notwendig zur Zweckverfolgung gehört. Richtig erscheint allerdings, dass der Gesetzgeber auf nicht vorhersehbare, zufällige oder nur mögliche Beeinträchtigungen von Freiheitsrechten nicht hinweisen muss; anderenfalls würde er sich wohl von vornherein in Eventualklauseln flüchten, was Sinn und Zweck des Zitiergebots (Warnung und Besinnung) kaum gerecht würde.535 Auch wenn mit den vorangehenden Ausführungen versucht worden ist, gegen die viel zu restriktive Auslegung des Zitiergebots durch das BVerfG anzugehen, erscheint doch fraglich, ob die Spirale der Missachtung einer Verfassungsnorm durch Gesetzgeber und Verfassungsgericht überhaupt noch aufzu___________ 529 Siehe etwa BVerfGE 10, 89 (99); 28, 36 (46); Bethge, DVBl. 1972, 365 (368); Menger, BK-GG (Zweitbearb. 1979), Art. 19 Abs. 1 Rdnr. 168; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 753; a.A. Huber, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 19 Rdnr. 95. 530 Ausführlich dazu Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Art. 2 Rdnr. 12. 531 Treffend Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 754; ebenso v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 198; nicht überzeugend ist aber die dogmatische Herleitung der wohl h.M., die den Schrankenvorbehalt des Art. 2 Abs. 1 GG schon nicht von Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG erfasst sieht: Bethge, DVBl. 1972, 365 (368); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (1981), Art. 19 I Rdnr. 57; BVerfGE 10, 89 (99). 532 Siehe neben BVerfGE 28, 36 (46); BVerfG, NJW 1999, 3399 (3440) auch Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 68; Selk, JuS 1992, 816 (818). 533 v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 192. 534 In diesem Sinn wohl BVerfGE 28, 36 (46): „Die Vorschrift des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG gilt also nur für Gesetze, die darauf abzielen, ein Grundrecht über die ihm selbst angelegten Grenzen […] hinaus einzuschränken.“ 535 v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 193.
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halten ist.536 Allerdings sollten die geringen Chancen auf Umkehr einer Fehlentwicklung nicht zum Anlass genommen werden, dieser Verfassungspraxis – etwa durch eine Forderung nach Abschaffung des Zitiergebots537 – eine normative Grundlage zu geben. Womöglich besteht inzwischen sogar Anlass, das Fazit weniger pessimistisch ausfallen zu lassen als noch vor einigen Jahren. Immerhin hat das BVerfG in seiner Entscheidung zur präventiven Telefonüberwachung jüngst einen Verstoß des niedersächsischen Gesetzgebers gegen das Zitiergebot festgestellt.538 Aktuell stellt sich die Frage, ob dem Gesetzgeber angesichts der noch vorherrschenden restriktiven verfassungsgerichtlichen Interpretation überhaupt ein „Fehlverhalten“ vorgeworfen werden kann. Es ist daher zu erwägen, auf Vorschriften die die oben geschilderten Anforderungen an das Zitiergebot in Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG derzeit nicht erfüllen, die Fehlerfolge des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG (Nichtigkeit) nicht anzuwenden. Hierfür sind zwei Wege denkbar: Zum einen ist für den Fall der Änderung der Auslegung des Zitiergebots durch das BVerfG zu erwägen, die Grundsätze, die für vorkonstitutionelle Gesetze gelten, auch auf solche Vorschriften auszudehnen, die Nichtigkeitsfolge also erst ex nunc gelten zu lassen.539 Zum anderen könnte die Rechtsprechung zu den sog. Appellentscheidungen auf diesen Fall übertragen werden:540 Das BVerfG würde die Verfassungswidrigkeit des gegen das Zitiergebot verstoßenden Gesetzes feststellen, gleichwohl unter Aufforderung der Beseitigung des Mangels die befristete Fortgeltung des Gesetzes anordnen. Ein solcher legislativer „Neudurchlauf“ würde – für das Zitiergebot auf Grundlage der Rechtsprechung des BVerfG derzeit missachtende Eingriffsermächtigungen – dem Zweck des Zitiergebotes am ehesten gerecht und ist damit vorzugswürdig. Erfolgt eine solche Rechtsprechungsänderung wider Erwarten, wäre ab diesem Zeitpunkt allerdings von der Nichtigkeitsfolge auszugehen. Das BVerfG ist den erstgenannten Weg gegangen, als es im Jahr 2005 den Verstoß des niedersächsischen Gesetzgebers gegen das Zitiergebot als folgenlos ange___________ 536
Vgl. dazu auch die Ausführungen von Paeffgen (Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts [1986], S. 41): „Deshalb sei der Aspekt des Zitiergebotes – in resignierender Erkenntnis seiner Undurchsetzbarkeit – verlassen.“; Stern (Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 [1994], S. 753): „Nicht ohne Resignation wird man feststellen müssen, daß Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG weitgehend leerläuft.“; Bethge, DVBl. 1972, 365 (371): „Wenn sogar das Bundesverfassungsgericht, der vielgepriesene Hüter der Verfassung, diese Bestimmung zur Farce werden läßt, gebietet es der Respekt vor der Verfassung, eher die Abschaffung dieser Vorschrift zu erwägen, als sie einem weiteren Verfallsprozeß preiszugeben […].“ 537 Siehe etwa Bethge, DVBl. 1972, 365 (371). 538 BVerfGE 113, 348 (366). 539 In diesem Sinne Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (1981), Art. 19 I Rdnr. 60. 540 So z.B. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 760; Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 246.
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sehen hat.541 Allerdings betraf das nicht die hier gemeinten Fälle der Verschärfung einer bestehenden Rechtsprechung, für die ein solches Interesse an Rechtssicherheit nicht von der Hand zu weisen ist, sondern eine Frage, die verfassungsgerichtlich noch nicht geklärt war.542 Selbst für solche Fragen von der – grundsätzlich zwingenden – Nichtigkeitsfolge des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG abzuweichen, geht jedenfalls deutlich zu weit.
C. Bestimmtheitsgebot Das Gebot der Bestimmtheit richtet sich primär543 an den Gesetzgeber: Es erfordert eine hinreichend bestimmte Eingriffsermächtigung.544 Dieses Gebot der Normenklarheit ist Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips545 und erfordert nach herkömmlicher Auffassung, dass die von einer Norm Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach ausrichten können.546 Die Erkennbarkeit staatlicher Eingriffsmöglichkeiten aus dem Gesetz hat für strafprozessuale Grundrechtseingriffe wegen des regelmäßigen Überraschungscharakters der Maßnahmen – der vor dem Zugriff auf das Grundrechtsgut eben gerade keine Auseinandersetzung mit der Norm erlaubt – eine besondere Bedeutung.547 ___________ 541
BVerfGE 113, 348 (367). Es ging um die Frage, ob es ausreicht, dass das eingeschränkte Grundrecht in dem Gesetz zitiert ist, in das eine neue (weitergehende) Ermächtigung zum Eingriff in das betreffende Grundrecht eingefügt wird oder ob das Änderungsgesetz in diesem Fall das eingeschränkte Grundrecht selbst zitieren muss. 543 Enthält ein Exekutivakt eine Handlungsanweisung, muss auch diese hinreichend bestimmt sein (vgl. etwa zu den verfassungsrechtlichen Hintergründen des § 37 Abs. 1 VwVfG Stelkens/Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG [2001], § 37 Rdnr. 10). Das ist hingegen bei strafprozessualen Grundrechtseingriffen selten der Fall und wird deswegen hier vernachlässigt. 544 Aktuell ist die Diskussion um die Bestimmtheit strafprozessualer Eingriffsermächtigungen für den unbestimmten Rechtsbegriff der „Straftat von erheblicher Bedeutung“, der seit Anfang der 90er-Jahre in zahlreichen Vorschriften verwendet wird, siehe etwa §§ 81g Abs. 1, 98a, 100g Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 100h Abs. 1 S. 2, 100i Abs. 1, 110a Abs. 1 S. 1, 131 Abs. 3, 131a Abs. 3, 131b, 163e Abs. 1 S. 1, 163f Abs. 1 S. 1 StPO. Bis auf vereinzelt gebliebene Stimmen in der Literatur (Lindemann, KJ 2000, 86 [95 et passim]) gehen aber Rspr. und h.L. von der hinreichenden inhaltlichen Bestimmbarkeit des Begriffs aus, siehe BVerfGE 103, 21 (33 f.); ausführlich Rieß, GA 2004, 623 ff. 545 Vgl. etwa Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2 (2001), Art. 20 Rdnr. 29; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2 (2005), Art. 20 Rdnr. 289. Art. 103 Abs. 2 GG ist demgegenüber für strafverfahrensrechtliche Vorschriften nicht einschlägig, s.o. § 11 A.II.1. 546 Siehe die soeben in Fn. 545 Genannten. 547 s.o. § 11 A.II.; vgl. auch BVerfGE 83, 130 (145), wonach sich die Anforderungen an die Bestimmtheit einer Norm mit der Intensität erhöhen, mit der auf Grundlage der betreffenden Regelung in grundrechtlich geschützte Bereiche eingegriffen werden kann. 542
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Allerdings darf nicht die Interpretationsbedürftigkeit einer Norm mit deren Unbestimmtheit gleichgesetzt werden.548 Auch die StPO kommt nicht ohne unbestimmte Rechtsbegriffe aus. Grundsätzlich sind generalklauselartige und ermessenseröffnende Eingriffsermächtigungen auch unter dem Gesichtspunkt der Normenklarheit nicht verfassungswidrig.549 Für die Ermittlungsgeneralklauseln (§§ 161, 163 StPO) dürfte sich die Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns schon daraus ergeben, dass der Wortlaut die zulässigen Maßnahmen auf Sachverhaltserforschung sowie teleologische und historische Auslegung auf – zwar nicht abschließende aber – bestimmbare Arten niedrigschwelliger Maßnahmen begrenzen.550 Das Bestimmtheitsgebot ist auch nicht durch den Charakter der Eingriffstatbestände als Ermessensvorschriften verletzt. Wie auch im Verwaltungsrecht anerkannt, existieren für strafprozessuale Grundrechtseingriffe rechtliche Grenzen des Ermessens.551 Die Anforderungen an die Normenklarheit bestimmen sich insoweit nicht zuletzt auch mit dem Blick auf die zu regelnde Materie: Es ist aus Sicht des Gesetzgebers nicht möglich, Eingriffsermächtigungen mit gebundenen Entscheidungen vorzusehen. Das Strafverfahrensrecht ist in besonders hohem Maße von taktischen Erwägungen geprägt, die bestimmen, ob und wann eine Maßnahme ergriffen werden muss. In diese notwendigen Entscheidungsspielräume der Strafverfolgungsbehörde kann der Gesetzgeber nur in sehr begrenztem Maße eingreifen. Bei dieser Erwägung handelt es sich letztlich um die Kehrseite des besonderen Charakters strafprozessualer Grundrechtseingriffe, der zum einen hohe rechtsstaatliche Anforderungen stellt (Stichwort: strafprozessuale Grundrechtseingriffe als „institutionalisierte Überraschungseingriffe“), dem zum anderen aber gewisse Einschränkungen rechtsstaatlicher Qualitäten gleichsam immanent sind. Um einen Ausgleich in diesem Spannungsfeld zu finden, kann auf das Modell der „praktischen Konkordanz“552 (besser vielleicht als Modell der „Prinzipienoptimierung“ bezeichnet) zurückgegriffen werden, nach dem den widerstreitenden Prinzipien jeweils im Kollisionsfall – auch für Fragen der Bestimmtheit – größtmöglicher Raum zu geben ist. Je intensivere
___________ 548 So die treffende Formulierung von Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2 (2005), Art. 20 Rdnr. 289. 549 St. Rspr. des BVerfG, siehe nur BVerfGE 3, 225 (243); 13, 153 (161); 21, 73 (79); 31, 255 (264); 78, 214 (226); siehe ferner m.w.N. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 2 (2005), Art. 20 Rdnr. 289; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (1980), Art. 20 Kap. VII Rdnr. 63. 550 s.o. § 11 A.VII. 551 s.o. § 7 B.III. 552 Grundlegend zu diesem Modell Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1995), Rdnr. 72 und 317 ff.
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Grundrechtseingriffe eine Norm zulässt, desto bestimmter muss die Ermächtigung ausgestaltet sein.553 Weitere Einzelheiten mögen hier auf sich beruhen.
D. Übermaßverbot Die Schranken-Schranke des Übermaßverbots betrifft das Verhältnis zwischen Zweck und Mittel.554 Die Verfolgung des Ziels darf nicht außer Verhältnis zu der Beeinträchtigung (der jeweils betroffenen Grundrechte) stehen, die durch das fragliche Mittel ausgelöst wird. Die Probleme, die mit diesem Grundsatz verbunden sind, sind derart vielschichtig und komplex, dass sie hier im Wesentlichen nur angerissen werden können.555 Dazu sollen zunächst einige grundlegende Fragen behandelt werden (unten I.), bevor auf die für das Thema wichtigsten Einzelprobleme eingegangen wird (unten II.). Eine umfassendere Auseinandersetzung mit dem Übermaßverbot muss im Rahmen dieser Arbeit – neben seiner Komplexität – schon daran scheitern, dass das Gebot dazu zwingt, vor der Überprüfung eines Verstoßes gegen das Verbot den materialen Gehalt des betroffenen Grundrechts zu entfalten.556 Weil strafprozessuale Eingriffsermächtigungen (ebenso wie die Grundrechtseingriffe selbst) eine Vielzahl materieller Grundrechte betreffen, muss sich die folgende Darstellung mit der Herausarbeitung allgemeiner Eckpunkte begnügen.
I. Grundfragen
1. Herleitung und wesentlicher Inhalt des Übermaßverbots Die normative Grundlage des Übermaßverbots ist – ob seines Fehlens im Verfassungstext selbst – noch immer umstritten. Dabei dürfte es sich trotz der Anerkennung im Grundsatz nicht nur um einen belanglosen Streit handeln. Vielmehr gilt: Je allgemeiner die Grundlage seiner Herleitung, desto allgemeiner auch der Geltungsanspruch des Grundsatzes bei gleichzeitig zunehmender Inhaltsarmut der verfassungsrechtlichen Vorgaben.557 Ein erster grober Über___________ 553
Vgl. m.w.N. Gusy, StV 2002, 153 (157). Höfling, Jura 1994, 169 (172); v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken (1999), S. 220. 555 Siehe nur neben der zahlreichen staatsrechtlichen Literatur die umfangreiche Monographie von Degener, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen (1985). 556 Treffend Krebs, Jura 2001, 228 (233); siehe schon oben § 9. 557 Treffend Krebs, Jura 2001, 228 (230). Relevant – allerdings hier nicht von Interesse – ist die Verortung ferner für die Frage der Reichweite des Grundsatzes (insbesondere zwischen Trägern von Hoheitsgewalt). 554
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blick liefert folgendes Bild: Die Rechtsprechung (insbesondere das BVerfG) und ein Teil der Lehre sieht die Grundlage des Übermaßverbots im Rechtsstaatsprinzip,558 während andere das Übermaßverbot in den Grundrechten selbst verorten. Innerhalb der letztgenannten Strömung wird das Maß des jeweiligen Freiheitsschutzes zumeist nicht aus den Einzelgrundrechten selbst, sondern aus dem „Wesen“ der Grundrechte bzw. ihrer Gesamtheit559, aus Art. 1 Abs. 3 GG560 oder aus Art. 19 Abs. 2 GG561 bestimmt. Nimmt man das GG (zu) wörtlich, dann gewähren vorbehaltlose Grundrechte zu viel, Grundrechte unter Gesetzesvorbehalt hingegen zu wenig. Die Auflösung dieses scheinbaren Missverhältnisses zwischen den verschiedenen grundrechtlichen Gewährleistungen ist eng verbunden mit der Verortung des Übermaßverbotes. Beides lässt sich mit dem schon an anderer Stelle erwähnten Charakter der grundrechtlichen Schutzgüter als Prinzipien erklären.562 Bei diesen handelt es sich um Optimierungsgebote, die von vornherein auf Abwägung gerichtet sind.563 Dass in das grundrechtliche Schutzgut nur unter Beachtung der Kautelen der Verhältnismäßigkeit eingegriffen werden darf (und nicht etwa umgekehrt die Wirksamkeit der Strafrechtspflege564 nur verhältnismäßig durch grundrechtliche Schutzgüter „behindert“ werden darf!), ergibt sich aus dem bereits angesprochenen565 Regel-Ausnahme-Verhältnis:566 Fällt eine Verhaltensweise in den Schutzbereich eines Grundrechts, bewirkt dies, dass der Staat unter Rechtfertigungsdruck gerät – im Gegensatz zum Grundrechtsträger, der in seinem Verhalten grundsätzlich frei ist. ___________ 558 Etwa BVerfGE 17, 306 (313 f.); 23, 127 (133); 35, 382 (400 f.); ferner Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 772; Sachs, in: ders., GG (2007), Art. 20 Rdnr. 146. Das BVerfG zieht in seiner neueren Rspr. sowohl das Rechtsstaatsprinzip, als auch die Freiheitsrechte heran, vgl. BVerfGE 90, 145 (173). 559 Z.B. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 355 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 100 ff. 560 Z.B. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 1 Rdnr. 285. 561 Z.B. Dürig, AöR 81 (1956), 117 (146 f.); Erichsen, Jura 1988, 387 (388); Krebs, Jura 2001, 228 (233). 562 s.o. vor § 7 (dort auch zum Begriff des Schutzgutes) sowie sogleich unter § 11 D.I.2.; ausführlich Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 100 ff. (der auf S. 154 ff. die Prinzipientheorie überzeugend gegen Angriffe verteidigt); v. Arnauld, JZ 2000, 276 (278 ff.); ausführlich auch Borowski, Grundrechte als Prinzipien (1998), S. 61 ff. (zur Rolle der Prinzipientheorie für das Übermaßverbot insbes. S. 115 ff.); kritisch Klement, JZ 2008, 756 (761), der allerdings weniger die Prinzipientheorie als ihren Absolutheitsanspruch kritisiert. 563 Siehe auch Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 111 Rdnr. 42. 564 Hierzu als kollidierendes Prinzip sogleich unter § 11 D.I.2. 565 § 9. 566 v. Arnauld, JZ 2000, 276 (279).
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Sind grundrechtliche Schutzgüter als Prinzipien Optimierungsgebote, geht damit im Hinblick auf mögliche Beeinträchtigungen zwangsläufig das Gebot des „nicht mehr als nötig“ einher.567 Die herkömmlichen Bestandteile des Übermaßverbots neben dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.e.S. – Geeignetheit des Mittels und Erforderlichkeit – stehen mit dem Prinzipiencharakter der Grundrechte wie folgt in Einklang: Das Erfordernis der Geeignetheit verlangt zumindest die Zweckdienlichkeit des Mittels.568 Es ergibt sich daraus, dass ein nicht einmal zweckdienliches Mittel der Optimierung des mit dem grundrechtlichen Schutzgut kollidierenden Prinzips nichts nützt. Gleichzeitig wird dadurch die Optimierung des grundrechtlichen Schutzgutes vereitelt.569 Der Grundsatz der Erforderlichkeit (synonym: Notwendigkeit) besagt, dass von mehreren gleich wirksamen Mitteln immer dasjenige zu wählen ist, das das jeweilige Grundrecht am wenigsten beeinträchtigt.570 Er folgt bereits zwangsläufig aus dem Charakter des Schutzgutes als Optimierungsgebot: Das Schutzgut kann eben ohne jegliche Beeinträchtigung des gegenläufigen Prinzips auf diese Weise den weitest möglichen Schutz erfahren.571 Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit i.e.S. (häufig synonym verwendet: Angemessenheit, Zumutbarkeit) ist gleichsam der Hauptbestandteil des Prinzipiencharakters grundrechtlicher Schutzgüter, die mit kollidierenden Prinzipien572 in optimalen Ausgleich zu bringen sind. Das Übermaßverbot richtet sich infolge der Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) nicht nur an die Exekutive, sondern auch an die Legislative.573 Dementsprechend ist auch in Bezug auf den hiesigen Untersuchungsgegenstand zu unterscheiden zwischen den Legislativakten „Eingriffs___________ 567 Wohl zu Recht weist Klement, JZ 2008, 756 (761) darauf hin, dass sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht logisch aus dem Prinzipiencharakter der Grundrechte herleiten lässt, sondern die Prinzipientheorie lediglich die Wirkungsweise des Grundsatzes in sich schlüssig erklärt. 568 Statt vieler Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 776. 569 Ähnlich Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 103; etwas anders v. Arnauld, JZ 2000, 276 (280), der das Gebot der Zwecktauglichkeit des Mittels daraus herleitet, dass ein untaugliches Mittel dann verfassungswidrig sei, wenn mit ihm versucht wird, die Gewichtsverlagerung zwischen Regel und Ausnahme zu Lasten der Regelgewährleistung zu verschieben. 570 Siehe nur Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 779. 571 Ähnlich Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 101 f. 572 Zum kollidierenden Prinzip „Wirksamkeit der Strafrechtspflege“ sogleich unter 2. 573 Während die Verwaltung auch schon im 19. Jh. zumindest an die Grundsätze der Geeignetheit und Erforderlichkeit gebunden war, konnten sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.e.S. und die Bindung auch der Gesetzgebung erst unter der Ägide des GG durchsetzen; siehe zusammenfassend Krebs, Jura 2001, 228 (230).
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ermächtigungen“ und den strafprozessualen Grundrechtseingriffen selbst als im wesentlichen Akte der vollziehenden Gewalt. Allerdings ist die Qualität der Bindung des Gesetzgebers an das Übermaßverbot jedenfalls nach der Rechtsprechung des BVerfG weniger stark als die der vollziehenden Gewalt. Das BVerfG billigt dem Gesetzgeber dabei einen „Wertungsvorrang“ zu.574 Für die vollziehende Gewalt hat das Übermaßverbot v.a. ermessenssteuernde Wirkung bzw. stellt einen Belang dar, der die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe beeinflussen kann. Allerdings ist für die Beurteilung des Einzelaktes wiederum der Wertungsvorrang des Gesetzgebers zu berücksichtigen: So wird ein strafprozessualer Grundrechtseingriff, der in Ausfüllung von – verfassungsgemäßen – strafprozessualen Eingriffsermächtigungen ergeht, nur dann seinerseits gegen das Übermaßverbot verstoßen, wenn das Freiheitsinteresse des Betroffenen in (für diese Art von Eingriff) untypischer Weise überwiegt.575 Das gilt zumindest dann, wenn der Gesetzgeber tatbestandliche Sicherungen in die Ermächtigungsnorm eingebaut hat;576 in anderen Fällen (siehe etwa § 81a oder § 94 StPO) ist stets eine „umfassende“ Prüfung des Übermaßverbots vonnöten.577
2. Die Kollision mit dem Prinzip der „Wirksamkeit der Strafrechtspflege“ Sind grundrechtliche Schutzgüter als Optimierungsgebote nach alledem auf Abwägung ausgelegt, kann eine Prinzipienkollision einmal auftreten, wenn verschiedene Grundrechtspositionen nicht nebeneinander optimal verwirklicht werden können. Für strafprozessuale Grundrechtseingriffe ist allerdings eine andere Art der Prinzipienkollision relevant: die Kollision mit Prinzipien, die dem Schutz „kollektiver Güter“ dienen.578 Als das mit den grundrechtlichen Schutzgütern der Betroffenen kollidierende Prinzip wird in diesem Kontext vom BVerfG579 und der wohl überwiegenden Auffassung580 die Gewährleistung ___________ 574 BVerfGE 72, 9 (23); 65, 1 (55), 56, 298 (316); eingehend Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 (1994), S. 778 ff.; Degener, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen (1985), S. 114/117. Das bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass das BVerfG nicht auch Gesetze als gegen das Übermaßverbot verstoßend für nichtig erklären würde, siehe bspw. die Entscheidung zum großen Lauschangriff, BVerfGE 109, 279 (325 ff.). 575 Degener, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen (1985), S. 117; Frister, Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts (1986), S. 108. 576 Siehe zu den unterschiedlichen Sicherungsmechanismen unten II.1. 577 Ebenso Frister, Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts (1986), S. 108. 578 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 98. 579 BVerfGE 33, 367 (383); 34, 238 (248 f.); 36, 174 (186); 38, 105 (115); 39, 156 (163); 44, 353 (374); aus neuerer Zeit BVerfGE 77, 65 (76); 80, 367 (375); 100, 313 (389); 107, 299 (316); 109, 279 (314, 336) und jüngst BVerfGE 113, 29 (54). In der Sa-
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„funktionierender Strafrechtspflege“ herangezogen, ein Prinzip, das herkömmlich aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet wird.581 Es liegt unbefangen zunächst nahe, dass die Strafrechtspflege, also die wirksame Verfolgung von Straftätern, nur unter der Möglichkeit funktioniert, in Grundrechte Verdächtiger oder anderer Personen einzugreifen. Das öffentliche Interesse an der Durchführung des Strafverfahrens bzw. dem Funktionieren der Strafrechtspflege als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und Basis der Legitimation strafprozessualer Grundrechtseingriffe steht damit in einem – als Konsequenz des dargestellten Optimierungsgedankens erscheinenden – „Zielkonflikt“582 zu einem anderen Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips: dem Freiheitsinteresse des Bürgers.583 Eine Kritik hieran lautet: Begreife man die Strafrechtspflege als Mittel, die allgemeine Ordnung herzustellen und zu gewährleisten, könne man daraus keine Schlüsse für die Rechtfertigung (gerade) strafprozessualer Grundrechtseingriffe ziehen, weil die Gewährleistung von Ordnung die Funktion jeden Rechts sei.584 Hierin kommt der berechtigte Gedanke zum Ausdruck, dass das Ziel „effektive Verfolgung von Straftätern“ Klarheit über die Frage voraussetzt, zu welchem Zweck Straftäter zu verfolgen sind, ein Prozess gegen sie in Gang zu setzen ist und was dieser leisten soll. Diese Frage muss hier nicht in allen Einzelheiten behandelt werden.585 Zum einen ist unzweifelhaft, dass es legitime ___________ che wohl ohne Unterschied spricht das BVerfG in früheren Entscheidungen von den Bedürfnissen wirksamer Verbrechensbekämpfung, z.B. BVerfGE 19, 342 (347); 20, 45 (49) und 20, 144 (147); dazu Hassemer, StV 1982, 275 (276). 580 Aus der Rspr. BGHSt 34, 397 (401); 38, 214 (220); 40, 211 (217); aus der Literatur Wolter, in: SK-StPO (1994), vor § 151 Rdnr. 27; ders., in: Gedächtnisschrift für Meyer (1990), S. 493 (502); Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 1; Hill, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI (2001), § 156 Rdnr. 39 ff.; Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 387 (395); Landau, NStZ 2007, 121 (127); abl. Hassemer, StV 1982, 275 (280); Grünwald, JZ 1976, 767 (772 f.); Gercke, Bewegungsprofile anhand von Mobilfunkdaten im Strafverfahren (2002), S. 59 ff. Weitere Nachweise bei Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht (1995), S. 29 m. Fn. 24. 581 BVerfGE 39, 156 (163); 44, 353 (374); dazu Hassemer, StV 1982, 275 (276); kritisch Landau, NStZ 2007, 121 (124): „Verortung im […] Endziel der Strafrechtspflege“ und damit Gewaltmonopol des Staates (ebd. S. 127). 582 So treffend Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht (1995), S. 32. 583 Das Rechtsstaatsprinzip ist insoweit „janusköpfig“; vgl. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 278 ff. 584 Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 14; ähnlich auch Hassemer, StV 1982, 275 (277 f.). Vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 380. 585 Vgl. dazu aus jüngerer Zeit die umfangreichen Ausführungen von Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 10 ff.; Murmann, GA 2004, 65 ff.; Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 13 ff.; Rieß, JR 2006, 269 ff., jeweils m.w.N.
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Gründe gibt, dem Verdacht einer Straftat nachzugehen. Zum anderen hängen diese legitimen Gründe eng mit dem materiellen Strafrecht und seiner Verwirklichung zusammen. Denn wenn einem Staat die Befugnis eingeräumt ist, Verbotstatbestände zu schaffen und ihre Verwirklichung unter Strafe zu stellen, muss man dem Staat auch ermöglichen, die Erfüllung eines solchen Tatbestandes zu überprüfen und zu ahnden.586 Eine zweite Kritik an diesem Argumentationstopos erscheint demgegenüber stichhaltiger: Legt man das Prinzip „Effektivität der Strafrechtspflege“ auf die eine Seite der Waagschale, besteht die Gefahr, dass diese Seite der Waage als stets übergewichtet wahrgenommen wird.587 Das gilt insbesondere dann, wenn man zugunsten undurchsichtiger Effektivitätsgesichtspunkte formale (verfahrensrechtliche) Sicherungen opfert.588 Umgekehrt nämlich rechtfertigen die „Formalisierungen strafrechtlicher Konfliktbewältigung“ überhaupt erst die schweren Eingriffe, die mit dem Strafrecht verbunden sind.589 Aber auch jenseits der besonderen Achtung formaler Werte sollte mit dem Prinzip der „Wirksamkeit der Strafrechtspflege“ behutsamer umgegangen werden, als es das BVerfG bisweilen tut. Das kann vor allem dadurch geschehen, dass die Abwägung durchsichtiger gestaltet wird, indem man auf die eigentlichen Zwecke strafprozessualer Grundrechtseingriffe abstellt. Statt des etwas diffusen Effektivitätstopos sollte die Abwägung daher bspw. von dem konkreten Interesse an der Beweiserhebung in einer bestimmten Weise in bestimmten Situationen ausgegangen werden. Dieses konkrete Interesse konkretisiert bzw. verkörpert dann in der Abwägung mit den betroffenen grundrechtlichen Schutzgütern das Prinzip der „Wirksamkeit der Strafrechtspflege“. Nicht möglich ist aber ein allgemeines Ausspielen der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ auf der einen und den Freiheitsinteressen auf der anderen Seite. ___________ 586 Gärditz, Strafprozeß und Prävention (2003), S. 85; Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 16; Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 11 ff. 587 In diesem Sinn v.a. Hassemer, StV 1982, 275 (277); zu dieser Gefahr des Übergewichts und einer Eigendynamik Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 387 (399); zur Gefahr der Einseitigkeit auch Gärditz, Strafprozeß und Prävention (2003), S. 85 m. Fn. 270; zum Problem der Beliebigkeit der Ergebnisse Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 286 ff. 588 Siehe hierzu auch unten 3.b). 589 Vgl. auch Riehle, KJ 1980, 316 (319); ferner Hassemer, StV 1982, 275 (277): „Mir ist keine Strafrechtsordnung bekannt, die daran zerbrochen wäre, daß sie funktionsuntüchtig wurde gegenüber der alltäglichen Kriminalität. Mir sind aber wohl Gesellschaften und Strafrechtsordnungen bekannt, die dem Interesse an effizienter Verbrechensbekämpfung ihren Formalisierungsauftrag geopfert haben, Strafverfahren, die sich haben funktionalisieren lassen im terroristischen Räderwerk eines rücksichtslosen Kampfes gegen die Abweichung. Gesetzliches Strafunrecht zeichnet sich nicht durch ein Zuwenig, es zeichnet sich durch ein Zuviel an Effektivität aus.“
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Die Überlegungen zum Prinzip der „Wirksamkeit der Strafrechtspflege“ finden im Hinblick auf die spezifisch innerprozessualen Funktionen strafprozessualer Grundrechtseingriffe ein prozessrechtliches Parallelinstitut. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe590 sind im wesentlichen Instrumente des vorläufigen Rechtsschutzes des Staates.591 Der Staat sichert die Beweise, die er für die Überführung des Täters zu benötigen glaubt, schon in einem vorgelagerten Stadium, weil er sich deren Verlust für die Hauptverhandlung nicht erlauben kann. Er sichert die Vollstreckung eines Schuldspruchs schon bevor dieser erfolgt, wenn zu befürchten ist, dass spätere Vollstreckungsversuche scheitern.592 Vorläufiger Rechtsschutz dient der Durchsetzung der Verfahrensziele in einer speziellen Weise, indem nämlich eine Verschlechterung der Durchführungsmöglichkeiten des Verfahrens durch die Verfahrensdauer selbst oder Handlungen von Verfahrensbeteiligten verhindert werden soll.593 Verfassungsrechtlich wird die Möglichkeit für den Bürger, in einem Gerichtsverfahren vorläufigen Rechtsschutz zu erlangen, für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten aus Art. 19 Abs. 4 GG, im Übrigen aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch und damit aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet.594 Wird also für Privatpersonen vorläufiger Rechtsschutz gewährt, um die Wirksamkeit des Rechtsschutzes nicht zu gefährden, greift der Staat wegen der „Wirksamkeit der Strafverfolgung“ auf strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Instrumente des vorläufigen Rechtsschutzes zurück.595 Man sieht daran, dass beiden Mechanismen letztlich ein und dasselbe Prinzip zugrunde liegt. Die „Wirksamkeit des gerichtlichen Verfahrens“ stellt mit anderen Worten ein die Prozessordnungen übergreifendes Prinzip dar, das mit grundrechtlichen Schutzgütern (in dem einen Fall den Schutzgütern der Prozessgegner, im anderen Fall den Schutzgütern der von ___________ 590 Freilich mit Ausnahme solcher, die unter § 3 als verfahrensfremd eingestuft worden sind. 591 Zur Idee des vorläufigen Rechtsschutzes durch strafprozessuale Grundrechtseingriffe für die neuere Zeit grdl. Amelung, JZ 1987, 737 (741); dem folgend Kühne, Strafprozessrecht (2007), Rdnr. 397 und Vossler, Strafprozessuale Zwangsmittel als Instrumente des beschleunigten Rechtsgüterschutzes (1998), S. 201 ff. Im älteren Schrifttum klingt der Gedanke erstmals an bei v. Kries, ZStW 5 (1885), 1 (3 m. Fn. 3) und dems., ZStW 9 (1889), 1 (67); Goldschmidt, Festgabe für Gierke, Bd. 3 (1910), S. 109 (112 m. Fn. 2); Hegler, Festschrift für Binding, Bd. 2 (1911), S. 199 (204 ff.) und ist dann erst mehr als 50 Jahre später wieder erwähnt worden von Baur, Studien zum einstweiligen Rechtsschutz (1967), S. 11 f. 592 Zu diesen Verfahrenszwecken bei § 3. 593 Rosenberg/Gaul/Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht (1997), S. 996; Baur/Stürner, Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleichsrecht, Bd. I (1995), S. 575; Jauernig/Berger, Zwangsvollstreckungs- und Insolvenzrecht (2007), § 34 Rdnr. 1. 594 Umfassend dazu Walker, Der einstweilige Rechtsschutz im Zivilprozeß und im arbeitsgerichtlichen Verfahren (1993), Rdnr. 48 ff. 595 Walker, Der einstweilige Rechtsschutz im Zivilprozeß und im arbeitsgerichtlichen Verfahren (1993), Rdnr. 59.
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strafprozessualen Grundrechtseingriffen Betroffenen) in Kollision gerät. Allerdings ist bei der Optimierung dieser Prinzipien im Hinblick auf die Wirksamkeit der Strafverfolgung die notwendige Zurückhaltung zu üben und Präzisierungsarbeit zu leisten.
3. Zwei Probleme des Übermaßverbots Das Übermaßverbot ist ein Abwägungsgebot. Das führt zu zumindest zwei grundlegenden Problemen,596 die allerdings nicht ausschließlich strafprozessuale Grundrechtseingriffe betreffen: Das Übermaßverbot scheint zum einen blind gegenüber unverfügbaren (abwägungsfesten) Rechtspositionen zu sein.597 Eine Rechtsposition kann nämlich schon dadurch preisgegeben sein, dass sie überhaupt in eine Abwägung eingestellt wird:598 Gegen das Bedürfnis bspw., eine Lebensgefahr für unbeteiligte Menschen abzuwehren, vermag sich das Recht eines Inhaftierten auf ungehinderten und unüberwachten Kontakt mit seinem Verteidiger (vgl. § 148 StPO) kaum durchzusetzen.599 Zum anderen muss sich die Abwägung der Kritik stellen, wenig abstrahierbar, vielmehr einzelfallbezogen zu sein. Das hat eine gewisse Beliebigkeit der Ergebnisse, jedenfalls wenig Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit zur Folge.600
a) Unberechenbarkeit der Abwägung Eine Abwägung ist nur begrenzt berechenbar. Mit ihrer Hilfe soll ja gerade ein komplexer, nur begrenzt generalisierbarer Interessenzusammenhang „gere___________ 596
Siehe hierzu die treffende Beschreibung bei Hassemer, in: Festschrift für Schroeder (2006), S. 51 (60); ausführlicher ders., in: Festschrift für Maihofer (1988), S. 183 ff. 597 Hassemer, in: Festschrift für Schroeder (2006), S. 51 (60): Der Grundsatz sei „geradezu der geborene Feind des Unverfügbaren.“ 598 Hassemer, in: Festschrift für Maihofer (1988), S. 183 (184). 599 Vgl. §§ 31 ff. EGGVG und dazu BVerfGE 46, 1 (11 ff.); BGHSt 27, 260 ff. 600 Siehe neben Hassemer (§ 11 Fn. 596) auch Leisner, NJW 1997, 636 ff.; Lerche, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (2000), § 121 Rdnr. 29 (der „recht allgemeine Billigkeitserwägungen“ ausmacht und demgegenüber eine stärkere Rückbindung an die Sachstrukturen des jeweiligen Grundrechts anmahnt); Merten, in: Festschrift für Schambeck (1984), S. 349 f. („carte blanche für die (Verfassungs-)interpretation“). Vgl. auch die Kritik am Prinzipiencharakter der Grundrechte von Forsthoff, in: Festgabe für Carl Schmitt (1968), S. 185 (190): „Damit liefert man die Grundrechte den manipulatorischen Möglichkeiten des Auf-, Ab- und Umwertens aus und verwandelt auf diese Weise die Fundamentalentscheidung des Verfassungsgebers in eine Globalermächtigung an die Verfassungsinterpreten. Das Ergebnis ist die Verunsicherung der Verfassung, von der noch nicht abzusehen ist, welche Folgen sich daraus ergeben.“
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gelt“ werden.601 Die Argumentationsflexibilität ergibt sich dabei schon zwangsläufig aus dem Prinzipiencharakter der sich gegenüber stehenden Rechtspositionen. Abwägung kann damit gar kein Verfahren sein, das in jedem Fall zwingend zu einem Ergebnis führt. Damit ist aber nicht schon gesagt, dass Abwägung nicht rational verlaufen könnte.602 Auch „Abwägungskritiker“ haben bisher keine akzeptablen Alternativen vorlegen können.603 Man wird sich mit der mangelnden Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit daher abzufinden haben.604 Ein gewisses Grad an Rechtssicherheit kann – freilich ohne den „Mangel“ ganz beheben zu können – dadurch hergestellt werden, dass die folgende Abwägungsregel befolgt wird: Je höher der Grad der Beeinträchtigung eines Prinzips ist, umso wichtiger muss die Erfüllung des kollidierenden Prinzips sein.605 Unsicherheiten bleiben aber bestehen und werden zumindest auf eine andere Ebene verlagert, nämlich die der Bewertung der Wichtigkeit der Erfüllung des einen und des Grades der Beeinträchtigung des anderen, kollidierenden Prinzips. Das Maß an Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit steigt damit nur begrenzt. Auch die Grenze der Beeinträchtigung eines Prinzips kann aus dieser Formel nicht abgeleitet werden: Wer bspw. für eine Vierzimmerwohnung statt einer Dreizimmerwohnung seine Ausgaben für Lebensmittel um ein Viertel senkt, wird nicht bereit sein, für eine Fünfzimmerwohnung auf ein weiteres Viertel oder für eine Siebenzimmerwohnung ganz auf das Essen zu verzichten.606
b) Unverfügbare Rechtspositionen Das leitet bereits über zu der Frage nach der Unverfügbarkeit von Rechtspositionen, die jedenfalls nicht in dieser pragmatischen Weise gehandhabt werden kann. Akzeptiert man die Möglichkeit gänzlich unverfügbarer Positionen, ist der Umgang mit solchen Positionen nach der soeben dargestellten Abwägungsregel nicht möglich. Zur Bestimmung abwägungsfester Rechtspositionen ist zunächst zu erwägen, an der Idee anzusetzen, Grundrechte seien vom Staat vorge-
___________ 601
Vgl. zur Problemlage auch Ladeur, ARSP 1983, 463 (473). Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 143. 603 Dazu Kahl, AöR 131 (2006), 579 (606, insbesondere in Fn. 157). 604 Optimistischer Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 156 f., der Rechtssicherheit durch sein Modell aus Kombination von Regeln und Prinzipien hinreichend gewährleistet sieht. 605 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 146. 606 Bsp. von Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht (1976), S. 168. 602
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fundene, nicht erst von ihm selbst verliehene Rechte.607 Einen normativen Anhaltspunkt hierfür bietet Art. 1 Abs. 2 GG, der ein Bekenntnis zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ zum Ausdruck bringt. Konnte das GG die Menschenrechte nicht konstitutiv gewähren, sondern (lediglich) affirmativ gewährleisten, dann teilen – so ließe sich argumentieren – jene „übergesetzlichen Wertnormen“ (Dürig) auch nicht das Schicksal des positiven Verfassungstextes und dessen Auslegung. Mit anderen Worten: Durch Einbeziehung in das positive Verfassungswerk lassen sich jene Normen „zwar publizieren, aber nicht denaturieren, also nicht in ihrem ‚besonderen Charakter‘ verändern.“608 Allerdings dürfte es nahe liegen, den Effekt des Bekenntnisses des Art. 1 Abs. 2 GG v.a. in einer (innerstaatlichen und – das erscheint vor dem Hintergrund des Entstehungszeitpunktes wichtig – auch außenpolitischen) Signalwirkung zu sehen.609 Das kommt auch in Wortlaut und Entstehungsgeschichte zum Ausdruck. In Art. 1 Abs. 2 GG heißt es: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten […].“610 Die Vorschrift nimmt damit deutlichen Bezug zur Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG und deutet an, dass der Spielraum der staatlichen Verfügungsmacht im Hinblick auf die nachfolgenden Grundrechte begrenzt durch deren Menschenwürdegehalt ist.611 Der Verfassungsgeber hat die Unverfügbarkeit bestimmter Rechtspositionen in dieser Weise positiviert und durch die Absicherung des Gehalts von Art. 1 GG in Art. 79 Abs. 3 GG auch im Hinblick auf den verfassungsändernden Gesetzgeber verstärkt. Der Abwägung entzogen ist nach einem Teil der Literatur auch der durch Art. 19 Abs. 2 GG geschützte Wesensgehalt eines Grundrechts. Wegen der geringen praktischen Bedeutung dieser Vorschrift, aber auch wegen der Verknüpfung mit der sogleich zu erörternden Rechtsprechung des BVerfG, sei auf die mit ihrer Anwendung verbundenen Probleme jedoch nicht im Einzelnen eingegangen.612 Festzuhalten ist aber, dass Art. 19 Abs. 2 GG – bei entsprechender ___________ 607 Siehe den Bericht aus dem Parlamentarischen Rat in JöR NF Bd. 1 (1951), S. 42, 48; vgl. ferner Dürig, in: Maunz/Dürig, GG (Erstkommentierung 1958), Art. 1 Rdnr. 73; Stern, in: Festschrift für Scupin (1983), S. 627 (628 f.). 608 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG (Erstkommentierung 1958), Art. 1 Rdnr. 73. 609 Treffend Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Art. 1 Rdnr. 41, weiter allerdings Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 1 Rdnr. 131. 610 Hervorhebung nur hier. 611 Zutr. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG (Erstkommentierung 1958), Art. 1 Rdnr. 80; anders Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 1 Rdnr. 133, der in den Grundrechten neben dem Menschenwürdekern auch einen „menschenrechtlichen Kern“ geschützt und von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG erfasst sieht. 612 Auf ein Wiedergeben der verschiedenen Theorien wird hier verzichtet. Die Wesensgehaltsgarantie ist allerdings nur dann eine Schrankenschranke, wenn man Art. 19 Abs. 2 GG so versteht, dass er das Grundrecht nicht nur in objektiv-rechtlicher Hinsicht, sondern auch als subjektiv-öffentliches Recht schützt (zum Streitstand siehe m.w.N.
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Interpretation dieser Verfassungsvorschrift – einer Abwägung durch Exekutive und Legislative zwar Grenzen setzen kann, allerdings nicht dem verfassungsändernden Gesetzgeber (vgl. Art. 79 Abs. 3 GG). Der Verfassungsgeber hat mit Art. 19 Abs. 2 GG also keine Grenze gesetzt, die unter keinen Umständen überschritten werden dürfte. Das BVerfG neigt – in Übereinstimmung mit dem soeben geschilderten Konzept des Art. 1 GG – dazu, die Frage des Unverfügbaren an der abwägungsresistenten Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG festzumachen und sieht insbesondere in einzelnen Grundrechten einen Menschenwürdekern geschützt, in den einzugreifen dem (auch verfassungsändernden613) Gesetzgeber verwehrt ist.614 Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zur (repressiven) akustischen Wohnraumüberwachung deutlich dahingehend Stellung bezogen, dass der Schutz des Menschenwürdekerns des Art. 13 Abs. 1 GG „nicht durch Abwägung mit den Strafverfolgungsinteressen nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes relativiert werden“ könne.615 Allerdings macht gerade die Rechtsprechung des BVerfG die Schwächen dieses Ansatzes deutlich. Zum einen ist die Bestimmung des absolut geschützten (Menschenwürde-)Kerns eines Grundrechts ebenso von Unsicherheiten begleitet, wie die Abwägung selbst. Zum anderen wird diese Bestimmung der Unverfügbarkeit offenbar nicht unerheblich vom „Zeitgeist“ getragen: Haben die Bundesverfassungsrichter Geller, v. Schlabrendorff und Rupp im Jahr 1971 in ihrem Sondervotum zum Abhörurteil des BVerfG616 das Anbringen von „Geheimmikrofonen unter Ausschluss des Rechtsweges“ vor dem Hintergrund der „Erfahrungen seit 1949“ noch als fernliegend bezeichnet – und deshalb das Abhörurteil mit ihrem berühmt gewordenen Plädoyer beendet, Art. 79 Abs. 3 GG ___________ Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 [2000], Art. 19 Rdnr. 24). Ob Art. 19 Abs. 2 GG überhaupt eine abwägungsfeste Rechtsposition vermittelt (sog. absolute Theorien) oder ob der Schutz durch diese Verfassungsvorschrift durch Abwägung überwunden werden kann, ist ebenfalls streitig (vgl. wiederum m.w.N. Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 [2000], Art. 19 Rdnr. 25). 613 Damit wird auch eine „Verschärfung“ gegenüber einer Argumentation mit Art. 19 Abs. 2 GG deutlich, der nach Auffassung des BVerfG und der Literatur nicht für Verfassungsänderungen gelten soll; vgl. BVerfGE 109, 279 (310 f.); siehe auch Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Art. 19 Rdnr. 20, der Art. 19 Abs. 2 GG nicht von Art. 79 Abs. 3 GG erfasst sieht, aber – wie auch das BVerfG – klarstellt, dass dies für den Fall von Überschneidungen nicht gilt, sofern der Menschenwürdegehalt des betreffenden Grundrechts beeinträchtigt ist. 614 Siehe aus jüngerer Zeit zur (repressiven) akustischen Wohnraumüberwachung (Art. 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO a.F.) BVerfGE 109, 279 (311 ff.); ferner BVerfGE 30, 1 (25 f.). Siehe zum Menschenwürdekern einzelner Grundrechte (und zu dem Verhältnis zu Art. 19 Abs. 2 GG) auch oben § 10 Fn. 294 f. 615 BVerfGE 109, 279 (314); vgl. ferner BVerfGE 34, 238 (245). 616 BVerfGE 30, 1 ff.
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sei streng und unnachgiebig auszulegen, weil er nicht zuletzt dazu bestimmt sei, „schon den Anfängen zu wehren“617 –, erscheint in Anbetracht der Einführung des großen Lauschangriffs durch die Verfassungsänderung Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr sicher, ob man in dem Ermöglichen des Anbringens von „Geheimmikrofonen“ in Wohnungen (§ 100c StPO) über die (so verstandenen) Anfänge inzwischen nicht schon weit hinausgegangen ist.618, 619 Trotz aller Unwägbarkeiten bleibt es aber, das Konzept des Grundgesetzes hinzunehmen. Die zu schützende, abwägungsfeste, der Menschenwürde entspringende Rechtsposition ist für verschiedene Grundrechte grundsätzlich differenziert zu entwickeln.620 Hierfür ist insbesondere notwendig, den Menschenwürdegehalt der betreffenden Grundrechte zu bestimmen (bzw. zu untersuchen, ob das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG jeweils verletzt ist).621 Allerdings ist durch diese Erkenntnis nicht ausgeschlossen, einige allgemeine Leitlinien zu formulieren. Für solche Leitlinien kann auf die Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Normen zurückgegriffen werden.622 Konstitutive Normen setzen die Bedingungen, die eingehalten werden müssen, um zu einem rechtsgültigen Strafurteil zu gelangen. Sie beschreiben damit eine bestimmte Rolle des Beschuldigten als Teilnehmer am „Spiel“ und damit als Verfahrenssubjekt. Strafprozessuale Maßnahmen berühren diese Rolle immer dann, wenn sie in Ausfüllung konstitutiver Normen vorgenommen werden, wenn sie also nach der hier vertretenen Definition623 Prozesshandlungen sind. Es liegt nahe, bei der ___________ 617
BVerfGE 30, 33 (46 f.). Die Bundesverfassungsrichterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt schlossen ihr Sondervotum zur Entscheidung des BVerfG zum großen Lauschangriff (BVerfGE 109, 279 ff.) denn auch unter sichtlicher Bezugnahme auf das Sondervotum zum Abhörurteil (BVerfGE 30, 33 ff.) mit den Worten: „Umso mehr ist Art. 79 Abs. 3 GG streng und unnachgiebig auszulegen, um heute nicht mehr den Anfängen, sondern einem bitteren Ende zu wehren.“ (BVerfGE 109, 382 [391]). 619 Siehe hierzu auch Schueler, Die Zeit Nr. 13 v. 18.3.1977, S. 1: „Von der Vision [des Minderheitenvotums] bis zum Eintritt der Wirklichkeit sind gerade einmal fünf Jahre vergangen, allein mit dem Unterschied, daß der Verfassungsminister und sein Verfassungsschutz-Präsident gar nicht erst den Gesetzgeber bemühten, ehe sie in eine Bürgerwohnung einbrechen und das Abhörmikrophon dort anbringen ließen.“ (Gemeint ist die Abhöraffäre Traube; zitiert nach Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes [2004], S. 215). 620 Siehe auch Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht (1976), S. 194, auf dessen Versuche, abwägungsfeste Rechtspositionen abstrakt zu bestimmen, sogleich eingegangen wird. 621 Vgl. BVerfGE 109, 279 (312 f.) für Art. 13 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG. 622 Siehe hierzu bereits oben § 5. 623 s.o. § 6 A. 618
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Bestimmung abwägungsfester Positionen auf diese Rolle abzustellen, den Menschenwürdegehalt der jeweils betroffenen Grundrechte v.a. vom Erhalt der Grundbedingungen abhängig zu machen, die die betreffende Rolle ausmachen.624 Das bedeutet, dass der Betroffene eine Umgestaltung oder Uminterpretation seiner Rolle als Verfahrenssubjekt unter Umständen (nämlich vorbehaltlich formaler und materieller Sicherungen des Grundgesetzes) hinzunehmen hat, nicht jedoch eine Preisgabe dieser Subjektstellung. Allerdings ist mit dieser „Formel“ selbst wenig Rechtssicherheit gewonnen, so dass letztlich die entsprechenden Rahmenbedingungen nur kasuistisch entwickelt werden können. Einige Eckpunkte speziell für das Strafverfahren können sein:625 –
die grundsätzliche Achtung der Selbstbelastungsfreiheit;626
–
die grundsätzliche Achtung des rechtlichen Gehörs;627
–
die Unschuldsvermutung;628
–
die grundsätzliche Freiheit, über seine Verteidigung zu disponieren, insbesondere einen Verteidiger heranzuziehen und mit diesem frei zu verkehren.629
Vor diesem Hintergrund ist es verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen, konstitutive Normen des „strafprozessualen Formalismus“ (die Spielregeln der Urteilsgewinnung) zu verändern, soweit die Verfahrenssubjektstellung des jeweils Betroffenen gewahrt bleibt. Soweit es um echte strafprozessuale Grundrechtseingriffe630 (vor allem zur Erhebung von Informationen für das Strafverfahren) geht, steht aber nicht vor___________ 624
Ganz ähnlich (allerdings ohne die hier vertretene normtheoretische Unterscheidung) Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht (1976), S. 194. 625 Vgl. auch die Aufzählung bei Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Art. 1 Rdnr. 36. 626 Siehe BVerfGE 38, 105 (113); 55, 144 (150); 56, 37 (49); 95, 220 (241); BVerfG (Kammer), NStZ 1995, 555; Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 146 ff.; Weigend, ZStW 113 (2001), 271 (293); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 1 Rdnr. 56. 627 Eindringlich BGH, NStZ 1989, 331: Das Recht, sich vor Gericht zu verteidigen gehöre zu den „elementaren Attributen menschlicher Würde“. Ferner m.w.N. Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3 (2005), Art. 103 Rdnr. 4. 628 Jedenfalls soweit die Nichtergebnisoffenheit des Verfahrens eine bestimmte Qualität erreicht (etwa bei reinen Verurteilungsritualen wie Schauprozessen); eingehend hierzu Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung (1998), S. 545 f. m.w.N.; ferner Weigend, ZStW 113 (2001), 271 (291). 629 Die Menschenwürdegarantie (die Rolle des Betroffenen) dürfte jedenfalls insoweit betroffen sein, als das soeben in Fn. 628 erwähnte Maß überschritten ist. Die Einführung der Kontaktsperre (§§ 31 ff. EGGVG) dürfte diese Schwelle noch nicht erreicht haben. 630 Siehe hierzu oben § 3 A.
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nehmlich der Schutz einer Person in einer bestimmten Rolle (also des Beschuldigten als Verfahrenssubjekt), sondern stehen materielle, vom Verfahren logisch unabhängige Interessen im Vordergrund. Demzufolge ist bei der Bestimmung des Menschenwürdegehalts nicht auf die Preisgabe einer Rolle abzustellen, sondern zum einen auf die Eigenart des betreffenden Grundrechts und zum anderen auf die Qualität und Quantität der Beeinträchtigung des Grundrechts. Dabei handelt es sich aber nicht um spezifisch strafverfahrensrechtliche Fragen. Für die Erhebung von Informationen sind insoweit insbesondere zu beachten: –
intime Rückzugssphären des Betroffenen, die staatlichem Zugriff gänzlich versagt sind;631
–
das Verbot von gegen die Menschenwürde verstoßenden Vernehmungsmethoden (vgl. § 136a StPO);632
–
das Verbot, staatlich erhobene Daten zu einem Persönlichkeitsprofil zusammenzufügen.633
Allerdings ist auch insoweit auf das schon oben entwickelte Zusammenspiel zwischen regulativen und konstitutiven Normen Bedacht zu nehmen: Die Verwendung in Ausfüllung regulativer Normen erhobener Informationen bestimmt sich nach (hier sog.) „Transferregeln“, die ihrerseits konstitutiven Charakter haben,634 so dass die Frage, ob die Verwertung von Informationen zum Zwecke der Urteilsfindung abwägungsfeste Rechtspositionen beeinträchtigt, wiederum die Rolle des Beschuldigten als Verfahrenssubjekt betreffen kann.
II. Einzelfragen
Für die wenigen an dieser Stelle anzusprechenden, spezifisch strafverfahrensrechtlich relevanten Einzelfragen ist wiederum zu unterscheiden zwischen der Anwendung des Übermaßverbots im Hinblick auf die zum Eingriff ermächtigende Norm (die strafprozessuale Eingriffsermächtigung) und im Hinblick auf den in das Grundrecht eingreifenden Einzelakt (den strafprozessualen Grundrechtseingriff). ___________ 631 BVerfGE 109, 279 (313 f.) für Art. 13 GG; BVerfGE 113, 348 (390 f.) für Art. 10 GG (i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG); BVerfGE 34, 238 (246); vgl. aber BVerfGE 80, 367 (374 f.) – Tagebuch. Ausführlich hierzu Warntjen, Heimliche Zwangsmaßnahmen und der Kernbereich privater Lebensgestaltung (2007), insbes. S. 73 ff. und S. 132 ff. 632 Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 1 Rdnr. 59 m.w.N.; Wolter, NStZ 1993, 1 (6). 633 BVerfGE 27, 1 (6); 65, 1 (42); 109, 279 (323); 112, 304 (319); Wolter, NStZ 1993, 1 (6). 634 s.o. § 5 B.
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1. Übermaßverbot und strafprozessuale Eingriffsermächtigungen Der Gesetzgeber hat in strafprozessuale Eingriffsermächtigungen verschiedenartige Sicherungen eingebaut, die vornehmlich der Wahrung des Übermaßverbots dienen.635 Dabei handelt es sich um gesetzliche Generalisierungen von Eingriffsbeschränkungen, die das Postulat des BVerfG, strafprozessuale Grundrechtseingriffe müssten in einem angemessenen Verhältnis speziell zur Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen,636 umsetzen. Solche generalisierten Eingriffsbeschränkungen können im Wesentlichen in vier Kategorien eingeteilt werden: 1. Kategorie: Beschränkung der Maßnahme auf bestimmte Stufen des Tatverdachts637 –
Unterkategorie 1: Maßnahmen bei Verdacht (Normalfall)
–
Unterkategorie 2: Maßnahmen bei dringendem Tatverdacht (Ausnahmefall)
2. Kategorie: Beschränkung der Maßnahmen auf den Verdacht bestimmter Straftaten –
Unterkategorie 1: Verdacht jeglicher Straftat (Normalfall)
–
Unterkategorie 2: Verdacht einer Straftat von erheblicher Bedeutung (Ausnahmefall)
–
Unterkategorie 3: Verdacht einer Katalogstraftat (Ausnahmefall)638
–
Sonderfall von Unterkategorie 2 oder 3: Die Tat muss auch im Einzelfall schwer (§§ 100a Abs. 1 Nr. 2, 100f Abs. 1, 100g Abs. 1 Nr. 1, 100i Abs. 1 StPO) oder besonders schwer wiegen (§ 100c Abs. 1 Nr. 2 StPO)
3. Kategorie: Subsidiaritätsklauseln für die Anwendung bestimmter Maßnahmen –
Unterkategorie 1: „einfache Subsidiaritätsklauseln“639 (z.B. § 100h Abs. 1 S. 1 StPO: „Erforschung des Sachverhalts […] auf andere Weise weniger erfolgversprechend oder erschwert“)
___________ 635
Daneben dienen solche Beschränkungen auch dem Bestimmtheitsgebot, siehe zu diesem oben C. 636 Siehe nur aus jüngerer Zeit BVerfGE 94, 44 (51). 637 Zu Maßnahmen gegen Unverdächtige sogleich im Text. 638 Vgl. zur „Formalisierung von Verhältnismäßigkeitsbedingungen durch Katalogtatensysteme“ Niehaus, Katalogtatensysteme als Beschränkungen strafprozessualer Eingriffsbefugnisse (2001), S. 189 ff.; ferner Welp, Überwachung und Kontrolle (2000), S. 89.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
–
Unterkategorie 2: „qualifizierte Subsidiaritätsklauseln“ (z.B. § 98a Abs. 1 S. 2 StPO: „Erforschung des Sachverhalts […] auf andere Weise erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert“)
–
Unterkategorie 3: „strenge Subsidiaritätsklauseln“ (z.B. § 100c Abs. 1 Nr. 4 StPO: „Erforschung des Sachverhaltes […] auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos […]“)
4. Kategorie: begrenzende Beschreibung des Ziels der Maßnahme über das Maß der hier vorgenommenen groben Einteilung echter strafprozessualer Grundrechtseingriffe640 hinaus (Bsp.: Abgleich personenbezogener Daten nach § 98a StPO nur, um Nichtverdächtige auszuschließen oder Personen festzustellen, die weitere für die Ermittlungen bedeutsame Prüfungsmerkmale erfüllen). Diese verschiedenartigen Sicherungen sind Ausdruck verschiedener Aspekte des Übermaßverbotes. Während Mechanismus 4 Ausdruck des Erforderlichkeitsgrundsatzes ist, sind die anderen aufgeführten Mechanismen Ausdruck des Angemessenheitserfordernisses.641 Nicht alle Mechanismen zur Sicherung vor unverhältnismäßiger Belastung mit staatlichen Maßnahmen können aber in solche Kategorien eingeteilt werden. Vielmehr ist die Anwendung der Rechtsfolge in vielen Fällen durch weitere einengende Tatbestandsmerkmale begrenzt. Die Frage, in welchen Konstellationen welcher Sicherungsmechanismus verfassungsrechtlich gefordert ist, kann naturgemäß nicht allgemein beantwortet werden, sondern hängt – neben der Beachtung eines gewissen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers – davon ab, welche Prinzipien in welcher Weise miteinander kollidieren. Teilweise gibt das Grundgesetz Anhaltspunkte bzw. Mindestanforderungen zur Regelung der Prinzipienkollision, wie es etwa in Art. 13 Abs. 3 GG geschehen ist.642 Ist dies nicht der Fall, ist auf die schon oben genannte643 Abwägungsregel abzustellen: Je höher der Grad der Beeinträchtigung eines Prinzips ist, umso wichtiger muss die Erfüllung des kollidierenden Prinzips sein.
___________ 639
Terminologie nach Nack, in: KK-StPO (2003), § 100c Rdnr. 6; Gercke, Bewegungsprofile anhand von Mobilfunkdaten im Strafverfahren (2002), S. 134 f. 640 s.o. § 3 A. 641 Dies gilt im Wesentlichen auch für Kategorie 3, die im Regelfall nicht dem Erforderlichkeitskriterium zuzuordnen sein wird, da dieses nur voraussetzt, dass andere Maßnahmen bei gleicher Eignung nicht weniger tief in Grundrechte des Betroffenen eingreifen dürfen. Auf die gleiche Eignung stellt der Mechanismus aber nicht ab; er fordert vielmehr, auch dann weniger tief belastende Maßnahmen zu ergreifen, wenn diese zwar nicht gleich wirksam sind, aber doch (bis zur Grenze der unverhältnismäßigen Erschwernis) zielführend sind. 642 Vgl. zur Umsetzung durch § 100c StPO a.F. BVerfGE 109, 279 (315 ff.). 643 s.o. I.3.a).
§ 11 Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
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Besonders eingegangen sei auf den Teilaspekt der Inanspruchnahme Nichtverdächtiger. Die StPO verwendet den Tatverdacht in der Regel nicht als „personales Zurechnungskriterium“ (i.S. einer ausschließlichen Inanspruchnahme des Verdächtigen),644 sondern nimmt vornehmlich darauf Bedacht, ob eine Maßnahme im Hinblick auf die (legitimen) Zwecke strafprozessualer Grundrechtseingriffe zielführend ist.645 So geht es bspw. bei § 94 StPO um die Eignung von Gegenständen als Beweismittel unabhängig davon, ob sie sich im Gewahrsam des Beschuldigten oder eines Dritten befinden. Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen stellen aber teilweise auch auf den Verdacht in der Person des Betroffenen ab. Diese Beschränkung des Adressatenkreises beruht dabei vor allem auf einer Orientierung am Zweck der betreffenden Maßnahme.646 Diese Arten von Beschränkungen können in zwei Gruppen eingeteilt werden: Bei der ersten Gruppe handelt es sich um Maßnahmen, deren Beschränkung auf die Person des Beschuldigten sich letztlich aus der Natur der Sache ergibt: Maßnahmen zur Vollstreckungssicherung647 müssen nahezu zwangsläufig an der Person des Beschuldigten ansetzen, denn es gilt, die Vollstreckung gegen ihn selbst zu sichern. Auch bei Maßnahmen zur Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten im Strafverfahren648 liegt die Beschränkung des Betroffenenkreises in der Natur der Sache. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um Maßnahmen zur Sachverhaltserforschung und Beweissicherung, bei denen die Beschränkung auf die Person des Beschuldigten zwar nicht mit der gleichen Zwangsläufigkeit, aber ebenfalls aus Gründen erfolgt, die sich am Ziel der Maßnahme orientieren. So fordert die Inanspruchnahme Dritter bei bestimmten Beweissicherungsmaßnahmen erhöhte tatbestandliche Voraussetzungen, um die Orientierung am Maßnahmeziel sicherzustellen (vgl. etwa die körperliche Untersuchung [§ 81c StPO], die Telefonüberwachung [§ 100a Abs. 1 StPO] oder die Durchsuchung in Räumen Nichtbeschuldigter [§ 103 StPO]). Solche Beschränkungen dürften hingegen nicht als Ausdruck besonderer Zu___________ 644 Insbesondere kann der Tatverdacht keine Parallele zur polizeirechtlichen „Störerhaftung“ begründen. Sie hierzu näher § 17 A. 645 Die Sonderfälle (strafprozessuale Grundrechtseingriffe, die präventive Ziele verfolgen) bleiben hier ausgeblendet. 646 Ob aus der Unschuldsvermutung abgeleitet werden kann, der Beschuldigte dürfe aufgrund von Zurechnungserwägungen nicht gegenüber Nichtverdächtigen benachteiligt werden, ist streitig; siehe einerseits Frister, Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts (1986), S. 109 ff., andererseits Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung (1998), S. 557. Das kann allerdings auf sich beruhen, weil die Erwägung, man dürfe dem Beschuldigten mehr aufbürden, als einer Person, gegen die sich das Strafverfahren nicht richtet, im Wesentlichen nur als „Nebengrund“ mitschwingt; vgl. aber die andere Akzentuierung bei Stein, in: Festschrift für Grünwald (1999), S. 685 (690 ff., insbes. 705). 647 s.o. § 3 A.II. 648 Siehe hierzu oben § 3 C.I.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
rückhaltung vor dem Eingriff in Rechte Dritter verstanden werden, sondern eher eine Sicherung dafür darstellen, dass die Maßnahme die mit dem Übermaßverbot zu sichernden Zweck-Mittel-Relation wahrt. Die Beschränkungen erscheinen damit vornehmlich als Ausfluss des Angemessenheitserfordernisses. Der Gesetzgeber hat damit gleichzeitig eine Prognose für die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Maßnahme gegen Nichtverdächtige aufgestellt, an die die Strafverfolgungsbehörden gebunden sind.649 Er geht dabei stark typisierend vor.650
2. Übermaßverbot und strafprozessuale Grundrechtseingriffe Auch unabhängig von der Gestaltung strafprozessualer Eingriffsermächtigungen haben Strafverfolgungsbehörde und Gericht sowohl auf Tatbestandsals auch auf Rechtsfolgenseite das Übermaßverbot zu berücksichtigen. Auf Tatbestandsseite sind die unter 1. aufgeführten Sicherungsmechanismen des Gesetzestextes unter der Berücksichtigung des Übermaßverbots auszulegen und anzuwenden. Auf Rechtsfolgenseite ist das Übermaßverbot bei Ausübung ihres Ermessens, strafprozessuale Grundrechtseingriffe anzuordnen, zu berücksichtigen. Zwei nachfolgend zu behandelnde Fragen sind von herausgehobenem Interesse: die Kumulation mehrerer (heimlicher) Ermittlungsmaßnahmen und das Erfordernis, auf einvernehmliches Handeln mit dem Betroffenen hinzuwirken.
a) Kumulative Anordnung strafprozessualer Grundrechtseingriffe Viele Eingriffsermächtigungen der StPO sind darauf ausgelegt, über den Betroffenen heimlich Informationen zu erheben.651 Es ist denkbar, dass solche (für sich genommen jeweils zulässigen) Maßnahmen derart miteinander kombiniert werden können, dass die Erstellung eines nahezu lückenlosen Profils ermöglicht wird. Es entspricht inzwischen ganz h.M., dass eine solche „Rundumüberwachung“ (unter Erstellung lückenloser Bewegungs- bzw. Persönlichkeitsprofile) in unangemessener Weise in das Grundrecht auf informationelle
___________ 649 In diesem Sinne auch Frister, Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts (1986), S. 111 ff. (insbes. S. 114 f.). 650 Kritisch im Hinblick auf die Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) und die körperliche Untersuchung (§§ 81a, 81c StPO) allerdings Stein, in: Festschrift für Grünwald (1999), S. 685 (690 ff). 651 Zu Rechtsschutzaspekten bei heimlichen Eingriffen siehe § 13 D.
§ 11 Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
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Selbstbestimmung eingriffe.652 Zur Vermeidung dieses Zustandes sind die Tatbestände der Normen – insbesondere die verschiedenen Subsidiaritätsklauseln653 – unter Berücksichtigung der Anforderungen des Übermaßverbots auszulegen. Gegebenenfalls ist das Übermaßverbot auch auf Rechtsfolgenseite als Ermessensgrenze zu berücksichtigen.654 Diese Kumulation von Ermittlungsmaßnahmen hat zwar nicht zur Folge, dass sie als solche einem besonderen Richtervorbehalt unterliegen würde.655 Allerdings können die o.g. Anforderungen nur eingehalten werden, wenn die (jeweils) beantragende bzw. anordnende Staatsanwaltschaft über alle Ermittlungsmaßnahmen informiert ist und die Ermittlungsmaßnahmen aktenkundig dokumentiert sind.656 Diese Anforderung an verfahrensrechtliche Sicherungen ergibt sich damit unmittelbar aus dem Übermaßverbot.
b) Hinwirken auf einvernehmliches Handeln Nicht nur für die Anordnung strafprozessualer Grundrechtseingriffe, sondern auch für den Vollzug solcher Anordnungen oder des Gesetzes (für den unmittelbaren Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut also) ist das Übermaßverbot zu beachten. Die Strafverfolgungsbehörden haben mit den Rechtsgütern des Betroffenen schonend umzugehen. Wird der Zweck der Maßnahme durch einvernehmliches Handeln mit dem Betroffenen in ausreichender Weise erreicht, verstieße der gewaltsame Vollzug gegen das Übermaßverbot (und dabei im Wesentlichen gegen den Grundsatz der Erforderlichkeit).657, 658 Die Straf___________ 652
Ausdrücklich in Bezug auf die hier interessierende Fragestellung BVerfGE 112, 304 (319); ferner BVerfGE 65, 1 (42 f.); 109, 279 (323); angedeutet auch bereits von BGHSt 46, 266 (277 f.); vgl. auch Puschke, Die kumulative Anordnung von Informationsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung (2006), S. 81 ff., und eingehend Kirchhof, NJW 2006, 732 (734 ff.). 653 Siehe im Einzelnen Gercke, Bewegungsprofile anhand von Mobilfunkdaten im Strafverfahren (2002), S. 134 ff. 654 So in der Sache auch BGHSt 46, 266 (277 f.), gehalten von BVerfGE 112, 304 ff. Kritisch zur Abwägung des BGH (bzw. des vorbefassten OLG Düsseldorf) im konkreten Einzelfall allerdings Gusy, StV 1998, 526 (527); Bernsmann, StV 2001, 382 (385); Comes, StV 1998, 569 (570 f.); zustimmend hingegen Steinmetz, NStZ 2001, 344 (345). 655 BVerfGE 112, 304 (318 ff.); BGHSt 46, 266 (277); Steinmetz, NStZ 2001, 344 (345); de lege lata auch Gercke, Bewegungsprofile anhand von Mobilfunkdaten im Strafverfahren (2002), S. 139; offen Gusy, StV 1998, 526 (527); Bernsmann, StV 2001, 382 (385) hält die Frage angesichts des Richtervorbehalts in § 163f StPO n.F. für erledigt. 656 So zu Recht BVerfGE 112, 304 (320). 657 Siehe hierzu Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981), S. 105 ff. (insbes. 106), der insoweit von „eingriffsmildernder“ (die „Nebenfolgen vermeidende“) Einwilligung spricht; ausführlich auch ders., in: Fest-
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
verfolgungsbehörden haben also grundsätzlich – nämlich dort, wo es zu einer „Konfrontation“ mit dem Betroffenen kommt659 – auf einvernehmliches Handeln hinzuwirken, mit dem der Betroffene die Nebenwirkungen staatlicher Zwangshandlungen vermeiden oder abmildern kann.660 Beispielsweise kann durch die Herausgabe der gesuchten Gegenstände661 (eventuell gar eine bloße Auskunft) eine Haussuchung oder durch das Hereinlassen in die Wohnung das Eintreten der Tür abgewendet werden.662 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass in diesen Fällen – anders als etwa bei der Einwilligung663 – die tatbestandlichen Voraussetzungen der Eingriffsermächtigung vorliegen müssen. Auf der anderen Seite kann an die Einvernehmlichkeit des Handelns auf Seiten des Betroffenen auch nicht die strengen Anforderungen an die Freiwilligkeit gestellt werden, die die eingriffsausschließende Einwilligung erfordert.664 Denn es liegt auf der Hand, dass der Betroffene hier keine in jenem engen Sinn autonome Entscheidung treffen kann, da die Verweigerung seiner einvernehmlichen Mitwirkung regelmäßig mit einem Nachteil in Form eines intensiveren Eingriffs in seine grundrechtlich geschützten Rechtsgüter gekoppelt ist. In dieser Kopplung liegt ja gerade der Sinn des Vorgehens; sie ist durch die Ermächtigung zu dem betreffenden Grundrechtseingriff hinreichend legitimiert. Deshalb ist die Freiwilligkeit der Herausgabe nach § 94 Abs. 2 StPO nicht an dem für die Freiwil-
___________ schrift für Badura (2004), S. 3 (18 ff.); Rudolphi, in: SK-StPO (1994), vor § 94 Rdnr. 56/63. 658 Der in diesem Zusammenhang auch verwendete Terminus „Bekanntgabe“ (Amelung, in: Festschrift für Badura [2004], S. 3 [17 ff.]) wird hier einerseits vermieden, um Verwechslungen mit dem Themenbereich der Bekanntgabe von Entscheidungen zu vermeiden. Andererseits genügt die bloße Bekanntgabe der Maßnahme den Voraussetzungen des Übermaßverbots nicht; der Amtsträger muss dem Betroffenen vielmehr – soweit tunlich – die Möglichkeit zur Kooperation einräumen, wenn dies dessen Rechtsgüter schont. 659 Ausgenommen sind damit von vornherein heimliche Ermittlungsmaßnahmen. 660 Vgl. zur „Vorherigkeit der sprachlichen vor der körperlichen Gewalt“ schon oben § 7 A.I. Dabei handelt es sich aber um verwaltungsvollstreckungsrechtliche Termini; im Kontext strafprozessualer Grundrechtseingriffe (jedenfalls gegen den Beschuldigten) ist es vor dem Hintergrund des nemo-tenetur-Grundsatzes hingegen problematisch, von staatlichen Befehlen zu sprechen. 661 Gleiches gilt für die Herausgabe bloßer Kopien von Urkunden, wenn die Strafverfolgungsbehörden nicht auf Originale angewiesen sind oder zumindest die Einräumung der Möglichkeit zur Erstellung von Kopien für den Betroffenen. Vgl. aber für die (zu verneinende) Frage, ob ein Anspruch auf Ersatz der Kopierkosten besteht § 17 F. 662 Siehe hierzu aber oben § 11 A.V. (Begleiteingriff nach der hier vertretenen Auffassung nicht von der Eingriffsermächtigung gedeckt). 663 s.o. § 10 B.IV. 664 s.o. § 10 B.V.3.
§ 12 Öffentlich-rechtlicher Abwehranspruch
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ligkeit der Einwilligung entwickelten Maßstab665 zu messen. Die Vorschrift ist vielmehr (bloße) Ausprägung des Übermaßverbots. § 12 Öffentlich-rechtlicher Abwehranspruch
§ 12 Konsequenz des verfassungswidrigen Grundrechtseingriffs: Öffentlich-rechtlicher Abwehranspruch Sind strafprozessuale Grundrechtseingriffe verfassungswidrig, stellt sich die Frage nach den jeweiligen Folgen. Während auf staatshaftungs- und strafrechtliche Folgen im Verlauf der Arbeit zurückzukommen sein wird,666 soll hier vor allem davon die Rede sein, was mit den Informationen geschieht, die die Strafverfolgungsbehörden mittels rechtswidriger Maßnahmen erhoben haben. Es stellt sich die Frage, ob der allgemein anerkannte öffentlich-rechtliche Abwehranspruch ein geeignetes Instrument für den Betroffenen darstellt, solche Informationen aus dem Strafverfahren herauszuhalten. Dieses Problem ist auf zwei verschiedenen Ebenen angesiedelt, die freilich nicht ohne Einfluss aufeinander sind. Zum einen kann der Betroffene versuchen, schon im Vorfeld des eigentlichen Prozesses durch die Inanspruchnahme von Rechtsschutz gegen den strafprozessualen Grundrechtseingriff (d.h. in einem „Nebenprozess“) die Herrschaft über die betreffenden Informationen zurückzuerlangen, etwa indem bestimmte Gegenstände herausverlangt oder die Löschung von Informationen begehrt wird. Dieser Aspekt wird einstweilen ausgeblendet und im Zusammenhang mit dem Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe dargestellt.667 Im Vordergrund soll vielmehr zunächst die Frage stehen, inwieweit der „Abwehrgedanke“ überhaupt auf die Situation des Strafverfahrens übertragbar ist (unter A.) und unter welchen Voraussetzungen ein Abwehranspruch gegeben ist (B.). Dies öffnet zugleich den Blick für eine zweite Ebene des Problems: Der Abwehranspruch kann nämlich nicht nur für den angesprochenen „Nebenprozess“ von Bedeutung sein, sondern sich auch auf der „innerprozessualen Ebene“, d.h. im eigentlichen Strafverfahren fortsetzen und dort unter bestimmten Umständen zu einem Beweisverwertungsverbot führen (C.).
A. Übertragbarkeit des „Abwehrgedankens“ auf die Prozesssituation Öffentlich-rechtliche Abwehransprüche treten in zwei verschiedenen Ausprägungen auf. Der Abwehranspruch bildet den Oberbegriff, der alle Ansprü___________ 665
s.o. § 10 B.V.3. Siehe Teil 3 (§§ 15 ff.). 667 Siehe hierzu § 14 D. Die folgenden Ausführungen sind auf einen solchen Anspruch allerdings übertragbar. 666
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
che umfasst, die sich gegen rechtswidrige Beeinträchtigungen durch den Staat richten.668 Unter diesem Oberbegriff werden herkömmlich Unterlassungsansprüche, die auf die Verhinderung künftiger Eingriffe gerichtet sind, und (Folgen-)Beseitigungsansprüche, die auf Beseitigung der Folgen bereits eingetretener Beeinträchtigungen gerichtet sind, unterschieden.669 Trotz allen Streits um Rechtsgrund und Umfang öffentlich-rechtlicher Abwehransprüche670 darf doch inzwischen als gesichert gelten, dass ein verfassungswidriger Grundrechtseingriff einen in die Zukunft gerichteten Abwehranspruch des betroffenen Bürgers auslösen kann.671 Das kann auch für strafprozessuale Grundrechtseingriffe nicht anders sein.672 Der Streit um die normative Verortung des öffentlich-rechtlichen Abwehranspruchs muss dabei nicht in allen Einzelheiten nachgezeichnet werden.673 Es liegt aber nahe, zur Herleitung des Abwehranspruchs direkt auf die Abwehrfunktion der Grundrechte Bezug zu nehmen, gegebenenfalls flankierend das Rechtsstaatsprinzip heranzuziehen.674 Diese Ansprüche sind für den Betroffenen vor allem dann von Interesse, wenn sein grundrechtlicher „Primäranspruch“, der darauf gerichtet ist, dass sich Hoheitsträger verfassungswidriger Grundrechtseingriffe enthalten, verletzt worden ist. Man kann deshalb von „Sekundärrechten“ sprechen.675 Diese Ebene des „Sekundärrechtsschutzes“ kann für strafprozessuale Grundrechtseingriffe eine größere Bedeutung haben, als etwa die „bloße“ Aufhebung oder Feststel___________ 668
Vgl. Laubinger, VerwArch 80 (1989), 261 (299); ähnlich zur Terminologie Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 292. 669 Vgl. zu dem „übergreifenden Grundgedanken“ eines umfassenden grundrechtlichen Schutzanspruchs Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 286. 670 Siehe hierzu nur Schoch, VerwArch 79 (1988), 1 ff.; Laubinger, VerwArch 80 (1989), 261 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 293 ff.; Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht (1994), S. 26 ff.; Brugger, JuS 1999, 625 (627 ff.). 671 Neben den soeben in Fn. 670 Genannten Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1 (1988), S. 671 ff. („Hilfsrechte der grundrechtlichen Abwehrrechte“). 672 Vgl. hierzu auch Labe, Zufallsfund und Restitutionsprinzip im Strafverfahren (1990), S. 209 ff. 673 Siehe hierzu die soeben in Fn. 670 Genannten. 674 Siehe etwa OVG Münster, NVwZ 1984, 530; OVG Koblenz, NJW 1986, 953 f.; ausführlich und jeweils m.w.N. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1 (1988), S. 671 ff.; Schoch, VerwArch 79 (1988), 1 (34 ff.); Baumeister, Der Beseitigungsanspruch als Fehlerfolge des rechtswidrigen Verwaltungsaktes (2006), S. 27 ff.; für eine analoge Anwendung von § 1004 BGB hingegen Laubinger, VerwArch 80 (1989), 261 (292); offen gelassen von BVerwG, NJW 1988, 2396 f. 675 Zwingend ist der Gedanke des „Sekundärrechts“ indes nicht. Beispielsweise kann ein Unterlassungsanspruch (als ein Unterfall des Abwehranspruchs) auch dann gegeben sein, wenn noch gar kein rechtswidriger Eingriff stattgefunden hat, ein solcher aber ernstlich droht. In diesem Fall entspricht der Unterlassungsanspruch dem primären Recht, von verfassungswidrigen hoheitlichen Eingriffen verschont zu bleiben.
§ 12 Öffentlich-rechtlicher Abwehranspruch
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lung der Rechtswidrigkeit strafprozessualer Grundrechtseingriffe. Denn zumindest wenn es zu einem gerichtlichen Verfahren kommt, muss dem Betroffenen daran gelegen sein, Informationen aus diesem Verfahren herauszuhalten, die das Resultat eines verfassungswidrigen Eingriffs in seine Grundrechte sind. Angesprochen ist damit die Frage, ob sog. unselbständige Verwertungsverbote – also Verwertungsverbote, die auf Normverletzungen reagieren – zumindest teilweise verfassungsrechtlich determiniert sind.676 Resultieren aus einem verfassungswidrigen Grundrechtseingriff Beweismittel, also Informationen – und das ist ja Sinn und Zweck der strafprozessualen Grundrechtseingriffe zur Sachverhaltsaufklärung und Beweissicherung –, steht das Problem, wie sich der erwähnte Abwehranspruch des Bürgers zu solchen Informationen verhält. Gegebenenfalls hat der Betroffene einen Anspruch darauf, dass Beweismittel herausgegeben und Informationen aus dem Prozess herausgehalten werden. Wie ein solcher etwaiger Anspruch genau wirkt, also in das Strafverfahren eingebettet ist, betrifft die innerprozessualen Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe und ist damit nicht der Untersuchungsgegenstand der Arbeit. Allerdings stellt sich doch auch an dieser Stelle die Frage, inwieweit sich die Dogmatik des verfassungsrechtlich determinierten Abwehranspruchs auf die Prozesssituation überhaupt übertragen lässt. Im Hinblick auf die Rechtsfolge erscheint eine Übertragung sowohl des Unterlassungs- als auch des Folgenbeseitigungsanspruchs grundsätzlich denkbar. Man kann zunächst erwägen, die Unterlassung der Verwertung als maßgebliches Ziel des Abwehranspruchs anzusehen und damit auf den Unterlassungsanspruch abzustellen.677 Dieser Ansatz ist indes ungeeignet, setzt er doch voraus, was er eigentlich herleiten will. Gegenstand des Unterlassungsanspruchs ist ein konkreter rechtswidriger hoheitlicher (Grundrechts-)Eingriff. Soll Rechtsfolge des Anspruchs das Unterlassen der Verwertung bestimmter Informationen sein, so ist das zwar grundsätzlich denkbar, da auch die Verwertung erhobener Informationen einen Grundrechtseingriff darstellt.678 Allerdings setzte ein Unterlassungsanspruch voraus, dass dieser „Verwertungseingriff“ seinerseits rechtswidrig ist. Auch dies erscheint denkbar, allerdings ist damit offenbar, dass der Gedanke des öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs nicht geeignet sein kann, die Rechtswidrigkeit der Verwertung selbst zu begründen. ___________ 676 Eine solche subjektiv-rechtliche Begründung ist hingegen nicht geeignet, alleinige Grundlage einer Lehre von den Verwertungsverboten zu sein, sondern kann nur andere Prinzipien ergänzen. Vgl. hierzu ausf. Amelung, in: Gedächtnisschrift für Schlüchter (2002), S. 417 (419 ff.). 677 So Störmer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote (1992), S. 223 ff. 678 Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 64 m.w.N.; Müssig, GA 1999, 119 (124); Störmer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote (1992), S. 63 ff. (insbesondere S. 69).
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
Das Vorhalten der gewonnenen Informationen kann aber als „rechtswidriger Zustand“ angesehen werden, dessen Beseitigung Gegenstand eines Folgenbeseitigungsanspruchs ist.679 Führt die Verletzung eines Grundrechts680 dazu, dass Informationen erhoben worden sind, auf deren Erhebung die Strafverfolgungsbehörden keinen Anspruch gehabt haben, so entsteht ein „informationelles Ungleichgewicht“, dessen Beseitigung der Betroffene verlangen kann.681 Bei einer solchen Folgenbeseitigung handelt es sich aber eher um einen kognitiven Akt, denn um die Vornahme tatsächlich beseitigender Akte.
B. Voraussetzungen und Grenzen des Abwehranspruchs I. Verletzung eines subjektiven Rechts durch hoheitliches Handeln
Voraussetzung des Abwehranspruchs in der unter A. entwickelten Prägung ist zunächst die Verletzung eines subjektiven Rechts durch hoheitliches Handeln.682 Jeder verfassungswidrige strafprozessuale Grundrechtseingriff kann demnach grundsätzlich einen solchen Abwehranspruch auslösen. Keine Besonderheiten gelten insoweit für den Vollzug richterlicher Anordnungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe. Zwar kann der Vollzugsakt als solcher auch dann rechtmäßig sein, wenn die richterliche Gestattung ihrerseits rechtswidrig ist.683 Dies ändert aber nichts daran, dass der aus dem Eingriff resultierende Erfolg das Schicksal seiner richterlichen Gestattung teilt. Das ist auch im Eingriffsverwaltungsrecht nicht anders: Der sofortige Vollzug eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes kann für sich genommen rechtmäßig sein (vgl. § 6 Abs. 1 VwVG [Bund]). Davon unberührt ist aber, dass ein solcher Vollzug zu einem rechtswidrigen Erfolg führt, der Gegenstand eines Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruchs i.S.v. § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO sein kann.684 Etwas anderes gilt im ___________ 679 So vor allem Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 38 ff.; zustimmend auch Eisenberg, Beweisrecht der StPO (2006), Rdnr. 370. 680 Zur Frage, ob das für alle Grundrechte zutrifft, sogleich unter B.III. 681 In den Worten Amelungs, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 38: „informationeller Folgenbeseitigungsanspruch“. In diese Richtung auch das BVerfG in seiner Entscheidung zum großen Lauschangriff: „Wird dieses Verbot verletzt oder greift eine Maßnahme unerwartet in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung ein, muss sie abgebrochen werden, und es muss durch Löschungspflichten und Verwertungsverbote vorgesorgt sein, dass die Folgen beseitigt werden.“ (BVerfGE 109, 279 [328]; Hervorhebungen nur hier). 682 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 30 Rdnr. 7 ff.; Bumke, JuS 2005, 22; Schoch, VerwArch 79 (1988), 1 (38). 683 s.o. § 8 B. 684 So jedenfalls die überzeugende Auffassung, nach der der Vollzug eines Verwaltungsaktes nicht zur Erledigung desselben führt, wenn ein Folgenbeseitigungsanspruch im Raum steht, da die Aufhebung des Verwaltungsaktes in diesem Fall nicht sinnlos ist:
§ 12 Öffentlich-rechtlicher Abwehranspruch
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Verwaltungsrecht zwar, wenn die Vollstreckungsgrundlage Verwaltungsakt bestandskräftig geworden ist.685 Allerdings handelt es sich hierbei um eine – sich eben aus dem Rechtsinstitut der Bestandskraft ergebende – Besonderheit des Verwaltungsrechts. Diese Besonderheit ist auf das Strafverfahrensrecht aber nicht übertragbar, denn die richterliche Gestattung eines strafprozessualen Grundrechtseingriffs ist der Bestands- oder Rechtskraft nicht fähig.686 Entscheidend ist also, ob der grundrechtliche Status rechtswidrig verändert worden ist und deshalb wiederhergestellt werden muss.687
II. Rechtswidriger Zustand
Der Folgenbeseitigungsanspruch verlangt über den rechtswidrigen Eingriff in ein subjektives Recht hinaus, dass ein rechtswidriger Zustand entsteht, der jeweils fortbesteht.688 Ein solcher Zustand kann nach dem unter A. Ausgeführten auch darin liegen, dass aus einem (verfassungswidrigen) Eingriff in ein Grundrecht Informationen resultieren, die in die Ermittlungsakten der Strafverfolgungsbehörden bzw. Gerichte gelangen („informationelles Ungleichgewicht“). Dabei ergeben sich für einen Folgenbeseitigungsanspruch zwei mögliche Grenzen: Zum einen folgt nicht aus jeder Grundrechtsposition ein Abwehranspruch im Hinblick auf die aus der Verletzung des Grundrechts resultierenden Informationen (III.). Zum anderen stellt sich die Frage, ob ein solches „informationelles Ungleichgewicht“ durch bloßes Handlungsunrecht entstehen kann oder hierfür Erfolgsunrecht Voraussetzung ist (IV.).
III. Verletzung von Grundrechten als informationellen Abwehrrechten („Informationsbeherrschungsrechten“)
Grundgedanke des hier verfolgten Ansatzes ist es, dass dem Betroffenen (Grund-)Rechte zustehen, bestimmte Informationen vor dem Staat zurückzuhalten („Informationsbeherrschungsrechte“689). Ein „informationelles Ungleich___________ Kopp/Schenke, VwGO (2005), § 113 Rdnr. 85 m. Nachw. auch zur Gegenauffassung. Aber auch wenn man nicht den Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch als einschlägig sieht, wäre doch der allgemeine Folgenbeseitigungsanspruch unstreitig gegeben. 685 BVerwGE 28, 155 (163); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 30 Rdnr. 10. 686 Trepper, Zur Rechtskraft strafprozessualer Beschlüsse (1996), S. 74 m.w.N.; Weidemann, Die Stellung der Beschwerde im funktionalen Zusammenhang der Rechtsmittel des Strafprozesses (1999), S. 79. 687 So allgemein Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 313. 688 Bumke, JuS 2005, 22 m.w.N. 689 Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990).
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
gewicht“ kann demnach nur entstehen, soweit Grundrechte als informationelle Abwehrrechte690 verletzt worden sind. Es kommt also darauf an, ob der aus dem Grundrecht resultierende Abwehranspruch tatsächlich darauf gerichtet ist, bestimmte Informationen aus dem Bereich der Hoheitsgewalt herauszuhalten. Ob dies der Fall ist, ist eine Frage der Auslegung des jeweiligen grundrechtlichen Schutzgutes.691 Eine solche Schutzrichtung ist für folgende materielle Grundrechte bzw. grundrechtlichen Schutzgüter inzwischen weitgehend anerkannt: –
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG);692
–
grundrechtlich geschützte Geheimsphären, wie das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG)693 sowie das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG);694
–
Geheimhaltungsinteressen, die für die ungestörte Berufsausübung relevant sind (Schutz berufsbezogener Vertrauensverhältnisse),695 die ihre Grundlage i.d.R. in Art. 12 GG haben.
Für zwei weitere grundrechtliche Schutzgüter ist eine informationelle Abwehrrichtung weniger eindeutig, wird aber gleichwohl erwogen. Es handelt sich dabei um das für das Strafverfahren bedeutende Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG)696 sowie das Eigentumsgrundrecht (Art. 14 GG)697. Im Hinblick auf das Eigentumsgrundrecht stellt sich die Frage vor allem für Informationen, die aus Beschlagnahmen resultieren (siehe §§ 94 ff. ___________ 690
Zu diesem Begriff Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 42. Vgl. dazu die ausführlichen Darstellungen von Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 42 ff.; Schmitt Gläser, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI (2001), § 129 („Schutz der Privatsphäre“); siehe auch Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 33 ff. 692 Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 35; Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 71 ff. 693 Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 33; Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 43 ff. 694 Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 33; Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 50 ff. 695 Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 36; etwas anders Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 87 ff.: berufsbezogene Vertrauensverhältnisse als Verbindungen von Grundrecht und Verfahrensgarantie. 696 Zum Charakter als informationelles Abwehrrecht insbesondere Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 34. 697 Zu diesem ausführlich Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 78 ff.; Störmer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote (1992), S. 210; ferner Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 34; zurückhaltender aber inzwischen ders., in: Festschrift für Bemmann (1997), S. 505 (506); ders., in: Festschrift für Roxin (2001), S. 1259 (1260). 691
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StPO). Art. 14 GG schützt vor staatlichem Zugriff auf Sachen, unabhängig davon, ob diese Sachen Träger von Informationen sind oder nicht. Da das Eigentumsgrundrecht grundsätzlich auch die Befugnis schützen kann, eine Sache in einer bestimmten Weise zu nutzen,698 erscheint es vorderhand plausibel, dass es auch die Freiheit schützt, den Staat von Information auszuschließen, die durch die Sache verkörpert werden.699 Dem ist allerdings nicht so. Denn nach der Systematik der Freiheitsgrundrechte des Grundgesetzes führt die enge Beziehung des Eigentums zur persönlichen Freiheit dazu, dass „die Nutzung des Eigentumsobjekts nicht als Eigentumsnutzung erscheint, sondern als Freiheitsausübung schlechthin“ angesehen wird.700 Sie unterfällt damit nicht dem Eigentumsgrundrecht, sondern dem jeweils einschlägigen Freiheitsgrundrecht (z.B. der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG).701 Im Hinblick darauf wird man sagen müssen, dass sich die Freiheit, den Staat von Informationen auszuschließen, die in Schutzgütern des Art. 14 GG verkörpert sind, nicht aus jenem Grundrecht, sondern dem insoweit spezielleren Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) ergibt.702 Daraus folgt aber zugleich, dass es in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG ein informationelles Abwehrrecht gibt, das die Interessen des Eigentümers schützt, dem Staat Informationen vorzuenthalten, die in Schutzgütern des Art. 14 GG verkörpert sind. Es handelt sich daher nicht um die Frage nach dem „Ob“, sondern nur um die Frage nach dem „Wie“ des grundrechtlichen Schutzes. Entsprechendes gilt auch für das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit sowie das Grundrecht auf Berufsfreiheit, zumindest soweit die Erhebung berufsbezogener Informationen in Rede steht, die nicht berufsbezogene Vertrauensverhältnisse betreffen.703
___________ 698
Siehe nur Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2007), Art. 14 Rdnr. 19. So Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 34; Störmer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote (1992), S. 228. 700 Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Art. 14 Rdnr. 13; ferner Rittstieg, in: AK-GG (2001), Art. 14 Rdnr. 79 und 85; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2007), Art. 14 Rdnr. 5; Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 82. 701 Siehe etwa Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2007), Art. 14 Rdnr. 5: Eine Geschwindigkeitsbegrenzung beeinträchtigt nicht das Eigentum am Auto, ein Rauchverbot nicht das Eigentum an der Zigarette. 702 Ebenso Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 82, mit ausführlichen rechtsvergleichenden (USA) und rechtsgeschichtlichen Erwägungen; im Ergebnis ebenso Störmer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote (1992), S. 210; wohl auch LVerfG Brandenburg, JR 2003, 15 (17), das die Beschlagnahme primär am Grundrecht auf Datenschutz (Art. 11 der Landesverfassung Brandenburg) überprüft; a.A. hingegen Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 34. 703 Näher Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 86 f. 699
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IV. Informationelles Erfolgsunrecht als Voraussetzung des Abwehranspruchs
Fraglich ist schließlich, ob die Begründung des Abwehranspruchs ein materielles „informationelles Ungleichgewicht“ voraussetzt oder ob es genügt, wenn die Strafverfolgungsbehörden aufgrund einer formell rechtswidrigen Maßnahme Informationen erhoben haben, deren Erhebung aber materiell rechtmäßig gewesen wäre. Als Ausgangspunkt mag zunächst ein Vergleich mit dem Anspruch auf Aufhebung eines Verwaltungsaktes dienen, der ebenfalls einen Beseitigungsanspruch darstellt,704 und für den anerkannt (und auch zweifellos) ist, dass er auch bei nur formeller Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts Platz greift. Allerdings wird hier die Problematik doch erheblich durch § 45 VwVfG (Möglichkeit der Heilung von Form- und Verfahrensfehlern) und § 46 VwVfG (nur eingeschränkte Aufhebbarkeit eines formell rechtswidrigen Verwaltungsaktes) entschärft. Für den allgemeinen Folgenbeseitigungsanspruch ist die aufgeworfene Frage umstritten; in Parallele zum Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsaktes soll nach teilweise vertretener Auffassung die formelle Rechtswidrigkeit für einen Folgenbeseitigungsanspruch hinreichen, soweit solche Normen verletzt worden sind, die nach der Schutznormtheorie gerade dem Schutz des Betroffenen dienen.705 Teilweise wird allerdings auch ausschließlich auf Erfolgsunrecht abgestellt und ein Folgenbeseitigungsanspruch bei formeller Rechtswidrigkeit abgelehnt.706 Für die Ableitung eines Verwertungsverbots als Folge eines öffentlichrechtlichen Abwehranspruchs ist dies von herausgehobener Bedeutung. Vielfach stellt sich nämlich die Frage, ob die (vorsätzliche oder fahrlässige) Missachtung des Richtervorbehalts (als Zuständigkeitsnorm) dazu führt, dass die erhobenen Informationen nicht verwertet werden dürfen. Ausgangspunkt der Überlegungen über den Abwehranspruch als Grundlage eines Verwertungsverbots ist der Ausgleich eines „informationellen Ungleichgewichts“.707 Ein solches Ungleichgewicht besteht aber nicht, wenn der Staat Informationen verfahrensfehlerhaft erhebt, auf die er materiell einen „Anspruch“ hat. Es liegt daher ___________ 704
Hierzu jüngst monographisch Baumeister, Der Beseitigungsanspruch als Fehlerfolge des rechtswidrigen Verwaltungsaktes (2006), z.B. auf S. 5, 89. 705 In diesem Sinne etwa Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht (1994), S. 84 f.; Südhoff, Der Folgenbeseitigungsanspruch als Grundlage verwaltungsverfahrensrechtlicher Verwertungsverbote (1995), S. 163; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 313; BVerwG, NJW 1981, 239 (240); OVG Hamburg, NJW 1978, 658 (659 f.). 706 So Weyreuther, Gutachten 47. DJT (1968), S. B 92; Hill, Das fehlerhafte Verfahren und seine Folgen im Verwaltungsrecht (1986), S. 456 f.; Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 41; ebenso Störmer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote (1992), S. 231 ff.; wohl auch BayVGH, DÖV 1978, 766 (768). 707 s.o. A.
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nahe, ein „informationelles Erfolgsunrecht“708 als Tatbestandsmerkmal des öffentlich-rechtlichen Abwehranspruchs im Kontext des Strafverfahrensrechts zu verlangen. Dieses Ergebnis hat bereits harsche Kritik im Schrifttum ausgelöst. Sie wirft der hier vertretenen Auffassung vor allem vor, individualschützende Errungenschaften wie die Normen über den Richtervorbehalt zu bloßen Ordnungsvorschriften herabzustufen, auf deren Einhaltung die Strafverfolgungsbehörden verzichten könnten.709 Die Beschäftigung mit diesem Einwand macht einen Perspektivenwechsel nötig: Er berührt nämlich schon wesentliche Fragen der innerprozessualen Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe. Wegen der Verknüpfung zu den außerprozessualen Grundlagen des Umgangs mit Informationen soll auf sie gleichwohl eingegangen werden. Die Kritik verkennt vor allem710, dass der Richtervorbehalt auch eine spezifisch innerprozessuale Funktion hat.711 Zum einen dient der Richtervorbehalt dem präventiven Grundrechtsschutz712 und schützt damit zunächst ein außerprozessuales Recht. Allerdings begrenzt dieses Recht zugleich auch den Fluss der Informationen von der „Außenwelt“ in den Prozess.713 Der Richtervorbehalt sorgt also dafür, dass in den Prozess nur Informationen einbezogen werden, die auch einbezogen werden dürfen und sichert dem Beschuldigten damit eine ver___________ 708
Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 41; ders., in: Festschrift für Bemmann (1997), S. 506 (508); ders., in: Festschrift für Roxin (2001), S. 1259 (1262); a.A. hingegen für den Richtervorbehalt Müssig, GA 1999, 119 (134). 709 Rogall, in: Festschrift für Grünwald (1999), S. 523 (540 f.); Schuster, Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweise im deutschen Strafprozess (2006), S. 63. Nachdrücklich für ein Beweisverwertungsverbot bei Missachtung des Richtervorbehalts Wohlers, StV 2008, 434 (440). 710 Zudem wird teilweise übersehen, dass der Abwehranspruch als Grundlage unselbständiger Verwertungsverbote nur ein Prinzip ihrer Herleitung ist; vgl. dazu bereits § 12 Fn. 676. Als ein weiteres kann man etwa die „Wahrung der Straflegitimation“ sehen; gegen dieses Prinzip verstößt der Staat, wenn er zur Verfolgung von Straftaten selbst Straftaten begeht. Eine Straftat kann im Fall des Vorsatzes z.B. darin bestehen, eine Wohnung ohne richterliche Gestattung zu durchsuchen (§ 123 StGB). Dieses Bsp. zeigt, dass die vorsätzliche Missachtung des Richtervorbehaltes durchaus zu einem Beweisverwertungsverbot führen kann. 711 Diesen Zusammenhang erkennt zwar Müssig, GA 1999, 119 (134). Allerdings will er aus dieser innerprozessualen Funktion des Richtervorbehalts (Garant für die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten) ein Beweisverwertungsverbot herleiten. Damit geht (auch) dieser Ansatz fälschlicherweise davon aus, dass nur ein Verwertungsverbot garantieren kann, dass diese Positionen des Betroffenen „durch verspäteten Schutz entwertet werden“ (Müssig ebd.); hierzu sogleich im Text. 712 s.o. § 8 A.I. 713 Insoweit unterscheidet sich der Richtervorbehalt im Strafverfahrensrecht grundlegend von seinem verwaltungsrechtlichen Pendant.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
fahrensrechtliche Position.714 Beachten die Strafverfolgungsbehörden den Richtervorbehalt, so müssen sie vor dem Ermittlungsrichter alle Tatsachen vortragen (und beweisen), die die betreffende Eingriffsermächtigung verlangt.715 Bleibt der Richter im Ermittlungsverfahren – gegebenenfalls auch legitimerweise bei Vorliegen von Gefahr im Verzug – ausgeschaltet, so entsteht die Schieflage, dass Informationen in den Prozess einfließen könnten, deren Erhebung von einem Richter nicht legitimiert worden ist. Dieses Legitimationsdefizit kann behoben werden, wenn die Strafverfolgungsbehörden im Prozess das nachholen, was ihnen nach dem gesetzlichen Regelfall schon im Vorverfahren oblegen hätte: Sie müssen nachweisen, dass die Eingriffsvoraussetzungen für die Erhebung der Informationen vorgelegen haben. Das führt dazu, dass nicht mehr der Angeklagte im Prozess beweisen muss, die Eingriffsvoraussetzungen hätten nicht vorgelegen (mit der Folge des Entstehens eines „informationellen Ungleichgewichts“, damit eines Anspruchs auf Folgenbeseitigung), sondern die Ermittlungsbehörden ihrerseits den Beweis für das Vorliegen der Eingriffsvoraussetzungen zu erbringen haben. Gelingt dieser Beweis nicht, werden die Informationen behandelt, als hätten sie nicht erhoben werden dürfen; es wird also die Situation des informationellen Erfolgsunrechts fingiert. Diese differenzierte Lösung einer Beweislastumkehr reagiert – anders als die Alles-oder-NichtsLösung eines Verwertungsverbots – auf das spezifisch prozessuale Problem, wie man ausgleichen kann, dass Strafverfolgungsbehörden sachlich ungerechtfertigte Beweisvorteile zuwachsen, wenn sie ohne richterliche Gestattung in Grundrechte eingreifen.716 Nur am Rande sei erwähnt, dass der Gedanke des „Nachholens von Versäumtem“ (der nach der hier vertretenen Lösung dem Nachholen richterlicher Kontrolle über die Eingriffsvoraussetzungen zugrunde liegt) auch dem Abwehranspruch gegen einen Verwaltungsakt entgegenstehen kann, der wegen Missachtung bestimmter Verfahrensvorschriften rechtswidrig ist (vgl. § 45 Abs. 1 VwVfG).
C. Rechtsfolgen für das Strafverfahren und Kritik am abwehrrechtlichen Ansatz Vorstehend sind im Wesentlichen die verfassungsrechtlichen, außerprozessualen Gegebenheiten (der Rahmen also) dargestellt, die nach hier vertretener Auffassung in konstitutive Normen des Prozessrechts umzusetzen sind. Wie genau der Abwehranspruch in das Strafverfahren eingebettet ist, ist hingegen ___________ 714 Amelung/Mittag, NStZ 2005, 614 (616); ferner Müssig, GA 1999, 119 (134), der deshalb allerdings für ein Verwertungsverbot plädiert (siehe hierzu § 12 Fn. 711). 715 Hierzu m.w.N. Amelung/Mittag, NStZ 2005, 614 (616); vgl. ferner Gusy, JZ 1998, 167 (172 f.). 716 Amelung/Mittag, NStZ 2005, 614 (617); Mittag, JR 2005, 386 (389).
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eine Frage der nicht näher behandelten innerprozessualen Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe.717 Gegen den abwehrrechtlichen Ansatz als Grundlage strafprozessualer Verwertungsverbote ist über das soeben Ausgeführte auch sonst vielfältige, teils harsche Kritik geübt worden. Diese Kritik krankt im Wesentlichen daran, dass sie von unzutreffenden Prämissen ausgeht bzw. den abwehrrechtlichen Ansatz missversteht. Teilweise trifft die Kritik auch nicht den Untersuchungsgegenstand, also die Herleitung eines Abwehranspruchs als Folge verfassungswidriger strafprozessualer Grundrechtseingriffe.718 Teilweise wird kritisiert, der Ansatz sei der Struktur des Strafverfahrens nicht angemessen.719 Mit dem Folgenbeseitigungsanspruch werde eine besondere Ausformung des dem Verwaltungsrecht ausdrücklich zur Verfügung gestellten kontradiktorischen Rechtsschutzverfahren übertragen; eine solche Übertragung werde dem Strafverfahrensrecht mit seinen objektivrechtlich ausgestalteten Gewährleistungsformen nicht gerecht.720 Hierzu ist festzustellen, dass es sich bei dem öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch nicht zuvörderst um eine verwaltungsrechtliche, sondern eine verfassungsrechtlich hergeleitete Rechtsfigur handelt. Soweit die Beseitigung der Verletzung eines Grundrechts von Verfassungs wegen gefordert ist, ist ein damit korrespondierender Anspruch in das jeweilige Recht des gerichtlichen Verfahrens einzubetten.721 Insoweit besteht die angemessene Lösung in einem Verbot, bestimmte Informationen in einem Prozess zu verwerten. Die individualrechtliche Konzeption der Verwertungsverbote mag vor dem Hintergrund strafprozessualer Traditionen – die allerdings die verfassungsrechtlichen Wurzeln allzu lange vernachlässigt haben – zwar „unorthodox“ erscheinen; das macht sie allerdings nicht unzulässig.
___________ 717 Vgl. auch das bereits an anderer Stelle zum Zusammenspiel regulativer und konstitutiver Normen Gesagte: § 5 B. 718 Das ist v.a. der Fall, soweit sich die Kritik auf den Umgang mit Verletzungen von Belehrungspflichten und Zeugnisverweigerungsrechten bezieht, siehe etwa Fezer, Grundfragen der Beweisverwertungsverbote (1995), S. 37 m. Fn. 56; Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess (2003), S. 102; Gössel, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 1 (26. Aufl. 2006), Einl. L Rdnr. 149. 719 In diesem Sinne v.a. Fezer, Grundfragen der Beweisverwertungsverbote (1995), S. 36. 720 Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess (2003), S. 101; Rogall, in: Festschrift für Grünwald (1999), S. 523 (535 f.). Gegen die mit dem hier vertretenen Ansatz angeblich verfolgte „extreme Subjektivierung bzw. Individualisierung der Verwertungsverbotsproblematik“ auch Fezer, Grundfragen der Beweisverwertungsverbote (1995), S. 36 f. 721 Ähnlich Amelung, in: Festschrift für Roxin (2001), S. 1259 (1268 f.).
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Ein weiterer Einwand geht dahin, dass dieser individualrechtliche Ansatz nicht geeignet sei, alle Verwertungsverbote zu erklären.722 Dieser Vorwurf missversteht den Ansatz aber: Dieser hat überhaupt nicht das Ziel, alle Verwertungsverbote aus ihm zu deduzieren; das könnte ihm auch nicht gelingen. Es geht nur darum, dass dort, wo aus der Abwehrfunktion der Grundrechte Abwehransprüche entstehen, diese Abwehransprüche zu Verwertungsverboten führen können. Daneben können noch andere Prinzipien Verwertungsverbote auslösen;723 insofern ist der abwehrrechtliche Ansatz nicht „monistisch“ zu verstehen. Der Einwand, mit dem der hier vertretene Ansatz am leidenschaftlichsten bekämpft wird, betrifft aber die Fälle der Missachtung des Richtervorbehalts. Da der abwehrrechtliche Gedanke wegen des Erfordernisses „informationellen Erfolgsunrechts“ für die Missachtung des Richtervorbehalts kein Verwertungsverbot bereithalte, würden diese individualschützenden, rechtsstaatlichen Errungenschaften zu bloßen Ordnungsvorschriften degradiert, deren Einhaltung letztlich im Belieben der Strafverfolgungsbehörden stünde.724 Allerdings ist schon ausführlich begründet worden, warum dieser Einwand ins Leere geht:725 Auf eine Missachtung des Richtervorbehalts ist nicht mit der Alles-oderNichts-Lösung eines Verwertungsverbots, sondern mit dem prozessimmanenten Instrument der Beweislastumkehr zu reagieren. Damit ist gesichert, dass das, was der Richtervorbehalt innerprozessual leisten soll (Begrenzung des Informationsflusses in den Prozess), im Prozess nachgeholt wird.
___________ 722 Dieser Vorwurf wird inzwischen kaum noch ausdrücklich artikuliert, scheint aber in der Auseinandersetzung mitzuschwingen, vgl. etwa Gössel, in: Löwe/Rosenberg, StPO (26. Aufl. 2006), Einl. L Rdnr. 149/145, der Amelungs informationsrechtlichen Ansatz als „faktoriellen Ansatz“ bezeichnet (Rdnr. 134), d.h. als Versuch, „über das Vorliegen von Beweisverwertungsverboten nur bestimmte einzelne Merkmale entscheiden zu lassen“ (Rdnr. 145 – Hervorhebung nur hier). 723 Siehe dazu bereits § 12 Fn. 676 und 710. 724 In diesem Sinne v.a. Rogall, in: Festschrift für Grünwald (1999), S. 523 (540 f.); Götting, Beweisverwertungsverbote in Fällen gesetzlich nicht geregelter Ermittlungstätigkeit (2001), S. 64: „Es vermag dieser Ansatz das begangene Handlungsunrecht nicht zu erfassen.“ Siehe ferner § 12 Fn. 709. 725 s.o. B.IV.
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3. Abschnitt
Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe Eine der in der jüngeren Zeit meistbeachteten Thematik ist der Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe.726 Das ist nicht zuletzt richtungsweisenden Judikaten des BVerfG zu verdanken,727 die Maßgebliches zu der Lückenlosigkeit des Rechtsschutzes beigetragen haben, den die Gerichte inzwischen gewähren. Die Rechtsschutzproblematik ist in einer Gemengelage verfassungsrechtlicher und einfachrechtlicher Regeln angesiedelt. Das Grundgesetz spannt das grobmaschige Netz, während das einfache Recht das Filigranwerk bilden muss, anhand dessen die Gerichte den Rechtsschutz gewähren.728 Bekanntlich ist es dem Gesetzgeber nicht gelungen, in der StPO ein den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechendes Rechtsschutzsystem zu normieren.729 Die äußerst unübersichtliche Gesetzeslage bedarf dringend der Überarbeitung.730 Die Gemengelage von verfassungsrechtlichen Vorgaben und der einfachrechtlichen Umsetzung wird infolge dessen dadurch verkompliziert, dass die Rechtsprechung durch notwendige Rechtsfortbildung die Rechtsschutzlücken schließen muss. Der Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe im hier verstandenen Sinn stellt vor allem ein außerprozessuales Phänomen dar. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass Rechtsschutz nicht in durch ein (gerichtliches) Verfahren geordneten Bahnen verliefe. Vielmehr steht der Aspekt im Vordergrund, dass neben dem eigentlichen Strafverfahren ein „Nebenprozess“ eröffnet ___________ 726 Hierzu immer noch grundlegend Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1976); ferner ders., NJW 1979, 1687; Schenke, VerwArch 60 (1969), 323 ff.; Rieß/Thym, GA 1981, 189 ff. Siehe aus jüngerer Zeit Köster, Der Rechtsschutz gegen die vom Ermittlungsrichter angeordneten und erledigten strafprozessualen Grundrechtseingriffe (1992); Wohlers, GA 1992, 214 ff.; Schoch, in: Festschrift für Stree/Wessels (1993), S. 1095 ff.; Bachmann, Probleme des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1994); Lin, Richtervorbehalt und Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1998); Amelung, in: Festgabe Bundesgerichtshof (2000), S. 911 ff.; Laser, NStZ 2001, 120 ff.; Fezer, in: Festschrift für Rieß (2002), S. 93 ff. 727 Vor allem BVerfGE 96, 27 ff.; 96, 44 ff. 728 Bild von Bethge, KritV 1990, 9 (10). 729 Siehe hierzu BVerfGE 96, 44 (49 f.). 730 Die durch BVerfGE 96, 44 ff. angestoßenen Entwicklungen der Rspr. (zu diesen sogleich § 14) veranlassen Laser, NStZ 2001, 120 (124), zu dem verfehlten Schluss, für den Gesetzgeber bestehe keine Veranlassung, neue Regelungen zu schaffen. Im Gegenteil bleibt der Gesetzgeber nach wie vor aufgerufen, die immer noch verworrene Gesetzeslage für den Bürger durchschaubar zu regeln.
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wird, wenn und weil durch den Hauptprozess die infrage stehende Grundrechtsbeeinträchtigung nicht beseitigt werden kann. Dieses Konzept liegt übrigens auch dem Zusammenspiel von § 305 S. 1 und S. 2 StPO zugrunde. Nach S. 1 der Vorschrift unterliegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorangehen, nicht der Beschwerde, weil sie nach der Urteilsfällung mit den für Urteile geltenden Rechtsmitteln angefochten werden können. Etwas anderes gilt nach § 305 S. 2 StPO aber, wenn es sich um strafprozessuale Grundrechtseingriffe i.S.d. hier verwendeten Terminologie handelt. Denn mit dem Rechtsmittel gegen das Urteil kann die in Rede stehende Grundrechtsbeeinträchtigung nicht beseitigt werden; dieses Rechtsmittel ist hierfür auch nicht konzipiert.731 Neben jener außerprozessualen Funktion hat der Rechtsschutz jedoch auch innerprozessuale Wirkungen. Ähnlich dem Richtervorbehalt ist er geeignet, den Informationsfluss in den Prozess in einer für den Beschuldigten günstigen Weise zu beeinflussen, indem Beweismittel von vornherein aus dem Prozess herausgehalten werden können. Der Beschuldigte muss sich in der Hauptverhandlung gegebenenfalls nicht erst auf Beweisverwertungsverbote zurückziehen, sondern kann vorher versuchen, die „Herrschaft“ über die Informationen zurückzuerlangen.732 Das kann bspw. gelingen, indem die Rechtswidrigkeit einer Beschlagnahme festgestellt und der beschlagnahmte Gegenstand wieder herausgegeben wird. Er steht dann als Augenscheinsobjekt nicht mehr zur Verfügung. Noch viel wichtiger erscheint aber die Möglichkeit, die Löschung bereits erhobener Informationen zu verlangen.733 Im Folgenden werden zunächst die verfassungsrechtlichen Leitlinien für den Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (§ 13) und sodann deren maßgeblich durch die Rechtsprechung beeinflussten einfachrechtlichen Umsetzungen dargestellt (unter § 14).
§ 13 Die Leitlinien der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG A. Die Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG Nach Art. 19 Abs. 4 S. 1 steht jemandem der Rechtsweg offen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Die Vorschrift ist als subjektives öffentliches Recht, als Grundrecht auf wirksamen Individualrechts___________ 731
Siehe hierzu sogleich § 13 A. und bereits § 6 B., insbesondere bei Fn. 88. Vgl. auch Amelung, NJW 1991, 2533 (2539 f.); Lin, Richtervorbehalt und Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1998), S. 336; hierzu ausführlich unter § 14 D. 733 Hierzu unter § 14 D. 732
§ 13 Die Leitlinien der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG
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schutz konzipiert.734 Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG ist schon kurz nach seinem Erlass als „formelle[s] Hauptgrundrecht“735 bezeichnet und auch sonst fast schon pathetisch beurteilt worden. Stellvertretend hierfür mag der Ausspruch des Staatsrechtlers Richard Thoma stehen, „jener kühne vierte Absatz des Art. 19“ füge „dem Gewölbe des Rechtsstaats den Schlußstein“ ein.736 Die Bezeichnung als formelles oder justizielles „Hauptgrundrecht“ beschreibt den Charakter des Art. 19 Abs. 4 treffend: Die Vorschrift fungiert als „Bindeglied“ zwischen den materiellen Grundrechten auf der einen Seite und deren Durchsetzung und Schutz auf der anderen Seite. Während die materiellen Grundrechte den Schutzgegenstand bilden737 und die (anderen) justiziellen Grundrechte das „Wie“ des Rechtsschutzes regeln, gewährt die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG v.a. das „Ob“ des Rechtsschutzes. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG bringt damit zum Ausdruck, was aus heutiger Sicht unabdingbare Voraussetzungen für einen funktionierenden Rechtsstaat ist. Die Grundrechte hätten keine merkliche Wirkungskraft, wären die aus ihnen resultierenden Abwehransprüche gegen den Staat nicht gerichtlich durchsetzbar. Die Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG für den Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe ist von der Rechtsprechung verhältnismäßig spät erkannt worden. Hiervon zeugen v.a. die bereits an anderer Stelle zitierten Entscheidungen aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts738, nach denen strafprozessuale Grundrechtseingriffe als bloße Prozesshandlungen nicht anfechtbar seien. Diese Rechtsprechung wurde erst korrigiert, als man erkannte, dass strafprozessuale Grundrechtseingriffe „mehrfachwirksame“ Prozesshandlungen739 sind. Damit ist gemeint, dass sich ihre Wirkungen eben nicht auf den Prozess beschränken, sondern auch in den materiell-rechtlichen Bereich hineinreichen und als Eingriffe in materielle Grundrechte Regelungsgegenstand des Art. 19 Abs. 4 GG sind.
___________ 734
Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Art. 19 Rdnr. 49; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1 (2004), Art. 19 IV Rdnr. 39. 735 Klein, VVDStRL 8 (1950), 67 (88). 736 Thoma, in: Wandersleb/Traumann, Recht – Staat – Wirtschaft, Bd. 3 (1951), S. 9; ferner W. Jellinek, VVDStRL 8 (1950), 3 („königlicher Artikel“); Klein, VVDStRL 8 (1950), 67 (78) (Vollendung des deutschen Rechtsstaats). 737 Freilich garantiert Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG nicht nur den Rechtsweg zu den Gerichten bei Verletzung von Grundrechten, sondern bei der Verletzung jeglicher subjektiver (d.h. auch lediglich einfachrechtlich verbürgter) Rechte. Siehe hierzu Papier, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI (2001), § 154 Rdnr. 1. 738 Siehe § 6 Fn. 88. 739 In den Worten von Niese „doppelfunktionelle Prozesshandlungen“, siehe zur Terminologie oben § 6 B.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG gewährt dabei aber nicht nur das „Ob“ des Rechtsschutzes, sondern auch die „Wirksamkeit“ des garantierten Rechtsschutzes.740 Diese Rechtsschutzwirksamkeit wird dabei allerdings zuerst durch die spezielleren Garantien der justiziellen Grundrechte (insbesondere Art. 103 Abs. 1, 101 Abs. 1 S. 2 GG) gewährt. Rechtsschutz ohne rechtliches Gehör bspw. ist kein wirkungsvoller Rechtsschutz. Art. 19 Abs. 4 GG fungiert vor diesem Hintergrund dann nur noch als „Wirksamkeitsgeneralklausel“.741 Es muss also – vom Gesetzgeber auf der einen und von der Rechtsprechung auf der anderen Seite – gewährleistet sein, dass der von einem Eingriff Betroffene mit seinem Anliegen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in einer Weise Gehör findet, die die Feststellung und gegebenenfalls die Abwehr der Rechtsverletzung ermöglicht.742 Diese Einsicht trägt auch maßgeblich zur Bewältigung der sogleich darzustellenden Probleme bei: die verfassungsrechtlichen Leitlinien für den Rechtsschutz gegen ermittlungsrichtliche Anordnungen (B.) und gegen erledigte Eingriffe (C.) sowie den Rechtsschutz bei heimlichen Eingriffen (D.).
B. Verfassungsrechtliche Leitlinien für den Rechtsschutz gegen richterliche Anordnungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe Verfassungsrechtliche Besonderheiten gelten für den Rechtsschutz gegen richterliche Anordnungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe.743 Nach h.M. bezieht sich der Begriff der „öffentlichen Gewalt“ in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG nur auf die Exekutive, nicht aber auf judikative Akte.744, 745 Nach dem berühm___________ 740
Siehe aus jüngerer Zeit BVerfGE 101, 106 (122); 101, 397 (407); 104, 220 (231 f.); das BVerfG bezeichnet diese Garantie häufig auch synonym als Garantie „effektiven“ Rechtsschutzes, vgl. BVerfGE 96, 27 (39); 112, 185 (207); BVerfG, Beschl. v. 13.6. 2007 – 1 BvR 1550/03 u.a., Rdnr. 168. 741 Vgl. auch Schenke, in: BK-GG (Zweitbearb. 1982), Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 383. 742 Treffend Sachs, in: ders., GG (2007), Art. 19 Rdnr. 143. 743 Siehe zum Richtervorbehalt als Ausprägung eines maßgeblich durch Art. 19 Abs. 4 GG geprägten präventiven Rechtsschutzes schon oben § 8 A. 744 BVerfGE 15, 275 (280 f.); 75, 76 (90); BVerfGE (Plenum) 107, 395 (404 ff.) – st. Rspr.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG (2003), Art. 19 IV Rdnr. 96 ff. (insbesondere Rdnr. 99); Papier, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI (2001), § 154 Rdnr. 73; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1995), Rdnr. 337; Bethge, KritV 1990, 9 (13); Sachs, in: ders., GG (2007), Art. 19 Rdnr. 120; Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte (1997), § 39 Rdnr. 5; zurückhaltender Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (2000), Art. 19 Rdnr. 57 (kein Problem des „Ob“, sondern des „Wie“ des Rechtsschutzes); a.A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter (1993), S. 255 ff. (grundsätzliche Garantie eines zweistufigen Verfahrens durch Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 19 Rdnr. 437 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1 (2004), Art. 19 IV Rdnr. 49.
§ 13 Die Leitlinien der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG
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ten Satz von Dürig gewährt Art. 19 Abs. 4 „Rechtsschutz durch den Richter, nicht Rechtsschutz gegen den Richter“.746 Das erscheint auf dem ersten Blick auch einleuchtend: Wäre jeder Rechtsprechungsakt von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG erfasst, so implizierte das „unendlichen Rechtsschutz“.747 Denn auch gegen die letztinstanzliche Entscheidung stünde dem Betroffenen dann „der Rechtsweg offen“. Nach dem eingangs Ausgeführten scheint die richterliche Anordnung eines strafprozessualen Grundrechtseingriffs also kein Gegenstand zu sein, der von der verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie erfasst wäre. Eine solch weitgehende Beschränkung würde aber vor allem dem spezifischen Zusammenspiel des Art. 19 Abs. 4 GG mit den Vorschriften über die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens widersprechen. Dabei kommt es nicht maßgeblich darauf an, ob man ermittlungsrichterliche Anordnungen materiell als Rechtsprechung oder als exekutive Tätigkeit ansieht.748 Der Begriff der Rechtsprechung mag – wie teilweise angenommen wird749 – eine zweifache „Blickrichtung“ haben (zum einen als Problem der Art. 20 Abs. 2 S. 2, 92 ff. GG, zum anderen im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG) oder nicht. Die Frage, ob die richterliche Anordnung eines strafprozessualen Grundrechtseingriffs „öffentliche Gewalt“ i.S.v. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG darstellt, kann bereits durch die genaue Bestimmung der Reichweite der (teleologischen Reduktion dieser) Vorschrift beantwortet werden. Jedenfalls im Zusammenhang mit Art. 19 Abs. 4 GG handelt es sich bei der Diskussion des funktionalen Begriffs der Rechtsprechung um ein Scheinproblem.
___________ 745
Auf die Frage der Geltung der Vorschrift für Legislativakte braucht hier nicht eingegangen werden; siehe hierzu v.a. Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht (1979), S. 28 ff. 746 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG (Erstkommentierung 1958), Art. 19 Rdnr. 17 (Hervorhebung dort; hier zitiert nach Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG [2003], Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 96). 747 Schenke, JZ 2005, 116 (117); Sachs, in: ders., GG (2007), Art. 19 Rdnr. 120. 748 Für Verortung in der Exekutive Paeffgen, in: Festschrift für Roxin (2001), S. 1299 (1308/1311); Köster, Der Rechtsschutz gegen die vom Ermittlungsrichter angeordneten und erledigten strafprozessualen Grundrechtseingriffe (1992), S. 51 ff.; Rabe von Kühlewein, Der Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozeßrecht (2000), S. 267; Schnarr, NStZ 1991, 209 (212); für polizeirechtliche Richtervorbehalte Aschmann, Der Richtervorbehalt im deutschen Polizeirecht (1999), S. 57 ff.; anders (Judikativakt) aber die wohl überwiegende Auffassung, etwa BVerfGE 22, 49 (76 f.); 49, 329 (341); Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 3 (25. Aufl. 2003), § 162 Rdnr. 2; für polizeirechtliche Richtervorbehalte Berlit, NdsVBl. 1994, 197 (199 f.). 749 So z.B. von H. Wolter, DÖV 1997, 939 (942); Dörr, NJW 1984, 2258 (2262).
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
Bei der Begrenzung der Garantie des Art. 19 Abs. 4 GG auf exekutive Akte handelt es sich um eine teleologische Reduktion.750 Das ergibt sich daraus, dass nach herkömmlichem Verständnis des Grundgesetzes die Rechtsprechung auch „öffentliche Gewalt“ darstellt. Dieser Befund wird zunächst auch durch systematische und teleologische Erwägungen bestätigt: Art. 19 Abs. 4 GG ist – wie gezeigt – auf den Schutz und die Durchsetzbarkeit der materiellen Grundrechte angelegt. Es liegt daher nahe, den Begriff der öffentlichen Gewalt zunächst mit Blick auf Art. 1 Abs. 3 GG zu bestimmen, der die Grundrechtsbindung eben auch der Rechtsprechung vorsieht.751 Verfassungsgerichtliches Pendant zu Art. 19 Abs. 4 GG ist Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, der den Begriff der „öffentlichen Gewalt“ ebenfalls verwendet und unstreitig auch die Judikative erfasst.752 Allerdings ergibt sich aus Sinn und Zweck sowie aus der Gesetzesgeschichte, dass dies für Art. 19 Abs. 4 GG zumindest nicht uneingeschränkt gelten kann. Die Gesetzesgeschichte erhellt, dass der Grundgesetzgeber mit der „öffentlichen Gewalt“ in Art. 19 Abs. 4 GG vor allem die Exekutive im Blick hatte.753 Zudem ist unmittelbar einleuchtend, dass die Vorschrift, keinen „unendlichen Rechtsschutz“ gegen jede (neue) richterliche Entscheidung garantieren soll. Hinzu kommt, dass Art. 19 Ab. 4 GG eine ganz bestimmte Schutzrichtung hat, nämlich die, den Rechtsschutz zu eröffnen („Ob“ des Rechtsschutzes), während die Funktion, die Modalitäten (das „Wie“) des Rechtsschutzes zu regeln, im Wesentlichen anderen Justizgrundrechten (insbesondere dem Recht auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und dem Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG) zugeschrieben ist. Ob gegen Akte der Judikative selbst Rechtsschutz zu gewähren ist, ist aber eher eine Frage der Ausgestaltung des Rechtsschutzes gegen exekutive Akte.754 Allerdings können diese beiden Aspekte des gerichtlichen Rechtsschutzes (Eröffnung und Ausgestaltung) nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Das zeigt sich besonders am Institut des Richtervorbehaltes. ___________ 750 Siehe zur methodischen Einordnung der Beschränkung nur Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 19 Rdnr. 435; Schenke, JZ 2005, 116 (117); a.A. („teleologische Auslegung“) Rabe von Kühlewein, Der Richtervorbehalt im Polizeiund Strafprozeßrecht (2000), S. 343. 751 Siehe auch Schenke, JZ 2005, 116 (117). 752 Statt vieler Meyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3 (2003), Art. 93 Rdnr. 57. 753 Siehe etwa Klein, VVDStRL 8 (1950), 67 (105), vgl. auch die sehr ausführliche Darstellung der rechtshistorischen und ideengeschichtlichen Seite auf S. 67 ff.; Schenke, JZ 2005, 116 (117). Wirklich eindeutig ist die Quellenlage allerdings nicht (vgl. etwa die Schilderung der Entstehungsgeschichte in JöR NF, Bd. 1 [1951], S. 183 ff., wo die Frage mit keinem Wort erwähnt wird). Unstreitig war die Rechtslage (anders als Schenke, JZ 2005, 116 [117] wohl meint) auch nicht direkt nach Schaffung des GG, vgl. etwa den Diskussionsbeitrag von Frh. v. d. Heydte, VVDStRL 8 (1950), S. 162 (163). 754 Das kann allerdings anders sein, soweit die Gerichte den sog. Justizgewährungsanspruch aus dem Rechtsstaatsprinzip erfüllen (z.B. in privatrechtlichen Streitigkeiten entscheiden).
§ 13 Die Leitlinien der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG
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Der Richtervorbehalt fungiert als Mittel des präventiven Grundrechtsschutzes. Die Spezifika der Gewährung von Rechtsschutz vor dem Eingriff bringen es mit sich, dass der Richter die Anforderungen, die das Grundgesetz an das „Wie“ des Rechtsschutzes stellt, nicht in vollem Maße erfüllen kann. So entscheidet der Richter in aller Regel aufgrund einseitiger Instruktion der Strafverfolgungsbehörden und damit ohne dem Betroffenen das durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierte rechtliche Gehör zu gewähren (vgl. § 33 Abs. 4 StPO).755 Durch das Zurückbleiben hinter verfahrensrechtlichen Mindeststandards kann dieser präventive Grundrechtsschutz nicht die gleiche Wirkungskraft entfalten, wie der Rechtsschutz, den Art. 19 Abs. 4 GG eröffnen will.756 Dass das rechtliche Gehör im Einzelfall gewährt werden mag, spielt hierfür keine Rolle: Entscheidend ist vielmehr, dass die „Institution Richtervorbehalt“ ein Abweichen von Art. 103 Abs. 1 GG ermöglicht.757 Ein dem verfassungsrechtlichen Leitbild entsprechender Rechtsschutz findet demnach mit der richterlichen Anordnung noch nicht statt. Damit ergibt sich aus einer Zusammenschau von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG und der Regelungen über die Modalitäten des gerichtlichen Verfahrens (insbesondere der Garantie des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG), dass ein solcher dem verfassungsrechtlichen Leitbild entsprechender Rechtsschutz nachzuholen, Rechtsschutz gegen richterliche Anordnungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe also verfassungsrechtlich garantiert ist.758 ___________ 755 Siehe hierzu bereits unter § 8 A.I. Problematisch kann im Einzelfall nicht nur das Zurückbleiben hinter Art. 103 Abs. 1 GG sein, sondern auch die Gewährleistung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Denn nach BVerfGE 21, 139 (146) erfordert Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG auch, dass „im Einzelfall ein Richter, der nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet, von der Ausübung seines Amtes ausgeschlossen ist oder abgelehnt werden kann.“ Die Möglichkeit der Ablehnung scheidet hier aber naturgemäß aus, wenn der Betroffene an der Entscheidung nicht mitwirken kann bzw. von ihr erst nach ihrem Erlass Kenntnis erlangt. 756 Siehe nur Gusy, GA 2003, 672 (678); Schenke, in: Wolter u.a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht (1999), S. 153 (156). 757 Zutreffend Rabe von Kühlewein, Der Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozeßrecht (2000), S. 264 f. 758 Im Ergebnis ebenso Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG (2003), Art. 19 IV Rdnr. 100 (ohne Begründung); Schenke, JZ 1988, 317 (319); ders., in: Wolter u.a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht (1999), S. 153 (156 f.); ähnlich Gusy, JZ 1998, 167 (170 ff.); a.A. aber z.B. BGHSt 28, 57 (58). Anders wiederum BVerfGE 96, 27 (39), nach dem Art. 19 Abs. 4 GG zwar keinen Instanzenzug fordere, dem Bürger jedoch eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleiste, wenn das Prozessrecht eine weitere Instanz eröffne; insoweit zustimmend Schäfer, Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), vor § 94 Rdnr. 137. Nimmt man diese Argumentation wörtlich, stünde es dem Gesetzgeber allerdings frei, etwa die Beschwerdemöglichkeit gegen richterliche Anordnungen (§ 304 Abs. 1 StPO) zu beseitigen – ein äußerst unbefriedigendes Ergebnis. In der Argumentation ähnlich wie hier
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
In den Zusammenhang des wirksamen Rechtsschutzes gehört auch die bereits an anderer Stelle angesprochene – freilich praktisch selten relevante – Möglichkeit des (vorbeugenden) Rechtsschutzes gegen richterliche Anordnungen, deren Vollzug erst bevorsteht.759 Genau besehen handelt es sich dabei um vorbeugenden Rechtsschutz dagegen, dass die richterliche Anordnung durch Beginn ihres Vollzuges Außenwirkung erlangt.760
C. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG bei erledigten Eingriffen Mit Kenntniserlangung durch den Betroffenen (und damit im frühestmöglichen Zeitpunkt, Rechtsschutz zu suchen) ist der Zugriff auf sein grundrechtliches Schutzgut nicht selten bereits erledigt. Das liegt vor allem daran, dass strafprozessuale Grundrechtseingriffe ihrem Charakter nach „Überraschungseingriffe“ sind; der Betroffene soll von dem Eingriff vor seinem Stattfinden (gegebenenfalls auch während dessen) nichts erfahren, weil sich dessen Zweck anderenfalls nicht verwirklichen ließe. Dieser Befund fordert die Frage heraus, ob Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG Rechtsschutz nach Art eines „Fortsetzungsfeststellungsrechtsschutzes“761 auch gegen erledigte Grundrechtseingriffe garantiert.
I. Zum Begriff der Erledigung
Eine „Erledigung“ i.d.S. liegt immer dann vor, wenn eine Maßnahme tatsächlich nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, wenn ihre Wirkungen also irreversibel sind.762 Unter welchen Umständen dies der Fall ist, hängt von ___________ hingegen BVerfGE (Plenum) 107, 395 (406): „Die Besonderheit gegenüber der spruchrichterlichen Tätigkeit wirkt sich in der Möglichkeit spezifischer verfahrensrechtlicher Regeln für solche Entscheidungen [gemeint sind Entscheidungen in Ausfüllung von Richtervorbehalten] aus, so häufig im Ausschluss rechtlichen Gehörs. Umso wichtiger ist die Garantie einer anschließenden gerichtlichen Kontrolle der Maßnahme unter Gewährung rechtlichen Gehörs. Dies garantiert Art. 19 Abs. 4 GG.“ Das BVerfG sieht darüber hinaus den aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten allgemeinen Justizgewährungsanspruch als Auffangtatbestand zu Art. 19 Abs. 4 GG an und lässt diesen i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG auch bei Entscheidungen von Gerichten eingreifen, wenn rechtliches Gehör nicht gewährt worden ist (BVerfGE [Plenum] 107, 395 [401 ff.]). 759 Siehe § 10 C.I. 760 Siehe zur richterlichen Anordnung als Vollstreckungsgrundlage § 8 B.; zu ihrer Außenwirkung § 10 C.I. 761 Gusy, JZ 1998, 167 (173). 762 Etwas anders (aber ohne sachlichen Unterschied) BVerfGE 97, 27 (40): wenn der Eingriff tatsächlich nicht mehr fortwirkt; ähnlich auch Köster, Der Rechtsschutz gegen die vom Ermittlungsrichter angeordneten und erledigten strafprozessualen Grund-
§ 13 Die Leitlinien der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG
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der Art des Eingriffs ab. Eine richterliche Anordnung erledigt sich entweder mit ihrer Aufhebung (etwa bei Änderung der Umstände), mit Zeitablauf763 oder mit ihrem Vollzug764. Eine Aufhebung der richterlichen Anordnung ist in solchen Fällen sinnlos, weil sie für den Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut nicht mehr von Bedeutung ist. Sie kann in diesen Fällen nicht (mehr) als Vollzugsgrundlage dienen.765 Daraus folgt aber, dass keine Erledigung vorliegt, solange der Vollzug einer Maßnahme noch anhält (z.B. ein beschlagnahmter Gegenstand noch im Gewahrsam der Strafverfolgungsbehörde ist). Denn die richterliche Anordnung dient in diesem Fall als Grundlage für die (Fort-)Dauer des Vollzuges. Der Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut durch die Strafverfolgungsbehörden selbst ist – ebenso wie eine richterliche Anordnung – solange nicht erledigt, wie er anhält und noch rückgängig gemacht werden kann. Für Informationserhebungen bedeutet dies, dass mit der Speicherung und Verarbeitung weitergehende Eingriffe vorliegen, so dass sich der Informationserhebungseingriff erst erledigt, wenn die Daten vollständig gelöscht sind.766 Diese Erkenntnis hat zur Konsequenz, dass die nachfolgenden Überlegungen über das Feststellungsinteresse für den Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe dann entbehrlich sind, wenn aus den Eingriffen resultierende Informationen in der Ermittlungsakte gespeichert werden. Dann liegt eben kein erledigter, sondern ein fortdauernder Eingriff vor. Der Begriff der „Erledigung“ sollte nicht mit „prozessualer Überholung“ vermengt werden.767 Während Erledigung das soeben beschriebene außerpro___________ rechtseingriffe (1992), S. 21 (gegen die Verwendung von „Wegfall der Beschwer“ als Kriterium für die Erledigung). 763 Siehe BVerfGE 96, 44 (54), wonach eine richterliche Durchsuchungsanordnung spätestens 6 Monaten nach ihrem Erlass außer Kraft tritt, wenn sie bis dahin nicht vollzogen worden ist. Nach dem BVerfG wird nach Ablauf dieser Zeit unwiderleglich vermutet, dass „die richterliche Prüfung nicht mehr die rechtlichen Grundlagen einer beabsichtigten Durchsuchung gewährleistet und die richterliche Anordnung nicht mehr den Rahmen, die Grenzen und den Zweck der Durchsuchung im Sinne eines effektiven Grundrechtsschutzes zu sichern vermag.“ (BVerfGE 96, 44 [54]). Kritisch zu dieser starren Grenze Cirener, JR 1997, 389 (390); Roxin, StV 1997, 654 f. 764 BVerfGE 96, 27 (39 ff.): Vollzug einer richterlichen Durchsuchungsanordnung. 765 Siehe hierzu oben § 8 B. 766 Wohlers, in: SK-StPO (2002), § 160 Rdnr. 81; Amelung, StV 2001, 131 (132); ders., in: Festgabe Bundesgerichtshof (2000), S. 911 (928 ff.); Hölscher, Der Rechtsschutz und die Mitteilungspflichten bei heimlichen strafprozessualen Zwangsmaßnahmen (2001), S. 38. 767 Anders aber die bis jedenfalls vor kurzem vorherrschende Spruchpraxis, die zumindest für erledigte richterliche Anordnungen ausschließlich von „prozessualer Überholung“ spricht, siehe etwa BVerfGE 49, 329 (337); BGH, NJW 1973, 2035; OLG Celle, NJW 1973, 863; KG, NJW 1975, 354 (355); ebenso aber auch aus neuerer Zeit BVerfGE 104, 220 (233). Synonym gebraucht werden die Begriffe auch vielfach in der Literatur, vgl. bspw. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 19 Rdnr. 454; Gusy, JZ 1998, 167 (173); von „Erledigung durch prozessuale Überholung“ spricht
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zessuale Phänomen beschreibt, dass ein Eingriff in materielle Rechte nicht sinnvoll rückgängig gemacht werden kann, sollte man von prozessualer Überholung ausschließlich dann sprechen, wenn prozessuale Rechte eines Prozessbeteiligten in Rede stehen. Prozessuale Überholung bezeichnet dabei den Umstand, dass Rechte, die (ausschließlich) ein bestimmtes Verfahrensstadium betreffen, untergehen, wenn ein neues Verfahrensstadium erreicht wird. Auch wenn dies letztlich nicht mehr als eine bloße terminologische Frage darstellt, suggeriert die Verwendung dieses Begriffs auch im Kontext materieller (Grund-)Rechte doch eine Zwangsläufigkeit, dass Rechte nicht mehr verfolgt werden können, die so nicht besteht.768 Der Begriff der Erledigung sollte daher im Kontext regulativer Normen (hier: Eingriff in materielle Grundrechte, Gebrauchmachen von strafprozessualen Eingriffsermächtigungen), der Begriff der prozessualen Überholung hingegen im Kontext konstitutiver Normen verwendet werden.
II. Die Voraussetzungen des Rechtsschutzes gegen erledigte Eingriffe
Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG garantiert wirksamen Rechtsschutz für den von einem Grundrechtseingriff Betroffenen.769 Die Wirksamkeit des Rechtsschutzes setzt unter bestimmten Umständen voraus, dass der Rechtsweg auch dann eröffnet ist, wenn der Eingriff an sich schon beendet (d.h. erledigt) ist. Dahinter steht, dass das Prinzip der Rechtsschutzwirksamkeit der öffentlichen Hand grundsätzlich verbietet, durch ihr Handeln vollendete Tatsachen zu schaffen.770 Anderenfalls wäre es ihr nämlich möglich, durch den kurzfristig angesetzten Vollzug irreparabler Maßnahmen die Wirksamkeit der Rechtsschutzgarantie außer Kraft zu setzen. Zwar ist als Ausnahme von dieser Regel die Notwendigkeit anerkannt, bei Gefahr im Verzug die erforderlichen Maßnahmen ergreifen zu dürfen.771 Das gleiche gilt, wenn der überraschende Zugriff auf grundrechtliche Schutzgüter eine Erfolgsbedingung für die Erfüllung des legitimen Zwecks ist. So liegt die Lage bei strafprozessualen Grundrechtseingriffen, bei denen jener überraschende Zugriff nachträglichen (aber auch vorbeugenden) Rechtsschutz häufig unmöglich macht. Der Vorteil, den sich der Staat durch die ___________ Köster, Der Rechtsschutz gegen die vom Ermittlungsrichter angeordneten und erledigten strafprozessualen Grundrechtseingriffe (1992), S. 23, kritisch aber dann auf S. 60 ff. 768 Deutlich etwa BGH, NJW 1973, 2035: „Soweit sich die Rechtsmittel gegen die Durchsuchung als solche richten, die nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann, sind sie prozessual überholt und daher unzulässig.“ 769 Siehe hierzu oben A. 770 Schenke, in: BK-GG (Zweitbearb. 1982), Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 425; Lorenz, AöR 105 (1980), 623 (634). 771 Vgl. Schenke, in: BK-GG (Zweitbearb. 1982), Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 425.
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Schaffung vollendeter Tatsachen verschafft, indem er irreversible Verhältnisse schafft, die durch Beschreiten des Rechtswegs nicht verhindert werden können, muss aber ausgeglichen werden. Dies kann nur geschehen, wenn der Staat dem Bürger zumindest unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht, über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme auch nach ihrer Erledigung eine gerichtliche Entscheidung zu erlangen. Das gilt für erledigte Maßnahmen, die ohne richterliche Anordnung ergriffen worden sind,772 seit der Leitentscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1997773 aber auch für erledigte Eingriffe in Vollzug richterlicher Anordnungen. Für die letztgenannte Fallgruppe sind die soeben genannten Gründe in Zusammenschau mit den unter B. für die Geltung des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG für richterliche Anordnungen aufgeführten Gründen zu sehen: Die richterliche Anordnung eines strafprozessualen Grundrechtseingriffs verwirklicht das Leitbild des Grundgesetzes an den Rechtsschutz nicht, der deshalb in einem weiteren (Beschwerde-)Verfahren nachzuholen ist. Das BVerfG bejaht daher in nunmehr gefestigter Rechtsprechung das Rechtsschutzbedürfnis774 für das Vorgehen auch gegen erledigte Grundrechtseingriffe, wenn ein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit besteht. Für das Vorliegen des Interesses hat das BVerfG drei Fallgruppen entwickelt:775 1.
Wiederholungsgefahr;776
2.
Rehabilitationsinteresse bei diskriminierenden Nachwirkungen des erledigten Hoheitsaktes;777
3.
sich typischerweise kurzfristig erledigende Hoheitsakte, die einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff darstellen.778 Daneben ist fraglich, ob auch das Interesse daran, künftig Entschädigungsansprüche779 geltend zu machen, aus verfassungsrechtlicher Sicht das Rechts___________ 772
So bereits BGHSt 28, 57 (58). BVerfGE 96, 27 (39 ff.) unter Aufgabe von BVerfGE 49, 329 ff. und gegen BGHSt 28, 57 (58). 774 Die in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe „Rechtsschutzbedürfnis“, „Feststellungsinteresse“, „berechtigtes Interesse“ oder „fortwirkendes Interesse“ werden in der Diskussion weitgehend synonym gebraucht und betreffen einen Teilaspekt der Zulässigkeit des Rechtsbehelfs. Im Folgenden wird der allgemeine Begriff „Rechtsschutzbedürfnis“ verwendet. 775 Diese Fallgruppen sind aber nicht per se als abschließend zu sehen. 776 BVerfGE 96, 27 (40). 777 BVerfGE 96, 27 (40): Rechtsschutzinteresse, wenn die fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff in Rede steht. 778 BVerfGE 96, 27 (40); 115, 166 (181); BVerfG, NJW 2007, 1117 (1120 f.); BVerfG (Kammer), NJW 2005, 1855 (1856). 779 Siehe zur Entschädigung §§ 17-19. 773
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
schutzbedürfnis für das Vorgehen gegen erledigte Eingriffe begründen kann. Bekanntlich ist ein solches Präjudizinteresse als berechtigtes Feststellungsinteresse i.S.d. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO anerkannt. Allerdings gilt das nur, wenn die Erledigung eintritt, nachdem der Betroffene die Klage gegen den Hoheitsakt erhoben hat.780 Dahinter steht insbesondere die Erwägung, den bisher erreichten Verfahrensstand aus Gründen der Prozessökonomie nicht lediglich für einen Erledigungsstreit, sondern für eine Sachentscheidung zu nutzen. Ein Recht auf den vermeintlich „sachnäheren“ (Verwaltungs-)Richter besteht allerdings nach einhelliger Auffassung nicht.781 Solche prozessökonomischen Gesichtspunkte mögen deshalb zwar hinreichende Gründe für eine entsprechende Auslegung des einfachen Verfahrensrechts (VwGO) darstellen, sie stellen jedoch keine verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten dar.782 Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG erfordert demnach nicht, wegen eines Präjudizinteresses ein Rechtsschutzbedürfnis für das Vorgehen gegen erledigte strafprozessuale Grundrechtseingriffe anzuerkennen.783 Für eine Wiederholungsgefahr (Fallgruppe 1) genügt die abstrakte Möglichkeit eines künftigen, gleichartigen Eingriffs nicht. Der Betroffene muss konkrete Anhaltspunkte für die erneute Vornahme eines solchen Eingriffs geltend machen können.784 Zwar wird man die Anforderungen an eine Wiederholungsgefahr nicht überspannen dürfen.785 Es darf sich aber nicht lediglich um einen „offenbar einmaligen Vorgang“786 gehandelt haben; bloße Befürchtungen eines ___________ 780 Siehe nur BVerwGE 81, 226 (228); Schenke, Verwaltungsprozeßrecht (2005), Rdnr. 585; Rozek, JuS 1995, 598 (600). 781 Spiegelbildlich dazu ist auch kein Recht auf den „sachnäheren“ Strafrichter gegeben, vgl. nur Wohlers, GA 1992, 214 (219). 782 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG (2003), Art. 19 IV Rdnr. 245; Schenke, in: BK-GG (Zweitbearb. 1982), Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 143; Wohlers, GA 1992, 214 (219); Lin, Richtervorbehalt und Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1998), S. 173. 783 Gegen das Ausreichen des Präjudizinteresses als hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis für die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer vor Antragsstellung erledigten strafprozessualen Durchsuchung auf Basis des einfachen Rechts zutreffend KG, NStZ 1997, 563. Der der Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt begründete aus heutiger Sicht aber ein Feststellungsinteresse nach Fallgruppe 3. Für ein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis aber offenbar Dörr, NJW 1984, 2258 (2261). 784 Vgl. etwa BVerfGE 110, 77 (90 f.); für das Feststellungsinteresse bei der Fortsetzungsfeststellungsklage gem. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO BVerwGE 42, 318 (320); 80, 355 (365); Rozek, JuS 1995, 598; Hufen, Verwaltungsprozessrecht (2005), § 18 Rdnr. 72; ähnlich die Judikatur für erledigte strafprozessuale Grundrechtseingriffe: BGHSt 36, 30 (32); 37, 79 (82); BGH, NJW 1990, 333 (334); OLG Celle, StV 1997, 625; ebenso die strafverfahrensrechtliche Literatur: statt vieler Wohlers, in: SK-StPO (2002), § 160 Rdnr. 85 m.w.N.; ausführlich auch ders., GA 1992, 214 (227 f.). 785 Rozek, JuS 1995, 598 für § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO. 786 So KG, NStZ 1986, 135.
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gleichartigen Zugriffs können das Rechtsschutzinteresse ebenfalls nicht begründen.787 Da der von strafprozessualen Grundrechtseingriffen Betroffene von solchen Zusammenhängen im Ermittlungsverfahren nur selten Kenntnis haben wird, hat diese Fallgruppe für den Rechtsschutz gegen erledigte Eingriffe kaum Bedeutung erlangt. Ein Rehabilitationsinteresse (Fallgruppe 2) kann v.a. Ausfluss des grundrechtlichen Persönlichkeitsschutzes durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG sein788 und ist gegeben, wenn der erledigte Hoheitsakt diskriminierende Nachwirkungen entfaltet und diese Nachwirkungen nur durch eine gerichtliche Sachentscheidung ausgeglichen werden können.789 Für strafprozessuale Grundrechtseingriffe besteht dabei die Besonderheit, dass es im weiteren Verfahrensverlauf regelmäßig ohnehin zu einer solchen Sachentscheidung kommen wird (Freispruch, Verurteilung790). Mithin muss das Interesse des Betroffenen dahin gehen, eine solche Sachentscheidung gerade in einem „Nebenprozess“ zu erhalten, der von dem Verfahren als solchem abgelöst ist. Im verwaltungsprozessualen Schrifttum und in der Rechtsprechung wird als Beispiel für hinreichendes Rehabilitationsinteresse häufig „öffentlichkeitswirksames Vorgehen der Polizei“, welches objektiv geeignet ist, das Ansehen des Betroffenen in der Öffentlichkeit zu beschädigen, genannt.791 Das Rechtsschutzbedürfnis folgt also aus der öffentlichkeitswirksamen Behandlung als Störer im polizeirechtlichen Sinn. Eine Verallgemeinerung auch auf das Strafverfahren wäre aber vorschnell: Liegt die fortwirkende Belastung eines Grundrechtseingriffs darin, dass der Betroffene als Beschuldigter behandelt worden ist, ist nicht die Eröffnung eines „Nebenprozesses“ erforderlich, um diese Beeinträchtigung auszugleichen. Vielmehr befasst sich mit dieser Fortwirkung ja gerade das Strafverfahren als solches, an dessen Ende eine Entscheidung über die Berechtigung jenes Verdachts steht. Das Rehabilitationsinteresse kann in solchen Fällen durch das Strafverfahren regelmäßig selbst befriedigt werden.792 Ausnahmen sind allerdings denkbar, etwa wenn die diskriminierende Wirkung des strafverfolgenden Eingriffs über das hinausgeht, was eine Behandlung als Beschuldigter notwendigerweise mit sich bringt. Gleiches gilt naturgemäß, wenn der strafprozessuale Zugriff auf grundrechtliche Schutzgüter nicht beim Beschuldigten, sondern bei ___________ 787
Wohlers, GA 1992, 214 (228). Rozek, JuS 1995, 598 (599). 789 Für das Verwaltungsverfahrensrecht statt vieler Rozek, JuS 1995, 598 (599). 790 Auch eine Einstellungsentscheidung durch die Staatsanwaltschaft (jedenfalls) nach § 170 Abs. 2 StPO und ein Nichteröffnungsbeschluss des Gerichts (§ 204 StPO) dürften den genannten gerichtlichen Sachentscheidungen mit Blick auf das Rehabilitationsinteresse des Betroffenen gleichstehen. 791 Siehe nur Rozek, JuS 1995, 598 (599); VGH München, BayVBl. 1993, 429 (431). 792 So auch Beulke, Strafprozessrecht (2006), Rdnr. 327. 788
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einem Dritten erfolgt.793 Für Dritte hat das Strafverfahren keinerlei Rehabilitierungswirkung, so dass die dargestellten verwaltungsprozessualen Grundsätze übertragbar sind. Diese grundsätzliche Beschränkung des Rehabilitierungsinteresses auf Dritte insbesondere durch die Rechtsprechung ist zwar nicht unwidersprochen geblieben.794 Die Gründe, jene Beschränkung abzulehnen, sind auch durchaus berechtigt und ergeben sich vor allem aus der von der Rechtsprechung lange verkannten „Doppelwirksamkeit“ strafprozessualer Grundrechtseingriffe, d.h. der vernachlässigten Grundrechtsrelevanz.795 Allerdings werden diese Wirkungen inzwischen angemessen durch die – sogleich zu behandelnde – Fallgruppe 3 berücksichtigt und müssen nicht (mehr) ohne Not als „diskriminierende Nachwirkungen“ des strafprozessualen Grundrechtseingriffs eingestuft werden. Im Hinblick auf strafprozessuale Grundrechtseingriffe bilden die bedeutendste Fallgruppe die sich typischerweise kurzfristig erledigenden Hoheitsakte, die tiefgreifende Grundrechtseingriffe darstellen (Fallgruppe 3).796 In Fällen, in denen sich die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt „nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann“, gebietet es nach der Rechtsprechung des BVerfG das Erfordernis des wirksamen Grundrechtsschutzes, dass „der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung dieses schwerwiegenden – wenn auch tatsächlich nicht fortwirkenden – Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen.“797 Der strafprozessuale Grundrechtseingriff ist – neben der präventiv-polizeirechtlichen Standardmaßnahme – einer der Prototypen des sich typischerweise kurzfristig erledigenden Hoheitshandelns. Fraglich bleibt aber, unter welchen Umständen ein Grundrechtseingriff „tiefgreifend“ i.S.d. Rechtsprechung des BVerfG ist. Hintergrund dieser Einschränkung ist die Erwägung, dass nicht allein aus der Tatsache, dass in Grundrechte eingegriffen wird, ein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Hoheitsakts ___________ 793
Beulke, Strafprozessrecht (2006), Rdnr. 327. So etwa von Wohlers, GA 1992, 214 (221 ff.); Fezer, Jura 1982, 18 (27); Rieß/ Thym, GA 1981, 189 (206); Dörr, NJW 1984, 2258 (2261); Aulehner, BayVBl. 1988, 709 (713); Schoch, in: Festschrift für Stree/Wessels (1993), S. 1095 (1113); Amelung, NJW 1979, 1687 (1689); Köster, Der Rechtsschutz gegen die vom Ermittlungsrichter angeordneten und erledigten strafprozessualen Grundrechtseingriffe (1992), S. 96; Lin, Richtervorbehalt und Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1998), S. 177 ff. 795 Deutlich Wohlers, GA 1992, 214 (222) m.w.N. 796 Teilweise wird diese Fallgruppe auch als Unterfall des Rehabilitationsinteresses verstanden, vgl. für § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO Rozek, JuS 1995, 598 (599) m.w.N.; wie hier hingegen BVerfGE 110, 77 (89). 797 Grundlegend BVerfGE 96, 27 (40). 794
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folgen soll.798 Das Rechtsschutzbedürfnis würde anderenfalls in Anbetracht der Auffangwirkung des Art. 2 Abs. 1 GG uferlos. Das BVerfG hat das Erfordernis des „tiefgreifenden“ Eingriffs zunächst dahin konkretisiert, dass es „vor allem“ bei Anordnungen erfüllt sei, „die das Grundgesetz – wie in den Fällen des Art. 13 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 und 3 GG – vorbeugend dem Richter vorbehalten hat.“799 Damit ist für die praktisch sehr relevanten Fälle der Haussuchung nach den §§ 102/103 StPO das Rechtsschutzbedürfnis per se gegeben.800 Das BVerfG hat durch die Worte „vor allem“ aber bereits erkennen lassen, dass auch andere Eingriffe „tiefgreifend“ in diesem Sinn sein können.801 Man wird diese Rechtsprechung des BVerfG für die verfassungsrechtlichen Richtervorbehalte auch auf die einfachrechtlichen Richtervorbehalte übertragen können:802 Der Gesetzgeber hat durch ihre Normierung den von ihnen betroffenen Eingriffen die vom BVerfG als notwendig erachtete „Tiefe“ selbst attestiert.803 Mit dem Bedürfnis nach „präventivem Rechtsschutz“804 geht mithin auch das Bedürfnis einher, im Fall der Erledigung die (aus dem Blickwinkel der Rechtsschutzgarantie vorhandenen) Defizite der richterlichen Anordnung durch nachträglichen Rechtsschutz auszugleichen. Erst recht kann nichts anderes gelten, wenn eine richterliche Anordnung unter Berufung auf die Ausnahmekompetenz bei „Gefahr im Verzug“ nicht eingeholt worden war. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass darüber hinaus das Rechtsschutzbedürfnis auch bei anderen, schwerwiegenden Grundrechtseingriffen gegeben ist, deren Anordnung nicht ___________ 798 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG (2003), Art. 19 IV Rdnr. 245; Schenke, Verwaltungsprozessrecht (2005), Rdnr. 586; Rozek, JuS 1995, 598 (599); für strafprozessuale Grundrechtseingriffe Bachmann, Probleme des Rechtsschutzes gegen Grundrechtseingriffe im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (1994), S. 269; ders., NJW 1999, 2414 (2416). 799 BVerfGE 96, 27 (40); 115, 166 (181). 800 Auf einen solchen Fall bezog sich auch die Entscheidung BVerfGE 96, 27 ff. Daraus ergibt sich auch, dass das BVerfG weitergehende Aussagen über diese Fallgruppe des Rechtsschutzbedürfnisses in der Entscheidung nicht treffen musste. 801 So ausdrücklich – allerdings ohne inhaltliche Kriterien zu nennen – BVerfG (Kammer), NJW 2005, 1855 (1856). Das BVerfG hat denn seine Rechtsprechung auch weiterentwickelt und ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse für den Fall anerkannt, dass die Ausübung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit tatsächlich unterbunden bzw. eine Versammlung aufgelöst worden ist: BVerfGE 110, 77 (89). In einer anderen Konstellation hat das BVerfG für Durchsuchungen und Beschlagnahmen in Medienunternehmen den Eingriff in die Presse- und Rundfunkfreiheit ergänzend zur Beurteilung der für ein Rechtsschutzbedürfnis hinreichenden „Tiefe“ des Eingriffs herangezogen, vgl. BVerfG, NJW 2007, 1117 (1121); BVerfG (Kammer), NJW 1998, 2131 (2132). 802 Im Ergebnis ebenso Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts (2007), Kap. K Rdnr. 88. 803 Vgl. in anderem Zusammenhang auch Gusy, GA 2003, 672 (674): „Sofern der Gesetzgeber sich für die Einführung eines solchen Vorbehalts entschieden hat, sind darauf die grundgesetzlichen Anorderungen an deren Ausübung unmittelbar anwendbar.“ 804 Siehe zum Zweck des Richtervorbehalts § 8 A.
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einem Richter vorbehalten sind.805 Das sollte aber nicht dazu führen, ein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit per se für jeden strafprozessualen Grundrechtseingriff zu bejahen.806 Für eine Vielzahl strafprozessualer Grundrechtseingriffe ergibt sich das Rechtsschutzinteresse für den Fall der Erledigung damit unter dem Gesichtspunkt, dass es sich bei ihnen um i.S.d. Rechtsprechung des BVerfG typischerweise kurzfristig erledigende Hoheitsakte handelt, die einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff darstellen. Dies ist zumindest immer dann der Fall, wenn die Anordnung des Zugriffs auf das grundrechtliche Schutzgut – verfassungsrechtlich oder durch einfaches Gesetz – einem Richter vorbehalten ist.
D. Spezifische Folgen für den Rechtsschutz aus der Heimlichkeit eines Eingriffs Weiß der Betroffene von einem gegen ihn gerichteten strafprozessualen Grundrechtseingriff nichts, läuft die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG weitgehend leer. Nach Ansicht des BVerfG hat der von einem nicht erkennbaren Eingriff Betroffene auf Grund der Gewährleistung wirksamen („effektiven“) Grundrechtsschutzes daher grundsätzlich ein Recht auf spätere Kenntnis der Maßnahme.807 Einen Anspruch haben hiernach alle Personen, in ___________ 805 Auf das konkrete Ausmaß der Eingriffsbelastung stellt bspw. Beulke, Strafprozessrecht (2006), Rdnr. 327, ab. 806 A.A. Wohlers, in: SK-StPO (2002), § 160 Rdnr. 89; Roxin, StV 1997, 654 (656); unentschlossen Fezer, JZ 1997, 1062 (1063 f.); wie hier hingegen die h.M. im Verfassungs- und Verwaltungsrecht (siehe § 13 Fn. 798) sowie Bachmann, NJW 1999, 2414 (2416). 807 BVerfGE 109, 279 (363 f.), das den Anspruch aus dem materiellen Grundrecht i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG herleitet; nach BVerfGE 100, 313 (361) vermittelt für Eingriffe in Art. 10 GG das materielle Grundrecht selbst einen Anspruch als „spezifisches Datenschutzrecht“ ohne „Verengung“ auf den gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Die ausschließlich materiellrechtliche Anknüpfung des Anspruchs bei Eingriffen in Art. 10 GG liegen vornehmlich in der Einschränkung des Art. 19 Abs. 4 S. 3 GG begründet. Vgl. aus der Literatur ausführlich Velten, Befugnisse der Ermittlungsbehörden zu Information und Geheimhaltung (1995), S. 84 ff.; Schenke, in: Wolter u.a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht (1999), S. 153 (183); Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei (1992), S. 24 f.; 28 ff.; Hölscher, Der Rechtsschutz und die Mitteilungspflichten bei heimlichen strafprozessualen Zwangsmaßnahmen (2001), S. 210 f. Zurückhaltender – aber nicht überzeugend – im Hinblick auf solche Grundrechtseingriffe, die für den Betroffenen „ohne nachteilige Folgen“ bleiben, jüngst BVerfG, Beschl. v. 13.6.2007 – 1 BvR 1550/03 u.a., Rdnr. 180: Das Feststellungsinteresse wiege nicht so schwer, dass dem Betroffenen stets aktiv die für eine gerichtliche Geltendmachung erforderlichen Kenntnisse verschafft werden müssten. Allerdings bleibt doch unerfindlich, weshalb die Behörde, die aktiv wird, um in Grundrechte einzugreifen, nicht auch aktiv werden soll, den Betroffenen darüber in Kenntnis zu setzen.
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deren Grundrechte heimlich eingegriffen wird, d.h. nicht nur der Beschuldigte, sondern auch der andere von einer Maßnahme (notwendig) Betroffene.808 Da der Richtervorbehalt keinen Art. 19 Abs. 4 GG genügenden Rechtsschutz gewährleistet,809 gilt dies unabhängig davon, ob eine heimliche Maßnahme richterlich angeordnet worden ist oder nicht. Ist eine Maßnahme richterlich angeordnet worden, ist im Falle ihres Vollzugs der Betroffene nicht nur von der Tatsache des Zugriffs auf das grundrechtliche Schutzgut, sondern auch von der richterlichen Anordnung in Kenntnis zu setzen.810 Das ergibt sich schon daraus, dass die richterliche Anordnung die Modalitäten des Rechtsschutzes vorgibt.811 Wird eine richterliche Anordnung hingegen von den Strafverfolgungsbehörden erwirkt, jedoch nicht vollzogen, muss der Betroffene nicht informiert werden. Denn die Anordnung wird erst durch ihren Vollzug zu einem Grundrechtseingriff.812 Die Nichtbenachrichtigung von einem heimlichen Eingriff beeinträchtigt nach alldem die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG. Der Anspruch auf Kenntnisnahme ist zwar einschränkbar. Eine Einschränkung unterliegt allerdings den Schranken des betroffenen Grundrechts i.V.m. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG.813 Sie bedarf danach einer gesetzlichen Grundlage und muss dem Übermaßverbot genügen, d.h. insbesondere einen legitimen Zweck verfolgen (der darüber hinaus eine verfassungsimmanente Schranke verkörpert)814 und zu seiner Verfolgung erforderlich und angemessen sein. Der Anspruch besteht allerdings – wie auch der Anspruch auf Rechtsschutz als solcher – von ___________ 808
BVerfGE 109, 279 (365); Welp, Die strafprozessuale Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (1974), S. 113. 809 s.o. B. 810 Siehe BVerfGE 109, 279 (364); in diesem Sinn auch die (verfassungskonforme) Auslegung von § 101 Abs. 1 StPO a.F. durch die h.M.: Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), § 101 Rdnr. 2; Nack, in: KK-StPO (2003), § 101 Rdnr. 1; Meyer-Goßner, StPO (2006), § 101 Rdnr. 3; a.A. aber Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil II (1957), § 101 Rdnr. 1. Gleiches gilt für § 101 Abs. 4 S. 1 StPO n.F. Bedenklich war daher die Formulierung in § 100d Abs. 8 StPO a.F., der die Benachrichtigung von „durchgeführten Maßnahmen“ vorsah. 811 Siehe zu diesen Facetten § 14. 812 s.o. § 10 C.I. 813 BVerfGE 109, 279 (364); nach BVerfGE 100, 313 (361) konsequenterweise nur den Schranken des betroffenen Grundrechts (siehe hierzu § 13 Fn. 807). 814 Art. 19 Abs. 4 steht zwar unter dem Vorbehalt der Ausgestaltung durch den einfachen Gesetzgeber. Diese Gestaltungsfreiheit findet ihre Grenze allerdings am Erfordernis wirkungsvollen Rechtsschutzes. Der Zugang zu Gerichten „darf daher – vorbehaltlich verfassungsunmittelbarer Schranken – in keinem Fall ausgeschlossen, faktisch verhindert bzw. in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden.“ (Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 [2005], Art. 19 Rdnr. 380 m.w.N.). Vgl. auch Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei (1992), S. 26 f.
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Verfassungs wegen, bedarf also keines konstitutiven gesetzgeberischen Akts. Soweit der Gesetzgeber den Anspruch (normiert und vor allem) begrenzt, muss er den soeben genannten Anforderungen genügen. Benachrichtigungspflichten für heimliche Maßnahmen sieht denn auch die StPO vor, nämlich inzwischen einheitlich in § 101 Abs. 4 StPO n.F.815 für Maßnahmen nach den §§ 98a, 99, 100a, 100c bis 100i, 110a, 163d und 163f StPO.816 Die Vorschrift ist wegen der Beschränkung ihrer Reichweite aber – trotz deutlicher Verbesserungen – noch immer nicht unproblematisch:817 So steht die Benachrichtigungspflicht nach § 101 Abs. 5 StPO nach wie vor unter sachlichen Vorbehalten, namentlich der „Gefährdung des Untersuchungszwecks“ oder bestimmten Belangen der öffentlichen Sicherheit. Im Übrigen ist die Neunormierung der Benachrichtigungspflicht nach wie vor lückenhaft, weil noch immer nicht alle heimlichen Grundrechtseingriffe erfasst werden.818 Da der Anspruch allerdings verfassungsunmittelbar besteht, können sich die Strafverfolgungsbehörden auf diese Lückenhaftigkeit nicht berufen. Das entscheidende Manko der Benachrichtigungspflichten liegt allerdings weniger in ihrer lückenhaften Ausgestaltung, sondern vor allem in ihrer nur sehr begrenzten tatsächlichen Wirksamkeit: Jüngere empirische Untersuchungen zur Telefonüberwachung haben Zweifel daran aufkommen lassen, dass die ___________ 815
Bis zur Neufassung dieser Vorschrift durch das zum 1.1.2008 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG (BGBl. I 2007, S. 3198) enthielt die StPO ebenfalls Benachrichtigungspflichten in § 101 Abs. 1 StPO (für Maßnahmen nach §§ 81e, 99, 100a, 100b, 100f Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2, 100g und 100h StPO), § 100d Abs. 8 StPO (für die akustische Wohnraumüberwachung nach § 100c StPO), § 110d Abs. 1 StPO (Information von Personen, deren Wohnung ein verdeckter Ermittler betreten hat) und § 163d Abs. 5 StPO (Information der von der Auswertung einer Schleppnetzfahndung nach § 163d Abs. 1 StPO betroffenen Personen). 816 Anders als nach § 101 Abs. 1 StPO a.F. ist eine Benachrichtigung für die molekulargenetische Untersuchung gemäß § 81e StPO nicht mehr vorgesehen. Die Begründung des Gesetzgebers, im Fall des § 81e Abs. 1 StPO werde die Maßnahme zwangsläufig bei der Anordnung der Körperzellentnahme bekannt (BT-Drs. 16/5846, S. 57; ebenso bereits Löffelmann, ZStW 118 [2006], 358 [367, Fn. 43]), überzeugt indes nicht, da die Maßnahme auch an Körperzellen durchgeführt werden kann, die zu anderen Zwecken entnommen worden sind (siehe hierzu bereits § 8 A.II.1. Da allerdings für Maßnahmen nach § 81e Abs. 1 StPO die Voraussetzungen des § 33 Abs. 4 StPO nur selten erfüllt sein dürften, der Betroffene also vor einer molekulargenetischen Untersuchung anzuhören ist, dürfte diese gesetzgeberische Fehlentscheidung – jedenfalls wenn § 33 Abs. 3 StPO ernst genommen wird – kaum rechtsschutzverkürzende Wirkung entfalten. 817 Siehe hierzu auch Puschke/Singelnstein, NJW 2008, 113 (116). 818 Man denke nur an den schon gesetzlich nicht geregelten Einsatz von V-Leuten (siehe zum Eingriffscharakter solcher Maßnahmen oben § 10 A.III.) oder den maschinellen Datenabgleich nach § 98c StPO; vgl. auch die Analyse bei Hölscher, Der Rechtsschutz und die Mitteilungspflichten bei heimlichen strafprozessualen Zwangsmaßnahmen (2001), S. 274 ff.
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Benachrichtigungspflichten der Strafverfolgungsbehörden tatsächlich ordnungsgemäß erfüllt werden.819 Erhebungen zum großen Lauschangriff haben ein ähnliches Bild geliefert.820 Diese Untersuchungen belegen, dass die gesetzlichen Benachrichtigungspflichten die Heimlichkeit der Eingriffe vor dem Hintergrund der grundgesetzlichen Rechtsschutzgarantie nur sehr unvollkommen ausgleichen können. Anders wäre dies nur, wenn die Erfüllung der Benachrichtigungspflicht ihrerseits kontrollierbar wäre. Das ist aber derzeit nicht der Fall. Auch die Neuregelung der Benachrichtigungspflichten durch § 101 Abs. 4 bis 6 StPO n.F. hat daran nichts geändert, da sie nur die Pflicht als solche, nicht aber ihre Kontrolle betrifft.821 Die derzeitige gesetzliche Ausgestaltung der Benachrichtigungspflichten ist daher nach wie vor verfassungsrechtlich bedenklich.822 De lege lata scheidet der Betroffene naturgemäß aus, um eine solche Kontrolle zu initiieren, geht es doch gerade um Eingriffe, die ihm wegen der Verletzung der Pflicht verborgen bleiben. Auch die Dienstaufsicht stellt hierfür kein angemessenes Instrument dar. Denkbar wäre daher, die Benachrichtigungspflicht nicht bei den Strafverfolgungsbehörden, sondern von vornherein bei dem sachlich und persönlich unabhängigen Ermittlungsrichter anzusiedeln.823 Allerdings könnte – abgesehen von praktischen Schwierigkeiten – auch eine solche Verschiebung der Zuständigkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einhaltung der Benachrichtigungspflicht selbst – sei sie nun beim Ermittlungsrichter oder den Strafverfolgungsbehörden angesiedelt – kontrolliert werden muss, um die Wirksamkeit des Rechtsschutzes i.S.v. Art. 19 Abs. 4 GG zu ___________ 819
Nach einer vom BMJ in Auftrag gegebene Studie des Freiburger Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Strafrecht wurde die Informationspflicht des § 101 Abs. 1 StPO a.F. in etwa 15 % der Fälle erfüllt, vgl. Albrecht/Dorsch/Krüpe, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Überwachung der Telekommunikation nach den §§ 100a, 100b StPO und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen (2003), S. 276; Krüpe-Gescher, Die Überwachung der Telekommunikation nach den §§ 100a, 100b StPO in der Rechtspraxis (2005), S. 184. Nach einer Studie an der Universität Bielefeld lag der Wert gar nur bei erschreckenden 2,3 %, vgl. Backes/Gusy, Wer kontrolliert die Telefonüberwachung? (2003), S. 71 f.; dies., StV 2003, 249 (251). 820 Vgl. die ebenfalls vom BMJ in Auftrag gegebene Studie des Freiburger MaxPlanck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht von Meyer-Wieck, Der Große Lauschangriff (2005). Untersucht wurden 91 Verfahren, in denen ein großer Lauschangriff angeordnet worden war. 81 Maßnahmen sind tatsächlich durchgeführt worden; hiervon waren 227 Personen betroffen (ebd., S. 239). 142 Personen sind aktenmäßig dokumentiert benachrichtigt worden (ebd., S. 244). Daraus ergibt sich eine Quote für eine direkte Benachrichtigung von knapp 63 %. 821 Das gilt auch für § 101 Abs. 6 StPO, der zwar die gerichtliche Kontrolle der Zurückstellung der Benachrichtigung regelt, nicht aber die Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung, ob eine solche gerichtliche Entscheidung beantragt wird. 822 Siehe auch Hölscher, Der Rechtsschutz und die Mitteilungspflichten bei heimlichen strafprozessualen Zwangsmaßnahmen (2001), S. 272 f. 823 So der Vorschlag von Erfurth, Verdeckte Ermittlungen (1997), S. 53.
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Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
gewährleisten. Man könnte ferner erwägen, die Einhaltung der Benachrichtigungspflicht durch Beweisverwertungsverbote zu sichern: Wird der Betroffene von einer heimlichen Maßnahme nicht benachrichtigt, können die hieraus gewonnenen Erkenntnisse im Prozess nicht verwertet werden.824 Eine solche Lösung vermischte aber inner- und außerprozessuale Aspekte des Rechtsschutzes in unzulässiger Weise: Art. 19 Abs. 4 GG verlangt die Möglichkeit, die Grundrechtsbeeinträchtigung beseitigen bzw. – im Fall der Erledigung – deren Rechtswidrigkeit feststellen lassen zu können, betrifft also im Wesentlichen die außerprozessuale Dimension.825 Das zeigt sich auch daran, dass die Lösung versagen muss, wenn es zu einer Hauptverhandlung nicht kommt oder nicht der Beschuldigte der Inhaber des Auskunftsanspruchs ist. Die Lösung eines Verwertungsverbots käme im Übrigen dem Disziplinierungsgedanken nahe, einem Prinzip, für das in der deutschen Verwertungsverbotslehre zumindest ohne normativem Anhalt kein Raum ist.826 Es bedarf daher einer unabhängigen Kontrollinstanz nach der Art eines Datenschutzbeauftragten, der befugt ist, Ermittlungsakten auf die Erfüllung der Benachrichtigungspflicht verdachtsunabhängig zu überprüfen. Die Schaffung einer solchen Kontrollinstanz, die mit ausreichenden Befugnissen ausgestattet ist, genügt dem Bedürfnis nach Kontrolle der Erfüllung jener Benachrichtigungspflicht. Heimliche strafprozessuale Grundrechtseingriffe sind also nicht schon per se wegen Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG verfassungswidrig.827 Ihre derzeitige Ausgestaltung ist mit diesem Grundrecht allerdings nicht vereinbar. § 14 Die einfachrechtliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes
§ 14 Die einfachrechtliche Ausgestaltung des (repressiven) Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe Für die einfachrechtliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe sind zwei Unterscheidungen grundlegend: Zum einen ist danach zu differenzieren, ob Rechtsschutz gegen die richterliche Anordnung eines Grundrechtseingriffs begehrt wird (hierzu A.) oder ob der Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut ohne eine solche Anordnung erfolgt (B.). Eine zweite Unterscheidung trennt zwischen der Anordnung eines Eingriffs (bzw. des Vollzugs gemäß der Anordnung) und Aspekten des Vollzugs, ___________ 824
Siehe (allerdings ebenfalls zurückhaltend) Velten, Befugnisse der Ermittlungsbehörden zu Information und Geheimhaltung (1995), S. 91 f. 825 Vgl. auch BVerfGE 96, 27 (42). 826 Hierzu m.w.N. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 19; ders., in: Festgabe für Hilger (2003), S. 327 (337); Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess (2003), S. 70; Mittag, JR 2005, 386 (388). 827 Ohne die Möglichkeit unabhängiger Kontrollinstanzen anzusprechen a.A. Velten, Befugnisse der Ermittlungsbehörden zu Information und Geheimhaltung (1995), S. 108.
§ 14 Die einfachrechtliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes
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soweit dieser nicht in Übereinstimmung mit der Anordnung erfolgt (hierzu C.). Schließlich ist auf Probleme bei der Durchsetzung des öffentlichen-rechtlichen Abwehranspruchs einzugehen (D.). Angesichts der zahlreichen Monographien und Abhandlungen zu diesem Thema,828 darf sich die vorliegende Untersuchung mit einem Überblick begnügen. Die StPO enthält nur wenige Vorschriften über den Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe. Die §§ 304 ff. regeln mit der Beschwerde das statthafte Rechtsmittel gegen richterliche Anordnungen. Für nichtrichterlich angeordnete Eingriffe existiert eine ausdrückliche Regelung nur in § 98 Abs. 2 S. 2 StPO. Daneben sind 1960 gleichzeitig mit Erlass der VwGO mit den §§ 23 ff. EGGVG umfassende Vorschriften über den nachträglichen Rechtsschutz gegen Justizverwaltungsakte erlassen worden,829 deren Verhältnis zu Regelungen der StPO aber lange Zeit unklar war. Das BVerfG bemängelt denn auch, dass die Rechtsmittel gegen Anordnungen und Maßnahmen nach dem geltenden Recht in schwer zu durchschauender Weise mehrfach gespalten seien und von den Fachgerichten uneinheitlich gehandhabt würden.830 Diese Mahnung haben die Fachgerichte zum Anlass genommen, von der Aufspaltung der Rechtswege abzurücken und den Rechtsschutz insgesamt transparenter zu gestalten.831 Auch der Gesetzgeber ist tätig geworden und hat – nachdem § 100d Abs. 10 StPO a.F.832 bereits den Rechtsschutz speziell gegen den großen Lauschangriff regelte – mit Wirkung zum 1.1.2008 in § 101 Abs. 7 StPO eine Spezialvorschrift für den Rechtsschutz gegen die in § 101 Abs. 1 StPO genannten heimlichen Grundrechtseingriffe erlassen.833
A. Rechtsschutz gegen richterlich angeordnete Grundrechtseingriffe I. Die Beschwerde gemäß § 304 StPO
Der Rechtsschutz gegen richterlich angeordnete Grundrechtseingriffe richtet sich grundsätzlich nach den Regeln über die Beschwerde in den §§ 304 ff. ___________ 828
Siehe vor vor § 13 Fn. 726. Die Vorschriften waren zunächst lediglich als Übergangsregelungen gedacht: BTDrs. 3/1094, S. 15. 830 BVerfGE 96, 44 (49). 831 Siehe in Reaktion auf BVerfGE 96, 27 ff. und BVerfGE 96, 44 ff. vor allem BGHSt 44, 265 ff.; 45, 183 ff. 832 In der Fassung, die er durch Art. 1 des Gesetzes v. 24.6.2005 (BGBl. I 2005, S. 1841) gefunden hatte. 833 Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG (BGBl. I 2007, S. 3198); hierzu sogleich unter A.II. 829
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StPO. Nach § 304 Abs. 1 StPO ist die Beschwerde gegen alle von den Gerichten im ersten Rechtszug erlassenen Beschlüsse zulässig. Zu den „im ersten Rechtszug“ erlassenen Beschlüssen gehören auch die richterlichen Anordnungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe.834 Zulässigkeitsvoraussetzung einer solchen Beschwerde ist allerdings, dass durch die Anordnung das Grundrecht des Beschwerdeführers konkret betroffen ist.835 Spezialregelungen können die Beschwerde ausschließen (§§ 81c Abs. 3 S. 4; 117 Abs. 2 S. 1; 161a Abs. 3 S. 4; 163a Abs. 3 S. 3; 304 Abs. 4 und Abs. 5; 305 S. 1 StPO). Diese Spezialregelungen bedürfen indes im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG einer verfassungskonformen Auslegung: Der Ausschluss der Beschwerde ist bei der Anordnung von Grundrechtseingriffen nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn dem Anspruch des Betroffenen auf wirksamen Rechtsschutz ausnahmsweise durch die richterliche Anordnung selbst836 oder auf andere Weise837 genügt ist. §§ 304 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 und Abs. 5; 305 S. 1 StPO wären vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG allerdings verfassungsrechtlich bedenklich, wollte man die Beschwerde nur gegen die dort genannten strafprozessualen Grundrechtseingriffe (v.a. Verhaftung und Beschlagnahme) zulassen. Hintergrund insbesondere des § 305 S. 1 StPO ist es, die Beschwerde gegen einzelne Verfahrenshandlungen auszuschließen, da verfahrensrechtliche Rechtspositionen mit dem gegen die Endentscheidung (Urteil) statthaften Rechtsmittel weiterverfolgt werden können. Dieses Konzept versagt aber immer dort, wo auch materielle Rechtspositionen (materielle Grundrechte) betroffen sind. Aus diesem Grund sind die Vorschriften verfassungskonform dahin zu interpretieren, dass das Rechtsmittel immer dann nicht ausgeschlossen
___________ 834
Engelhardt, in: KK-StPO (2003), § 304 Rdnr. 18; Matt, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 5 (25. Aufl. 2003), § 304 Rdnr. 62. 835 An dieser Voraussetzung fehlt es bspw. bei der bloßen Anordnung der Einrichtung einer Kontrollstelle nach § 111 Abs. 1 S. 1 StPO (so zu Recht BGHSt 35, 363 [364]; ebenso Achenbach, NStZ 1989, 82 [83]; Amelung, in: Festgabe Bundesgerichtshof [2000], S. 911 [914]; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 [25. Aufl. 2003], § 111 Rdnr. 33); hierfür wäre vielmehr die Identitätsfeststellung bzw. Durchsuchung nach § 111 Abs. 1 S. 2 StPO erforderlich. Hat eine solche stattgefunden, sind für ihre Rechtmäßigkeit aber die Voraussetzung des § 111 Abs. 1 S. 1 StPO inzident zu prüfen. Das Rechtsschutzbedürfnis besteht dann schon unter dem Aspekt des Rehabilitierungsinteresses (siehe hierzu § 13 C.II.), weil es sich bei dem von der Maßnahme Betroffenen regelmäßig nicht um einen Beschuldigten handelt. 836 So im Fall der §§ 161a Abs. 3 S. 4; 163a Abs. 3 S. 3 StPO, die die Beschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung ausschließen, die der Betroffene selbst zur Überprüfung einer staatsanwaltschaftlichen Entscheidung herbeigeführt hat. 837 So im Fall des § 117 Abs. 2 S. 1 StPO durch die Haftprüfung des judex a quo, im Fall des § 81c Abs. 3 S. 4 StPO durch die Möglichkeit der Beschwerde gegen die Anordnung nach § 81c Abs. 5 StPO.
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ist, wenn der Beschwerdegegenstand die Anordnung eines strafprozessualen Grundrechtseingriffs ist.838 Der Rechtsschutz gegen erledigte richterliche Anordnungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe richtet sich nach den schon dargestellten Grundsätzen.839
II. Die Neuregelung des § 101 Abs. 7 StPO
Eine Besonderheit stellt § 101 Abs. 7 S. 2 bis 4 StPO n.F.840 dar. Nach dieser Vorschrift kann die Überprüfung der Anordnung sowie der Art und Weise des Vollzugs der in § 101 Abs. 1 StPO genannten heimlichen Ermittlungsmaßnahmen auch nach deren Beendigung innerhalb von zwei Wochen nach der Benachrichtigung von den Maßnahmen beantragt werden. Die Vorschrift verallgemeinert, was § 100d Abs. 10 StPO a.F.841 bereits für den großen Lauschangriff regelte. Zuständig ist nach § 101 Abs. 7 S. 2 StPO grundsätzlich842 der judex a quo, gegen dessen Entscheidung wiederum sofortige Beschwerde statthaft ist. Die Rechtsschutzmöglichkeit ist hier namentlich befristet worden, um Interessen anderer Betroffener an einer baldigen Vernichtung der erhobenen personenbezogenen Daten (vgl. § 101 Abs. 8 StPO) angemessen Rechnung zu tragen.843 Eine solche Befristung ist verfassungsrechtlich auch vor dem Hintergrund der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG nicht grundsätzlich zu beanstanden, soweit der Zugang zu Gericht nicht faktisch ausgeschlossen wird.844 Das ist hier deshalb nicht der Fall, weil die Benachrichtigung den Hinweis auf die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes und dessen Fristgebundenheit enthalten muss (§ 101 Abs. 4 S. 2 StPO).845 Enthält die Benachrich___________ 838
Amelung, in: Festgabe Bundesgerichtshof (2000), S. 911 (915); siehe bereits oben
§ 6 B. 839
s.o. § 13 C. Siehe § 14 Fn. 833. 841 In der Fassung des Art. 1 des Gesetzes v. 24.6.2005, BGBl. I 2005, S. 1841. 842 Zur Situation nach Erhebung der Anklage siehe sogleich im Text. 843 Siehe für § 100d Abs. 10 StPO a.F. BT-Drs. 15/4533 S. 19; für § 101 Abs. 7 S. 2 BT-Drs. 16/5846, S. 62. 844 Siehe zur Verfassungsmäßigkeit prozessualer Ausschlussfristen Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1 (2004), Art. 19 IV Rdnr. 97; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG (2003), Art. 19 IV Rdnr. 235; Schenke, in: Wolter u.a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht (1999), S. 153 (168). 845 Die Bedenken von Hirsch, in: Gedächtnisschrift für Lisken, S. 87 (95 f.), gegen die Vorläuferregelung des § 100d Abs. 10 StPO greifen nicht durch: Hirsch meint, die Vorschrift lasse offen, ob die Rechtsschutzmöglichkeit eine Benachrichtigung voraussetze, oder ob die Benachrichtigung lediglich eine Frist in Gang setze. Nur letzteres kann mit bei verfassungskonformer Interpretation gemeint sein. Die erste Alternative 840
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tigung unter Verstoß gegen jene Vorschrift einen solchen Hinweis nicht, verlängert sich die Frist zwar – anders als etwa nach § 58 Abs. 2 VwGO – nicht, allerdings besteht die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 44 S. 1 StPO.846 Besondere Beachtung verdient schließlich § 100d Abs. 10 S. 3 StPO. Nach dieser Vorschrift entscheidet nach Anklageerhebung (und deren Mitteilung) das mit der Sache befasste Gericht in der das Verfahren abschließenden Entscheidung. Hiermit wollte der Gesetzgeber divergierende Entscheidungen der Rechtsmittelgerichte im Hauptsacheverfahren und im Verfahren des nachträglichen Rechtsschutzes vermeiden.847 Er hat offenbar für den Teilbereich dieser Art von Informationserhebungen auf Bedenken reagiert, die schon länger gegen die divergierenden Zuständigkeiten laut geworden sind.848 Nicht völlig widerspruchsfrei ist das Verhältnis des neuen § 101 Abs. 7 StPO zur Beschwerde nach § 304 StPO: Nach den Überlegungen des Gesetzgebers hat die erstgenannte Vorschrift im Wesentlichen die Funktion, dem Betroffenen den Nachweis eines Rechtsschutzbedürfnisses im Einzelfall zu ersparen, führe aber nicht dazu, dass die bislang schon anerkannten Rechtsbehelfe verdrängt würden.849 Überzeugend ist dies aber nicht, da insbesondere die Ausschlussfrist des § 101 Abs. 7 S. 2 StPO keine praktische Bedeutung haben dürfte, wenn der Betroffene auch nach Ablauf dieser Frist gegen die Anordnung einer entsprechenden Maßnahme die Beschwerde gemäß § 304 StPO einlegen könnte. Man wird daher davon ausgehen müssen, dass § 101 Abs. 7 S. 2 StPO – sofern er einschlägig ist – die allgemeinen Rechtsschutzregeln verdrängt.850 Auch die Erwägung des Gesetzgebers, dem Betroffenen durch die Neuregelung die Last des Nachweises eines Rechtsschutzbedürfnisses abzunehmen, läuft leer, weil für die hier in Rede stehenden Maßnahmen – es handelt sich nach der hier vertretenen Auffassung jeweils um tiefgreifende Grundrechtseingriffe – ein Rechtsschutzinteresse per se gegeben ist.851 Der Rechtsschutz gegen strafpro___________ würde Art. 19 Abs. 4 GG verletzen. Die Gesetzesmaterialien geben für eine solche Auslegung denn auch nichts her (vgl. BT-Drs. 15/4533, S. 19). Gleiches gilt für § 101 Abs. 7 StPO n.F. Massive Bedenken gegen Zwei-Wochen-Frist tragen Puschke/Singelnstein, NJW 2008, 113 (116), vor. 846 Allerdings nennt § 44 S. 2 StPO die fehlende Belehrung nach § 101 Abs. 4 S. 2 StPO nicht als Grund, die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist zwingend als unverschuldet anzusehen (so nämlich für die fehlenden Belehrungen nach §§ 35a, 319 Abs. 2 S. 3, 346 Abs. 2 S. 3 StPO). Insoweit ist zu erwägen, § 44 S. 2 StPO analog anzuwenden. 847 Für § 100d Abs. 10 StPO a.F. BT-Drs. 15/4533. 848 Vgl. nur Amelung, in: Festgabe Bundesgerichtshof (2000), S. 911 (916). 849 BT-Drs. 16/5846, S. 62. 850 Ebenso BGH, Beschl. v. 8.10.2008, StB 12-15/08, Rdnr. 7 f. 851 Siehe hierzu die Ausführungen unter § 13 C.; anders aber Löffelmann, ZStW 118 (2006), 358 (368 f.), der eine Ausweitung des § 100d Abs. 10 StPO a.F. auf andere heimliche Ermittlungsmaßnahmen fordert, bei denen „nicht ohne weiteres von der Be-
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zessuale Grundrechtseingriffe wird damit unnötig um eine weitere Nuance „bereichert“, die die Unübersichtlichkeit des Rechtsschutzsystems nur weiter fördert. Es wäre wünschenswert gewesen, die mit der Neuregelung verfolgten Ziele durch eine grundlegende Neustrukturierung der Rechtsschutzvorschriften der StPO zu verfolgen, statt dem „Rechtsschutzteppich“ der StPO einen weiteren Flicken hinzuzufügen.852
B. Rechtsschutz gegen nicht-richterlich angeordnete Grundrechtseingriffe Insbesondere der Rechtsschutz gegen nicht-richterlich angeordnete strafprozessuale Grundrechtseingriffe war bis in die letzten Jahre des vergangenen Jahrhunderts von der Rechtsprechung uneinheitlich gehandhabt worden. Ausdrücklich ist in der StPO nur der Fall geregelt, dass der Betroffene nach einer nicht-richterlich angeordneten Beschlagnahme (vgl. § 98 Abs. 1 S. 1 StPO) jederzeit eine richterliche Entscheidung beantragen kann (§ 98 Abs. 2 S. 2 StPO). Für diese Rechtsschutzform ist zunächst fraglich, ob (auch) die Rechtmäßigkeit des Beschlagnahmeaktes853 oder ausschließlich die Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Beschlagnahme854 streitbefangen ist. Das ist immer dann von Bedeutung, wenn der Beschlagnahmeakt (nur) aus formalen Gründen (etwa wegen des Fehlens von Gefahr im Verzug) rechtswidrig gewesen ist. Für die letztgenannte Auffassung mag zwar sprechen, dass der Wortlaut des § 98 Abs. 2 S. 1 StPO (auf den sich auch S. 2 der Vorschrift bezieht) von „Bestätigung“ spricht. Im Hinblick darauf, dass Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG Rechtsschutz gegen die Akte der Strafverfolgungsbehörden garantiert, muss jedoch in verfas-
___________ deutung des beeinträchtigten Rechtsguts (Art. 13, Art. 1 GG) auf die Schwere des Grundrechtseingriffs geschlossen werden“ könne. 852 Ähnlich bereits Glaser/Gedeon, GA 2007, 415 (434). 853 So Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1976), S. 28 ff.; ders., in: AK-StPO, Bd. 2/1 (1992), § 98 Rdnr. 30; Fezer, Jura 1982, 126 (127 ff.); ders., NStZ 1999, 151 (152); ders., in: Festschrift für Rieß (2002), S. 93 (97); Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), § 98 Rdnr. 53; Nack, in: KKStPO (2003), § 98 Rdnr. 21; ausführlich Bachmann, Probleme des Rechtsschutzes gegen Grundrechtseingriffe im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (1994), S. 205 ff. 854 In diesem Sinne Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil II (1957), § 98 Rdnr. 5; Schenke, VerwArch 60 (1969), 332 (347 f.); Dörr, NJW 1984, 2258 (2260); Schnarr, NStZ 1991, 209 (214); Schoch, in: Festschrift für Stree/Wessels (1993), S. 1095 (1102); für die analoge Anwendung des § 98 Abs. 2 S. 2 StPO auf Durchsuchungsanordnungen BGH, StV 1988, 90; Rabe von Kühlewein, GA 2002, 637 (644), der allerdings eine Überprüfung ex tunc durch eine analoge Anwendung des § 98 Abs. 2 S. 2 StPO erreichen will; relativierend nunmehr auch Meyer-Goßner, StPO (2006), § 98 Rdnr. 17.
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sungskonformer Interpretation des § 98 Abs. 2 S. 2 StPO davon ausgegangen werden, dass das Gericht (auch) zu prüfen hat, ob der Beschlagnahmeakt rechtswidrig gewesen ist. Daraus folgt, dass bei Fehlen formeller Anordnungsvoraussetzungen nicht einfach die Bestätigung der Beschlagnahme erfolgen kann, sondern die ursprüngliche Beschlagnahme unter Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit aufzuheben und bei nachträglichem Eintreten der Beschlagnahmevoraussetzungen gegebenenfalls (nämlich zumindest wenn es die Staatsanwaltschaft [konkludent] beantragt) erneut auszusprechen ist.855 Viel früher als für richterliche Anordnungen ist für strafprozessuale Grundrechtseingriffe der Strafverfolgungsbehörden anerkannt gewesen, dass auch erledigte Eingriffe Gegenstand des Verfahrens nach § 98 Abs. 2 S. 2 StPO sein können.856 Für das Rechtsschutzbedürfnis gilt das bereits Ausgeführte.857 In dem Bestreben, möglichst lückenlosen Rechtsschutz zu ermöglichen, hat der Gesetzgeber 1960 mit der VwGO die §§ 23 ff. EGGVG über die Anfechtung sog. Justizverwaltungsakte erlassen,858 über die die Oberlandesgerichte zu entscheiden haben (§ 25 Abs. 1 EGGVG). In der Folge entbrannte Streit über das Verhältnis dieser Rechtsschutzmöglichkeiten. Unter der Geltung des Art. 19 Abs. 4 GG hat sich seit den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zumindest die Auffassung durchgesetzt, dass auch außer gegen die Beschlagnahme gegen alle anderen strafprozessualen Grundrechtseingriffe Rechtsschutz ermöglicht werden muss. Wegen der Ähnlichkeit der Situation ist rasch die Lösung entwickelt worden, § 98 Abs. 2 S. 2 StPO analog anzuwenden, wenn die Strafverfolgungsbehörden unter Inanspruchnahme einer Ausnahmekompetenz (bei Gefahr im Verzug) von den Eingriffsermächtigungen Gebrauch gemacht haben.859 In § 98 Abs. 2 S. 2 StPO kommt der allgemeine Rechtsgedanke zum Ausdruck, dass strafprozessuale Grundrechtseingriffe durch den nach dem gesetzlichen Regelfall zuständigen Richter umfassend kontrolliert werden sollen. Der ohnehin grundsätzlich zuständige Richter soll seine Entscheidung zumindest nachholen können. Er entscheidet
___________ 855 Amelung, in: AK-StPO, Bd. 2/1 (1992), § 98 Rdnr. 30. Anders nunmehr Fezer, in: Festschrift für Rieß (2002), S. 93 (98 f.), siehe hierzu ausführlich unter § 14 D. bei und in Fn. 878. 856 BGHSt 28, 57 (58). 857 s.o. § 13 C. 858 Siehe auch § 14 Fn. 829. 859 BGH, NJW 1978, 1013; Nachweise auch der (älteren) Literatur bei Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1976), S. 31 f. m. Fn. 86; a.A. wegen Fehlens einer Regelungslücke aber Schoch, in: Festschrift für Stree/Wessels (1993), S. 1095 (1103).
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dabei über alle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen und hat die Anordnung auch dann aufzuheben (bzw. deren Rechtswidrigkeit festzustellen), wenn die Strafverfolgungsbehörden von ihrer Ausnahmekompetenz zu Unrecht Gebrauch gemacht haben.860 Demgegenüber sollte dann, wenn die Strafverfolgungsbehörden in originärer Zuständigkeit auf das grundrechtliche Schutzgut zugegriffen haben,861 nach h.M. die subsidiäre (§ 23 Abs. 3 EGGVG) Rechtsschutzvorschrift des § 23 Abs. 1 EGGVG zum Zuge kommen.862 Die §§ 23 ff. EGGVG sollten nach verbreiteter Auffassung insbesondere der Gerichte zudem für die Fälle der erledigten strafprozessualen Grundrechtseingriffe der Strafverfolgungsbehörden einschlägig sein.863 Das erklärt sich daraus, dass – anders als § 98 StPO – das EGGVG mit § 28 Abs. 1 S. 4 eine § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO vergleichbare Vorschrift enthält, die Rechtsschutz gegen erledigte Justizverwaltungsakte ermöglicht. Allerdings führte diese Lösung zum einen zu der merkwürdigen Situation, dass für Maßnahmen, die der Gesetzgeber für so schwerwiegend hielt, dass er einen Richtervorbehalt normiert hat, für den Rechtsschutz grundsätzlich der (Ermittlungs-)Richter am Amtsgericht (§ 162 Abs. 1 StPO), für Maßnahmen, die nach Auffassung des Gesetzgebers nicht unter Richtervorbehalt stehen mussten, hingegen das Oberlandesgericht zuständig sein sollte (§ 25 Abs. 1 EGGVG). Zum anderen entstand auf diese Weise ein – zumal von den Gerichten unterschiedlich gehandhabtes – Rechtsschutzsystem, welches für den Bürger kaum mehr zu durchschauen war.864 Insbesondere verschob sich mit Erledigung des Eingriffs die Zuständigkeit vom Ermittlungsrichter auf das Oberlandesgericht.865 Die neuere Rechtsprechung geht demgegenüber nunmehr davon aus, dass Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe ausschließ-
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Siehe hierzu BVerfGE 103, 142 (160); Fezer, in: Festschrift für Rieß (2002), S. 93 (100); siehe zur Entscheidung des Richters über die Beseitigung der Folgen unter § 14 D.; zur Möglichkeit einer Neuvornahme der Beschlagnahme siehe ebd. Fn. 855 und 878. 861 Z.B. §§ 81b, 163b und 164 als spezielle Eingriffsermächtigungen, §§ 161, 163 als Ermittlungsgeneralklauseln. 862 Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1976), S. 35 m.w.N.; ders., NJW 1979, 1687 (1688); Rieß/Thym, GA 1981, 189 (207 f.). 863 BayVerfGH, NJW 1969, 229 (230); KG, JR 1972, 297 (298 f.); JR 1983, 304 f.; GA 1984, 24; OLG Celle, StV 1982, 513 (514); OLG Nürnberg, GA 1987, 270 (271); ausdrücklich gegen „extensive Instrumentalisierung des § 98 Abs. 2 S. 2 StPO“ Schoch, in: Festschrift für Stree/Wessels (1993), S. 1095 (1110 ff.). 864 Vgl. auch die dahingehende Kritik bei BVerfGE 96, 44 (49). 865 Siehe soeben Fn. 863.
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lich gemäß oder analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO zu gewähren ist.866 Gegen diese Entscheidung des Richters ist sodann Beschwerde gem. § 304 StPO statthaft.867
C. Rechtsschutz gegen Aspekte des Vollzugs erledigter Eingriffe Der Richter ist befugt, bei der Anordnung strafprozessualer Grundrechtseingriffe deren Grenzen zu bestimmen (z.B. Befristung der Anordnung, Durchsuchung nur bestimmter Räumlichkeiten, Beschlagnahme nur bestimmter Gegenstände usw.). Daraus ergibt sich zunächst, dass der Richter auch während des Vollzugs gemäß oder analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO über die Rechtmäßigkeit der Art und Weise der Durchführung entscheiden kann. Doch ist dies eine praktisch eher seltene Konstellation. Steht die Rechtswidrigkeit der Art und Weise des Vollzugs im Raum, hat sich der Eingriff meist schon erledigt. Der BGH hat für diese Fälle zunächst den Weg zu den Oberlandesgerichten als statthaft angesehen und § 28 Abs. 1 S. 4 EGGVG angewendet.868 Nach der bereits mehrfach zitierten Rüge der Unübersichtlichkeit der Rechtswege durch das BVerfG,869 ist der BGH von dieser Linie abgerückt und gewährt Rechtsschutz auch gegen die Art und Weise des Vollzugs strafprozessualer Grundrechtseingriffe analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO.870 Ferner konnten auf diese Weise Friktionen zu § 100d Abs. 6 StPO a.F. (bzw. zum späteren § 100d Abs. 10 StPO, der inzwischen weitgehend § 101 Abs. 7 S. 2 StPO n.F. entspricht) vermieden werden, der auch nach Erledigung den judex a quo als das zuständige Gericht ansah. Gleiches gilt nach neuerer Rechtsprechung auch dann, wenn sich der Betroffene gegen die Art und Weise des Vollzugs richterlicher Anordnungen wehrt.871 Die Analogie zu § 98 Abs. 2 S. 2 StPO greift aber nur, soweit die richterliche Anordnung die gerügte Art und Weise nicht schon selbst determiniert. Ist dies hingegen der Fall, ist nur die Beschwerde nach § 304 StPO der statthafte Rechtsbehelf, weil der Vollzug keine Beschwer enthält, die in der richterlichen
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BGHSt 44, 265 (268); OLG Stuttgart, StV 1988, 424; OLG Oldenburg, NStZ 1990, 504; GA 1991, 225; OLG Braunschweig, NStZ 1991, 551. 867 A.A. für erledigte Eingriffe noch BGHSt 28, 160 (161); 28, 206 (209); offen gelassen inzwischen von BGHSt 44, 265 (274); wie hier aber die h.M. im Schrifttum, etwa Amelung, in: Festgabe Bundesgerichtshof (2000), S. 911 (920 f.); ders., JR 2000, 479 (481); Beulke, Strafprozessrecht (2006), Rdnr. 326a a.E.; Eisele, StV 1999, 298 (300). 868 BGHSt 28, 206 (208 ff.); 37, 79 (82); ebenso OLG Karlsruhe, NJW 1988, 84 (85). 869 BVerfGE 96, 44 (49). 870 BGHSt 44, 265 (267 ff.). 871 BGHSt 45, 183 (186 f.); OLG Hamburg, StV 1999, 301 f.
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Anordnung nicht schon angelegt wäre.872 War die beanstandete Art und Weise des Vollzugs allerdings „nicht ausdrücklicher und evidenter Bestandteil der richterlichen Anordnung“, ist nach Auffassung des BGH im Zweifel der Antrag gemäß oder analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO statthaft.873
D. Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe und Folgenbeseitigung Wie eingangs bereits erwähnt,874 dient der Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe nicht lediglich dazu, die primäre Beeinträchtigung durch die Maßnahme abzuwehren, sondern kann auch ermöglichen, die Herrschaft über Informationen zurückzugewinnen, die die Strafverfolgungsbehörden erhoben haben. Dies kann durch Rückgabe von Beweismitteln oder Löschung von Informationen geschehen. Voraussetzung für die Beseitigung solcher Folgen ist es, dass rechtswidrig in (bestimmte) Grundrechte eingegriffen worden ist. Außerdem muss daraus ein rechtswidriger Zustand entstanden sein.875 Soweit sich ein solcher Anspruch auf die Herausgabe von Gegenständen richtet, ist er seit längerem anerkannt.876 Wird eine Sache rechtswidrig beschlagnahmt, hat der Betroffene Anspruch auf Herausgabe des Gegenstandes. Allerdings besteht der Anspruch nur unter der soeben angesprochenen Einschränkung: Die Beschlagnahme oder Sicherstellung muss zu einem rechtswidrigen Zustand geführt haben. Das ist nicht der Fall, wenn es ausschließlich an den formellen Anordnungs- oder Vollzugsvoraussetzungen gefehlt hat, wenn etwa die Strafverfolgungsbehörden zu Unrecht von ihrer Ausnahmekompetenz nach § 98 Abs. 1 StPO („Gefahr im Verzug“) Gebrauch gemacht haben. In einem solchen Fall kann die Beschlagnahme- oder Sicherstellungsanordnung unter Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen wiederholt werden.877 Eine ___________ 872
Fezer, NStZ 1999, 151 (152); Amelung, in: Festgabe Bundesgerichtshof (2000), S. 911 (928); ders., JR 2000, 479 (480 f.); wohl auch Eisele, StV 1999, 298 (300); offen, aber zumindest deutlich in diese Richtung auch BGHSt 45, 183 (186). 873 BGHSt 45, 183 (187). 874 s.o. vor § 13. 875 Ausführlich § 12 B. 876 Zusammenfassend Hoffmann/Knierim, NStZ 2000, 461 ff.; Löffler, NJW 1991, 1705 ff.; ferner BGHZ 72, 302 (304); OLG Düsseldorf, NStZ 1990, 202; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), § 98 Rdnr. 63 ff.; Lin, Richtervorbehalt und Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1998), S. 336. 877 Differenzierend zwischen Nichtigkeit (Herausgabepflicht) und bloßer Rechtswidrigkeit (Heilungsmöglichkeit) Hoffmann/Knierim, NStZ 2000, 461 (462); vgl. auch Schoreit, NStZ 1999, 173 (176).
214
Teil 2: Strafprozessuale Eingriffe als Maßnahmen öffentlicher Gewalt
Herausgabepflicht besteht in diesen Fällen nicht schon wegen der formellen Rechtswidrigkeit der Maßnahme.878 Allerdings ist zu beachten, was an anderer Stelle über die Verschiebung der Beweislast gesagt wurde:879 Gelingt es den Strafverfolgungsbehörden nicht, den Beweis für das Vorliegen der materiellen Anordnungsvoraussetzungen nachträglich zu erbringen, kann die Anordnung nicht wiederholt werden. Neben den materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen steht die Frage der Geltendmachung des Anspruchs. Wird der Anspruch in der hier vor allem interessierenden Konstellation im Zusammenhang mit dem Rechtsschutz gegen den Beschlagnahme- oder Sicherstellungsakt (bzw. deren richterliche Anordnung) geltend gemacht, trifft das Gericht auf Antrag eine entsprechende Entscheidung – nach dem Vorbild des § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO – als verfahrensrechtlichen Annex zu seiner Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Grundrechtseingriffs gemäß oder analog § 98 Abs. 2 S. 2 oder § 304 StPO.880 Ergibt sich der rechtswidrige Zustand erst im Laufe des Ermittlungsverfahrens, ist das Herausgabeverlangen an die Staatsanwaltschaft zu richten, gegen deren abschlägigen Bescheid dann ebenfalls der Richter analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO angerufen werden kann.881 In der Konsequenz jüngerer informationsrechtlicher Entwicklungen liegt es aber, über diesen „sachenrechtlichen“ Ansatz hinauszugehen und das Prinzip der Folgenbeseitigung auf die von den Strafverfolgungsbehörden erhobenen In___________ 878 A.A. unter (allerdings zu weit gehender) Berufung auf die Entscheidung des BVerfG zur „Gefahr im Verzug“ (BVerfGE 103, 142 ff.) Fezer, in: Festschrift für Rieß (2002), S. 93 (98 f.): Das Verfahren müsse durch Aufhebung der Anordnung abgebrochen und beschlagnahmte bzw. sichergestellte Gegenstände müssten zurückgegeben werden. Erst danach seien (gegebenenfalls unter dem Risiko des Beweismittelverlusts) ein erneuter staatsanwaltschaftlicher Antrag und eine richterliche Anordnung zulässig. Diese Lösung nimmt in der Sache die an anderer Stelle bereits abgelehnte Tatbestandsvoraussetzung des Folgenbeseitigungsanspruch „Handlungsunrecht“ (anstelle des hier favorisierten „Erfolgsunrechts“) auf. Vgl. hierzu § 12 B.IV. Die damit bezweckten verfahrensrechtlichen Sicherungen (drohender Beweismittelverlust als „Antrieb“ rechtsstaatlichen Handelns) können allerdings auf anderem Wege (Beweislastumkehr, außerprozessuale „Sanktionen“) sachgerechter erreicht werden. 879 s.o. § 12 B.IV. Die Grundsätze der Beweislastumkehr gelten dabei auch für das Rechtsschutzverfahren, siehe Mittag, JR 2005, 386 (389). 880 Ähnlich Hoffmann/Knierim, NStZ 2000, 461 (463). 881 Ebenso Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 2 (25. Aufl. 2003), § 98 Rdnr. 65. Ab Anklagerhebung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verschiebt sich die Zuständigkeit für die Entscheidung über das Herausgabeverlangen allerdings auf das jeweils mit der Sache befasste Gericht, mit Ausnahme des Revisionsgerichts (vgl. Löffler, NJW 1991, 1705 [1710] m.w.N.). Nach rechtskräftigem Abschluss wird überwiegend in analoger Anwendung von § 462a (Abs. 2-6) StPO eine Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges befürwortet (Löffler, ebd.).
§ 14 Die einfachrechtliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes
215
formationen zu erweitern.882 Grundlage dieser Weiterentwicklung ist die inzwischen gefestigte Auffassung, wonach nicht nur die Erhebung von Informationen, die von einem informationellen Abwehrrecht883 geschützt werden, sondern auch deren Weiterverarbeitung an jenem informationellen Abwehrrecht zu messen ist.884 Hieraus folgt auch, dass sich der Informationserhebungseingriff solange nicht erledigt, wie die erhobenen Informationen bei den Strafverfolgungsbehörden in den Akten bzw. in sonstiger Weise gespeichert vorliegen.885 War der Informationserhebungseingriff rechtswidrig, fragt sich parallel zu der Rechtslage für eine beschlagnahmte oder sichergestellte Sache, ob derjenige, der gegen die Erhebung vorgeht, nicht auch gleichzeitig die Löschung der vorgehaltenen Daten verlangen kann. Ist der Eingriff nicht erledigt, genügt es nicht, auf ihn mit einem Antrag auf Feststellung seiner Rechtswidrigkeit zu reagieren.886 Man muss dem Betroffenen vielmehr die Möglichkeit eröffnen, die Folgen des Eingriffs zu beseitigen, d.h. seinen Folgenbeseitigungsanspruch zu verwirklichen. Ein solcher Anspruch besteht aber nur bei informationellem Erfolgsunrecht.887 Wegen der vergleichbaren Interessenlagen können die zur Beschlagnahme und Sicherstellung entwickelten Lösungen ohne weiteres auch auf den „informationellen Abwehranspruch“ übertragen werden: Sucht der Betroffene Rechtsschutz gegen einen rechtswidrigen Informationserhebungsakt, kann er – nach dem Vorbild des § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO – den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit nach oder analog § 98 Abs. 2 S. 2 bzw. § 304 StPO mit dem Antrag verbinden, die informationellen Folgen des Eingriffs zu beseitigen. Dieser Anspruch wird mit Löschung der Informationen erfüllt.888
___________ 882
Hierzu auch Amelung, StV 2001, 131 (132). Zu diesem Begriff oben § 12 B.III. 884 Für Art. 10 GG BVerfGE 100, 313 (359); Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 48 ff.; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 10 Rdnr. 10; für Art. 13 GG BVerfGE 109, 279 (326); LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, LKV 2000, 345 (347); Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 63 m.w.N.; Amelung, StV 2001, 131 (132); für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist diese Annahme selbstverständlich. 885 s.o. § 13 C.I. 886 Amelung, StV 2001, 131 (132). 887 s.o. § 12 B.IV. 888 Kein Gegenstand des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe ist das Geltendmachen von Verwertungsverboten. Diese können sich zwar ebenfalls als Folge eines „informationellen Ungleichgewichts“ ergeben (hierzu oben § 12); sie sind aber gewissermaßen „innerprozessuale Folgenbeseitigungsansprüche“ und daher im eigentlichen Strafverfahren, nicht in einem „Nebenverfahren“ geltend zu machen. 883
Teil 3
Strafprozessuale Grundrechtseingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen 1. Abschnitt
Materiell-strafrechtliche Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe Der folgende Abschnitt behandelt die strafrechtlichen Konsequenzen strafprozessualer Grundrechtseingriffe für die handelnden Amtsträger und den Betroffenen. Dass solche Konsequenzen im Raum stehen, erklärt sich aus dem Umstand, dass Eingriffe der Strafverfolgungsbehörden häufig den Tatbestand von Strafgesetzen erfüllen, man denke etwa für eine Haussuchung an den Tatbestand des Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB), an die Tatbestände der Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) oder Nötigung (§ 240 StGB) im Fall einer Blutentnahme gegen den Willen des Betroffenen, an die Freiheitsentziehung (§ 239 StGB) im Fall einer Verhaftung oder an die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes (§ 201 StGB) im Fall einer Telefonüberwachung oder eines „Lauschangriffs“. Die folgenden Ausführungen gehen dabei von der Prämisse aus, dass der Tatbestand eines solchen Strafgesetzes erfüllt ist. Im „Normalfall“ stellt die Eingriffsermächtigung der StPO gleichzeitig auch den materiell-strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund für den handelnden Amtsträger dar.1 Probleme entstehen nur dann, wenn die gesetzlichen Eingriffsvoraussetzungen nicht erfüllt sind – die Rechtsprechung versucht auch in diesem Fall das Rechtswidrigkeitsverdikt zu vermeiden2 – oder Betroffene den Eingriff nicht hinnehmen will und sich gegen ihn wehrt. Zwei verschiedene Blickwinkel sind grundsätzlich zu unterscheiden, die freilich nicht ohne Wechselwirkungen ___________ 1 Siehe nur Rönnau, in: LK-StGB, Bd. 2 (12. Aufl. 2006), vor § 32 Rdnr. 233; Popp, Verfahrenstheoretische Grundlagen der Fehlerkorrektur im Strafverfahren (2005), S. 459; Amelung, JuS 1986, 329; Rogall, JuS 1992, 551 (554); Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts (1996), S. 390; Ostendorf, JZ 1981, 165; Reinhart, StV 1995, 101; Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil (2003), § 17 Rdnr. 139. 2 Hierzu sogleich § 15 A.
§ 15 Die Rechtfertigung der Strafverfolgungsbeamten
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aufeinander bleiben: Zum einen geht es um die Strafbarkeit des handelnden Amtsträgers selbst (hierzu § 15), für die auch genuin strafrechtliche Rechtfertigungsgründe auf ihre Anwendbarkeit zu prüfen sind. Die unter diesem Blickwinkel zu untersuchenden Rechtsbeziehungen können selbst insofern „mehrstufig“ sein, als der vollziehende Beamte nicht immer derjenige ist, der die Entscheidung über den Eingriff getroffen hat. In solchen Fällen kommen für den vollziehenden Beamten spezifische Rechtfertigungsgründe in Betracht (Handeln auf Weisung). Der zweite Blickwinkel richtet sich auf die Strafbarkeit des von einem Eingriff Betroffenen, der sich mit der Maßnahme nicht abzufinden vermag und sich gegen sie zur Wehr setzt (hierzu § 16).
§ 15 Die Rechtfertigung der Strafverfolgungsbeamten A. Die Eingriffsermächtigung als Rechtfertigungsnorm Die öffentlich-rechtliche Eingriffsermächtigung rechtfertigt zugleich die etwaige, mit dem strafprozessualen Grundrechtseingriff verbundene Verwirklichung eines Straftatbestandes.3 Die Eingriffsermächtigung versagt aber als Rechtfertigungsgrund, wenn ihre tatbestandlichen Voraussetzungen nicht vorliegen oder der handelnde Amtsträger die Rechtsfolge nicht korrekt anwendet, also sein Ermessen überschreitet, insbesondere unverhältnismäßig handelt. Es gilt die Regel: Sind die oben bei den §§ 7 bis 11 behandelten Rechtmäßigkeitsanforderungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe erfüllt, ist auch der handelnde Amtsträger strafrechtlich gerechtfertigt.
I. Besonderheiten für den Vollzug richterlicher Anordnungen
Allerdings ist hierbei auf die schon oben dargelegten Besonderheiten für den Vollzug richterlicher Anordnungen Bedacht zu nehmen:4 Solche Anordnungen stellen grundsätzlich auch im Falle ihrer Rechtswidrigkeit vollstreckungsfähige Grundlagen für den Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf das grundrechtliche Schutzgut dar. Grenze ist – wie auch im Verwaltungsvollstreckungsrecht – die Wirksamkeit der Anordnung, die nicht mehr gegeben ist, wenn die richterliche Gestattung an einem schwerwiegenden Mangel leidet, der zu ihrer Nichtigkeit führt. Es ist schon dargelegt worden, dass richterliche Anordnungen v.a. dann nichtig sein können, wenn sich ihre Rechtswidrigkeit darauf gründet, dass ___________ 3 4
Siehe vor § 15 Fn. 1. s.o. § 8 B.
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
die Strafverfolgungsbehörden den Richter bewusst unvollständig über be- und (vor allem) entlastende Tatsachen informiert haben.5 Gleiches kann allerdings nicht gelten für (innerdienstliche) Anordnungen der Staatsanwaltschaft gegenüber ihren Ermittlungspersonen (vgl. § 152 Abs. 1 GVG) oder allgemein für dienstliche Anordnungen zur Vornahme strafprozessualer Grundrechtseingriffe (etwa unter Polizeibeamten). In diesen Fällen stellt sich die Frage nach einer Rechtfertigung wegen Handelns auf Befehl bzw. Weisung.6 Stellt eine richterliche Anordnung eine Vollstreckungsgrundlage dar, richtet sich die Rechtmäßigkeit des Vollzugsaktes nicht danach, ob die materiellen Voraussetzungen für die richterliche Anordnung vorgelegen haben, sondern lediglich danach, ob der handelnde Amtsträger die für ihn geltenden Regelungen zum Vollzug der Anordnung eingehalten hat. Dass der Amtsträger dabei unter Umständen (z.B. entschädigungs- aber auch für die Frage des Primärrechtsschutzes relevantes) Erfolgsunrecht verwirklicht, spielt für die Beurteilung seiner Strafbarkeit insoweit genauso wenig eine Rolle, wie für die Beurteilung der Strafbarkeit des Zugriffs bei Vollstreckung eines (z.B. vorläufig vollstreckbaren aber) rechtswidrigen Verwaltungsaktes. Denn die Verwirklichung einer Strafvorschrift setzt voraus, dass die Handlung einem Unwerturteil unterliegt.7 Diese Voraussetzung ist dann aber nicht erfüllt.
II. Keine Abweichung durch einen „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff“
Die hier dargestellte Regel, wonach der handelnde Amtsträger dann nicht gerechtfertigt ist, wenn er die verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Anforderungen an sein (eingreifendes) Handeln verfehlt, wird schon seit dem 19. Jahrhundert von der Rechtsprechung und einem Teil der Lehre unter dem Deckmantel eines eigenständigen, sog. „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffes“ negiert.8 Dieser Rechtmäßigkeitsbegriff ist für § 113 StGB entwickelt ___________ 5
s.o. § 8 B. Siehe hierzu § 15 B.III. 7 Während Handlungsunrecht ohne Erfolgsunrecht eine Versuchsstrafbarkeit begründen kann, entfällt eine Strafbarkeit, wenn zwar Erfolgsunrecht, aber kein Handlungsunrecht (das allerdings auch nach den Maßstäben der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit gegeben sein kann) vorliegt. Vgl. hierzu prägnant Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1 (2006), § 10 Rdnr. 88; ferner ausführlich und m.w.N. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts (1996), S. 238 ff. 8 RGSt 2, 411 (415 ff.); 5, 208 (209 ff.); 38, 373 (375); 61, 297 (299); 72, 305 (311); BGHSt 4, 161 (163 f.); 21, 334 (361); 24, 125 (130); BayObLG, JR 1981, 28 (29); OLG Koblenz, MDR 1987, 957 (958); aus der Lehre statt vieler Hirsch, in: LK-StGB, Bd. 2 6
§ 15 Die Rechtfertigung der Strafverfolgungsbeamten
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worden: Nach dieser Vorschrift wird derjenige bestraft, der gegen eine Diensthandlung von Vollstreckungsbeamten Widerstand leistet. Allerdings wird die Tat nicht bestraft, wenn die Diensthandlung ihrerseits rechtswidrig gewesen ist (§ 113 Abs. 3 S. 1 StGB). Die Vorschrift – oder genauer: das für sie entwickelte „strafrechtliche Verständnis“ der Rechtmäßigkeit einer Diensthandlung – bildet damit ein Scharnier zwischen der Beurteilung der Strafbarkeit des handelnden Amtsträgers und der Duldungspflicht des von der Diensthandlung (im hier interessierenden Kontext: von dem strafprozessualen Grundrechtseingriff) betroffenen Bürgers: Man wird nämlich kaum annehmen können, dass sich das spezifisch „strafrechtliche Verständnis“ der Rechtmäßigkeit auf den Anwendungsbereich des § 113 StGB beschränken kann; vielmehr muss es auch auf die Beurteilung der Rechtfertigung des Amtsträgers durch die strafprozessuale Eingriffsermächtigung durchschlagen.9 Nach jenem „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff“ ist die Rechtfertigung des Amtsträgers nicht an die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale der Eingriffsermächtigung gebunden, sondern setzt – neben der objektiv vorliegenden Zuständigkeit des Amtsträgers, der Beachtung der wesentlichen Förmlichkeiten und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – lediglich voraus, dass der Amtsträger die Sachlage pflichtgemäß geprüft und aufgrund dieser Prüfung ge___________ (11. Aufl. 1994), vor § 32 Rdnr. 146 ff.; v. Bubnoff, in: LK-StGB, Bd. 4 (11. Aufl. 1993), § 113 Rdnr. 25 ff. m.w.N.; Vitt, ZStW 106 (1994), 581 (590 f. und 604); ähnlich Fechner, Grenzen polizeilicher Notwehr (1991), S. 131 ff. 9 In diesem Sinne etwa die Darstellung der Rechtfertigung durch „Amtsrechte“ von Zieschang, in: LK-StGB, Bd. 2 (12. Aufl. 2006), vor § 32 Rdnr. 235 ff.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts (1996), S. 392; Paeffgen, NK-StGB, Bd. 1 (2005), vor §§ 32-35 Rdnr. 187 ff., insbesondere Rdnr. 190 ff.; ebenso Reinhart, NJW 1997, 911 (912); Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1 (2006), § 17 insbes. Rdnr. 2; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil (2002), § 7 Rdnr. 70; OLG Schleswig, NStZ 1985, 74. A.A. aber – aus Sicht eines Kritikers des „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs“ – Amelung, JuS 1986, 329 (335), nach dem die Anwendung des „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffes“ allein auf den Tatbestand des § 113 StGB beschränkt ist. Davon abgesehen, dass letzteres Befürworter dieses Begriffes anders sehen (etwa Jescheck/Weigend, Hirsch jeweils a.a.O.; anders aber wiederum v. Bubnoff, in: LK-StGB, Bd. 4 [11. Aufl. 1993], § 113 Rdnr. 27), würde eine solche Beschränkung aus Sicht jener Befürworter auch kaum Sinn ergeben: Sie hätte nämlich zur Folge, dass die Diensthandlung i.S.v. § 113 Abs. 3 S. 1 StGB rechtmäßig wäre und dem Bürger damit eine entsprechende Duldungspflicht auferlegt würde, für den (keineswegs seltenen) Fall aber, dass die Diensthandlung selbst einen Straftatbestand verwirklicht, bei der Prüfung der Strafbarkeit des Beamten der „strafrechtliche Rechtmäßigkeitsbegriff“ zu ignorieren und (nicht nur gegebenenfalls der Widerstand leistende Bürger, sondern auch) der handelnde Amtsträger strafbar wäre. Allerdings ist der strafrechtliche Rechtmäßigkeitsbegriff tatsächlich nur auf strafrechtliche Fragen (Strafbarkeit des Amtsträgers, Duldungspflicht des betroffenen Bürgers) beschränkt, auf keinen Fall kann er „zurückwirken“ auf die verfassungs- bzw. einfachrechtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit des strafprozessualen Grundrechtseingriffs.
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
handelt hat.10 Weiter privilegierend soll der Polizist, der auf dienstliche Weisung handelt, zur Prüfung der Rechtmäßigkeit jener Weisung weder berechtigt noch verpflichtet sein.11 Dieser Privilegierung liegen im Wesentlichen kriminalpolitische Erwägungen zugrunde. Der handelnde Amtsträger soll möglichst weitgehend geschützt werden, und zwar v.a. vor Übergriffen durch betroffene Bürger: „Ein Richter oder Vollzugsbeamter kann nicht mehr tun, als sorgfältig zu prüfen, ob die Sachlage für sein Eingreifen gegeben ist. Das Risiko der materiellen Unrichtigkeit lässt sich daher nicht ihm auferlegen, weil sonst wegen der Notwehrkonsequenz die – den Interessen der Allgemeinheit dienende – staatliche Tätigkeit praktisch weitestgehend unmöglich würde.“12 Diese Auffassung verkennt vor allem, dass ein solches – praeter legem entwickeltes – „Irrtumsprivileg des Staates“ im Bereich des Eingriffsrechts zum Schutz des Beamten nicht erforderlich ist.13 Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen – entsprechendes gilt etwa für gefahrenabwehrrechtliche Ermächtigungen – nehmen schon in ihren tatbestandlichen Voraussetzungen hinreichend auf die Bedürfnisse der Amtsträger Bedacht, indem ihren Tatbestandsmerkmalen vielfach prognostische Momente innewohnen, die auf eine verständige Würdigung ex ante (nicht ex post) angelegt sind.14, 15 Das Missverständnis wird besonders deutlich bei v. Bubnoff16, nach dem (aus Sicht des „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs“) ein unverschuldeter Irrtum über die Eingriffsvoraus___________ 10 Hirsch, in: LK-StGB, Bd. 2 (11. Aufl. 1994), vor § 32 Rdnr. 146; ähnlich v. Bubnoff, in: LK-StGB, Bd. 4 (11. Aufl. 1993) § 113 Rdnr. 33 sowie die in § 15 Fn. 8 aufgeführte Rspr. und Literatur. 11 BGHSt 4, 161 (162); OLG Karlsruhe, NJW 1974, 2142 (2143); OLG Köln, NJW 1975, 889 (890) für die Hinzuziehung von Polizeibeamten durch Gerichtsvollzieher; vgl. hierzu B.III. 12 Hirsch, in: LK-StGB, Bd. 2 (11. Aufl. 1994), vor § 32 Rdnr. 146. Ähnliches hat Schünemann, JA 1972, 703 (708), schon zu der sarkastischen Äußerung veranlasst, dem Staat sei „zackiges Durchgreifen […] wichtiger als die peinliche Beachtung der rechtsstaatlichen Eingriffskautelen.“ 13 Zu der auch historischen (Fehl-)Entwicklung des „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs“ – die vor dem Hintergrund der Umgestaltung des Tatbestandes (hierzu v. Bubnoff, in: LK-StGB, Bd. 4 [11. Aufl. 1993] § 113 vor Rdnr. 1; Reinhart, StV 1995, 101 [104 f.]) allerdings eher eine Randnotiz darstellt – Amelung, JuS 1986, 329 (335). 14 Siehe dazu etwa Amelung, Festschrift für Badura (2004), S. 3 (11); dens., JuS 1986, 329 (335); Horn/Wolters, in: SK-StGB (2005), § 113 Rdnr. 11a; Thiele, JR 1975, 353 (356); dens., JR 1979, 397 (401); Rönnau, in: LK-StGB, Bd. 2 (16. Aufl. 2006), vor § 32 Rdnr. 238; Popp, Verfahrenstheoretische Grundlagen der Fehlerkorrektur im Strafverfahren (2005), S. 461; Roxin, in: Festschrift für Pfeiffer (1988), S. 45 (50 f.); ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1 (2006), § 17 Rdnr. 12; Ostendorf, JZ 1981, 165 (173); Schünemann, JA 1972, 703 (710). 15 Das gilt trotzdem im Hinblick auf die Tatbestandsmerkmale kein Beurteilungsspielraum anzuerkennen ist, siehe hierzu § 7 B.II. 16 LK-StGB, Bd. 4 (11. Aufl. 1993), § 113 Rdnr. 33.
§ 15 Die Rechtfertigung der Strafverfolgungsbeamten
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setzungen die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung unberührt lässt und der als Beispiel anführt, dass sich ein Tatverdacht später nicht bestätige und der Amtsträger deshalb einen Unschuldigen festnehme. Da es aber bei der Beurteilung des Tatverdachtes – wie auch bspw. einer Gefahr (i.S.d. polizeirechtlichen Generalklausel) – auf die Würdigung ex ante ankommt,17 ist in solchen Fällen der Tatbestand der Eingriffsermächtigung selbst erfüllt, so dass eine Modifizierung des Rechtmäßigkeitsbegriffs nicht erforderlich ist.18 Der Verdacht schließt schon begrifflich die Möglichkeit des Irrtums ein.19 Entsprechendes gilt beispielsweise für die Tatbestandsmerkmale „Gefahr im Verzug“ (vgl. etwa §§ 98 Abs. 1, 98b Abs. 1, 100 Abs. 1 etc.), „Flucht- oder Verdunklungsgefahr“ (vgl. § 112 Abs. 2 Nr. 2 und 3 StPO) oder die potentielle Bedeutung als Beweismittel in § 94 Abs. 1 StPO. Eine Überschreitung solcher Tatbestandsmerkmale liegt nur vor, wenn die Beurteilung aus ex-ante-Sicht eines sachkundigen und besonnenen Beurteilers in der Situation des Polizisten nicht mehr plausibel war, sich also insbesondere nicht mehr auf anerkannte Erfahrungssätze stützen konnte.20 Warum der Amtsträger aber dann noch des Schutzes eines spezifisch „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffes“ bedarf, ist nicht einzusehen. Das gilt umso mehr, als sich der Beamte bei den meisten strafprozessualen Grundrechtseingriffen eine Vollstreckungsgrundlage in der richterlichen Anordnung beschaffen kann, die – vom Fall ihrer Nichtigkeit abgesehen – seinen Zugriffsakt auf das grundrechtliche Schutzgut legitimiert.21 Soweit der Gesetzgeber aber davon absieht, die Eingriffsvoraussetzungen durch unbestimmte Rechtsbegriffe mit prognostischem Charakter zu formulieren, hat er dafür auch gute Gründe, so dass das Anlegen eines spezifisch „strafrechtlichen“ Maßstabes einer Missachtung dieser gesetzgeberischen Entscheidung gleichkommt. Die Gründe liegen vor allem darin, dass für bestimmte Tatbestandsmerkmale ein Irrtumsrisiko bei verständiger Würdigung kaum besteht (ein Irrtum jedenfalls regelmäßig leicht ausgeschlossen werden kann). Nicht ohne Grund ist bspw. ___________ 17 Siehe für den polizeirechtlichen Begriff der Gefahr statt vieler Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr (1986), S. 223; Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts (2007), E Rdnr. 39 ff. Äußerungen im Hinblick auf den strafprozessualen Verdachtsbegriffs sind zwar rar, doch gilt hier das gleiche; in diese Richtung jüngst Steinberg, JZ 2006, 1045 (1046). 18 Schief daher auch die Darstellung von Vitt, ZStW 106 (1994), 581 (590 f.), der von einem Abrücken vom „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff“ keinen Anlass sieht, weil mit der hier vertretene Lösung (ex-ante-Beurteilung der Gefahrenlage) der „strafrechtliche Rechtmäßigkeitsbegriff“ ein zweites Mal erfunden werde. Das Gegenteil ist aber der Fall: Der „strafrechtliche Rechtmäßigkeitsbegriff“ beruht weitgehend auf einer Fehlinterpretation der Eingriffsrechte. 19 Treffend Fincke, ZStW 95 (1983), 918 (935). 20 Siehe hierzu Amelung, JuS 1986, 329; zur Frage, inwieweit die Entscheidung des Beamten nachvollzogen werden kann, bereits § 7 B.II. 21 Siehe hierzu oben § 8 B.
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
der körperliche Eingriff nach § 81a Abs. 1 S. 2 StPO wirklichen und nicht nur scheinbaren Ärzten vorbehalten, so dass es diese gesetzgeberische Entscheidung unterläuft, denjenigen zu bestrafen, der sich gegen eine körperliche Untersuchung eines Nichtarztes wehrt.22 Der Gesetzgeber hat sich eben gerade nicht dafür entschieden, den Widerstand gegen die Staatsgewalt ohne Rücksicht auf die Rechtmäßigkeit ihrer Vollstreckungshandlungen unter Strafe zu stellen. Im Hinblick auf die Strafbarkeit des Beamten ist im Übrigen darauf zu verweisen, dass Irrtümer über die tatsächlichen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes „Amtsbefugnis“ (Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der rechtfertigenden Eingriffsermächtigung) als Erlaubnistatbestandsirrtum den Vorsatzschuldvorwurf entfallen lassen.23 Ist der objektive Tatbestand eines Fahrlässigkeitsdelikts erfüllt (in Betracht kommt v.a. § 229 StGB), ist zu fragen, ob der Beamte bei der Prüfung der Voraussetzungen seinen Sorgfaltspflichten gerecht geworden ist. Auch vor dem Hintergrund dieser Irrtumsregelung kann von einer kriminalpolitischen Notwendigkeit eines „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs“ keine Rede sein.24 Vielmehr verteilt die hier dargestellte Lösung die (Irrtums-)Risiken, die der Eingriff in Grundrechte mit sich bringen kann, grundsätzlich sachgerecht. Vorbehalte gegen eine allzu großzügige Handhabung eines Notwehrrechts gegen den Amtsträger können durchaus auch sachgerecht bei der Auslegung des § 32 StGB gelöst werden.25
III. Keine Abweichung durch einen „verwaltungsrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff“
Neben jenem „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff“ wird herkömmlich noch ein sog. „verwaltungsrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff“ vertreten.26 Die Vertreter dieser Auffassung gehen von der Regel aus, dass auch rechtswidrige ___________ 22 So aber BGHSt 24, 124 (130); Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts (1996), S. 392; Thiele, Die Rechtmäßigkeit von Vollstreckungshandlungen (1974), S. 117 f.; kritisch Amelung, JuS 1986, 329 (335). 23 So die inzwischen wohl herrschende Meinung („rechtsfolgenverweisende Variante der eingeschränkten Schuldtheorie“), vgl. dazu nur Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts (1996), S. 464. 24 So auch Roxin, in: Festschrift für Pfeiffer (1988), S. 45 (51); Rönnau, in: LKStGB, Bd. 2 (12. Aufl. 2006), vor § 32 Rdnr. 235. 25 Siehe hierzu § 16; von vornherein kritisch zur Tauglichkeit, das Problem über § 32 StGB angemessen zu lösen, hingegen Erb, in: Festschrift für Gössel (2002), S. 217 (221 f.). 26 Auch „Wirksamkeitstheorie“ oder „Nichtigkeitstheorie“ genannt, vgl. etwa Krey/ Heinrich, Strafrecht BT I (2005), Rdnr. 510 ff.; Meyer, NJW 1972, 1845 (1846 f.); Wagner, JuS 1975, 224 (226 ff.); ähnlich auch Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil (2002), § 7 Rdnr. 71; Erb, in: Festschrift für Gössel (2002), S. 217 (230).
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Verwaltungsakte rechtmäßig vollstreckt werden können und ziehen daraus den Schluss, dass die Vollstreckungshandlung solange rechtmäßig ist, als sie nicht an einem solch schweren Mangel leidet, der zu ihrer Nichtigkeit führte. Diese Auffassung geht aber an der verwaltungsrechtlichen Konstruktion des Vollstreckungsrechts vorbei, verkennt sie doch, dass neben der Wirksamkeit der Vollstreckungsgrundlage auch der Vollstreckungsakt selbst gewissen Regeln unterworfen ist, deren Nichteinhaltung jenen Vollstreckungsakt rechtswidrig macht.27 Nur wenn diese Regeln eingehalten werden, ist es überhaupt sachgerecht, die Vollstreckung von den materiell-rechtlichen Anforderungen zu lösen, die die Vollstreckungsgrundlage einhalten muss.28 Entsprechendes gilt, wenn eine Vollstreckungsgrundlage – wie bei strafprozessualen Grundrechtseingriffen – nicht existiert. Eine Tathandlung schließlich (die die Vollstreckungshandlung als Zugriff auf das Grundrechtsgut mangels Regelungswirkung regelmäßig darstellt29) kann nicht der Kategorie der Nichtigkeit zugeordnet werden; sie ist „in der Welt“ und damit entweder rechtmäßig oder rechtswidrig. Auch Fälle des Sofortvollzugs bzw. der unmittelbaren Ausführung (also Fälle der „Vollstreckung ohne Verwaltungsakt“) können von dieser Auffassung nicht widerspruchsfrei gelöst werden. Der „verwaltungsrechtliche Rechtmäßigkeitsbegriff“ trägt seinen Namen daher zu Unrecht. Er ist abzulehnen.
IV. Keine Unterscheidung zwischen „Situationsebene“ und „Sanktionsebene“
Unter Inanspruchnahme jüngerer Entscheidungen des BVerfG ist versucht worden, für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Dienst- und Widerstandshandlungen zwischen zwei verschiedenen Ebenen zu unterscheiden: einer „Situationsebene“ und einer „Sanktionsebene“.30 Anlass für eine solche Unterscheidung waren Entscheidungen des BVerfG zur Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG: Nach dem BVerfG verstößt es gegen dieses Grundrecht, die Teilnahme an einer aufgelösten Versammlung als Ordnungswidrigkeit zu ahnden, wenn die Auflösungsverfügung selbst rechtswidrig gewesen ist.31 Der Grund, ___________ 27
Zutreffende Kritik bei Thiele, JR 1975, 353 (357); Amelung, JuS 1986, 329 (336). Das verkennt Erb, in: Festschrift für Gössel (2002), S. 217 (228), der der hier vertretenen Auffassung vorwirft, sie vernachlässige die fachrechtlichen Vorgaben, weil gerade das öffentliche Recht davon ausgehe, der Bürger habe Vollstreckungsmaßnahmen zunächst einmal unabhängig davon hinzunehmen, ob sie den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Diese Einschätzung ist aber unzutreffend. 29 s.o. § 7 B.I.; freilich gibt es Ausnahmen, so stellt die Androhung bspw. eine Regelung dar, allerdings stellen sich bei ihr nicht die hier diskutierten Probleme. 30 So Reinhart, StV 1995, 101 ff.; ders., NJW 1997, 911 ff. 31 BVerfGE 87, 399 (406 ff.); ferner BVerfGE 92, 191 (200 f.). 28
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weshalb der Bürger verpflichtet sei, einer rechtswidrigen Auflösungsanordnung zu folgen, liege in der Situationsgebundenheit der Anordnung, die eine endgültige Klärung der Rechtmäßigkeit vor ihrem Vollzug nicht erlaube. Das gelte aber nicht für die Ahndung der Missachtung der Anordnung. Allerdings ist zu bezweifeln, dass diese Entscheidung den „Abschied vom strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff“32 eingeläutet hat. Die Entscheidung des BVerfG hat die (nunmehr „gelockerte“) Verwaltungsaktsakzessorietät von bestimmten Straftatbeständen zum Gegenstand, die mit der hier behandelten Frage kaum zusammenhängt. In diesem Zusammenhang geht es – ebenso wie bei § 113 StGB aus Sicht des Betroffenen – um die Rechtmäßigkeit der Vollzugshandlung, nicht die Rechtmäßigkeit von etwaigen Verwaltungsakten, die die Grundlage für den Vollzug sind.33 Es besteht kein Anlass, die Auseinandersetzung mit dem strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff noch mit einer Abschichtung zwischen Situations- und Sanktionsebene zu belasten.
V. Zwischenergebnis
Es bleibt also im Ergebnis bei der eingangs formulierten Regel: Auch für die strafrechtliche Beurteilung handelt der Amtsträger nur dann rechtmäßig, wenn er die im zweiten Teil der Arbeit entwickelten Anforderungen an sein eingreifendes Handeln beachtet. Diese Lösung steht in Einklang mit dem häufig sog. „vollstreckungsrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff“.34
B. Materiell-strafrechtliche Rechtfertigungsgründe Fraglich ist weiterhin, ob neben der strafprozessualen Eingriffsermächtigung auch andere, typische materiell-strafrechtliche Rechtfertigungsgründe auf die ___________ 32
So die Überschrift des Beitrages von Reinhart, NJW 1997, 911; ähnlich ders., StV 1995, 101: „Das Bundesverfassungsgericht wechselt die Pferde“. 33 Es erscheint daher schief, wenn Reinhart, StV 1995, 101 (106), meint, § 113 Abs. 3 StGB bezöge sich nicht auf die aktuelle Vollzugshandlung, sondern die Grundmaßnahme (z.B. den zu vollziehenden Verwaltungsakt). § 113 StGB (und daher auch sein Abs. 3) bezieht sich auf die Diensthandlung, der sich der Betreffende im Moment seiner Widerstandshandlung ausgesetzt sieht. Richtig formuliert Reinhart wiederum in NJW 1997, 911 (913): „Auf der Situationsebene kann auf den strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff ohne weiteres verzichtet werden, weil die Durchsetzbarkeit auch materiell rechtswidriger Hoheitsakte durch die Regeln des gesamten öffentlichen Rechts ohnehin ausreichend gewährleistet ist.“ 34 Siehe zu diesem grundlegend Thiele, JR 1975, 353 (356 f.); ferner Amelung, JuS 1986, 329 (336); Horn/Wolters, in: SK-StGB (2005), § 113 Rdnr. 10 ff.; Roxin, in: Festschrift für Pfeiffer (1988), S. 45 (49).
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tatbestandsmäßige Handlung des Amtsträgers Anwendung finden. Als Konsequenz aus dem unter A. Ausgeführten ist festzuhalten, dass sich auch die strafrechtliche Beurteilung der Amtshandlungen grds. nach der nach öffentlichem Recht zu beurteilenden Rechtmäßigkeit richtet. Abweichungen von diesem Grundsatz sind zwar auch vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung nicht ausgeschlossen, bedürfen aber jedenfalls besonderer Begründung.
I. Einwilligung
Es ist schon die Regel entwickelt worden, dass strafprozessuale Maßnahmen, die auf das grundrechtliche Schutzgut zugreifen, nicht als Grundrechtseingriffe zu werten sind, soweit der Betroffene in die Maßnahme wirksam eingewilligt hat.35 Die Maßnahme muss in diesem Fall die tatbestandlichen Voraussetzungen der entsprechenden Eingriffsermächtigung nicht erfüllen – konsequenterweise bedarf es nicht einmal einer Eingriffsermächtigung, die die Rechtsfolge vorsieht. Die Einwilligung unterbricht den Zurechnungszusammenhang zur Staatsgewalt. In der Konsequenz dieses weitreichenden Ergebnisses liegt es, dass der handelnde Amtsträger in jenen Fällen auch den strafrechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrund der Einwilligung in Anspruch nehmen kann. Unabhängig von den materiell-strafrechtlichen Kriterien einer wirksamen Einwilligung kann dies aber nur gelten, soweit der Betroffene in den Zugriff auf das Grundrechtsgut als Akt der Staatsgewalt wirksam eingewilligt hat, auch wenn das materielle Strafrecht dem Betreffenden ein Mehr an Einwilligungsfreiheit für den Fall zubilligen würde, dass anstelle des Amtsträgers ein Privater handelte. Das ergibt sich (gerade in Situationen strafprozessualer Grundrechtseingriffe) aus dem Machtgefälle zwischen Staat und Privatem. Im Fall einer unwirksamen Einwilligung in den betreffenden Staatsakt liegt ein Grundrechtseingriff vor, der sich an den formellen und materiellen Vorgaben der Verfassung (insbesondere der Grundrechte) und auch am einfachen Gesetzesrecht zu messen hat. Erfüllt der Amtsträger aber diese Voraussetzungen nicht, handelt er nach der unter A. dargestellten Regel rechtswidrig. Praktisch kann dies etwa in Konstellationen der verbotenen Vernehmungsmethoden des § 136a StPO werden. Während durchaus Konstellationen denkbar sind, in denen ein Privater gegenüber einem Anderen in entsprechende Methoden einwilligt (etwa in die „Verabreichung von Mitteln“ oder Hypnose, um in bestimmten Konstellationen „gesprächiger“ zu werden), sind diese Verhaltensweisen Strafverfolgungsbeamten auch dann versagt, wenn der Betroffene in die Anwendung entsprechender Methoden einwil___________ 35
s.o. § 10 B.
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ligt (§ 133a Abs. 3 S. 1 StPO).36 Die Einwilligung als materiell-strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund ist daher ein zur Einwilligung in den Zugriff auf grundrechtliche Schutzgüter „akzessorischer Rechtfertigungsgrund“.
II. Notstand und Notwehr (§§ 32, 34 StGB)
Neben der schon behandelten Frage, ob die materiell-strafrechtlichen Vorschriften über Notwehr und Notstand (§§ 32, 34 StGB) staatliche Handlungsbefugnisse erweitern,37 stellt sich Frage, ob diese Vorschriften die Strafbarkeit des handelnden Amtsträgers auszuschließen imstande sind.38 Es spricht zunächst einiges dafür, die Vorschriften auf Strafverfolgungsbeamte auch insoweit nicht anzuwenden, als es um ihre persönliche, strafrechtliche Verantwortlichkeit geht. Denn sie sind nach Sinn und Zweck auf Situationen ausgelegt, in denen sich Menschen in außergewöhnlichen Notlagen befinden, die hierfür keine „professionelle Routine“ haben. Das erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass die Vorschriften Ausnahmen vom staatlichen Gewaltmonopol sind. Es bedarf aber einer besonderen Begründung, zu erklären, weshalb sich die staatlichen Repräsentanten selbst auf diese Rechtfertigungsgründe berufen dürfen. Das Spannungsfeld wird besonders deutlich beim Umgang mit (Schuss-)Waffen, der einem Angegriffenen in Notwehrsituation sogar zur Verteidigung von Sachwerten nicht grundsätzlich verwehrt ist. Vollzugspolizisten sind aber zur Verteidigung und zur Bewältigung auch plötzlich auftretender Gefahrenlagen besonders ausgebildet. Das gilt natürlich auch, soweit sie selbst angegriffen werden. Ein Angriff auf ihre Person begründet ebenso eine Gefahrenlage i.S. polizeirechtlicher Vorschriften, wie der Angriff auf Privatpersonen, jedenfalls unter dem Aspekt der Gefährdung der objektiven Rechtsordnung durch Verletzung des § 113 Abs. 1 StGB.39 Im Übrigen steht private Gewaltanwendung auch in Notfällen grundsätzlich unter dem Vorbehalt der Nichterreichbarkeit der staatlichen Gewalt. Das ist der Sinn des staatlichen Gewaltmonopols.40 Nimmt nun ___________ 36 Ob dies aber jemals wirklich relevant wird, ist schwer zu beurteilen. Häufig dürfte es in Vernehmungssituationen schon an der Freiwilligkeit fehlen, die auch die Einwilligung als materiell-strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund voraussetzt. 37 s.o. § 11 A.IV. 38 Für „echte“ strafprozessuale Grundrechtseingriffe dürften die §§ 32, 34 StGB kaum relevant sein, da sie ersichtlich auf die Abwehr von Gefahren gerichtet sind. Allerdings gibt es Gemengelagen schwerpunktmäßig strafverfolgender Tätigkeit, in denen die Rspr. diese Rechtfertigungsgründe anwendet, siehe etwa BayObLGSt 1990, 141 (142 f.), hierzu bereits oben § 11 Fn. 406. 39 Zurückhaltender in Bezug auf subjektive Rechte des Vollzugsbeamten als polizeiliches Schutzgut aber Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes (2004), S. 424. 40 Ähnlich Mußgnug, Das Recht des polizeilichen Schusswaffengebrauchs (2001), S. 163.
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aber der Vollzugsbeamte selbst die privaten Notrechte in Anspruch, besteht die Gefahr der Umgehung von Vorschriften, die sich der Staat selbstbeschränkend auferlegt hat und die das staatliche Gewaltmonopol vor privaten Selbsthilferechten überhaupt vorzugswürdig erscheinen lässt. Mag also nach den vorstehenden Ausführungen eine Rechtfertigung des Polizeivollzugsbeamten nach den § 32, 34 StGB nicht angemessen erscheinen, stünde aber der Ausschluss der Rechtfertigung – jedenfalls für Gefahrenabwehrsituationen – im Widerspruch zum erklärten Willen des Gesetzgebers: Die Notrechtsvorbehalte in den Polizeigesetzen, nach denen die Vorschriften über die Notwehr und Notstand unberührt bleiben, sollen zwar keine Eingriffsermächtigung darstellen, aber das Verhalten der Amtsträger straf- und zivilrechtlich rechtfertigen.41 Dieser Wille des Gesetzgebers ist zu akzeptieren.42 Der Vorschlag, die Wirkung der materiell-strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe auf Fälle der Selbstverteidigung zu reduzieren,43 würde die soeben geschilderte Konfliktlage zwar noch relativ interessengerecht auflösen, weil sie die beschränkenden Vorschriften für das Eingreifen in Grundrechte wenigstens nicht für den Fall der Abwehr von Gefahren für Dritte ad absurdum führte.44 Indes steht dem das Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG entgegen:45 Die teleologische Reduktion von Rechtfertigungsgründen (hier durch den einschränkenden Satz, dass Vollzugsbeamte die materiell-strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe nur zur Eigenrettung in Anspruch nehmen dürfen) zu Lasten des Betreffenden verstößt nach ganz herrschender und zutreffender Auffassung gegen Art. 103 Abs. 2 GG.46 Dies führt zu gewissen Problemen im Hinblick auf ___________ 41 Vgl. nur exemplarisch Heise/Riegel, Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes (1978), S. 22; ferner die Begründung für die wortgleiche Vorgängernorm des § 10 Abs. 3 UZwG (Bund), BT-Drs. 3/38, S. 8; in Sachsen für § 34 Abs. 6 SächsPolG, LTDrs. 1/238, S. 2. Siehe hierzu auch oben § 11 A.IV. 42 Er hindert auch, die Notrechtsvorbehalte dadurch „ins Leere laufen“ zu lassen, dass dem Wortlaut der §§ 32, 34 StGB immanente Schranken entnommen werden, die eine „ergänzende“ Anwendung dieser Rechtfertigungsgründe verbieten, soweit es um die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben der Gefahrenabwehr geht. 43 Amelung, JuS 1986, 329 (333); Zieschang, in: LK-StGB, Bd. 2 (12. Aufl. 2006), § 34 Rdnr. 18. 44 Selbst in diesen Fällen kann man aber daran zweifeln, ob der Amtsträger aufgrund seiner besonderen Stellung und gewisser Gefahrtragungspflichten nicht gehalten sein sollte, auch Gefahren für sich aufgrund der Vorschriften abzuwehren, die das geltende Polizeirecht bereithalten. Diese Erwägung ist aber eine rein rechtspolitische, wie sich sogleich zeigen wird. 45 Hierauf weist v.a. Rogall, JuS 1992, 551 (559), hin. 46 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1 (2006), § 5 Rdnr. 41; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3 (2003), Art. 103 Rdnr. 28; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 3 (2005), Art. 103 Rdnr. 110; anders aber Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht (1977), S. 234 ff., der dazu neigt, der teleologischen Reduktion von Erlaubnissätzen stehe Art. 103 Abs. 2 GG nicht entgegen. Diese Auffassung ist aber
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die Widerspruchsfreiheit der vorgestellten Lösung, da abweichend von der eingangs erwähnten Regel der Verstoß gegen (oder das Fehlen von) öffentlichrechtlichen Befugnisregeln auch dann zur Straflosigkeit führen kann, wenn mit dem Grundrechtseingriff ein Straftatbestand verwirklicht ist. Das ist allerdings die Konsequenz der besonderen rechtsstaatlichen Sicherung des Gesetzlichkeitsprinzips, die auch dem Amtsträger zugute kommen muss. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der „Einheit der Rechtsordnung“ (oder besser: ihrer Widerspruchsfreiheit) liegt darin aber nicht: Sie gebietet eben nicht, Verstöße gegen öffentliches Recht stets strafrechtlich zu ahnden.47 Rechtspolitisch sinnvoll erscheint dies aber nicht. Zu einer entsprechenden Korrektur – die freilich zu begrüßen wäre – ist aber wegen Art. 103 Abs. 2 GG ausschließlich der Gesetzgeber, nicht der Rechtsanwender berufen. Bei der Auslegung der (nach der hier vertretenen Auffassung in Gefahrenabwehrsituationen anwendbaren) strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe ist aber auf die vorgenannten Vorbehalte Bedacht zu nehmen, nämlich indem die besonderen Gefahrtragungspflichten der Vollzugsbeamten angemessen berücksichtigt werden, z.B. bei der Beurteilung der Erforderlichkeit bestimmter Abwehrhandlungen (für § 32 StGB) oder der Frage der anderweitigen Abwendbarkeit der Gefahr bzw. der Güterabwägung (für § 34 StGB).48
III. Handeln auf Weisung
Fraglich ist endlich, ob der handelnde Amtsträger gerechtfertigt ist, wenn er auf dienstliche Anweisung einen Grundrechtseingriff vornimmt und dabei den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Vollzug einer richterlichen Anordnung aus zwei Gründen nicht in die Kategorie der dienstlichen Anweisung passt und deshalb auch nicht Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen ist. Zum einen handelt es sich bei der richterlichen Anordnung nicht um eine „Anordnung“ im wörtlichen Sinn, ___________ nicht überzeugend, da die teleologische Reduktion von Rechtfertigungsnormen strafbegründend und damit so wirkt, wie es Art. 103 Abs. 2 GG verbietet. 47 Ebenso Rogall, JuS 1992, 551 (559); Beaucamp, JA 2003, 402 (404); aus Sicht seiner Theorie der Strafunrechtsausschließungsgründe Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsauschluß (1983), S. 367 f.; a.A. aber Zieschang, in: LK-StGB, Bd. 2 (12. Aufl. 2006) § 34 Rdnr. 16; Spendel, in: LK-StGB, Bd. 2 (11. Aufl. 1992), § 32 Rdnr. 265, 270, 273 („schizoide Auffassung“); Rönnau/Hohn, LK-StGB, Bd. 2 (12. Aufl. 2006), § 32 Rdnr. 219 ff. Das hier vertretene Ergebnis setzt allerdings voraus, dass man die Möglichkeit divergierender Rechtswidrigkeitsurteile akzeptiert; vgl. zu dieser Frage prägnant die Besprechung der Habilitationschrift Günthers (Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsauschluß [1983]) von Hassemer, NJW 1984, 351 f. 48 Vgl. hierzu Fechner, Grenzen polizeilicher Notwehr (1991), S. 100 ff. Auf Einzelheiten soll hier – da das Thema der Untersuchung nur streifend – verzichtet werden.
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sondern vielmehr um eine Gestattung.49 Die Strafverfolgungsbehörden sind also frei, der richterlichen Gestattung auch einen Zugriff auf das Grundrechtsgut folgen lassen. Handelt ein Polizeivollzugsbeamter, wird er dies aber in der Regel auf dienstliche Anordnung aus dem Bereich der Strafverfolgungsbehörden tun (vgl. § 152 Abs. 1 GVG), womit an sich die Verbindung zum Thema hergestellt ist. Zum anderen aber ist schon entwickelt worden, dass der Vollzug einer wirksamen richterlichen Anordnung ungeachtet der materiellen Rechtslage (d.h. Erfüllung der Tatbestandsmerkmale der Eingriffsermächtigung) rechtmäßig sein kann.50 Die Rechtswidrigkeit kann sich in diesem Fall aus der Art und Weise des Vollzugs der richterlichen Anordnung ergeben, soweit diese den Vollzug nicht determiniert. Existiert eine richterliche Anordnung, sind die nachfolgenden Überlegungen nur unter diesen Voraussetzungen anwendbar. Eine konfliktträchtige Lage kann nur im Falle einer rechtswidrigen Weisung entstehen, wenn also dienstlich ein rechtswidriger (nicht in Einklang mit den an anderer Stelle aufgeführten Rechtmäßigkeitsbedingungen51 stehender) Grundrechtseingriff angeordnet wird. Anderenfalls rechtfertigt – wie ausgeführt – schon die Eingriffsermächtigung den Vollzugsakt auch strafrechtlich.52 Der Gedanke, der hinter einer – unter welchen Kautelen auch immer zu entwickelnden – Rechtfertigung des Vollzugsbeamten stehen könnte, ist der Gedanke der Kollision zweier Verhaltenspflichten: Zum einen ist der Beamte gehalten, Verfassung und einfaches Gesetzesrecht zu beachten, zum anderen hat er die beamtenrechtliche (Gehorsams-)Pflicht, den (verbindlichen) Anordnungen seiner Vorgesetzten Folge zu leisten.53 Allerdings stehen der Annahme einer rechtfertigenden Pflichtenkollision gewichtige Bedenken gegenüber: Zum einen entzieht das positive Recht einer solchen Rechtfertigungsmöglichkeit schon weitgehend den Boden. Die einschlägigen Beamten- und Polizeigesetze regeln die Verbindlichkeit der Weisung zumeist derart, dass ein Beamter dann nicht „von der eigenen Verantwor___________ 49
s.o. § 8 B. s.o. § 8 B. Dass Gleiches für (innerdienstliche) Weisungen der Staatsanwaltschaft nicht gelten kann, ist a.a.O. ebenfalls schon dargelegt worden. 51 Insbesondere § 7 B.II./III., §§ 10 und 11. 52 Schief daher Hirsch, in: LK-StGB, Bd. 2 (11. Aufl. 1993), vor § 32 Rdnr. 173, nach dem die einen Straftatbestand erfüllende Ausführung gerechtfertigt sei, wenn die Weisung rechtmäßig gewesen sei. Das ist zwar im Ergebnis richtig, allerdings wird damit der Eindruck erweckt, die (innerdienstliche) Weisung entfalte Außenwirkung nach Art einer Vollstreckungsgrundlage (etwa eines Verwaltungsaktes). Die Rechtmäßigkeit der Vollzugshandlung ergibt sich vielmehr aus der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen der Eingriffsermächtigung. 53 Hieraus wird von der wohl h.L. die rechtfertigende Wirkung der verbindlichen dienstlichen Weisung hergeleitet: grdl. Stratenwerth, Verantwortung und Gehorsam (1958), S. 181 ff.; ferner Hirsch, in: LK-StGB, Bd. 2 (11. Aufl. 1993), vor § 32 Rdnr. 177; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts (1996), S. 394 f. 50
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tung befreit“ ist, wenn das angetragene Verhalten die Menschenwürde verletzt oder strafbar und die Strafbarkeit für den Beamten erkennbar ist.54 Davon abgesehen, dass für die hier interessierenden Fälle wegen der Verwirklichung eines Straftatbestandes häufig (nämlich bei Erkennbarkeit) die Befreiung von der Verantwortlichkeit ausgeschlossen ist, steht einer Rechtfertigung entgegen, dass das Gesetz nicht vom Ausschluss der Rechtswidrigkeit, sondern von der persönlichen Verantwortlichkeit des Amtsträgers, also von seiner Schuld, spricht. Noch deutlicher artikuliert dies § 7 Abs. 2 S. 2 UZwG (Bund): „Befolgt der Vollzugsbeamte die Anordnung trotzdem, so trifft ihn eine Schuld nur, wenn er erkennt oder wenn es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, dass dadurch eine Straftat begangen wird.“ Zum anderen wäre der Ausschluss der Rechtmäßigkeit aber auch teleologisch nicht gerechtfertigt, würde durch ihn doch das Innenverhältnis zwischen Beamtem und Vorgesetzten in nicht sachgerechter Weise gleichsam „nach außen gestülpt“.55 Ist der Beamte gerechtfertigt, ist der Bürger nämlich schon im Ansatz gehindert, sich gegen den Zugriff auf sein Grundrechtsgut tatsächlich zu wehren. Die innerdienstliche Anordnung führte also ohne Rücksicht auf ihre Rechtmäßigkeit zu einer Risikoverlagerung auf den Privaten.56 Sachgerechter erscheint es hingegen, das Risiko des (aus öffentlich-rechtlicher Sicht) rechtswidrigen Staatsaktes dort zu belassen, wo allein es beherrschbar ist, nämlich beim Staat. Damit ist festzuhalten, dass eine Rechtfertigung allein aufgrund Handelns auf Weisung ausgeschlossen ist. Entsprechend der dargestellten gesetzlichen Regelungen ist das Handeln auf Weisung allenfalls als Entschuldigungsgrund relevant57 und hat damit keinen Einfluss auf etwaige Duldungspflichten des Bürgers. Die Lösung ist auch aus Sicht des Vollzugsbeamten sachgerecht, insbesondere ist damit noch nicht gesagt, dass der Angegriffene von seinem Notwehrrecht wie gegen jeden anderen Privaten Gebrauch machen kann.58 Dem gefundenen Ergebnis widersprechende Entscheidungen des BGH (freilich zum Rechtmäßigkeitsbegriff des § 113 Abs. 3 StGB und damit aus Sicht des „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs“), nach denen die Rechtmäßig___________ 54
Siehe § 38 Abs. 2 S. 2 BRRG; § 56 Abs. 2 S. 3 BBG; ferner z.B. § 74 Abs. 2 S. 3 SächsBG. 55 Ähnlich Amelung, JuS 1986, 329 (337); zutreffend ferner Paeffgen, in: NK-StGB, Bd. 1 (2005), vor §§ 32-35 Rdnr. 192: Da der Untergebene nur eine abgeleitete Handlungsbefugnis habe, habe seine Ausführungshandlung teil an der Rechtswidrigkeit der Weisung; ähnlich auch Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil (2003), § 17 Rdnr. 143. 56 Diese Situation verschärft sich weiter unter der Ägide des „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffes“, vgl. nur oben A.II. bei Fn. 11 und die ebd. aufgeführte Rspr. 57 Amelung, JuS 1986, 329 (337); Paeffgen, in: NK-StGB, Bd. 1 (2005), vor §§ 32-35 Rdnr. 192. 58 Hierzu sogleich § 16.
§ 16 Die Duldungspflicht des Betroffenen und sein Recht auf Notwehr
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keit der Vollzugshandlung „nicht vorwiegend vom sachlichen Recht ab[hänge], sondern regelmäßig schon […] von dem vom zuständigen Vorgesetzten erteilten Auftrag (Befehl)“,59 widersprechen damit sowohl dem Wortlaut, als auch Sinn und Zweck positiven Rechts, sind aber wohl auch die Konsequenz der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der dienstlichen Anordnung aufgrund des – verfehlten – „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs“. § 16 Die Duldungspflicht des Betroffenen und sein Recht auf Notwehr
§ 16 Die Duldungspflicht des Betroffenen und sein Recht auf Notwehr Den von einem Grundrechtseingriff Betroffenen trifft eine Duldungspflicht zunächst dann, wenn der Grundrechtseingriff rechtmäßig (und auch der eingreifende Beamte aufgrund der Eingriffsermächtigung seinerseits gerechtfertigt) ist. Leistet der Betroffene gegen eine solche Maßnahme gewaltsam Widerstand, macht er sich nach § 113 StGB wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte strafbar. Sofern er dabei die Tatbestände weiterer Strafgesetze verwirklicht, steht deren Strafdrohung neben der des § 113 StGB.60 Eine gewisse Abschwächung erfährt dieser Grundsatz für die Einwilligung in die Grundrechtsbeeinträchtigung: Ist der Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut nur durch die Einwilligung legitimiert, besteht gerade keine Duldungspflicht des Betroffenen, da er seine Einwilligung für jeden künftigen (Teil-)Akt durch Widerruf beseitigen kann. Allerdings muss er dies auch ausdrücklich tun, bevor er dem Vollzugshandeln tatsächlich entgegentritt. Sind die soeben genannten Voraussetzungen nicht erfüllt – liegt also ein rechtswidriger Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut vor – entfällt die Strafbarkeit wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 Abs. 3 StGB.61, 62 Gleichzeitig handelt es sich bei einem solchen Zugriff um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff i.S.v. § 32 Abs. 2 StGB.63 Daraus ___________ 59 BGHSt 4, 161 (164); ähnlich KG, NJW 1972, 781, sowie die § 15 in Fn. 11 aufgeführte Rspr. 60 Eine Ausnahme gilt für die Nötigung gem. § 240 StGB, da der Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) gegenüber dem Nötigungstatbestand eine Privilegierung (damit eine lex specialis) darstellt. Vgl. hierzu m.w.N. Horn/ Wolters, SK-StGB (2005), § 113 Rdnr. 2 und 23; v. Bubnoff, in: LK-StGB, Bd. 4 (11. Aufl. 1993), § 113 Rdnr. 62. 61 Zur abweichenden herrschenden Meinung („strafrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff“) und zur Auseinandersetzung mit ihr s.o. § 15 A.II. 62 Die dogmatische Einordnung dieser Vorschrift (Rechtswidrigkeit als Rechtfertigungsgrund oder Rechtmäßigkeit als objektive Bedingung der Strafbarkeit) ist in vorliegendem Zusammenhang nicht von Interesse. Vgl. dazu statt vieler und m.w.N. Horn/Wolters, in: SK-StGB (2005), § 113 Rdnr. 22. 63 Siehe nur Horn/Wolters, in: SK-StGB (2005), § 113 Rdnr. 21.
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
folgt, dass eine tatsächliche Abwehr der Vollzugshandlung auch unter Notwehrgesichtspunkten gerechtfertigt sein kann, was dann Bedeutung hat, wenn die Abwehrhandlung über den „bloßen“ Widerstand i.S.v. § 113 Abs. 1 StGB hinausgeht und weitere Straftatbestände (z.B. § 223 StGB) verwirklicht.64 § 32 StGB kann darüber hinaus auch insoweit Bedeutung haben, als der handelnde Beamte durch den Grundrechtseingriff keinen Straftatbestand verwirklicht: Der Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut kann auch in diesem Fall einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff darstellen.65 Kein Notwehrrecht steht dem Betroffenen aber zu, wenn das Handeln des Beamten zwar (bspw. wegen Verfehlens einer Befugnisnorm) öffentlich-rechtlich rechtswidrig, strafrechtlich aber – in Konsequenz des bei § 15 B.II. Ausgeführten – nach §§ 32 oder 34 StGB gerechtfertigt war. Denn in diesem Fall hat der Strafverfolgungsbeamte ein Recht, das Rechtsgut des Betroffenen zu beschädigen. An diesem Beispiel zeigt sich aber einmal mehr, dass man die gesetzgeberische Konzeption, dem Beamten über Notrechtsvorbehalte Rechtfertigungsmöglichkeiten einzuräumen, schwerlich als interessengerecht bezeichnen kann. Liegt ein gegenwärtiger rechtwidriger Angriff vor, kommt es für die Notwehr nach § 32 StGB zunächst darauf an, ob die Verteidigung gegen den Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut „erforderlich“ ist. Die Auslegung des Erforderlichkeitskriteriums und sein Verhältnis zur „Gebotenheit“ i.S.v. § 32 Abs. 1 StGB ist noch immer streitig.66 Als ein grobes Raster kann aber festgehalten werden, dass – ohne dass es auf eine Güterabwägung ankäme – die Erforderlichkeit gegeben ist, wenn die Notwehrhandlung geeignet ist und unter mehreren sicher wirksamen Mitteln das für den Angreifer schonendste darstellt.67 Nahezu einhellig – wenn auch in Herleitung und Einzelheiten streitig – werden aber in Rechtsprechung und Lehre aus dem Sinn und Zweck des Notwehrrechts gewisse Einschränkungen für seine Ausübung hergeleitet. Zwei Prinzipien beherrschen das sehr weitgehende deutsche Notwehrrecht – sie sind daher auch für seine Einschränkung heranzuziehen: das Prinzip der Verteidi-
___________ 64 Dieser grundsätzliche „Gleichlauf“ zwischen Ausschluss der Strafbarkeit nach § 113 Abs. 3 StGB und § 32 StGB ist aber u.a. insoweit begrenzt, als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 Abs. 3 S. 2 StGB auch ausgeschlossen ist, wenn der Bürger irrig von der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung ausgeht, während es in diesem Fall an dem nach der h.M. für § 32 StGB erforderlichen Verteidigungswillen fehlt. 65 Auf die Strafbarkeit des Angriffsakts kommt es nicht an, vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts (1996), S. 338 und 341. 66 Vgl. hierzu m.w.N. Spendel, in: LK-StGB, Bd. 2 (11. Aufl. 1999), § 32 Rdnr. 255 ff. sowie Rönnau/Hohn, in: LK-StGB, Bd. 2 (12. Aufl. 2006), § 32 Rdnr. 228. 67 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts (1996), S. 343 f.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1 (2006); § 15 Rdnr. 42; Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil (2003), § 17 Rdnr. 25.
§ 16 Die Duldungspflicht des Betroffenen und sein Recht auf Notwehr
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gung eigener Rechtsgüter und das Prinzip der Bewährung der Rechtsordnung.68 Zumindest soweit eines der beiden Prinzipien zurücktritt, kann das Notwehrrecht (jedenfalls teilweise) eingeschränkt sein. Im Hinblick auf die Verteidigung gegen Vollzugsbeamte ist in zwei Richtungen an eine Einschränkung zu denken. Der Bewährung der Rechtsordnung bedarf es – in Anlehnung an die weitgehend anerkannte Fallgruppe der Notwehreinschränkung bei Angriffen durch ersichtlich Irrende oder Schuldlose69 – zum einen dann nicht, wenn sich der handelnde Amtsträger in einem Irrtum über die Eingriffsvoraussetzungen befindet, da die Geltung der Eingriffsermächtigung in solchen Fällen nicht in Frage gestellt ist. Hieraus folgt, dass eine Notwehr grundsätzlich nur unter Beschränkung auf die Abwehr eigener Rechtsgüter zulässig ist („Schutzwehr“). Der Grundrechtsträger unterliegt insoweit der Obliegenheit, den Amtsträger über seinen Irrtum aufzuklären.70 Erst wenn dieser hiernach seine Vollstreckungshandlung fortsetzt, ist die weitergehende „Trutzwehr“ zulässig. Zum anderen ist erwogen worden, ein Notwehrrecht sei insoweit nicht erforderlich, als der zu besorgende Schaden durch einen Rechtsbehelf beseitigt werden kann.71 Hier ist fraglich, ob es an der Erforderlichkeit der Notwehr fehlt, weil sie zur Verteidigung eigener Rechtsgüter nicht notwendig ist. Praktisch wäre das bspw. für die Beschlagnahme, die im Falle ihrer Rechtswidrigkeit angegriffen werden kann und deren Folgen durch Rückgabe des betreffenden Gegenstandes, vor allem aber durch künftige Nichtbeachtung der aus ihr fließenden Informationen, relativ einfach beseitigt werden können. Anders wäre es indes im Falle der Verhaftung des Betroffenen: Er kann zwar nachträglich wieder freigelassen werden, seine Freiheit hat er aber für den Zeitraum seiner Inhaftierung unwiederbringlich verloren. Eine bloße Begründung des Notwehrausschlusses mit einem mangelnden Verteidigungsinteresse könnte entgegenstehen, dass solche Folgen auch bei einem Eingriff durch Private unter Inanspruchnahme des Zivilrechtsweges beseitigt werden können – gleichwohl wäre dem Angegriffenen deshalb nicht das Notwehrrecht abzusprechen.72 Einer sol___________ 68 Ausführlich Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1 (2006) § 15 Rdnr. 1 ff. m.w.N. und in Auseinandersetzung mit dem Versuch, die Notwehr nur auf eines der beiden Prinzipien zu stützen; ferner Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil (2002), § 7 Rdnr. 6 ff. 69 Zu diesen Fallgruppen Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts (1996), S. 345 (für ersichtlich Irrende); Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1 (2006); § 15 Rdnr. 61 (für schuldlos Handelnde); für beide Fallgruppen Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil (2002), § 7 Rdnr. 192. 70 Ähnlich Roxin, in: Festschrift für Pfeiffer (1988), S. 45 (51 f.). 71 Amelung, JuS 1986, 329 (336 f.). 72 Teilweise anders (Inanspruchnahme zivilgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Private lasse die Erforderlichkeit entfallen) aber Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil (2002), § 7
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
chen Argumentation steht indes entgegen, dass im Gegensatz zu einer Schädigung durch Private dem Angegriffenen eher zuzumuten ist, eine sofortige Abwehr zurückzustellen und gegen den Staat nachträglichen Rechtsschutz zu suchen: „Denn der Staat läuft nicht davon.“73 Dies kann auch – wenngleich nicht mit der gleichen Überzeugungskraft – historisch unterfüttert werden: Der strafprozessuale Zugriff auf Rechtsgüter von Beschuldigten war nicht immer Sache des Staates. Die Einschaltung des Staates in die Strafverfolgung ist Konsequenz seines Gewaltmonopols und bringt per se schon eine gewisse Milderung für den Betroffenen. Der Betroffene kann Eingriffe des Staates vorläufig eher hinnehmen und auf eine gewaltsame Abwehr zunächst verzichten – jedenfalls dann, wenn die Folgen durch nachträglichen Rechtsschutz angemessen beseitigt werden können.74 Auch ein Wertungswiderspruch zu § 113 Abs. 3 StGB liegt darin nicht: Zwar kann diese Lösung zu einem Auseinanderfallen der Strafbarkeit nach § 113 StGB und (für den Fall, dass es sich bei der Verteidigungshandlung um eine – sei es nur versuchte – Körperverletzung handelt) § 223 StGB führen. Das liegt aber allgemein in der Konsequenz des privilegierenden § 113 StGB, insbesondere dessen Abs. 3 StGB, die den Verteidiger auch sonst in größerem Maße straffrei stellt, als es § 32 StGB vermag.75 Die vorstehenden Ausführungen mögen gezeigt haben, dass der Umstand, dass der Beamte im Fall rechtswidriger strafprozessualer Grundrechtseingriffe keinen Gehorsam zu erwarten hat,76 nicht heißt, dass er im Umgang des Betroffenen mit dem Notwehrrecht nicht eine gewisse Schonung erwarten darf. Auch das spricht schließlich dafür, dass der Ausgangspunkt des „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs“ (besondere Schutzbedürftigkeit des handelnden Amtsträgers) nicht zutreffend ist. ___________ Rdnr. 122. Bei dem von Kühl hierfür in Anspruch genommenen Beispiel (Durchsetzung der Räumung einer gekündigten Wohnung) dürfte es sich allerdings schon nicht um einen notwehrfähigen Angriff, sondern um die schlichte Nichterfüllung einer zivilrechtlichen Forderung handeln, die eben nicht im Wege der Notwehr, sondern wegen des staatlichen Gewaltmonopols im Wege des zivilprozessualen (Erkenntnis- und) Vollstreckungsverfahrens durchzusetzen ist. 73 Amelung, in: Festschrift für Badura (2004), S. 3 (21) unter teilweisem Verweis auf Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil (2002), § 7 Rdnr. 122; vgl. zu diesem aber § 16 Fn. 72. 74 Die Frage deckt sich nicht mit dem Problem, ob aus dem staatlichen Gewaltmonopol folgt, dass Notwehr nicht erforderlich ist, wenn staatliche Hilfe gegenwärtig ist (hierzu etwa Pelz, NStZ 1995, 305 ff.). Hier geht es ja gerade um Notwehr gegen die Repräsentanten des Staates. 75 Erinnert sei an den Fall, dass der Verteidigende irrig eine rechtmäßige Diensthandlung annimmt: Er ist wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte wegen § 113 Abs. 3 S. 2 StGB nicht strafbar, kann aber gleichwohl gegebenenfalls § 32 StGB wegen des fehlenden Verteidigungswillens nicht in Anspruch nehmen. Siehe schon § 16 Fn. 64. 76 Siehe hierzu oben § 15.
§ 17 Das Strafverfolgungsentschädigungsgesetz
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2. Abschnitt
Die Haftung des Staates für strafprozessuale Grundrechtseingriffe Das System der staatshaftungsrechtlichen Tatbestände ist wenig homogen: Die Materie hat im Strafverfolgungsentschädigungsgesetz (StrEG) eine – allerdings lückenhafte – Regelung erfahren. Nach diesem Gesetz haftet der Staat für bestimmte strafprozessuale Grundrechtseingriffe unabhängig von ihrer Rechtmäßigkeit, wenn sich – vereinfacht gesprochen – der Verdacht gegen den Beschuldigten nicht bestätigt hat (hierzu § 17). Die Lückenhaftigkeit der Regelungen des StrEG fordert die Frage heraus, ob und inwieweit daneben das „allgemeine Staatshaftungsrecht“ Anwendung findet (hierzu § 18). Außerdem kommt eine Haftung des Staates aus Vorschriften der im Rang eines Bundesgesetzes stehenden EMRK in Betracht (§ 19). Behandelt werden im Folgenden jeweils nur die für strafprozessuale Grundrechtseingriffe spezifischen Fragen des Staatshaftungsrechts.
§ 17 Das Strafverfolgungsentschädigungsgesetz Das StrEG aus dem Jahr 1971 steht in der Tradition gesetzlicher Regelungen zum einen zur Entschädigung für unschuldig vollzogene Strafhaft von 1898,77 zum anderen zur Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft von 1904.78 Größere Bedeutung haben diese Gesetze allerdings nicht erlangt. Das erklärt sich im Wesentlichen daraus, dass die Entschädigung voraussetzte, dass der Betroffene wegen erwiesener Unschuld freigesprochen wurde oder zumindest kein begründeter Tatverdacht verblieben war.79 Wegen des begrenzten Ziels des Strafverfahrens waren solche Aussprüche aber verhältnismäßig selten.80 Die entsprechenden Vorschriften waren zudem insofern restriktiver als das StrEG, als Entschädigung lediglich für Freiheitsentziehung gewährt wurde. Die Entscheidung über die grundsätzliche Entschädigungsverpflichtung des ___________ 77
„Gesetz, betreffend die Entschädigung der im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochenen Personen“ v. 20.5.1898, RGBl. I, S. 345. 78 „Gesetz, betreffend die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft“ v. 14.7.1904, RGBl. I, S. 321. 79 Vgl. § 1 Abs. 1 des Gesetzes in Fn. 78; § 1 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes in Fn. 77. 80 Meyer, StrEG (2005), Einl. Rdnr. 17; vgl. hierzu Henkel, Strafverfahrensrecht (1968), S. 282 (mit Fn. 30): Durch die Formel „kein begründeter Verdacht“ seien auch Fälle des Freispruchs mangels Beweises in den Entschädigungsbereich aufgenommen. Die Praxis war aber restriktiv, vgl. BGHSt 11, 383 (385 f.): Der Freispruch müsse (zumindest) einem solchen wegen erwiesener Unschuld nahe kommen.
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
Staates war außerdem unanfechtbar.81 Diese Defizite hat der Gesetzgeber zum Anlass genommen, die Strafverfolgungsentschädigung zu reformieren und 1971 das StrEG zu erlassen.82 Die Strafverfolgungsentschädigung wäre nicht in dem – 1982 vom BVerfG wegen damals fehlender Gesetzgebungskompetenz für nichtig erklärten83 – Staatshaftungsgesetz von 198184 aufgegangen. Das StrEG wäre also neben dem StHG anwendbar gewesen (vgl. § 15 Nr. 3 StHG).85 Die folgenden Ausführungen befassen sich mit den Rahmenbedingungen des Anspruchs nach dem StrEG (unter A.) sowie den Fragen, welche strafprozessualen Grundrechtseingriffe entschädigungsfähig sind (unter B.), welche Umstände eine Entschädigung auslösen (unter C.), welche eine Entschädigung ausschließen (unter D.) und des Inhalts der Entschädigung (unter E.).
A. Rahmenbedingungen des Anspruchs nach dem StrEG Nach dem Strafverfolgungsentschädigungsgesetz haftet der Staat unabhängig davon, ob die Maßnahme rechtswidrig oder rechtmäßig gewesen ist. Nach herrschender Auffassung handelt es sich dabei um einen gesetzlich geregelten Sonderfall des Aufopferungsanspruchs.86 Jemand, der bspw. in Untersuchungshaft genommen wird, erbringt danach ein Sonderopfer, wenn sich der Verdacht im weiteren Verlauf der Ermittlungen nicht bestätigt. Die Gegenauffassung, die von Paeffgen für die Entschädigung erlittener Untersuchungshaft entwickelt worden ist,87 hat kaum Gefolgschaft gefunden. Sie beruht auf dem Gedanken, dass Untersuchungshaft nur gegen „Störer“ des gerichtlichen Verfahrens zulässig sei, dem Betroffenen damit aber gerade kein Sonderopfer abverlangt werde. Nicht einmal ein Opfer werde dem Beschuldigten abverlangt, werde die Untersuchungshaft gegen ihn doch als „‚Störer‘ der staatlichen Obliegenheiten“ ver___________ 81
Vgl. § 4 Abs. 3 S. 2 des Gesetzes in Fn. 78; § 4 Abs. 2 S. 2 des Gesetzes in Fn. 77. Siehe zusammenfassend zum Reformbedarf den Regierungsentwurf zum StrEG, BT-Drs. 6/460, S. 5 f. 83 BVerfGE 61, 149 ff.; seit 1994 enthält das GG eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes in Art. 74 Abs. 1 Nr. 25. 84 Gesetz vom 26.6.1981, BGBl. I 1981, S. 553. 85 Bonk, in: Schäfer/Bonk, StHG (1982), § 15 Rdnr. 94. 86 Vgl. hierzu BGHZ 60, 302 (304 f.); 72, 302 (305); OLG Nürnberg, MDR 1975, 779 (780); Meyer-Goßner, StPO (2006), Vor § 1 StrEG Rdnr. 1; Baumann, in: Festschrift für Heinitz (1972), S. 705 (707); Schätzler/Kunz, StrEG (2003), Einl. Rdnr. 11; Meyer, StrEG (2005), Einl. Rdnr. 12. 87 Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 220 ff.; gegen die Annahme eine Sonderopfers bereits Tiedemann, MDR 1964, 971 (974). 82
§ 17 Das Strafverfolgungsentschädigungsgesetz
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hängt. Es werde ihm damit also lediglich ein „Ausgleich für die von seiner Seite drohenden Beeinträchtigungen Dritter oder des Staates“ auferlegt.88 Diese Argumente beanspruchen allerdings von vornherein nur für die Untersuchungshaft Geltung und sind somit kaum geeignet, dem Anspruch aus § 2 StrEG dogmatisch ein einheitliches Gepräge zu geben.89 Es liegt demgegenüber nahe, die Schwierigkeiten der Einordnung des Anspruchs unter Rückgriff auf den Gedanken des einstweiligen Rechtsschutzes zu überwinden.90 Mit strafprozessualen Grundrechtseingriffen sichert der Staat Beweise, die er in einem späteren Verfahrensstadium benötigt, schon in einem vorgelagerten Stadium, weil er den Verlust für die Hauptverhandlung vermeiden will. Ebenso sichert er die Vollstreckung eines Schuldspruchs schon bevor dieser erfolgt, wenn zu besorgen ist, dass spätere Vollstreckungsversuche scheitern.91 Nach einem (zivil-) prozessualen Prinzip, das in § 945 ZPO verkörpert ist, ist der Schaden auszugleichen, der aus der Vollziehung der Anordnung einstweiligen Rechtsschutzes entstanden ist, wenn sich diese Anordnung als von Anfang an ungerechtfertigt erweist. Ähnlich geht auch § 2 StrEG vor, denn er gewährt Entschädigung für Maßnahmen im Ermittlungsverfahren, wenn sich der Straftatverdacht im Laufe des Verfahrens nicht bestätigt. Das Gegenargument Paeffgens, eine solche Sicht setzte voraus, die Untersuchungshaft als eine Art Strafe zu verstehen,92 trifft den Kern dieses Rückgriffs nicht. Paeffgen stellt gerade nicht auf prozessrechtliche Prinzipien des einstweiligen Rechtsschutzes ab. Das zeigt sich insbesondere daran, dass er das Prinzip des § 945 ZPO gleichsetzt mit dem Grundgedanken, der den Ersatzvorschriften bei ungerechtfertigter Vollstreckung (§§ 302 Abs. 4, 600 Abs. 2, 717 Abs. 2 ZPO) zugrunde liegt.93 Hier geht es von vornherein nicht darum, dem Betroffenen aufgrund grundsätzlich abschließender materiell-rechtlicher Prüfung eine Belastung aufzuerlegen, son___________ 88 Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 221. Freilich lässt es Paeffgen bei diesen Argumenten nicht bewenden, vgl. ebd., S. 221 ff. 89 Anzumerken ist allerdings, dass für den Fall der Untersuchungshaft grundsätzliche Bedenken gegen die Kategorisierung des Beschuldigten als Störer nicht Platz greifen. Paeffgen stellt darauf ab, dass das Vorliegen der Haftgründe (nicht der Verdacht) den Beschuldigten zu einem Störer des Strafverfahrens werden lassen. Das geht also nicht so weit wie die bisweilen anzutreffende Auffassung, der Beschuldigte werde generell als Störer, sei es auch als „Anscheinsstörer“ in Anspruch genommen (in diesem Sinn Rudolphi, SK-StPO [1994], vor § 94 Rdnr. 10; Krauß, in: Müller-Dietz [Hrsg.], Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik [1971], S. 153 [168 ff., insbes. 171]). 90 Vgl. schon Goldschmidt, in: Festgabe für Gierke, Bd. 3 (1910), S. 109 ff.; ferner Amelung, JZ 1987, 737 (743). 91 Siehe zu diesem Gedanken des vorläufigen Rechtsschutzes bereits § 11 D.I.2. 92 Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 235. 93 Vgl. auch Amelung, JZ 1987, 737 (743).
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dern darum, ihm aufgrund eines bloßen Verdachts etwas abzuverlangen, um in einem späteren Verfahrensschritt die materiell-rechtliche Prüfung erst zu ermöglichen bzw. die Vollstreckung nicht unmöglich werden zu lassen. Das StrEG schafft mit der Haftung auch für rechtmäßige Maßnahmen also einen Ausgleich dafür, dass im Strafverfahren schon aufgrund eines bloßen Tatverdachts in Grundrechte eingegriffen werden darf. Das Prognoserisiko, das damit auf einer Primärebene der Betroffene trägt (eine Maßnahme kann auch dann rechtmäßig sein, wenn der Verdacht „in Wirklichkeit unbegründet“ ist), wird auf einer Sekundärebene auf den Staat (ähnlich wie bei § 945 ZPO auf den die Anordnung Erwirkenden) zurückübertragen.94 Diesen Ausgleich gesteht das StrEG dem Betroffenen aber nicht grenzenlos zu: Zum einen sind die Strafverfolgungsmaßnahmen, die einen Entschädigungsanspruch auslösen, abschließend in § 2 StrEG aufgeführt.95 Für strafprozessuale Grundrechtseingriffe, die in diesem Katalog nicht enthalten sind, ist der Betroffene auf allgemeines Staatshaftungsrecht verwiesen. Zum anderen wird grundsätzlich nur der – kausal auf die Maßnahme zurückführbare – Vermögensschaden ersetzt (§ 7 StrEG). Lediglich für Freiheitsentziehung aufgrund gerichtlicher Entscheidung wird der Schaden ersetzt, der Nichtvermögensschaden ist (§ 7 Abs. 1, 2. HS StrEG); ob ein Betrag von 11 Euro pro Tag erlittener Untersuchungshaft in jedem Fall den Nichtvermögensschaden abdecken kann, darf allerdings bezweifelt werden.96 Will der Betroffene durch andere Grundrechtseingriffe entstandene Nichtvermögensschäden geltend machen, ist er wiederum auf die allgemeinen staatshaftungsrechtlichen Regelungen verwiesen. Dass dieser Weg erfolgreich sein kann, hat die Entscheidung des BGH zum sog. „Brandfall Horben“97 eindrucksvoll gezeigt.
___________ 94 Allerdings wird im Hinblick auf die Untersuchungshaft nicht nur der privilegiert, gegen den sich der Straftatverdacht nicht bestätigt hat, sondern – wenngleich auf anderem Wege – auch derjenige, der verurteilt wird. Denn auf seine (Freiheits- bzw. Geld-) Strafe wird die erlittene Untersuchungshaft regelmäßig angerechnet (§ 51 StGB). 95 Meyer, StrEG (2005), § 2 Rdnr. 8 m.w.N.; vgl. aber BGHZ 72, 302 (303): Entschädigungsfähige Beschlagnahme i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 4 StrEG ist nicht nur die Anordnung und Durchführung, sondern auch die Aufhebung einer Beschlagnahme und deren Vollzug (etwa durch Rückgabe an einen Nichtberechtigten). 96 Kritisch zur Entschädigungshöhe (10 DM/Tag) nach dem Inkrafttreten des Gesetzes (1971) auch Baumann, in: Festschrift für Heinitz (1972), S. 705 (709): „Ist das Rechtsgut des Art. 2 GG so wenig wert?“ 97 BGH, NJW 2003, 3693; vgl. hierzu sogleich bei § 18 A.
§ 17 Das Strafverfolgungsentschädigungsgesetz
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B. Entschädigungsfähige Grundrechtseingriffe Wie angedeutet, ist nicht jeder strafprozessualer Grundrechtseingriff nach dem StrEG entschädigungsfähig. Die entschädigungsfähigen Maßnahmen sind vielmehr in § 2 Abs. 1 StrEG (Vollzug der Untersuchungshaft) und § 2 Abs. 2 StrEG („andere Strafverfolgungsmaßnahmen“) abschließend98 geregelt. In welchem Verfahrensstadium die Maßnahmen vollzogen werden, spielt ebenso wenig eine Rolle wie die Kenntnisnahme des Betroffenen von der Maßnahme.99 Nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift ist aber erst der Vollzug, nicht schon die bloße (richterliche) Anordnung des Eingriffs entschädigungsfähig.100 Vereinzelt wird die Frage diskutiert, ob freiwillige Handlungen der Betroffenen, die den Vollzug einer Maßnahme ersetzen, eine Entschädigungspflicht auslösen können.101 Insoweit ist zunächst auf das gebotene restriktive Verständnis der Freiwilligkeit zu verweisen.102 Sie ist nicht gegeben, wenn –
mit einer staatliche Offerte zu einvernehmlichem Handeln die Kopplung eines für den Fall der Nichteinwilligung zu befürchtenden Nachteils verbunden ist, der seinerseits einen Grundrechtseingriff darstellte;
–
sich der Betroffene nicht darüber im Klaren ist, ob er das staatliche Handeln unabhängig von seiner Einwilligung dulden muss;
–
sich der Betroffene darüber im Unklaren ist, dass der Staat ihm gegenüber handelt.
Für den (danach wohl eher seltenen) Fall der Freiwilligkeit erscheint es aber sachgerecht, eine Entschädigungspflicht auch bei freiwilligen Handlungen anzunehmen. Der Verweis auf den Grundsatz volenti non fit iniuria103 greift jedenfalls zu kurz: Denn auch dem Nichteinwilligenden muss kein Unrecht geschehen, damit die Entschädigungspflicht nach dem StrEG eintritt; sie ist von der Rechtmäßigkeit der Maßnahme ja gerade unabhängig. Anderenfalls dürfte der Umstand, dass bei freiwilligem Handeln die Pflicht zur Entschädigung entfiele, die Bereitschaft zu – wünschenswertem – einvernehmlichen Handeln der Betroffenen mit den Strafverfolgungsbehörden nicht fördern. Der Gesetzgeber hat durch die abschließende Aufzählung in § 2 StrEG eine Vielzahl von Eingriffen als nicht entschädigungsfähig eingestuft. Hintergrund ___________ 98
§ 17 Fn. 95. Meyer, StrEG (2005), § 2 Rdnr. 1. 100 Das Gesetz vollzieht insoweit nach, dass die richterliche Anordnung bis zu ihrem Vollzug ein bloßes Internum darstellt; siehe § 10 C.I. 101 Verneinend Meyer, StrEG (2005), § 2 Rdnr. 19 f. 102 s.o. § 10 B.V.3. 103 So Meyer, StrEG (2005), § 2 Rdnr. 19. 99
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soll sein, dass jenen nicht berücksichtigten Maßnahmen104 gemein sei, dass bei einer generalisierenden Betrachtungsweise der damit verbundene Eingriff des Staates in den Freiheitsraum des Bürgers verhältnismäßig gering erscheine, und zwar sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf die unmittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen für den Betroffenen.105 Der Gesetzgeber hat den unter A. beschriebenen Ausgleich für die Inanspruchnahme des Betroffenen trotz eines nur vorliegenden Verdachts damit lediglich teilweise verwirklicht. Rechtspolitisch unangreifbar erscheint dies aber nicht: Vor dem Hintergrund, dass regelmäßig ohnehin nur der Vermögensschaden auszugleichen ist (§ 7 Abs. 1 StrEG),106 ist nicht ganz einzusehen, weshalb ein Vermögensschaden, der aus einer Katalogmaßnahme resultiert, in einem größeren Maße ausgleichswürdig erscheinen soll, als der Vermögensschaden, der dem Betroffenen aus einem Eingriff erwächst, der nicht im Katalog des § 2 StrEG aufgeführt ist.107 Nach dem StrEG entschädigungsfähig sind ferner nur Eingriffe gegen den Beschuldigten. Das ergibt sich mittelbar aus der Normierung des entschädigungsauslösenden Umstands in § 2 Abs. 1 StrEG (hierzu sogleich unter C.). Hiernach ist eine Entschädigung für strafprozessuale Grundrechtseingriffe nur dann zu leisten, soweit der Betroffene freigesprochen oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wird oder das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn ablehnt. Eine Analogie zugunsten Nichtbeschuldigter wird von der Rspr. wegen des klaren Gesetzeszwecks zu Recht seit jeher abgelehnt.108 Das ist insoweit folgerichtig, als das StrEG eben gerade Ausgleich für die Diskrepanz von Eingriff und (negativem) Ausgang des Strafverfahrens geben will. Dennoch erscheint es als seltsame Schieflage, dass derjenige, gegen den (immerhin!) der Verdacht der Begehung einer Straftat bestanden hat, für rechtmäßige Grundrechtseingriffe entschädigt werden kann, während den Personen, die noch nicht einmal als verdächtig gelten, der aus strafprozessualen Grund-
___________ 104
Z.B. Überwachung der Telekommunikation (§ 100a StPO), akustische Wohnraumüberwachung nach § 100c StPO, Einsatz technischer Mittel nach den §§ 100f, 100g und 100f StPO, Rasterfahndung (§ 98a StPO), vorläufige Festnahme (§ 127 Abs. 1 StPO). 105 So Meyer, StrEG (2005), § 2 Rdnr. 9; vgl. auch BT-Drs. 6/460, S. 7. 106 Ausnahmen gelten nur für Untersuchungshaft (§ 7 Abs. 1, 2. HS). 107 Kritisch teilweise auch Meyer, StrEG (2005), § 2 Rdnr. 12. 108 Vgl. OLG München, NJW-RR 1993, 1179; OLG Nürnberg, NStZ-RR 2003, 62 f.; LG Freiburg, NJW 1990, 399 (400); ebenso Schätzler/Kunz, StrEG (2003), Einl. Rdnr. 37 ff.; Meyer, StrEG (2005), Einl. Rdnr. 50; a.A. – mit dem Willen des Gesetzgebers aber nicht in Einklang – Quaritsch, in: Festschrift 50 Jahre Hochschule Speyer (1997), S. 169 (176).
§ 17 Das Strafverfolgungsentschädigungsgesetz
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rechtseingriffen resultierende Vermögensschaden nicht ersetzt wird.109 Dritte sind ausschließlich auf das – wie sich zeigen wird: insoweit ebenfalls unbefriedigend lückenhafte – allgemeine Staatshaftungsrecht verwiesen.110
C. Der entschädigungsauslösende Umstand Eine Entschädigung kann der Betroffene nur beanspruchen, soweit er freigesprochen bzw. das Verfahren gegen ihn eingestellt wird oder soweit des Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn ablehnt (§ 2 Abs. 1 StrEG).111 Ob dies aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen geschieht, ist ebenso irrelevant, wie eine Unterscheidung nach Freispruch bzw. Einstellung „mangels Beweises“ oder wegen „erwiesener Unschuld“.112 Das Verfahren muss also endgültig abgeschlossen sein, und zwar regelmäßig in einer Weise, dass dem Beschuldigten gegenüber ein Schuldnachweis nicht erbracht werden konnte. Das StrEG verfolgt damit konsequent den Grundgedanken, strafprozessuale Grundrechtseingriffe zu entschädigen, wenn sich der Verdacht, der ihrer Anwendung zugrunde lag, zum Ende des Strafverfahrens nicht bestätigt. § 3 StrEG weicht von dem Grundsatz insoweit ab, als auch auf eine nicht obligatorische, endgültige Einstellung (z.B. nach § 153 StPO)113 eine Entschädigung gewährt werden kann, „soweit dies nach den Umständen des Falles der Billigkeit entspricht.“ Die Frage, ob eine Entschädigung der Billigkeit entspricht, unterliegt entgegen verbreiteter Auffassung114 keinem Beurteilungsspielraum. Denn es ist keine der Fallgruppen einschlägig, für die anerkannt ist, dass ein unbestimmter Rechtsbegriff einen Beurteilungsspielraum zur Folge ___________ 109 Kritisch auch Schöneborn, ZRP 1972, 59 (60 f.); für eine analoge Anwendung der Vorschriften des StrEG im Wege eines „erst-recht“-Schlusses Quaritsch, in: Festschrift 50 Jahre Hochschule Speyer (1997), S. 169 (176); vgl. bereits soeben Fn. 108. 110 Das JVEG, das u.a. die Entschädigung von Zeugen und Dritten regelt, trifft nur lückenhafte Regelungen, etwa für die Herausgabe von Gegenständen nach § 95 Abs. 1 StPO (§ 23 Abs. 1 JVEG); hierzu sogleich unter F. Zur Entschädigung des Dritten für Eingriffe in immaterielle Rechtsgüter siehe § 18 B.; zur Entschädigung für rechtmäßige Eingriffe in das Eigentumsgrundrecht siehe § 18 C.IV.; zu Ersatzansprüchen für rechtswidrig und schuldhaft verursachte Schäden siehe § 18 A. 111 Zur Ausnahmeregelung des § 3 StrEG sogleich im Text. 112 Schätzler/Kunz, StrEG (2003), § 2 Rdnr. 18; Meyer, StrEG (2005), § 2 Rdnr. 24. 113 Für § 153a StPO gilt, dass erst die endgültige Einstellung nach Erfüllung der Auflagen bzw. Weisungen eine Billigkeitsentscheidung nach § 3 StrEG auslösen kann; hierzu Beulke, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 3 (25. Aufl. 2001), § 153a Rdnr. 128 f.; Weßlau, in: SK-StPO (2002), § 153a Rdnr. 84; vgl. ferner OLG Stuttgart, MDR 1991, 978; OLG Hamburg, MDR 1993, 948 f.; Schätzler/Kunz, StrEG (2003), § 3 Rdnr. 19 f.; Meyer-Goßner, StPO (2006), § 3 StrEG Rdnr. 1. Zu Zweifelsfällen im Hinblick auf Einstellungen nach Opportunitätsgesichtspunkten siehe Meyer, StrEG (2005), § 3 Rdnr. 19 ff. 114 Meyer, StrEG (2005), § 3 Rdnr. 32.
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
hat115. Demnach ist die Billigkeitsfrage durch das Beschwerdegericht (vgl. § 8 Abs. 3, § 9 Abs. 2 StrEG) voll überprüfbar. Ob eine Entschädigung der Billigkeit entspricht, soll nach der Konzeption des Gesetzes eher restriktiv gehandhabt werden.116 Nach dem Gesetz handelt es sich bei § 3 StrEG zudem um eine Ermessensvorschrift. Allerdings dürften für die Ermessensausübung bei diesem Kopplungstatbestand117 kaum relevante Erwägungen bleiben: Entspricht eine Entschädigung der Billigkeit, so ist nicht erkennbar, aufgrund welcher Ermessenserwägung sie dennoch versagt werden können soll. In der Sache handelt es sich damit um eine gebundene Entscheidung,118 was für solche Kopplungsoder Mischtatbestände jedenfalls keine ungewöhnliche Folge ist.119 Schließlich kann nach § 4 StrEG auch das Absehen von Strafe sowie eine Verurteilung eine Entschädigung auslösen, soweit dies der Billigkeit entspricht. Die Ausführungen zu § 3 StrEG gelten insoweit entsprechend.
D. Ausschluss und Versagung der Entschädigung Das StrEG kennt zwingende Ausschlussgründe (§ 5 StrEG) sowie Gründe, eine Entschädigung nach Ermessen zu versagen (§ 6 StrEG).120 Von den Ausschlussgründen hat § 5 Abs. 2 StrEG die größte Bedeutung. Nach S. 1 dieser Vorschrift ist die Entschädigung ausgeschlossen, „wenn und soweit der Beschuldigte die Strafverfolgungsmaßnahme vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat.“ Mit diesem Ausschlusstatbestand soll der allgemeine Gedanke zum Ausdruck gebracht werden, wonach derjenige, der durch sein eigenes, zurechenbares Verhalten eine entschädigungspflichtige Strafverfolgungsmaßnahme auslöst, nicht zu Lasten der Allgemeinheit entschädigt werden soll.121 ___________ 115
Siehe hierzu nur Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (2006), § 7 Rdnr. 37 ff.; zum Beurteilungsspielarum bei strafprozessualen Eingriffsermächtigungen § 7 B.II. 116 Einzelheiten mögen hier dahinstehen, siehe insoweit Schätzler/Kunz, StrEG (2003), § 3 Rdnr. 26 ff.; Meyer, StrEG (2005), § 3 Rdnr. 32 ff. 117 Ein Koppelungstatbestand ist eine Norm, die auf Tatbestandsseite unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, auf Rechtsfolgenseite zu einer Ermessensentscheidung ermächtigt; vgl. hierzu schon oben § 7 B.III. bei Fn. 119. 118 A.A. hingegen Meyer, StrEG (2005), § 3 Rdnr. 44 ff., der als Ermessenserwägungen aber durchweg solche behandelt, die die Frage der Billigkeit betreffen. In der Sache wie hier Schätzler/Kunz, StrEG (2003), § 3 Rdnr. 26, der die Begrifflichkeiten allerdings nicht sauber trennt. 119 Siehe schon oben § 7 B.III. bei Fn. 119. 120 Die zwingenden Ausschlussgründe des § 5 StrEG gehen dabei den Ermessenstatbeständen des § 6 StrEG vor; vgl. Meyer, StrEG (2005), § 6 Rdnr. 2; Schätzler/Kunz, StrEG (2003), § 6 Rdnr. 4. 121 Meyer, StrEG (2005), § 3 Rdnr. 35; Schätzler/Kunz, StrEG (2003), § 3 Rdnr. 40; vgl. ferner BT-Drs. 6/1512, S. 3.
§ 17 Das Strafverfolgungsentschädigungsgesetz
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Einzelheiten sollen hier auf sich beruhen.122 Nach § 5 Abs. 2 S. 2 StrEG findet der Ausschlussgrund aber keine Anwendung auf den Fall, dass der Beschuldigte sich darauf beschränkt hat, nicht zur Sache auszusagen oder unterlassen hat, ein Rechtsmittel einzulegen.123 Mit der letztgenannten Ausnahme setzt das StrEG konsequent den Gedanken fort, dass die Entschädigung eben nicht von der Rechtswidrigkeit der Maßnahme abhängt, so dass auch nicht auf die eventuelle Möglichkeit abgestellt werden kann, den Eingriff durch Rechtsmittel abzuwehren bzw. dessen Rechtswidrigkeit festzustellen.124 Mit der Ausnahme vom Ausschluss bei Schweigen zur Sache will das Gesetz sicherstellen, dass dem Beschuldigten kein Nachteil daraus erwächst, dass dieser von Rechten Gebrauch macht, die ihm die StPO einräumt (§ 136 Abs. 1, § 163a Abs. 3 und 4, § 243 Abs. 4 StPO).125 Nach § 6 StrEG obliegt es darüber hinaus in bestimmten Fällen dem Ermessen des zuständigen Gerichts, ob eine Entschädigung versagt wird. Das ist nach § 6 Nr. 1 StrEG insbesondere der Fall, wenn der Beschuldigte die Strafverfolgungsmaßnahme wahrheitswidrig oder durch widersprüchliche Aussagen belastet oder – trotz Einlassung zur Sache – wesentliche entlastende Umstände verschweigt.126 Die Vorschrift orientiert sich weitgehend an der Kostenregelung des § 467 Abs. 3 StPO.
E. Inhalt und Umfang der Entschädigung Gegenstand der Entschädigung ist nach § 7 Abs. 1 StrEG grundsätzlich nur der Vermögensschaden. Nur für den Fall der Freiheitsentziehung auf Grund gerichtlicher Entscheidung wird auch der Nichtvermögensschaden ersetzt, der allerdings nach § 7 Abs. 3 StrEG auf 11 EUR/Tag begrenzt ist. Wegen der vom StrEG verfolgten Trennung der Entscheidung über Entschädigungsgrund (§§ 8, 9 StrEG) und -betrag (§§ 10-13 StrEG) ist die Frage des Anspruchsinhalts relativ selten Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen.127 Vermögensschaden i.S. ___________ 122 Vgl. ausführlich und mit zahlreichen Nachweisen aus der Rspr. Meyer, StrEG (2005), § 5 Rdnr. 35 ff.; Schätzler/Kunz, StrEG (2003), § 5 Rdnr. 38 ff. 123 Hierbei handelt es sich – jedenfalls nach Auffassung des Gesetzgebers – lediglich um eine gesetzgeberische Klarstellung, vgl. BT-Drs. 6/1512, S. 3. 124 Anders aber Meyer, StrEG (2005), § 5 Rdnr. 85 f., der hierin zu undifferenziert einen Widerspruch zu § 839 Abs. 3 BGB sieht. 125 Schätzler/Kunz, StrEG (2003), § 5 Rdnr. 98; Meyer, StrEG (2005), § 5 Rdnr. 80 ff. 126 § 6 Abs. 1 Nr. 2 StrEG betrifft den Fall, dass das Verfahren nur deshalb beendet worden ist, weil der Beschuldigte im Zustand der Schuldunfähigkeit gehandelt hat oder weil ein Verfahrenshindernis bestand; § 6 Abs. 2 StrEG betrifft Strafverfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende. 127 Siehe dazu auch Meyer, StrEG (2005), § 7 Rdnr. 1.
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
der Vorschrift ist jede durch die Strafverfolgungsmaßnahme verursachte Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des Beschuldigten, einschließlich des Verdienstausfalls und entgangenen Gewinns, der nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge bzw. konkreten Umständen des Einzelfalls hätte erwartet werden können.128 Die §§ 249-252 BGB sind entsprechend anzuwenden,129 allerdings unter Berücksichtigung spezieller, abweichender Vorschriften des StrEG.130 Einzelfragen sollen hier auf sich beruhen.
F. Exkurs: Entschädigung Dritter nach dem Justizvergütungsund -entschädigungsgesetz Es ist bereits dargelegt worden, dass das StrEG keine Entschädigungsregelung für Nichtbeschuldigte enthält.131 Ein Teilbereich entschädigungsträchtiger Ermittlungseingriffe hat im Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz (JVEG) inzwischen eine Regelung erfahren.132 Zur früheren Rechtslage ist insbesondere die Detailfrage diskutiert worden, ob Dritte Kosten für das Erstellen sog. Austauschkopien ersetzt bekommen können, woran offenbar insbesondere Kreditinstitute gesteigertes Interesse haben. Solche Situationen können entstehen, wenn die Strafverfolgungsbehörden zu Beweiszwecken Akten sicherzustellen bzw. zu beschlagnahmen haben, dem Betroffenen aber gestatten, die Sicherstellung dadurch abzuwenden, dass den Strafverfolgungsbehörden die Informationen in Kopie zur Verfügung gestellt werden. Ein solcher Ersatzanspruch für eingriffsmildernde Ersatzmaßnahmen ist von der herrschenden Meinung auf der Basis der früheren Rechtslage zu Recht abgelehnt worden.133 Nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 JVEG sind Dritte, die „aufgrund eines Beweiszwecken dienenden Ersuchens der Strafverfolgungsbehörde […] Gegenstände herausgeben […] oder die Pflicht zur Herausgabe entsprechend einer Anheimgabe der Strafverfolgungsbehörde abwenden“ wie Zeugen zu entschädigen. Zeugen werden Auslagen nach § 19 Abs. 1 Nr. 3, § 7 Abs. 1 JVEG ersetzt, „soweit sie notwendig“ sind. Ob hierunter die Kosten der Austauschkopien fallen sollen, ___________ 128
Schätzler/Kunz, StrEG (2003), § 7 Rdnr. 8. Schätzler/Kunz, StrEG (2003), § 7 Rdnr. 8. 130 Z.B.: keine Naturalrestitution (§ 7 Abs. 1 StrEG), Begrenzung des Nichtvermögensschadens der Höhe nach (§ 7 Abs. 3 StrEG), Bagatellgrenze (§ 7 Abs. 2 StrEG). 131 s.o. § 17 B. 132 BGBl. I 2004, S. 718 (776 ff.). Das JVEG ersetzt das Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen (ZuSEG), in das bereits 1989 ein § 17a aufgenommen worden ist, der ebenfalls die Entschädigung Dritter zum Gegenstand hatte (vgl. Art. 4 Abs. 18 des Poststrukturgesetzes vom 8.6.1989, BGBl. I 1989, S. 1026 [1050]). 133 Siehe nur BGH (Ermittlungsrichter), NStZ 1982, 118; Amelung, in: AK-StPO, Bd. 2/1 (1992), § 94 Rdnr. 40 m.w.N. auch zur Gegenauffassung. 129
§ 18 Haftung nach allgemeinem Staatshaftungsrecht
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ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien nicht134 und ist daher letztlich wie nach der alten Rechtslage zu beantworten: Notwendig sind die Kosten nicht schon dann, wenn die Strafverfolgungsbehörden dem Betroffenen eine Abwendungsbefugnis der Sicherstellung bzw. Beschlagnahme einräumen, soweit Kopien zur Verfügung gestellt werden. Notwendig sind Kosten nur, soweit sie zur Erfüllung der dem Betroffenen obliegenden Pflichten entstehen.135 Das ist bei dem Angebot einer eingriffsmildernden Ersatzmaßnahme aber nicht der Fall.
§ 18 Haftung nach allgemeinem Staatshaftungsrecht Die lückenhafte Regelung der Entschädigung nach dem StrEG schließt einen Rückgriff des Betroffenen auf allgemeines Staatshaftungsrecht nach dem Willen des Gesetzgebers nicht aus.136 Das gilt nicht nur für den verschuldensabhängigen Amtshaftungsanspruch, sondern in gleicher Weise für den allgemeinen Aufopferungsanspruch, soweit er im StrEG nicht geregelt ist.137
A. Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) Der Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG setzt voraus das Handeln eines Amtswalters in Ausübung eines öffentlichen Amtes, die Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht (hierzu I.), Verschulden (II.), die Verursachung eines Schadens (III.) sowie das Nichtvorliegen eines Haftungsausschlusses (IV.). Die erstgenannte Voraussetzung (Handeln eines Amtswalters in Ausübung eines öffentlichen Amtes) ist bei strafprozessualen Grundrechtseingriffen per definitionem unproblematisch.
___________ 134 Die Einfügung der Vorläuferregelung (§ 17a ZuSEG) war im Regierungsentwurf zum Poststrukturgesetz noch nicht vorgesehen (siehe BT-Drs. 11/2854) und ist erst auf Beschlussempfehlung des Ausschusses für Post- und Fernmeldewesen aufgenommen worden. Die Begründung hierfür ist dürftig und ausschließlich auf den fernmelderechtlichen Aspekt bezogen: Die Ergänzung des ZuSEG solle ermöglichen, dass auch private Betreiber einer Fernmeldeanlage eine Erstattung der ihm bei der Überwachung entstehenden Kosten erwarten könnten (vgl. BT-Drs. 11/4316, S. 90 f.). 135 Vgl. etwa Zimmermann, JVEG (2005), § 7 Rdnr. 1; zur Vorläuferregelung Meyer/ Höver/Bach, ZuSEG (2000), § 11 Rdnr. 5.2 (i.V.m. § 17a Rdnr. 6.5). 136 BT-Drs. 6/460, S. 6. Das ist unstreitig, vgl. nur (jeweils m.w.N.) Meyer, StrEG (2005), Einl. Rdnr. 53; Schätzler/Kunz, StrEG (2003), Einl. Rdnr. 62 f. 137 Meyer, StrEG (2005), Einl. Rdnr. 58. Zu den Einzelheiten siehe sogleich unter B.
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen I. Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht
Eine Amtspflicht ist die persönliche Verhaltenspflicht des Beamten in Bezug auf seine Amtsführung, nicht jedoch die Rechtspflicht im Verhältnis zum Bürger.138 Dieser Unterscheidung kommt aber – jedenfalls im hier interessierenden Zusammenhang – keine praktische Bedeutung zu, weil zumindest das Recht, das den Staat im Außenverhältnis bindet (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG), zugleich damit korrespondierende Amtspflichten begründet.139 Daraus ergibt sich insbesondere eine Rechtspflicht zu rechtmäßigem Handeln.140 Die Drittbezogenheit der fraglichen Amtspflicht ist gegeben, wenn sie zumindest auch den Schutz des Betroffenen vor der in Frage stehenden Rechtsgutsverletzung bezweckt,141 wenn also der Amtspflichtverstoß zugleich eine Verletzung subjektiver öffentlicher Rechte des Geschädigten enthält.142 Auch dieses Merkmal ist bei der Verletzung der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe (insbesondere des Verfehlens der Tatbestandsvoraussetzungen der Eingriffsermächtigung oder Unverhältnismäßigkeit) in der Regel unproblematisch.143 Anknüpfungspunkt der Verletzungshandlung ist regelmäßig das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden. Deren Grundrechtseingriffe sind darauf zu überprüfen, ob sie rechtmäßig sind oder nicht. Das gilt auch dann, wenn der Grundrechtseingriff richterlich angeordnet worden ist; die Verletzungshandlung kann dann schon in dem Erwirken einer solchen Anordnung (bspw. eines Haftbefehls), also im Antrag auf Erlass liegen.144 Das ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass es sich bei dem richterlichen Akt nicht um eine Anordnung im Rechtssinne, sondern um eine Gestattung handelt (vgl. § 162 Abs. 2 StPO).145 Die Entscheidung über deren Vollzug liegt ebenso wie die Gesamtverantwortung für den Eingriff nach wie vor bei der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens.146 ___________ 138
Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 9 Rdnr. 56; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 42. 139 Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 9 Rdnr. 56. 140 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 43 ff. 141 St. Rspr., siehe exemplarisch BGHZ 134, 268 (276); 129, 23 (25); 110, 1 (8 f.). 142 Siehe BGHZ 125, 258 (268) (Heranziehung der in § 42 Abs. 2 VwGO ausgeformten Klagebefugnis); ferner Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 9 Rdnr. 107; Papier, in: MünchKomm-BGB, Bd. 5 (2004), § 839 Rdnr. 229/234. 143 Vgl. nur Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 68. 144 Siehe nur BGH, NJW 2003, 3693 (3694). 145 s.o. § 8 B. 146 Daraus ergibt sich zugleich, dass Abweichendes gilt, wenn die Staatsanwaltschaft die Herrschaft über das Verfahren an das Gericht abgegeben hat, also im Zwischen- und im Hauptverfahren.
§ 18 Haftung nach allgemeinem Staatshaftungsrecht
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Der BGH will solche Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden allerdings nicht auf ihre „Richtigkeit“, sondern lediglich auf ihre „Vertretbarkeit“ überprüfen.147 „Nicht vertretbar“ soll eine Maßnahme sein, wenn die Strafverfolgungsbehörde „bei einer sachgerechten Würdigung des zur Beurteilung stehenden Sachverhalts nicht der Annahme sein durfte, die beantragte Maßnahme […] könne gerechtfertigt sein.“148 Mindestens die Terminologie erscheint wenig geglückt. Es wäre nicht plausibel, die Frage der Rechtmäßigkeit auf der Ebene des Primärrechtsschutzes anders zu beantworten, als auf der sekundären Haftungsebene. Bei der – zumeist problematischen – Eingriffsvoraussetzung des „Verdachts“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der aber keinen Beurteilungsspielraum der Strafverfolgungsbehörden auslöst.149 Vielmehr kommt es darauf an, ob aus der ex-ante-Sicht eines verständigen Beamten das Vorliegen des Verdachtsgegenstandes (z.B. Straftat, Flucht) wahrscheinlich bzw. möglich war.150 Dies ist auch auf der Haftungsebene entscheidend. In der Sache kommt dem auch die Lösung des BGH nahe; allerdings ist es verfehlt, den Eindruck zu erwecken, als würde die Prüfung auf Primär- und Sekundärebene unterschiedlichen Maßstäben folgen.151 Es kommt danach – entgegen der Terminologie des BGH – allein darauf an, ob die beantragte Maßnahme rechtswidrig gewesen ist. Stehen Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden unter Richtervorbehalt, will der BGH entscheidendes Gewicht der Vertretbarkeitsprüfung des Antrags vor dem Richter nicht auf die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale der betreffenden Maßnahme legen, sondern darauf, ob im Zusammenhang mit dem Antrag die bisherigen Ermittlungsergebnisse dem Richter vollständig vorgelegt ___________ 147
BGH, NJW 2003, 3693 (3694); BGHZ 122, 268 (271); BGH, NJW 1989, 1924 (1925) im Anschluss an BGH, NJW 1989, 96 (97 f.) (dort allerdings für die Entschließung nach § 152 Abs. 2 StPO). Die Frage nach der Vertretbarkeit behandelt der BGH als eine Frage der Amtspflichtverletzung, nicht des Verschuldens; st. Rspr. seit BGH, NJW 1989, 96 (97); anders (Verschuldensfrage) noch BGH, NJW 1970, 1543 (1544). Vgl. zu dieser Frage Rinne, in: Festschrift für Odersky (1996), S. 481 (482). Keiner Vertretbarkeits-, sondern einer Rechtmäßigkeitsprüfung unterzieht der BGH allerdings polizeirechtliche Maßnahmen, siehe BGH, NJW 2003, 3693 (3696). 148 BGH, NJW 2003, 3693 (3694). Noch enger freilich die Rspr. des RG, vgl. nur RGZ 62, 367 (370), das die Annahme des dringenden Tatverdachts als Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehls in das Ermessen der Strafverfolgungsbehörde stellte, das aber die Ermessensgrenzen (mit einer bloßen Willkürkontrolle) dabei viel weiter zog, als die heute vorherrschende Ermessensfehlerlehre; vgl. dazu Steffen, DRiZ 1972, 153 (154), der in diesem Zusammenhang zutreffend von einem „justizfreien Raum“ spricht. 149 Siehe hierzu ausführlich oben § 7 B.II. 150 Zur Problematik der Prognoseurteile oben § 7 B.II. 151 Missverständlich daher auch Rinne, in: Festschrift für Odersky (1996), S. 481 (482 f.), der von einem Beurteilungsspielraum spricht; ähnlich wie hier aber bereits Blomeyer, JZ 1970, 715.
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
worden sind.152 Praktisch mag die Fallkonstellation „Vorlage unvollständiger Ermittlungsergebnisse“ häufige Ursache für die Rechtswidrigkeit richterlicher Anordnungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe sein. Sie vermag auch gegebenenfalls erklären, weshalb der Richter die Eingriffsvoraussetzungen für erfüllt gehalten hat. Allerdings kann das nicht bedeuten, dass eine Haftung für den Fall ausgeschlossen wäre, dass die Strafverfolgungsbehörden zwar unter Vorlage der vollständigen Ermittlungsakten, aber rechtswidriger Annahme der Eingriffsvoraussetzungen einen Antrag auf richterliche Anordnung stellen und der Richter diesem Antrag entspricht. Auch dann ist die Maßnahme rechtswidrig und eine Verletzung i.S.d. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB gegeben. Dass der Vollzug einer wirksamen, aber rechtswidrigen richterlichen Anordnung für sich genommen rechtmäßig sein kann, vermag nichts daran zu ändern, dass der Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut insgesamt rechtswidrig ist, d.h. zu Erfolgsunrecht führt.153
II. Verschulden
Das Verschulden richtet sich im Wesentlichen nach den Vorgaben des § 276 BGB, wonach die Haftung für Vorsatz und Fahrlässigkeit gegeben ist. Das Verschulden muss sich dabei lediglich auf die Amtspflichtverletzung beziehen, nicht jedoch auf den dadurch verursachten Schaden.154 Eine nähere Differenzierung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit ist v.a. wegen der Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB von Bedeutung, die nicht für Vorsatz gilt. Nähere Einzelheiten zum Verschuldensmaßstab mögen im Rahmen dieser Arbeit auf sich beruhen. Wichtig erscheinen aber die beiden folgenden Besonderheiten im Hinblick auf die Beurteilung der Fahrlässigkeit: § 276 Abs. 2 BGB stellt auf das Außerachtlassen der „im Verkehr erforderlich Sorgfalt“ ab und formuliert damit einen objektivierten Sorgfaltsmaßstab. Es kommt demnach auf die objektiv-abstrakten Anforderungen an einen pflichtgetreuen Durchschnittsbeamten an, nicht hingegen auf individuelle subjektive (Un-)Kenntnisse oder Fähigkeiten.155 Zum anderen muss das Verschulden nicht auf einen bestimmten Amts___________ 152
BGH, NJW 2003, 3693 (3694). Vgl. zur richterlichen Anordnung als Vollstreckungsgrundlage oben § 8 B., zur Rechtswidrigkeit des Erfolgs bei Vollzug einer wirksamen, aber rechtswidrigen Anordnung bereits § 12 B.I. 154 BGHZ 135, 354 (362); 34, 375 (381); 30, 374 (381); Papier, in: Maunz/Dürig, GG (1998), Art. 34 Rdnr. 223; Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 9 Rdnr. 175; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 73. 155 Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 9 Rdnr. 177; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 76. 153
§ 18 Haftung nach allgemeinem Staatshaftungsrecht
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walter individualisiert werden.156 Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der Bürger sich einem für ihn anonymen Apparat gegenübersieht, dessen stark differenzierte Arbeits- und Funktionsweise von außen kaum durchschaubar ist.157
III. Verursachung eines Schadens
Die Amtspflichtverletzung muss einen Schaden verursacht haben. Besondere Kausalitätsprobleme wirft der Haftungstatbestand des § 839 BGB im Vergleich zu anderen Tatbeständen nicht auf. Ersatzpflichtig ist grundsätzlich jeder (adäquat kausal verursachte) Vermögensschaden. Allerdings ist zu beachten, dass die Kausalität bei rechtswidriger Ausübung von Ermessen nur dann ohne weiteres bejaht werden kann, wenn es sich bei dem Ermessensfehler um einen sog. Ergebnisfehler handelt. Liegt der Fehler im Vorgang der Ermessensausübung, bedarf es zumindest einer besonderen Begründung.158 Da solche Vorgangsfehler für strafprozessuale Grundrechtseingriffe nur schwer vorstellbar sind,159 darf diese Konstellation vernachlässigt werden. Naturalrestitution kommt im Rahmen der Amtshaftung konstruktionsbedingt (Anknüpfung an die Person des Amtswalters) in der Regel nicht in Betracht.160 Nach § 253 Abs. 2 BGB kann (u.a.) auch für die Verletzung des Körpers, der Gesundheit und der Freiheit eine billige Entschädigung in Geld (Schmerzensgeld) beansprucht werden. Hierzu gehören v.a. Fälle rechtswidriger Untersuchungshaft, aber auch die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit durch strafprozessuale Grundrechtseingriffe (z.B. Entnahme von Blutproben nach § 81a Abs. 1 StPO). Dass Verletzungen des Persönlichkeitsrechts ebenfalls einen Schmerzensgeldanspruch zur Folge haben können,161 ist auch im Amtshaftungsrecht zu beachten. So löst nach der Rechtsprechung des BGH die schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts einen Schmerzensgeldanspruch aus, wenn die Beeinträchtigung des Betroffenen nicht in anderer ___________ 156 Siehe schon RGZ 100, 102 f.; ferner BGHZ 66, 302 (312); BGH, DVBl. 1978, 146 (147); Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 77; Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 9 Rdnr. 178. 157 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 77. 158 Zutreffend Hill, Das fehlerhafte Verfahren und seine Folgen im Verwaltungsrecht (1986), S. 450; zur Unterscheidung zwischen Ergebnis- und Vorgangsfehlern bei der Ermessensausübung oben § 7 B.III. 159 Siehe hierzu § 7 B.III. 160 Grdl. BGHZ (GS) 34, 99 (105 f.); ferner BGHZ 67, 92 (100); 78, 274 (276); 121, 367 (374). 161 Eingehend Rixecker, in: MünchKomm-BGB, Bd. 1 (2006), Anhang zu § 12, Rdnr. 221 ff.
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
Weise befriedigend ausgeglichen werden kann,162 was der BGH in der Entscheidung zum „Brandfall Horben“ für rechtswidrige Abhörmaßnahmen angenommen hat.163
IV. Haftungsbegrenzungen
Bei der Amtshaftung für strafprozessuale Grundrechtseingriffe ist vor allem zwei Haftungsbegrenzungen Augenmerk zu schenken: dem Spruchrichterprivileg (§ 839 Abs. 2 S. 1 BGB) sowie der schuldhaften Rechtsmittelversäumung (§ 839 Abs. 3 BGB).164 Das Spruchrichterprivileg des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB, nach dem ein Beamter für einen Schaden durch eine Pflichtverletzung bei einem Urteil nur dann verantwortlich ist, wenn die Pflichtverletzung in einer Straftat besteht, könnte einschlägig sein, wenn die Maßnahme der Strafverfolgungsbehörde richterlich angeordnet worden ist. Das Spruchrichterprivileg dient jedoch weniger dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit, sondern – anders wäre die Begrenzung auf spruchrichterliche Entscheidungen wenig einsichtig – primär dem Schutz der Rechtskraft der Entscheidung.165 Auch wenn „Urteile“ nach § 839 Abs. 2 BGB – ganz im Sinne dieser funktionalen Sicht – auch „urteilsvertretende“ Entscheidungen sind, kommt es doch darauf an, ob sie der Rechtskraft fähig sind und ein Prozessrechtsverhältnis beenden.166 Dies ist bei richterlichen Anordnungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe indes nicht der Fall.167 ___________ 162
BGHZ 78, 274 (280); BGH, NJW 1994, 1950 (1952); BGH, NJW 2003, 3693 (3697); ebenso (für den konkreten Fall einer menschenunwürdigen Unterbringung eines Untersuchungsgefangenen allerdings ablehnend) BGH, JR 2005, 326 f. (mit zutreffend kritischer Anmerkung im Hinblick auf das Ergebnis von Deiters, ebd., 327 f.). 163 BGH, NJW 2003, 3693 (3697). 164 Das sog. Verweisungsprivileg (Subsidiarität, § 839 Abs. 1 S. 2 BGB) dürfte für die Haftung für strafprozessuale Grundrechtseingriffe regelmäßig keine Rolle spielen, weil dem Betroffenen kaum anderweitige Ersatzmöglichkeiten zur Verfügung stehen dürften. 165 Papier, in: MünchKomm-BGB, Bd. 5 (2004), § 839 Rdnr. 322 f.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 101; Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 10 Rdnr. 39; a.A. aber Smid, Jura 1990, 225 (227 ff.): Gewährleistung richterlicher Rechtsfortbildung. 166 Siehe BGHZ 10, 55 (60); 36, 379 (383); 13, 142 (144); 46, 106; auf das Merkmal „Erkenntnisverfahren“ abstellend BGHZ 155, 306 (308); Papier, in: MünchKommBGB, Bd. 5 (2004), § 839 Rdnr. 325; im Ergebnis bereits RGZ 62, 367 (369). 167 BGH, NJW 2003, 3693 (3696), stellt für die Anordnung von Abhörmaßnahmen nach Landespolizeirecht zudem darauf ab, dass das wesentliche Element der vorherigen Gewährung rechtlichen Gehörs fehle. Das trifft für strafprozessuale Grundrechtseingriffe praktisch zwar ebenfalls zu; der gesetzliche Regelfall des § 33 Abs. 3 und 4 StPO ist aber ein anderer.
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Zudem stellt – wie bereits erwähnt168 – die richterliche Anordnung lediglich eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der beantragten Maßnahme, und damit keine „Anordnung“ im Wortsinne, sondern eine Gestattung dar. Die Entscheidungen über das „Ob“ sowie die konkreten Umstände des Zugriffs auf das grundrechtliche Schutzgut obliegen während des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft, nicht dem Gericht. Auch dieser Umstand zeigt, dass das Richterspruchprivileg auf strafprozessuale Grundrechtseingriffe keine Anwendung finden kann.169 Der Haftungsausschluss für schuldhafte Rechtsmittelversäumung des § 839 Abs. 3 BGB ist aus heutiger Sicht exemplarischer Ausdruck des Vorrangs des Primärrechtsschutzes170 und regelt damit das Zusammenwirken von Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 34 S. 1 GG. Der Betroffene muss also, sofern das möglich ist, den Schaden durch die Einlegung eines Rechtsmittels gegen die Amtspflichtverletzung abzuwenden suchen.171 Ein solches Rechtsmittel kann der Antrag auf richterliche Entscheidung gemäß bzw. analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO172 oder die Beschwerde gegen die richterliche Anordnung eines strafprozessualen Grundrechtseingriffs (§ 304 StPO) sein. Gegenstand des „Verschuldens“ i.S.d. § 839 Abs. 3 BGB ist nicht die Verletzung von Rechten Dritter, sondern eine Zuwiderhandlung gegen eigene Interessen, also ein „Verschulden gegen sich selbst“.173 Der dabei anzulegende objektive Maßstab stellt auf die durchschnittlichen Kenntnisse des Personenkreises ab, dem der Verletzte angehört.174 Er darf auf Belehrungen bzw. Erklärungen eines Beamten grundsätzlich vertrau-
___________ 168
s.o. § 8 B. Ebenso BGH, NJW 2003, 3693 (3695) für die Anordnung von Überwachungsmaßnahmen nach Landespolizeirecht; Gusy, JZ 2004, 459. 170 Siehe BGHZ 113, 17 (22); Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 10 Rdnr. 49; Papier, in: MünchKomm-BGB, Bd. 5 (2004), § 839 Rdnr. 330. Der ursprüngliche Gesetzeszweck lag allerdings in einer Privilegierung des (verhältnismäßig leistungsschwachen) handelnden Beamten, vgl. etwa Detterbeck/Windthorst/ Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 10 Rdnr. 48. Mit der Haftungsübernahme durch den Staat (Art. 34 S. 1 GG) hat sich der Zweck allerdings in dem o.g. Sinn gewandelt. 171 Ob hierzu auch nichtförmliche Rechtsmittel gehören, ist ob des begrenzten Zweckes der Vorschrift (Sicherung des Vorrangs des Primärrechtsschutzes) zweifelhaft, vgl. etwa Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 95; die Rspr. interpretiert den Begriff des Rechtsmittels indes extensiv, vgl. Ossenbühl, ebd. S. 94. 172 Wurm, in: Staudinger, BGB (2002), § 839 Rdnr. 351; vgl. auch Vinke, in: Soergel, BGB, Bd. 10 (2005), § 839 Rdnr. 218 zum (inzwischen allerdings nicht mehr einschlägigen) Antrag nach § 23 EGGVG. 173 BGHZ 113, 17 (22); 130, 332 (339). 174 Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 10 Rdnr. 68 m.w.N. 169
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
en;175 ihm ist aber andererseits zuzumuten, bei fehlender Rechtskenntnis rechtskundigen Rat einzuholen.176
B. Allgemeiner Aufopferungsanspruch Der öffentlich-rechtliche Aufopferungsanspruch ist heute gewohnheitsrechtlich anerkannt und hat seine Grundlage bereits in den §§ 74, 75 Einl. ALR gefunden.177 Er betrifft als Aufopferungsanspruch im engeren Sinne bestimmte Eingriffe in immaterielle grundrechtliche Schützgüter (Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit).178 In einem weiteren Sinne kann der Aufopferungsgedanke allerdings auch in Situationen zum Zuge kommen, in denen in das Eigentumsgrundrecht eingegriffen wird. Die besonderen Probleme, die solche Eingriffe vor dem Hintergrund der Struktur des Art. 14 GG mit sich bringen, lassen es gerechtfertigt erscheinen, den Komplex der Eigentumsbeeinträchtigungen separat zu behandeln.179 Der Aufopferungsanspruch ist subsidiär zu bereits bestehenden gesetzlichen Regelungen.180 Soweit also das StrEG bzw. Art. 5 Abs. 5 EMRK181 anwendbar sind, findet der allgemeine Aufopferungsanspruch keine Anwendung.182 Fraglich ist aber, ob das StrEG die Aufopferungsentschädigung zugleich für solche strafprozessualen Grundrechtseingriffe ausschließen wollte, die von ihm nicht erfasst sind. Eine solche Sicht liegt nahe: Der Gesetzgeber hat ausdrücklich nur darauf abgestellt, dass das StrEG keine Amtshaftungsansprüche sowie Ansprüche nach Art. 5 Abs. 5 EMRK ausschließen solle. Diese sollen nach Auffassung des Gesetzgebers neben der Entschädigung nach dem StrEG bestehen.183 Allerdings wird man doch differenzieren müssen: Der Gesetzgeber hat mit dem StrEG zum einen nur Regelungen zur Entschädigung Beschuldigter, nicht aber Dritter getroffen. Für Dritte hat das StrEG von vornherein keinen abschließenden Charakter. Zum anderen erfasst der Aufopferungsanspruch nur ___________ 175
BGHZ 130, 332 (339). Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 10 Rdnr. 68. 177 BGHZ 9, 83 (85 f.); 13, 88 (91); ausführlich und m.w.N. ferner Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 124 ff. 178 Siehe nur Schmitt-Kammler, JuS 1995, 473 (474). 179 Sogleich unter C. 180 Siehe nur Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 16 Rdnr. 61. 181 Hierzu sogleich § 19. 182 BGHZ 45, 58 (80 ff.); Schätzler/Kunz, StrEG (2003), Einl. Rdnr. 69; Meyer, StrEG (2005), Einl. Rdnr. 58. 183 BT-Drs. 6/460, S. 6. 176
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solche Schäden, die aus einem Sonderopfer des Betroffenen entstehen. Ein solches Sonderopfer kann einmal schon im Eingriff, in der Inanspruchnahme des Betroffenen selbst liegen; zum anderen kann das Sonderopfer aber auch nicht in der bloßen Inanspruchnahme, sondern in einer besonderen Verletzungsfolge bestehen.184 Im Hinblick auf solche (letztgenannten) atypischen Folgen strafprozessualer Grundrechtseingriffe (z.B. Verletzung eines Untersuchungshaftgefangenen durch einen Mitgefangenen,185 Infektion oder andere Folgeschäden bei der Entnahme einer Blut- oder anderen Gewebeprobe [z.B. Liquorentnahme] nach § 81a StPO186) sperrt das StrEG den allgemeinen Aufopferungsanspruch auch des Beschuldigten nicht.187 Im Hinblick auf das Sonderopfer der „bloßen“ Inanspruchnahme (ohne jene atypischen Folgen) hat das StrEG – für den Beschuldigten – allerdings eine abschließende Regelung getroffen. Der Anwendungsbereich des allgemeinen Aufopferungsanspruchs ist aber auch im Hinblick auf vom StrEG nicht erfasste Dritte äußerst begrenzt. Denn auch die strafprozessualen Grundrechtseingriffe, die Dritte betreffen können und dabei gleichzeitig geeignet sind, Vermögensschäden auszulösen, sind vor allem Beeinträchtigungen des Eigentums (Beschlagnahme bzw. Sicherstellung gem. § 94 StPO), die vom allgemeinen Aufopferungsanspruch nicht erfasst sind.188 Immaterieller Schaden für die Beeinträchtigung immaterieller Rechtsgüter wird durch Aufopferungsentschädigung nicht ersetzt.189 Auch im Hinblick auf Dritte kommt ein allgemeiner Aufopferungsanspruch daher nur sehr selten in Betracht.190 Einzelheiten des allgemeinen Aufopferungsanspruchs können daher an dieser Stelle dahinstehen.
___________ 184
Zu dieser Unterscheidung Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 137. BGHZ 60, 302 (304 ff.), allerdings unter weitgehender Beschränkung auf den „unschuldigen“ Untersuchungsgefangenen, der seine Freiheitsentziehung „nicht in zurechenbarer Weise veranlasst“ hat. 186 Schätzler/Kunz, StrEG (2003), Einl. Rdnr. 70. 187 So – ohne die Unterscheidung ausdrücklich nachzuzeichnen – etwa Meyer, StrEG (2005), Einl. Rdnr. 58; Schätzler/Kunz, StrEG (2003), Einl. Rdnr. 70; BGHZ 60, 302 ff. 188 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 133; Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 16 Rdnr. 61. 189 BGHZ 20, 61 (68); 22, 43 (50); 45, 46 (77); Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 16 Rdnr. 69; kritisch allerdings Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 139 f. 190 (Seltene) Beispiele mögen Folgeschäden bei Entnahme von Blutproben (§ 81c Abs. 2 StPO) oder Schockschäden aufgrund einer Durchsuchung (§ 103 StGB) sein, vgl. Schätzler/Kunz, StrEG (2003), Einl. Rdnr. 70. 185
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
C. Insbesondere: Eigentumsbeeinträchtigungen Eine Haftung wegen Eigentumsbeeinträchtigung durch strafprozessuale Grundrechtseingriffe kommt im Wesentlichen nach Sicherstellung bzw. Beschlagnahme in Betracht. Die staatshaftungsrechtliche Dogmatik zu den Eigentumsbeeinträchtigungen hat sich mit der „Nassauskiesungs-Entscheidung“ des BVerfG im Jahre 1981191 grundlegend geändert. Seit dieser Entscheidung finden in Art. 14 GG lediglich die Enteignungsentschädigung (vgl. Art. 14 Abs. 3 GG) sowie die ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung eine verfassungsrechtliche Grundlage.192 Der BGH hat an den Rechtsfiguren des enteignungsgleichen und enteignenden Eingriffs dennoch festgehalten, verankert sie allerdings nicht mehr wie früher193 im Eigentumsgrundrecht, sondern im einfachen Recht, nämlich dem gewohnheitsrechtlich anerkannten Aufopferungsgedanken.194
I. Enteignung und Inhalts- und Schrankenbestimmung
Enteignungsentschädigungen i.S.v. Art. 14 Abs. 3 GG kommen im Kontext strafprozessualer Grundrechtseingriffe nicht in Betracht. Sicherstellung und Beschlagnahme stellen keine Enteignung dar, da sie insbesondere nicht zur vollständigen oder teilweisen Entziehung konkreter subjektiver Eigentumsrechte führen.195 Dem Betroffenen wird für eine bestimmte Zeit lediglich das Recht entzogen, die Sache zu nutzen, was letztlich Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums ist. Selbst die endgültige und mit dem Übergang der Inhaberschaft des Eigentumsrechts verbundene Einziehung nach § 74 StGB196 stellt nach heute unbestrittener Auffassung keine Enteignung dar;197 bei ihr handelt es sich um ___________ 191
BVerfGE 58, 300 (insbes. 330 ff.). Die Literatur zu dieser Wende in der eigentumsrechtlichen Dogmatik ist kaum noch überschaubar, eingehend Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung (1998), insbes. S. 19 ff. 193 Zum enteignungsgleichen Eingriff BGHZ 6, 270 (290); 7, 296 (298); 13, 88 (91); 32, 208 (212); zum enteignenden Eingriff BGH, NJW 1965, 1907 ff.; BGHZ 57, 359 (368). 194 BGHZ 90, 17 (31); 91, 20 (26 ff., insbes. 28); 99, 24 (29); kritisch hierzu etwa Schoch, Jura 1989, 529 (534). 195 Zu diesem Kriterium BVerfGE 83, 201 (211); 79, 174 (191); a.A. (Enteignung) noch Amelung, in: AK-StPO, Bd. 2/1 (1992), § 94 Rdnr. 38. 196 Hierbei handelt es sich allerdings nicht um einen strafprozessualen Grundrechtseingriff im hier verstandenen Sinn, sondern – wie bei der Strafe – um einen Grundrechtseingriff, über den mit Abschluss des Verfahrens entschieden wird. 197 Vgl. etwa BVerfGE 22, 387 (422); BGH, WM 1997, 1755 (1756); Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum (1969), S. 159 ff.; Julius, ZStW 109 (1997), 58 (68); Papier, in: Maunz/Dürig, GG (2002), Art. 14 Rdnr. 656 f. 192
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eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums.198 Denn sie erfolgt nicht wegen eines bestimmten, vom Wohl der Allgemeinheit geforderten Verwendungszwecks, sondern aus Gründen, die in der Person des Betroffenen oder in der Eigenschaft der Sache liegen. Inhalts- und Schrankenbestimmungen sind in aller Regel entschädigungslos hinzunehmen. Sie wirken generell-abstrakt auf bestimmte Eigentumspositionen ein, grundsätzlich ohne diese dem Berechtigten zu entziehen.199 Genügen Inhalts- und Schrankenbestimmungen den verfassungsrechtlichen Anforderungen200 nicht, so sind sie verfassungswidrig; der Betroffene kann dann keine Entschädigung verlangen, sondern ist – ähnlich wie bei der verfassungswidrigen Enteignung201 – auf die Abwehr des Eingriffs verwiesen.202 Genügen sie den verfassungsrechtlichen Anforderungen, sind sie grundsätzlich entschädigungslos hinzunehmen. Für eng begrenzte Ausnahmefälle allerdings kann nach Rechtsprechung des BVerfG die Verfassungskonformität wegen der besonderen Belastung des Eingriffs dadurch hergestellt werden, dass dem Betroffenen ein Ausgleich für die Belastung gewährt wird (ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung).203 Diese Rechtsfigur ist aber auf Ausnahmefälle beschränkt, grundsätzlich obliegt es dem Gesetzgeber, dem Übermaßverbot dadurch Rechnung zu tragen, unverhältnismäßige Belastungen zu vermeiden. Allenfalls dann, wenn die Anwendung des Gesetzes im Einzelfall zu unzumutbaren Belastungen führt, können gesetzliche Ausgleichsregelungen in Betracht kommen.204 Solche Situationen liegen für Eigentumsbeeinträchtigungen durch strafprozessuale Grundrechtseingriffe allenfalls vor, soweit in das Eigentumsgrundrecht Nichtbeschuldigter eingegriffen wird.205
___________ 198
BGH, WM 1997, 1755 (1756); Julius, ZStW 109 (1997), 58 (71 ff.). Ausführlich und m.w.N. Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung (1998), S. 21 ff. 200 Dazu Papier, in: Maunz/Dürig, GG (2002), Art. 14 Rdnr. 308 ff.; Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung (1998), S. 30 ff. 201 BVerfGE 58, 300 (324); vgl. auch Papier, in: Maunz/Dürig, GG (2002), Art. 14 Rdnr. 721; Schoch, Jura 1989, 529 (535). 202 Siehe nur Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 14 Rdnr. 243; Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 16 Rdnr. 43. 203 Grundlegend BVerfGE 58, 137 ff.; ferner BVerfGE 100, 226 (244 f.). Allerdings bedarf der Ausgleichsanspruch zwingend einer gesetzlichen Grundlage; existiert diese nicht, ist die Inhalts- und Schrankenbestimmung ihrerseits verfassungswidrig. Der Betroffene ist dann auf die Abwehr des Eingriffs verwiesen, siehe § 18 Fn. 202. 204 BVerfGE 100, 266 (244); siehe aus der Literatur Depenheuer, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 14 Rdnr. 236. 205 Hierzu sogleich unter IV. 199
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen II. Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff
Der Anspruch auf Entschädigung für enteignungsgleichen Eingriff und enteignenden Eingriff kann nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG („Nassauskiesung“) nur noch als einfachrechtliches Instrument verstanden, nicht aber aus Art. 14 GG hergeleitet werden. Der BGH stützt sich insoweit heute auf den gewohnheitsrechtlich anerkannten Aufopferungsgedanken, wie er seinen Ausdruck bereits in §§ 74, 75 Einl. ALR von 1794 gefunden hatte.206 Das BVerfG hat in einer Kammerentscheidung diese Rechtsprechung des BGH jedenfalls nicht beanstandet, sondern den enteignungsgleichen Eingriff als Rechtsinstitut des einfachen Rechts akzeptiert.207 Der Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff ist ein Rechtsinstitut der staatlichen Unrechtshaftung; er ist auf die Entschädigung rechtswidriger (schuldhafter oder schuldloser) Eingriffe in das Eigentum gerichtet.208 Aus diesem Grund wird er durch die (eigentumsrelevanten) Regelungen des StrEG, die eine Entschädigung ohne Rücksicht auf die Rechtmäßigkeit der Maßnahme gewähren, nicht verdrängt.209 Tatbestandsvoraussetzungen des enteignungsgleichen Eingriffs sind:210 1.
Hoheitlicher Eingriff in eine Rechtsposition i.S.d. Art. 14 GG;211
2.
Unmittelbarkeit der Eingriffswirkung;
3.
Sonderopfer (als Rechtswidrigkeitsfolge);
4.
Beachtung des Vorrangs des Primärrechtsschutzes. Ein hoheitlicher Eingriff in eine grundrechtlich geschützte Eigentumsposition (1.) kann im Strafverfahren insbesondere in einer Beschlagnahme bzw. Sicherstellung (§ 94 StPO) liegen. Das Unmittelbarkeitskriterium (2.) macht den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Eingriff und Beeinträchtigung zur Haftungsvoraussetzung. Eingriffsfolgen, die erst durch weitere Umstände her___________
206 Siehe § 18 Fn. 193; kritisch zu dieser Herleitung Hösch, DÖV 1999, 192 (196); Schoch, Jura 1989, 529 (534). 207 BVerfG (Kammer), NJW 1992, 36 (37). 208 Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 17 Rdnr. 9 m.w.N. 209 Schätzler/Kunz, StrEG (2003), Einl. Rdnr. 66; ferner BGH, WM 1997, 1755 (1756), allerdings für den Fall einer juristischen Person als Anspruchstellerin, die nach dem StrEG (wegen mangelnder Beschuldigteneigenschaft) nicht anspruchsberechtigt sei und für die deshalb Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff gegeben sein könnten. 210 Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 17 Rdnr. 25 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 241 ff. 211 Streitig ist, ob dieser Eingriff von einer gemeinwohlbezogenen Motivation getragen sein muss, wie es der BGH fordert, vgl. BGH, VersR 1984, 870 (871); mit Recht kritisch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 259 f.: Die Frage der Gemeinwohlbezogenheit sei im Rahmen staatlicher Unrechtshaftung systemfremd.
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beigeführt werden, sind auch dann nicht erfasst, wenn sie durch den Eingriff adäquat verursacht worden sind.212 Die Beschädigung beschlagnahmter Gegenstände durch Dritte steht etwa in keinem solchen inneren Zusammenhang.213 Die staatshaftungsrechtliche Dogmatik geht davon aus, dass das Sonderopfer (3.) durch die Rechtswidrigkeit der Maßnahme indiziert wird.214 Das stellt für den Betreffenden eine Privilegierung dar, weil damit anerkannt ist, dass ihm ein Opfer zugemutet wird, das anderen schon deshalb nicht auferlegt wird, weil gesetzmäßiges Handeln des Hoheitsträgers diesen Eingriff von vornherein ausgeschlossen hätte.215 Zudem treffen allein den Hoheitsträger die Konsequenzen, wenn er sich bei Zweifeln über die Rechtslage zu einem Einschreiten gegen den Bürger entschließt.216 Die Anerkennung eines Sonderopfers trotz rechtmäßigen Zugriffs auf das grundrechtliche Schutzgut des Art. 14 GG widerspricht hingegen dem Wesen des Anspruchs aus enteignungsgleichem Eingriff als Ausgleich für staatliches Unrecht.217 Vielmehr ist der Gesetzgeber in der Pflicht, Grundlagen für den Ausgleich von vorhersehbaren Belastungen schaffen, die mit rechtmäßigen Eingriffen einhergehen.218 Für Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff verbleiben damit lediglich rechtswidrige Eigentumsbeeinträchtigungen, wie die rechtswidrige Beschlagnahme oder die rechtswidrige Aufrechterhaltung einer ursprünglich rechtmäßigen Beschlagnahme.219
III. Ansprüche aus enteignendem Eingriff
Ansprüche aus enteignendem Eingriff betreffen Fälle, in denen das Eigentum durch – zumeist atypische bzw. unvorhergesehene220 – Nebenfolgen recht___________ 212
Vgl. etwa BGHZ 55, 229 (231); Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 17 Rdnr. 31 213 BGHZ 100, 335 (338). 214 BGHZ 32, 208 (212 f.); Nüßgens/Boujong, Eigentum, Sozialbindung, Enteignung (1987), Rdnr. 414; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 258; Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 17 Rdnr. 33; vgl. auch Schoch, Jura 1989, 529 (535). 215 Treffend Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 17 Rdnr. 33. 216 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 258. 217 Siehe § 18 Fn. 208. 218 Siehe auch sogleich unter IV. 219 So im Fall BGH, WM 1997, 1755 (1756); a.A. – allerdings ohne Begründung und Übereinstimmung mit der staatshaftungsrechtlichen Dogmatik – Schätzler/Kunz, StrEG (2003), § 7 Rdnr. 35: Entschädigung „entsprechend den Grundsätzen […] für Enteignung und enteignungsgleiche Eingriffe“. 220 Atypizität oder Unvorhergesehenheit sind aber keine Anspruchsvoraussetzungen, vgl. BGH, NJW 1986, 2423 (2424); jeweils für Fluglärm BGHZ 122, 76 ff.; 129, 124 ff.
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Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
mäßigen exekutiven Handelns beeinträchtigt wird.221 Das spezifische Unrecht, das die Haftung auslöst, geht dabei nicht auf das – für sich genommen rechtmäßige – hoheitliche Handeln selbst zurück, sondern auf den „weiterwirkenden“ Erfolg der damit verbundenen unzumutbaren Beeinträchtigungen.222 Aus diesem Grund wird der Anspruch aus enteignendem Eingriff nicht (auch nicht im Hinblick auf den Beschuldigten) von den Regelungen des StrEG verdrängt. Die Anspruchsvoraussetzungen decken sich mit den Voraussetzungen des enteignungsgleichen Eingriffs, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Das dem Betroffenen abverlangte Sonderopfer ergibt sich nicht aus der Rechtswidrigkeit der Maßnahme (denn diese ist rechtmäßig), sondern bedarf einer besonderen Begründung. Die Einwirkung muss dabei eine gewisse „Opfergrenze“ überschreiten („Schwere des Eingriffs“, „Tragweite“).223 Ansprüche aus enteignendem Eingriff können nur dann entstehen, wenn die Beeinträchtigung eine Nebenfolge des Eingriffs darstellt, die den Betroffenen in einer besonderen – von Normalfällen abhebenden – Art und Weise belasten.224 Das dürfte im Kontext des Strafverfahrens aber selten der Fall sein. Dieses Ergebnis kann für den Betroffenen dadurch abgemildert werden, dass die Anforderungen an den rechtmäßigen Vollzug (des Gesetzes bzw. richterlicher Anordnungen) insbesondere im Hinblick auf das Übermaßverbot entsprechend hoch angesiedelt werden, so dass dem Betroffenen Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff bzw. Amtshaftung zur Verfügung stehen.225
IV. Insbesondere: Die Entschädigung für Eingriffe in das Eigentumsgrundrecht Nichtbeschuldigter
Nach den bisherigen Ausführungen können Nichtbeschuldigte für rechtmäßige226 Beschlagnahmen oder Sicherstellungen keine Entschädigung verlangen: Eine Entschädigung nach dem StrEG ist ausgeschlossen, weil dieses nur die ___________ 221 Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 17 Rdnr. 53; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 269; Nüßgens/Boujong, Eigentum, Sozialbindung, Enteignung (1987), Rdnr. 449. 222 Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 17 Rdnr. 54. 223 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 277; Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 17 Rdnr. 64 ff.; vgl. auch Schoch, Jura 1989, 529 (530). 224 BGHZ 100, 335 (338). 225 Etwa für den bei Schätzler/Kunz, StrEG (2003), § 7 Rdnr. 35 f. genannten Fall, dass bei einer Durchsuchung „erhebliche Unordnung“ angerichtet wird bzw. Sachen beschädigt werden. 226 Für rechtswidrige und schuldhafte Eigentumssbeeinträchtigungen kann hingegen ein Amtshaftungsanspruch gegeben sein (s.o. A.).
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Entschädigung des Beschuldigten erfasst.227 Eine analoge Anwendung der Vorschriften des StrEG scheitert an der Planwidrigkeit der Regelungslücke.228 Der allgemeine Aufopferungsanspruch kommt nicht in Betracht, weil dieser nur die Beeinträchtigung immaterieller Rechtsgüter erfasst.229 Das JVEG gibt keine Ansprüche auf Schadensersatz oder Entschädigung.230 Der enteignungsgleiche Eingriff ist wegen der Rechtmäßigkeit der Maßnahme ausgeschlossen.231 Dieses unbefriedigende Ergebnisses kann auch nicht durch eine Anwendung des enteignenden Eingriffs korrigiert werden: Dies setzte voraus, dass die Inanspruchnahme des Unverdächtigen im Strafverfahren stets als eine Art staatlichen Unrechts („Erfolgsunrecht“) anzusehen wäre, mit dem die Opfergrenze per se überschritten würde. Dies ist aber nach der Konzeption der StPO gerade nicht der Fall. Der enteignende Eingriff betrifft vielmehr die Haftung für Nebenfolgen rechtmäßigen Handelns. Nun mag man rechtmäßige Maßnahmen im Strafverfahren in Übereinstimmung mit dem BGH232 für grundsätzlich entschädigungslos hinzunehmen halten. Befremdlich ist allerdings die gesetzgeberische Konzeption, den (immerhin!) Beschuldigten zu entschädigen, den unbeteiligten Dritten aber entschädigungslos zu stellen.233 Auch ein Vergleich zum Polizeirecht bestätigt diesen Befund: Wird ein unbeteiligter Dritter im Rahmen des polizeilichen Notstands in Anspruch genommen, ist er nach den Vorschriften der Polizeigesetze – die nach einhelliger Auffassung ebenfalls Ausprägung des Aufopferungsgedankens sind234 – zu entschädigen. Mindestens mangels Planwidrigkeit der Regelungslücke kommt aber eine analoge Anwendung der Vorschriften über die Entschädigung des Nichtstörers nicht in Betracht.235
___________ 227
s.o. § 17 B. Siehe hierzu § 17 B. Fn. 108. 229 s.o. § 18 B. 230 s.o. § 17 F. 231 s.o. § 18 C.II. 232 BGHZ 100, 335 (338); kritisch aber Amelung, StV 1988, 326 (327). 233 Ebenso Quaritsch, in: Festschrift 50 Jahre Hochschule Speyer (1997), S. 169 (176); Amelung, StV 1988, 326 (327). 234 Siehe nur Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (2005), Rdnr. 688; Drews/Wacke/ Vogel/Martens, Gefahrenabwehr (1986), S. 664; Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts (2007), Kap. L Rdnr. 33; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht (2005), § 22 Rdnr. 7. 235 A.A. Amelung, StV 1988, 326 (327). Kompetenzrechtliche Probleme einer analogen Anwendung landesrechtlicher Normen auf die Entschädigung für Grundrechtseingriffe in bundesrechtlich geregelten Verfahren dürften hinzukommen. 228
260
Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
Die Ungleichbehandlung zum Beschuldigten (im Strafverfahren) auf der einen, zum Notstandsverantwortlichen (im Gefahrenabwehrrecht)236 auf der anderen Seite dürfte allerdings eine Qualität erreichen, die mit dem Eigentumsgrundrecht i.V.m. dem Gleichheitssatz nicht mehr vereinbar ist. Das BVerfG hat in seiner Pflichtexemplarentscheidung konzediert, dass „im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG“ der Gleichheitssatz zu beachten ist und Belastungen von „erheblich unterschiedlicher Intensität“ verfassungswidrig sind.237 Der Gesetzgeber muss dafür Sorge tragen, dass den Belangen der Allgemeinheit hinreichend differenziert Rechnung getragen und einseitige Belastungen vermieden werden.238 Die Aussage des BVerfG, wesentlich Ungleiches sei differenziert zu behandeln, lässt sich umkehren: Wesentlich Gleiches muss der Gesetzgeber auch gleich behandeln. Vor diesem Hintergrund dürfte das Unterlassen des Gesetzgebers, die Entschädigung des Nichtbeschuldigten zu regeln, seinen Gestaltungsspielraum in verfassungswidriger Weise überschreiten. Folge ist aber nicht, dass die Rechtsprechung in Rechtsfortbildung Entschädigungen zusprechen könnte. Vielmehr ist der Gesetzgeber von Verfassungs wegen gefordert, Abhilfe zu schaffen.239
D. Öffentlich-rechtliches Verwahrverhältnis Neben den genannten Grundlagen kann eine Haftung aus (schuldhafter) Pflichtverletzung im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Verwahrverhältnisses in Betracht kommen (§ 280 Abs. 1 S. 1 BGB analog240). Ein solches Verhältnis kommt zustande, wenn ein Hoheitsträger eine Sache kraft öffentlichen Rechts in Besitz nimmt,241 also etwa durch eine Beschlagnahme oder Sicherstellung (§§ 94, 111b StPO).242 Der Anspruch erlangt immer dann Bedeutung, wenn die Sache in der Verwahrung der öffentlichen Hand beschädigt, zerstört oder gestohlen wird. Die aus diesem Verhältnis erwachsende Obhutspflicht des Staates ___________ 236
Zur Verankerung der gefahrenabwehrrechtlichen Ausgleichsansprüche für den Nichtstörer im Eigentumsgrundrecht siehe Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 14 Rdnr. 400. 237 BVerfGE 58, 137 (151). 238 BVerfGE 58, 137 (152). 239 Zu dieser Rechtsfolge statt vieler Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1 (2005), Art. 14 Rdnr. 243. 240 Die Vorschrift entspricht der Rechtsfigur der positiven Forderungsverletzung (p.F.V.) vor der Schuldrechtsreform, vgl. zur p.F.V. als Haftungsgrundlage für öffentlich-rechtliche Beziehungen BGHZ 59, 303 (309); 17, 191 ff.; BGH, NJW 1974, 1816 (1817). 241 Siehe nur Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht (2000), § 21 Rdnr. 2. 242 BGH, NJW 1987, 2573 (2574) [insoweit in BGHZ 100, 335 ff. nicht abgedruckt]; vgl. auch BGH, WM 1973, 1416 (1417); BGHZ 1, 369 ff.
§ 19 Haftung nach EMRK
261
über die Sache ist mit der dem Betroffenen gegenüber bestehenden Amtspflicht inhaltsgleich.243 Allerdings sind die Haftungsausschlüsse und -begrenzungen des § 839 BGB auf die Haftung analog § 280 BGB nicht anwendbar – statt der starren Regelung des § 839 Abs. 3 BGB greift etwa nur die flexiblere Vorschrift des § 254 BGB –, so dass dieser Anspruch selbständige Bedeutung haben kann. § 690 BGB, nach dem bei unentgeltlicher Verwahrung ein weniger strenger Sorgfaltsmaßstab gilt, findet auf das öffentlich-rechtliche Verwahrverhältnis keine Anwendung: Der Grundgedanke dieser Vorschrift – Privilegierung für Gefälligkeitsverwahrung – ist auf die öffentlich-rechtliche Verwahrung nicht übertragbar.244 Auch die Beweislast für das Vertretenmüssen trifft nach der Formulierung des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB (anders als für die Amtshaftung) nicht den Betroffenen.
§ 19 Haftung nach EMRK A. Art. 5 Abs. 5 EMRK Nach Art. 5 Abs. 5 EMRK hat jede Person, die unter Verletzung der Vorschriften des Art. 5 EMRK von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, Anspruch auf Schadensersatz. Die Vorschrift räumt Privatpersonen einen direkten Anspruch ein,245 und zwar gegen den Rechtsträger, dessen Strafverfolgungsbehörde oder Gericht die Verhaftung angeordnet bzw. vorgenommen hat.246 Der Betroffene kann den Anspruch demnach auf dem ordentlichen Rechtsweg geltend machen, ohne den EGMR anrufen zu müssen.247 Die materiellen Voraussetzungen des Anspruchs sind: 1.
Festnahme oder Freiheitsentziehung;
2.
Rechtswidrigkeit der Maßnahme wegen Verletzung einer der Absätze 1 bis 4 des Art. 5 EMRK;
3.
(materieller oder immaterieller) Schaden aufgrund dieser Freiheitsentziehung.
___________ 243
BGH, NJW 1987, 2573 (2574) [insoweit in BGHZ 100, 335 ff. nicht abgedruckt]. Quaritsch, in: Festschrift 50 Jahre Hochschule Speyer (1997), S. 169 (174). 245 BGHZ 45, 30 (34); 45, 46 (49); 122, 268 (269 f.); BGH, DÖV 2006, 830; Paeffgen, in: SK-StPO (2004), Art. 5 EMRK Rdnr. 69 m. Nachw. aus der Rspr. des EGMR; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 531 f. 246 Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 8 (25. Aufl. 2004), Art. 5 EMRK Rdnr. 134. 247 Aus diesem Grund spielt Art. 5 Abs. 5 EMRK in: der Spruchpraxis des EGMR selbst keine große Rolle, vgl. nur Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 5 Rdnr. 156. 244
262
Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
Eines Verschuldens bedarf es nicht.248 Es handelt sich damit um einen Haftungstatbestand eigener Art, der einem Gefährdungstatbestand deutscher Prägung nahe kommt.249 Da Art. 5 Abs. 1 EMRK auf die Rechtmäßigkeit der Haft nach innerstaatlichem Recht verweist, ist der Anspruch auch gegeben, wenn das innerstaatliche Recht über die eigenen Anforderungen des Art. 5 (insbesondere der Abs. 2 bis 4) EMRK hinausgeht.250 Der Anspruch ist aber auch ohne Rücksicht auf das nationale Recht gegeben, wenn den Anforderungen der Abs. 2 bis 4 des Art. 5 EMRK nicht genügt wurde. Er besteht damit aber nur bei einer Verletzung der Anforderungen des Art. 5 EMRK,251 ist also anders als die Entschädigung nach dem StrEG nicht gegeben, wenn bspw. die Untersuchungshaft wegen Vorliegens von Verdacht und Haftgründen rechtmäßig war, der Betroffene aber später freigesprochen wird.252 Aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 41 EMRK253 (ex Art. 50 EMRK) wird abgeleitet, dass nicht nur für materiellen, sondern auch für immateriellen Schaden Ersatz zu leisten ist.254 Einschränkend wendet die Rechtsprechung auch auf den Anspruch nach Art. 5 Abs. 5 EMRK § 839 Abs. 3 BGB an.255 Soll der Schaden vor den Konventionsorganen selbst geltend gemacht werden – was trotz der Wirkung des Art. 5 Abs. 5 als materiellrechtliche Anspruchsgrundlage i.S.d. deutschen Recht nicht grundsätzlich ausgeschlossen ___________ 248
St. Rspr. seit BGHZ 45, 58 (65); siehe ferner BGHZ 122, 268 (278); KG, StV 1992, 584; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 5 Rdnr. 158; Paeffgen, in: SK-StPO (2004), Art. 5 EMRK Rdnr. 70; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 8 (25. Aufl. 2004), Art. 5 EMRK Rdnr. 130. 249 BGHZ 45, 58 (71 ff.); vgl. auch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht (1998), S. 532: Typologisch handele es sich dabei um einen Anspruch aus aufopferungsgleichem Eingriff. Anders („Aufopferungsanspruch“) aber Schätzler/Kunz, StrEG (2003), Einl. Rdnr. 73, die allerdings übersehen, dass der Aufopferungsgedanke i.e.S. rechtmäßiges Handeln voraussetzt. 250 BGH, DÖV 2006, 830 (831); Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 5 Rdnr. 158. 251 Eine solche Verletzung liegt aber zweifellos vor, wenn die freiheitsentziehende Maßnahme den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz missachtet, denn dann ist sie nach deutschem Recht rechtswidrig; unrichtig daher OLG Hamm, NStZ 1989, 327 (328), nach dem eine (wie das BVerfG für den konkreten Fall bereits festgestellt hatte) gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßende, aber nicht willkürlich angeordnete Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus den Anspruch nicht auslösen soll. Zutreffend gegen diese Entscheidung Seebode, NStZ 1989, 328 f. 252 Ebenso Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 5 Rdnr. 160. 253 Zum Verhältnis der Art. 5 Abs. 5 und 41 EMRK zueinander sogleich unter B. 254 Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 5 Rdnr. 161; Villiger, Handbuch EMRK (1993), § 20 Rdnr. 371; Paeffgen, in: SK-StPO (2004), Art. 5 EMRK Rdnr. 71; ebenso BGHZ 122, 268 (279 ff.). 255 OLG München, NJW 2007, 1986 (1987).
§ 19 Haftung nach EMRK
263
ist256 –, muss zunächst der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten erschöpft sein (Art. 35 Abs. 1 EMRK).257 Die Haftung nach Art. 5 Abs. 5 EMRK steht sowohl neben der Haftung nach dem StrEG als auch neben dem Anspruch aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG.258 Über die Amtshaftung geht sie insoweit hinaus, als diese Schadensersatz nur für schuldhaftes Handeln vorsieht, bleibt aber insoweit hinter ihr zurück, als sie Schadensersatz nur für Haft bzw. Freiheitsentziehung vorsieht. Hinter dem StrEG bleibt der Anspruch – neben der Begrenzung auf Haft bzw. Freiheitsentziehung – auch insoweit zurück, als das StrEG Schadensersatz ohne Rücksicht auf die Rechtmäßigkeit der Maßnahme gewährt, soweit das Strafverfahren mit Freispruch, Einstellung oder Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens endet.
B. Art. 41 EMRK Selbständig neben Art. 5 Abs. 5 EMRK steht Art. 41 (ex. Art. 50) EMRK; er betrifft eine andere Konstellation. Art. 41 EMRK steht im Kontext der Vorschriften über den EGMR (Art. 19 ff. EMRK). Nach dieser Vorschrift spricht der Gerichtshof einer „verletzen Partei“ (im hier interessierenden Kontext dem Antragsteller einer Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK) eine „gerechte Entschädigung“ zu, wenn der EGMR feststellt, dass die Konvention verletzt worden ist, das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung vorsieht und die Entschädigung notwendig ist. Art. 41 EMRK setzt also voraus, dass der Betroffene gegen eine Verletzung seiner durch die EMRK garantierten Rechte – zu denen auch die Rechte aus Art. 5 EMRK gehören259 – vor dem EGMR selbst vorgeht. Art. 41 EMRK ist aber – anders als Art. 5 Abs. 5 EMRK – keine Anspruchsgrundlage, kraft derer Entschädigung vor den nationalen Gerichten erlangt werden könnte. Art. 41 EMRK wirkt allerdings insoweit auf Art. 5 Abs. 5 EMRK zurück, als die Rechtsprechung des EGMR zu ___________ 256 Villiger, Handbuch EMRK (1993), § 20 Rdnr. 370; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 8 (25. Aufl. 2004), Art. 5 EMRK Rdnr. 139. 257 Ist aber durch nationale Behörden Schadensersatz geleistet oder von nationalen Gerichten zugesprochen worden, unterliegt die Frage, ob die gewährte Entschädigung ausreichend ist, lediglich einer Missbrauchskontrolle durch den EGMR; vgl. m.w.N. Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 5 Rdnr. 161. 258 BT-Drs. 6/460, S. 6 (zum Verhältnis zum StrEG); Meyer-Goßner, StPO (2006), Art. 5 EMRK Rdnr. 14; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 8 (25. Aufl. 2004), Art. 5 EMRK Rdnr. 130; Meyer, StrEG (2005), Einl. Rdnr. 53. 259 Im Hinblick auf diese Rechte ist Art. 5 Abs. 5 EMRK insbesondere nicht lex specialis, vgl. EGMR, EuGRZ 1974, 27 (28 f.); Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 5 Rdnr. 156; Paeffgen, in: SK-StPO (2004), Art. 5 EMRK Rdnr. 70.
264
Teil 3: Strafprozessuale Eingriffe als Rechtsgutsbeschädigungen
Art und Umfang der Haftung nach Art. 41 EMRK – insbesondere zum immateriellen Schaden – Richtschnur und Auslegungshilfe für Art. 5 Abs. 5 EMRK sein soll.260 Anders als der Wortlaut es nahe legen mag (wenn er eine Entschädigung daran knüpft, dass das nationale Recht nur eine „unvollkommene Wiedergutmachung“ vorsieht), wird Art. 41 EMRK auch vom nationalen Staatshaftungsrecht nicht verdrängt.261 Es wäre unzumutbar, wenn der Betroffene nach Feststellung der Rechtsverletzung (wegen des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung) erneut die nationalen Gerichte wegen Schadensersatz anrufen müsste.262 Die Einschränkung soll lediglich besagen, dass eine innerstaatlich nur „unvollkommene Wiedergutmachung“ den Entschädigungsausspruch nicht ausschließt.263
___________ 260
Siehe oben A. Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 50 Rdnr. 3 m.w.N. 262 Siehe hierzu jüngst EGMR, NJW 2006, 3117 (3125). 263 Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 50 Rdnr. 3. 261
Teil 4
Zusammenfassung und Ausblick § 20 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse A.I. Am Ausgangspunkt der Untersuchung steht die Erkenntnis, dass strafprozessuale Eingriffsermächtigungen an den Schnittstellen mehrerer Rechtsgebiete wirken. Sie sind vor allem von Bedeutung für das Strafverfahrensrecht (innerprozessuale Wirkung), das Verfassungsrecht, das materielle Strafrecht und das Staatshaftungsrecht (außerprozessuale Wirkung). Man kann deshalb von „multifunktionellen Normen“ sprechen.1 Diese Funktionen stehen in einer spezifischen Wechselwirkung mit den „Mehrfachwirkungen“ der strafprozessualen Grundrechtseingriffe selbst.2 II. Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen sind regulative Normen.3 Sie schützen vorgefundene, vom Prozess grundsätzlich unabhängige Interessen. Demgegenüber sind Regeln, die über die Verwertbarkeit der durch strafprozessuale Grundrechtseingriffe erhobenen Informationen bestimmen, konstitutive Normen, die den Eingriffsermächtigungen nachgeschaltet sind („Transferregeln“) und deren Inhalt aus allgemeinen Prinzipien (der Beweisverwertung) zu gewinnen ist. Modellcharakter für dieses Zusammenspiel verschiedener Normarten hat § 136a StPO. III. Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen können verschiedene Zwecke verfolgen. Als „echte“ strafprozessuale Eingriffsermächtigungen kann man solche bezeichnen, die das Strafverfahren selbst voranbringen, als „unechte“ strafprozessuale Eingriffsermächtigungen solche, die anderen Zwecken dienen.4 „Echte“ strafprozessuale Eingriffsermächtigungen lassen sich dabei in solche einteilen, die der Sachverhaltsaufklärung und Beweissicherung dienen5 und solche, die den Verfahrensfortgang sichern.6 „Unechte“ strafprozessuale Ein___________ 1
s.o. § 4. s.o. § 6. 3 s.o. § 5. 4 s.o. § 3. 5 s.o. § 3 A.I. 6 s.o. § 3 A.II. 2
266
Teil 4: Zusammenfassung und Ausblick
griffsermächtigungen dienen einmal der Ermittlungsvorsorge;7 zum anderen enthält die StPO aber auch Ermächtigungen, die präventiven Zwecken dienen.8 Von diesen erscheinen jedoch nicht alle als Fremdkörper in der StPO; so sind etwa die vorläufigen Maßregeln Konsequenz der Zweispurigkeit der Rechtsfolgen des materiellen Strafrechts. Daneben kennt die StPO aber auch Eingriffsermächtigungen, die sich mit den angesprochenen Zielen nur unvollständig erfassen lassen.9 B.I. Grundrechtseingriffe der Strafverfolgungsbehörden lassen sich in Struktur und Wirkung mit Realakten des Eingriffsverwaltungsrechts vergleichen. Sie sind insbesondere nicht mit Verwaltungsakten vergleichbar.10 Unbestimmte Rechtsbegriffe im Tatbestand strafprozessualer Eingriffsermächtigungen lösen keinen Beurteilungsspielraum der Strafverfolgungsbehörden aus.11 Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen sind Ermessensvorschriften. Die Ermessensfehlerlehre des Verwaltungsrechts kann im Wesentlichen auf strafprozessuale Grundrechtseingriffe übertragen werden, muss allerdings auf Besonderheiten für Fehler im Vorgang der Ermessensbetätigung Bedacht nehmen.12 II.1. Die Einschaltung des Richters im Ermittlungsverfahren dient vor allem dem präventiven Grundrechtsschutz. Daneben entfaltet der Richtervorbehalt aber auch spezifische innerprozessuale Wirkungen, indem er den Fluss von Informationen in den Prozess begrenzt.13 Besonderheiten gelten für Richtervorbehalte im Zusammenhang mit molekulargenetischen Untersuchungen.14 II.2. Die richterliche Anordnung eines strafprozessualen Grundrechtseingriffs fungiert als Vollstreckungsgrundlage für den Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut durch die Strafverfolgungsbehörden.15 Das folgt aus der Systematik sowie dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelungen. Gleichzeitig dient diese Sicht dazu, den Richtervorbehalt zu effektivieren, können sich die Strafverfolgungsbehörden durch die Einschaltung des Richters doch die Grundlage für rechtmäßiges Handeln auch dann verschaffen, wenn die materiellen Voraussetzungen für das Eingreifen nicht vorgelegen haben. Ein effektiverer Richtervorbehalt stärkt gleichzeitig den Grundrechtsschutz der Betroffenen. ___________ 7
s.o. § 3 B.I. s.o. § 3 B.II. 9 s.o. § 3 C. 10 s.o. § 7 A. und B.I. 11 s.o. § 7 B.II. 12 s.o. § 7 B.III. 13 s.o. § 8 A.I. 14 s.o. § 8 A.II. 15 s.o. § 8 B. 8
§ 20 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
267
Grenze jener Wirkung der richterlichen Anordnung ist aber ihre Wirksamkeit, an der es insbesondere wegen Nichtigkeit fehlen kann, wenn die Strafverfolgungsbehörden den Richter bewusst unvollständig über verdachtsbegründende oder über entlastende Tatsachen informieren. C.I.1. Ob Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden Grundrechtseingriffe darstellen, ist nicht abschließend nach den Kriterien des sog. „klassischen Grundrechtseingriffs“ zu beurteilen; maßgeblich ist vielmehr ein weiterer Eingriffsbegriff.16 Ein Bagatellvorbehalt ist nicht anzuerkennen.17 Auch der mittelbare Zugriff auf grundrechtliche Schutzgüter durch die Strafverfolgungsbehörden (vermittelt zumeist über privates Handeln), stellt einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff dar.18 I.2. Eine Einwilligung des Betroffenen schließt es aus, den Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut als Eingriff zu qualifizieren.19 Das Recht des Betroffenen, in solche Zugriffe einzuwilligen, folgt nicht erst aus dem Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG, sondern schon daraus, dass jedermann berechtigt ist, mit seinen grundrechtlichen Schutzgütern nach Belieben zu verfahren. Es ist demnach jedem Grundrecht immanent.20 Während der Vorrang des Gesetzes einem einvernehmlichen Handeln im Einzelfall entgegenstehen kann, hindert der Gesetzesvorbehalt den Staat nicht an solchermaßen einvernehmlichem Handeln.21 Eine Einwilligung nimmt dem Zugriffsakt aber nur dann den Charakter eines Eingriffs, wenn der Betroffene über die grundrechtlichen Schutzgüter verfügen darf und die Einwilligung freiwillig erklärt.22 I.3. Die richterliche Anordnung selbst stellt – ähnlich dem zu einem Eingriff ermächtigenden Gesetz – einen potentiellen Eingriff dar.23 Sie entfaltet Außenund Eingriffswirkung erst dann, wenn sie ihren Charakter als staatliches Internum im Wege des Vollzugs durch die Strafverfolgungsbehörden verliert. II. Auch strafprozessuale Grundrechtseingriffe müssen spezifische verfassungsrechtliche Anforderungen erfüllen. Diese Anforderungen ergeben sich insbesondere aus dem Vorbehalt des Gesetzes, dem Zitiergebot, dem Bestimmtheitsgebot sowie dem Übermaßverbot:
___________ 16
s.o. § 10 A.I. s.o. § 10 A.II. 18 s.o. § 10 A.III. 19 s.o. § 10 B., dort insbesondere IV. 20 s.o. § 10 B.II. 21 s.o. § 10 B.III. 22 s.o. § 10 B.V. 23 s.o. § 10 C. 17
268
Teil 4: Zusammenfassung und Ausblick
II.1. Der Vorbehalt des Gesetzes verbietet es, strafprozessuale Grundrechtseingriffe auf Analogien,24 auf Gewohnheitsrecht25 oder auf materiellstrafrechtliche Rechtfertigungsgründe zu stützen.26 Sog. vorbereitende oder begleitende Eingriffe sind mit dem Gesetzesvorbehalt nicht vereinbar, soweit die Maßnahmen den Wortsinn der ermächtigenden Normen überschreiten.27 Mittelbare Grundrechtseingriffe müssen sich ebenfalls auf eine gesetzliche Grundlage zurückführen lassen.28 Die neu geschaffenen Ermittlungsgeneralklauseln der §§ 161/163 StPO genügen dem Vorbehalt des Gesetzes, sofern ihre Anwendung angemessen begrenzt bleibt.29 II.2. Unbefriedigend ist der Umgang des Gesetzgebers mit dem zum Zitiergebot, das seine Funktion als Schranken-Schranke nicht zuletzt aufgrund der bisherigen restriktiven Rechtsprechung des BVerfG kaum zu erfüllen vermag.30 II.3. Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen müssen dem aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleitenden Bestimmtheitserfordernis genügen. Je tiefgreifender die Eingriffe sind, zu denen die Vorschriften ermächtigen, desto bestimmter müssen die Vorschriften gefasst sein.31 II.4. Das Übermaßverbot folgt aus dem Prinzipiencharakter der grundrechtlichen Schutzgüter.32 Diese kollidieren im Einzelfall mit dem Interesse des Staates an wirksamer Strafverfolgung, das allerdings konkret Ausdruck finden muss in einem Interesse, Grundrechtseingriffe einer bestimmten Weise zu einem bestimmten Zweck vorzunehmen.33 Die Anwendung des Übermaßverbots krankt allerdings an einem nur sehr begrenzten Grad an Vorhersehbarkeit.34 Zudem bestehen Schwierigkeiten, die Rechtspositionen zu bestimmen, die durch Abwägung auch des verfassungsändernden Gesetzgebers nicht überwunden werden können. Als eine solche Position kommt nach dem Grundgesetz nur die Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG (bzw. der durch sie verkörperte Kern spezieller Freiheitsrechte) in Betracht.35 ___________ 24
s.o. § 11 A.II. s.o. § 11 A.III. 26 s.o. § 11 A.IV. 27 s.o. § 11 A.V. 28 s.o. § 11 A.VI. 29 s.o. § 11 A.VII. 30 s.o. § 11 B. 31 s.o. § 11 C. 32 s.o. § 11 D.I.1. und § 9. 33 s.o. § 11 D.I.2. 34 s.o. § 11 D.I.3.a). 35 s.o. § 11 D.I.3.b). 25
§ 20 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
269
Der Gesetzgeber hat in strafprozessuale Eingriffsermächtigungen verschiedene Sicherungen eingebaut, die der Einhaltung des Übermaßverbots dienen.36 Daneben haben – da strafprozessuale Eingriffsermächtigungen Ermessenstatbestände sind – die Strafverfolgungsbehörden dem Übermaßverbot eigenständig Raum zu geben, vor allem bei der kumulativen Anwendung strafprozessualer Grundrechtseingriffe37 und dadurch, dass sie die mit dem Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut für den Betroffenen verbundenen Belastungen möglichst gering halten, indem sie bspw. auf einvernehmliches Handeln hinwirken.38 D. In Konsequenz eines Grundrechtseingriffs, der die o.g. Anforderungen verfehlt, steht dem Betroffenen ein öffentlich-rechtlicher Abwehranspruch zu.39 Der Anspruch geht dahin, die Folgen des verfassungswidrigen Eingriffs zu beseitigen. Folge eines Eingriffs ist die Erhebung und das Vorhalten bestimmter Informationen zu (späteren) Beweiszwecken. Der Folgenbeseitigungsanspruch kann auf zwei Wegen geltend gemacht werden: einmal bereits im Wege des Rechtsschutzes gegen den Eingriff mit der Folge der Herausgabe von Gegenständen oder des Löschens von Informationen (außerprozessual), zum anderen (innerprozessual) durch ein Verbot, Informationen zu verwerten, die der Staat aufgrund eines „informationellen Ungleichgewichts“ vorhält. Hierzu reicht es aber nicht aus, dass die Informationen durch Handlungsunrecht erhoben worden sind; die Informationserhebung muss vielmehr zu Erfolgsunrecht geführt haben. E.I. Der Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe wird entscheidend von Art. 19 Abs. 4 GG geprägt.40 Dieses Grundrecht verlangt wirksamen Rechtsschutz. Der Rechtsschutz verläuft daher weitgehend neben dem eigentlichen Strafverfahren. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert dabei auch Rechtsschutz gegen richterliche Anordnungen41 und gegen erledigte Grundrechtseingriffe.42 Verfassungsrechtlich gefordert sind ferner eine Benachrichtigung des Betroffenen von heimlichen Eingriffen nach deren Beendigung sowie eine wirksame Kontrolle der Erfüllung der Benachrichtigungspflicht.43 An letzterem fehlt es derzeit. Die Ausgestaltung der Benachrichtigungspflichten genügt insoweit nicht den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG.
___________ 36
s.o. § 11 D.II.1. s.o. § 11 D.II.2.a). 38 s.o. § 11 D.II.2.b). 39 s.o. § 12. 40 s.o. § 13. 41 s.o. § 13 B. 42 s.o. § 13 C. 43 s.o. § 13 D. 37
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Teil 4: Zusammenfassung und Ausblick
II. Effektiver Rechtsschutz wird inzwischen durch die Rechtsprechung in verfassungskonformer Weise mittels einer Kombination der Rechtsbehelfe des § 98 Abs. 2 S. 2 StPO (Rechtsschutz gegen die nicht-richterliche Anordnung eines Eingriffs und gegen die Art und Weise des Vollzuges von [auch richterlichen] Anordnungen) und der Beschwerde nach § 304 StPO (Rechtsschutz gegen richterliche Anordnungen) gewährt. Daneben steht der Rechtsschutz nach § 101 Abs. 7 S. 2 StPO n.F.44 F. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe zeitigen auch Wirkungen im materiellen Strafrecht, denn der Strafverfolgungsbeamte verwirklicht regelmäßig Straftatbestände. Das fordert die Frage heraus, inwieweit der Beamte materiellstrafrechtlich gerechtfertig und – umgekehrt – der Betroffene zur Duldung des Eingriffs verpflichtet ist. I. Den Rechtfertigungsgrund für den Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut stellt grundsätzlich die gesetzliche Eingriffsermächtigung dar.45 Besonderheiten gelten aber, soweit eine richterliche Anordnung existiert: Ist diese wirksam, ist der Beamte schon dann gerechtfertigt, wenn er sich in ihrem Rahmen hält.46 Umgekehrt gilt aber: Existiert eine solche richterliche Anordnung nicht, ist er nur dann gerechtfertigt, wenn er alle Anforderungen der Eingriffsermächtigung einhält. Abweichungen durch einen spezifisch „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff“47, einen (angeblich) „verwaltungsrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff“48 oder eine Unterscheidung zwischen „Situationsebene“ und „Sanktionsebene“49 sind nicht sachgerecht und damit abzulehnen. II. Der Beamte kann sich daneben – parallel zur Lage im öffentlichen Recht und sofern die Voraussetzungen gegeben sind – auch auf den materiellstrafrechtlichen Rechtfertigungsgrund der Einwilligung stützen.50 Nicht sachgerecht, aber wegen Art. 103 Abs. 2 GG zu akzeptieren, ist eine Berufung des Beamten auf die Rechtfertigungsgründe der §§ 32 und 34 StGB.51 Auf einen materiell-strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund des Handelns auf Weisung kann sich der Beamte aber nicht berufen. Eine Weisung stellt ein bloßes Behördeninternum dar.52 ___________ 44
s.o. § 14. s.o. § 15 A. 46 s.o. § 15 A.I. 47 s.o. § 15 A.II. 48 s.o. § 15 A.III. 49 s.o. § 15 A.IV. 50 s.o. § 15 B.I. 51 s.o. § 15 B.II. 52 s.o. § 15 B.III. 45
§ 20 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
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III. In der Konsequenz der soeben dargestellten Rechtslage liegt es, dass der Betroffene den Eingriff zu dulden hat, soweit der Zugriff auf das grundrechtliche Schutzgut rechtmäßig ist. Notwehr gemäß § 32 StGB scheidet dann aus. Aber auch wenn der Eingriff rechtswidrig ist, darf der Betroffene sein Notwehrrecht nicht schonungslos ausüben, sondern muss die berechtigten Interessen des Amtsträgers berücksichtigen.53 In Anlehnung an die weitgehend anerkannte Fallgruppe der sozialethischen Notwehreinschränkung bei ersichtlich Irrenden oder schuldlos Handelnden, muss er – soweit möglich – den Amtsträger über die Sachlage aufklären. Zudem kann es an der Erforderlichkeit der Notwehr fehlen, wenn die Rechtsgüter des Betroffenen auch durch nachträglichen Rechtsschutz gegen die staatliche Maßnahme hinreichenden Schutz erfahren können. G.I. Der Staat haftet unter bestimmten Voraussetzungen für strafprozessuale Grundrechtseingriffe. Eine solche Haftung kommt nach dem StrEG ohne Rücksicht auf die Rechtmäßigkeit des Eingriffs in Betracht, wenn sich der Verdacht gegen den Betroffenen im Ergebnis nicht bestätigt hat.54 Das Prognoserisiko, das auf einer Primärebene dem Betroffenen aufgebürdet ist (Eingriffsmöglichkeit bereits bei Verdacht), wird damit auf einer Sekundärebene auf den Staat zurückübertragen (Haftung auch bei Rechtmäßigkeit des Eingriffs). Unbefriedigend ist allerdings, dass nur der Beschuldigte in den Genuss der Entschädigung kommen kann und dass nicht alle strafprozessualen Grundrechtseingriffe entschädigungsfähig sind. II. Neben dem StrEG kommen auch Tatbestände des allgemeinen Staatshaftungsrechts in Betracht. Hierzu zählt zunächst die Amtshaftung für rechtswidrige und schuldhafte Eingriffe jeder Art, sofern ein ersatzfähiger Schaden entstanden ist.55 Der allgemeine Aufopferungsanspruch hat hingegen nur sehr geringe Bedeutung.56 Verhältnismäßig geringe Bedeutung besitzen auch die Ansprüche aus enteignungsgleichem57 und enteignendem Eingriff.58 Insbesondere vermögen sie die Lücke nicht zu schließen, die das StrEG reißt, indem es Entschädigungen für Dritte nicht vorsieht. Die gesetzgeberische Entscheidung, den Nichtbeschuldigten im Gegensatz zum Beschuldigten nicht zu entschädigen, dürfte die Schwelle der verfassungswidrigen Inhalts- und Schrankenbestimmung bereits überschreiten.59 Wohl wenig praktische Relevanz besitzt ferner ___________ 53
s.o. § 16. s.o. § 17. 55 s.o. § 18 A. 56 s.o. § 18 B. 57 s.o. § 18 C.II. 58 s.o. § 18 C.III. 59 s.o. § 18 C.IV. 54
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der Anspruch aus Pflichtverletzung aus öffentlich-rechtlichem Verwahrverhältnis (§ 280 Abs. 1 S. 1 BGB analog).60 III. Die EMRK räumt dem Betroffenen in Art. 5 Abs. 5 einen direkten Anspruch gegen den Staat für rechtswidrige Freiheitsentziehungen ein.61 Selbständig neben Art. 5 Abs. 5 EMRK steht Art. 41 EMRK, der dem Betroffenen allerdings keinen direkt einklagbaren Anspruch einräumt, sondern eine Entschädigung vorsieht, wenn der EGMR eine Konventionsverletzung feststellt.62
§ 21 Ausblick A. Die innerprozessualen Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe Die vorliegende Untersuchung hat sich – von dem einen oder anderen Seitenblick abgesehen – auf die Darstellung der außerprozessualen Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe beschränkt. Neben jenen Außenwirkungen entfalten strafprozessuale Grundrechtseingriffe aber auch spezifische innerprozessuale Wirkungen.63 Eine zusammenhängende Darstellung dieser Wirkungen steht noch aus und kann auch im Rahmen dieses kurzen Ausblicks nicht geleistet werden. Solche innerprozessualen Wirkungen gehen im Wesentlichen von den hier sog. „echten“ strafprozessualen Grundrechtseingriffen aus.64 Denn nur ihre Zielrichtung ist es, Wirkungen für einen bestimmten Prozess zu zeitigen.65 Aber auch bestimmte „unechte“ strafprozessuale Grundrechtseingriffe können Wirkungen innerhalb eines Prozesses entfalten. So sollen Maßnahmen der Ermittlungsvorsorge66 gerade Wirkungen in einem – allerdings noch ungewissen – Folgeprozess haben. Damit wird deutlich, dass sich eine Untersuchung der innerprozessualen Seite strafprozessualer Grundrechtseingriffe auf die Wirkungen der strafprozessualen Grundrechtseingriffe als Prozesshandlung fokus-
___________ 60
s.o. § 18 D. s.o. § 19 A. 62 s.o. § 19 B. 63 Zu den Mehrfachwirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe s.o. § 6 B. 64 Zu dieser Unterscheidung s.o. § 3. 65 s.o. § 3 A. 66 Hierzu § 3 B.I. 61
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siert.67 Diese Wirkungen stehen vornehmlich im Kontext konstitutiver Normen.68 Die Innenwirkungen der Maßnahmen korrespondieren aber nicht lediglich mit den konstitutiven Normen des Prozessrechts. Während die Außenwirkungen der strafprozessualen Grundrechtseingriffe vor allem durch die materiellen Grundrechte bestimmt werden, werden ihre innerprozessualen Wirkungen – wie überhaupt die konstitutiven Normen des Prozessrechts – maßgeblich von den Justizgrundrechten beeinflusst. Eine Weiterführung dieser Thematik müsste sich daher auch dezidiert mit dem Einfluss der Justizgrundrechte (insbesondere des Rechts auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG) auf die Innenwirkungen der strafprozessualen Grundrechtseingriffe auseinandersetzen. Parallelphänomene zu strafprozessualen Grundrechtseingriffen kennen auch andere Prozessordnungen. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe zur Sachverhaltsaufklärung und Beweissicherung sowie zur Vollstreckungssicherung erfüllen im Lauf des Strafverfahrens ähnliche Funktionen wie die Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes im Zivilprozess; sie können als Instrumente des vorläufigen Rechtsschutzes des Staates verstanden werden.69 Indem der Staat die Beweise in einem vor der Hauptverhandlung liegenden Stadium sichert, weil er sich deren Verlust für den Fall einer Hauptverhandlung nicht leisten kann, handelt er in der Sache wie eine Privatperson, die ein selbständiges Beweisverfahren gemäß den §§ 485 ff. ZPO durchführt, um nicht Beweise für einen späteren Prozess zu verlieren. Und indem er die Möglichkeit der Vollstreckung des Schuldspruchs schon vor der Verurteilung sichert, nimmt er kein anderes prozessrechtliches Mittel wahr als der Gläubiger, der sich zur Sicherung der Vollstreckung seiner materiellen Ansprüche der Möglichkeiten der §§ 916 ff. ZPO bedient. Beides – das strafverfolgende, staatliche wie das private Handeln – geht auf ein und dasselbe prozessordnungsübergreifende Prinzip der „Wirksamkeit des gerichtlichen Verfahrens“ zurück, mit dem die grundrechtlichen Schutzgüter anderer Verfahrensbeteiligter kollidieren.70 Aus diesem Grund erschiene es lohnend, zu überprüfen, ob die den genannten zivilverfahrensrechtlichen Instituten zugrunde liegenden Prinzipien eine Entsprechung im Strafverfahrensrecht haben. So könnte beispielsweise das zivilprozessuale Prinzip des „Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache“ etwa im Recht der Untersuchungshaft das grundgesetzliche Übermaßverbot ergänzen und strafverfahrensrechtliche Maßnahmen der Vollstreckungssicherung auch aus prozessrechtsdogmatischen Erwägungen begrenzen.71 Bereits im Rahmen dieser Unter___________ 67
s.o. § 6. Zur Unterscheidung von regulativen und konstitutiven Normen s.o. § 5 B. 69 Siehe bereits § 11 D.I.2. 70 Siehe § 11 D.I.2. 71 Hierzu bereits Amelung, JZ 1987, 737 (741 ff.). 68
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suchung ist angedeutet worden, dass die Ersatzpflicht nach dem StrEG als Folge des (im Ergebnis des Verfahrens ungerechtfertigten) Zugriffs auf das grundrechtliche Schutzgut auf dem gleichen Prinzip beruht wie die Haftung nach § 945 ZPO, der die Schadensersatzpflicht des Gläubigers für die Vollziehung einer einstweiligen Verfügung vorsieht.72 Neben diesen genuin innerprozessualen Aspekten setzen sich aber auch die außerprozessualen Wirkungen im Prozess fort. Bestimmte materielle Interessen bedürfen nicht lediglich einer Regelung durch regulative Normen, sondern auch einer Fortsetzung im Prozess durch konstitutive Normen.73 So findet etwa der gewissermaßen außerprozessuale Zweck des Richtervorbehalts (effektiver Rechtsschutz) auch eine innerprozessuale Entsprechung, indem der Richtervorbehalt nämlich den Fluss der Informationen in den Prozess begrenzt und damit die verfahrensrechtliche Stellung des Betroffenen stärkt.74 Auch der hier bereits näher behandelte, letztlich aus den materiellen Grundrechten resultierende öffentlich-rechtliche Abwehranspruch75 findet im Prozess als eines der den Beweisverwertungsverboten zugrunde liegenden Prinzipien seine Fortsetzung (hierzu sogleich unter B.). Neben solchen „Umsetzungsphänomenen“ kennt das Verfahrensrecht aber auch Parallelinstitute zum materiellen Recht, die ähnliche Probleme zu lösen bestimmt, voneinander aber logisch unabhängig sind. So kann man von Einwilligung sprechen, wenn es darum geht, ob regulativen Verbotsnormen der Verbotscharakter genommen wird. Von Verzicht sollte hingegen gesprochen werden, wenn die Abweichung von konstitutiven Normen in Rede steht.76
B. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe und Verwertungsverbote Im Hinblick auf strafprozessuale Grundrechtseingriffe betrifft die wichtigste innerprozessuale Frage das Schicksal der Informationen, deren Erhebung Zweck der (beweissichernden und sachverhaltsaufklärenden, „echten“) strafprozessualen Grundrechtseingriffe ist. Denn das Strafverfahren ist ein Informationsverarbeitungsprozess. Problematisch ist hierbei vor allem – von Fällen der Zweckänderung rechtmäßig erhobener Daten abgesehen – die Verwertung solcher Informationen, die aus rechtswidrigen Grundrechtseingriffen resultieren.77 ___________ 72
§ 17 A. Zur dienenden Funktion des Verfahrens § 5 B. 74 s.o. § 8 A.I. und zu den Konsequenzen § 12 B.IV. und C. 75 s.o. § 12. 76 Siehe hierzu § 10 B.I.1. 77 Dies ist – freilich ohne Beschränkung auf die Auswirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe – vor allem in jüngerer Zeit bereits Gegenstand grundlegender Ab73
§ 21 Ausblick
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Es ist im Rahmen dieser Untersuchung bereits kurz angerissen worden,78 dass für die Frage, ob die aus Eingriffen resultierenden Informationen zur Entscheidungsfindung verwertet werden dürfen, mehrere Prinzipien maßgeblich sein können.79 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe stehen vor allem mit zwei Prinzipien in Verbindung: der Wahrung der Straflegitimation des Staates und dem Schutz von Informationsbeherrschungsrechten (informationellen Abwehrrechten). Das Prinzip der Wahrung der Straflegitimation verlangt Verwertungsverbote, wenn die Strafverfolgungsbehörden bei dem Informationserhebungsprozess die Menschenwürde verletzen (vgl. § 136a StPO) oder der Verfolgungsbeamte eine Straftat begeht.80 Mit der Verwirklichung dieses Prinzips ist eine unmittelbare Wechselwirkung zu den hier in § 15 dargestellten außerprozessualen Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe geschaffen. Das Prinzip des Schutzes von Informationsbeherrschungsrechten (informationeller Abwehrrechte) hat für strafprozessuale Grundrechtseingriffe die größte Bedeutung. Es gründet auf dem hier bereits ausführlich dargestellten Gedanken, dass der verfassungswidrige Grundrechtseingriff einen öffentlich-rechtlichen, zunächst außerprozessualen Abwehranspruch in Gestalt des Folgenbeseitigungsanspruchs auslöst.81 Der auf die Verletzung regulativer Normen reagierende Abwehranspruch setzt sich im Prozess fort, indem er gebietet, solche In___________ handlungen gewesen, vgl. nur Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990); ders., in: Festschrift für Bemmann (1997), S. 505 ff.; ders., in: Festschrift für Roxin (2001), S. 1259 ff.; ders., in: Gedächtnisschrift für Schlüchter (2002), S. 417 ff.; Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß (1977); Fezer, Grundfragen der Beweisverwertungsverbote (1995); Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess (2003); Rogall, ZStW 91 (1979), 1 ff.; ders., in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozessrechts (1995), S. 113 ff.; ders., in: Huber/Höpfel (Hrsg.), Beweisverbote in Ländern der EU und vergleichbaren Rechtsordnungen, (1999), S. 119 ff.; ders., in: Festschrift für Hanack (1999), S. 293 ff.; ders., in: Festschrift für Grünwald (1999), S. 523 ff.; Störmer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote (1992). 78 s.o. § 12 A. (insbesondere Fn. 676) sowie C. 79 Siehe hierzu ausführlich Amelung, in: Gedächtnisschrift für Schlüchter (2002), S. 417 ff. Neben den sogleich zu nennenden Prinzipien der Wahrung der Straflegitimation und des Schutzes von Informationsbeherrschungsrechten ist das Prinzip der Sicherung der Wahrheitsfindung zu nennen. Der Gedanke, Strafverfolgungsbehörden zu disziplinieren, ist hingegen von der ganz herrschenden Meinung mangels einer positivrechtlichen Anknüpfung nicht als Ziel strafprozessualer Verwertungsverbote anerkannt, vgl. nur Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 19; Rogall, ZStW 91 (1979), 1 (15); Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß (1977), S. 53; Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess (2003), S. 70. 80 Amelung, in: Gedächtnisschrift für Schlüchter (2002), S. 417 (423). 81 s.o. § 12.
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formationen aus dem Prozess herauszuhalten, auf deren Erlangung der Staat keinen Anspruch hatte. Der Folgenbeseitigungsanspruch reagiert daher auf ein informationelles Ungleichgewicht. Der erwähnte Abwehranspruch ist nicht nur darauf gerichtet, dass die Verwertung der betreffenden Information zu Beweiszwecken unterbunden wird, sondern er verbietet die Verwendung grundsätzlich auch zu jedem anderen Zweck, etwa als Spurenansatz oder ähnliches.82 Das soeben dargestellte materielle Prinzip des Schutzes informationeller Abwehrrechte wird auch verfahrensrechtlich ergänzt.83 Diese Ergänzung ist deshalb beachtenswert, weil die Entwicklung eines Verwertungsverbots aus dem öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch wegen des Erfordernisses des Erfolgsunrechts84 scheinbar dort eine Schutzlücke hinterlässt, wo die wichtigste formale Sicherung für den Betroffenen, der Richtervorbehalt, von den Strafverfolgungsbehörden nicht beachtet wird. Dieses Nichtbeachten hat – wie bereits an anderer Stelle ausführlich nachgewiesen wurde85 – zur Folge, dass die Strafverfolgungsbehörden – sollen Informationen verwertet werden, die aus dem Eingriff resultieren – im Verfahrensverlauf nachholen müssen, was bereits zur Erlangung der richterlichen Gestattung des Grundrechtseingriffs notwendig gewesen wäre: Ihnen ist im Wege einer Beweislastumkehr der Beweis dafür aufzuerlegen, dass zum Zeitpunkt des Zugriffs auf das grundrechtliche Schutzgut die Voraussetzungen vorgelegen haben, die die StPO an den Eingriff stellt. Gelingt das nicht, werden die Informationen so behandelt, als stammten sie von Eingriffen, die die materiellen Voraussetzungen der Eingriffsermächtigung nicht erfüllt haben.
___________ 82 Allerdings dürfte der Staat nicht per se gehindert sein, hiervon abzurücken, sofern dies auf gesetzlicher Grundlage geschieht. So hatte der Gesetzgeber in den §§ 98b, 100f Abs. 2 und 110e StPO a.F. das Verbot statuiert, die bei den Eingriffen gewonnenen Informationen in anderen Zusammenhängen „zu Beweiszwecken zu verwenden“. Der Gesetzgeber hat mit dem zum 1.1.2008 in Kraft getretenen Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG (BGBl. I 2007, S. 3198) solche Beschränkungen aus den Eingriffsermächtigungen entfernt und in die allgemeinen Vorschriften der §§ 477 Abs. 2 S. 2 und 161 Abs. 2 S. 1 StPO überführt. 83 Hierzu bereits § 12 B.IV. 84 s.o. § 12 B.IV. 85 Amelung/Mittag, NStZ 2005, 614 ff.
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Zimmermann, Peter: Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz – JVEG, Bielefeld 2005. Zöller, Mark Alexander: Verdachtslose Recherchen und Ermittlungen im Internet, GA 2000, S. 563-577. – Informationssysteme und Vorfeldmaßnahmen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Nachrichtendiensten – Zur Vernetzung von Strafverfolgung und Kriminalitätsverhütung im Zeitalter von multimedialer Kommunikation und Persönlichkeitsschutz, Heidelberg 2002 (Diss. Mannheim 2001/02). – Vorratsdatenspeicherung zwischen nationaler und europäischer Strafverfolgung, GA 2007, S. 393-414. – Heimlichkeit als System, StraFo 2008, S. 15-25.
Sachverzeichnis Abwehranspruch 173 ff. – Folgenbeseitigungsanspruch 176 f., 180, 183, 213 ff. – Unterlassungsanspruch 174 f. Amtshaftung 245 ff. – Amtspflichtverletzung 246 – Haftungsbegrenzungen 250 – Schaden 249 f. – Verschulden 248 f. Analogieverbot, siehe Gesetzesvorbehalt Anhörung 80 f. Aufopferungsanspruch 246, 252, 259 Befehl, siehe Weisung Bekanntgabe 56, 59, 62, 80, 114, 172 Benachrichtigungspflichten, siehe Rechtsschutz Beschwerde 46, 186, 252 Bestandskraft 54, 56, 177 Bestimmtheitsgebot 151 ff. Beurteilungsspielraum 64 ff., 220, 240 Beweisverwertungsverbot 173, 274 ff. – und Abwehranspruch 180 ff. – und Beweislast 182, 184, 214, 276 – und Richtervorbehalt 181 f., 184, 214, 276 Datenschutzbeauftragter, siehe Rechtsschutz Datenübermittlung 35 f. DNA-Reihentest 78, 95, 111 DNA-Untersuchung, siehe molekulargenetische Untersuchung Duldungspflicht 58 f., 61 f., 112, 218, 230 Effektivität der Strafrechtspflege, siehe Wirksamkeit der Strafrechtspflege Eingriff – Bagatellvorbehalt 90 f. – klassischer und moderner Begriff 88 f.
– mittelbarer 91 ff., 119, 136 ff., 140, 149 – und Einwilligung 10, 94, 95 Einstweiliger Rechtsschutz, siehe vorläufiger Rechtsschutz Einwilligung – Freiwilligkeit 78, 94, 110 ff., 225, 239 – grundrechtlicher Schutz 99 ff. – materiell-strafrechtlich 225 – und Eingriff 105 – und Gesetzesvorbehalt 102 ff. – und Gesetzesvorrang 101 f. – und Verzicht 96 – Wirksamkeitsvoraussetzungen 105 ff. – Wirkung 105 EMRK 261 ff. Enteignender Eingriff 256, 257 Enteignung 255 Enteignungsgleicher Eingriff 256 f. Erfolgsunrecht 71, 180 ff., 214, 218, 248, 259 Erforderlichkeit, siehe Übermaßverbot Ermessen 68 ff., 242, 249 – Ermessensfehler 68 ff., 249 Ermittlungsvorsorge 30, 36, 76 Fehlerfolge 60, 71, 143, 150, 173 Feststellungsinteresse, siehe Rechtsschutzbedürfnis Folgenbeseitigungsanspruch, siehe Abwehranspruch Freiwilligkeit, siehe Einwilligung Geeignetheit, siehe Übermaßverbot Gefahr 65, 221 Gefahr im Verzug 63, 67, 75, 77, 112, 182, 194, 199, 221 Generalklausel, siehe Gesetzesvorbehalt Gesetzesvorbehalt – Herleitung 118
Sachverzeichnis – – – – – –
und Analogie 120 und Begleiteingriffe 132, 172 und Einwilligung 102 ff. und Generalklausel 137 ff. und Gewohnheitsrecht 126 ff. und mittelbare Grundrechtseingriffe 136 f. – und strafrechtliche Rechtfertigungsnormen 128 ff. Grundrechtliches Schutzgut, siehe Schutzgut Grundrechtsschutz – durch Verfahren 46 – im Verfahren 46 – präventiver 72 ff., 182, 191 Grundrechtsverzicht, siehe Einwilligung Handlungsformen – Realakt 53, 58 ff., 61 ff. – Verwaltungsakt 53 ff., 71, 80, 114, 177, 182 Hörfalle 92 f., 109 Identitätsfeststellung 76 informationelles Erfolgsunrecht, siehe Erfolgsunrecht Informationsbeherrschungsrecht 92, 178 ff. Inhalts- und Schrankenbestimmungen 254 f. Irrtumsprivileg 220 Molekulargenetische Untersuchungen 74 ff. Normen – konstitutive 39 ff., 44, 47 f., 96 f., 164, 166, 272 – regulative 39 ff., 46, 96 f., 98 Normstruktur 38 ff. Notstand 128 ff., 226 ff. Notwehr 81, 128 ff., 226 ff. Optimierungsgebot, siehe Prinzip Prinzip 86, 100, 154 f., 160, 161 Prozesshandlung – Begriff 43 – Bewertung 47 – doppelfunktionelle 37 f.
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Realakt, siehe Handlungsformen rechtliches Gehör 33, 73, 76, 165, 188, 191 Rechtmäßigkeitsbegriff – strafrechtlicher 218 – verwaltungsrechtlicher 222 – vollstreckungsrechtlicher 224 Rechtsgüterschutz 31, 139 Rechtskraft 83, 177, 250 Rechtsschutz – bei tiefgreifenden Grundrechtseingriffen 198 – Datenschutzbeauftragter 204 – gegen Aspekte des Vollzugs 212 – gegen nicht richterlich angeordnete Eingriffe 209 – Rechtsschutzbedürfnis 195 ff. – Rehabilitationsinteresse 197 – und Benachrichtigungspflichten 200 ff. – und erledigte Eingriffe 192 ff., 212 ff. – und Folgenbeseitigung 213 – und Heimlichkeit 200 – und richterliche Anordnung 188 ff., 205 ff. – Wiederholungsgefahr 196 f. Rechtsschutzbedürfnis, siehe Rechtsschutz Regeln, siehe Normen – und Prinzipien 86, 161 Revisionsgrund, absoluter 41 Richtervorbehalt 72 ff., 171, 181, 184, 211, 247, 276 – Funktionen 72 ff. Sanktionsebene 223 schlichtes Verwaltungshandeln, siehe Realakt Schutzbereich 51 f., 85 ff., 116 f. Schutzgut, grundrechtliches 50 f., 85 Schwellentheorie 139 Situationsebene 223 Störer 169, 236 f. Störungsabwehr 29 Strafprozessuale Grundrechtseingriffe – beweissichernde 27 ff. – verfahrenssichernde 28 ff. Straftatverdacht, siehe Tatverdacht Strafverfolgungsentschädigungsgesetz 235 ff.
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tatsächliches Verwaltungshandeln, siehe Realakt Tatverdacht 63, 111, 139, 167, 220 270 teleologische Reduktion 147, 190, 227 Totalvorbehalt 103 Transferregel 42 f., 166 Übermaßverbot – Abwägung 160 ff. – Erforderlichkeit 155, 171 – Geeignetheit 155 – Menschenwürdekern/-gehalt 163 – normative Grundlage 153 ff. – und Eingriffsermächtigung 167 ff. – und einvernehmliches Handeln 171 – und kumulative Anordnung strafprozessualer Grundrechtseingriffe 170 – unverfügbare Rechtspositionen 161 – Wirksamkeit der Strafrechtspflege 156 ff. Überraschungseingriff 79, 152 unbestimmter Rechtsbegriff 63 ff., 159, 221, 241 f. Unschuldsvermutung 139, 165, 169 f. Unterlassungsanspruch, siehe Abwehranspruch
Verdacht, siehe Tatverdacht verdeckter Ermittler 34 Verfahrenszwecke 157 f. Verhältnismäßigkeit, siehe Übermaßverbot Verletzter 37 Verwahrverhältnis 260 f. Verwaltungsakt, siehe Handlungsformen V-Leute 92 f., 121, 140 Vollstreckungsgrundlage 54, 56, 80 ff., 218 Vollstreckungssicherung 29, 169 Vollstreckungstitel 54, 56 Vorbehalt des Gesetzes, siehe Gesetzesvorbehalt Vorbereitender Eingriff, siehe Begleiteingriff Vorläufiger Rechtsschutz 159, 237, 273 Weisung 228 ff. Wesentlichkeitstheorie 104, 119 Widerspruchslösung 98 Wirksamkeit der Strafrechtspflege, siehe Übermaßverbot Zitiergebot 142 ff.