Aspekte der Dialektologie: Eine Darstellung von Methoden auf französischer Grundlage [Reprint 2017 ed.] 9783111631288, 9783484500853


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German Pages 101 [104] Year 1975

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Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
1. DIALEKT UND DIALEKTOLOGIE
2. VERGLEICHENDE HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT UND DIALEKTOLOGIE
3. DIE SPRACHGEOGRAPHIE
4. STRUKTURELLE DIALEKTOLOGIE
5. GENERATIVE TRANSFORMATIONSGRAMMATIK UND DIALEKTOLOGIE
6. DIALEKTOLOGIE UND SOZIOLINGUISTIK
ALLGEMEINE BIBLIOGRAPHIE
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Aspekte der Dialektologie: Eine Darstellung von Methoden auf französischer Grundlage [Reprint 2017 ed.]
 9783111631288, 9783484500853

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Romanistische Arbeitshefte

15

Herausgegeben von Gustav Ineichen und Christian Rohrer

Lothar Wolf

Aspekte der Dialektologie Eine Darstellung von Methoden auf französischer Grundlage

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975

ISBN 3-484-50085-9 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany

V VORWORT

In dem vorliegenden Bändchen wird versucht, wesentliche Aspekte aus der Entwicklung der Dialektologie darzustellen und damit zugleich eine Einführung in diese Disziplin zu verbinden. Diese Aspekte sind vorwiegend unter dem methodologischen Gesichtspunkt ausgewählt, da den Methoden der Dialektologie in den sprachwissenschaftlichen Handbüchern meist nur am Rande Rechnung getragen wird. Die Beschränkung auf einzelne Aspekte sowie der Einführungscharakter des Bändchens können die schon lange anstehende kohärente Darstellung dialektologischer Methoden selbstverständlich nicht ersetzen. Eine solche Darstellung wird jedoch von der Erkenntnis auszugehen haben, daß eine methodologische Bewertung der Dialektologie nur auf dem Hintergrund der sprachwissenschaftlichen Gesamtentwicklung vorgenommen werden kann. Aus diesem Grunde lag es nahe, die ausgewählten Aspekte in chronologischer Reihenfolge zu präsentieren. Die Kenntnis der Geschichte der Sprachwissenschaft wird dabei insofern vorausgesetzt, als hier nur jene Momente in Erinnerung gebracht werden, die für den dialektischen Entwicklungsprozeß zwischen allgemeiner Sprachwissenschaft und Dialektologie bzw. den daraus dargestellten Aspekten eine Rolle spielen. Auch ist selbstverständlich, daß die angeschnittenen dialektologischen Themen selbst nicht exhaustiv abgehandelt werden können, so daß die Ausführungen aus wissenschaftlicher und didaktischer Perspektive bereits genügend Diskussionsstoff enthalten. Hinzu kommen die in den Arbeitsheften üblichen "Anregungen", die z.T. bewußt über die behandelten Themen hinausgehen, wobei allerdings die Grundlagen für solche Erweiterungen hinreichend vermittelt sind.

VI Vom behandelten Stoff her ist das Bändchen vorwiegend romanistisch orientiert, und hier wird Frankreich besonders Rechnung getragen. Doch erwiesen sich einige Exkurse in die germanistische, vor allem die niederländische und Schweizer Dialektologie aus stofflichen oder wissenschaftsgeschichtlichen GrUnden als notwendig. Jedem Kapitel ist eine Auswahlbibliographie beigegeben, deren Titel, soweit sie in Kurzform erscheinen, in der allgemeinen Bibliographie am Ende des Bändchens vollständig aufgeführt sind. Diese allgemeine Bibliographie enthält nur solche Titel, die für mehrere der behandelten Aspekte herangezogen werden können. Für die Anfertigung der beigegebenen Karten danke ich Herrn Norbert Weinhold. Augsburg, Oktober 1975

Lothar Wolf

VII

INHALTSVERZEICHNIS

1. 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.4 1.5 2.

Dialekt und Dialektologie

1

Methodologische Vorbemerkungen Der Definitionsversuch von Klaus Heger Die linguistische Hierarchie Das metasprachliche Kriterium der Norm Zur soziolinguistischen Perspektive Ein praktisches Beispiel: Die Situation im Französischen Dialekte und geographische Varianten der Koiné Dialektologie

1 2 2 4 5 7 11 16

Vergleichende historische Sprachwissenschaft

2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.5 2.5.1 2.5.2 3.

und Dialektologie

19

Zur Vorgeschichte der Dialektologie Zur Begründung der indogermanischen und romanischen Sprachwissenschaft. Bopp und Diez Die Anfänge der Dialektologie als Wissenschaft Zur Materialbasis Die ersten Interpretationen: J. Schmeller und 6.1. Ascoli Zur Diskussion über Dialekte und Dialektgrenzen Der Einfluss der Naturwissenschaften Zur Relativierung der Lautgesetze durch die Dialektologie Soziolinguistische Aspekte Der sprachgeographische Aspekt

19

Die Sprachgeographie 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.2.3 3.2.2.4

;

Zur Definition . Sprachgeographische Materialsammlungen Zur Charakteristik von Sprachatlanten Die Sprachatlanten der Romania. Überblick Galloromania Italien, SQdschweiz, Korsika Iberoromania Rumänisches Sprachgebiet

2 1 23 23 24 29 32 33 33 35 38 38 38 39 5 1 51 54 54 54

VIII 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 4. 4. 1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.2.1 4.2.2.2 5.

Anfänge und Entwicklung der sprachgeographischen Methode Jules GilliSron Jakob Jud und Karl Jaberg Sprachgeographische Normen

56 56 62 64

Strukturelle Dialektologie

70

Von de Saussure zu Trubetzkoj Systembegriff und Sprachgeographie Zur Problematik Das Diasystem Die Entwicklung der Theorie Praktische Anwendung des Diasystems

70 7 1 71 71 71 76

Generative Transformationsgrammatik und Dialektologie 5.1 5.2

6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2

VERZEICHNIS

79

Zur Abgrenzung gegenüber dem Strukturalismu s Generative Transformationsgrammatik und Sprachgeographie

79

Dialektologie und Soziolinguistik

84

Zur Aufgabenstellung und Abgrenzung Sprachsoziologische Aspekte einer Sprachgemeinschaft Soziolinguistische Aspekte einer Koin& Der Sprachatlas als Dokument Der soziolinguistische Standort der Gewährspersonen Force d'intercourse und Esprit de clocher ..

84

87 89

Allgemeine Bibliographie

92

DER

KARTEN

DIE SPRACHLICHE GLIEDERUNG FRANKREICHS DAS FRANK0PR0VENZAL ISCHE SPRACHGEBIET CHAMP GRADIENT DE LA GASCONITE ZUR VERBREITUNG VON ERHALTENEM K VOR A IN DER NORMANDIE DIE REGIONALATLANTEN DES NOUVEL ATLAS LINGUISTIQUE DE LA FRANCE DIE ATLANTEN DES NOUL ATLAS LINGVISTIC ROMAN PE REGIUNI "SCIER" DANS LA GAULE ROMANE DU SUD ET DE L'EST .... DIE BEZEICHNUNGEN FÜR "BIENE" IN DER GALLOROMANIA... DIE BEZEICHNUNGEN FÜR "HAHN" IN SW-FRANKREICH DIE BEZEICHNUNGEN FÜR "STUTE" IN DER ROMANIA

10 28 3 1 34 52 55 58 59 61 66

79

84 86 87

1

1.

DIALEKT UND DIALEKTOLOGIE

1.1

Methodologische Vorbemerkungen

Normalerweise glauben wir zu wissen, was ein "Dialekt" und was eine "Sprache" ist. Aber wenn wir nach den Kriterien fragen, warum wir ein Ausdruckssystem als "Dialekt" und ein anderes als "Sprache" bezeichnen, zeigt sich schnell die ganze Problematik dieser Unterscheidung. Intuitive Kriterien für die Einstufung als "Dialekt" sind z.B. das Fehlen von Literatur oder das Fehlen einer schriftlichen Fixierung schlechthin, ganz zu schweigen von einer verbindlichen Orthographie oder normativen Grammatik im allgemeinen; ferner die Bedeutungslosigkeit für den nationalen oder gar internationalen Sprachverkehr. Doch erfüllt z.B. eine Indianersprache Kriterien dieser Art und wird trotzdem als "Sprache" eingestuft. Ähnliches gilt für das Sardische, und doch fehlt es nie in der üblichen Aufzählung der romanischen Sprachen. Das Rätoromanische ist vierte National-"Sprache" der Schweiz, obwohl fünf verschiedene Schulgrammatiken nötig sind, um mit dem Unterricht der in sich so verschiedenen "Sprache" in den einzelnen Gegenden beginnen zu können. Auch das Niederdeutsche wird neben dem Niederländischen und dem Hochdeutschen in der Regel als "Sprache" aufgezählt, obwohl es eher die für einen "Dialekt" genannten Kriterien erfüllt. Dasselbe gilt heute für das Okzitanische, die einstige Sprache der Troubadours. Ist das Schweizerdeutsche nach diesen Kriterien eine "Sprache" oder ein "Dialekt"? Immerhin hat es offiziellen Charakter im Schweizer Militärwesen, vor allem in der Spionageabwehr. Hinzu kommt, daß der Sprecher, der sogenannte "native Speaker", über die Einstufung seines Ausdruckssystems in bezug auf ein anderes Ausdruckssystem oft ganz anderer Ansicht sein wird als der Linguist, der dem Sprachbewußtsein des Sprechers nur im Rahmen soziolinguistischer Überlegungen Rechnung trägt.

2

Wir können somit zwar feststellen, was wo und von wem als "Dialekt" oder "Sprache" eingestuft wird, aber die Beispiele zeigen bereits, daß die intuitiven Kriterien sowohl im einen wie im anderen Falle zutreffen können. Aus dieser Situation heraus ergibt sich die Notwendigkeit, einen Kriterienkatalog aufzustellen, der es erlaubt, die einzelnen Systeme oder Subsysteme zu klassifizieren und damit voneinander abzugrenzen. Es ist dann eine weitere Frage, ob bestimmte Kombinationen von Kriterien als "Sprache" oder "Dialekt" bezeichnet werden sollen. Diesen Weg schlägt Klaus Heger ein, der mit dem 1969 erschienenen Aufsatz " 'Sprache' und 'Dialekt' als linguistisches und soziolinguistisches Problem " im Anschluß an Einar Haugen den bisher wohl konsistentesten Definitionsversuch vorgelegt hat (§ 1.2). Die von Heger verwendeten Kriterien werden im Anschluß (§ 1.3, 1.4) für eine präzisere Definition dessen, was in den einzelnen Sprachen als Dialekt bezeichnet wird, herangezogen. Und schließlich wird zu fragen sein, ob und in welcher Weise "Dialektologie" als Disziplin mit dem Studium von "Dialekten" gleichzusetzen ist (§ 1.5). 1.2

Der Definitionsversuch von Klaus Heger

1.2.1 Die linguistische Hierarchie Die oben für die Einstufung als "Dialekt" genannten intuitiven Kriterien sind keine linguistischen. Doch ist es in der Sprachwissenschaft nur recht und billig, zunächst von linguistischen Kriterien auszugehen. Dazu greift Heger auf die linguistische Hierarchie fortschreitender Abstraktion zurück, die vom einzelnen Sprecher bis z.B. zum indogermanischen Sprachtypus reicht. Bedingt durch den Forschungsstand beruht diese Hierarchie auf historisch-genealogischen Kriterien und setzt somit voraus, daß sie durch eine typologische Beschreibung bestätigt werden kann: So gilt z.B.: G F E D C B A

= Indogermanisch = Romanisch = Galloromanisch = Okzltanisch = Provenzalisch = Stadtdialekt von Marseille = S p r e c h e r in M a r s e i l l e

3 Der Begriff des Idiolekts (A), dessen lange Undefiniertheit letzten Endes für den jahrelangen Streit zwischen Dialektologen und Strukturalisten verantwortlich ist, muß allerdings weiter unterteilt werden. Ein Sprecher kann sich je nach Situation auf verschiedenen Sprachebenen, ja sogar in verschiedenen Sprachen ausdrücken. Das Individuum ist somit kein Garant für sprachliche Homogenität. Diese erhält Heger nur durch die zeitliche Eingrenzung auf den

m o m e n t a n e n

individuellen Sprechakt, denn

"schon bei zwei zeitlich auseinanderliegenden parole-Akten ein und desselben Sprechers und erst recht bei den paro Z-e-Akten verschiedener Sprecher kann die Zuordnung eines entsprechenden Systems eine Normalisierung aus verschiedenen Subsystemen implizieren". (S. 49). In diesem Falle handelt es sich nicht mehr um ein homogenes, sondern um ein heterogenes System, das der Klarheit wegen im folgenden als Diasystem bezeichnet wird. Es besteht in seiner einfachsten Form aus den Gemeinsamkeiten und Divergenzen zwischen zwei oder mehreren idiolektalen Systemen. Diasysteme höherer Rangstufe beruhen ihrerseits dann auf der Zusammenfassung von Diasystemen, die ihnen im Sinne der genannten linguistischen Hierarchie untergeordnet sind. Für die gestellte Frage heißt dies, daß bei "Sprache" und "Dialekt" auf jeden Fall Diasysteme vorliegen. Das ist ein erstes Wesensmerkmal, das freilich nichts über das Verhältnis zwischen Diasystemen aussagt. Dieses kann nun so festgelegt werden, daß ein als "Dialekt" bezeichnetes Diasystem einem als "Sprache" bezeichneten Diasystem direkt hierarchisch untergeordnet ist. Zwei "Dialekte" ein und derselben "Sprache" liegen somit nur dann vor, wenn sie diese Bedingung erfüllen und damit auf der gleichen Rangstufe stehen. Damit bleibt allerdings die Frage nach derjenigen Rangstufe noch unbeantwortet, auf der z.B. in der obigen Hierarchie, die vom Sprecher in Marseille bis zum Indogermanischen reicht, von einem "Dialekt" und von einer "Sprache" die Rede sein soll. Notwendig ist vor allem die Abgrenzung von der "Sprachgruppe" oder dem "Sprachtypus". Hierauf kann das Diasystem keine Antwort mehr geben.

4

1.2.2 Das metasprachliche Kriterium der Norm Zur Beantwortung der Frage nach der Abgrenzung von "Dialekt" und "Sprache" einerseits und von "Sprache" und "Sprachgruppe" andererseits führt Heger den Normbegriff ein. Er definiert dabei Norm - in Abweichung von anderen Definitionen, z.B. bei E. Coseriu - als "dasjenige metasprachliche Urteilsvermögen das es der Gesamtheit der Benutzer eines Diasystems - der betreffenden 'Sprachgemeinschaft' - ermöglicht, übereinstimmende Aussagen über die allgemein - d.h. innerhalb dieser 'Sprachgemeinschaft' allgemein - gültige Verbindlichkeit einzelner Phänomene des betreffenden Diasystems und seiner Aktualisierungsmodalitäten zu machen und daraus Urteile über die Akzeptabilität oder Nicht-Akzeptabilität einzelner Aktualisierungen (parole-Akte) abzuleiten" (S. 54f.). Diese Definition von Norm umfaßt eine Skala, die von der mehr oder weniger bewußten Norm bis zu der in der normativen Grammatik fixierten Norm der Schriftsprachen reicht. Der Platz auf der Skala wird unter anderem durch unterschiedlich hohes Normbewußtsein und unterschiedlich große Verbindlichkeit bestimmt. Wichtig ist dabei für den Fall der normativen Grammatik, daß sie mit dem betreffenden Diasystem und seinen Aktualisierungsmodalitäten, d.h. mit dem jeweils aktuellen Sprachgebrauch, auf den sie sich bezieht, auch tatsächlich übereinstimmt . Im Gegensatz zu solchen fixierten Normen ist der praktische Nachweis unfixierter Normen ungleich schwieriger, aber mit Hilfe einer linguistischen und soziolinguistischen Analyse nach Heger im Prinzip möglich. So kann z.B. keine gemeinsame Norm für zwei typologisch eng verwandte Diasysteme vorliegen, wenn zwischen ihren Sprechern keinerlei Kontakt besteht. Das Kriterium der Norm wird in der linguistischen Hierarchie also dort nicht mehr anzutreffen sein, wo es "weder ein 'Sprachbewußtsein' noch eine 'Sprachgemeinschaft' gibt, die eine solche Norm tragen könnten" (S. 58). Damit erscheint es zweckmässig, dasjenige Diasystem als "Sprache" zu klassifizieren, das die höchste Rangstufe mit Norm repräsentiert. Die darüber stehenden Diasysteme sind Sprachgruppen, die darunter stehenden sind Dialekte, mit Ausnahme des Idiölekts. "Sprachgruppe" kann somit definiert werden als Diasystem

5

ohne Norm, "Sprache" als ranghöchstes Diasystem mit Norm und "Dialekt" als Diasystem mit oder ohne Norm. Die bisherigen Definitionen würden aber nun z.B. dazu führen, daß das Frankoprovenzalische und ebenso auch das unter ihm stehende Walliser Frankoprovenzalisch als Sprachgruppen einzustufen wären, da eine Norm erst anzutreffen ist z.B. beim Diasystem des Val d'Heremence, das demzufolge als Sprache eingestuft würde. Das ist als Lösung unbefriedigend, und Heger erweitert die Bestimmungen entsprechend, indem er festlegt, "daß als Sprache eingestuft werden soll nicht nur (1) das ranghöchste Diasystem mit Norm, sondern auch (2) das einer gemäß (1) als solcher definierten Sprache ranggleiche Diasystem ohne Norm, sofern es derselben Sprachgruppe wie diese Sprache untergeordnet ist und sofern ihm selbst kein Diasystem mit fixierter Norm untergeordnet ist; überall dort, wo Kriterium (2) zur Anwendung kommen kann, hat es Vorrang vor Kriterium (1)." Demnach kann in dem obigen Beispiel "das Diasystem des Val d'Heremence als Dialekt mit Norm" eingestuft werden, "das Walliser Frankoprovenzalisch als (Ober-)dialekt ohne Norm und erst das Frankoprovenzalische als dem Französischen ranggleiche Sprache." (S. 60). 1.2.3 Zur soziolinguistischen Perspektive Heger hat nun mit dem linguistischen Kriterium "System" und dem metasprachlichen Kriterium "Norm" die gewünschten Definitionen erhalten. Eingangs wurde jedoch klar, daß "Dialekt" in der Regel mit wertenden und zwar meist negativ wertenden Kriterien assoziiert wird. Diese Kriterien betreffen den Verkehrswert und das Prestige eines Diasystems, sind also soziolinguistische Kriterier So ist es nur recht und billig, auch die soziolinguistischen Verhältnisse näher zu betrachten und durch ihren Vergleich mit den linguistischen Verhältnissen diese zu relativieren. Das Verhältnis zwischen der linguistischen Hierarchie und einer soziolinguistischen Hierarchie, deren Aufstellung Heger trotz der damit verbundenen Problematik prinzipiell für möglich hält, kann sein: (a) ein Verhältnis völliger Kongruenz: Das Andalusische ist dem Spanischen linguistisch und soziolinguistisch untergeordnet, ebenso das els&ssische Französisch dem

6 Französischen. (b)

ein Verhältnis umgekehrter Kongruenz. Es besteht z.B. zwischen dem Alemannischen der Schweiz und dem Gemeinalemannischen .

(c)

ein Verhältnis begrenzter Inkongruenz: Das Walliser Frankoprovenzalisch (A) ist linguistisch dem Frankoprovenzalischen (Bl) und soziolinguistisch dem Französischen (B2) untergeordnet, wobei Bl und B2 dem gemeinsamen Diasystem des Galloromanischen (C) direkt untergeordnet sind.

(d) ein Verhältnis totaler Inkongruenz. Es liegt dann vor, wenn das gemeinsame Diasystem C in dem sub (c) gegebenen Beispiel fehlt. B = bretonisch F = französisch

B /

A = bretonisch von Quimper

/

Mit den beiden aufgestellten Hierarchien haben wir gleichzeitig auch die notwendigen Kriterien, um nunmehr definieren zu können, was im üblichen Sprachgebrauch als Dialekt bezeichnet wird, und können damit auch die eingangs angeschnittene semantische Frage beantworten. Dabei ergibt sich selbstredend, daß die von Heger getroffene Definition für "Dialekt" nicht zwangsläufig übereinstimmen muß mit der üblichen Verwendung der Ausdrücke Dialekt, dialeate,

dialeoto, dialetto etc. Wohl aber können die von ihm

aufgestellten Kriterien generell angewandt werden. Zur Illustration werfen wir dazu einen Blick auf die Situation im Französischen.

7

1.3

Ein praktisches Beispiels Die Situation im Französischen

Da eine linguistische Beschreibung der heutigen Sprachformen nicht vorliegt, wählen wir den historischen Zugang, um die für das Französische als langue und dialecte bezeichneten Sprachformen zu klassifizieren. Das Französische als Sprachtypus besteht nach Ausweis der mittelalterlichen Überlieferung aus mehreren regionalen Sprachformen wie dem Normannischen, Pikardischen, Franzischen oder Burgundischen. Die sprachliche Uneinheitlichkeit erklärt sich aus der territorialen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Nordfrankreichs, die durch einen mehr oder weniger ausgeprägten Partikularismus charakterisiert ist. Diese Situation kann selbstverständlich einem intensiveren überregionalen Sprachverkehr und damit einer gegenseitigen sprachlichen Angleichung nicht besonders förderlich sein. De Saussure würde sagen, dies sei die Zeit der "force de clocher", die nur einen regional begrenzten intensiven Sprachverkehr erlaubt und eine überregionale "force d'intercourse" sich nur ungleich schwächer entfalten läßt. Diese Verhältnisse bedingen - im Sinne der obigen (§ 1.2.3) Ausführungen - auch eine soziolinguistische Gleichstellung der verschiedenen regionalen Diasysteme, die in der linguistischen Hierarchie auf einer Rangstufe stehen. Es liegen für die Frühzeit keine Zeugnisse dafür vor, daß eine regionale Sprachgemeinschaft einer anderen höheres Sprachprestige zugestanden hätte als sich selbst. Ein Zentrum, dessen Sprache als nachahmenswert erschien, gab es noch nicht. Hand in Hand mit der politischen Zentralisierung schiebt sich jedoch allmählich das Franzische, die Sprachform von Paris und der Ile-de-France, in den Vordergrund und gewinnt immer mehr Ansehen. Auch die geographische Lage begünstigt diese Entwicklung des Franzischen zur französischen Nationalsprache. Für die anderen regionalen Sprachformen bedeutet das einen zunehmenden Prestigeverlust, und sie werden zu dem, was wir heute im Französischen als dialeote bezeichnen. Daran ändern auch positiv zu wertende Erscheinungen, wie sie z.B. in der Mundartliteratur vorliegen, nur sehr wenig. Graphisch sieht das so aus:

8

Als Dialekte werden hier somit Sprachformen bezeichnet, die im Sinne der oben (§ 1) dargelegten Hierarchien linguistisch einer sogenannten Sprache gleichgestellt, ihr aber soziolinguistisch untergeordnet sind. (Bei Heger ist "Dialekt" einer "Sprache" auch in der linguistischen Hierarchie direkt untergeordnet). Das soziolinguistische Kriterium verdient nun noch nähere Betrachtung. Wie bereits erwähnt, stehen in Frankreich politische Kräfte hinter der geschilderten Entwicklung. Das literarische Ansehen einer Gegend, das z.B. in Italien entscheidend dafür war, daß das Toskanische zur italienischen Nationalsprache avancierte, dieses literarische Ansehen spielt in Frankreich keine Rolle. Die Ile-de-France ist im Gegensatz zu anderen Landschaften literarisch lange Zeit ohne größere Bedeutung. So hat im 13. Jh. z.B. die Pikardie eine literarische Führungsposition, und dennoch ist der pikardische Dichter Conon de Béthune einer der ersten, deren provinzielle Ausdrucksweise am Hofe getadelt wird s La r o ï n e ne f i s t p a s que c o r t o i s e Q u i m e r e p r i s t , e l e et s e s f i u s Ii r o i s . E n c o r ne s o i t ma p a r o l e f r a n ç o i s e , Si la p u e t o n b i e n e n t e n d r e e n f r a n ç o i s . C i l ne s o n t p a s b i e n a p r i s ne c o r t o i s Q u i m ' o n t r e p r i s , se j'ai dit m o t d ' A r t o i s C a r je ne f u i p a s n o u r i z a P o n t o i s e . 1

zit.

nach

J.-P.

Caput,

La

langue

française

I, P a r i s

1972,S.48.

9 Der Dichter beklagt sich noch über diese Anfänge der Diffamierung und wirft der Königin ünhöflichkeit vor, während andere regionale Autoren bereits beginnen, sich sprachlich an Paris zu orientieren und damit dessen Hegemonie anzuerkennen. Diese Entwicklung findet erst im 20. Jahrhundert ihren Abschluß durch den Ersatz der oben definierten Dialekte durch die französische Allgemeinsprache. Spätestens mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im Laufe des 19. Jahrhunderts wird im dialektalen Milieu allmählich die mehr oder weniger aktive Beherrschung zweier Ausdruckssysteme zur Regel. Selbst in konservativen Gegenden Frankreichs ist die ältere lebende Generation die letzte, die den Dialekt

(als Milieusprache, als Ausdrucksform im intimen

Freundeskreis) noch verwendet. Mutatis mutandis gilt diese Entwicklung zu einem weitgehenden Vitalitäts- und Prestigeverlust auch für die anderen Idiome, deren Gebiet im Laufe der Geschichte dem französischen Territorium angegliedert wird. Ronsard z.B. spricht dies deutlich aus, wenn er schreibt: Aujourd'hui, parce que notre France n'obéit qu'à un seul roy, nous sommes contraints, si nous voulons parvenir â quelques honneurs, de parler son langage; autrement notre labeur, tant fût-il honorable et parfait, serait estimé peu de chose, ou peut-être totalement méprisé. Onomasiologisch spiegelt sich diese parallele soziolinguistische Entwicklung von französischen Dialekten und nichtfranzösischen Idiomen in Frankreich in der Opposition français

- patois wider.

Mit patois bezeichnet der Franzose alles, was nicht zur französischen Koiné gehört und ihr vom Prestige her untergeordnet ist. Der Bauer im Massif Central bezeichnet damit sein Okzitanisch, der elsäfiische Schüler seinen alemannischen Dialekt und der Winzer im Gebiet des Vouvray seinen bodenständigen Dialekt. Der Ausdruck patoia

enthält somit keine linguistische, sondern nur

eine soziolinguistische Aussage. Im Gegensatz zu dieser allgemeinsprachlichen Verwendung des Ausdrucks finden sich in der lin2

zit. nach Ch. Camproux, Histoire de la littérature occitane, Paris 1953, S. 88 f.

Die S-PRACHLICHE

GLIE^ERUWG

FRANKtREiCHS

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kersiseh (¿¿a/itnischer

"net et/ttntihnisety 3> , dans les circonstances of-

ficielles, s'efforce d'atteindre à un langage plus académique: il y réussit assez bien, actuellement, pour le vocabulaire, mais

14

n'elimine que tres imparfaitement les substrats phonétiques et les calques syntactiques, car il n'en a qu'une conscience vague".5 Ähnlich äußert sich F. Heussler Ober die Mundartsprecher, die sich die Schriftsprache als Vorbild nehmen: "Sie schämen sich ihrer eigenen Sprache, wenn sie mit einem 'Herrn aus der Stadt' reden, und drücken sich möglichst gewählt aus, in einem patoia endimanohé".6 Der Sprecher versucht, regionale Eigenheiten seiner Ausdrucksweise zugunsten einer überregionalen Sprachform zu vermeiden. Bei seinen Korrekturen ist jedoch zu unterscheiden zwischen Eigenheiten, die durch eine linguistische Beschreibung verifiziert werden können, und solchen regionalen Besonderheiten, die nur im SprachbéwuBtsein des Sprechers existieren. So werden z.B. in der Champagne und der Brie Formen wie luizerne, tvaperaer oder alairté weithin als "tout á fait cor7 recte"

angesehen, wogegen die schriftsprachlichen Entsprechun-

gen luzerne, travereer und olarté als Patoisformen eingestuft

werden. Ein Beispiel für den genannten "patois endimanché" aber ist die Form ft [ruao] "ruisseau" einer Gewährsperson in der liede-France. Die zu erwartende Mundartform wäre [r«ayo], doch in Unkenntnis der schriftsprachlichen Form korrigiert der Informator nur die Endung [-¡/o] aus -ellus, deren Entsprechung in der Koiné ihm aufgrund zahlreicher Wortpaare bekannt ist. Aus der oben beschriebenen Haltung des Sprechers heraus erklären sich auch hyperkorrekte Formen, die ebenso wie die normalen Korrekturen als direkte sprachliche Auswirkung jenes Bestrebens anzusehen sind, sich einer bestimmten, als vorbildlich erachteten Sprachform anzupassen und sich von einer weniger geachteten Ausdrucksweise zu distanzieren. So bezeugt z.B. mfr. rairon für raison, daß der Sprecher die als "vulgär" eingestufte Entwicklung r > 8 vermeiden will, ohne sich dabei bewußt zu sein, daß er eine 5

J. Séguy, op. cit., S. lo.

6

F. Heussler, op. cit., S. 25.

7

Vgl. Henri Bourcelot, Atlas lingulstique et ethnographique de la Champagne et de la Brie, cartes no. 212, 326.

8

Mitteilung von M.-R. Simoni-Aurembou.

15 Form korrigiert, die mit dieser Entwicklung nichts zu tun hat (vgl. dazu die nfr. Dublette chaire-chaise). Auf geographischer Ebene sind solche Erscheinungen seit dem Beginn regionaler Schreibtradition geläufig. Wenn z.B. ein gaskognischer Schreiber eine französische Urkunde auszustellen hatte, suchte er sogenannte Gaskognismen zu vermeiden. Da nun z.B. anlautendes r- im Gaskognischen einen Vokalvorschlag erhält und zu arr- wird, kann es vorkommen, daß der Schreiber auch französische Wörter mit anlautendem arr- wie arracher und arrivée als regional einstuft 9 und in racher bzw. r%bèe hyperkorrekte Formen schafft. Wenn Paris oben als sprachlicher Orientierungspunkt herausgestellt wurde, so bedeutet dies, daß die Ausdrucksweise der sog. gebildeten Kreise, vor allem der Hauptstadt, als Modell und damit als Grundlage für die normative Grammatik im allgemeinen akzeptiert wird. Im Prinzip ist also das Regionalfranzösische durch ein untergeordnetes Sprachprestige gegenüber dem kodifizierten Sprachgebrauch gekennzeichnet und damit innerhalb der Koiné für unsere Zwecke hinreichend definiert. Die Frage nach der häufig angenommenen Übereinstimmung zwischen kodifiziertem und tatsächlichem Sprachgebrauch soll hier nicht angeschnitten werden. Dasselbe gilt für die oft sehr enge Beziehung zwischen français regional und français populaire, wobei letzteres auf regionaler Ebene oft zur normalen Ausdrucksweise wird. Die linguistische Hierarchie kann wie folgt dargestellt werden:

9

K. B a l d i n g e r ,

op. cit.,

S.

67.

16

Die soziolinguistische Hierarchie (nach dem Sprachprestige) dagegen sieht anders aus:

1.5

Dialektologie

Die besprochenen Definitionen von "Dialekt" können nun offensichtlich nicht als motivierende Grundlage für eine Definition von "Dialektologie" verwendet werden. Es ist relativ einfach nachzuweisen, daß sich die Dialektologie z.B. bevorzugt mit "Sprachen" ohne Norm, wie dem Frankoprovenzalischen und dem Niederdeutschen, oder mit Diasystemen ohne fixierte Norm wie dem Regionalfranzösischen beschäftigt. Folglich ist der Gegenstand der Dialektologie auch nicht auf diejenigen Diasysteme begrenzt, die z.B. im Französischen als dialeate bezeichnet werden. Das spanische dialeoto, das auch die regionale Variation der Koin& mit einschließt, käme dafür schon eher in Frage. Hinzu kommt, daß sich z.B. die romanistische Dialektologie spätestens seit 1880 nicht nur mit geographisch definierten Diasystemen beschäftigt, sondern ebenso mit Gruppensprachen innerhalb einer Gemeinde, einer Stadt, ja sogar mit sprachlichen Unterschieden innerhalb einer Familie. Diese Richtung hat inzwischen unter dem Namen 'Soziolinguistik' verstärkte Beachtung gefunden und sucht ihre theoretischen und praktischen Aufgaben zu lösen, wie es die Sprachgeographie für die geographisch definierte Sprachvariation versucht. All dies zeigt, daß der Terminus Dialektologie somit synchronisch weder durch die aufgeführte Definition von "Dialekt" (bei Heger) noch durch andere Definitionen und Verwendungsweisen des Wortes Dialekt vollständig motivierbar ist.

17 Nun ist auch aus der Geschichte der Dialektologie ihr Selbstverständnis ersichtlich und ebenso die Aufgabe, die sie sich gestellt hat. Diese besteht einerseits darin, die sprachliche Variation zu sammeln, zu beschreiben und zu erklären, und andererseits darin, für diese Aufgabe das notwendige technische und methodologische Instrumentarium zu entwickeln. - "Dialektologie" kann somit definiert werden als die Beschäftigung mit der Sprachvariation innerhalb eines Diasystems. Dabei ist die höchste Rangstufe für ein solches Diasystem erfahrungsgemäß diejenige, auf der - in der Hierarchie K. Hegers (oben § 1.2.2) - die "Sprachen" zu finden sind. Literaturhinweise zu 1.1 und 1.2: Manuel Alvar, Hacia los conceptos de lengua, dialecto y habla, in: Nueva Revista de Filologia Hispánica 15, 1961, S. 51 - 6o. Einar Haugen, Dialect, Language, Nation, in: American Anthropologist 68, 1966, S. 922 - 935. Klaus Heger, "Sprache" und "Dialekt" als linguistisches und soziolinguistisches Problem, in: Folia linguistica 3, 1969, S. 46 - 67. Gustav Ineichen, Condizionamenti sociologici nell'uso della lingua, in: Parole e Metodi 4, 1972, S. 165 174. André Martinet, Dialect, in: Romance Philology 8, 1954 55, S. 1 - 11. V&cl&v Pol&k, Contributions i l'étude de la notion de langue et de dialecte,in: Orbis 3, 1954, S. 89 - 98. zu 1.3 und 1.4: Dieter BShr, Standard English und seine geographischen Varianten, München 1974 (UTB 160). Kurt Baldinger, Die hyperkorrekten Formen als Konsequenz der scripta im Altgaskognischen, in: Romanica - Festschrift für Gerhard Rohlfs,'Halle (Saale) 1958, S. 57 75. August Brun, Parlers régionaux, France dialectale et unité française, Paris (Didier) 1946. Ders., Le français de Marseille, Marseille 1931. Fritz Heussler, Hyperkorrekte Sprachformen in den Mundarten der franzfisischen Schweiz und in anderen Sprachgebieten, Paris/ Zürich-Leipzig 1939 (Romanica Helvetica 11) .

18 Paul Kretschmer, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache, Göttingen 1969. Bertil Halmberg, La América hispanohablante Unidad e diferenciación del castellano, Madrid 1966 (Collecci&n Fundamentos 3) . Angel Rosenblatt, El castellano de España y el castellano de América, Unidad e diferenciación, Madrid 1970 (Cuadernos Taurus 94). Charles Rostaing, Le français de Marseille dans la trilogie de Marcel Pagnol, in: Le français moderne 10, 1942, S. 29 - 44, 117 - 131. 2 Jean Séguy, Le français parlé á Toulouse, Toulouse 1951. Auguste Viatte, La francophonie, Paris 1969. Anregungen Analyse der Definitionen und Verwendungsbeispiele von dialecte und langue in einsprachigen Wörterbüchern (mit historischem Exkurs). Erörterung von Kriterien für eine soziolinguistische Hierarchie der Diasysteme (vgl. dazu G. Ineichen, op. cit.). Diskussion der Definitionen von patois in den französischen Wörterbüchern und Vergleich mit allgemeinsprachlicher und fachsprachlicher Verwendung des Terminus. Erklärung regionaler Ausdrucksweisen, Marcel Pagnol):

(z.B. aus Marseille,

ce chapeau est mien les animaux ont sa tactique espère que tu espères prends-toi garde de ne pas tomber Illustration und Verhältnisses zwischen français régional und français populaire (z.B. anhand der angegebenen Publikationen zum Marseiller Französisch).

19

2.

VERGLEICHENDE HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT UND DIALEKTOLOGIE

2.1

Zur Vorgeschichte der Dialektologie

Dialektologie als Wissenschaft ist eine Disziplin, deren Entstehung sich aus der sprachwissenschaftlichen Diskussion des 19. Jahrhunderts erklärt. Das Interesse an den Dialekten ist jedoch viel älter. In Frankreich z.B. spielen die Dialekte zur Zeit der Renaissance wieder eine Rolle, nachdem sie im Konkurrenzkampf um die Sprache der Nation dem Franzischen unterlegen waren. Jetzt werden sie wieder herangezogen, um die französische Sprache zu bereichern und diese - nach damaligem Sprachverständnis - damit dem Latein und dem Italienischen gleichwertig an die Seite zu stellen. So ermuntert Ronsard z.B. in seinem „Abrégé de l'art poétique françois" den Schriftsteller, sich des dialektalen Wortschatzes zu bedienen: "Tu sçauras dextrement choisir et approprier à ton oeuvre les vocables plus significatifs des dialectes de notre France, quand ceux de ta nation ne seront assez propres ni signifians, ne se faut soucier, s'ils sont gascons, poitevins, normans, manceaux, lionnois ou d'autres pays, pourveu qu'ils soyent bons, et que proprement ils expriment ce que tu veux dire". Dazu kommt der von der Renaissance getragene individuelle Freiheitsgedanke, der solcher Ermunterung auf dem sprachlichen Sektor nicht bedarf. Wir denken nur an den lexikalischen Karneval eines Rabelais, dessen Werk genUgend sprachliche Beispiele für fast alle Gegenden Frankreichs enthält, oder an Montaigne, der seine Auffassung in dem bekannten Ausruf formuliert "que le gascon y arrive, si le françois n'y peut aller". 1

Ed. Laumonier,

t.16,

Paris

1949,

S.

10

£.

20 Das 17. und 18. Jahrhundert stehen unter dem Zeichen der Ausbreitung der Schriftsprache. Wichtige Dokumente wie z.B. die früh aufgezeichneten Coutumes, die im Dialekt oder mit regionalsprachlichen Eigenheiten abgefasst sind, werden kommentiert und glossiert. So z.B. ein Vocabulaire austrasien, "pour servir à l'intelligence des preuves de l'histoire de Metz, des lois et atours de la ville, des chartes, titres et autres monuments du moyen âge, écrits en langue romance tant dans le pays messin que dans les provinces voisines", Metz 1773. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts versucht die Revolution, den Dialekten den Todesstoss zu versetzen. In ihrem Verständnis waren die Dialekte Uberreste des mittelalterlichen Feudalsystems und ein sprachliches Hindernis für die Verbreitung revolutionären Gedankengutes und damit ein Stein des Anstosses für den nationalen Einheitsgedanken. Das findet seinen Ausdruck in dem berühmten "Rapport sur la nécessité de détruire les patois" des Abbé Grégoire von 1794, dem 1790 eine Enquête vorausging, die zu folgendem enttäuschenden Ergebnis kam: "Au moins 6 millions de français, surtout dans les campagnes, ignorent la langue nationale; un nombre égal est à peu près incapable de soutenir une conversation suivie; en dernier résultat, le nombre de ceux qui la parlent purement n'excède pas trois millions; et, probablement, le nombre de ceux qui l'écrivent correctement est encore moindre".

2

Diese negative Haltung schlägt um in ein ausgeprägtes positives Interesse an den Dialekten im Zuge der Romantik mit ihrer Hinwendung zum Volk, zum Volkstümlichen und zur Geschichte, besonders zum Mittelalter. Für die damalige Zeit sind die patois in den Worten von Charles Nodier "la langue du père, la langue du pays, la langue de la patrie". Damit beginnt für die Dialekte die Zeit der Amateure und Sammler, die zur Charakteristik einer vorwissenschaftlichen Periode gehören. 2

zit. nach A. D a u z a t , Les patois,

S. 27.

21

2.2

Zur Begründung der indogermanischen und romanischen Sprachwissenschaft. Bopp und Diez

Dieser romantischen Bewegung ist auch die entstehende historische Linguistik als Wissenschaft verpflichtet. Sie führt gegen Ende des 18. Jahrhunderts zur Entdeckung des Sanskrits und seiner Verwandschaft mit den meisten europäischen Sprachen. Damit ist die Grundlage für eine vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft geschaffen. Erster Markstein war die Arbeit von Franz Bopp aus dem Jahre 1816 über das "Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprachen". Damit haben linguistische Methoden die theologischen, metaphysischen und philosophischen Spekulationen der vorangehenden Jahrhunderte auf der Suche nach dem Ursprung und dem Wesen der Sprache abgelöst. Auf die grammaire générale des 17. und 18. Jahrhunderts, die in der Sprache, ihrem Ursprung und in ihrer Entwicklung Universalien, allgemeingültige Gesetze des menschlichen Geistes suchte und zu erkennen glaubte, folgt die vergleichende Grammatik als eine Entdeckung bei der Suche nach dem Ursprung der indogermanischen Sprachen. Diese Suche ist im Gegensatz zu früheren Lösungsversuchen entschieden positivistisch geprägt und gerät im Laufe des Jahrhunderts denn auch immer mehr unter den Einfluss der Naturwissenschaften. Metaphysische Erörterungen werden abgelöst durch das Studium der Fakten. Diese methodologische Neuorientierung ist denn wohl auch als eines der entscheidenden Kriterien dafür anzusehen, daß der Beginn der Sprachwissenschaft in jene ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts gelegt wird. Je nach Definition von Sprachwissenschaft ist dies heute natürlich anfechtbar. Aus Obereinstimmungen nicht nur im Wortschatz, sondern u.a. in der Morphologie und Wortbildung sowie in der Syntax konnte auf eine Sprachfamilie geschlossen und eine Art gemeinsame Ursprache erschlossen werden. Historische Sprachwissenschaft ist hier somit eine natürliche Implikation der vergleichenden Sprachwissenschaft, die aufgrund dieser Implikation span. muaho und engl, muoh nie gleichgesetzt hätte. Daneben konzentrierte sich das Interesse auf die Entwicklung der Einzelsprachen, die oft über einen grösseren Zeitraum gut dokumentiert vorlagen.

22

Keine von den beiden Disziplinen interessiert sich jedoch in besonderem Maße für die lebenden Mundarten. In der Indogermanistik steht noch die Frage nach der Ursprache im Hintergrund, deren Kenntnis mehr Information über die Entwicklung des menschlichen Geistes verspricht als die Beschäftigung mit der Gegenwart. Jakob Grimm, der Begründer der historischen Sprachwissenschaft in Deutschland (seine "Deutsche Grammatik" erschien 1819), stützt sich ausschliesslich auf die - wie er es nennt - "edlere Sprache der alten Schriftdenkmäler" und läßt die modernen Mundarten somit unberücksichtigt. Das gilt mit Einschränkungen auch für Friedrich Diez, der nach der historisch-vergleichenden Methode die Verwandtschaft der romanischen Sprachen und ihre gemeinsame Grundlage aufzeigt und damit die romanische Sprachwissenschaft begründet. - Seine beiden Hauptwerke sind die dreibändige "Grammatik der romanischen Sprachen" (1836 - 1844) und das "Etymologische Wörterbuch der romanischen Sprachen" (1854). Diez berücksichtigt zwar in seiner Grammatik die wichtigsten Dialekte, aber er formuliert dieses Vorgehen in einer Art Entschuldigung, wenn er sagt: "auch den wichtigeren Volksmundarten müssen wir einige Rücksicht zuwenden, wobei wir uns jedoch ganz 3 auf ihre Buchstabenverhältnisse beschränken". Hinter dieser formalen Entschuldigung, dem "müssen",kommt nichtsdestoweniger der Zwang einer Erkenntnis zum Ausdruck, die sich für die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft in logischer Konsequenz ergibt, und die heute eine Selbstverständlichkeit ist oder doch sein sollte. Hinzu kommt, daß Diez sich dabei hauptsächlich auf die schriftlich überlieferten altfranzösischen Dialekte stützt und nur selten den einen oder anderen Hinweis auf die zeitgenössische sprachliche Situation gibt. Denn zunächst ist der Blick ganz ausgerichtet auf die historischen Quellen, auf die schriftliche Uberlieferung. Alte Manuskripte zu suchen und zu edieren ist daher seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein fast selbstverständlicher Bestandteil der philologischen Laufbahn. Dieses Interesse für die Geschichte charakterisiert auch in der Sprachwissenschaft das gesamte 19. Jahrhundert und erklärt zur 3

Bd. I, Bonn

3

1 8 7 0 , S.

73.

23 Genüge das zunächst noch vorherrschende Desinteresse an der Gegenwart und an der lebenden Sprache. Wie könnte auch aus damaliger Perspektive die gegenwärtige Situation einen Aussagewert für diachronische Prozesse enthalten ? 2.3

Die Anfänge der Dialektologie als Wissenschaft

Die für die junge Sprachwissenschaft charakteristische historische Orientierung, vor allem in der Interpretation der Sprachmaterialien, sollte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht prinzipiell ändern. Die allgemeine Sprachwissenschaft bleibt bis zu de Saussure eine historische Disziplin, was für die Dialektologie nicht unbedingt zutrifft. Was sich indessen in der allgemeinen Sprachwissenschaft ändert, ist zunächst die Materialbasis und die Interpretationsmethode. Dahinter stehen als treibende Kräfte die Dialektologie einerseits und die Naturwissenschaften andererseits. 2.3.1 Zur Materialbasis Der Mundartforscher hat nur wenig schriftliche neuzeitliche Quellen zu seiner Verfügung. D.h., er ist in der Regel gerade auf das angewiesen, was der damaligen Sprachwissenschaft zur Erweiterung ihrer Grundlagen noch fehlt: die lebende Sprache und der phonetisch transkribierte akustische Eindruck. "La parole gui se prononce, est la premiere en ordre et en dignité, puisque 4 celle gui est escrite n'est que son image" sagt bereits Vaugelas im 17. Jahrhundert. Das wurde dann vergessen und bedingt nicht zuletzt die heute vorhandene Diskrepanz zwischen geschriebenem und gesprochenem Französisch. Nun, die Dialektologie war mangels anderer Quellen stets auf die lebende und gesprochene Sprache angewiesen. Die Mundartforscher taten somit das, was Vaugelas - und zwar methodologisch in heute noch vorbildlicher Weise - auch bereits getan hatte: Sie machten wie er Sprachaufnahmen. 30 Jahre lang schreibt er geduldig auf, was er bei Un4

"Remarques", 6d. Streicher, préface II, 3.

24

terhaltungen aus dem Munde der honnêtes gens zu hören bekommt, diskutiert es mit seinen Kollegen und publiziert dann seine "Remarques". Für eine solche Enquete, für diese Version der indirekten Methode (vgl. unten § 3.2.1 f.) hat heute niemand mehr Zeit. Die erste grössere Mundartaufnahme war methodologisch demgegenüber ein klarer Rückschritt. Es ist diejenige von Coquebert de Montbret aus dem Jahre 1807. Er liess auf dem Korrespondenzwege in allen Gegenden Frankreichs das Gleichnis vom verlorenen Sohn in das jeweilige Regionalidiom übersetzen. Spätere Dialektologen versandten dann Fragebogen. Doch war diese Materialsammlung - bei aller Kritik - die einzige, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Aussage über die sprachliche Gesamtsituation in Frankreich erlaubte. Sie ist nicht zu verwechseln mit der oben genannten Umfrage des Abbé Grégoire, die metasprachlich und soziolinguistisch orientiert war. In den ersten zwei Dritteln des Jahrhunderts kommen weitere Materialsammlungen auf regionaler Ebene hinzu. Nach den Glossaren zum Verständnis mundartlicher Dokumente, wie dem oben genannten Vocabulaire austrasien (§ 2.1), und den in der Nachfolge Desgrouais1 (vgl. § 1.4) besonders seit der Revolution erscheinenden Wortsammlungen, deren Autoren die provinziellen Eigenheiten zugunsten des einen vorbildlichen Sprachgebrauchs bewußt zu machen und auszumerzen suchten, wird jetzt auch eine stattliche Anzahl sogenannter Idiotika publiziert, d.h. Mundartwörterbücher wie z.B. das "Dictionnaire du patois normand" von E. und A. Dumêril (1849), das auf Flauberts Schreibtisch lag. Es handelte sich dabei meistens um Publikationen regional verbundener Sammler, die in der Regel zuverlässige Informationen gaben, aber wissenschaftlich fundierte Interpretationen der gesammelten Materialien waren von ihnen kaum zu erwarten. Die Dialektologie bedurfte anderer methodologischer Grundsteine. 2.3.2 Die ersten Interpretationens Johann Schmeller und Graziadio Isaia Ascoli Ein erster Grundstein für die Dialektologie kann theoretisch nur entweder die Entwicklung neuer eigener wissenschaftlicher Methoden oder die Übernahme der in der vergleichenden und historischen Sprachwissenschaft geschaffenen Methode sein. In diesem

25

Fall wird der zweite Weg eingeschlagen, der somit erst nach Bopp, Grimm und/oder Diez möglich ist. Grimm liegt vor Diez. So ist es nicht verwunderlich, daß die germanistische Dialektologie den Anfang macht. Die erste Beschreibung moderner Mundarten nach der historisch-vergleichenden Methode gibt Johann Schmeller mit der 2. Auflage seines Buches "Die Mundarten Bayerns grammatisch dargestellt" (München 1824). Zwar hatte er in seiner ersten Auflage von 1821 bereits festgestellt, daß die Mundarten eigenständig gesetzmässig entwickelt, d.h. keine Entstellungen der Schriftsprache sind, und damit ein lange vorhandenes Fehlurteil aufgehoben. Aber entscheidend war für ihn das Erscheinen der Grimmschen Grammatik, die seine Vermutungen "wie mit einem wunderbaren Licht erleuchtete". Auch wird der Gegensatz zwischen ihm und Grimm vom Material her besonders deutlich, wenn er sagt: "was ich aus den mannichfaltigen, vielfach versiegten oder trüben Bächen des wirklichen Volkslebens in mancherley Gauen deutscher Zunge auf die nicht bequemste Weise zusammentrug, das schöpfte er bequemer und reiner aus den schriftlichen Quellen selbst, die dem gemeinsamen Ursprung, von welchem alle diese weit zerteilten Bäche ausgegangen sind, um zehn bis fünfzehn Jahrhunderte näher liegen". Wenn Schmeller auch noch eine Inferiorität seines Materials gegenüber den Grimmschen historischen Quellen zum Ausdruck bringt, so ist doch mit ihm die Brücke geschlagen zwischen mundartlicher Gegenwart und überlieferter Vergangenheit. Die Entwicklung der Dialektologie brachte es mit sich, daß der dialektologische Brückenpfeiler seinem Gegenstück auf der anderen Seite an Bedeutung für die historische Interpretation durchaus gleichwertig sein kann. Die überlieferte Vergangenheit ist meist identisch mit der Kenntnis relativ weniger existierender Dokumente. Für den Romanisten ist das freilich oft einfacher. Er kennt die Ausgangssprache. Das Latein ist zumindest in seiner kodifizierten Form praktisch lückenlos bekannt. Das verschafft der Romanistik eine privilegierte Stellung, aus der sich eine methodologische Führungsposition entwickelt. Dieser Vorsprung ist lange gehalten worden. Ein Beispiel für die einfachere Situ5

zit. nach V.M. Schirmunski, op. cit., S. 59.

26

ation: Wenn der französische Dialektologe in Mundarten des Südostens Numeralia entdeckt wie [dövez], weiß er sofort, daß hier eine Entsprechung zu lateinisch duaa vorliegt, obwohl dies sonst im Neufranzösischen nicht belegt ist. Altfranzösisch douee ist ebenfalls nur im Südosten belegt. In anderen Disziplinen hingegen muss die Ausgangsform ungleich häufiger als in der Romanistik erst rekonstruiert werden. Was in der Germanistik seit Grimm möglich war, gilt für die Romanistik seit Diez. Den Durchbruch bringen die Arbeiten von Graziadio Isaia Ascoli (1829 - 1907). Als Autodidakt hatte er sich die in Deutschland entwickelten Methoden angeeignet. Wir können ihn daher vergleichen einerseits mit Diez, der durch die Anwendung dieser Methoden auf die romanischen Sprachen die romanische Sprachwissenschaft begründete und andererseits natürlich mit Schmeller. Der Indogermanist und Romanist Ascoli hat Ähnliches geleistet für die romanische Dialektologie. Durch ihn wird sie zu einer wissenschaftlichen Disziplin, wenn ihm diese Leistung auch bei weitem nicht so einhellig zugebilligt wird wie Diez die Begründung der romanischen Sprachwissenschaft oder Schmeller diejenige der germanistischen Dialektologie. Seit 1861 hatte Ascoli den Lehrstuhl für Orientalistik in Mailand inne, beschäftigt sich aber nebenbei auch intensiv mit der Romanistik. Für die romanische Dialektologie sind jedoch erst die siebziger Jahre entscheidend. 1873 publiziert Ascoli den ersten Band einer neuen Zeitschrift, das "Archivio glottologico italiano" (AGI). Wissenschaftsgeschichtlich bezeichnend ist die Tatsache., daß der Band Friedrich Diez gewidmet ist. Im Programm der Zeitschrift ist expressis verbis das Studium der noch lebenden italienischen Mundarten als Aufgabe genannt, "di promuovere 1'esplorazione scientifica dei dialetti italiani ancora superstiti"®, und die Aufgabe einer romanischen Dialektologie formuliert, "Scoprire, scernere e definire, a larghi ma sicuri tratti, gli idiomi e guindi i popoli, che ben soggiacquero a quella potente parola 6

AGI 1, S. XXXV.

27

[Roms], ma sempre reagendo sopra di lei con maggiore o minor forza, per guisa che ciascuno di loro la rifrangesse in diversa maniera, e rivivesse, in qualche modo, sotto spoglie romane; rifar la storia di queste nuove persone latine, esplorarne la genesi, gl'incrociamenti e le propaggini; risalir cosi dall' una parte, ai fondamenti ante-romani, e scendere, dall'altra, in sino a ricomporre e correggere la cronaca di quelle età, che possiamo ancora dir moderne; raccogliere, in questo largo e cauto lavoro, tesori infiniti per l'istoria generale del linguaggio; ecco ciò che può sin d'ora, e deve volere, la dialetto7 logia romanza in generale e l'italiana in ispecie." Inhalt des ersten Bandes sind Ascolis "Saggi ladini", die den ersten grossen Markstein in der romanischen Dialektologie darstellen. Vom Ergebnis seiner Untersuchung her wird die übernommene Methode in ihrem Wert voll bestätigt. Er weist darin erstmals eine neue romanische Sprachgruppe nach, das Ladinische wie er es nennt -, das sich über drei voneinander getrennte Gebiete erstreckt. Im Dt. sprechen wir entweder von Rätoromanisch oder Alpenromanisch mit den Untergruppen 1) Westrätisch in Graubünden, 2) Ladinisch in den Dolomitentälern und 3) Friulanisch oder Friaulisch in der Friaulischen Tiefebene, dem östlichen Teil Veneziens. - Ascolis Leistung ist um so beachtlicher, als neben dem Sprachgebiet auch sein Material sehr heterogen war. Er hat die verfügbaren Texte exzerpiert, Fragebogen verschickt und an vielen Orten selbst Aufnahmen gemacht. Das Material wird für jedes Gebiet nach den lateinischen Grundlagen geordnet. Dadurch wird in exemplarischer Weise dargestellt, was einem lateinischen Laut in welchem Gebiet entspricht. Das tut der beschreibenden und synchronischen Intention Ascolis keinen Abbruch. Der gemeinsame Nenner, die Vergleichsbasis als die unbedingte Voraussetzung für die Beschreibung eines so heterogenen Materials, wird gefunden durch die Erweiterung um den historischen Faktor. Der gemeinsame Nenner ist ein geschichtlicher. Das wird heute in der strukturellen und in der transformationeilen Dialektologie häufig nicht 7

ibid.,

s.

XXXIX—XL.

28 viel anders gemacht. Ähnlich verhält es sich mit Ascolis "Schizzi franco-provenzali". Die Einheit der frankoprovenzalischen Sprachgruppe erkannt zu haben, ist ebenfalls sein Verdienst. Seit Ascoli ist das Frankoprovenzalische ein vielbearbeitetes Gebiet der Dialektologie. Der Name gibt bereits einen Hinweis auf seine Stellung zwischen dem Französischen und dem Provenzalischen. (Heute wird es oft als ein in seiner Entwicklung stehengebliebenes Französisch gesehen) . "Chiamo franeo-provenzale"

schreibt Ascoli "un tipo idio-

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(nach G. T u a i l l o n , o p . cit.,

S.

337)

29 matico, il quale Insieme riunisce, con alcuni suoi caratteri specifici, più altri caratteri, che parte son comuni al francese, parte lo sono al provenzale, e non proviene già da una tarda confluenza di elementi diversi, ma bensi attesta la sua propria indipendenza istorica, non guari dissimile da quelle per cui fra o di loro si distinguono gli altri principi tipi neo-latini." Ascolis einziges Kriterium war die Entwicklung des lateinischen a unter dem Hauptton in offener Silbe. Dieses a ist die neutrale Basis zur Darstellung von Gemeinsamkeit und Divergenz der neu entdeckten Sprachgruppe mit dem Französischen und Provenzalischen. Es entwickelt sich wie im Provenzalischen, nach Palatal jedoch wie im Französischen: cantare: frz.

chanter

frpr.

chanta

pr.

cantar

(nach Palatal:) mercatu:

frz.

marahè

frpr.marchiò pr. mercat

2.3.3 Zur Diskussion über Dialekte und Dialektgrenzen Ascolis Untersuchung stellt nun freilich auch die schon bekannte Frage nach der Kriterienauswahl für die Bestimmung dessen, was als ein eigenes Diasystem betrachtet werden kann. Diese Frage war stets mit dem geographischen Aspekt kombiniert und entfachte einen längeren Streit über die Existenz und das Wesen von Dialektgrenzen, nachdem Hugo Schuchardt schon 1870 deutlich formuliert hatte, daß man weniger das Verbreitungsgebiet von Dialekten abgrenzen könne als dasjenige ihrer lautlichen Merkmale. Einen guten Überblick über die verschiedenen Meinungen und den Diskussionsstand gibt Louis Gauchats grundsätzlicher Artikel 9 "Gibt es Mundartgrenzen ?" sowie der 1905 in der Festschrift für Heinrich Morf ("Aus romanischen Sprachen und Literaturen") erschienene Beitrag von Ernst Tappolet "Uber die Bedeutung der Sprachgeographie". Tappolet faßt zunächst zusammen: "Was sollen wir überhaupt unter einer Dialektgrenze verstehen ? Eine Sprachgrenze wie die deutsch-französische ist definierbar. Aber eine Dialektgrenze ? ... Gewöhnlich wird man etwa folgende Antwort erhalten: eine Dialektgrenze liegt da vor, wo mehrere dialekti8

agi

9

ASNS f Bd.

III,

S.

61.

CXI.

30 sehe Eigentümlichkeiten zusammentreffen. Das hört sich ganz hübsch an. Doch soweit Uberhaupt dieses Zusammentreffen vorkommt, liegt in obiger Definition noch des Unbestimmbaren genug. 1. Sie schweigt über die erforderliche

L ä n g e

der

Grenze: wenn sich z.B. das gewünschte Zusammentreffen nur über ein paar Kilometer erstreckt, was tatsächlich öfter vorkommt, darf man dann von einer Dialektgrenze sprechen ? Offenbar entspricht eine 50 - 100 km lange Scheidelinie mehr unserem Idealbild. 2. Auch ist uns die

A n z a h l

der dialektischen Eigen-

tümlichkeiten durchaus nicht gleichgültig; lieber zehn als nur zwei. Je mehr solcher Merkmale, desto reeller der Wert unserer Dialektgrenze. 3. Welche sprachlichen Merkmale sollen bei der Annahme oder Verwerfung der Grenze ausschlaggebend sein ? Dieser Punkt ist der bestrittenste von allen. Der dialektischen Eigentümlichkeiten sind' Legionen. Einige wenige herausgreifen und sie "charakteristisch" nennen, ist das nicht ein Akt der Willkür, der von der Wissenschaft nicht gebilligt werden kann ?" (S. 391). Tappolet zeigt im Anschluß anhand inzwischen vorliegender ALF-Karten, welches verwirrende Gesamtbild die über 50 Scheidelinien von 38 Dialektmerkmalen ergeben. "Wer noch an die Möglichkeit glaubte, nach Dialekten und Unterdialekten einteilen zu können, der wird arg enttäuscht sein; wer sich andererseits etwa nach G. Paris die Sprachmasse m ä s s i g

g l e i c h -

und mit allmählichen Ubergängen über ganz Frank-

reich verteilt vorstellte, der wird ebensowenig befriedigt sein. In der Tat, keine der bestehenden Theorien wird durch dieses rein empirisch gefundene Sprachlinienbild bestätigt. Es gilt auf realer Grundlage neu aufzubauen" (S. 401). Ein ganz wesentlicher und zugleich der modernste Beitrag "auf realer Grundlage" zu diesem Thema ist die selbstredende Karte 2531 des gaskognischen Sprachatlasses

(ALG), welche die Auswertung des gesamten Materi-

als enthält, das für den Atlas gesammelt wurde. Sie ist nebenstehend in der modifizierten Form wiedergegeben, wie sie X. Ravier beim VII e Congrès international de Langue et de Littérature d'Oc et d'Etudes francoprovençales

(Montêlimar 1975)

31

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32 präsentiert hat. 2.4

Der Einfluss der Naturwissenschaften

1863 erschien August Schleichers Untersuchung "Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft". Mit Darwin geht die Naturwissenschaft dazu über, die Natur nicht mehr nur zu beschreiben, sondern ihre Phänomene wie die Erfahrungstatsache der Veränderlichkeit mit Kausalgesetzen zu erklären. Dies versucht die Sprachwissenschaft nachzuahmen, indem sie auch die Sprache als Organismus begreift, der sich entwickelt und zerfällt. Lautliche Veränderungen werden als Prozesse betrachtet, die nach feststehenden Gesetzen, d.h. Naturgesetzen, ablaufen. Historische Sprachwissenschaft wird zu einer erklärenden Diachronie. Sie beschreibt nicht mehr nur, sie sucht die Gründe, welche zu sprachlichen Veränderungen führen. Diese Forderung, welche von Gelehrten propagiert wird, die sich, im Gegensatz zu den Komparatisten philologisch-historischer Prägung, als Junggrammatiker oder Neogrammatiker bezeichnen, hat auch für die Dialektologie eine positive Seite. Sie ergibt sich aus dem erstmals von A. Leskien 1876 formulierten Satz von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, die damit als Naturnotwendigkeiten eingestuft wurden. Daß alle Wörter, die unter gleichen Bedingungen stehen, gleichen Gesetzen gehorchen, und auch alle Individuen, die eine Sprache sprechen, diesen Gesetzen unterworfen sind, ist eine Aussage, die Beobachtung fordert. Beobachten aber läßt sich nur die lebende Sprache, wobei die nicht fixierten Mundarten sich als besonders geeignet erweisen. Unter dem Einfluß der Naturwissenschaften erhebt sich in der Sprachwissenschaft jetzt als Forderung, was in der Dialektologie bereits üblich ist: die Beschäftigung mit der lebenden Sprache. Ihre Beobachtung wird zeigen, ob der Mechanismus funktioniert. Auch auf diesem Hintergrund muß der bekannte Satz von Gaston Paris (1888) gesehen werden: "Il faudrait que chaque commune d'un côté, chaque son, chaque forme, chaque mot de 1'autre, eût sa monographie, purement descriptive, faite de première main et tracée avec toute la rigueur d'observation qu'exigent les sciences naturelles".10 lo R e v u e

des

patois

gallo-romans

2,

1888, p .

168.

33 Hauptangriffspunkt war somit die sog. Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze. Die übrige Leistung der Junggrammatiker ist bis heute nicht geschmälert. Eine Etymologie, deren lautliche Seite nicht einwandfrei geklärt ist, bleibt äusserst problematisch,' und hier sprechen die sogenannten Lautgesetze ein entscheidendes Wort. (Vgl. z.B. die Unterscheidung von Erbwörtern und Lehnwörtern) . Was nicht mit ihnen übereinstimmt, ist eine sprachliche Neuerung und muß geklärt werden. Selbstverständlich kann die Ubereinstimmung mit der lautgesetzlichen Entwicklung noch nicht als Garant für eine richtige Etymologie betrachtet werden. Dazu bringt auch das "Romanische Etymologische Wörterbuch" von Wilhelm Meyer-Lübke, dem größten romanistischen Vertreter der Junggrammatiker, mehrere Beispiele. So wird darin z.B. frz. plante lautgerecht auf lateinisch planta zurückgeführt. Dieses aber hat nur die Bedeutung "Schuhsohle" und "Pfropfreis". Die Bedeutung "Pflanze" ist im Latein, wo nur zwischen "arbores" und "herbae" unterschieden wurde, nicht vorhanden. Sie ist erst seit Albertus Magnus belegt, und die französische Bezeichnung plante erklärt sich als eine Rückbildung aus planter. Die semantische Seite interessiert Meyer-Lübke noch recht wenig. Ein weiteres Beispiel hierfür ist etwa die Entwicklung von aoxa "Hüfte" zu frz. auisee "Oberschenkel". (Vgl. noch unten 3.3.1). 2.5

Zur Relativierung der Lautgesetze durch die Dialektologie

2.5.1

Soziolinguistische Aspekte

Gegen die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze zogen neben Gelehrten wie Hugo Schuchardt vor allem die Dialektologen zu Felde. Ein erster deutlicher Unterschied zwischen einem Naturgesetz und den sogenannten Lautgesetzen lag in der zeitlich und räumlich begrenzten Wirksamkeit der letzteren. Hinzu kam als weitere Einschränkung die Feststellung, daß die einzelnen Beispiele für ein Lautgesetz nicht die gleiche geographische Verbreitung zeigten. (Vgl. die nebenstehende Karte zu den Grenzlinien zwischen [S] und [k] < lat. k+a). Andererseits weist z.B. Schuchardt auf die vielen Individualsprachen innerhalb einer Sprachgemeinschaft, eines Dialekts, hin, was

34

35 in der französischen Mundartforschung durch die Arbeit von Abbé Rousselot, die 1891 erschienenen "Modifications phonétiques du langage étudiées dans le patois d'une famille de Cellefrouin (Charente)1,11 besonders deutlich wird. Sie zeigt, daß selbst innerhalb einer Familie die Einheitlichkeit der Sprache nicht gewährleistet ist, so daß von einer "Ausnahmslosigkeit" nicht einmal in der kleinsten menschlichen Gemeinschaft die Rede sein kann. Was aus Rousselots Materialien fUr eine Familie nachgewiesen ist, untermauert Louis Gauchat in seinem 1905 erschienenen Arti12 kel "L'unité phonetigue dans le patois d'une commune" , worin er die sprachliche Heterogenität innerhalb eines Dorfes beschreibt und analysiert. Unter den differenzierenden Faktoren nennt er Alter, Geschlecht, Beruf u.a. und sieht im Generationswechsel das wahre Prinzip phonetischer Entwicklung. Die relative Einheitlichkeit der Ausdrucksweise einer Altersgruppe gegenüber anderen Altersgruppen wird auch bestätigt durch die Untersuchung von A.-L. Terracher "Les aires morphologiques dans les parlers populaires du nord —ouest de l'Angoumois"

(Paris 1914). So wird

durch den Nachweis sprachlicher Heterogenität in kleinsten Gemeinschaften das naturwissenschaftlich verstandene Lautgesetz bereits praktisch widerlegt. 2.5.2 Der sprachgeographische Aspekt Es ist hier nur darauf hinzuweisen, daß das Ideal einer sprachlichen Einheitlichkeit bei Diasystemen höherer Rangstufe erst recht illusionär sein muß. Das wird durch die sprachgeographischen Materialsammlungen denn auch voll bestätigt. Entscheidend aber ist, daß durch die Entwicklung der Sprachgeographie als einer Methode die sprachliche Heterogenität in ihrer Vielfalt auch in sehr vielen Fällen erklärt werden kann. Hatten die Junggrammatiker für die von ihnen geforderte erklärende Diachronie nur die Lautgesetze und die Wirkung der Analogie zur Verfügung, 11 Rev. des p a t o i s gallo-romans 4, S. 65 - 2o8. 12 Festschrift

für Heinrich Horf, Halle

1905, S. 175 - 232.

36 so kommt bereits mit den ersten sprachgeographischen Arbeiten Gilliérons eine ganze Reihe von weiteren Gründen hinzu. Die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, wie sie von den ersten Junggrammatikern verstanden wurde, wird auch damit endgültig widerlegt. Beide Punkte dürfen als wissenschaftsgeschichtliche

Liaison

nicht vergessen werden, wenn wir uns im Folgenden diesem ersten methodologisch eigenen Höhepunkt in der Dialektologie zuwenden. Literaturhinweise Iorgu Iordan, Einführung

(s. Allgem. Bibl.).

Winfred P. Lehmann, A Reader in 1 9 ^ Century an Linguistics, London 1967.

Indo-europe-

Hermann Paul,-Prinzipien der Sprachgeschichte, Halle 1880, Tübingen 1968. Jacqueline Picoche, Les monographies dialectales (domaine gallo-roman), in: Les parlers régionaux (s. Allgem. Bibl.) , S. 8 - 41 . Sever Pop, La dialectologie

(s. Allgem. Bibl.).

Arvid Rosenqvist, Limites administratives et division dialectale de la France (Avec deux cartes hors texte), in: Neuphilologische Mitteilungen 20, 1919, S. 87 119. V.M. Schirmunski, Deutsche Mundartkunde, Berlin 1962. Gaston Tuaillon, Le francoprovençal: progrès d'une définition, in: Travaux de linguistique et de littérature X, 1, Strasbourg 1972, p. 293 - 339. Walther v. Wartburg, Hans-Erich Keller, Robert Geuljans, Bibliographie des dictionnaires patois galloromans (1550 - 1967), Genève 1969, (Publ. rom. et f r . C H I ) . Anregungen (a) Illustration der historisch-vergleichenden Methode mit Rekonstruktionsbeispielen aus Wortschatz und Grammatik. (b) Charakteristik mundartlicher Wörterbücher des 19. Jahrhunderts . (c) Zusammenstellung von Isoglossenbündeln aufgrund von Sprachkarten (cf. auch A. Rosenqvist, op. cit.). (d) Wissenschaftsgeschichtliche Analyse der Definition

37 "des" Frankoprovenzalischen cit.) .

(cf. G. Tuaillon, op.

(e) Analyse der ALG-Karte 2531 (cf. dazu auch die "Notice explicative" zu ALG VX).

38 3.

DIE SPRACHGEOGRAPHIE

3.1

Zur Definition

Sprachgeographie, Mundartgeographie, Dialektgeographie, welchen Ausdruck wir auch wählen, es handelt sich um Sprachwissenschaft unter geographischem Vorzeichen und dies in den zwei Bedeutungen : a) als Ziel, die geographische Verbreitung sprachlicher Phänomene zu beschreiben, b) als Methode, mit deren Hilfe geographisch unterschiedene Materialien verglichen und interpretiert werden können. Auf beiden Gebieten ist noch unendlich viel zu tun. Wir wissen z.B. kaum etwas über die Verbreitung des sogenannten Standards in den einzelnen romanischen Sprachgebieten, während wir Uber die Dialekte in dieser Hinsicht oft relativ gut informiert sind. Ähnliches gilt für die Verbreitung von Erscheinungen des français populaire, des italiano popolare etc., die auf regionaler Ebene z.B. in der Frankophonie nicht selten Standardfunktion übernehmen. Auf methodologischem Gebiet sind noch längst nicht alle Fragen gestellt, auf die die Sprachgeographie eine Antwort geben kann. Grundlage für alle Untersuchungen jedoch sind ausreichende Materialsammlungen; daher können Interpretationen von der Konzeption, d.h. von der Zielsetzung und Durchführung einer MaterialSammlung, nicht absehen, ohne den Boden vertretbarer Argumentation zu verlassen. Die Beschäftigung mit den Grundlagen gehört folglich zu den Prämissen jeder Interpretation. 3.2

Sprachgeographische Materialsammlungen

Es sollen hier nicht die in der Regel sehr detaillierten Monographien zu den Mundarten einzelner Dörfer besprochen werden oder

39

Dialektwörterbücher, in denen der Wortschatz einer Gegend dargestellt ist. Solche Haterialsammlungen gehören zwar in den Rahmen der Dialektologie, sind aber jede für sich genommen sprachgeographisch noch nicht relevant. Erst in ihrer Gesamtheit sind sie sprachgeographisch von unschätzbarem Wert, was jeder Artikel des FEW denn auch bestätigt, obwohl sie nur zufällig miteinander vergleichbare sprachliche Gegebenheiten enthalten. Vielmehr wird diesem sprachgeographischen Aspekt im Prinzip nur von Sprachatlanten Rechnung getragen. 3.2.1

Zur Charakteristik von Sprachatlanten

Nun wäre es durchaus notwendig, im folgenden einen wissenschaftsgeschichtlichen Uberblick über die romanischen Sprachatlanten vorzulegen und dabei die einzelnen Werke nach Methode und Inhalt zu charakterisieren. Doch diese Arbeit hat Sever Pop — auch für die nichtromanischen Länder - bereits in ungleich gründlicherer Weise durchgeführt, als dies hier auch nur für Frankreich möglich wäre. Eine ähnlich detaillierte Ergänzung seines Werkes ist inzwischen schon zu einem großen Desideratum geworden-. Die Aktivität auf dem Gebiet sprachgeographischer Materialsammlungen war in der Romania noch nie so groß wie im Augenblick. Wir wollen daher lediglich versuchen, einen skizzenhaften Uberblick Uber die verschiedene Behandlung all derjenigen Faktoren zu geben, die für einen Sprachatlas konstitutiv sind. Auf die Frage "was ist ein Sprachatlas, und wie entsteht er ?" hat es in der Tat eine ganze Reihe von Antworten, wenn auch noch längst nicht alle möglichen Antworten, gegeben. Die Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, betreffen: a) b) c) d) e) f) g) h)

die Wahl des geographischen Gebietes das Punktenetz und die Auswahl der Aufnahmeorte das Fragebuch die Gewährspersonen die Exploratoren die Fragemethode Transkription und Transkriptionssystem die Redaktion und Präsentation des Materials.

40

a) Prinzipiell kann jedes Gebiet, in dem Menschen wohnen, in beliebiger Größe für einen Sprachatlas ausgewählt werden. Dabei hängt es von der Zielsetzung ab, ob das Gebiet mehrere Sprachen, eine Sprache oder nur einen Teil eines Sprachgebietes umfaßt. Ersteres trifft z.B. auf den "Atlas linguistique de la France" (ALF) zu, der daher u.a. auch Aussagen über die französisch-okzitanische Sprachgrenze erlaubt, oder auf den "Atlas lingüístico de la península ibérica" (ALPI) und den "Atlas linguistique des Pyrénées orientales" (ALPO). Nur ein Sprachgebiet liegt z.B. dem "Atlas lingülstic de Catalunya" (ALC) oder dem "Atlasul linguistic román" (ALR), dem rumänischen Sprachatlas, zugrunde. Einen Teil eines Sprachgebiets repräsentieren schließlich die meisten sogenannten Regionalatlanten, wie sie z.B. im Programm des Nouvel Atlas linguistique de la France par régions (NALF) oder dem entsprechenden Unternehmen für Rumänien (NALR pe regiuni) zusammengefaßt sind. Aber auch ein Nationalatlas wie derjenige des Pyrenäenstaates Andorra, wo Katalanisch einzige Nationalsprache ist, gehört hierher. Kleinräumige Sprachatlanten haben den Vorteil, daß sie in bezug auf Punktenetz und Fragebuch sprachlich ein Gebiet wesentlich detaillierter und damit adäquater erfassen können als dies ein großräumiger Sprachatlas in dem ihm üblicherweise gesetzten Rahmen, dem Aufzeigen der sprachlichen Großgliederung eines Gebietes, vermag. Die wissenschaftliche Konsequenz dieser Opposition findet heute in Projekten wie dem NALF oder dem NALR ihren Ausdruck. Hier wird ein großes Gebiet aufgeteilt und mit einer Reihe von Regionalatlanten erfaßt, die koordiniert und in der Konzeption aufeinander abgestimmt sind. Die Gesamtheit dieser Regionalatlanten erlaubt somit einerseits präzisere Aussagen zur sprachlichen Großgliederung z.B. Frankreichs oder Rumäniens als die entsprechenden Großatlanten. Andererseits aber können die kleinräumigen Atlanten gleichzeitig auf die jeweiligen regionalen Eigenheiten z.B. der Sachkultur abgestimmt werden. Weitere Vorteile ergeben sich auch bei den folgenden konstitutiven Faktoren. b) Ein großräumiger Sprachatlas kann aus rein praktischen Gesichtspunkten meist nur eine relativ kleine Anzahl von Orten für seine Sprachaufnahmen auswählen. Für den ALF wurden ca. 5 Punkte

41

in ungefähr gleicher Entfernung voneinander pro Departement von vornherein festgesetzt. Das ist zwar eine objektive Regelung, aber sie ist so objektiv, daß sie im Zweifelsfalle auch dem sprachgeographischen Ziel, für das sie getroffen wurde, nicht immer gerecht wird. Sprachlich heterogene Gegenden werden so vom Punktenetz her den sprachlich relativ einheitlichen Gegenden gleichgestellt. Nun war freilich zu dem Zeitpunkt, als die ersten Großatlanten entstanden, eine solche Unterscheidung verschiedener Sprachlandschaften vom Kenntnisstand her noch nicht möglich. Die in der Regel später liegenden Regionalatlanten können bereits auf die Aussagen der Großatlanten oder auf vorangegangene Monographien zurückgreifen. Oft stammen die Exploratoren selbst aus dem Gebiet und treffen die Auswahl ihrer Orte aufgrund einer Enquete préliminaire. Nur in seltenen Fällen geht ein Autor jedoch soweit, daß er an a l l e n Orten seines Gebietes Aufnahmen macht. Ein Beispiel hierfür ist der bereits erwähnte ALPO, der aufgrund eines sehr engmaschigen Punktenetzes die beste Information über den Verlauf der okzitanisch-katalanischen Sprachgrenze liefert. Eine solche Konzeption geht natürlich auf Kosten des Umfangs und der Gründlichkeit bei anderen Faktoren wie z.B. beim Fragebuch. Die somit im Normalfall notwendige Auswahl, die für sprachgeographische Materialsammlungen aus den vielen Orten eines geographischen Gebietes getroffen wird, hat neben dem quantitativen selbstverständlich auch einen qualitativen Aspekt. Dieser richtet sich nach der materiellen Zielsetzung. Es erklärt sich einerseits aus der Wissenschaftsgeschichte und andererseits aus der Lage der schriftlichen Uberlieferung, die bei Diasystemen ohne fixierte oder besonders ausgeprägte Norm oft fehlt oder nur spärlich vorhanden ist, daß vor allem dialektales Material gesammelt wurde. Hinzu kommt früh die Erkenntnis, daß die Dialekte durch die sich rasch ausbreitenden Nationalsprachen früher oder später ersetzt und dann bestenfalls noch in einzelnen Phänomenen der regionalen Varianten dieser Nationalsprachen greifbar sein werden. So war denn ein Kritikpunkt am französischen Sprachatlas (ALF), daß sein Explorator zu oft grössere Orte ausgewählt hatte, an denen der Dialekt bereits zu sehr französiert war, d.h. die Ma-

42

terialien bestanden häufig aus Wörtern nationalsprachlicher Herkunft, die in den Dialekt umgesetzt wurden, z.B. Ardeche [dheniao] für génisse. Derartige Fälle sind bei der heutigen Situation der Dialekte keine Seltenheit. Beim ALF könnten sie allerdings auch auf die Abfragemethode, die Übersetzungsmethode, zurückzuführen sein (s.u. sub f). Wenn sie auf die Auswahl der Orte zurückzuführen sind, so muß freilich berücksichtigt werden, daß Edmont um die Jahrhundertwende verkehrstechnisch nur begrenzte Möglichkeiten hatte, entlegenere and damit sprachlich konservativere Ortschaften in einem akzeptablen Zeitabschnitt bei seiner Tour de France zu erreichen. Im Sussersten Falle kann dies bedeuten, daß heutige Aufnahmen in damals noch völlig entlegenen Orten mit den entsprechenden Gewährsleuten (s.u.) Materialien erbringen, die in den verkehrstechnisch günstiger gelegenen Orten des ALF bereits damals untergegangen waren. Mit anderen Worten aber heißt dies, daß auch die Atlanten des NALF (wie in der Regel die meisten Sprachatlanten) vergangenheitsorientiert sind. Sie versuchen, Sprachmaterialien zu sammeln, die in absehbarer Zeit nicht mehr gesammelt und damit für die wissenschaftliche Interpretation nicht mehr sichergestellt werden können. Das gilt auch unbeschadet der Tatsache, daß z.B. nordfranzösische Regionalatlanten wie der "Atlas linguistique et ethnographique de la Champagne et de la Brie" (ALCB) von H. Bourcelot oder derjenigen der Ile-de-France und des Orléanais (ALIFO) von M.-R.SimoniAurembou oft nicht umhin können, anstelle der fehlenden mundartlichen die regionalfranzösische Ausdrucksweise zu präsentieren. (Hinzu kommt, daß die Trennung beider Ausdrucksweisen je nach Gegend in der Praxis sehr schwierig ist und erst einer eingehenden Untersuchung z.B. der "géographie phonétique" für die Aussprachevariation bedarf). Systematische, gegenwartsbezogene sprachgeographische Aufnahmen z.B. zu dieser regionalen Variation, die dann vor allem auch die Städte miteinzubeziehen hätten, fehlen im Augenblick nicht nur für Frankreich, sind aber für die nächste Zeit geplant. c) Ein sehr engmaschiges Punktenetz impliziert normalerweise schon aus zeittechnischen und damit letzten Endes oft finanziellen Gründen einen Verzicht auf ein sehr detailliertes Fragebuch

43

oder Questionnaire. Ein großräumiger Sprachatlas kann sich weder allzu viele Aufnahmeorte noch allzu viele Fragen leisten, und dennoch war Edmont mit der Materialsammlung für den ALF volle vier Jahre beschäftigt. Zu der Auswahl der Orte kommt somit die Auswahl der Fragen als einer jener Faktoren, von denen der Nutzen eines Atlasses besonders abhängt. Für Großatlanten ergibt sich dabei einerseits die Schwierigkeit, nur solche Fragen zu berücksichtigen, die für das gesamte Aufnahmegebiet sprachgeographisch verwertbare Antworten erbringen. Es wäre z.B. im Rahmen der üblichen Konzeption von Sprachatlanten wenig sinnvoll, im Loire-Tal nach Bezeichnungen für "Gemse" zu fragen. Doch ist die Entscheidung, die ja vorweg getroffen werden muss, nicht immer so einfach. Gilliêron ging wohl davon aus, daß z.B. der Begriff "poussiere" (ALF 1078) in ganz Frankreich in gleicher Weise vorhanden sei. Doch in der Côte d'Or gibt es dafür sechs verschiedene Ausdrücke, die im einzelnen bezeichnen (1) "la poussiere, la balle qui est éliminée pendant le vannage", (2) "la poussière chassée par un coup de vent", (3) "le tourbillon de poussière qui tourne sur place", (4) "le grain de poussière (qui tombe dans l'oeil ou dans un pot de lait)", (5) "la poussière qui se dépose sur les meubles" und (6) "les bourres de poussière qui roulent sous les meubles". Hinzu kommt, daß onomasiologische Unterschiede von Gegend zu Gegend nicht selten auf Unterschieden in der "Sache" beruhen. Damit ist die Vergleichbarkeit der Materialien nicht mehr ohne weiteres gewährleistet. Die Kenntnis der Sachkultur wird zur Voraussetzung für die Interpretation des Kartenmaterials. Mit dem "Sprach- und S a c h -atlas Italiens und der Südschweiz" (AIS) von Karl Jaberg und Jakob Jud wird diese Erkenntnis für sprachgeographische Materialsammlungen in die Tat umgesetzt. Mit dem AIS beginnt somit die ethnographische Tradition, die über den "Atlas linguistique et e t h n o g r a p h i q u e du Lyonnais" von Pierre Gardette in das Programm des NALF übernommen wird und heute eine Selbstverständlichkeit bei der Planung von Sprachatlanten darstellt. Sie besteht darin, daß die abgefragten Begriffe entweder 1

Vgl. Le Français Moderne X, 1942, p. 291; A. Lerond, op. cit., S. 562.

44 genau beschrieben werden oder - soweit es sich um Konkreta handelt r- in Form von Zeichnungen die Sprachkarten ergänzen. Andererseits verzichten großräumige Materialsammlungen mehr oder weniger notgedrungen auf ein allzu detailliertes Fragebuch. So enthält z.B. der ALF zwar Karten für Begriffe wie "agneau" oder "génisse", aber nicht für "antenais" oder "génisse de deux ans", während für einen Regionalatlas wie den "Atlas linguistique et ethnographique du Massif Central" (ALMC) von P. Nauton die entsprechenden Fragen vorgesehen wurden (K. 491 und 400*). Dieser Faktor hat nicht selten onomasiologische Konsequenzen, die bei der Karteninterpretation leicht zu falschen Schlüssen führen. So zeigt beispielsweise die ALF-Karte "génisse" (Nr. 637) in der Haute-Auvergne den Typus [dublûna], während die entsprechende Karte des Regionalatlasses (ALMC 399) diese Bezeichnung nicht kennt. Wohl aber ist [dublûna] in detaillierteren Materialsammlungen zu diesem und zu angrenzenden Gebieten in der Bedeutung 2 "génisse de deux ans" hinreichend gut belegt. Detailliertheit ist freilich auch in Regionalatlanten nur ein relativer Faktor. Z.B. bezeugen ALMC 1625 und ALLo 643 für den Begriff "fille" im Gévaudan» an vielen Orten [drôlo] und [filyo] ohne irgendwelche Angaben über eventuelle denotative oder konnotative Unterschiede zwischen den beiden Bezeichnungen. Hier hilft nur eine Monographie weiter, die bis ins letzte Detail gehen kann und in diesem Falle - wenn auch nicht zweifelsfrei - feststellt, daß \_dvt>'lo\ teilweise die3 eigene Tochter und [ftlyo] die Tochter anderer Leute bezeichnet. Die semantische Interpretation von Sprachkarten kann somit des öfteren auf erhebliche Schwierigkeiten stossen, die zu Lasten eines undetaillierten Fragebuchs gehen, das Nachbar- und Unterbegriffe unberücksichtigt läßt, oder die im Falle sogenannter Synonyma durch fehlende Angaben in der Kartenlegende entstehen. 2

So z . B . in A L M C 4 0 0 * , in J . L h e r m e t s M o n o g r a p h i e zum D i a l e c t e a u r i l l a c o i s (Paris 1 9 3 1 , S o c i é t é de p u b l . r o m a n e s et f r a n ç a i s e s 4) und im " A t l a s l i n g u i s t i q u e de la L o z è r e " ( A L L o ) .

3

V g l . C h . C a m p r o u x , E s s a i de g é o g r a p h i e G é v a u d a n , 2 v o l . , P a r i s 1 9 6 2 , S. 5 2 6 .

linguistique

du

45 d) Die Auswahl der Gewährspersonen oder Informatoren hängt ähnlich wie die qualitative Auswahl der Ortschaften eng mit der Zielsetzung der Materialsammlung zusammen. Aufnahmen, die in letzter Generation gesprochenen Diasystemen wie dem Okzitanischen oder den nordfranzösischen Dialekten gelten, werden zwangsläufig bei älteren Leuten zu machen sein und zwar an solchen Orten, die im obigen Sinne (§ 3.2 b) sprachlich konservativ sind. Die Bodenständigkeit des gesammelten Materials wird generell durch einen Informator gewährleistet, der möglichst sein ganzes Leben an diesem Ort ansässig war und nicht längere Zeit ausserhalb verbracht hat. Ist die Mundart noch übliches Kommunikationsmittel, so werden neben Männern und Frauen der älteren Generation oft auch Repräsentanten der jüngeren Generation hinzugezogen und damit früheren Erkenntnissen der Dialektologie (vgl. oben § 2.5.1) Rechnung getragen. Solche Aufnahmen erfordern allerdings wesentlich mehr Zeit und eine Reihe von diakritischen Zeichen bei der Notierung und der Redaktion. In der Regel beschränkt sich der Explorator daher auf nur eine Hauptgewährsperson, deren altersmäßige und soziale Daten mit denen der Gewährspersonen an den anderen Aufnahmepunkten des gewählten geographischen Gebietes grosso modo Ubereinstimmen. So kann heute von vornherein eine optimale Gleichwertigkeit und Vergleichbarkeit des Sprachmaterials angestrebt werden, wie sie durch die Heterogenität z.B. der Gewährsleute für den ALF nicht unbedingt gegeben sind. Das schließt nicht aus, in der Kartenlegende Antworten anderer Gewährspersonen mit dem entsprechenden Hinweis anzuführen (vgl. noch § 6.4.1). Die Auswahl der Informatoren und deren Einstellung zum Explorator und seiner Tätigkeit bringen indessen noch Probleme anderer Art, von denen jeder Explorator zu berichten weiß. M. Companys, der einige Zeit Aufnahmen für den gaskognischen Atlas machte, wurde in einem protestantischen Dorf wegen seines beachtlichen schwarzen Bartes für einen katholischen Missionar gehalten, was eine Enquête unmöglich machte. Einem Gewährsmann für den Atlas de Provence kamen die vielen Fragen immer verdächtiger vor, und als der Enquêteur tags darauf zurückkam, war jener spurlos verschwunden. Andere werden durch das Aufschreiben der Antworten

46

erheblich irritiert, und auch an das Tonbandgerät, das bei der Unterhaltung mitläuft, gewöhnt sich mancher Informator nur langsam. Hinzu kommen Schwierigkeiten aufgrund einer soziolinguistischen Situation, in der jeder verneint, Patois zu sprechen (vgl. noch § 6.2). e) Die bisher betrachtete dreifache Auswahl (der Orte, der Fragen und der Gewährspersonen) stellt an den Explorator oder Enquêteur, der zumeist mit dem Herausgeber eines Atlasses identisch ist, nicht geringe Anforderungen. Auch hier ergibt sich eine quantitative und eine qualitative Frage. Mehrere Exploratoren wie z.B. für den großräumigen AIS stellen gegenüber dem für den ALF allein arbeitenden Edmont eine enorme Arbeitserleichterung dar. Voraussetzung ist allerdings eine gemeinsame Schulung besonders in Fragen der Transkription und der Aufnahmemethode. Der zweite häufig diskutierte Punkt betrifft die Voraussetzung der Mundartkenntnis des Explorators. Die Kenntnis kann dazu verleiten, gewisse Formen zu korrigieren, weil sie mit der eigenen Vorstellung nicht übereinstimmen. Andererseits hat die Uberprüfung der ALF-Materialien eine ganze Reihe von Fehlern aufgedeckt, die eindeutig auf Edmonts Unkenntnis des Lokalidioms zurückzuführen sind. So notiert er z.B. in Malmédy [pâte] mit langem -a- für "patte", das aber ein kurzes -a- hat und mit langem -a"épi" bedeutet. Die Quantitätsoppositionen im Vokalismus des Ostwallonischen hat Edmont hier nicht erkannt. Oder er erhielt offensichtlich durch ein Mißverständnis - in der Gaskogne z.B. für "coutre" statt leêgo] die Antwort [kutète], das "couteau" bedeutet. Aufgrund völliger Unkenntnis ist bei anderen Exploratoren schon [sgpa] (=je ne sais pas) als Bezeichnung für etwas notiert worden, oder eine spezifisch regionale sprachliche Gliederung eines Begriffbereichs wird nicht erkannt, wodurch sich z.B. Synonyma im obigen Sinne (vgl. sub c) auf der Karte dann häufen. Als der ideale Enquêteur wird heute der Mundartkenner mit linguistischer Ausbildung angesehen. f) Das Ergebnis hängt ausserdem in erheblichem Maße auch von der Enquête ab. Wir wollen hier nicht näher auf das vor allem früher z.B. für G. Wenkers "Deutschen Sprachatlas" angewandte

47 Korrespondenzverfahren eingehen, das zwar einerseits vom Arbeitsaufwand her ökonomisch ist und für alle Orte gleichzeitig durchgeführt werden kann, aber andererseits für die phonetische Interpretation unbefriedigend bleibt und die oben (sub d) angesprochene soziale Homogenität nicht in demselben Maße wie eine Enquête sur place gewährleistet. Im wesentlichen handelt es sich somit um vier Typen von Abfragemethoden: die Ubersetzungsmethode, die direkte und die indirekte Methode, sowie die gelenkte Unterhaltung. Für einen Enquêteur, der den Dialekt nicht spricht, ist die Übersetzungsmethode eine gute Möglichkeit für Sprachaufnahmen. Der Explorator für den ALF nannte seinen Gewährsleuten, die zumindest von der Schule her genügend passive oder aktive Kenntnisse in der Nationalsprache hatten, die französische Bezeichnung und ließ diese in die Mundart übersetzen. Mit dieser Methode verbinden sich natürlich die Vorteile, aber auch die Nachteile jeder Ubersetzung, die hier nicht eigens erläutert werden müssen. Aus den Erkenntnissen auf diesem Gebiet haben auch die Exploratoren ihre Konsequenzen gezogen, so daß heute z.B. nicht mehr die Ubersetzung einzelner Wörter vom Gewährsmann verlangt wird, welche die Auswirkungen der Polysemie nicht verhindern kann, sondern die Ubersetzung eines bestimmten Kontextes, in dem das Wort vorkommt. Hinzu kommt, daß ein Informator, dessen Gedächtnis durch eine stundenlange Enquête nicht wenig gefordert wird, zur Erleichterung auch einmal den ihm genannten französischen Ausdruck nur in mundartlicher Aussprache wiedergibt, da ihm sein Wort im Augenblick nicht einfällt oder er gar den mundartlichen Ausdruck nicht kennt. Auf diese Weise erklären sich eine Reihe von ALF-Materialien z.B. für die Gaskogne, wo der ALG den bodenständigen Ausdruck liefert: [eantyè] "sentier" statt [kaminât], [aluéto] "alouette" statt [lauzèto], [lawêr] "lavoir" statt [lawadè], oder auf Korsika erhielt Edmont z.B. für "les yeux cernés" die Übersetzung [Z ôtya tçernati] anstelle von [l ôtya tyirtyati] etc. Edmont hat bisweilen auch die direkte Methode angewandt, z.B. bei den Pflanzen. Der Gewährsperson wird der Gegenstand gezeigt,

48

nach dessen Namen gefragt wird. Ein solches Vorgehen ist selbstverständlich nicht bei allen Begriffen möglich und kann nur dann praktiziert werden, wenn bestimmte Konkreta realiter oder in Abbildungen vorhanden sind, wobei die Grenze zwischen Abbildung und Bilderrätsel allerdings eingehalten werden muß.- Eine andere Möglichkeit, die Ubersetzungsmethode, die ja Zweisprachigkeit voraussetzt, zu umgehen, ist die indirekte Abfrage. Der abzufragende Begriff wird umschrieben. Das setzt wiederum voraus, daß die Antwort in irgendeiner Form kontrolliert wird, da nicht jede Umschreibung so einfach ist, wie z.B. "le chat mâle" für "matou". - Weit verbreitet ist heute die Methode der gelenkten ünterhal tung (conversation dirigée). Der Explorator läßt den Gewährsmann über eine Tätigkeit oder einen Begriffsbereich erzählen und stellt Fragen, während die ganze Unterhaltung gleichzeitig auf Tonband aufgenommen wird. Die Aufnahme wird heute in der Regel erst im Anschluß transkribiert, um die Gewährsperson beim Erzählen nicht zu irritieren und ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen. Die genannten Abfragemethoden werden heute relativ elastisch gehandhabt, d.h. je nach den abzufragenden Materialien und der konkreten Situation wird die eine oder andere Methode angewandt, die im jeweiligen Falle zu wissenschaftlich einwandfreien Sprachmaterialien und Sprachkarten zu führen verspricht. Dazu gehört z.B. auch die Absicherung, daß an den weiß gebliebenen Orten auf der Karte tatsächlich kein Ausdruck vorhanden ist. Doch ist eine solche Überprüfung der negativen Daten nur für den ALG systematisch vorgenommen worden. Zu diesem Zweck wurden der Gewährsperson die Ausdrücke ganz oder teilweise suggeriert, die in den Nachbarorten für den jeweiligen Begriff bezeugt waren. Auf der Karte sind die auf diese Weise erhaltenen Antworten eigens gekennzeichnet. Eine weiße Stelle auf der ALGKarte bedeutet folglich, daß auch die Bezeichnungen in der geographischen Umgebung eines Punktes dem Informator unbekannt waren. g) Zu einwandfreiem Material gehört bei Sprachatlanten auch die adäquate Transkription. Voraussetzung hierfür ist ein entsprechendes Transkriptionssystem und ein geschultes Gehör. Da es kein phonetisches Alphabet gibt, das für alle möglichen Laute

49 ein Zeichen vorsieht, wird ein einmal zugrundegelegtes System von Gegend zu Gegend ergänzt, wenn neue Laute auftreten. In diesem Sinne ist z.B. für die französischen Regionalatlanten das von Rousselot und Gilliéron entworfene Transkriptionssystem des ALF verfeinert und je nach Bedarf ergänzt worden. Freilich muß fraglich bleiben, ob das menschliche Ohr in der Lage ist, z.B. über 40 (vierzig) verschiedene Qualitäten eines a-Lautes zu unterscheiden, wie dies im "Atlas lingüístico de la península ibérica (ALPI)" den Anschein hat. Ob so weitgehende Nuancierungen wissenschaftlich sinnvoll sind oder sinnvoll sein könnten, ist eine weitere Frage. Neben dem Transkriptionssystem ist die Transkriptionsart oft Gegenstand von Diskussionen gewesen. Hier stehen sich normalisierende oder schematisierende und impressionistische Transkription, wie sie z.B. für ALF und NALF angewandt wurde, gegenüber. Karl Jaberg charakterisiert sie folgendermaßen: "La transcription impressioniste

(ou transcription phonétique non régulari-

sée) est celle gui ne rend compte que de l'impression acoustique momentanée, tandis que la transcription normalisante cherche à prendre la prononciation normale ou moyenne d'un parler

... Com-

biner l'enquête directe avec la transcription normalisante - ce qui équivaut, au moins partiellement, à la recherche des systèmes phonologiques des parlers qu'on relève - c'est un mode d'enquête qui donnera des résultats précieux dans des enquêtes restreintes faites par des spécialistes en mesure de séjourner longuement dans la

même région; mais on ne peut pas appliquer cette mé-

thode aux enquêtes qui comprennent un domaine étendu, parce que quelques interrogatoires ne suffisent pas pour distinguer d'une façon certaine ce qui est essentiel pour le système d'un parler. Vouloir improviser la solution d'un problême aussi délicat, c'est s'exposer aux pires erreurs. Quand il s'agit d'enquêtes rapides telles que des nécessités pratiques les imposent aux auteurs d'atlas, il faut qu'on se contente d'enregistrer la

ré-

alité phonétique, et laisser à d'autres le soin de "typiser" la variété des perceptions, voire même d'établir les systèmes pho4 nologiques des parlers en question". 4

K. Jaberg, Aspects géographiques

p. 17 f.

50

h) Die Materialien werden während oder - soweit sie nur mit dem Tonband aufgenommen wurden - nach der Enquête für jeden Aufnahmeort in ein eigenes Fragebuchexemplar eingetragen, dann nach Begriffen in Listen zusammengestellt und von einem technischen Zeichner oder einem Kalligraphen in der Regel auf Karten übertragen und publiziert. Auf die kostspielige Kartenpublikation könnte bestenfalls dort verzichtet werden, wo entweder generell nur an wenigen Punkten Aufnahmen gemacht wurden - so z.B. zwangsläufig für den Sprachatlas von Andorra - oder bestimmte Fragen, aus welchen Gründen auch immer, nur an wenigen Orten gestellt wurden. In solchen Fällen werden die Materialien oft in Listenform angeführt. Da es sich bei Sprachatlanten zumeist um onomasiologische Karten handelt, d.h. Karten, welche die Bezeichnungen für einen Begriff in ihrer geographischen Verbreitung enthalten, wird in der Regel eine begriffliche Gliederung des Atlasses angestrebt. Früher übliche alphabetische Gliederungen haben dann ihre Berechtigung, wenn nur wenige Fragen gestellt wurden, z.B. nur die Frage nach einer Jahreszeit und nicht Fragen nach allen Jahreszeiten. - Relativ selten, aber

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51

nicht weniger wichtig und daher noch ein Desideratum, sind semasiologische Karten, welche die Bedeutungen eines Wortes in ihrer geographischen Verbreitung aufzeigen. Da dieser Aspekt bei einer Enquête kaum berücksichtigt wird, können solche Karten nur aufgrund der Daten onomasiologischer Karten angefertigt werden. Sie stellen damit einen Ubergang zu den sog. interpretierten Karten dar, wie sie der Atlas linguistique de la Wallonie (ALW) enthält. Hier wird z.B. auf der Grundlage aller Wörter, deren Endung dem französischen - eur bzw. lat. - atorem entspricht, eine Suffixkarte erstellt. Auch der "Micul atlas linguistic român" (ALRM) besteht aus solchen interpretierten Karten, welche die Materialien des ALR unter bestimmten Aspekten zusammenfassen. Der gaskognische Atlas (ALG) präsentiert auf diesem Sektor Pionierarbeit. Er umfaßt auch alle Teile der Grammatik, die ebenfalls in interpretierten Karten vorliegen. 3.2.2

Die Sprachatlanten der Remania. Uberblick

3.2.2.1 Galloromania 1 9o2 - 191o : Atlas linguistique de la France (ALF) I - IX von Jules Gilliêron und Edmond Edmont, Paris; Notice 19o2; Table 1912; Suppléments, 192o. Nouvel atlas linguistique de la France par régions (NALF), Paris; davon publiziert: 195o - 1968: Atlas linguistique et ethnographique du Lyonnais (ALLy) I - IV von Pierre Gardette. 1954 - 1973

Atlas linguistique et ethnographique de la Gascogne (ALG)I-IV von Jean Sfeguy, zusammen mit Xavier Ravier (IV und VI, mit Je einem Beiheft) und Jacques Allières (V)• 1957 - 1963: Atlas linguistique et ethnographique du Massif Central (ALMC) I - IV von Pierre Nauton. 1966 ff.: 1971: 1971 ff.:

Atlas linguistique et ethnographique de la Champagne et de la Brie (ALCB) I, II von Henri Bourcelot. Atlas linguistique et ethnographique du Centre (ALCe) I von Pierrette Dubuisson. Atlas linguistique et ethnographique du Jura et des Alpes du Nord (francoprovençal central) (ALJA) I, II von Gaston Tuaillon und JeanBaptiste Martin.

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Í4 ^ u v e r « j n t

/ Píc«a» et -Sri'e. 6 Lorrain*, r o i t w n c .

emptare > enter, so hat sich dagegen der Ausfall des unbetonten dem Übergang von -t-""" Vokals im ostfranzös. emper erst n a c h zu -d- und dessen Fall vollzogen: imputare ergab also hier: impodare, imp(?)are: emper: die Zwischenstufe impodare liefert nun, wie bereits festgestellt, die auch vom romanischen Gesichtspunkt zu rechtfertigende Grundform für impfiton, die zweite Stufe: imp(e)are dürfte der Ausgangspunkt der anderen althochdeutschen Form: impfon sein. Die benachbarten deutschen Mundarten haben also z w e i m a l nacheinander eine ostfranzösische Dialektform entlehnt, das erste Mal auf der älteren Lautstufe: impodare, das zweite Mal auf der jüngeren imp(e)ar. Setzen wir nun den leicht deckbaren Fall voraus, die r e i c h sfranzös. Form enter oder greffer habe die ostfranzös. Dialektform emper bereits schon weggefegt, hätte ein Wortforscher nicht dennoch das Recht, auf Grund der althochdeutschen Formen die frühere Vitalität einem altostfranzösischen empodare resp. empear zu vindizieren ?" (S. 12 - 14) .

Wissenschaftsgeschichtlich wird hier sehr deutlich, daß die Sprachgeographie nicht mehr als eigene Disziplin gilt, sondern lediglich als neue Methode, die mit grösster Selbstverständlichkeit mit der bisherigen historischen Sprachwissenschaft kombiniert wird. Wie Jud zeigt, ergänzen sich beide vorzüglich. Spätestens solche praktischen Synthesen mußten die Extremisten unter den Vertretern der "neuen" Sprachgeographie und unter den Verteidigern der historischen Sprachwissenschaft wissenschaftlich miteinander versöhnen. Ähnliches gilt auch ftir die Arbeiten von Karl Jaberg. Jaberg und Jud waren eng befreundete Kollegen, Jaberg in Bern, Jud in Ztirich, und ihre Zusammenarbeit gipfelt im AIS, dem "Sprach- und

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Sachatlas Italiens und der Südschweiz". Der Titel "Sachatlas" steht in enger Beziehung zu Jabergs Arbeiten, in denen neben den Aspekten, die bei Jud gegenüber Gillieron offenkundig sind, besonders die Kultur- und Sachgeschichte betont wird. Ohne das eingehende Studium des sachlichen resp. begrifflichen Hintergrunds bleibt eine Etymologie oft reine Spekulation. Bei Jaberg kommt dies schon unter selbstredenden Titeln zum Ausdruck, wie z.B. "Kultur und Sprache in Romanisch-Bünden" (1921), "Dreschmethoden und Dreschgeräte in Romanisch-Bünden" oder "Zur Sachund Bezeichnungsgeschichte der Beinkleidung in der Zentralromania". Erweitert um die sprachgeographische Komponente handelt es sich hier um die Fortsetzung der Tradition "Wörter und Sachen", deren Verbindung schon Hugo Schuchardt bei Wortstudien forderte, und die vor allem in Rudolf Meringer ihren aktivsten Vertreter fand. Er gründete zusammen mit Wilhelm Meyer—Lübke (u.a.) 1909 auch die Zeitschrift "Wörter und Sachen". Damit ist alles beisammen: die historische, die geographische und die ethnographische Komponente eines Wortes. Die neue Etymologie ist eine Wortgeschichte, wie sie als Konzeption dem FEW Walther von Wartburgs zugrundeliegt. In Fortführung der seit Juds Arbeiten deutlichen Synthese ist dieses Werk Jules Gilli&ron und Wilhelm Meyer-Lübke gewidmet, "zwei Grundkräfte , aus deren Zusammenwirken und Wechselwirkung die Wissenschaft sich aufbaut" (Vorwort zu Bd. I). 3.3.3

Sprachgeographische Normen

Die aus dem Studium von Sprachkarten gewonnenen Ergebnisse versucht erstmals Matteo Bartoli in Form von Normen darzustellen. Seine Neolinguistik oder Raumlinguistik - vgl. den "Brevario di neolinguistica" (Modena 1925) und die "Introduzione alla Neolinguistica" (Genf 1925) - ist folglich keine neue Wissenschaft, sondern gibt eher eine Synthese des bisher Geleisteten. Dies geschieht vor allem in den fünf von ihm aufgestellten Normen für das chronologische Verhältnis zwischen zwei Wortzonen. Diese Normen sind zunächst als Gesetzmässigkeiten verstanden worden, sind jedoch wesentlich relativierter zu handhaben als die sogenannten Lautgesetze. Das liegt einerseits daran, daß der Wortschatz einer Sprache in seiner Entwicklung wesentlich mehr für Veränderungen anfällig ist als z.B. das phonologische System oder die Syn-

65 tax. Andererseits sind die Normen Bartolis auch nicht so zu charakterisieren, daß sie einander ausschliessen. Sie können durchaus alle auf ein und dasselbe Beispiel zutreffen. Hinzu kommt, daß die Ausnahmen für die einzelnen Normen nicht seltener sind als die Regel, so daß grundsätzlich gilt, daß eine Norm zum Beweis einer historischen Entwicklung nie als einziges Argument verwendet werden kann. Im einzelnen handelt es sich um folgende Normen: 1. (Norma dell1area isolata): Bezeichnungen, die in geographisch und verkehrstechnisch isolierten Gebieten auftreten, sind gewöhnlich älter. Ein Beispiel hierfür liefern die Bezeichnungen für "jument" in Frankreich. Das Massif Central bewahrt lat. equa. Das Gebiet nördlich davon kennt nur jument, das schon früh in Nordfrankreich als Konkurrenzwort für die Vertreter von lat. equa belegt ist. Das Gebiet südlich davon wird von aaballa eingenommen, das seit dem 16. Jahrhundert mit dem Import von Rassepferden aus Italien übernommen wurde und bis nach Belgien gelangte.(Vgl. die nebenstehende Karte). 2. (Norma delle aree laterali): Wenn zwei oder drei Randzonen, im Gegensatz zum Zentrum eines Gebietes, dieselbe Bezeichnung zeigen, ist diese gewöhnlich die ältere. - Diese Norm läßt sich ebenfalls anhand der Bezeichnungen für "jument", diesmal aus gesamtromanischer Sicht, illustrieren. Das ältere equa lebt weiter in rum. iapä, pg. &goa, sp. yegua, kat. egua und sard. ebba, während sich in Frankreich und Italien zwei neue Bezeichnungen durchgesetzt haben. Dabei ist jument durch die Normannen auch nach Süditalien und Sizilien gelangt (Vgl. die nebenstehende Karte). 3. (Norma dell'area maggiore): Eine Bezeichnung mit grösserer Verbreitung ist gewöhnlich älter als eine Bezeichnung für denselben Begriff, die weniger weit verbreitet ist. - Das lat. frat er lebt weiter in den meisten romanischen Sprachen und ist im Sinne dieser Norm älter als fratellu8j das durch it. fratello bezeugt ist.

67 4.

(Norma dell'area

seriore):

Später romanisierte Gebiete sind konservativer als Italien. So setzt z.B. sp. pg. aomev das ältere lat. aomedere fort, während in it. mangiare jüngeres manducare weiterlebt. Doch rum. mänoa z.B. ordnet sich dieser Norm nicht unter. 5. (Norma della fase sparita): Die untergegangene oder weniger lebenskräftige von zwei Bezeichnungen pflegt die ältere zu sein. - Lat. ignis lebt in den romanischen Sprachen nicht weiter. Diese setzen fooua fort. 6. An diese Normen Bartolis läßt sich eine weitere Norm anschliessen, die Mario Alinei^ formuliert hat: in der Gegend, in der für ein Wort mehr Bedeutungen bezeugt sind als in anderen Gegenden, ist es häufig auch älter. Das einfachste Beispiel, das Alinei gibt, ist engl, film in den beiden Bedeutungen 1. "thin membrane, skin" und 2. "motion picture". Es zeigt aber bereits, daß die "semantische Dichte" als Argument nicht ausreicht, denn beide Bedeutungen sind auch im Deutschen und Französischen vorhanden. Der zusätzliche philologische Nachweis, daß die 2. Bedeutung im Englischen älter ist als in den anderen Sprachen, ist dabei Voraussetzung, denn wie alle aufgestellten Normen stimmt auch diese im Einzelfall nur dann, wenn die historische Überprüfung keine abweichenden Daten ergibt. Literaturhinweise zu 3.2 :

6

Atti

d e l C o n v e g n o I n t e r n a z i o n a l e sul t e m a : G l i A t l a n t i l i n g u i s t i c i , p r o b l e m i e r i s u l t a t i . R o m a 1969 (Accadem i a n a z i o n a l e d e i L i n c e i A . 366 - 1 9 6 9 , P r o b l e m i a t t u a l i di s c i e n z a e d i c u l t u r a , Q u a d e r n o n . 1 1 1 ) .

Kurt

B a l d i n g e r / L o t h a r W o l f , Der A L M C und d a s V e r h ä l t n i s von g r o ß r ä u m i g e n und k l e i n r ä u m i g e n S p r a c h a t l a n t e n , in: Zs. f. r o m a n . P h i l o l o g i e 8 4 , 1 9 6 8 , S. 287 - 3 0 0 .

M . A l i n e i , E v a l u a t i o n of s e m a n t i c i s o g l o s s e s w i t h r e g a r d to r o m a n c e d i a l e c t s , i n : V e r h a n d l u n g e n d e s 2. i n t e r n a t i o n a l e n D i a l e k t o l o g e n k o n g r e s s e s , Zs. f. M u n d a r t f o r s c h u n g , Beihefte N . F . 3, S . 7 - 13.

Rudolf HotzenkScherle, Einführung in den Sprachatlas der deutschen Schweiz, A : Zur Methodologie der Kleinraumatlanten. Bern (Francke) 1962. Karl Jaberg, Großräumige und kleinräumige Sprachatlanten, in: Vox Romanica 14, 1915, S. 1 - 61. Karl Jaberg/Jakob Jud, Der Sprachatlas als Forschungsinstrument. Kritische Grundlegung u. Einführung in den Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz. Halle (Niemeyer) 1928. Alain Lerond, Réflexions sur la géographie linguistique, in: Annales de Bretagne 71 - 74, 1964, S. 553 - 568. Mathée Giacomo-Marcellesi, Réflexions sur l'enquête d'Edmont á Sotta (point 88 de l'Atlas linguistique de la Corse), in: Les parlers régionaux (s. Allg. Bibl.), S. 91 - 99. Sever Pop, La dialectologie

(s. Allgem. Bibl.).

Xavier Ravier, Le traitement des données négatives dans l'Atlas linguistique et ethnographique de la Gascogne, in: Revue de Linguistique romane 29, 1965, S. 262 274 . Jean Séguy, L'atlas linguistique et ethnographique de la Gascogne, in: Le Français Moderne 19, 1951, S. 241 263 . Ders., Les atlas linguistiques de la France par régions, in: Les parlers régionaux (s. Allgem. Bibl.), S. 65 90. Marie-Rose Simoni-Aurembou, Le français régional en Ile-de France et dans l'Orléanais, in: Les parlers régionaux (s. Allgem. Bibl.), S. 126 - 136. Sprachatlanten. Berichte über sprachgeographische Forschun gen I von Martin Durreil, Mieczyslaw Karas, Bernd Kratz, Werner H. Veith . Wiesbaden (Steiner) 1969 (Zs. f. Dialektologie u. Linguistik, Beihefte, Neue Folge Nr. 8) . Zur Diskussion über die Sprachatlanten in Frankreich vgl. ferner die Einführungsbände zum Atlas linguistique et ethnographique du Massif Central von Pierre Nauton (ALMC IV), zum Atlas linguistique et ethnographique du Lyonnais von Pierre Gardette, (ALLy IV) und das Begleitheft zum IV. Band des Atlas linguistique et ethno graphique de la Gascogne (ALG). zu 3.3: Matteo Bartoli, Introduzione alla neolingulstica. Genf 1925 . Eugenio Coseriu, La geografía lingüistica. Montevideo 1956 (Univ. de la República ... Publicaciones del Dep. de Lingüistica 11). - Dt. Obersetzung, Tübingen 1975 (TBL 57) .

69 Albert Dauzat, La géographie linguistique, 6 e mille, Paris 1948 [1922]. Ernst Gamillscheg, Die Sprachgeographie und ihre Ergebnisse für die allgemeine Sprachwissenschaft. Bielefeld Leipzig 1928. Heinrich Kuen, Die Sprachgeographie als Wissenschaft vom Menschen, in: Zs. f. Mundartforschung 29, 1962, S. 193 - 215. Alwin Kuhn, 60 Jahre Sprachgeographie in der Romania, in: Romanist. Jahrbuch 1, 1949, S. 25 - 63. Anregungen (a) Exemplarische Charakteristik eines vorliegenden Sprachatlas. (b) Praktische Sprachaufnahmen. (c) Eine materielle Uberprüfung der Beispiele Gilli&rons anhand neuer Quellen. (d) Interpretation von Sprachkarten (z.B. "aune" oder "pomme de terre" aus dem ALF) . (e) Diskussion von Karten und ihrer Interpretation bei G. Rohlfs (Romanische Sprachgeographie), um a) einzelne Normen und b) die wissenschaftlichen Ergebnisse der sprachgeographischen Methode in den einzelnen Bereichen (z.B. Etymologie, Geschichte, Kulturgesfchichte) zu illustrieren.

70

4.

STRUKTURELLE DIALEKTOLOGIE

4. l

Von de Saussure zu Trubetzkoj

De Saussure formuliert als erster die damals mehr oder weniger latenten Erkenntnisse Im Rahmen einer Gesamtkonzeption. Das ist sein Verdienst. Der bisher diachronischen Sprachbetrachtung stellt er die synchronische Sprachbetrachtung gegenüber, eine Unterscheidung, die sich zwangsläufig aus seinem Anliegen ergibt, die Sprache als soziales Phänomen in ihrem Funktionieren zu verstehen. Vorher galt das Interesse dem Leben von Lauten und seit Gillieron - dem Leben von Wörtern, wobei Leben identisch war mit Lebensablauf und weniger mit synchronischem Funktionieren. Diese Akzentuierung stellt den Systemcharakter der Sprache in den Vordergrund. Die einzelnen Äusserungen der Sprecher sind nichts anderes als Realisierungen der im System vorhandenen Möglichkeiten. Das Studium des Systems, der Langue, aber kann nur erfolgen über die einzig greifbare Parole, deren Analyse (Segmentierung und Klassifizierung) das paradigmatisch und syntagmatisch organisierte Zeichensystem offenlegen soll. FUr die lautliche Ebene, die mit dem Strukturalismus wieder in den Vordergrund rückt, hat der Prager Linguistenkreis um Trubetzkoj und Jakobson die Analyse in kleinste Einheiten entwickelt. Zwischen 1926 und 1928 entsteht die Phonologie als Wissenschaft von den Phonemen, den kleinsten bedeutungsdifferenzierenden Einheiten in einer Sprache. Durch die phonologisch relevanten Merkmale, die den Oppositionen zugrunde liegen, lassen sich die Einheiten klassifizieren. Mit dieser strukturellen Phonetik läßt sich somit die lautliche Vielfalt auf ein System von Phonemen reduzieren, nachdem die individuellen und akzidentellen Varianten ausgeschieden und die kombinatorischen Varianten festgestellt sind. Sodann erfolgt eine Beschreibung der Positionen, in denen ein Phonem vorkommt.

71

Dieses Vorgehen hat André Martinet 1939 erstmals auf eine Mundart praktisch angewandt.1 In erweiterter Fassung ist dieser Artikel 1956 selbständig unter dem Titel "La description phonologique avec application au parler franco-provençal d 1 Hauteville" erschienen. - Mit einer solchen Anwendung struktureller Sprachbeschreibung auf eine Mundart ergeben sich normalerweise weder neue prinzipielle Schwierigkeiten noch Anlässe für methodologische Neuerungen. Beide treten erst bei sprachgeographisch relevanten Materialien auf. 4.2

Systembegriff und Sprachgeographie

4.2.1

Zur Problematik

Die entscheidende Schwierigkeit für eine strukturelle Dialektologie ist die Tatsache, daß mit dem Saussureschen Systembegriff Sprachgeographie theoretisch nicht möglich ist. In der Sprachgeographie werden praktisch Elemente miteinander verglichen, die zu verschiedenen Systemen gehören oder als geographische Variante innerhalb eines Systems verstanden werden. Das zwingt zu neuen Überlegungen. Die Tatsache, daß die Dialektologie hierzu den Anstoß gibt, ist zwar naheliegend, aber trotzdem ein Kuriosum, weil sie beweist, daß die von struktureller Seite behandelten Sprachen tatsächlich jeweils als homogene Systeme betrachtet wurden. Dabei bedarf es nur des Hinweises z.B. auf die Diskussion über den phonologischen Status der beiden Qualitäten von a im Französischen, um selbst die Homogenität eines sogenannten Standards in Frage zu stellen. 4 2.2

Das Diasystem

4.2.2.1 Die Entwicklung der Theorie Aus der geschilderten Situation heraus versteht sich Uriel Weinreichs Artikel von 1954. "Is a structural dialectology possible?", wobei dialectology mit "Sprachgeographie" zu übersetzen ist. Der Vergleich verschiedener Systeme und ihre Klassifizierung 1

Revue de ling. romane 15, 1951.

72 ist nur auf einer höheren Abstraktionsstufe möglich/ in einem System "of a higher level [constructed] out of the discrete and homogeneous systems that are derived from description and that represent each a unigue formal Organization of substance of expression and content"

(S. 390). Das auf diese Weise erhaltene

System bezeichnet er als Diasystem. Die verschiedenen Systeme innerhalb des Diasystems werden einzeln analysiert und dann in einer Art Formel zusammengestellt, in der die einzelnen Teilsysteme so einander zugeordnet werden, dafi die entsprechenden Merkmale unter derselben Rubrik stehen. Theoretisch kann ein Diasystem soweit gefasst werden, dafi damit beliebig viele Systeme verglichen werden können. Praktisch aber wird diese Beliebigkeit eingeschränkt, da es wenig sinnvoll wäre, strukturell völlig verschiedene Systeme in einem Diasystem

zusammenzufassen.

Zur Darstellung eines Diasystems genügt es nach Weinreich nun nicht, die Phoneme aller Systeme, die verglichen werden sollen, aufzuzählen, da ein solches Arsenal nicht erkennen H e s s e , wie viele und welche Systeme damit zusammengefasst sind. Vielmehr würde der Eindruck entstehen, dafi es sich um ein einziges phonologisches System handele. Ein Diasystem sollte aber so dargestellt werden, dafi sein zusammengesetzter und abstrakter Charakter sofort erkenntlich wird. Weinreich schlägt dazu ein Verfah2 ren vor, das E. Pulgram folgendermaßen schematisiert:

A , B, C

l.)

P, Q / 5

2.)

2

Word

2o,

S.

374.

. o/

73

Die vorgestellten Großbuchstaben bezeichnen die Systeme, aus denen das Diasystem zusammengesetzt ist. Die doppelte Tilde weist auf den Diasystemcharakter hin. Der Betrachter kann sofort erkennen, daß die Formel mehrere Systeme umfasst. Aus der ersten Formel geht hervor, daß alle drei Systeme dasselbe Phonemsystem haben. Dabei ist jede Phonemopposition e i n e s Systems gleichzeitig eine diaphonemische Opposition. Beim zweiten Schema ist die Ubereinstimmung auf drei Phoneme begrenzt, während die Funktion der beiden restlichen Dia-Phoneme in den einzelnen Systemen teilweise auf verschiedene Phoneme verteilt ist. In den Dialekten P und Q liegt bei den Vokalen e und o noch eine Qualitätsopposition vor. Die Kritik hat Weinreich vorgeworfen, daß dieses Schema die lexikalische Verteilung der Phoneme und damit auch ihre historischen Quellen völlig vernachlässige. So erweitert W.G. Moulton aufgrund der Tatsache, daß dasselbe Etymon in den verschiedenen Dialekten verschiedene phonologische Formen annehmen kann und daß phonologisch identische lexikalische Einheiten von mehr als einem Etymon abgeleitet sein können, das Diasystem um ein Bezugssystem (schematisiert nach Pulgram ):

Die tiefgestellten Zahlen weisen auf die historischen Quellen hin und sind festgesetzt als Angaben der Zungenhöhe. Sie zeigen bestimmte phonologische Verschmelzungen im Vergleich zu einem früheren Stadium an. So ist z.B. das i im Dialekt A das Resultat einer Verschmelzung der Zungenhöhen 1 und 2, d.h. einer Verschmelzung von i und offenem \ der Protosprache. Im Dialekt B dagegen ist i von einem früheren i hergeleitet, während das frühere offene \ mit e verschmolz. Folglich kann i in A entweder von i oder offenem i hergeleitet sein, und ein älteres offenes i wird in A als i und in B als e erscheinen, a und u dagegen haben in beiden Dialekten dasselbe Vorkommen, dieselbe Verbreitung und dieselbe Geschichte. 3

ibid., s. 375 .

74 Zur Illustration solcher Verhältnisse nehmen wir noch ein schweizerdeutsches Beispiel, das Moulton beim zweiten internatidnalen Dialektologenkongress vorgeführt hat: Die drei Dialekte A, B und C haben für die Kurzvokale folgende Phonemsysteme: B

A

C

i

a

u

i

ü

u

i

a

e

ö

o

e

ö

o

i

V

e

0

9 a

e

$