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German Pages [388] Year 2017
Julia Hörath
»Asoziale« und »Berufsverbrecher« in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann
Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)
Band 222
Vandenhoeck & Ruprecht
Julia Hörath
»Asoziale« und »Berufsverbrecher« in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 9 Abbildungen Umschlagabbildung: © Simone Söndgen, 2016 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0130 ISBN 978-3-666-37042-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität Berlin sowie mit Mitteln des Herbert-Wehner-Fonds der Friedrich-Ebert-Stiftung. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de
Gewidmet Wolfgang Hörath
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Die Phase des konzeptionellen Experimentierens 1880 bis 1933 . . . . 35 1.1 Wohlfahrtsstaat, Rassenhygiene und Kriminologie. Die drei Programme zur Lösung der »sozialen Frage« . . . . . . . 35 1.2 Akteure und Leitgedanken des kriminologischen Programms . . 37 1.3 Die strafrechtlichen Konsequenzen des kriminologischen Programms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1.4 Die Stationen der Strafrechtsreform und ihr Scheitern . . . . . . . 51 1.5 Konzeptionelle Anknüpfungspunkte für die sozialrassistische und kriminalpräventive Verfolgung im Nationalsozialismus . . . 54 2. Die nationalsozialistischen KZ der Vorkriegszeit. Historiografie, Entwicklung und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.1 Die historiografische Suche nach den Vorbildern der nationalsozialistischen KZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.2 Die Historiografie der nationalsozialistischen KZ. Das Stufenmodell und die Kontinuitätsthese . . . . . . . . . . . . . 66 2.3 Die Entwicklungsgeschichte der Vorkriegs-KZ . . . . . . . . . . . 75 2.3.1 Die Lager der Gründungsphase 1933/34 . . . . . . . . . . . . 75 2.3.2 Erste Systematisierungsbestrebungen. Das »Preußische« und das »Dachauer Modell« . . . . . . . . 80 2.3.3 Die Phase der Reorganisation durch die IKL 1934 bis 1936. Weichenstellungen für den Aufbau des KZ-Systems . . . . . 85 3. Die rechtlichen Grundlagen der Einweisungen von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« in die Konzentrationslager 1933 bis 1937/38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.1 Legalistischer Rahmen der KZ-Einweisung von »Asozialen« 1933 bis 1937/38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.1.1 »Schutzhaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.1.2 »Heimtücke« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.1.3 Fürsorgerechtlicher Arbeitszwang nach § 20 »Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht« (RFV) . . . . 106 7
3.2 Die Rechtsgrundlagen der präventiven Internierung von »Berufs«- und »Gewohnheitsverbrechern« . . . . . . . . . . . 118 3.2.1 Das »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung« vom 24. November 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.2.2 Die polizeiliche »Vorbeugungshaft« . . . . . . . . . . . . . . 128 3.3 Kontinuität oder Bruch? Anknüpfungspunkte der unbefristeten Inhaftierung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« aus der Zeit vor 1933 und nationalsozialistische Spezifika . . . . . . . 138 4. Die »Bettlerrazzia« im September 1933. Planung, Durchführung und Wirkungen der ersten sozialrassistischen Massenverhaftungsaktion des NS-Regimes . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4.1 Die Phase der Politikformulierung zur »Bettlerrazzia«, Februar bis September 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4.2 Die Durchführung der »Bettlerrazzia« . . . . . . . . . . . . . . . . 156 4.3 KZ-Einweisungen im Zuge der »Bettlerrazzia« und ihre Folgen . . 172 4.4 Die Wirkungen der »Bettlerrazzia« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5. Im Schatten der IKL. Die Bedeutung lokaler Akteure für den Einsatz der KZ als Instrumente sozialrassistischer und kriminalpräventiver Gesellschaftspolitik, 1934 bis 1936 . . . . . . . . 201 5.1 Das Provinzial-Werkhaus und das Frauen-KZ Moringen (Preußen) 203 5.2 Das SS-KZ Dachau und der Bayerische Landesverband für Wanderdienst (LVW, Bayern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5.3 Das Landesarbeitshaus und das KZ Kislau (Baden) . . . . . . . . . 228 5.4 Die frühen KZ Moringen, Dachau und Kislau als Impulsgeber für die Funktionserweiterung des Lagersystems . . . 243 6. Die Praxis sozialrassistischer und kriminalpräventiver KZ-Haft 1933 bis 1937/38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6.1 Die Ausweitung der »Schutzhaft« auf Devianz und Delinquenz . . 248 6.2 Die Instrumentalisierung von »Heimtückedelikten« zur Bekämpfung von Devianz und Delinquenz . . . . . . . . . . . 251 6.3 KZ-Einweisungen nach § 20 RFV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 6.4 »Vorbeugungshaftverfahren« gegen »Berufsverbrecher« in Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 6.5 »Vorbeugungshaftverfahren« gegen »asoziale« Frauen in Thüringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 8
6.6 »Vorbeugungshaftverfahren« gegen »Asoziale« und »Berufsverbrecher« in Baden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 6.7 Die Arbeitsteilung im Doppelstaat. Das Ineinandergreifen von »Sicherungsverwahrung« und »Vorbeugungshaft« . . . . . . . 277 7. Die Phase der Zentralisierung, Systematisierung und quantitativen Ausweitung sozialrassistischer und kriminal‑ präventiver Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 7.1 Die Gründung des RKPA 1936/37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 7.2 Die reichsweite Razzia der Kriminalpolizei gegen »Berufsverbrecher« im März 1937 . . . . . . . . . . . . . . . 288 7.3 Der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« vom 14. Dezember 1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 7.4 Die »Aktion Arbeitsscheu Reich« im April und Juni 1938 . . . . . 306 7.5 Entwicklungslinien der sozialrassistischen und kriminalpräventiven Verfolgungspolitik von 1938 bis zum Kriegsende 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Biografischer Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
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Einleitung Am 21. April 1933 verhängte die Polizeidirektion Augsburg »Schutzhaft« gegen den 24-jährigen Alois R.1 Nur einen knappen Monat zuvor war R. aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er eine Haftstrafe wegen Diebstahl verbüßt hatte. Als Grund für die KZ-Einweisung gab die Behörde an, R. sei ein »bodenständiger Verbrecher, gefährlicher Einbrecher und Räuber«.2 Außerdem habe R. sich »Polizeibeamten gegenüber äußerst frech« benommen.3 Einen Hinweis, dass ein neuerlicher Tatverdacht gegen R. vorlag, enthält die Haftbegründung nicht. Vielmehr wollte man die »Fortsetzung seiner rechtsbrecherischen Tätigkeit« unterbinden, durch die er »die öffentl[iche] Ordnung und Sicherheit« gefährde.4 R. befand sich mindestens drei Monate im Konzentrationslager (KZ) Dachau. Offenkundig nutzte die Polizeidirektion Augsburg in seinem Fall die »Schutzhaft« als Ersatz für die »Sicherungsverwahrung«, die Strafrechtsexperten und Kriminalisten vor 1933 jahrzehntelang erfolglos gefordert hatten. In ähnlicher Weise machten Akteure überall im Reichsgebiet von den neu errichteten KZ Gebrauch, um vermeintliche »Asoziale« und »Berufsverbrecher« hinter Schloss und Riegel zu bringen, gegen die sie unter den Bedingungen des Weimarer Rechtsstaates nicht hatten vorgehen können. Genaue Angaben, wie viele Personen von der sozialrassistischen und kriminalpräventiven KZ-Haft betroffen waren, sind auf Grundlage des derzeitigen Forschungsstandes nicht möglich. Schätzungen zufolge waren allein bis 1943 zwischen 63.000 und 82.000 »Asoziale« und »Berufsverbrecher« in den KZ inhaftiert.5 Bis heute zählen diese Menschen zu den »vergessenen Opfern«.6 Auf das weitgehende Fehlen valider Forschungsergebnisse zu diesen beiden Häftlingsgruppen wiesen u. a. Wolfgang Ayaß, Habbo Knoch und Barbara Distel hin.7 Trotz einiger Neuerscheinungen8 besteht das von ihnen markierte Desiderat gerade für die Frühphase der Verfolgung fort.9 1 Um die Persönlichkeitsrechte der Verfolgten zu schützen, wurden im Folgenden alle Namen anonymisiert, gegebenenfalls die Berufsbezeichnungen abgewandelt und bei Personen, die aus kleineren Gemeinden stammten, der Herkunftsort durch einen anderen aus der Region ersetzt. Damit die wissenschaftliche Nachprüfbarkeit gewährleistet bleibt, verweisen die Initialen auf die ursprünglichen Namen. 2 BayHStA München, MInn 73690, Verzeichnis Schutzhaftgefangene in Bayern, 1.8.1933. 3 ITS Digital Archive Bad Arolsen, 1.1.6.1/9908586. 4 BayHStA München, MInn 73690, Verzeichnis Schutzhaftgefangene in Bayern, 1.8.1933. 5 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft, S. 343. 6 Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes, Opfer. 7 Vgl. Ayaß, Winkel, S. 24; Distel, Kriminelle, S. 196; Knoch, Editorial, S. 13, 15, 17. 8 Vgl. Köchl, Bedürfnis; Lieske, Opfer; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010). 9 Vgl. Löffelsender, Rezension; Roth, Rezension.
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Nimmt die KZ-Forschung überhaupt auf die »Asozialen« und »Berufsverbrecher« Bezug, konzentriert sie sich zumeist auf drei große Verhaftungswellen 1937/38, welche die Häftlingszahlen in den KZ drastisch in die Höhe schnellen ließen. Grund für diese Massenverhaftungen sei ein Mitte der 1930er-Jahre im Führungskorps der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und der »Schutzstaffel« (SS) ersonnenes Konzept der »rassischen Generalprävention«10 gewesen, das neben den »Asozialen« und »Berufsverbrechern« auch Juden, Homosexuelle, Zeugen Jehovas sowie Sinti und Roma erfasste. Zuvor habe den Lagern vorübergehend der Funktions- und Bedeutungsverlust gedroht. Nach der erfolgreichen Zerschlagung der politischen Opposition sanken ihre Insassenzahlen erheblich. Doch statt die Lager aufzulösen, schuf Heinrich Himmler im Sommer 1934 mit der »Inspektion der Konzentrationslager« (IKL) eine zentrale Verwaltung und ließ die KZ straffer organisieren. Durch den Übergang zur rassischen Generalprävention mit ihrem erweiterten Gegnerbegriff habe man den KZ dann neue Häftlinge zuführen wollen. In der historiografischen Diskussion avancierte die Funktionsbestimmung der Lager als Instrument der rassischen Generalprävention zusammen mit dem organisationsgeschichtlichen Kriterium ihrer Unterstellung unter die IKL bald zum Definitionsmerkmal des genuin nationalsozialistischen KZ, ja, wurde sogar zur »Grundlage« einer »Gesamtinterpretation der KZ-Entwicklung von 1933 bis zum Kriege«.11 Weil dieser Interpretationsansatz die Geschichte der KZ in mehrere klar getrennte Stufen unterteilt, bezeichnet Michael Wildt ihn als »Stufenmodell«.12 Eine besonders scharfe Zäsur ziehen seine Vertreter zwischen den Lagern, die im Zuge der Machtergreifung und -konsolidierung 1933/34 errichtet wurden, und den späteren IKL-Lagern. Ihrer Auffassung nach handelt es sich um nahezu unverbundene historische Phänomene, die sie durch die Begriffe »frühe Lager«13 und »System der Konzentrationslager«14 (KZ-System) unterscheiden. Allerdings ist diese Differenzierung Gegenstand kontroverser Diskussionen: Ein zweiter Interpretationsansatz, die Kontinuitätsthese, geht davon aus, dass die Geschichte der Lager nicht durch Entwicklungssprünge gekennzeichnet war, sondern auf kumulativer Radikalisierung beruhte. Der »Keim für Auschwitz«,15 so die Grundannahme seiner Vertreter, sei schon in den Lagern der Gründungsphase 1933/34 gelegt worden. In Abgrenzung zum Stufenmodell bezeichnen Befürworter der Kontinuitätsthese die ersten NS-Terrorstätten daher häufig als »frühe Konzentrationslager« (frühe KZ).16 Ein weiteres zentrales 10 Herbert, Gegnerbekämpfung. Zur juristischen Bestimmung des Begriffes Generalprävention vgl. Kapitel 1.3. 11 Pingel, Konzeption, S. 155. Vgl. Orth, System. 12 Wildt, Funktionswandel, S. 80. 13 Orth, System, S. 26. 14 Herbert u. a., Konzentrationslager (1998b), S. 22. 15 Morsch, Oranienburg, S. 128. 16 Vgl. Baganz, Erziehung, S. 61; Mayer-von Götz, Terror, S. 44 f.
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Argument der Kontinuitätsthese ist das Diktum Falk Pingels, dass die Nationalsozialisten »keine Gruppe wieder in die Freiheit« entließ, die »einmal erfasst worden war«.17 Die vorliegende Studie setzt sich zum Ziel, dieses Argument für die Häftlingsgruppen der »Asozialen« und »Berufsverbrecher« zu prüfen. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Frage, ob es – wie Ulrich Herberts These von der rassischen Generalprävention impliziert – erst eines geschlossenen Konzepts der Regimeführung bedurfte, um die frisch etablierten KZ als Terrorinstrumente der »Volksgemeinschaft« gegen soziale Außenseiter und »Kriminelle« zu wenden. Nicht nur die Ereignisse der »Bettlerrazzia« im September 1933, bei der private Wohlfahrtsorganisationen und Fürsorgebehörden mit Gestapo, Polizei, »Sturmabteilung« (SA) und SS kooperierten, um Bettler, Landstreicher und Straßenprostituierte in Gefängnisse, Arbeitshäuser und KZ zu sperren, legen eine Neubewertung von Herberts These nahe. Auch die historiografischen Erkenntnisse über die Funktionsmechanismen und Radikalisierungsdynamiken der NS-Diktatur sprechen gegen seine Interpretation. Indem sie nach den Anfängen der Verhängung von KZ-Haft gegen »Asoziale« und »Berufsverbrecher« fragt, will die Untersuchung einen Beitrag zur Bearbeitung des eingangs beschriebenen Forschungsdesiderates leisten.18 Gleichzeitig stellt sie damit das funktionsgeschichtliche Kriterium des Stufenmodells auf den Prüfstand. Sollte sich belegen lassen, dass man »Asoziale« und »Berufsverbrecher« bereits Anfang der 1930er-Jahre in relevantem Maße in die KZ deportierte, wäre für zwei wichtige Zielgruppen der rassischen Generalprävention die These widerlegt, dass die frühen Lager eine vom späteren KZ-System fundamental zu unterscheidende Funktion hatten. Die Studie nimmt drei Fragenkomplexe in den Blick. Untersucht werden sollen erstens die Akteure, die während der ersten Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft für die KZ-Einweisungen von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« verantwortlich waren. Für welche Institutionen und Organisationen arbeiteten sie? Auf welchen Ebenen des politischen Systems waren sie angesiedelt? Und welche Interaktionsmuster und Handlungsdynamiken entwickelten sich zwischen den beteiligten Instanzen? Der zweite Fragenkomplex richtet sich auf den Zweck, den die Akteure mit der Einweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« in die KZ verfolgten. Welche Programmatiken und Zielsetzungen lagen ihrem Handeln zugrunde? Welchen Einfluss hatten diese auf die Konzeption und Durchführung der Maßnahmen? Gelang es in der Umsetzung der politischen Programme, diese Ziele zu realisieren? Der dritte Fragenkomplex richtet sich auf das Ausmaß und die Intensität der Verfolgung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« vor 1937/38. Lassen sich bereits für die Frühphase der Verfolgung Angaben zur Anzahl »asozialer« und »krimineller« Häftlinge in 17 Pingel, Konzeption, S. 162. Vgl. Morsch, Oranienburg; ders., Sachsenhausen. 18 Das Konzept dieser Studie sowie einige ihrer zentralen Thesen und Fragen wurden bereits in einem Aufsatz vorgestellt. Vgl. Hörath, Terrorinstrument, S. 513–516.
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einzelnen Lagern oder Regionen machen? Welcher Binnenrationalität folgten die Internierungen? Ging es um Gefahrenabwehr, Abschreckung oder flächendeckende Erfassung? Zugrunde liegen der Studie sechs zentrale Thesen: Sie geht erstens davon aus, dass die KZ von Beginn an zum sozialrassistischen Umbau der Gesellschaft genutzt wurden. Die Untersuchung wird belegen, dass die Regimeführung den Lagern diese Funktion nicht erst zuweisen musste. Sie war im Nucleus bereits in den frühen KZ 1933/34 angelegt,19 wenn auch in regional verschiedenartiger Ausprägung und mitunter stark umstritten. Die zweite Grundannahme lautet, dass die Einweisung »asozialer« und »krimineller« Häftlinge nicht zufallsbedingt erfolgte, sondern schon in den ersten zwei Jahren der NS-Herrschaft eine eigene Systematik entwickelte. Allerdings blieb diese Systematik bis 1937/38 regional begrenzt, denn der Einsatz der frühen KZ als Mittel der Verfolgung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« ging, so die dritte These, auf die Initiative regionaler und lokaler Akteure zurück. Diese richteten sich dabei häufig gerade nicht nach den Vorgaben zentraler Instanzen, sondern handelten in eigener Verantwortung. Mit großem Engagement und Gestaltungswillen, inspiriert von ihren jeweils persönlichen Visionen einer »Volksgemeinschaft« und nicht selten getragen von individuellen Karrierehoffnungen, versuchten die »Sozialtechniker«20 vor Ort auf die Handhabung der KZ-Haft einzuwirken, um sie zur Verwirklichung ihrer sozialpolitischen Ziele zu nutzen. Angesichts der Vielzahl der in die KZ-Einweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« involvierten Akteure sowie aufgrund der Heterogenität der von ihnen verfolgten Programmatiken und Ziele wird fünftens angenommen, dass auch die Ergebnisse ihrer Maßnahmen, das heißt die konkrete Ausgestaltung des Einweisungsverfahrens und die Haftzwecke, unterschiedliche waren. Die sechste Prämisse nimmt schließlich die Kontinuitäten und Diskontinuitäten sozialrassistischer und kriminalpräventiver Verfolgung vor und nach 1933 in den Blick. Sie geht davon aus, dass die KZ-Internierung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten an die »gesellschaftssanitären« Konzepte anknüpften, die zuvor, während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, auf der Basis der Rassenhygiene und Kriminalbiologie entwickelt worden waren. Gleichzeitig versteht die vorliegende Studie das Jahr 1933 aber auch als Zäsur. Der Übergang von der Demokratie zur Diktatur und die damit verbundene Umgestaltung des politischen Systems und der Gesellschaftsordnung schufen einen Handlungsspielraum, den sowohl neue, aus der NS-Bewegung kommende Akteure als auch die traditionell mit der Kontrolle und Repression von Devianz und Delinquenz befassten Stellen nutzten, um Konzepte in die Praxis umzusetzen, die man vor 1933 zur Bekämpfung von Kri19 Vgl. Caplan, Introduction, S. 10; Morsch, Einleitung, S. 10; ders., Oranienburg, S. 120 f., 128 f.; ders., Sachsenhausen, S. 807, 821 f.; Wachsmann, Abyss, S. 251; ders., KL, S. 140 f. 20 Peukert, Republik, S. 138. Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung; Roth, Verbrechensbe kämpfung (2010), S. 136.
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minalität und anderer Erscheinungsformen sozialer Desintegration entwickelt hatte.21 Die von ihnen ergriffenen Maßnahmen kumulierten im Verlaufe der Zeit in einem Prozess der »wechselseitige[n] Dynamisierung lokaler und zentraler Behörden«,22 der einen wesentlichen Motor der Radikalisierung darstellte. Gleichzeitig trugen die Initiativen der regionalen und lokalen Akteure dazu bei, die KZ in ein engmaschiges Netz von Überwachungsinstanzen und Internierungseinrichtungen einzubinden, in dem überkommene Institutionen des Weimarer Wohlfahrts- und Strafsystems und das neue, nationalsozialistische Terrorinstrument arbeitsteilig ineinandergriffen. Die Repressionen, die sich gegen die als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« stigmatisierten Personengruppen richteten, kannten keine »Stunde Null« – in den Jahren 1937/38 ebenso wenig wie 1933 oder 1945.23 Um die Entgrenzung des Terrors gegen gesellschaftliche Außenseiter und Mehrfachstraftäter im Nationalsozialismus verstehen zu können, muss vielmehr die Gesamtentwicklung der sozialen Exklusion während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in die Untersuchung mit einbezogen werden. Um die Entwicklung beschreib- und analysierbar zu machen und um auf dieser Grundlage die vorgestellten Thesen erörtern zu können, wird hier ein Dreiphasenmodell vorgeschlagen: Dieses Modell versteht die Verhängung von KZ-Haft gegen »Asoziale« und »Berufsverbrecher« in den Jahren 1933 bis 1937/38 als Phase des praktischen Experimentierens. Ihr voraus gegangen war eine konzeptionelle Experimentierphase während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in der zwar ein repressiveres Vorgehen gegen Devianz und Delinquenz gefordert und entsprechende Maßnahmen erarbeitet worden waren, die praktische Umsetzung jedoch an den Hürden des rechtsstaatlichen Gesetzgebungsverfahrens scheiterte.24 Nicht allein die Vereinheitlichung des Polizeiapparates unter der Führung Heinrich Himmlers, sondern vor allem die nach 1933 in den Ländern und Regionen gesammelten Erfahrungen mit der KZ-Internierung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« bildeten die unabdingbare Voraussetzung für die sich dann 1937/38 anschließende Phase der Zentralisierung, Systematisierung und quantitativen Ausweitung sozialrassistischer und kriminalpräventiver Verfolgung. 21 Für Polizei und Justiz vgl. ebd., S. 209, 136. 22 Gruner, Verfolgung, S. 136. Vgl. Morsch, Einleitung, S. 11. 23 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 13–18, 210–216; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 209 f.; Schikorra, Frauen, S. 9 f., 23 f., 229–245; dies., Kontinuitäten; Wachsmann, KL, S. 141 f. 24 Auch Herbert hebt diesen Sachverhalt hervor, sieht aber in der Übernahme der Polizei durch den Reichsführer-SS (RFSS) Heinrich Himmler, der Zusammenfassung der Gestapo und der Kriminalpolizei zur Sicherheitspolizei und der darin »zum Ausdruck kommenden generalpräventiven und ›gesellschaftsbiologischen‹ Konzeption der Polizei« die wesentlichen Triebfedern der folgenden Radikalisierung und Systematisierung sozialrassistischer und kriminalpräventiver Verfolgung. Herbert, Best, S. 174. Vgl. ebd., S. 171–173. Ein Grund für diese Gewichtung könnte darin liegen, dass die Forschung über die nationalsozialistische Verfolgung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« in den 1990er-Jahren noch ganz am Anfang stand.
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Der Beginn des Zweiten Weltkrieges läutete schließlich eine weitere Eskala tionsstufe im nationalsozialistischen Terror gegen soziale Randgruppen ein, die jedoch nicht mehr Gegenstand dieser Studie sein soll.25 Deren Kernuntersuchungszeitraum bildet vielmehr die Phase des praktischen Experimentierens zwischen 1933 und 1937/38. Diese Schwerpunktsetzung entspringt dem eingangs formulierten Anliegen, ein wichtiges Desiderat der KZ-Forschung zu bearbeiten, indem deren Annahme kritisch hinterfragt wird, in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre hätten die KZ bei der Kontrolle und Repression von Devianz und Delinquenz keine nennenswerte Rolle gespielt. Die Erhebung von Quellen konzentrierte sich daher auf diesen Zeitraum. Die der nationalsozialistischen Machtergreifung vorangegangene Phase des konzeptionellen Experimentierens und die 1937/38 einsetzenden Massenrazzien gegen »Asoziale« und »Berufsverbrecher« sollen hingegen auf Basis der Literatur dargestellt werden.26 Obgleich die vorliegende Studie schon ihrer Konzeption nach dem Gedanken Rechnung trägt, dass die sozialrassistische Verfolgung keine »Stunde Null« kannte, begreift sie das Jahr 1933 als Zäsur. Bei der Untersuchung des Übergangs von der Demokratie zur Diktatur wird sie sich auf das von Ernst Fraenkel in seinem Werk Der Doppelstaat27 entwickelte Analyseinstrumentarium stützen. Um die rechtliche Entgrenzung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung bestimmter Bereiche und Funktionen des Rechts erklären zu können, unterschied Fraenkel zwischen einem seine eigenen Gesetze einhaltenden Normenund einem dieselben Gesetze missachtenden Maßnahmenstaat. Aus der Taufe gehoben wurde der Maßnahmenstaat Fraenkel zufolge in dem Moment, als sich das Recht durch den auf Dauer gestellten Ausnahmezustand selbst suspendierte. Diesen Akt vollzogen die Nationalsozialisten gestützt auf den Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung am 28. Februar 1933 mit der »Notverordnung
25 Zur Verfolgung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« ab 1939 vgl. Ayaß, Asoziale (1995); Roth, Verbrechensbekämpfung (2010); Wagner, Volksgemeinschaft. 26 Gerade für die Kriminologiegeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist die Forschungsliteratur seit dem Jahr 2000 enorm angewachsen. Vgl. Becker, Verderbnis; Galassi, Kriminologie; Garland, Kultur; Mayenburg, Kriminologie; Müller, Verbrechensbekämpfung; Naucke, Zerbrechlichkeit; Schauz u. Freitag, Verbrecher; Talkenberger, Gauner; Wetzell, Criminal. 27 Fraenkel, Doppelstaat. Ernst Fraenkel, 1898 als Sohn jüdischer Eltern geboren, promovierter Jurist und Anwalt, verfasste das Manuskript zum Doppelstaat noch im nationalsozialistischen Deutschland und schmuggelte es vor seiner eigenen Emigration im Herbst 1938 im Gepäck eines französischen Diplomaten außer Landes. Die Erstveröffentlichung erfolgte zur Jahreswende 1940/41 unter dem Titel The Dual State im amerikanischen Exil. Die deutsche Erstausgabe des Doppelstaates erschien im Jahr 1974 und basierte auf einer von Fraenkel autorisierten Rückübersetzung der englischen Fassung. Der Doppelstaat stellt die erste bekannte Analyse des nationalsozialistischen Staatsapparates überhaupt dar – noch vor Franz Neumanns Studie über den Behemoth, die 1942, ebenfalls im amerikanischen Exil, veröffentlicht wurde. Vgl. Fraenkel, Doppelstaat, S. 9–52; Wildt, Transformation, S. 19 f.
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zum Schutz von Volk und Staat«. Fraenkel bezeichnete das als Reichstagsbrandverordnung in die Geschichte eingegangene Dokument daher auch als »Verfassungsurkunde«28 des »Dritten Reichs«. Unter Berufung auf die Gefahrenabwehr im Ausnahmezustand, den die Reichstagsbrandverordnung proklamiert hatte, gelang es den Nationalsozialisten den politischen Sektor des öffentlichen Lebens der »Herrschaft des Rechts«29 zu entziehen. Entscheidungen, die diesen Sektor betrafen, wurden fortan nicht mehr aufgrund allgemeingültiger Normen, sondern »nach Lage der Sache«,30 unter dem Gesichtspunkt politischer Zweckmäßigkeitserwägungen gefällt. Da rüber, was im Einzelnen in den Zuständigkeitsbereich des Maßnahmenstaates fiel, entschieden »die Träger der politischen Gewalt souverän«.31 Für die Bürger des »Dritten Reiches« bedeutete das, dass sie zwar davon auszugehen hatten, dass »alle Lebensbereiche der Regelung durch das Recht«32 unterlagen; ob aber im Einzelfall eine Entscheidung tatsächlich unter Anwendung der Rechtsnormen oder doch aufgrund politischer Zweckmäßigkeitserwägungen getroffen wurde, oblag allein dem Gutdünken der nationalsozialistischen Machthaber. Während also die »Kompetenzvermutung beim Normenstaat« angesiedelt war, so Fraenkels Resümee, lag die »Kompetenzkompetenz beim Maßnahmenstaat«.33 Wen der Maßnahmenstaat einmal in seinen Zuständigkeitsbereich gezogen hatte, für den galten weder Recht noch Gesetz. Gemäß der nationalsozialistischen Rechtstheorie war das nur folgerichtig, denn hier war die »Gemeinschaft alleinige Quelle des Rechts«.34 Daher konnte es außerhalb der »Gemeinschaft« auch kein Recht geben: »Wer außerhalb der Gemeinschaft steht, ist der wirkliche oder potentielle Feind. Innerhalb der Gemeinschaft gelten Friede, Ordnung und Recht. Außerhalb der Gemeinschaft gelten Macht, Kampf und Vernichtung.«35 Als Scheideinstrument zwischen »Volksgenossen« und »Gemeinschaftsfremden« fungierte der Maßnahmenstaat, er war das zentrale Werkzeug zur sozialen Exklusion.36 28 Ebd., S. 55. Historisch gesehen ist der Doppelstaat zwar mit dem NS-Regime verbunden, Stefan Krauth weist jedoch darauf hin, dass er der Rechtsform grundsätzlich inhärent ist. »Gesellschaftliche Herrschaft vermittelt Recht im idealen Durchschnitt […] und in der jederzeit möglichen Supendierung des Rechts, im stets erwartbaren und zu erwartenden Exzess […].« Weiter heißt es bei Krauth: »Wir haben Recht mithin als gesellschaftliche Herrschaft gerade als Amalgamierung von bestimmter Norm und unbestimmbarem Exzess zu verstehen.« Krauth, Kritik, S. 11 f. Vgl. ebd., S. 13–18. 29 Fraenkel, Doppelstaat, S. 55. 30 Ebd., S. 113. 31 Ebd. Hiermit bezog Fraenkel sich explizit auf das Diktum Carl Schmitts, dass Souverän sei, »wer über den Ausnahmezustand entscheidet«. Schmitt, Theologie, S. 1. 32 Fraenkel, Doppelstaat, S. 113. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 193. 35 Ebd. 36 Vgl. ebd., S. 195; Pohl, Konstrukt, S. 70; Wildt, Transformation, S. 20.
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In dieser Studie wird der Doppelstaat als Idealtypus im Sinne Max Webers verstanden,37 das heißt als ein Analyseinstrument, das dazu dient, die Abweichungen der empirischen Wirklichkeit von der durch theoretische Abstraktion gewonnenen Reinform eines Phänomens zu messen. So interpretiert, kann Fraenkels Theorie des Doppelstaates zur »Analyse eines politischen und rechtlichen Transformationsprozesses«38 genutzt werden. Im Folgenden wird daher nicht angestrebt, bestimmte Akteure oder Institutionen eindeutig einem der beiden Pole des nationalsozialistischen Doppelstaates zuzuordnen. Ein solches Vorgehen, das sich vor allem in älteren Untersuchungen zur Justizgeschichte finden lässt, hat sich als Sackgasse erwiesen.39 Ziel der Untersuchung ist es vielmehr, die normen- bzw. maßnahmenstaatliche Tendenz des Handelns von Akteuren und Institutionen zu bestimmen. Ausgehend von einer solchen Prozess- und Idealtypus-orientierten40 Lesart Fraenkels, wird normenstaatliches Vorgehen verstanden als das kalkulierbare, abstrakten Rechtsnormen verpflichtete Handeln der Staats- und Parteiorgane. Als maßnahmenstaatliches Agieren begreift die Studie demgegenüber das einer polizeirechtlichen Logik der Gefahrenabwehr folgende Handeln der Exekutive, das sich auf den Ausnahmezustand beruft, sich ausschließlich an politischen Zweckmäßigkeitserwägungen orientiert und der Kontrolle durch die Judikative entzogen ist. Auch die KZ-Einweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« rekurrierte auf die Reichstagsbrandverordnung und legitimierte sich dadurch als Akt der Gefahrenabwehr. Personen, deren Verhalten nicht den gesellschaftlichen Normen entsprach oder die mehrfach gegen die Gesetze verstoßen hatten, zählten zu jenen Gruppen, die als »Gemeinschaftsfremde«41 aus der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« ausgeschlossen werden sollten. Mit dem Begriff »Volksgemeinschaft« ist derzeit eine kontroverse Forschungsdebatte verbunden.42 Ausgelöst wurde sie durch eine Reihe neuer Studien zur Sozialgeschichte 37 Vgl. Weber, Objektivität. 38 Wildt, Transformation, S. 20. Vgl. Wachsmann, Prisons, S. 382. 39 Zur Kritik an einer Lesart Fraenkels, die den Normen- und Maßnahmenstaat als statische Beschreibung klar identifizierbarer staatlicher Institutionen versteht vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 50–53; Wachsmann, Prisons, S. 379–383. 40 Versteht man den Weberschen Idealtypus nicht als fixe Zustandsbeschreibung, sondern als ein Messinstrument, eignet er sich gerade für die Untersuchung von Transformationsprozessen. 41 »Gemeinschaftsfremde« war eine zeitgenössische Sammelbezeichnung für alle gesellschaftlichen Gruppen, die gemäß der NS-Ideologie nicht zur »Volksgemeinschaft« gehörten. Zwar begriff man auch Juden oder Sinti und Roma grundsätzlich als »gemeinschaftsfremd«, doch wurde die Bezeichnung häufig als Synonym für »asozial« verwendet. Seine Hauptverbreitungszeit hatte der Begriff »Gemeinschaftsfremde« in den 1940er-Jahren, im Zusammenhang mit den Diskussionen über das »Gemeinschaftsfremdengesetz«. Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 202–209; ders., Beispiel; Willing, Bewahrungsgesetz. 42 Als Überblick vgl. Schmiechen-Ackermann, Volksgemeinschaft (2012b), S. 18–34; Steber u. Gotto, Volksgemeinschaft, S. 10, 13–15. Für die kontroversen Positionen vgl. Kapitel 1 in:
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des Nationalsozialismus,43 welche die »Volksgemeinschaft« zur analytischen Schlüsselkategorie machen. Dabei rücken insbesondere zwei Dimensionen in den Blick: »Volksgemeinschaft« als rassistisches Ordnungssystem, das die Regeln von Inklusion und Exklusion festlegte, und »Volksgemeinschaft« als soziale Praxis, die diese Regeln ins Werk setzte. Gemeinsam ist diesen Forschungsansätzen, dass sie »Volksgemeinschaft« nicht als Beschreibung einer gegebenen Realität auffassen, sondern als Ziel vision einer sozialen Dynamik. Laut Martina Steber und Bernhard Gotto fungierte »Volksgemeinschaft« als Blaupause und »call to action«.44 Jeder »Volksgenosse« konnte sich aufgefordert und legitimiert fühlen, einen aktiven Beitrag zur Realisierung der »Volksgemeinschaft« zu leisten.45 Die daraus resultierenden Handlungen können mit Ian Kershaw als »working towards the Führer«46 bzw. mit Michael Wildt als Akte der »Selbstermächtigung«47 beschrieben werden. Da die »Volksgemeinschaft« also durch die Initiative unterschiedlicher, voneinander unabhängiger Akteure geschaffen wurde, zeigte sie sich »pluralistic and multifaceted«.48 Die nationalsozialistische Weltanschauung stellte, so die These Lutz Raphaels, ein relativ offenes Feld dar, das eine limitierte Vielfalt von Meinungen, Interpretationen und Prioritäten zuließ.49 Dennoch kann aus dem bloßen Mittun nicht automatisch auf das Einverständnis eines Akteures mit der NS-Ideologie geschlossen werden. Wie u. a. Frank Bajohr gezeigt hat, musste die soziale Praxis nicht notwendigerweise mit der inneren Einstellung und Weltanschauung des Handelnden übereinstimmen. Entscheidender war das persönliche Interesse, das ein Akteur mit seinem Handeln verband. Das wiederum konnte ein Mittun trotz ideologischer Differenzen nahelegen.50 Dennoch werfen Kritiker dem »Volksgemeinschafts«-Konzept vor, den gesellschaftlichen Konsens zu stark zu betonen und demgegenüber den Terror zu vernachlässigen, mit dem das NS-Regime Zustimmung erzwang. Folgt man Ian Kershaw, ergibt sich daraus auch ein methodisches Problem: Angesichts der historischen Rahmenbedingungen müsse man sich fragen, »how do we ascertain consensus in a terroristic dictatorship?«51 Diesem Einwand halten dies., Visions. Vgl. außerdem Mommsen, Amoklauf; ders., Forschungskontroversen; ders., Hitler. 43 Als Beispiele vgl. Bajohr u. Wildt, Volksgemeinschaft; Mergel, Führer; Thamer, Nation; Wildt, Volksgemeinschaft (2007); Wolf, Ideologie. Vgl. außerdem die Teilprojekte des Niedersächsischen Forschungskollegs Nationalsozialistische »Volksgemeinschaft«? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort, http://www.foko-ns.de/6745. html (eingesehen 12.9.2015). 44 Steber u. Gotto, Volksgemeinschaft, S. 22. 45 Vgl. Bajohr u. Wildt, Einleitung; Steber u. Gotto, Volksgemeinschaft, S. 2 f., 6 f., 15 f., 20–22. 46 Kershaw, Führer. 47 Wildt, Volksgemeinschaft (2007). 48 Steber u. Gotto, Volksgemeinschaft, S. 7. 49 Vgl. Raphael, Pluralities, S. 76–78, 86. 50 Vgl. Bajohr, Community, S. 192–199; Pohl, Konstrukt, S. 76. 51 Kershaw, Volksgemeinschaft, S. 36. Vgl. ebd. S. 38 f.
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die Befürworter einer an der »Volksgemeinschaft« orientierten Sozialgeschichte des Nationalsozialismus entgegen, dass ihr Konzept gerade die reziproke Dynamik von »Volksgemeinschaft« und Gewalt in den Blick nehme.52 Obgleich die vorliegende Studie die »Volksgemeinschaft« nicht ins Zentrum ihres Erkenntnisinteresses rückt, leistet sie doch einen Beitrag zur Erklärung ihrer Funktionsmechanismen und wird die hier skizzierten Thesen, die im Rahmen des »Volksgemeinschafts«-Konzepts entwickelt wurden, bestätigen. Ein Kernelement des nationalsozialistischen »Volksgemeinschafts«-Denkens war die Rassenideologie. Ihr zugrunde lag ein »organischer« Volks- und Staatsbegriff, der in den rassenhygienischen Theorien des 19. Jahrhunderts wurzelte. Volk und Staat wurden als biologische Einheit, als »Volks- und Staatskörper« imaginiert, dessen »gesunde« Teile es durch Maßnahmen der positiven Eugenik zu pflegen und zu fördern galt,53 während die »kranken« Teile »auszumerzen« waren. Andernfalls, so meinte man, drohten sie wie eine Krankheit, den gesamten Körper zu infizieren. Als probate Mittel, um eine solche »Ansteckung« zu verhindern, sah man traditionell die Maßnahmen der negativen Eugenik, vor allem die Unterbindung der Fortpflanzung mittels Sterilisation bzw. die Isolierung durch die Unterbringung in einer Anstalt. Diese Variante des Rassismus, die sich nach »innen« auf die Angehörigen der »arischen Rasse« selbst richtete und diese gemäß einer utilitaristischen Logik in »Wertvolle« und »Minderwertige« unterteilte, beschrieb Detlev Peukert daher einst als »eugenischen Rassismus«. Diesen unterschied er vom »ethnischen Rassismus«, der sich nach »außen« gegen »artfremde« Individuen und Gruppen, die sogenannten »Fremdvölkischen« oder »Fremdrassigen«, richtete. Mit der Differenzierung zwischen diesen beiden Varianten des Rassismus machte Peukert als einer der ersten Historiker die Ausgrenzung und Verfolgung aufgrund von sozialer Devianz und Delinquenz, aber auch die Maßnahmen der positiven Eugenik als intrinsische Momente des nationalsozialistischen Rassismus kenntlich.54 Der Einzug des eugenischen Rassismus in die Sozialpolitik hatte gravierende Folgen für das Verhältnis zwischen Individuum und Staat bzw. Gesellschaft: Stellte das Individuum in der christlich-humanistischen Tradition einen Wert an sich dar und war durch unveräußerliche Menschen- und Freiheitsrechte vor Übergriffen des Staates und der Gesellschaft geschützt, bezog es seinen Wert in der »Volksgemeinschaft« ausschließlich aus seinem »Nutzen« für die Gesellschaft. Galt eine Person als »schädlich«, »nutzlos« oder als »Gefahr«, konnten ihr sämtliche Rechte bis hin zum Recht auf Leben verweigert 52 Vgl. Steber u. Gotto, Volksgemeinschaft, S. 16. 53 Hier knüpfte sowohl die »aufbauende Volkspflege« an, die betrieben von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) die »Produktion der erbgesunden, leistungsfähigen Volksgemeinschaft« zum Ziel hatte, als auch die Programme zur Förderung des Leistungswillens wie das Freizeit- und Ferienprogramm »Kraft durch Freude«. Sachße, Wohlfahrtsstaat, S. 97. 54 Vgl. Peukert, Alltag, S. 148; ders., Genesis, S. 24–48; ders., Volksgenossen, S. 247–279. Gisela Bock bezeichnete die beiden Varianten als »anthropologischen« und »hygienischen Rassismus«. Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 59–76.
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werden.55 Die Garantie individueller Rechte war also – ebenso wie die Gewährung staatlicher Sozialleistungen und Fördermaßnahmen – an eine utilitaristische Kosten-Nutzen-Abwägung gebunden. Für eine an rassistischen Prämissen ausgerichtete Politik, wie sie das NS-Regime verfolgte, eröffnete sich mit der eugenischen Stoßrichtung allerdings auch eine zentrale Problematik: Ließen sich die vermeintlich »artfremden« Individuen noch verhältnismäßig leicht anhand von intersubjektiv überprüfbaren Kriterien wie dem Herkunfts- bzw. Geburtsland, dem Glaubensbekenntnis oder dem Stammbaum bestimmen, war die Frage der Identifizierung der »minderwertigen«, aber dennoch »arischen Volksgenossen« ungleich schwieriger zu entscheiden. Bekanntlich verortete man die Ursache der »Minderwertigkeit« im degenerierten »Erbgut«, dem »Blut« oder in nicht näher lokalisierbaren Charaktereigenschaften – in Eigenheiten also, die sich dadurch auszeichneten, dass sie äußerlich unsichtbar waren. Um dennoch die sozialpolitischen Implikationen, die man meinte aus der »erb«- und »rassenbiologisch« fundierten Gesellschaftstheorie ableiten zu können, in praktisch-politische Programme umzusetzen, war man darauf angewiesen, die Träger »minderwertigen« Erbgutes möglichst einfach und zweifelsfrei zu identifizieren. Zwar kursierten verschiedene Theorien, die versuchten einen Zusammenhang zwischen der »Minderwertigkeit« und äußerlich sichtbaren, körperlichen Anomalien herzustellen, doch waren diese schon unter den Zeitgenossen stark umstritten und zudem kaum operationalisierbar. In der Praxis griff man daher auf das Sozialverhalten als Kriterium zurück. Auf diese Weise wurden mangelnde Anpassungsbereitschaft und missliebige soziale Verhaltensweisen erbbiologisch definiert und zum Gegenstand von »sozialtechnischen« Lösungsangeboten gemacht.56 Dabei galt insbesondere die Leistungsbereitschaft, die sich nach Ansicht der Zeitgenossen im »deutsche[n] Arbeitsgeist«57 bzw. in dessen negativem Gegenbild, der »Nichtarbeit« oder »Arbeitsscheu« manifestierte, als Ausdruck des »Erbwertes«, meinte man doch, als »arbeitsscheu« aufgefasste Verhaltensweisen würden durch degeneriertes Erbgut verursacht.58 Die Klassifizierung einer Person als »wertvoll« oder »minderwertig« hing also wesentlich von deren Fähigkeit oder Bereitschaft ab, die Arbeits- und Leistungsnormen zu erfüllen.59 55 Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 53 f. 56 Vgl. Götz, Volksgemeinschaft, S. 62 f.; Peukert, Republik, S. 138, 142; Weingart u. a., Rasse, S. 143. 57 Riehl, Arbeit, S. 12. Vgl. Conrad, Globalisierung, S. 279–316; Peukert, Volksgenossen, S. 246, 256 f.; Woeldike, Gesundung. 58 Hier überschneiden sich der ethnische und der eugenische Rassismus, denn auch den Zielgruppen des ethnischen Rassismus wurde häufig »Arbeitsscheu« unterstellt. Erinnert sei beispielsweise an das Bild vom »faulen Juden«. 59 Daher bestand für die vom eugenischen Rassismus Betroffenen zumindest theoretisch eine Chance zur Reintegration. Voraussetzung war, dass sie durch »Arbeitswillen« und Bereitschaft zur Anpassung glaubwürdig unter Beweis stellten, dass ihre vorherigen Verfehlungen nicht »erblich« bedingt gewesen sein konnten. Darin unterschied sich der eu-
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Daher war die »Volksgemeinschaft«, wie Günter Morsch in Erinnerung rief, nicht zuletzt auch eine »völkische Leistungsgemeinschaft«.60 Dem rassenhygienischen Denken zufolge standen die Phänomene »Asozialität« und Kriminalität also in unmittelbarem Zusammenhang mit der vermeintlichen »Arbeitsscheu« bestimmter Individuen oder Gruppen.61 So handelte es sich bei den als »Berufsverbrecher« in die KZ eingelieferten Personen um Mehrfachstraftäter, denen man als Motiv des Rechtsbruchs »Gewinnsucht«, das heißt mangelnde Bereitschaft zu »ehrlicher« Arbeit, unterstellte. Ihre Vorstrafenregister wiesen zwar lange Listen von Einträgen auf, doch setzten sie sich häufig aus einer Aneinanderreihung kleinkrimineller Delikte zusammen. Typisch waren Verurteilungen wegen Bettelei, Landstreicherei, Beleidigung, Hausfriedensbruch oder »grobem Unfug«, aufgrund von Eigentumsdelikten wie Betrug, Unterschlagung, Hehlerei oder Diebstahl und wegen Zuhälterei oder sogenannter »Sittlichkeitsverbrechen«. Zwar fanden sich unter den »Sittlichkeitsverbrechern« auch Personen, die man wegen Vergewaltigung oder »Unzucht mit Minderjährigen« verurteilt hatte,62 dennoch waren Strafeinträge aufgrund von Gewaltverbrechen unter den »Berufsverbrechern« eher selten und beschränkten sich meist auf »Raufhandel« und Körperverletzung. Kapitalverbrechen wie Mord und Totschlag wurden auch im Nationalsozialismus in der Regel von den Gerichten abgeurteilt, die Straftäter in Gefängnisse und Zuchthäuser, nicht in die KZ, gesperrt.63 Bei dem unter dem Begriff »Asoziale« zusammengefassten Personenkreis handelte es sich mehrheitlich um die Angehörigen der traditionellen sozialen Randgruppen: Bettler und Landstreicher, Prostituierte, Alkoholiker, Personen, denen man vorwarf, die Wohlfahrtsbehörden zu betrügen oder unterhaltspflichtige Väter und – weit seltener – Mütter, welche die Unterhaltszahlungen nicht leisten konnten oder verweigerten. Betroffen waren aber auch Saisonarbeiter, Hausierer, fahrende Gewerbetreibende und Handwerksgesellen »auf der Walz«. Ebenfalls als »asozial« stigmatisiert wurden Fürsorgezöglinge, die genische deutlich vom ethnischen Rassismus, denn die Integration »Fremdrassiger« war grundsätzlich undenkbar. Da der eugenische Rassismus jedoch mehrheitlich die Angehörigen der gesellschaftlichen Unterschichten betraf, die über eine schlechte Bildung verfügten, zum Teil über Generationen verarmt und daher mit den Verhaltensanforderungen der bürgerlichen Gesellschaft kaum vertraut oder schlechterdings überfordert waren, bestand diese Möglichkeit der Reintegration in der Regel nur in der Theorie. 60 Vgl. Morsch, Arbeit, S. 33–38. Die vorstehenden Überlegungen wurden in ähnlicher Weise bereits in mehreren Aufsätzen entwickelt. Vgl. Hörath, Volksgenossen, S. 310–314; dies., Leistung, S. 29 f.; dies., Stolpersteine, S. 9 f. 61 Vgl. dies., Volksgenossen. 62 Bei den meisten »Sittlichkeitsverbrechern« handelte es sich jedoch um Homosexuelle, die wegen Vergehen gegen den § 175 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) vorbestraft waren. Als Überblick über die Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus (NS) vgl. Knoll, Häftlinge; Homosexuelle in Konzentrationslagern. Als Überblick über die Geschichte des RStGB vgl. Roxin, Grundlagen, S. 108–114. 63 Vgl. Wachsmann, Policy, S. 125, 131.
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durch ihr renitentes oder »unsittliches« Verhalten auffielen, und Frauen, deren Sexualverhalten nicht den gesellschaftlichen Normen entsprach. Auch das deviante Verhalten dieser Gruppen wurzelte nach Auffassung der Behörden letztlich in ihrer »Arbeitsscheu«.64 Nicht selten kam es zu Überschneidungen zwischen den Häftlingsgruppen »Asoziale« und »Berufsverbrecher«. Führenden Rassentheoretikern und Kriminologen galt »Asozialität« als »Wurzel« des »Verbrechertums«.65 Gerade Personen, die als Zuhälter oder Prostituierte verhaftet wurden, konnten in beide Kategorien eingestuft werden. Das mag daran gelegen haben, dass man das Sexgewerbe als »Nährboden« des kriminellen Milieus ansah. Im Einzelfall hatte die Zuordnung zu einer der beiden Haftgruppen aber meist pragmatische Gründe. Häufig richtete sie sich danach, welche Behörde die Einweisung vorgeschlagen hatte oder im Rahmen welcher Verhaftungsaktion die Festnahme erfolgt war. Eine Prostituierte beispielsweise, welche die Kriminalpolizei im März 1937 bei der Aktion gegen »Berufsverbrecher« festnahm, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach als »Berufsverbrecherin« eingestuft worden, während man dieselbe Frau, wäre sie bei der »Aktion Arbeitsscheu Reich« in das Visier der Verfolgungsbehörden geraten, vermutlich als »Asoziale« klassifiziert hätte.66 Die Verfolgung der »Asozialen« überschnitt sich darüber hinaus partiell mit jener der Sinti und Roma. Diese galten einerseits als »fremdvölkisch«, andererseits war es das normabweichende Sozialverhalten wie die angeblich nichtsesshafte Lebensweise, die sie ins Visier der Behörden geraten ließ. Eugenischer und ethnischer Rassismus fielen hier also in eins. Im Laufe der 1930er-Jahre standen die Repressionen gegen Sinti und Roma jedoch zunehmend im Zeichen des ethnischen Rassismus, auch entwickelte sich ein eigener Verfolgungsapparat, wodurch sich die gegen sie gerichteten Repressionen von der übrigen Kriminalpolitik ablösten.67 Aufgrund dieser ganz eigenen Dynamik und der zusätz-
64 Vgl. Ayaß, Asoziale (2005), S. 52–54; Eberle, Asoziale. Detlev Human zeigt, dass sich die Verfolgungsmaßnahmen aufgrund von unterstellter oder tatsächlicher Leistungsverweigerung auch gegen Angehörige anderer Gesellschaftsschichten richten konnten, insbesondere dann, wenn sie in Großprojekten wie dem Arbeitsdienst oder der Landhilfe beschäftigt waren. Vgl. Humann, Beschäftigungspolitik, S. 61–66. 65 Vgl. Ritter, Aufgaben, S. 39; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 67. 66 Eine Frau, die drei Mal wegen Diebstahls zu Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu einem Jahr verurteilt worden war und die 1943 in »Vorbeugungshaft« geriet, versah die Kriminalpolizei Köln beispielsweise gleich mit beiden Kategorien und führte sie in ihren Akten als »Berufsverbrecherin (Asozial)«. Vgl. LAV NRW R, BR 2034 VH II, Nr. 153. Den der Zuhälterei verdächtigen Patrick W. nahm die Kriminalpolizei Duisburg im Rahmen der »Aktion Arbeitsscheu Reich« in »Vorbeugungshaft« und stufte ihn ebenfalls als »Asozialen« ein. Schon zuvor hatte man erwogen W. zu inhaftieren, sah aber davon ab, weil unklar war, ob W. als »Berufs«- oder »Gewohnheitsverbrecher« zu klassifizieren sei. Vgl. ebd., BR 1111, Nr. 129. 67 Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 57, 361–369.
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lichen Komplexität, die sie für die Untersuchung bedeutet hätte, wurde hier auf die Einbeziehung der Verfolgung von Sinti und Roma verzichtet.68 Im Anschluss an die Erläuterung der Zusammensetzung der als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« verfolgten Gruppen erscheint es notwendig, das zu ihrer Bezeichnung verwendete Vokabular zu problematisieren. Bei beiden Begriffen handelt es sich um von außen auferlegte diskriminierende Sammelbezeichnungen, die dazu dienten, soziale Ausgrenzung und Repressionen zu begründen.69 Eine Verwendung dieser Begrifflichkeiten birgt die Gefahr, ihren diskriminierenden Gehalt weiter zu tradieren. Dennoch kann eine Studie, die sich mit den KZ-Einweisungen aufgrund von Devianz und Delinquenz befasst, nicht auf die Begriffe verzichten, mit denen die Zeitgenossen die Zielgruppen der Verfolgung bezeichneten. Im Folgenden werden diese Begriffe, ebenso wie anderes Vokabular der Nationalsozialisten, Rassenhygieniker und Kriminologen, in Anführungszeichen gesetzt. Damit soll eine Distanzierung der Autorin vom pejorativen Gehalt dieser Ausdrücke kenntlich gemacht werden. Um zusätzlich ein wertneutrales Gegengewicht zu schaffen, werden dem Vokabular der Täter die soziologischen Begriffe »Devianz« und »Delinquenz« gegenübergestellt. Devianz leitet sich vom französischen Verb dévier, zu Deutsch abweichen, ab und verweist damit auf ein soziales Verhältnis: Deviantes Verhalten setzt eine gesellschaftliche Norm voraus; erst die Norm ermöglicht die Abweichung.70 Der Begriff »Delinquenz« wird in Anlehnung an Michel Foucault verwendet, der Delinquenz als Produkt des Diskurses der Strafrechtspflege und der Strafvollzugspraxis beschreibt. Auch dieser Terminus verweist also auf die sozialen Rahmenbedingungen.71 Zwei weitere grundlegende Begriffe der vorliegenden Studie sind die Ausdrücke »Sozialrassismus« und »Kriminalprävention«. Der Begriff »Sozialrassismus« geht auf Gisela Bock zurück, die ihn als Bezeichnung für den eugenischen Rassismus verwendete. Allerdings nahm Bock den Begriff bald mit der Begründung zurück, dass es sich bei Rassismus per se um eine soziale Erscheinung handele. Kernelement rassistischen Denkens sei die rassenbiologische Wertung sozialer und kultureller Unterschiede. Jeder Rassismus sei seinem Wesen nach Sozialrassismus. Daher sei der Begriff tautologisch und laufe zudem Gefahr, die rassistische Unterscheidung zwischen »innen« und »außen« zu reproduzieren, statt sie als soziales Konstrukt zu entlarven.72 Obgleich dieser Überlegung nichts entgegenzusetzen ist, wird der Begriff »Sozialrassismus« in der vorliegenden Studie aus strategischen Gründen verwendet, kennzeichnet er doch deutlicher als der Ausdruck eugenischer Rassis68 Vgl. Fings, Rassismus; Pientka, Zwangslager. 69 Vgl. Ayaß, Beispiel; ders., Asoziale (2005), S. 52. 70 Vgl. Nóbik, Normalität. 71 Vgl. Becker, Verderbnis, S. 59; Foucault, Überwachen, S. 330–380; Ludi, Fabrikation. 72 Vgl. Ayaß, Winkel, S. 20 f.; Bock, Gleichheit; dies., Krankenmord; dies., Zwangssterilisation, S. 59–76.
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mus das Motiv, das der Verfolgung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« zugrunde lag: Es ging um die Bekämpfung und endgültige Überwindung unerwünschter sozialer Verhaltensweisen, die man als Ausdruck erbbiologischer »Minderwertigkeit« ansah. Dieser Sachverhalt soll durch die Verwendung des Begriffs »Sozialrassismus« zum Ausdruck gebracht werden. In diesem Sinne verstanden, waren auch die kriminalpräventiven Strategien der Polizei ein Element sozialrassistischer Politik.73 Allerdings muss einschränkend hinzugefügt werden, dass mit Blick auf die Verfolgungspraxis nur selten trennscharf zwischen rassenhygienisch und soziologisch begründeten Politikstrategien unterschieden werden kann. Da sich die Rassentheorien durch einen hochgradigen Eklektizismus auszeichneten, waren auch die Begründungszusammenhänge, auf die sich die Akteure des Verfolgungsapparates stützten, häufig inkonsistent und unlogisch. So konnte ein und dieselbe Person ihr Agieren in einem Handlungszusammenhang an den Leitgedanken der Rassenhygiene ausrichten und deren Grundannahmen in einem anderen vollständig negieren.74 Die klare Trennlinie, welche die historische Forschung zwischen dem biologischen Determinismus der Rassenhygiene auf der einen und den soziologischen Erklärungen gesellschaftlicher und kultureller Unterschiede auf der anderen Seite zieht, um die tödliche Ausweglosigkeit zu markieren, die das deterministische Denken für die als »minderwertig« und »fremdrassig« definierten Bevölkerungsgruppen bedeutete, ist daher bei der Betrachtung der Verfolgungspraxis häufig nicht aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz zur historischen Aufarbeitung der Geschichte jüdischer oder politischer KZ-Häftlinge setzte die Erforschung der »Asozialen« spät, nämlich Anfang der 1980er-Jahre ein.75 Die ersten Impulse dazu kamen nicht aus der akademischen Geschichtswissenschaft, sondern aus den neuen sozialen Bewegungen, in deren Kontext beispielsweise die »Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes« gegründet wurde, deren Forschungstätigkeit einen frühen »Kristallisationspunkt«76 der Aufarbeitung der sozialrassistischen Verfolgung im Nationalsozialismus bildete.77 Grundlegende Erkenntnisse über die gegen »Asoziale« gerichteten Repressionen erbrachten noch in den 1980er-Jahren erste Forschungen zur NS-Ge73 Vgl. Becker, Strategien; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 14, 273. 74 Ein Beispiel für einen Akteur, dessen Handeln nicht eindeutig mit dem NS-Rassismus übereinstimmte, ihm aber ebensowenig widersprach, ist Hugo Krack, der Direktor des FrauenKZ Moringen. Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 136. 75 Wichtige Ausnahmen bilden Falk Pingels Studie Häftlinge unter SS-Herrschaft (1978), die Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte zur »Aktion Arbeitsscheu Reich« und zu den Arbeitserziehungslagern (1959, 1963) sowie Martin Broszats Gutachten für den Frankfurter Auschwitzprozess (1964). Vgl. Auerbach, Arbeitserziehungslager; Buchheim, Aktion; Pingel, Häftlinge, S. 85–87, 102–106, 113–117. Für eine detaillierte Forschungsstandanalyse vgl. Ayaß, Winkel. 76 Ebd., S. 19. 77 Vgl. Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes, Opfer.
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sundheits- und Sozialpolitik78 bzw. die historiografische Aufarbeitung der NS-Fürsorge- und Wohlfahrtspolitik, die etwas zeitversetzt begann.79 Parallel entstanden Pionierstudien zu Untergruppen der »Asozialen«. So liegt der Schwerpunkt der Arbeiten von Wolfgang Ayaß auf den Bettlern und Landstreichern. Da sich Ayaß’ Forschungsinteresse aber auf die Wohlfahrtsbehörden als Akteure der Verfolgung richtet, konzentriert er sich auf die »Lager für geschlossene Fürsorge«80 und thematisiert die KZ-Einweisung von »Asozialen« eher am Rande.81 Ähnliches gilt für die Arbeiten von Annette Eberle, deren Hauptaugenmerk auf den Zwangsanstalten der bayerischen Wandererfürsorge liegt.82 Ähnlich gut erforscht wie die Gruppe der Wohnungslosen ist das soziale Phänomen der Prostitution im Nationalsozialismus, wobei sich die vorliegenden Untersuchungen in erster Linie mit der Zwangsprostitution in den KZ der Kriegszeit befassen.83 Arbeiten über die Verfolgung von gewerblicher Prostitution außerhalb der Lager stammen aus dem englischsprachigen Raum und werden über diesen hinaus kaum rezipiert.84 Für einige Städte liegen inzwischen auch Lokalstudien über die »Asozialen«-Verfolgung vor, die sich aber ebenfalls auf die Zeit ab 1937/38 konzentrieren.85 Eine erste übergreifende Betrachtung, welche die Verfolgung sozialer Außenseiter in den Gesamtzusammenhang der NS-Verfolgungspolitik einordnete, legte Detlev Peukert Anfang der 1980er-Jahre vor.86 Das Werk von Michael Burleigh und Wolfgang Wippermann über den Racial State sowie der Sammelband Social Outsiders in Nazi Germany von Robert Gellately und Nathan Stolzfuß folgten erst zehn bzw. zwanzig Jahre später.87 Jedoch spielt die KZ-Haft hier ebenfalls entweder eine untergeordnete Rolle oder wird für die Zeit ab 1937/38 untersucht.88 Die historische Aufarbeitung der Verfolgung von »Berufsverbrechern« im Nationalsozialismus nahm einen ganz anderen Verlauf als die der »Asozialen«. Schon früh lieferte hier die rechtshistorische Forschung Pionierarbeiten, die über juristische Fachkreise hinaus jedoch kaum zur Kenntnis genommen wurden: 1952 verfasste Götz Leonhard eine Dissertation über die »vorbeugende Ver78 Vgl. Bock, Zwangssterilisation; Klee, Euthanasie. 79 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik; Sachße u. Tennstedt, Wohlfahrtsstaat. 80 Ayaß, Asoziale (1995), S. 61. 81 Vgl. ebd.; ders., Gemeinschaftsfremde. 82 Vgl. Eberle, Erziehung; dies., Herzogsägmühle. 83 Vgl. Paul, Zwangsprostitution; Sommer, KZ-Bordell. 84 Vgl. Harris, Role; dies., Sex. Mirjam Schnorr, Doktorandin am Historischen Seminar der Universität Heidelberg, arbeitet an einer Studie über Prostitution und Zuhälter in Mannheim, Karlsruhe und Stuttgart während des Nationalsozialismus. Vgl. http://www.uni-heidelberg. de/fakultaeten/philosophie/zegk/histsem/mitglieder/schnorr.html (eingesehen 16.3.2017). 85 Vgl. Roth, Asoziale; ders., Verbrechensbekämpfung (2006); ders., Verbrechensbekämpfung (2010); Seliger, Verfolgung. 86 Vgl. Peukert, Volksgenossen. 87 Vgl. Burleigh u. Wippermann, State; Gellately u. Stolzfus, Outsiders. 88 Vgl. auch Allex u. Kalkan, Ausgesteuert; KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Asoziale.
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brechensbekämpfung«.89 Wichtige Werke wie Karl-Leo Terhorsts Polizeiliche Planmässige Überwachung und Polizeiliche Vorbeugungshaft im Dritten Reich folgten.90 Zur Justizgeschichte publizierte Lothar Gruchmann 1990 ein Standardwerk. Für den Justizstrafvollzug setzte Nikolaus Wachsmann mit Hitler’s Prisons Maßstäbe.91 Die erste Studie über die »Konzeption und Praxis der Kriminalpolizei«92 legte 1995 der Historiker Patrick Wagner vor. Wie Herbert in seinem zentralen Aufsatz über die rassische Generalprävention,93 konzentriert sich auch Wagner auf die Strategien und Konzepte innerhalb des Führungskorps von Kripo und SS. Hinsichtlich der nationalsozialistischen Verfolgungspraxis vor 1937/38 beschränkt er sich auf die Darstellung der rechtlichen Grundlagen der »Vorbeugungshaft« in Preußen und auf einige Fallbeispiele aus den Akten der Kripo Köln und Duisburg. Auf dem Bestand der Kölner Kriminalpolizei basiert auch die Dissertation von Thomas Roth, in der dieser eine detaillierte Analyse des kriminalpolizeilichen Alltagshandelns und der Einweisungspraxis in die KZ vornimmt, deren Schwerpunkt, unter anderem bedingt durch die spärliche Überlieferung aus den frühen 1930er-Jahre, auf den Massenrazzien 1937/38 und der Kriegszeit liegt.94 Mit Michael Wildts Arbeit über die Generation des Unbedingten verfügt die Forschung zudem über eine Sozialstudie über das Führungskorps im Reichssicherheitshauptamt (RSHA).95 Trotz der zahlreichen Anknüpfungspunkte hat es die KZ-Forschung96 lange versäumt, die Forschungsergebnisse über die Gesundheits- und Sozialpolitik, die Fürsorge- und Wohlfahrtspolitik sowie der Rechts- und Polizeigeschichte zusammenzuführen. Die »Asozialen« und »Berufsverbrecher« waren und sind die beiden am schlechtesten erforschten Häftlingsgruppen. Einzige Ausnahme bildeten bis vor Kurzem die Arbeiten Christa Schikorras, insbesondere ihre Dissertation über die »asozialen« Häftlinge des Frauen-KZ Ravensbrück.97 Aber schon bedingt durch den Forschungsgegenstand – das KZ Ravensbrück wurde erst 1939 gegründet – konzentriert sich auch Schikorra auf die Kriegszeit. Gleiches gilt für einen Sammelband über die Häftlinge mit dem »grünen« und »schwarzen Winkel«.98 Erst 2016 erweiterten zwei Monografien den Kenntnisstand über »kriminelle« KZ-Häftlinge. In ihrer Dissertation über die »Berufsverbrecher« im KZ Sachsenhausen befasst Dagmar Lieske sich mit den Einlieferungen von Häftlingen dieser Kategorie ab 1936, ihrer Stellung in der 89 Vgl. Leonhard, Verbrechensbekämpfung. 90 Vgl. Müller, Gewohnheitsverbrechergesetz (1997); Terhorst, Überwachung. 91 Vgl. Gruchmann, Justiz; Wachsmann, Prisons. 92 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft. 93 Vgl. Herbert, Gegnerbekämpfung. 94 Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2009). 95 Vgl. Wildt, Generation. 96 Für einen umfassenden Forschungsüberblick vgl. Wachsmann, Abyss. 97 Vgl. Schikorra, Winkel; dies., Kontinuitäten. 98 Vgl. KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Asoziale.
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Häftlingsgesellschaft und ihrem Lageralltag.99 Im Mittelpunkt einer von Sylvia Köchl vorgelegten Untersuchung stehen die Lebenswege von acht Frauen, die als »Berufsverbrecherinnen« im Frauen-KZ Ravensbrück inhaftiert waren.100 Für die im Fokus dieser Studie stehenden Lager der Vorkriegszeit dominieren enzyklopädische Werke die Forschungslandschaft. Eine unverzichtbare Basis für die KZ-Forschung bildet das von Wolfgang Benz und Barbara Distel herausgegebene neunbändige Standardwerk Der Ort des Terrors, das die Entwicklung und Struktur jedes bekannten Konzentrationslagers darstellt.101 Insgesamt fehle der KZ-Forschung jedoch, wie Karin Orth 2007 bemerkte, eine Systematisierung und Synthese der Ergebnisse.102 Es mangele nicht nur an vergleichenden Studien, sondern auch an einer Analyse des »Zusammenhanges zwischen verschiedenen Strängen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik«.103 In eine ähnliche Richtung weist eine Kritik, die Nikolaus Wachsmann 2006 formulierte, als er darauf hinwies, dass die Kooperation der KZ mit anderen Verfolgungsbehörden des NS-Regimes besser untersucht werden müsse.104 Als weiteren fruchtbaren Forschungsansatz schlug Roth vor, die Alltagspraxis von »Durchschnittstätern« verschiedener Verfolgungsbehörden zu vergleichen.105 Ein vom britischen Arts and Humanities Research Council gefördertes und von Wachsmann geleitetes Forschungsprojekt Before the Holocaust. Concentration Camps in Nazi Germany, 1933–1939 am Birkbeck College/University of London, aus dem auch die vorliegende Untersuchung hervorgegangen ist, hatte sich zum Ziel gesetzt, einige der losen Fäden der KZ-Forschung aufzugreifen und offene Fragen zu klären. Entstanden sind mehrere Monografien, die sich verschiedenen Aspekten der Vorkriegs-KZ widmen,106 sowie eine vom Projektleiter Wachsmann vorgelegte Gesamtdarstellung der KZ-Geschichte.107 Indem im Folgenden die KZ-Einweisung von zwei verschiedenen Häftlingsgruppen untersucht wird, ermöglicht es das Forschungskonzept, wie von Orth gefordert, die Verbindung zweier unterschiedlicher Stränge der Verfolgungspolitik zu analysieren. Zwar waren die gegen »Asoziale« und »Berufsverbrecher« gerichteten Repressionen in ihrer ideologischen Begründung eng miteinander verwoben, die verantwortlichen Behörden sowie die rechtlichen Grundlagen der KZ-Einweisung waren anfangs jedoch weitgehend unabhängig voneinander. Da die Studie sich nicht auf die Einweisungspraxis in ein KZ konzentriert, sondern das gesamte Reichsgebiet mit Schwerpunkten auf den Ländern Preu99 Vgl. Lieske, Opfer. 100 Vgl. Köchl, Bedürfnis. 101 Vgl. Benz u. Distel, Arbeitserziehungslager. 102 Vgl. Orth, Historiographie, S. 598. 103 Ebd. 104 Vgl. Wachsmann, Abyss, S. 273. 105 Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2009), S. 582. 106 Vgl. Dillon, Dachau; Moore, View; Wünschmann, Auschwitz. 107 Vgl. Wachsmann, KL.
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ßen und Bayern, Baden und Thüringen berücksichtigt, sind zudem Vergleiche möglich. Auch die Kooperation zwischen den KZ und anderen Verfolgungsinstanzen wird auf breiter Grundlage analysiert, war doch eine Vielzahl von Behörden in die KZ-Einweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« involviert. Da der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf den regionalen und lokalen Akteuren liegt, nimmt die Untersuchung zudem das Handeln von Durchschnittstätern in den Blick. Ziel dieses mehrdimensionalen Zugangs ist es, neue Einsichten in die Funktionsmechanismen des nationalsozialistischen Repressionsapparates zu generieren. Indem dabei zentrale Interessengebiete der neueren KZ-Forschung berücksichtigt werden, versteht sich die Studie als Beitrag zu einer Synthese im Sinne Orths. Ähnlich wie der Forschungsgegenstand selbst, ist auch die Quellenbasis der Untersuchung äußerst heterogen. Die »Kontinuitäten der Ausgrenzung«,108 mit denen ehemalige »asoziale« und »kriminelle« KZ-Häftlinge nach 1945 konfrontiert waren, wirkte sich auch auf die Dokumentation ihrer Verfolgung aus. So offenbart die Entschädigungspraxis beider deutscher Nachkriegsstaaten nicht nur eine äußerst selektive Anerkennung nationalsozialistischen Unrechts,109 sondern führte auch dazu, dass für »Asoziale« und »Berufsverbrecher« die Entschädigungsakten fehlen – ein Quellenbestand, der sich bei der Erforschung anderer Opfergruppen als besonders wertvoll erwiesen hat. Ähnliches gilt für einen zweiten zentralen Quellenkorpus: die Erinnerungsberichte überlebender Häftlinge. Im Gegensatz zu ehemaligen politischen oder jüdischen Häftlingen schrieben die als »Asoziale« oder »Berufsverbrecher« verfolgten Personen nicht über ihr Schicksal. Bislang liegen lediglich drei Schilderungen aus der Perspektive der Betroffenen bzw. aus der ihrer Nachfahren vor. Beide wurden erst in jüngerer Zeit publiziert.110 In den Berichten von Angehörigen anderer Häftlingsgruppen dominieren hingegen Diskriminierung und Abwertung die Darstellungen der »asozialen« und »kriminellen« Mithäftlinge. Stellvertretend zitiert sei hier Eugen Kogon, der den »Asozialen« und »Berufsverbrechern« eine »seelische und gesellschaftliche Parallelstruktur zur SS«111 unterstellte. Im Anschluss an solche Einschätzungen hielt sich auch in der KZForschung lange die Ansicht, die Nationalsozialisten hätten »asoziale« und »kriminelle« Häftlinge nur in die KZ gesperrt, um dadurch die politischen Häftlinge zu demütigen.112 Die historische Forschung über »Asoziale« und »Berufsverbrecher« wird zudem dadurch erschwert, dass keine zentralisierten Aktenbestände oder für Überlebende und Hinterbliebene angelegte Sammlungen existieren. Vielmehr 108 Schikorra, Kontinuitäten. 109 Vgl. Evers, Asoziale; Zur Nieden, Opfer; Romey, Ausschlusskriterium; Saathoff u. a., Rehabilitierung. 110 Vgl. Nonnenmacher, Brüder; Schaefer, Nelken; Schrade, Jahre. 111 Kogon, SS-Staat, S. 302 f. 112 Vgl. Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. XII.
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schlägt sich die Unkenntnis über Zuständigkeiten und rechtliche Grundlagen der KZ-Einweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« auch in der archivarischen Aufbereitung der Quellenbestände nieder. In den Findbüchern sind Akten zur »Vorbeugungshaft« in der Regel nicht als solche ausgewiesen. Beispielsweise findet sich der bayerische »Vorbeugungshafterlass« vom 19. Januar 1935 im Bayerischen Staatsarchiv München (BayStA München) in einer Akte mit dem Titel »Schutzhaft zur vorbeugenden Bekämpfung der Unzucht – Generalakt«.113 In den meisten Gedenkstätten ist die Überlieferungssituation nicht viel besser.114 Daraus den Schluss zu ziehen, dass keine Quellen über die KZ-Einweisungen von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« vorliegen, wäre jedoch verfrüht. Sie sind im Gegenteil zahlreich, nur erfordert ihre Recherche umfangreiche Sachkenntnisse über die Struktur und Zuständigkeiten des weit verzweigten Verfolgungsapparates. Relevante Dokumente finden sich in den Beständen von Innenministerien, Gerichten und Staatsanwaltschaften, Landratsämtern, Gesundheits-, Arbeits- und Sozialverwaltungen, Polizeidirektionen und Kriminalpolizeistellen, in den Lageberichten der Gestapo sowie in Akten von Arbeitshäusern und Fürsorgeeinrichtungen. Zwar erlaubt es die Überlieferung von Fürsorge, Justiz und Polizei sogar einzelne Biografien zu rekonstruieren. Das bedeutet jedoch gleichzeitig, dass in den Quellen, die für die Erforschung des Schicksals von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« zur Verfügung stehen, die Perspektive der Verfolgungsbehörden dominiert.115 Für die vorliegende Studie wurde in den Sachakten folgender Archive recherchiert: des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (GStAPK), des Bayerischen Hauptstaatsarchivs (BayHStA München) und des Staatsarchivs München, des Niedersächsischen Hauptstaatsarchivs Hannover (NdsHStA Han nover), des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar (ThHStA Weimar), des Generallandesarchivs Karlsruhe (GLA Karlsruhe), des Archivs der KZ-Gedenkstätte Dachau (GS-Arch Dachau) sowie des Archivs des Internationalen Suchdienstes (International Tracing Service, ITS) in Bad Arolsen. Außerdem erfolgte eine Einsichtnahme in einen Teil der Sachakten des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Potsdam (BLHA Potsdam) und des Niedersächsischen Staatsarchivs Osnabrück (NdsStA Osnabrück). Zentrale personenbezogene Aktenbestände der Polizei sowie einiger KZ-Verwaltungen wurden teils vollständig, teils in Form von Stichproben ausgewertet. Zu nennen sind hier die Akten der Polizeidirektion im BayStA München, die Insassenakten des Frauen-KZ Moringen im NdsHStA Hannover, die Insassenakten des KZ Oranienburg 113 BayStA München, Poldir Mü/Sachakten II, 7434, Erlass BayStMdI, 19.1.1935 [Vorbeugungshafterlass]. 114 Eine Ausnahme bildet die KZ-Gedenkstätte Dachau, die dank der Arbeit von Annette Eberle über zahlreiche Quellen zu den »asozialen« und »kriminellen« Häftlingen verfügt. Auch die Gedenkstätte KZ Osthofen archiviert aufschlussreiche Dokumente und bemüht sich um eine Erweiterung der Sammlung. 115 Vgl. Lieske, Opfer, S. 46; Köchl, Bedürfnis, S. 81–86.
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im ITS-Arch Bad Arolsen bzw. im BLHA Potsdam, die Personendossiers der Polizeipräsidien Köln und Duisburg im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen/ Abteilung Rheinland (LAV NRW R) sowie die personenbezogenen Akten im GS-Arch Dachau. Vollständig gesichtet wurden die relevanten Archivbestände in der Gedenkstätte Lichtenburg (GS-Arch Lichtenburg) und im Dokumentations- und Informationszentrum Papenburg, punktuell eingesehen die Bestände des Bundesarchivs Berlin (BArch Berlin), des Instituts für Zeitgeschichte München, der KZ Gedenkstätte Mauthausen (GS-Arch Mauthausen), der KZ Gedenkstätte Osthofen (GS-Arch Osthofen), des Stadtarchivs Annaburg-Prettin (StadtArch Annaburg-Prettin), des Stadtarchivs Görlitz (StArch Görlitz) und des Stadtarchivs Straubing (StArch Straubing). Von unschätzbarem Wert erwiesen haben sich die Bestände des Bayerischen Staatsministeriums des Innern und der Bayerischen Staatskanzlei im BayHStA, die Personen- und Sachakten der Polizeidirektion München im BayStA sowie die Überlieferungen der Arbeitshäuser und KZ Moringen und Kislau im NdsHStA Hannover bzw. im GLA Karlsruhe. Einen reichen Quellenfundus bildet überdies die Sammlung der Staatsbibliothek Berlin, die zeitgenössische Monografien über Kriminologie, Strafrechts- und Wohlfahrtspflege, zahlreiche Fachzeitschriften sowie Gesetz- und Verordnungsblätter bereithält. Bei der Analyse der in den genannten Archiven und Sammlungen recherchierten Quellen wird sich die Untersuchung auf eine Kombination aus den Methoden der Dokumenten- und Politikfeldanalyse116 und der biografischen Methode117 stützen. Die Auswahl der Methode oder Methodenkombination erfolgt gegenstandsbezogen und richtet sich nach den jeweiligen Quellen, dem Erkenntnisinteresse und der Fragestellung. Da die vorliegende Studie sowohl hinsichtlich einiger zentraler Fragestellungen und Thesen als auch in der Periodisierung des Untersuchungszeitraumes von der Politikfeldanalyse inspiriert ist, soll diese näher erläutert werden. Es handelt sich dabei um eine Methode zur Analyse von Prozessen politischer Problemverarbeitung, die das Erkenntnisinteresse nicht nur auf politische Inhalte, sondern darüber hinaus auf die beteiligten Akteure, auf die verschiedenen Phasen des Problemverarbeitungsprozesses und auf dessen Auswirkungen lenkt. Im Zentrum der Politikfeldanalyse steht die Annahme, dass Politikinhalte und -ergebnisse immer von den am Problemverarbeitungsprozess beteiligten Akteuren und Institutionen sowie von der Machtverteilung innerhalb dieses Arrangements abhängen. Der Problemverarbeitungsprozess wird in drei Phasen unterteilt: erstens die Phase der Politikformulierung mit der Problemdefinition, Zielbildung und Programmierung; zweitens die Politikdurchführung mit ihren Etappen der Programmkonkretisierung, der Ressour116 Zur Dokumentenanalyse vgl. Jordan, Theorien; Lengwiler, Praxisbuch; Opgenoorth u. Schulz, Einführung. Zur Politikfeldanalyse vgl. Gellner u. Hammer, Policyforschung; Knoepfel u. a., Politikanalyse; Jann, Politikfeldanalyse. 117 Vgl. Dröge, Methode.
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cenbereitstellung und -verteilung, der Normenanwendung, den Einzelfallentscheidungen und ihren Ergebnissen sowie drittens die Phase, in der die Politik ihre Wirkung entfaltet. Bei der Untersuchung dieser letzten Phase stehen Fragen nach den erzielten Veränderungen, den Auswirkungen auf die direkten Adressaten, den Rückwirkungen auf die beteiligten Akteure und Institutionen, aber auch auf Staat, Politik und Gesellschaft im weiteren Sinne im Mittelpunkt.118 Mit ihrem akteurszentrierten Ansatz greift die Studie also das zentrale Erkenntnisinteresse der Politikfeldanalyse auf, das ebenfalls auf die Stellung der Akteure und Institutionen innerhalb des politischen Systems, auf die Machtverteilung und damit gewissermaßen auch auf die Interaktionsmuster und Handlungsdynamiken zielt. Indem sie außerdem danach fragt, welche Zwecke, Programmatiken und Zielsetzungen die Akteure verfolgten, und sich für das Verhältnis zwischen der Planung, Durchführung und Wirkung einer Politik interessiert, knüpft sie an das von der Politikfeldanalyse entwickelte Modell der Problemverarbeitung an. Auch spiegelt die Untersuchung deren zentrale These, wenn sie davon ausgeht, dass die Vielzahl der Akteure, die für die KZ-Einweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« verantwortlich waren, also das heterogene institutionelle Arrangement, zu einer entsprechenden Heterogenität der ergriffenen Maßnahmen führte. Das Dreiphasenmodell, das die Studie zur Periodisierung des Untersuchungszeitraumes vorschlägt, ist zwar nicht deckungsgleich mit den drei Phasen im Modell der Politikfeldanalyse. Dennoch können die von ihr identifizierten Stadien des Problemverarbeitungsprozesses auch innerhalb des Untersuchungszeitraumes festgestellt werden. So lässt sich die Phase des konzeptionellen Experimentierens zwischen 1880 und 1933 als Zeit der Politikformulierung beschreiben, in der die Problemdefinition, Zielbildung und Programmierung stattfand. Unter den veränderten Vorzeichen der NS-Diktatur ermöglichte dann die Phase des praktischen Experimentierens erstmals die Durchführung der konzipierten Politik. Selbstverständlich entfaltete die Politik auch schon in dieser Phase gewisse Wirkungen. Im letzten Zeitabschnitt, der Phase zwischen 1937/38 und 1939, die durch die Zentralisierung, Systematisierung und quantitative Ausweitung der sozialrassistischen Verfolgung gekennzeichnet war, fielen alle drei Phasen des politischen Prozesses zusammen: Unter Auswertung der gesammelten Erfahrung fand erst eine Neujustierung der Problemdefinition, Zielbildung und Programmierung statt, an die sich mit den Massenrazzien 1937/38 die Phasen der Durchführung und Wirkungen anschlossen. Die vorliegende Untersuchung ist in sieben Kapitel gegliedert. Um die Einweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« in den Gesamtzusammenhang sozialer Exklusion im 19. und 20. Jahrhundert einordnen zu können, werden im ersten Kapitel die im Kaiserreich und der Weimarer Republik entwickelten Konzepte und Maßnahmen zur Bekämpfung von Devianz und Delinquenz dargestellt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Entstehung der Kriminologie, 118 Vgl. Jann, Politikfeldanalyse.
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der durch sie evozierten Strafrechtsreformbewegung und dem Gesetzgebungsverfahren für ein neues Reichsstrafgesetzbuch. Ziel dieses Kapitels ist es, die konzeptionellen Vorarbeiten zu erörtern, auf welche die KZ-Einweisungen von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« ab 1933 aufbauen konnten. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Entstehung des KZ-Systems. Einleitend fragt es nach dem Phänomen »Lager« in der Geschichte und nach möglichen »Vorbildern« für die Errichtung der nationalsozialistischen KZ. Nach einer Erörterung der zentralen Interpretationsansätze zur KZ-Entwicklungsgeschichte, des Stufenmodells und der Kontinuitätsthese, werden die zentralen Charakteristika der sogenannten »frühen KZ« sowie zentrale Strukturmerkmale der Entwicklungsphasen 1933 bis 1936 erläutert. Das Kapitel schließt mit dem Jahr 1936, als die Nationalsozialisten mit dem KZ Sachsenhausen einen Prototyp des »modernen und neuzeitlichen Konzentrationslagers«119 zu errichten beabsichtigten. Das dritte Kapitel widmet sich den Rechtsgrundlagen der KZ-Einweisungen von »Asozialen« und »Berufsverbrechern«. Nach einigen Überlegungen zur Funktion des Rechts im Nationalsozialismus werden die einzelnen Notverordnungen, Gesetze, Erlasse und Vollzugsrichtlinien erörtert, auf die sich die KZEinweisungen stützten. Den analytischen Schwerpunkt des Kapitels bildet die Anwendung und Weiterentwicklung des Begriffspaars Normen- und Maßnahmenstaat. Es schließt mit einer Reflexion der rechtlichen Anknüpfungspunkte der KZ-Haft für »Asoziale« und »Berufsverbrecher« aus der Zeit vor 1933. Gegenstand des vierten Kapitels bildet die erste sozialrassistische Massenverhaftungsaktion des NS-Regimes: die »Bettlerrazzia« im September 1933. Ausgehend von dem Modell der Politikfeldanalyse ist es in drei Abschnitte unterteilt: in die Phasen der Politikformulierung, der Durchführung und der Folgewirkungen. Ein vierter Abschnitt über die KZ-Einweisungen im Zuge der »Bettlerrazzia« umfasst alle drei Phasen des politischen Prozesses und erstreckt sich über den Zeitraum vom Sommer 1933 bis zum Ende des ersten Quartals 1934. Dem Erkenntnisinteresse der Politikfeldanalyse entsprechend, fragt das Kapitel nach den Zielen der geplanten Maßnahmen, dem Verhältnis von Planung und Durchführung sowie den Ergebnissen und Wirkungen der Razzia. Darüber hinaus rückt die Politikfeldanalyse die Interessen der beteiligten Akteure in den Blick und fragt nach ihren Interaktionen sowie ihrer Stellung im politischen System. Im fünften Kapitel werden die drei frühen KZ Moringen, Dachau und Kislau im Mittelpunkt stehen. Es fragt nach den Akteuren, die für die Haftanordnung und den -vollzug verantwortlich waren, sowie nach ihren Zielen. Dabei soll das institutionelle Arrangement, innerhalb dessen sich die Akteure bewegten, sowie ihr Handeln auf normen- bzw. maßnahmenstaatliche Tendenzen hin untersucht werden. Eine Analyse der Häftlingsgesellschaften kann zeigen, dass in den drei Lagern schon in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre »asoziale« und »kri119 Zit. nach Morsch, Sachsenhausen, S. 805.
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minelle« Häftlinge phasenweise einen bedeutenden Teil der Gesamtinsassen zahl ausmachten. Ausgehend von den Erkenntnissen über die rechtlichen Grundlagen der KZHaft nimmt das sechste Kapitel die Haftpraxis in den Blick. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach den beteiligten Akteuren, den Zwecken, die sie mit der KZEinweisung verfolgten und nach den Zielpersonen. Indem geprüft wird, ob sich die Akteure bei der Haftanordnung an die Vorgaben der einschlägigen Erlasse und Verordnungen hielten, wird zudem das Verhältnis zwischen Konzeption und Durchführung der Maßnahmen untersucht. Das letzte Kapitel der Studie befasst sich mit der Verfolgungsphase ab 1937/38, in der die neu geschaffene Reichskriminalpolizei die zuvor in regionaler und lokaler Eigenverantwortung erprobten Maßnahmen systematisierte und zentral steuerte.
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1. Die Phase des konzeptionellen Experimentierens 1880 bis 1933
Die Phase des konzeptionellen Experimentierens erstreckte sich vom Kaiserreich über den Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten. Die während dieser Zeit entwickelten Konzepte zur Bekämpfung von Devianz und Delinquenz mussten 1933, nach der Zerstörung des Rechtsstaates und der Ausschaltung der demokratischen Öffentlichkeit, nur noch praktisch umgesetzt werden. Im Folgenden sind zunächst einige zentrale gesellschaftspolitische Entwicklungstendenzen zu skizzieren, welche die Phase des konzeptionellen Experimentierens prägten. Anschließend werden die Theorien und Konzepte vorgestellt, an welche die Akteure nach 1933 bei der Verfolgung und Inhaftierung von Angehörigen sozialer Randgruppen und Mehrfachstraftätern anknüpften.
1.1 Wohlfahrtsstaat, Rassenhygiene und Kriminologie. Die drei Programme zur Lösung der »sozialen Frage« Das ausgehende 19. Jahrhundert war durch gravierende gesellschaftliche Transformationsprozesse gekennzeichnet, die man gemeinhin unter dem Oberbegriff »Modernisierung« zusammenfasst: Industrialisierung, demografischer Wandel und Urbanisierung schufen neue Problemlagen, die Politik und Öffentlichkeit unter dem Schlagwort »soziale Frage« verhandelten. In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zeichnete sich die Herausbildung von drei Programmen ab, die als Lösungsversuche verstanden werden können: der Wohlfahrtsstaat, die Eugenik bzw. Rassenhygiene und die Kriminologie.1 Alle drei Programme waren Felder vielfältiger Auseinandersetzungen ideologischer, wissenschaftlicher und politikstrategischer Art. Ihr Verhältnis zueinander war teils komplementär, teils antagonistisch. Sowohl zwischen den Akteuren der drei Programme als auch zwischen den Lösungsvorschlägen und 1 Diese Unterteilung geht auf David Garland zurück, der auf Grundlage seiner Untersuchung zu Großbritannien allerdings zwischen vier Programmen unterscheidet: dem »criminological programme«, dem »eugenic programme«, dem »social security programme« und dem »social work programme«. Garland, Punishment, S. 74 f. Das System der Sozialversicherungen (social security programme), die öffentliche und private Wohlfahrtspflege sowie die Sozialarbeit (social work programme) wurden hier unter dem Begriff »Wohlfahrtsstaat« zusammengefasst.
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den zu ihrer Realisierung notwendigen Institutionen kam es zu Überschneidungen. Allerdings wurde keines vollständig in die Praxis umgesetzt. Man implementierte einzelne Aspekte, verwarf aber andere oder nahm sie in modifizierter Form an.2 Alle drei Programme verhalfen jenen modernisierungstypischen Entwicklungstendenzen zum Durchbruch, die mit den Schlagworten »Rationalisierung«, »Bürokratisierung«, »Professionalisierung«, »Verwissenschaftlichung«, »Biologisierung« und »Medikalisierung« charakterisiert werden können.3 Diese Entwicklung führte zu einer spezifischen Perspektive auf die »soziale Frage«, die sich über das gesamte Spektrum der politischen Parteien erstreckte und die Detlev Peukert als »sozialtechnischen Machbarkeitswahn«4 beschreibt. Gleichzeitig waren die vorgeschlagenen Lösungen untrennbar mit »weitgespannten utopischen Projektionen« verknüpft, in denen »der Traum von einer endgültigen Lösung der sozialen Frage«5 mitschwang. So wie die Fortschritte in der Medizin und Hygiene zur Ausrottung von Krankheiten geführt hatten, die jahrhundertelang als Geißeln der Menschheit galten, glaubte man auch unliebsame soziale Phänomene wie Armut, Kriminalität und Vagabundentum ein für alle Mal überwinden zu können, die durch die Transformationsprozesse der Moderne erschreckende Dimensionen und eine neue Sichtbarkeit erreichten. Nachdem die Humanwissenschaften im 19. Jahrhundert ihren Siegeszug angetreten hatten, folgte die Deutung derartiger Verwerfungen in zunehmendem Maße medizinisch-biologischen Paradigmen. Entsprechend ausgerichtet waren auch die Lösungsvorschläge. Die »Prävention« bzw. »Prophylaxe sozialer Pathologien«6 wurde zur Leitidee im Umgang mit gesellschaftlichen Problemen. Das Resultat war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine grundlegende Neuordnung der sozialen Sphäre: Unterschiede, seien sie ethnischer, religiöser oder kultureller Art, aber auch Devianz und Delinquenz, wurden zunehmend auf das »Erbgut« reduziert.7 Die Biologisierung des Sozialen verabsolutierte derartige Differenzen zu biologischen Gesetzmäßigkeiten, delegitimierte soziale Werte wie den Gleichheitsgrundsatz und rückte an die Stelle des Individuums mitsamt seiner unveräußerlichen Rechte einen abstrakten »Volkskörper« oder »Genpool«, den es »rein«, »gesund« und »leistungsfähig« zu 2 Vgl. Becker, Strategien, S. 432 f.; Garland, Punishment, S. 145, 152, 161, 261; Westermann, Leid, S. 36–43. 3 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung, S. 179. Für das wohlfahrtsstaatliche Programm vgl. Peukert, Republik, S. 132 f., 136–139; Reulecke, Vorgeschichte, S. 70. Für das rassenhygienische Programm vgl. Schwartz, Protestantismus, S. 120. Für das kriminologische Programm vgl. Becker, Strategien, S. 407, 423, 433; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 12. 4 Peukert, Republik, S. 137. 5 Ebd., S. 138 f. Vgl. Garland, Punishment, S. 112; Weingart u. a., Rasse, S. 90, 143, 487. 6 Raphael, Verwissenschaftlichung, S. 172. Vgl. Becker, Strategien, S. 423, 433; Wetzell, Criminal, S. 17–20. 7 Vgl. Weingart u. a., Rasse, S. 528 f.
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erhalten galt.8 Das führte zusammen mit den Tendenzen der Bürokratisierung, Professionalisierung und Verwissenschaftlichung zu einer Auflösung tradierter moralischer, ethischer und religiöser Grenzen.9 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf das kriminologische Programm. Zunächst sollen die zentralen Akteure vorgestellt sowie jene Ideen skizziert werden, die wesentliche Anknüpfungspunkte für den nationalsozialistischen Kampf gegen »Asoziale« und »Berufsverbrecher« bildeten. Es folgt eine Darstellung der Stationen der Strafrechtsreform während der Weimarer Republik, wobei wiederum die Verhandlungsergebnisse im Mittelpunkt stehen, welche die Nationalsozialisten nach 1933 aufgriffen.10
1.2 Akteure und Leitgedanken des kriminologischen Programms Die Entwicklung des kriminologischen Programms stand von Anfang an im Zeichen eines zumindest europäischen, wenn nicht internationalen intellektuellen Austauschs. Bedeutende Impulse kamen aus Italien (Cesare Lombroso, Raffaele Garofalo, Enrico Ferri), Österreich (Rudolf von Jhering, Wilhelm Emil Wahlberg, Franz von Liszt), Großbritannien (James Cowles Prichard) und der Schweiz (Eugen Bleuler). Durch die Gründung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) im Jahr 1889, die Herausgabe von Fachzeitschriften und das Abhalten internationaler Konferenzen formierte sich die Kriminologie, lange bevor die ersten Lehrstühle eingerichtet wurden. Ihre Etablierung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin war eng mit dem Aufstieg der Humanwissenschaften verbunden. Vor allem psychiatrisch gebildete Experten11 begannen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, Einfluss auf die Diskurse über die Ursachen des Verbrechens und seine Bekämpfung zu nehmen. Sie traten in den Dialog mit Juristen, Theologen, Strafvollzugspraktikern und den sogenannten »Moralstatistikern«,12 die bis dahin die strafrechtliche Diskussion bestimmt 8 Vgl. ebd.; Westermann, Leid, S. 36 f. 9 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung, S. 168 f., 183; Weingart u. a., Rasse, S. 533 f. 10 Zwar lieferten auch die Diskussionen über das »Bewahrungsgesetz« Anknüpfungspunkte, auf die sich die Akteure nach 1933 bei den KZ-Einweisungen von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« bezogen; da die »Bewahrungsdiskussion« aber den »Sicherungs- und Besserungsgedanken« der Strafrechtsreformbewegung aufgriff und fürsorgerechtlich wendete, soll hier nicht weiter auf diese Debatte eingegangen werden. Für eine ausführliche Darstellung vgl. Willing, Bewahrungsgesetz. 11 Die klinische Psychiatrie war im 19. Jahrhundert selbst im Entstehen begriffen. Die Wissensproduktion in diesem Bereich wurde von entsprechend spezialisierten Medizinern vorangetrieben. Allerdings war psychiatrisches Fachwissen noch kein prüfungsrelevanter Gegenstand des Medizinstudiums. 12 Führende »Moralstatistiker« waren André-Michel Guerry (1802–1866) und Adolphe Jacques Quetelet (1796–1874) in Frankreich sowie Georg von Mayr (1841–1925) in Deutschland. Durch statistische Analysen wollten sie den Zusammenhang zwischen Verbrechen
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hatten. Das zog einen fundamentalen Wandel im Verständnis des Phänomens Kriminalität nach sich. Zentrale Prämissen des klassischen Strafrechts wurden grundlegend in Frage gestellt.13 Das klassische Strafrecht gründete sein Täterbild auf dem Konzept der Willensfreiheit.14 Der Täter galt als autonomes Subjekt, das den Entschluss zur Gesetzestreue wie zum Rechtsbruch aus freiem Willen fasste. Man spricht daher auch von einem indeterministischen Täterbild. Da der Täter die Tat in vollem Bewusstsein über die Rechtsfolgen beging, lud er Schuld auf sich, die strafrechtlich vergolten werden sollte. Deswegen wird das klassische Strafrecht auch als Tat-, Vergeltungs-, Sühne- oder Schuldstrafrecht bezeichnet.15 Voraussetzung für einen Schuldspruch war allerdings, dass der freie Wille des Täters zum Tatzeitpunkt nicht durch eine »krankhafte Störung der Geistestätigkeit«16 beeinträchtigt war. Im 19. Jahrhundert gewann die Unterscheidung zwischen dem krankhaft geistesgestörten Täter und dem gewöhnlichen Verbrecher an Bedeutung. Seitdem der englische Psychiater James Cowles Prichard (1785–1848) im Jahre 1835 den Begriff der »moral insanity«17 geprägt hatte, ging man davon aus, dass einem Teil der Straftäter krankheitsbedingt das moralische Empfinden und dementsprechend auch das sittliche Verständnis von Recht und Unrecht fehle. Ein »moralisch schwachsinniger« Täter handelte nicht aus freiem Willen und galt daher als unzurechnungsfähig.18 Um die Frage der Zurechnungsfähigkeit zu klären, zogen die Gerichte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts immer öfter Psychiater als forensische Sachverständige heran. Ihre Gutachten bildeten das Einfallstor für die »Medikalisierung des Strafsystems«.19 Die unterschiedlichen Denk- und Arbeitsweisen von Juristen und Alter, Geschlecht, Beruf, Erziehung, Klima und Jahreszeit erforschen. Vgl. Mayenburg, Kriminologie, S. 87–90; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 72 f. 13 Vgl. Becker, Verderbnis, S. 13–18, 22–27; Mayenburg, Kriminologie, S. 27–30, 33–36; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 23 f., 125 f. 14 Vgl. Krauth, Hirnforschung, S. 9, 19–22; ders., Kritik, S. 43–57. 15 Vgl. Naucke, Zerbrechlichkeit, S. 79–105; Roxin, Grundlagen, S. 178 f. Bekannte Vertreter des strafrechtlichen Vergeltungsgedankens sind Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. 16 Wortwörtlich machte § 51 RStGB die Exkulpation davon abhängig, dass »der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war«. Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 24 f. 17 Vgl. Prichard, Treatise. 18 Das Konzept des »moralischen Schwachsinns« stellte Psychiater und Juristen allerdings vor das Dilemma, dass man nicht jedem »psychisch abnormen« Täter auch die Schuldunfähigkeit bescheinigen wollte. Gerade solche Täter, die aufgrund ihrer langen Vorstrafenliste dem Bild des »gemeinen Verbrechers« entsprachen, wollte man vor Gericht nicht exkulpieren. Daher begannen einige Psychiater bald Theorien zu entwickeln, die das Phänomen geistiger Störungen vom Krankheitsbegriff entkoppelten. Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 64– 72, 76–79; Wetzell, Criminal, S. 83–100, 144–153; Simon, Kriminalbiologie, S. 209–308. 19 Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 126. Vgl. ebd., S. 25 f., 35–38; Wetzell, Criminal, S. 21–24.
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und Psychiatern führten allerdings zu Problemen. So hatten Erkenntnisinteresse bzw. Aussagefähigkeit der beiden Professionen einen unterschiedlichen Zeithorizont: Während sich die Richter für mögliche Einschränkungen der Willensfreiheit zum Zeitpunkt der Tat interessierten, konnten die Psychiater lediglich über die psychische Verfassung des Täters zum Zeitpunkt der ärztlichen Untersuchung gesichert Auskunft geben. Das Spannungsfeld zwischen der Aussagekraft des psychiatrischen Gutachtens und den an es herangetragenen richterlichen Anforderungen führte dazu, dass die »erbliche Belastung« bzw. die Suche nach Auffälligkeiten der Tat und der Täterpersönlichkeit in den Expertisen an Bedeutung gewann. Konnte bei einem Beschuldigten ein angeborener geistiger Defekt nachgewiesen werden, so die dahinterstehende Logik, musste dieser auch zum Tatzeitpunkt die Willensfreiheit beeinträchtigt haben. Der so etablierte Nexus Geistesstörung-Krankheit-Vererbung-Kriminalität bildete die Grundlage für verschiedene Ansätze zur Erklärung der Ursachen von Kriminalität und für die Entstehung neuer Täterbilder.20 Eine der Leitideen war in diesem Zusammenhang die Degenerationstheorie.21 Basierend auf bereits existierenden Überlegungen zur menschlichen Degeneration entwickelte der französische Psychiater Benedict Augustin Morel (1809–1873) im Jahre 1857 eine Theorie, die als »Morelsches Gesetz« tiefgreifenden Einfluss auf die Humanwissenschaften ausüben sollte. Unter Degeneration verstand Morel »krankhafte Abweichungen vom normalen menschlichen Typ«.22 Sie seien »erblich übertragbar« und entwickelten sich »progressiv bis zum Untergang«.23 Die Ursachen der Degeneration reichten Morel zufolge von Vergiftungen, z. B. durch Alkohol, über das soziale Milieu, ein »krankhaftes Temperament« oder »moralische Erkrankungen« bis hin zu angeborenen oder erworbenen Schäden.24 Im zeitgenössischen Diskurs geriet das Morelsche Gesetz schnell in das Fahrwasser der populären Rezeption von Charles Darwins (1809–1882) Evolutionstheorie und ihres Kerngedankens der natürlichen Selektion. Indem Morel das Erblichkeitsparadigma mit Verhaltensweisen verknüpfte, die gemeinhin als lasterhaft galten, befeuerte er die problematische Übertragung von Darwins Befunden auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften, die heute als Sozialdarwinismus bezeichnet wird.25 20 Vgl. Mayenburg, Kriminologie, S. 85–87, 205–209; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 38 f., 44–48; Wetzell, Criminal, S. 40–45. 21 Vgl. Weingart u. a., Rasse, S. 42–47. 22 Morel zit. nach Ackerknecht, Geschichte, S. 51. 23 Ders. zit. nach ebd. 24 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 68; Weingart u. a., Rasse, S. 47–50, 58–68; Wetzell, Criminal, S. 46–51. 25 Vgl. Harms, Biologismus, S. 98–103; Weingart u. a., Rasse, S. 114–125. Krauth zeigt, dass neben der degenerationstheoretischen Lesart unter Sozialdarwinismus zeitgenössisch auch ein Prozess verstanden werden konnte, in dem gesellschaftliche Evolution zu einer Verbesserung durch Selektion der Anpassungsfähigen und somit zu einer Anpassung an sozial erwünschtes Verhalten führte. Vgl. Krauth, Hirnforschung, S. 30–34.
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Neunzehn Jahre nach Morel publizierte der Italiener Cesare Lombroso mit seiner Monografie L’uomo delinquente (1876) eine Abhandlung, die das Nachdenken über die Ursachen der Kriminalität fundamental verändern sollte. In Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung,26 so der Titel der elf Jahre später veröffentlichten deutschen Übersetzung, bezog der Turiner Gefängnisarzt und Psychiater Morels Degenerationstheorie auf das »Verbrechertum« und beanspruchte damit das soziale Phänomen Kriminalität naturwissenschaftlich zu erklären. Lombrosos Hauptthese lautete, dass etwa ein Drittel aller Straftäter einer atavistischen Menschenspezies entstammten, die sich durch eine angeborene Neigung zum Verbrechen auszeichne. Wie bereits Morel, der meinte, in körperlichen Anomalien, z. B. einer ungewöhnlichen Schädelform, sichtbare Merkmale der Entartung erkennen zu können, ließ sich auch der »geborene Verbrecher« Lombrosos anhand physischer »Degenerationszeichen« entlarven. Mit der Vorstellung, ein »innerer Hang«27 treibe den Verbrecher notwendig zur Straftat, legte Lombroso den Grundstein für ein deterministisches Täterbild und die unzähligen Verbrechertypologien, die Psychiater, Strafrechtler und Kriminologen in seiner Nachfolge erstellten. Lombrosos Theorie sollte die Diskussionen der Kriminologie und Strafrechtspflege in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich prägen. Bis heute gilt Lombroso als Begründer der modernen Kriminologie.28 Die Lehre vom »geborenen Verbrecher« wurde von den Zeitgenossen nicht nur lebhaft, sondern auch sehr kritisch diskutiert.29 Im Zuge der LombrosoRezeption bildete sich eine weitere Leitidee des kriminologischen Programms aus: die »Anlage-Umwelt-Formel«.30 Ihr zufolge lag die Ursache des Verbrechens in einer Wechselwirkung zwischen Erbanlagen und der sozialen Umwelt des Straftäters begründet. Einer ihrer differenziertesten Vertreter war der Psychiater Gustav Aschaffenburg (1866–1944). Im Jahre 1903 veröffentlichte er unter dem Titel Das Verbrechen und seine Bekämpfung das erste kriminologische Lehrbuch in deutscher Sprache. In dieser Abhandlung galten soziale und individuelle Faktoren wie die Erziehung, Alter, Familienstand und Beruf ebenso als Ursachen des Verbrechens wie die geistigen Eigenschaften, Erbanlagen und die »Rasse« des Täters oder situative Gegebenheiten wie die Jahreszeit. Die be26 Lombroso unterscheidet vier Typen von Verbrechern: 1) den »geborenen Verbrecher«, 2) den »Verbrecher aus Leidenschaft«, 3) den »irren Verbrecher« und 4) den »Gelegenheitsverbrecher«. Die 1887 erschienene deutsche Übersetzung des L’uomo delinquente ist ausschließlich der Darstellung des »geborenen Verbrechers« gewidmet. Ein gleichnamiger zweiter Band, der 1890 erstmals in deutscher Übersetzung erschien, befasst sich mit den anderen drei Verbrechertypen. Vgl. Lombroso, Verbrecher (1887); ders., Verbrecher (1890). 27 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 68–70. 28 Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 142–164; Mayenburg, Kriminologie, S. 30, 108–113; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 73. 29 Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 164–169; Mayenburg, Kriminologie, S. 113–116; Wetzell, Criminal, S. 28–30, 46–52. 30 Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 79.
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deutendsten Verursacher von Kriminalität waren laut Aschaffenburg Armut und Alkoholkonsum. Allerdings führte die Mitberücksichtigung von sozialen Faktoren in der Anlage-Umwelt-Formel keineswegs zur Relativierung des Anlageparadigmas. Im Gegenteil, sie bestärkte es. Zwar war die »erbliche Belastung« eines Straftäters nicht beweisbar; da sie aber ebenso wenig widerlegt werden konnte, eignete sie sich als universelle Erklärungskategorie und machte die Anlage-Umwelt-Formel gegenüber Kritik nahezu unangreifbar.31 Die kriminologischen Abhandlungen in Folge Cesare Lombrosos einte das deterministische Täterbild. Ob durch Umwelteinflüsse, soziales Milieu oder Erbanlagen bedingt, der Verbrecher galt nicht mehr als autonomes Subjekt, das aus freiem Willen handelt, sondern als in seinen Entscheidungen und seinem Agieren durch bestimmte Faktoren gesteuert.32 Mit dem deterministischen Täterbild ist ein zentrales Element entwickelt, auf dem der nationalsozialistische Kampf gegen »Asoziale« und Mehrfachstraftäter fußte. Ein weiteres bildete die Integration rassenhygienischer Maßnahmen in das kriminologische Programm. Sie rückte nach dem kriminellen Individuum das »Verbrechen als soziale Krankheit«33 des »Gesellschaftskörpers« in den Mittelpunkt des Interesses. Das wichtigste Mittel, das im Zusammenhang mit einer rassenhygienischen Ausrichtung der Kriminalpolitik diskutiert wurde, war die Sterilisation. Im Jahr 1900 regte der Psychiater Paul Näcke die »Kastration bei gewissen Klassen von Degenerierten« an.34 So sollte die Weitergabe des defekten Erbguts an die nachfolgenden Generationen verhindert werden. Allerdings fand Näckes Vorschlag zunächst kaum Unterstützung.35 Vierzehn Jahre später lieferte der Jurist Hans von Hentig einen weiteren wichtigen Beitrag. In seiner Abhandlung Strafrecht und Auslese betrachtete er die Wirkungen des Strafrechts im Lichte von Darwins Evolutionstheorie. Hentig schlug vor, das Strafrecht als »Instrument sozialer Auslese« und als Mittel zur »Eliminierung des asozialen Menschen« zu nutzen.36 Um die »Vererbung krimineller Tendenzen«37 zu verhindern, befürwortete Hentig auch die Sterilisation. Noch wichtiger sei aber die Einführung einer unbefristeten Freiheitsstrafe. Ähnlich wie Näcke waren auch Hentigs Ideen in ihrer Radikalität nicht repräsentativ für ihre Zeit.38 Schon bald sollten sich derartige Theorien aber zu Ansätzen einer biologischen Kriminalprävention verdichten. Der Erste Weltkrieg löste eine Radikali31 Vgl. Mayenburg, Kriminologie, S. 126–129; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 74–81; Wetzell, Criminal, S. 60–67. 32 Durch die Hirnforschung hat das deterministische Täterbild wieder an Bedeutung gewonnen. Vgl. Hillenkamp, Hirnforschung. 33 Kraepelin, Verbrechen. 34 Näcke, Kastration. 35 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 43–72, 150–158. 36 Hentig, Strafrecht, S. 2, 21. 37 Ebd., S. 233 f. 38 Vgl. Mayenburg, Kriminologie, S. 200–240; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 156 f.
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sierung aus, die der Rassenhygiene Auftrieb verlieh. Von besonderer Bedeutung waren zwei Erfahrungen: Zum einen wurde die Theorie einer anlagebedingten psychischen Beeinträchtigung in der militärpsychiatrischen Behandlung von »Kriegsneurotikern« aufgewertet, eignete sie sich doch sehr gut dafür, das Kriegserlebnis als Auslöser psychischer Ausnahmezustände zu relativieren. Zum anderen hatten die Anstaltspsychiater angesichts der kriegsbedingten Versorgungskrise den Hungertod von etwa 70.000 Insassen als »Vernichtung überflüssiger Ballastexistenzen« billigend in Kauf genommen. Anschließend wuchs unter den Angehörigen dieser Profession die Bereitschaft, das kollektive bzw. nationale Interesse über das Wohlergehen des einzelnen Menschen zu stellen. Argumentationen, die Maßnahmen wie die Sterilisation oder sogar die Euthanasie als dem Wohle der Allgemeinheit dienende Alternative zur Versorgung »unnützer Existenzen« rechtfertigten, gewannen an Plausibilität. Der institutionelle Ausbau der Rassenhygiene in der Weimarer Republik leistete ihrer Rezeption weiteren Vorschub.39 In den Weimarer Jahren sollte die gesamtgesellschaftliche Krisenstimmung die Entwicklung des kriminologischen Programms maßgeblich beeinflussen. Drei Faktoren waren dafür ausschlaggebend: Erstens erlebte die unmittelbare Nachkriegszeit aufgrund von Demobilisierung, Arbeitslosigkeit, Inflation sowie bürgerkriegsartiger Zustände einen vorübergehenden Anstieg der Straf taten. Weit wichtiger waren aber die anderen Faktoren. So suggerierte die noch zu Zeiten des Kaiserreichs eingeführte Rückfallstatistik zweitens ein enormes Anwachsen der Kriminalität, das man als Zeichen einer bedrohlichen Ausbreitung des »Verbrechertums« interpretierte. Tatsächlich war der Anstieg der Rückfallstraftaten allerdings hauptsächlich statistischer Natur.40 Hinzu kam drittens die erhöhte Präsenz des Themas in der Öffentlichkeit. Presse und Belletristik widmeten sich der Kriminalität in einer beispiellosen Flut von Beiträgen. Sogar populäre Filme wie Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder griffen den kriminologischen Diskurs auf. Die Bluttaten der Serienmörder Fritz Haarmann und Peter Kürten, aber auch die geradezu legendären Einbruchdiebstähle 39 Vgl. Faulstich, Hungersterben, S. 25–68; Riedesser u. Verderber, Maschinengewehre, S. 31–38, 78 f. 40 Nach der Einführung der Statistik im Jahre 1882 dauerte es eine Weile, bis die Vorstrafen tatsächlich einheitlich erfasst waren. Das führte dazu, dass die Zahl der registrierten Vorbestraften einige Jahre lang anstieg. Bis zur Jahrhundertwende hatte sie sich aber auf einem relativ stabilen Wert eingependelt. Durch das Straftilgungsgesetz vom 1. Juli 1920, das die Tilgung länger zurückliegender Vorstrafen verfügte, sackte dieser Wert dann plötzlich ab. Dieser Effekt wurde durch den kriegsbedingten Rückgang der Verurteilungen noch verstärkt. Der erneute Anstieg der Zahl von Rückfallstraftätern ab 1921 stellte gewissermaßen eine Normalisierung der Verhältnisse dar. Zu diesem statistischen Phänomen kam als externer Faktor noch die Professionalisierung der Kriminalpolizei hinzu. Die Einführung von Fingerabdruckkarteien, Täterprofilen und der als »Verbrecheralben« bezeichneten Fotosammlungen führten zu einer vermehrten Überführung bereits polizeibekannter Täter, die sich in der Rückfallstatistik niederschlug. Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 177 f.
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der Gebrüder Saß vermittelten in der Öffentlichkeit den Eindruck, Polizei und Justiz stünden dem Verbrechen ohnmächtig gegenüber. Die Polizei selbst heizte die erregte Stimmung an, indem sie begann sämtliche Kapitalverbrechen der Presse zu melden und die Bevölkerung durch Aufrufe um Mithilfe bei der Aufklärung von Straftaten zu bitten.41 Vor dem Hintergrund dieses Bedrohungsszenarios formulierte der Kriminalist Robert Heindl (1883–1958)42 im Jahre 1926 in seinem Buch Der Berufsverbrecher das letzte Set von Leitideen des kriminologischen Programms, das hier als Anknüpfungspunkt für die sozialrassistischen KZ-Einweisungen im Nationalsozialismus vorgestellt werden soll. Heindl unterschied zwei Gruppen von Straftätern: Die erste Gruppe waren die »Gelegenheitsverbrecher«, die unter Umständen zwar relativ häufig Straftaten begingen, dies aber aufgrund von »äußeren Umständen, plötzlich auftretenden Impulsen oder unerwarteten Konflikten« täten.43 Mit der »Gaunerzunft« wollten sie laut Heindl »nichts zu tun haben«.44 Die zweite Gruppe waren die »Berufsverbrecher«, die sich durch ihre »Gewinnsucht«45 auszeichneten. Für sie war das Verbrechen Heindl zufolge »Broterwerb«,46 so wie »andere Menschen schustern, schneidern [und] Bücher schreiben«.47 Ein weiteres Definitionskriterium des »Berufsverbrechers« war seine Spezialisierung. Ähnlich wie ein Gewerbetreibender spezialisiere sich auch der »gewerbsmäßige Verbrecher« auf bestimmte Delikte und bediene sich bei ihrer Ausübung immer »derselben Arbeitsmethode«.48 Sein spezifischer modus operandi sei daher auch ein sicheres Mittel, um den »Berufsverbrecher« polizeilich zu überführen.49 Dieser Gedanke Heindls sollte als Perseveranztheorie in die Kriminologie eingehen und die Methoden der Kriminalpolizei entscheidend prägen. Neu war auch Heindls These, dass die »gewerbsmäßigen Verbrecher« eine fest umrissene Gruppe darstellten, die er auf etwa 8.500 Personen schätzte. Um das gesellschaftliche Problem der Kriminalität zu lösen, so die Schlussfolgerung, müsse die Polizei lediglich die Gruppe der »Berufsdelinquenten« dingfest machen.50 Dagegen war Heindls Unterscheidung zwischen »Gelegenheits«- und »Berufsverbrechern« nicht besonders originell. Seit Lombroso hatte sich das Er41 Vgl. Herzog, Stories; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 164–180. 42 Zur schillernden Persönlichkeit Heindls, der zeitweilig die Kriminalpolizei Dresden leitete, für das Berliner Auswärtige Amt in der Spionageabwehr tätig war, eines der führenden Fachorgane, Das Archiv für Kriminologie, mit herausgab und einen Gesetzentwurf für ein Reichskriminalpolizeiamt ausarbeitete vgl. Wagner, Volksgemeinschaft, S. 19 f. 43 Heindl, Berufsverbrecher, S. 139. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 140–142. 46 Ebd., S. 141. 47 Ebd., S. 164. 48 Ebd., S. 142. 49 Vgl. ebd., S. 142–155. 50 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft, S. 19–25, 74 f.
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stellen von Verbrechertypologien als Standardmethode für die Erklärung der Ursachen des Verbrechens etabliert.51 Verglichen mit anderen Klassifikationsversuchen dieser Art fällt allerdings auf, dass Heindl den weit verbreiteten Begriff »Gewohnheitsverbrecher« verwarf. Er hielt die Ausdrücke »Gewohnheits«und »Berufsverbrecher« für Synonyme und favorisierte Letzteren. Er war der Ansicht, nur so eine begrifflich klare Unterscheidung gegenüber dem »Gelegenheitsverbrecher« erreichen zu können. Heindls Buch, das innerhalb von nur drei Jahren sieben Auflagen erlebte, machte den Begriff »Berufsverbrecher« unter Kriminologen und in der Öffentlichkeit gleichermaßen populär.52 Ausgehend von dem eingangs beschriebenen Spannungsverhältnis zwischen dem Erkenntnishorizont psychiatrischer Gutachten und den an sie gestellten richterlichen Erwartungen, hatte die zunehmende Fokussierung der Sachverständigen auf mögliche krankhafte Beeinträchtigungen der Willensfreiheit des Täters und damit auch auf seine »erbliche Belastung« dazu geführt, dass statt der Tat zunehmend die Persönlichkeit des Täters in den Mittelpunkt der strafrechtspflegerischen Debatte rückte.53 Das hatte weitreichende praktische Implikationen, die Gegenstand des folgenden Abschnitts sein werden.
1.3 Die strafrechtlichen Konsequenzen des kriminologischen Programms Das klassische Strafrecht war, wie bereits erwähnt, als Vergeltungs- und Tatstrafrecht konzipiert. Es stand im Dienst des Schuldausgleichs und der Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Art und Umfang der Strafe sollten sich nach der Schwere der Tat bemessen. Sie stellten ein Äquivalent zum Grad der Schuld dar, die der Täter durch den Rechtsbruch auf sich geladen hatte. Das durch die Straftat geschaffene Unrecht sollte durch die Bestrafung des Täters vergolten werden, um so die verletzte Norm wiederherzustellen und die Rechtsordnung zu bestätigen. Gleichzeitig fand die Strafzumessung im Gedanken der Wertgleichheit von Verbrechen und Strafe ihre Grenze. Zwei Charakteristika des klassischen Strafrechts sind im Folgenden von besonderer Bedeutung: Es war erstens rückwärts gewandt, denn es zielte auf die Sühne vergangenen Unrechts. Eine präventive Kriminalpolitik war ihm wesensfremd. Zweitens war es selbstreferenziell. Da sich das klassische Strafrecht ausschließlich auf die Wiederherstellung der Norm bezog und den Sinn der Strafe von ihren gesellschaftlichen Wirkungen loslöste, war sein Strafzweck abstrakt. Man spricht daher auch von einer ab-
51 Vgl. Aschaffenburg, Verbrechen, S. 160–171; Kraepelin, Abschaffung, S. 39; Liszt, Zweckgedanke, S. 165–173; Simon, Kriminalbiologie, S. 84–90, 200–208. 52 Vgl. Heindl, Berufsverbrecher, S. 162–164. 53 Vgl. Mayenburg, Kriminologie, S. 205–209; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 72.
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soluten Strafrechtstheorie. Ihr Grundsatz lautete punitur quia peccatum est – es wird bestraft, weil gesündigt worden ist.54 Das deterministische Täterbild stellte die Prämissen des klassischen Strafrechts, das von der Annahme der Willensfreiheit ausging, fundamental in Frage. Im Angesicht des »geborenen Verbrechers«, den ein »innerer Hang« nahezu zwangsläufig zur Verübung von Straftaten trieb, schien der Schutz der Gesellschaft vor dem »gefährlichen« Täter geboten.55 Man meinte, der Schuldbegriff, der im klassischen Strafrecht eine so zentrale Rolle spielte, sei haltlos geworden. Schließlich konnte ein Krimineller, dessen Tat als determiniertes Verhalten aufgefasst wurde, nicht als verantwortlich handelnd gelten. Gleichzeitig machten die zahllosen Verbrechertypologien glauben, man könne die »besserungsfähigen« von den »unverbesserlichen« Straftätern unterscheiden. Das legte eine an die individuelle Täterpersönlichkeit angepasste Behandlung nahe, die auf die Verhütung zukünftiger Straftaten zielte. Im Unterschied zum klassischen Strafrecht sollte sich die Strafe daher nicht mehr nach dem Grad der Schuld, sondern nach der »Gefährlichkeit« des Täters bemessen. Damit hielt der Gedanke der Spezialprävention Einzug in die Strafrechtspflege, und die moderne Straftheorie wurde aus der Taufe gehoben. Das sogenannte Täterstrafrecht konstituierte den Täter als »Gegenstand staatlicher Zweckmäßigkeitserwägungen«56 und verfolgte mit dem Gesellschaftsschutz sowie dem »Besserungsgedanken« konkrete, in die Zukunft gerichtete Strafzwecke. Sein Grundsatz lautete punitur ne peccetur – es wird bestraft, damit nicht gesündigt werde.57
54 Vgl. Roxin, Grundlagen, S. 70–72, 99. 55 Zum Begriff der »Gefährlichkeit« im Strafrecht vgl. Galassi, Kriminologie, S. 344–351. Krauth fasst unter »Gefährlichkeit« »die Abwesenheit von Bestimmbarkeit durch strafrechtliche Normen«, mithin die Unansprechbarkeit »durch und Selbststeuerung gemäß« der Normen. Krauth, Hirnforschung, S. 10. 56 Ebd., S. 29. Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 727. 57 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 69 f., 125 f.; Roxin, Grundlagen, S. 73–75, 99, 178 f. Neben der Vergeltungstheorie und dem spezialpräventiven Täterstrafrecht gibt es eine dritte, bis heute wirkungsmächtige Strafrechtstheorie, die Lehre von der Generalprävention. Ihr zufolge liegt der Strafzweck weder in der Vergeltung noch in der speziellen Beeinflussung des Täters begründet, sondern sie soll generell auf die Allgemeinheit einwirken. Ziel der Strafandrohung und des Strafvollzugs ist es, die Bürger über die gesetzlichen Verbote zu belehren und von ihrer Übertretung abzuhalten. Die Theorie der Generalprävention ist relativ und präventiv. Unterschieden werden kann die negative Generalprävention, die durch Abschreckung von der Begehung von Straftaten abzuhalten beabsichtigt, und die positive Generalprävention, die das Vertrauen der Bürger in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung bestätigt und bestärkt. Das gegenwärtige Strafrecht stützt sich auf eine Kombination der Theorien von der Vergeltung, der Spezial- und Generalprävention, die sogenannte Vereinigungstheorie, wobei der Strafzweck der Vergeltung heute in den Hintergrund getreten ist. Vgl. ebd., S. 78–96. Herberts These von der rassischen Generalprävention greift einen Aspekt dieser juristischen Definition auf. Das umfassende Sicherheitskonzept der nationalsozialistischen Polizeiführung zielte ebenfalls darauf, die Allgemeinheit, oder besser: die »Volksgemeinschaft«, zu beeinflussen und zu formen.
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Die praktischen Implikationen des deterministischen Täterbildes führten gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum sogenannten Schulenstreit,58 bei dem sich Vertreter der klassischen und der modernen Schule hitzige Diskussionen über eine Reform des Strafrechts lieferten. Den ersten Versuch, das medizinisch-biologische Paradigma systematisch auf den Umgang mit Straftätern zu beziehen, unternahm Emil Kraepelin (1856–1926). Der junge Gelehrte sollte später als Begründer der klinischen Psychiatrie berühmt werden. In seinem Erstlingswerk, das den provozierenden Titel Die Abschaffung des Strafmaßes59 trug, legte Kraepelin im Jahre 1880 seine Vorstellungen von einer Strafrechtspflege auf naturwissenschaftlicher Grundlage dar. Angesichts der langen Vorstrafenregister der »Gewohnheitsverbrecher« polemisierte er scharfzüngig gegen das bestehende Strafsystem: »Die Strafzeit ist vorbei, das Gerechtigkeitsgefühl ist befriedigt, also wird ruhig das Raubtier wieder auf das Publikum losgelassen, bis es den angestrengten Bemühungen der Polizei mit Hilfe des ad hoc zusammengestellten ›Verbrecheralbums‹ gelingt, den gefährlichen Verbrecher […] wiederum auf einige Jahre […] dingfest zu machen.«60
Ausgehend von dieser Kritik forderte Kraepelin, die Vergeltungsstrafe durch einen unbefristeten Freiheitsentzug zu ersetzen, der dem Schutz der Gesellschaft vor »gefährlichen Verbrechern« dienen sollte. In Abgrenzung zur klassischen Straftheorie bezeichnete Kraepelin ihn als »Schutzmittel«.61 Kraepelin unterschied zwischen »Gewohnheitsverbrechern«, die er, weil »unverbesserlich«, in Arbeitshäusern inhaftiert sehen wollte, und den »Gelegenheitsverbrechern«, die er für erziehbar hielt und die daher in »Besserungsanstalten« unterzubringen seien.62 Aus den Strafzwecken des Gesellschaftsschutzes und der »Besserung« leitete Kraepelin seine Forderung nach der Abschaffung der richterlichen Strafzumessung ab, bei der die Strafdauer vor dem Vollzug festgelegt wird. Demgegenüber forderte Kraepelin, dass der Freiheitsentzug für »besserungsfähige« Straftäter »genau so lange, aber auch nur so lange« dauern sollte, wie »von dem betreffenden Individuum noch irgend welche Gefahr« ausging.63 Die Idee der unbefristeten »Verwahrung« war geboren. Die Entscheidung über eine Entlassung wollte Kraepelin in die Hände von medizinisch ausgebildetem Anstaltspersonal legen, das basierend auf einer »genaue[n] Beobachtung«64 des Häftlings einschätzen sollte, wann die ursprüngliche »Gemeingefährlichkeit als
Allerdings beschränkte es sich nicht auf die Normdurchsetzung, sondern sollte auf die rassenhygienische »Aufartung« des »Volkskörpers« hinwirken. 58 Vgl. ebd., S. 110. 59 Kraepelin, Abschaffung. 60 Ebd., S. 21. 61 Vgl. ebd., S. 4, 28 f. 62 Vgl. ebd., S. 71 f. 63 Ebd., S. 29. 64 Ebd.
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beseitigt anzusehen ist«.65 Die Rolle des Richters sah er darauf beschränkt, die Täterschaft festzustellen, über Schuld oder Unschuld zu befinden und zu verfügen, in welche Art von Anstalt der Täter einzuweisen sei.66 Die Forderungen Kraepelins waren zu radikal, um von den Juristen direkt aufgegriffen zu werden. Dennoch sollten sie im Strafrechtsdenken völlig neue Impulse setzen. Es war aber ein Vertreter der juristischen Zunft, der Rechtswissenschaftler Franz von Liszt (1851–1919), der die Ideen des jungen Psychiaters innerhalb der Strafrechtspflege salonfähig machte. Im Jahre 1882 als Professor für Strafrecht an die Universität Marburg berufen, hielt Liszt seine Antrittsvorlesung über den »Zweckgedanken im Strafrecht«.67 Ähnlich wie zwei Jahre zuvor Kraepelins Forderung nach der »Abschaffung des Strafmaßes« war dieser Titel in hohem Maße provozierend, brach die Einführung konkreter Strafzwecke doch fundamental mit der klassischen Prämisse der grundsätzlichen Zweckfreiheit von Strafe. Liszts Antrittsvorlesung sollte als »Marburger Programm« zum Manifest der Strafrechtsreformbewegung werden. Bis heute gilt Liszt als Vorkämpfer eines zweckrationalen, präventiven Strafrechts.68 Sein Konzept der Zweckstrafe entwickelte er aus der Rechtsgüterlehre. Strafzweck war demzufolge der Rechtsgüterschutz. Bemessungsgrundlage einer zweckbewussten Strafe konnte laut Liszt nicht das Schuld- und Vergeltungsprinzip sein, sondern nur die individuelle »Gefährlichkeit« und »Besserungsfähigkeit« des Täters. Gleichzeitig erfuhr die Strafgewalt durch den Zweckgedanken eine Begrenzung, weil dieser eine möglichst sparsame Verwendung der Strafe gebot: »Nur die notwendige Strafe ist gerecht.«69 Eine zweckrationale Strafe musste Liszts Vorstellung nach drei konkrete Ziele anstreben, denen er drei Verbrechertypen zuordnete: »1) Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher; 2) Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher; 3) Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher«.70 Vereinfacht gesagt unterschied Liszt zwischen den »Gewohnheitsverbrechern«, die er noch einmal in »Unverbesserliche« und »Besserungsfähige« unterteilte, und den »Gelegenheitsverbrechern«, die keiner »Besserung« bedurften. Ausgehend von den Tätertypen entwickelte Liszt konkrete Vorschläge zur Umgestaltung des Strafsystems. Den Hintergrund bildete wie bei Kraepe lin die These vom Versagen des bestehenden Strafsystems gegenüber dem »Gewohnheitsverbrechertum«. Um die Gesellschaft vor »unverbesserlichen« Straftätern zu schützen, müsste der Richter künftig ab der dritten Verurteilung 65 Ebd. 66 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 126–129. 67 Liszt, Zweckgedanke. 68 Vgl. Mayenburg, Kriminologie, S. 98–102; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 125, 129; Naucke, Zerbrechlichkeit, S. 223–264. 69 Liszt, Zweckgedanke, S. 161. 70 Ebd., S. 166. Zur Kritik an Liszts apriorischer Begriffsbildung, welche die Tätertypen aus den Strafwirkungen ableitet vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 131; Schmidt, Einführung, S. 376.
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auf »Einschließung auf unbestimmte Zeit«71 erkennen können. Vollstreckt werden sollte diese Strafe in Zucht- oder Arbeitshäusern unter strengstem Arbeitszwang. Für die »Besserungsfähigen« forderte Liszt die Einrichtung spezieller »Besserungsanstalten«,72 in denen sich die Aufenthaltsdauer nach dem »Erziehungserfolg« richten sollte. Die Gefangenen würden aufgrund ihres Verhaltens während des Aufenthalts in verschiedene Stufen eingeteilt und entsprechend behandelt. Die wichtigsten Erziehungsmittel waren Liszt zufolge Arbeit und Elementarunterricht. Die dritte Gruppe, die »Gelegenheitsverbrecher«, benötigte in Liszts Augen keine »systematische Besserung«.73 Gegen sie sollte der Richter zur Abschreckung vor weiteren Rechtsbrüchen eine der tradierten Strafen des alten Strafgesetzbuches verhängen.74 Im Gegensatz zu Kraepelin strebte Liszt nicht die Beseitigung der richterlichen Strafzumessung an. Der Richter würde weiterhin grundsätzlich vorab entscheiden, ob ein Täter zeitlich befristet oder für unbegrenzte Dauer einzusperren sei. Ohne die Unterstützung psychiatrischer oder kriminologischer Experten sollte er allein anhand der Deliktart und des Vorstrafenregisters einschätzen, ob er einen »besserungsfähigen« oder »unverbesserlichen« Straftäter vor sich hatte, und das Strafmaß festlegen, das der individuellen Täterpersönlichkeit angemessen erschien. Um dies zu erleichtern, stellte Liszt in seiner Marburger Antrittsvorlesung sogar einen Katalog der typischen Delikte des »Gewohnheitsverbrechers« zusammen, in dem Eigentums- und Sittlichkeitsverbrechen an erster Stelle standen. Im Falle eines zeitlich unbestimmten Freiheitsentzugs wollte er auch die Entscheidung über den Entlassungstermin beim Gericht ansiedeln.75 An Liszts Konzept der Zweckstrafe entzündete sich der Schulenstreit. Über Jahrzehnte hinweg sollten sich zwei Lager gegenüberstehen: Auf der einen Seite die moderne Schule der Strafrechtswissenschaft, zu deren Gründung Liszt nicht nur gedanklich, sondern auch durch seine wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit maßgeblich beitrug.76 Auf der anderen Seite gruppierte sich die klassische Schule um Karl Binding (1841–1920) und Karl von Birkmeyer (1847–1920), welche die tradierte Vergeltungsstrafe verteidigten.77 71 Liszt, Zweckgedanke, S. 170. 72 Ebd., S. 172. 73 Ebd. 74 Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 349–351; Mayenburg, Kriminologie, S. 92–108; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 130–133. 75 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 134–136; Wetzell, Criminal, S. 17–20. 76 Liszt versammelte einen Kreis von Schülern um sich, dem zahlreiche der später einflussreichen Rechtsgelehrten angehörten, z. B. Robert von Hippel, Franz Exner und Gustav Radbruch. Gemeinsam mit Adolf Dochow gründete er 1880 die Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, das zentrale Organ der Strafrechtsreformdebatte. Neun Jahre später rief Liszt zusammen mit anderen die IKV ins Leben. Ihre erste Satzung enthielt eng an das »Marburger Programm« angelehnte Grundsätze, die für alle Mitglieder verbindlich waren. Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 232–336; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 129, 136 f. 77 Im Gegensatz zur modernen Schule, die sich auf ein ihr nahestehendes Publikationsorgan und sogar auf eine internationale Vereinigung stützen konnte, verfügte die klassische
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Allerdings waren die Lager im Schulenstreit nicht so geschlossen, wie die Gegenüberstellung zwischen Modernen und Klassikern bzw. Täter- und Tatstrafrecht suggeriert. Theoretisch standen die Prämissen der beiden Strafrechtskonzeptionen einander zwar diametral gegenüber, doch gab es auch Ähnlichkeiten und Überschneidungen, die im Rahmen der Reformdiskussion Ansatzpunkte für strategische Allianzen und Kompromisse boten.78 Eine besonders überraschende Überschneidung bestand in der lagerübergreifenden Einschätzung, das unbestimmte Strafurteil, das zentrale Element der »Schutzstrafe«79 Kraepe lins, gefährde die Rechtssicherheit. So befürchtete Birkmeyer den Verlust der bürgerlichen Freiheit, die das klassische Strafrecht durch die richterliche Strafzumessung mit ihrer Bindung an gesetzliche Vorgaben sowohl vor Willkürakten einzelner Richter als auch vor denen der Vollzugsorgane schützte. Auch die Vertreter der modernen Schule waren sich dieses autoritären Moments bewusst. Teils deuteten sie es positiv als Stärkung der Staatsgewalt,80 teils warnten sie sogar vor der Gefahr eines Abdriftens in den Polizeistaat.81 Eine weitere Überschneidung, die sich als bedeutend erweisen sollte, bestand in der lagerübergreifenden Befürwortung strafrechtsflankierender Verwaltungs maßnahmen. Obwohl sie massive Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte darstellten, gehörten sie seit langem zum festen Repertoire der Verbrechensbekämpfung. Ein Beispiel für eine solche Verwaltungsmaßnahme war die als »korrektionelle Nachhaft« bezeichnete polizeiliche Unterbringung in einem Arbeitshaus,82 die der Richter bei einer Verurteilung nach § 361 RStGB optional verhängen konnte. § 361 RStGB belegte Bettelei, Landstreicherei, widerrechtliche Prostitution und unter Umständen auch »Arbeitsscheu«, »Müßiggang«, Verletzungen der Unterhaltspflicht, Spiel- und Trunksucht mit Haftstrafen von einem Tag bis zu sechs Wochen. Zusätzlich zum Urteil konnte der Richter gemäß § 362 RStGB die Überweisung an die Landespolizeibehörde aussprechen,
Schule über keinen derartigen institutionellen Rahmen. Folgt man Christian Müller bildeten die Klassiker nicht einmal eine »Schule im eigentlichen Sinne«. Ebd., S. 136. 78 Vgl. Mayenburg, Kriminologie, S. 154–163; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 125 f., 126–169, 180–227. 79 Ebd., S. 126. 80 Vgl. Aschaffenburg, Verbrechen, S. 245. 81 Der Kriminologe Robert Sommer leitete diese Warnung nicht aus dem unbestimmten Strafurteil, sondern aus der deterministischen Verbrechensauffassung ab, die, wie er hellsichtig feststellte, »bei unkritischer Anwendung […] Gefahr läuft, zu einem gemeingefährlichen Mittel eines Polizeistaats zu werden«. Sommer, Kriminalpsychologie, S. 309 f. Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 139. 82 Ein weiteres Beispiel war die verwaltungsrechtliche Einweisung von unzurechnungsfähigen Straftätern in psychiatrische Anstalten im Anschluss an einen Freispruch. Ähnlich wie die »korrektionelle Nachhaft« war auch sie eine wichtige konzeptionelle Vorlage und Argumentationshilfe bei der Durchsetzung der Forderung nach der kriminalpräventiven »Verwahrung« »gefährlicher« Straftäter. Vgl. Liszt, Zurechnungsfähigkeit; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 82 f., 142–144.
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die dadurch die Befugnis erhielt, den Betroffenen nach verbüßter Haftstrafe für eine Dauer von maximal zwei Jahren in ein Arbeitshaus einzuweisen.83 Derartige verwaltungsrechtliche Maßregeln stießen selbst bei Vertretern der klassischen Schule auf Akzeptanz, weil sie nicht als Strafen im eigentlichen Sinne galten. Der Stratege Franz von Liszt machte sich das zu Nutze, indem er eine »begriffliche Trennung von vergeltender Strafe und vorbeugender Maßregel« vorschlug.84 Damit war der »Basiskompromiss«85 der Strafrechtsreform, das »›zweispurige[n]‹ Modell«, gefunden: Man einigte sich auf die Einführung von »Maßregeln der Besserung und Sicherung«, die »im Sinne der Spezialprävention individuell auf den Täter einwirken und ihn von der Begehung weiterer Straftaten abhalten« sollten.86 Als Zugeständnis an die Vertreter der klassischen Schule sah das zweispurige Modell die Maßregeln allerdings nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zur Vergeltungsstrafe vor. Die Kombination von Vergeltungs- und Präventionsprinzip führte jedoch zu einer gefährlichen Erweiterung des strafrechtlichen Interventionsrahmens, denn sie beraubte beide Strafkonzepte ihrer spezifischen Grenzsetzungen.87 Indem es dem alten Vergeltungsstrafrecht »übergestülpt« wurde, verlor das moderne Sicherungsprinzip die Begrenzung, die Liszt ursprünglich durch die logische Ausrichtung der Strafe am Zweckgedanken vorgesehen hatte. Strafe und Maßregel konnten in der Summe das Maß überschreiten, das gemäß einem zweckrationalen Kalkül als unbedingt notwendig und damit laut Liszt als gerecht gelten konnte. Umgekehrt durfte im zweispurigen Modell das klassische Maß der gerechten Vergeltung im Namen der Prävention überschritten werden. So verletzten die »Maßregeln der Besserung und Sicherung« das rechtsstaatliche Doppelbestrafungsverbot und führten zu einer »aus rechtsstaatlicher Perspektive fragwürdige[n] Internierung von – im Rechtssinne – ›unschuldigen‹ Personen«:88 Die »Verwahrung« sollte genau zu dem Zeitpunkt einsetzen, zu dem die Tat vergolten war und der Gefangene die Freiheit wiedererlangt hätte. Ironischerweise rief also gerade die von den Vertretern der klassischen Schule im Namen der Rechtsstaatlichkeit durchgesetzte Zweispurigkeit eine Tendenz zur Entgrenzung des Strafens hervor.
83 Zugrunde gelegt ist hier § 361 RStGB in der Fassung von 1894. Vgl. Gesetz Änderung Unterstützungwohnsitz/Ergänzung StGB, RGBl 1894, S. 261; Ayaß, Nachhaft. Die in § 361 kodifizierten Tatbestände stufte das RStGB als sogenannte Übertretungen ein, die es als geringste Form strafbarer Handlungen von den Vergehen und Verbrechen unterschied. Vgl. Roxin, Grundlagen, S. 272 f. 84 Liszt, Gegner, S. 367 f. 85 Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 141. 86 Ebd., S. 198. Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 840; Roxin, Grundlagen, S. 3, 96–100, 110. 87 Zum rechtsstaatlichen Schutz des Einzelnen vor dem Strafrecht mittels Eingrenzung der Strafgewalt vgl. ebd., S. 138–143. 88 Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 198. Vgl. ebd., S. 149, 168 f.
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1.4 Die Stationen der Strafrechtsreform und ihr Scheitern Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert griffen verschiedene Akteure und Diskussionsforen die Idee der Verknüpfung von Vergeltungsstrafe und »Maßregeln der Besserung und Sicherung« auf und unterbreiteten konkrete Vorschläge zu einer Reform des Strafrechts. Entsprechende Teilkonzepte legten z. B. die Forensisch-psychiatrische Vereinigung zu Dresden (1898), die Deutsche Landesgruppe der IKV (1904) und der Deutsche Juristentag (1904) vor. Das Gesetzgebungsverfahren zur Strafrechtsreform wurde ab 1902 vorbereitet. Es sollte jedoch bis zum 22. April 1909 dauern, bis der erste »Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch«89 vorlag. Seine Verfasser, eine Kommission aus hohen Ministerialbeamten und Richtern, nahmen Elemente des »Sicherungs- und Besserungsgedankens« jedoch nur dort auf, wo es unbedingt geboten erschien.90 Daher blieb der Reformentwurf weit hinter den Erwartungen der Strafrechtsreformbewegung zurück. Zwei Jahre nach seiner Veröffentlichung legten einige ihrer führenden Köpfe einen Gegenentwurf vor, der sich stärker am Kompromiss orientierte, den die Vertreter im Schulenstreit um die Jahrhundertwende hatten erzielen können. Der Gegenentwurf enthielt z. B. ein Konzept für die rechtliche Kodifizierung einer zeitlich befristeten »Verwahrung« von »Gewohnheitsverbrechern«.91 Offenbar war sich auch das Reichsjustizamt der Überarbeitungsbedürftigkeit des Vorentwurfs bewusst. Bereits Mitte des Jahres 1910 hatte es die Ausarbeitung der amtlichen Gesetzesvorlage eingeleitet, indem es eine neue Kommission beauftragte, der neben Justizpraktikern auch einige Universitätsprofessoren angehörten, die eine wichtige Rolle in der Reformdiskussion spielten. Am 4. April 1911 trat die Strafrechtskommission zum ersten Mal zusammen. Ihren Entwurf92 verabschiedete sie am 27. September 1913.93 Verglichen mit dem Vorentwurf enthielt der Kommissionsentwurf größere Zugeständnisse an die Forderungen der modernen Strafrechtsschule. Er erweiterte den Spielraum des Richters, bei der Strafzumessung die »Täterpersönlichkeit« strafmildernd oder strafverschärfend zu berücksichtigen. Außerdem formulierte er ein trennscharf von der Strafe unterschiedenes System von »Maßregeln der Besserung und Sicherung«. Dazu gehörten u. a. die Anordnung von Wirtshausverboten und die Einweisung in Trinkerheilanstalten und Arbeitshäuser. Für »Gewohnheitsverbrecher« war im Anschluss an die Strafhaft die Möglichkeit einer »Verwahrung« vorgesehen.94 89 Im Folgenden als »Vorentwurf« bezeichnet. 90 Vgl. ebd., S. 161. 91 Vgl. ebd., S. 164–166. 92 Im Folgenden als »Kommissionsentwurf« bezeichnet. 93 Vgl. ebd., S. 167. 94 Vgl. ebd., S. 167 f.
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Der Erste Weltkrieg brachte das Reformvorhaben zum Stillstand. Anschließend gelang es aber, mit den Reformarbeiten unmittelbar an den im Kaiserreich erzielten Diskussionsstand anzuknüpfen. Das Kompromissmodell des zweigleisigen Nebeneinanders von Vergeltungsstrafe und präventiven Maßregeln wurde nicht mehr in Frage gestellt. Aber die Zusammensetzung der mit der Reform befassten Akteure änderte sich. Während vor dem Krieg in erster Linie juristische und psychiatrische Experten die Diskussion bestimmt hatten, wurde die Strafrechtsreform in der Weimarer Republik zum Gegenstand politischer und öffentlicher Auseinandersetzungen. Die neuen Divergenzen lagen oftmals quer zu dem alten Gegensatz zwischen dem modernen und dem klassischen Strafsystem. Bald überlagerte die Kontroverse zwischen liberalen und autoritären Strafrechtspolitikern den Schulenstreit.95 Noch im Krieg, im Frühsommer 1918, beauftragte das Reichsjustizamt eine neue Strafrechtskommission mit der Überarbeitung des Strafgesetzentwurfs aus dem Jahre 1913. Doch es sollten fast zehn Jahre vergehen, bevor sich der Reichstag mit dem Reformvorhaben befassen konnte. Allein bis zur Erstellung der Kabinettsvorlage, die der sozialdemokratische Reichsjustizminister Gustav Radbruch schließlich im September 1922 vorlegte,96 vergingen vier Jahre. Ihre Diskussion beanspruchte zwei weitere Jahre. Grund dafür war neben kontroversen inhaltlichen Fragen auch die Schnelllebigkeit der Weimarer Kabinette, die den Fortgang der Debatten hemmte. Erst am 17. November 1924 konnte die Regierung den »Amtlichen Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches« an den Reichsrat weiterleiten. Doch auch dort liefen die Beratungen schleppend an. Die Verabschiedung des Entwurfs erfolgte zweieinhalb Jahre später, am 13. April 1927. Im Mai brachte der Reichsjustizminister ihn dann in den Reichstag ein.97 Hatte sich der Entwurf Radbruch durch eine starke Betonung der »Besserungsidee« und des Resozialisierungsgedankens ausgezeichnet, führten die Verhandlungen im Reichsrat zu einer einseitigen autoritären Ausrichtung des Reformvorhabens. Diese Tendenz war auch den kritischen Zeitgenossen bewusst. So distanzierte Radbruch sich im Mai 1927 von dem Ergebnis der Reichsratsberatungen und konstatierte, dass das Reformvorhaben »auf schiefer Ebene mit zunehmender Geschwindigkeit bergab« gleite.98 Dennoch gab es bei den Beratungen im Reichstag abgesehen von den Abgeordneten der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) nur wenige grundsätzliche 95 Vgl. ebd., S. 180, 183, 195, 202 f. 96 Im Folgenden als »Entwurf Radbruch« bezeichnet. 97 Vgl. ebd., S. 181–194. 98 Radbruch, Kurs, S. 241, 244. Bei einer Beurteilung der Gesetzesvorlage muss allerdings berücksichtigt werden, dass strafmildernde Elemente Anfang der 1920er-Jahre bereits auf dem Wege der Einzelgesetzgebung verwirklicht worden waren. Beispiele dafür sind das Jugendgerichtsgesetz vom 16. Februar 1923 oder das Geldstrafengesetz vom 27. April desselben Jahres. Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 186, 190, 194.
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Reformgegner. Zahlreiche politisch-ideologische Detailfragen wie die Abschaffung der Todesstrafe, das Abtreibungsverbot oder die Strafbarkeit der Gotteslästerung waren aber strittig.99 Als Moderator und Integrationsfigur der debattenreichen parlamentarischen Arbeit fungierte Wilhelm Kahl, der die Deutsche Volkspartei im Reichstag vertrat. Bis zu seinem Tod am 14. Mai 1932 bemühte er sich, den Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens zu sichern, das durch die zahlreichen Krisen der Weimarer Regierungen immer wieder ins Stocken geriet.100 Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen zeichneten sich insbesondere gegenüber der zeitlich unbefristeten »Sicherungsverwahrung« für »Gewohnheitsverbrecher« Bedenken ab. Parteiübergreifend wurden Zweifel formuliert, ob diese Maßregel mit genügend Rechtssicherheiten ausgestattet sei. Die Skepsis der bürgerlichen Parteien ließ sich jedoch durch die Verankerung von Vorkehrungen gegen missbräuchliche Anwendung zerstreuen, z. B. durch eine richterliche Überprüfung der »Sicherungsverwahrung« im Abstand von drei Jahren. Die Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und der KPD hingegen befürchteten, die »Sicherungsverwahrung« könne als Instrument einer einseitigen Klassenjustiz missbraucht werden. Diesem Einwand trug ein Kompromissvorschlag Rechnung, der die Anordnungsvoraussetzungen konkretisierte. Vorgesehen war u. a. ein Deliktkatalog, der eine Reihe von Straftaten, darunter insbesondere solche politischer Natur, auflistete, die für eine Verurteilung als »Gewohnheitsverbrecher« nicht hätten angerechnet werden dürfen. Für diejenigen jedoch, die auch nach der neuen Fassung als »Gewohnheitsverbrecher« galten, fehlte es weiterhin an rechtsstaatlichen Garantien.101 Der Diskussionsprozess war zwar langwierig, dennoch konnte in vielen Kernfragen der Reform, z. B. hinsichtlich der »Maßregeln der Besserung und Sicherung«, schließlich ein Konsens erzielt werden. Dahingegen blieben gerade jene Detailfragen ungeklärt, die wie das Verbot der Gotteslästerung oder die Todesstrafe den größten politisch-ideologischen Konfliktstoff in sich trugen.102 Angesichts der zunehmend polarisierten politischen Mehrheitsverhältnisse im Reichstag geriet die Strafrechtsreform dadurch zu einem parteipolitischen Spagat. Wie der Historiker Christian Müller vermutet, wäre das Reformprojekt möglicherweise dennoch erfolgreich verabschiedet worden, hätte man nach dem Zerbrechen der Großen Koalition im März 1930 im Reichstag der fünften Legislaturperiode über die offenen Streitfragen separat abgestimmt. Stattdessen geriet das Reformprojekt in den Strudel der untergehenden Weimarer Demokratie. Zwei Wochen nach dem Tod Wilhelm Kahls, durch den das Reformprojekt seine wichtigste Antriebskraft und einflussreichsten Moderator verlor, stürzte das Kabinett Brüning.
99 Vgl. ebd., S. 196–227. 100 Vgl. ebd., S. 196 f. 101 Vgl. ebd., S. 198–205. 102 Vgl. ebd., S. 223 f., 226 f.
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»Der ohnehin kaum handlungsfähige sechste Reichstag nahm die Beratungen über die Strafrechtsreform nicht mehr auf. Just in der Entscheidungsphase des sich über 30 Jahre erstreckenden Gesetzgebungsverfahrens mangelte es an einem funktionsfähigen Gesetzgeber.«103
Erst der Machtantritt der Nationalsozialisten ermöglichte die Realisierung einiger wesentlicher Elemente der Strafrechtsreform auf dem Wege der Gesetzes‑ novellierung.
1.5 Konzeptionelle Anknüpfungspunkte für die sozialrassistische und kriminalpräventive Verfolgung im Nationalsozialismus Die Rationalisierung, Bürokratisierung, Professionalisierung und Verwissenschaftlichung des sozialen Lebens führte zu einer enormen Wissensproduktion und schuf damit die Voraussetzungen für eine systematische Kontrolle und Repression von Devianz und Delinquenz. Erst die Statistiken, Karteien und Einzelfallakten, welche die Sozialverwaltungsapparate generierten, ermöglichten das Erfassen, Speichern, Ordnen und Auswerten jener persönlichen Informationen, auf denen die Klassifizierung einer Person als »asozial« oder »kriminell« basierte. Ohne den Rückgriff auf die Datenspeicher von Justiz, Polizei, Wohlfahrts- und Gesundheitswesen wäre die gegen »Asoziale« und »Berufsverbrecher« gerichtete Verfolgungspraxis im Nationalsozialismus nicht möglich gewesen. Ihre ideologische Grundlage bildeten das deterministische Täterbild und die daran geknüpften Verbrechertypologien. In der Zeit vor 1933 waren sich wichtige Protagonisten der Strafrechtsreformbewegung noch über die Inkonsistenz der zeitgenössischen kriminologischen Theorien,104 die rechtsstaatliche Fragwürdigkeit ihrer Umsetzung und den weiteren Forschungsbedarf im Klaren.105 Unter den Bedingungen des Nationalsozialismus wurden die Theorien in den Stand von Handlungsanleitungen erhoben. Das bildete ein gefährliches Einfallstor für richterliche und polizeiliche Willkür, denn es handelte sich weder um wissenschaftlich beweisbare Phänomene noch um klare Rechtsbegriffe. Der »geborene Verbrecher« und alle anknüpfenden Theorien waren schlicht Hirngespinste der Kriminologen, erdacht in dem zum Scheitern verurteilten Versuch, das soziale Phänomen Kriminalität naturwissenschaftlich zu erklären. Spätestens mit Heindls Buch Der Berufsverbrecher erreichten die zeitgenössischen Verbrechertypologien eine Popularität, die weit über den Kreis der mit der Kriminologie und Strafrechtspflege befassten Akteure hinausreichte. Doch 103 Ebd., S. 227. 104 Als Beispiel vgl. Kraepelin, Uomo. 105 Als Beispiel vgl. Liszt, Zweckgedanke, S. 165 f.
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Abb. 1: Karteikartensystem als Datenspeicher bei der Berliner Kriminalpolizei in den 1930er-Jahren.
wie schon so vielen Kriminologen vor ihm blieb es auch Heindl versagt, ein schlüssiges und konsensfähiges Klassifikationsschema zu entwickeln. Dennoch waren Merkmale wie die »Gewinnsucht« oder der »innere Hang« zum Verbrechen feste Bestandteile des Diskurses über Kriminalität. Ob die im Nationalsozialismus mit der Kriminalprävention und Strafrechtspflege befassten Akteure letztendlich den Ausdruck »Berufs«- oder »Gewohnheitsverbrecher« favorisierten, scheint hauptsächlich davon abhängig gewesen zu sein, in welcher Rezeptionstradition sie standen und in welchem Kontext sie handelten. So sprachen die mit der »Sicherungsverwahrung« betrauten Juristen von »Gewohnheitsverbrechern«, nannte doch das einschlägige Gesetz explizit diesen Verbrechertypus als Zielgruppe. Damit reihte es sich in die Diskussionen über die »Verwahrung« um die Jahrhundertwende ein, deren Hauptaugenmerk ebenfalls auf den »Gewohnheitsverbrechern« gelegen hatte. Die Praktiker innerhalb der Kriminalpolizei orientierten sich hingegen stärker an der Terminologie des Kriminalisten Heindl, dessen monumentale Monografie sicherlich auch den Autoren des Geheimerlasses über die »Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft für Berufsverbrecher« vom 13. November 1933 geläufig war.106 Sowohl das »Gewohnheits106 Im Folgenden auch als »Vorbeugungshafterlass« bezeichnet.
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verbrechergesetz« als auch der Geheimerlass griffen bei der Beschreibung ihrer Zielgruppe auf die von der Kriminologie herausgearbeiteten Motive des »kriminellen Hangs« (»Gewohnheitsverbrecher«) und der »Gewinnsucht« (»Berufsverbrecher«) zurück. In den Verbrechertypologien spielten neben den Motiven des Täters auch die Delikte eine zentrale Rolle. Schon Liszt schrieb dem »Gewohnheitsverbrecher« eine spezifische Deliktstruktur zu. Er stellte sogar einen Katalog auf, der als praktische Handreichung für die Richter dienen sollte. Dahinter stand die Absicht, die richterliche Kompetenz der Strafzumessung gegenüber dem zunehmenden Einfluss der Psychiater abzusichern.107 Doch bildete die Vorstellung, anhand der Vorstrafenregister im Auszählungsverfahren bestimmte Verbrechertypen unterscheiden und die Strafzumessung entsprechend individuell gestalten zu können, ein weiteres Einfallstor für Willkürakte. In einem solchen System beschränkte sich die Tätigkeit des Richters nicht mehr auf seine ursprünglichen Aufgaben der Normauslegung und Rechtsprechung, sondern er musste auch die Persönlichkeit des Täters einschätzen und eine Prognose über dessen »Gefährlichkeit« anstellen. Ähnlich wie der Versuch, die Ursachen der Kriminalität medizinisch-biologisch zu erklären, waren aber auch derartige Sozial- oder Rückfallprognosen grundsätzlich zum Scheitern verurteilt, denn es ist unmöglich, menschliches Verhalten vorherzusagen. Die Spannungen, die zwischen den Ansprüchen der in die Zukunft gerichteten Kriminalprävention und dem notwendig vergangenheitsbezogenen Gerichtsverfahren entstanden, zeichneten sich bereits in der oben erörterten Praxis der forensisch-psychiatrischen Gerichtsgutachten ab. Während sich der Erkenntnishorizont des Gerichtsverfahrens in der Feststellung eines Straftatbestandes erschöpft, etablierten die Gutachten eine diskursive Strategie, die darin bestand, aus dem Vorleben einer Person, also aus Faktoren wie dem Strafregister, sozialen Verhaltensauffälligkeiten und familiären Krankheitsbelastungen auf die künftige Sozialschädlichkeit zu schließen. Als geradezu stilbildend kann eine Formulierung aus dem Vorschlag der Forensisch-psychiatrischen Vereinigung zur gesetzlichen Regelung einer »Verwahrung« von »vermindert Zurechnungsfähigen« und »gemeingefährlichen Geisteskranken« aus dem Jahre 1898 gelten. Die Anordnungsvoraussetzung lautete, der Täter müsse »durch wiederholte Bestrafung Anlass zu Befürchtung gegeben« haben, »dass er nach Verbüßung der erkannten Strafe weitere Straftaten begehen werde«.108 Diese Formel, welche die ungünstige Sozialprognose in einem simplen Kausalschluss aus dem Vorstrafenregister ableitete, war nach 1933 eine der stereotypen Begründungen für die Anordnung der »Vorbeugungshaft« gegen »Berufsverbrecher«. Durch die Anlage-Umwelt-Formel, die erbbiologische und soziale Faktoren als Verbrechensursache flexibel gegeneinander ausspielte, lässt sich zudem er107 Vgl. ebd., S. 169 f.; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 134. 108 Verhandlung, S. 451 f.
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klären, warum sich die »kriminellen Lebensläufe«, welche die Kriminalpolizei bei der Befragung von Verdächtigen und Straftätern erstellte, selbst dann noch auf soziale Faktoren stützten, als die nationalsozialistische Kriminalpolitik längst das rassenhygienische Paradigma zu ihrer Leitlinie erhoben hatte. Gemäß der Anlage-Umwelt-Formel konnten ungünstige soziale Bedingungen sowohl die Ursache für einen durch Degeneration hervorgerufenen »kriminellen Hang« sein als auch äußere Anzeichen für das Vorliegen eines unsichtbaren »erblichen Defektes«. Indem sie sozial devianten Verhaltensweisen wie »sittliche Verwahrlosung«, »Arbeitsscheu« oder Alkoholismus als Indizien für eine Disposition zur Kriminalität wertete, etablierte die Anlage-Umwelt-Formel zudem einen Nexus zwischen »Asozialität« und Kriminalität:109 Soziale Devianz konnte auf eine »kriminellen Neigung« hinweisen, die wie eine schlummernde Krankheit nur noch nicht zum Ausbruch gekommen war. Eine ähnliche Funktion, wie das Vorleben und soziale Auffälligkeiten beim Erstellen der Prognose über die künftige »Gefährlichkeit« eines Straftäters hatten, kam auch den »Degenerationszeichen« Lombrosos zu. Zwar waren »Henkelohren« oder eine auffällige Schädelform für sich genommen keine Gründe für die Anordnung freiheitsentziehender Maßregeln, aber schon in der Weimarer Republik machten sich Kriminalbiologen und Vollzugspraktiker an die »erbbiologische Erfassung« polizei- und justizbekannter Straftäter. Im Nationalsozialismus zählte die Feststellung anatomischer Auffälligkeiten in »erbbiologischen Fragebögen« zu den kriminalpolizeilichen Alltagsroutinen. Bargen schon die kriminologischen Deutungsmuster zahlreiche Ansatzpunkte für pauschale Vorverurteilungen und willkürliche Unterstellungen, öffnete der Basiskompromiss im Schulenstreit ein Einfallstor für die Entgrenzung des Strafens, die sich dann mit der Machtergreifung 1933 Bahn brach. Die im Gesetzgebungsverfahren zur Strafrechtsreform ausgearbeiteten Konzepte zur praktischen Umsetzung des zweispurigen Modells bildeten konkrete Vorlagen für die entsprechenden Gesetzesnovellen im Nationalsozialismus. So fanden sich zentrale Elemente der »Maßregeln der Besserung und Sicherung« im »Gewohnheitsverbrechergesetz«110 wieder: Deliktkataloge, Anordnungsvoraussetzungen und die konzeptionellen Verknüpfungen zwischen Strafverschärfung und »Sicherungsverwahrung« wurden mit wenigen Änderungen übernommen. Aber auch die »Vorbeugungshaft« knüpfte an bereits ausgearbeitete Konzepte an. Zwei Beispiele mögen das abschließend verdeutlichen: 109 Die Verbindung »Asozialität«-Krankheit findet sich bereits in Prichards Konzept der »moral insanity« wieder. Von diesem Ansatzpunkt aus konnte sich die erbbiologische Deutung sozialer Devianz entwickeln. In einer Lesart, die seiner ursprünglich exkulpatorischen Wirkung scharf entgegengesetzt war, sollte der Begriff des »moralischen Schwachsinns« in den 1930erJahren wiederbelebt werden: Die Erbgesundheitsgerichte verwendeten ihn als äußerst dehnbare Formel zur Begründung für die Zwangssterilisation »Asozialer«. Vgl. Ayaß, Asoziale (2005), S. 58 f.; Bock, Zwangssterilisation, S. 319–326; Simon, Kriminalbiologie, S. 299–308. 110 Der offizielle Name lautete »Gesetz gegen Gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung« (24. November 1933).
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Einen wichtigen Ausgangspunkt der praktischen Reformvorschläge bildete die Diskussion über die »Verwahrung« »vermindert Zurechnungsfähiger« und »gemeingefährlicher Geisteskranker«. Im Zusammenhang mit einem entsprechenden Gesetzentwurf, den die IKV im Jahre 1904 verabschiedete, konnte Liszt durchsetzen, dass derartige »Sicherungsmaßregeln« auch gegenüber Personen angewendet werden sollten, die »noch nicht verbrecherisch geworden« waren, die aber »infolge von ausgeschlossener oder verminderter Zurechnungsfähigkeit« als »gemeingefährlich« anzusehen seien.111 Damit war ein erster Vorstoß in Richtung eines Willensstrafrechts112 unternommen.113 In diesem Vorschlag ist unschwer eine Analogie zu der straftatunabhängigen Inhaftierung von »Gemeingefährlichen« zu erkennen, zu der im November 1933 der preußische Geheimerlass über die »Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft für Berufsverbrecher« die Kriminalpolizei ermächtigte.114 Ein weiterer konzeptioneller Anknüpfungspunkt für die »Vorbeugungshaft« ergab sich aus den Beratungen des Weimarer Reichsrates. Nach kontroversen Diskussionen war es dem Land Preußen 1927 gelungen, die richterliche Zuständigkeit für die »Maßregeln zur Besserung und Sicherung« abzuwehren und sie zu einer reinen Verwaltungsmaßnahme zu degradieren. Eine solche Regelung hätte zwar der preußischen Verwaltungstradition entsprochen, gleichzeitig bedeutete sie aber auch die Entkoppelung des zeitlich unbefristeten Freiheitsentzugs von den rechtsstaatlichen Garantien eines gerichtlichen Strafverfahrens. Erst der Strafrechtsausschuss des Reichstages machte dies aus rechtsstaatlichen Erwägungen wieder rückgängig, kurz bevor die Strafrechtsreform im Strudel der untergehenden Republik scheiterte. Das Einfallstor für polizeistaatliche Willkür war damit aber nur vorübergehend wieder geschlossen.115
111 Beschlüsse der Versammlung, S. 286. 112 Ferdinand Kadečka, ein Strafrechtsexperte, der federführend mit der Ausarbeitung des »Entwurfs Radbruch« befasst und gleichzeitig ein Anhänger des Willensstrafrechts war, definierte es 1940 folgendermaßen: »Das Strafrecht ist Willensstrafrecht, wenn es den Grund der Strafe nicht mehr in dem Schaden oder der Gefahr erblickt, die sich als Erfolge der Tat darstellen, […] sondern im Willen des Täters.« Kadečka zit. nach Goltsche, Entwurf, S. 98. 113 Vgl. Hartl, Willensstrafrecht, S. 56–65; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 146 f. Allerdings kann, wie Benedikt Hartl hervorhebt, die moderne Schule nicht als direkter Vorläufer des nationalsozialistischen Willensstrafrechts gelten. Zum Willensstrafrecht im Nationalsozialismus vgl. Gruchmann, Justiz, S. 775. 114 Während bei Liszt jedoch die krankheitsbedingte Unzurechnungsfähigkeit die Ursache der »Gemeingefährlichkeit« und den Verwahrungsgrund bildete, zielte die »Vorbeugungshaft« auf Personen, die einen »verbrecherischen Willen« offenbart und dadurch ihre »Gemeingefährlichkeit« bewiesen hätten. Vgl. GStAPK, I. HA. Rep. 84a, Nr. 8203, Geheimerlass PrMdI, 13.11.1933 [pr. Vorbeugungshafterlass]. 115 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 187, 192 f., 198–205.
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2. Die nationalsozialistischen KZ der Vorkriegszeit. Historiografie, Entwicklung und Struktur
Sowohl im öffentlichen Bewusstsein als auch in der Geschichtsschreibung gelten die KZ als das charakteristische Machtinstrument des nationalsozialistischen Regimes.1 Die Historikerin Karin Orth beschreibt die Lager als »besonders monströse Ausformung des Verfolgungsapparates und zugleich genuines Element des Nationalsozialismus«.2 Dennoch stellt sich die Frage nach den Vorläufern dieser spezifischen Institution nationalsozialistischen Terrors.
2.1 Die historiografische Suche nach den Vorbildern der nationalsozialistischen KZ Immer wieder haben Historiker die Frage aufgeworfen, ob die Nationalsozialisten bei der Errichtung der ersten KZ im Frühjahr 1933 einem vorab ausgearbeiteten Plan folgten. Die Existenz eines einheitlichen Konzeptes oder zentraler Weisungen konnte bislang nicht belegt werden. Dennoch besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Einrichtungen wie die KZ schon vor 1933 zum TerrorPlan der Hitler-Bewegung gehörten.3 Führende Nationalsozialisten, allen voran Adolf Hitler, hatten unverhohlen angekündigt, dass sie bereit waren, ihre Herrschaft auch unter Anwendung von Gewalt zu errichten, und keinen Zweifel daran gelassen, dass sie jedwede Opposition brutal zu zerschlagen gedachten. In diesem Zusammenhang propagierten sie auch die Einrichtung von Konzentrations- oder Sammellagern. Allerdings existierten zu diesem Zeitpunkt noch keine konkreten Pläne zur Ausgestaltung dieser Institution, geschweige denn Vorstellungen darüber, welcher »systematisierte Terror«4 mit Hilfe der Lager 1 Vgl. Arendt, Elemente, S. 908. 2 Orth, System, S. 15. Dieser Einschätzung haben sich viele Historiker angeschlossen. Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 3. 3 Vgl. Goeschel u. Wachsmann, Auschwitz, S. 532; Mayer-von Götz, Terror, S. 42 f.; Pingel, Konzeption, S. 148–151; Tuchel, Konzentrationslager, S. 10, 35–38. Eine wichtige Ausnahme bildet die These von Klaus Drobisch und Günther Wieland. Ihrer Auffassung nach habe die NSFührung »die Konzentrationslager von vornherein als ständigen wesenseigenen Bestandteil ihres Repressivapparates« geradezu »programmiert«, wobei sie auf »beträchtliche Erfahrungen« hätten zurückgreifen können, welche »die vorangegangene Regierung mit Schutzhaft und Konzentrationslagern gesammelt hatten«. Drobisch u. Wieland, System, S. 12, 21. 4 Tuchel, Konzentrationslager, S. 37.
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ausgeübt werden würde. Vielmehr handelte es sich um eine generelle »Ankündigung«, die laut Tuchel »im Gesamtzusammenhang des nationalsozialistischen Politikkonzepts zu sehen«5 ist. Dennoch reichten die Terrordrohungen, welche die NS-Führer vor 1933 gestreut hatten, offenbar aus, um die verschiedenen regionalen Herrschaftsträger – Regierungs- oder Polizeipräsidenten, Innenminister und Parteiführer – zu ermutigen, in den auf den Machtantritt folgenden Monaten in Eigeninitiative, unkoordiniert und dezentral KZ zu errichten. Die gezielte Konzeption der KZ als Herrschaftsmittel setzte dann 1934 ein. Gerade weil die KZ kein vorausgeplanter Bestandteil der nationalsozialistischen Machtergreifung und Herrschaftssicherung waren, stellt sich die Frage nach ihren Vorbildern. An welchen Institutionen orientierten sich die verschiedenen lokalen Protagonisten im Frühjahr 1933 bei der Errichtung »ihres« KZ? Angesichts andauernder Forschungstätigkeit und virulenter Kontroversen können die diesbezüglichen Überlegungen hier lediglich auszugsweise dargestellt und vorsichtig bilanziert werden.6 Dass die KZ »keine nationalsozialistische Erfindung«7 waren, zeigt sich daran, dass das Wort bereits im Zusammenhang mit den von den Briten im Südafrikanischen Krieg gegen die Buren (1899–1902) errichteten concentration camps Einzug in die deutsche Sprache hielt und zunächst eng mit diesen verknüpft blieb. Der Brockhaus fasste 1925 unter dem Begriff ganz allgemein größere Unterkünfte zur »Internierung von Zivilisten während eines Krieges«.8 Die vertiefende historiografische Suche nach den institutionellen Vorbildern der nationalsozialistischen Orte des Terrors konzentriert sich auf drei Gebiete:9 Vielfach verwiesen wurde erstens auf die Kolonien, in denen die europäischen Kolonialverwaltungen und Militärs das Macht- und Disziplinierungsmittel »Konzentrationslager« erstmals erprobten: auf die campos de reconcentración der Spanier auf Cuba (1896), die plague and famine camps der britischen Kolonialregierung in Indien (1896), die Konzentrationszonen der Amerikaner auf den Philippinen (1901), die concentration camps (1899–1902), welche die Briten im südafrikanischen Transvaal errichteten, und schließlich auf die »Konzentrationslager«, die von den Deutschen im Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika unterhalten wurden (1904–1907).10 Zweitens konzentriert sich die Suche auf die Internierungs- und Zwangsarbeitskomplexe Ders., Organisationsgeschichte, S. 43. Vgl. Wachsmann, KL, S. 60 f. Als Überblick vgl. Kramer, Einleitung. Tuchel, Konzentrationslager, S. 5. Zit. nach Kundrus, Kontinuitäten, S. 58. Vgl. Kramer, Einleitung, S. 8f; Kreienbaum, Fiasko, S. 24 f. 9 Vgl. Goeschel u. Wachsmann, Auschwitz, S. 526–532; Wachsmann, KL, S. 6–9, 60–63. 10 Vgl. Brumlik, Jahrhundert, S. 28; Drobisch u. Wieland, System, S. 14; Gerwarth u. Malinowski, Holocaust; Herbert, Jahrhundert; Wippermann, Konzentrationslager, S. 23–32. Einige Autoren sehen in den Koloniallagern direkte Vorläufer der NS-KZ. Vgl. Olusoga u. Erichsen, Holocaust; Zeller, Vieh; Zimmerer, Windhuk. Für eine kritische Bilanz solcher Ansätze vgl. Kreienbaum, Fiasko, S. 293–309; Kundrus, Kontinuitäten. 5 6 7 8
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des »Archipel Gulag«,11 die bereits unter Lenin 1918 als Lager für »Klassenfeinde« geschaffen worden waren und in der stalinistischen Ära ins Riesenhafte erweitert wurden. Bis die Kunde von den Lagern der Nationalsozialisten 1933 nach Russland drang, wurden die Lager des »Gulag« mitunter auch als »Konzentrationslager« bezeichnet. Das dritte Gebiet der Suche bildet die Frage nach möglichen institutionellen Vorläufern innerhalb des Deutschen Reichs selbst.12 Da die Geschichte des »Gulag« und der Koloniallager zwei extrem weite Forschungsfelder bildet, aus denen sich zudem wenig Anknüpfungspunkte für die vorliegende Studie ergeben, wird sich die folgende Darstellung auf die institutionellen Vorbilder innerhalb des Deutschen Reiches konzentrieren. Die Historiker Jane Caplan, Nikolaus Wachsmann und Christian Goeschel sehen Traditionen, an denen sich die Akteure beim Aufbau der KZ 1933 orientierten, in der Militärischen Sicherungshaft, in Einrichtungen des Disziplinarapparates wie den Arbeitshäuser oder den Lagern des Freiwilligen Arbeitsdienstes (FAD), im Gefängnissystem, dem Militär und schließlich in den paramilitärischen Freikorpsverbänden.13 Die 1851 von der preußischen Regierung eingeführte Militärische Sicherungshaft bildete einen direkten Vorläufer der »Schutzhaft«,14 also desjenigen rechtlichen Konstruktes, auf das sich im Frühjahr 1933 die KZ-Haft hauptsächlich stützte. Die Militärische Sicherungshaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts ermöglichte es den preußischen Militärbefehlshabern in Zeiten des Ausnahmezustandes das Grundrecht auf persönliche Freiheit15 außer Kraft zu setzen und Personen ohne Gerichtsverfahren zeitlich unbefristet zu inhaftieren. Im Ersten Weltkrieg nutzte die kaiserliche Regierung dieses Rechtsinstitut, um den inneren Widerstand gegen die Kriegspolitik zu unterdrücken. Nun begann sich statt Militärischer Sicherungshaft die Bezeichnung »Schutzhaft« durchzusetzen. Auch die Verfassung der Weimarer Demokratie ließ in Art. 48 Abs. 2 die Verhängung des militärischen Ausnahmezustands und zeitweilige Außerkraftsetzung bestimmter Grundrechte zu. Während der zahlreichen politischen U nruhen 11 Solschenizyn, Archipel. Vgl. Barberowski u. Doering-Manteuffel, Ordnung, S. 15–18; Overy, Dictators, S. 593–634. 12 Vgl. Drobisch u. Wieland, System, S. 16–21; Goeschel u. Wachsmann, Auschwitz, S. 528 f. Hingegen wurden die österreichischen »Anhaltelager« der 1930er-Jahre von der Forschung selten als möglicher Ideengeber für die nationalsozialistischen KZ in Betracht gezogen. Als historischen Überblick vgl. Jagschitz, Anhaltelager; Pauley, Hitler. Zur Rezeption der »Anhaltelager« in der NS-Presse vgl. Moore, Camps (2010). 13 Vgl. Caplan, Detention, S. 29–36, 40 f.; Goeschel u. Wachsmann, Auschwitz, S. 529–532; Wachsmann, KL, S. 61–63. An anderer Stelle hebt Wachsmann allerdings hervor, dass das Regime, »nachdem Hitler an die Macht gekommen war, das NS-Konzentrationslager erst noch erfinden musste«. Ders., Terror, S. 11. 14 Der Haftgrund »zum Schutz der eigenen Person« hatte mit dem Preußischen Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit vom 24. September 1848 Einzug in das preußische Polizeirecht gehalten. Ein gleichnamiges Gesetz vom 12. Februar 1850 sowie das Preußische Gesetz über den Belagerungszustand bauten ihn weiter aus. Vgl. Drobisch u. Wieland, System, S. 16. 15 Vgl. Art. 5 der Preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850.
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der 1920er-Jahre nutzten sowohl militärische als auch zivile Machthaber die »Schutzhaft« zur Niederschlagung von Aufständen. Im Krisenjahr 1923 stieg die Zahl der Häftlinge sprunghaft an, sodass das Militär zu ihrer Unterbringung »Konzentrationslager« auf Truppenübungsplätzen oder den Geländen ehemaliger Kriegsgefangenenlager errichtete. Ebenfalls als »Konzentrationslager« firmierten die Lager in Cottbus-Sielow und Stargard, in denen die Behörden Ausländer – mehrheitlich sogenannte »Ostjuden« – einsperrte, die zwar aus dem Reichsgebiet ausgewiesen, jedoch nicht abgeschoben werden konnten. Doch verglichen mit der nationalsozialistischen »Schutzhaftpraxis«, die in der Phase der Machtkonsolidierung auf die unwiederbringliche Zerschlagung der deutschen Arbeiterbewegung abzielte, diente die Militärische Sicherungshaft im Ersten Weltkrieg bzw. die »Schutzhaftpraxis« der Weimarer Republik lediglich der punktuellen Ausschaltung von Kriegs- und Regierungsgegnern.16 Außerdem unterlagen die Lebens- und Unterbringungsbedingungen in den »Konzentrationslager« genannten Einrichtungen der Weimarer Jahre der parlamentarischen Kontrolle. Sie hatten daher eine grundsätzlich andere Qualität als die extra-legalen Haftstätten des NS-Regimes.17 Einen weiteren Anknüpfungspunkt bildeten die Anstalten der Sozialdisziplinierung wie die Arbeitshäuser oder die Lager des FAD.18 Das Konzept »Erziehung durch und zur Arbeit« entstand in den europäischen Arbeitshäusern des 18. und 19. Jahrhunderts. Es sollte dazu dienen, Bettler und Landstreicher, aber auch Angehörige der Sinti und Roma zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen und gleichzeitig die von ihrer vagabundierenden Lebensweise vermeintlich ausgehende Gefährdung des Gemeinwesens zu bannen. Die Verknüpfung des arbeitspädagogischen Konzeptes mit der Organisationsform »Lager« könnte zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sein, als es die Europäer nach Afrika exportierten, um in den Koloniallagern gegenüber der kolonisierten Bevölkerung das westliche Arbeitsethos durchzusetzen.19 Als die Regierung Brüning dann 1931 den FAD schuf, hielt die lagerförmig organisierte Arbeitserziehung in großem Stil Einzug ins Deutsche Reich.20 16 Während sich im Dezember 1916 insgesamt 573 und im Juli 1918 880 Personen in »Schutzhaft« befanden, waren es allein im März und April 1933 etwa 45.000 Menschen. Im Verlauf des Jahres 1933 zählte man etwa 80.000 »Schutzhäftlinge«. Vgl. ebd., S. 134; Königseder, Entwicklung, S. 30. 17 Vgl. Caplan, Detention, S. 27 f.; Drobisch u. Wieland, System, S. 16–21. 18 Vgl. Caplan, Detention, S. 30–35; Gestrich, Konzentrationslager, S. 45, 56–61; Wachsmann, KL, S. 62. Zu den Arbeitshäusern vgl. Ayaß, Arbeitshaus; Pfeisinger, Arbeitsdisziplinierung. Zur Geschichte des FAD vgl. Humann, Arbeitsschlacht; Patel, Soldaten. 19 Vgl. Kramer, Einleitung, S. 17; Kreienbaum, Fiasko, S. 138–143, 301 f. 20 Diese These sollte jedoch nicht dazu verleiten, die Entstehung des Lagers monokausal aus der Kolonialgeschichte zu erklären. So ist das »moderne[n] Lagersystem[s]« laut Alan Kramer nicht in den Kolonien, sondern im Ersten Weltkrieg entstanden. Allerdings habe es für die Errichtung von Lagern in den Kolonialkriegen der Jahrhundertwende und im Ersten Weltkrieg »analoge kulturelle und technologische Ausgangsbedingungen« gegeben. »Was die imperialen Mächte auf dem Experimentierfeld der kolonialen Peripherie erprobt hatten,
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Durch den FAD sollten junge Arbeitslose zu gemeinnützigen Tätigkeiten herangezogen werden. Auf diese Weise wollte man den sozialen Zerfallserscheinungen, insbesondere einer »Pauperisierung der deutschen Jugend« vorbeugen, die man Ende der 1920er- und zu Beginn der 1930er-Jahre angesichts der Massenarbeitslosigkeit drohen sah. Untergebracht wurden die sogenannten »Arbeitsfreiwilligen« zumeist in Lagern mit bewusst einfachen, zweckdienlichen Massenunterkünften.21 Schon die Bewohner dieser Lager galten manchen Zeitgenossen als »arbeitsscheu«. Den lokalen Behörden dienten die Lager als Druckund Erziehungsmittel, z. B. um Empfänger von Wohlfahrtsleistungen gefügig zu machen. Bereits mit Gründung des formal noch freiwilligen Arbeitsdienstes zu Beginn der 1930er-Jahre begannen sich also jene Strategien der Drohung und Abschreckung abzuzeichnen, die nach 1933 häufig zu beobachten sind. Allerdings verfügten die Behörden dann über wesentlich schärfere Zwangsmittel. Einige der FAD-Lager, z. B. das in Ahrensbök in der Nähe Eutins, bildeten sogar direkte institutionelle Vorläufer der KZ: Im Frühjahr 1933 wurden die Baracken, die ursprünglich »Arbeitsfreiwillige« beherbergten, für die Unterbringung von KZ-Häftlingen verwendet, die zudem noch die vom FAD in der Region angefangenen Arbeiten zu Ende führten.22 Weitere Anknüpfungspunkte lassen sich im deutschen Gefängniswesen finden.23 Einige führende Nationalsozialisten, allen voran Hitler und der spätere »Inspekteur der Konzentrationslager« Theodor Eicke, hatten selbst in einer Justizvollzugsanstalt eingesessen. Aber auch unter Lagerkommandanten sowie den SA- und SS-Angehörigen, die in den frühen KZ den Wachdienst versahen, fanden sich zahlreiche Vorbestrafte. So war der Kommandant des KZ Eutin bzw. Ahrensbök-Holstendorf, Theodor Tenhaaf,24 ein verurteilter Straftäter. 1931/32 saß er eine Strafe im Eutiner Amtsgerichtsgefängnis ab, das später, zwischen März und Oktober 1933, das von ihm kommandierte KZ Eutin beherbergen sollte.25 Unter den 100 SA-Leuten der Standarte 139, die im KZ Colditz den Wachdienst versahen, befanden sich den Erinnerungen eines ehemaligen Häftlings zufolge lediglich 30 Personen, die nicht oder nur geringfügig vorbestraft waren.26 Zahlreiche Angehörige des KZ-Personals kannten also den stupiden militärische Drill aus eigener Erfahrung, der allen Reformbestrebungen wurde im Ersten Weltkrieg in den Metropolen im großen Stil angewandt«. Auch die Kriegsgefangenenlager dienten schon der »industriemäßig betriebenen Erfassung und wirtschaftlichen Ausbeutung von acht bis neun Millionen Kriegsgefangenen«. Die Funktion des Arbeitskräftereservoirs war jedoch nicht mit arbeitspädagogischen Ansprüchen gekoppelt. Kramer, Einleitung, S. 17 f. Vgl. Overy, Konzentrationslager, S. 41 f. 21 Vgl. Patel, Auslese, S. 342–348. 22 Vgl. Caplan, Detention, S. 32–35; Stokes, Schutzhaftlager; Wollenberg, Arbeitslose; ders., Arbeitsdienst. 23 Vgl. Wachsmann, KL, S. 61. 24 Für biografische Anmerkungen zu Theodor Tenhaaf vgl. Anhang. 25 Vgl. Wollenberg, Arbeitslose, S. 65, 78. 26 Vgl. Baganz, Colditz, S. 87; Diercks, Fuhlsbüttel, S. 275; Wachsmann, Prisons, S. 38 f., 67.
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zum Trotz bis in die Weimarer Zeit den Alltag der deutschen Strafanstalten prägte und es auch – in pervertierter Form – in den nationalsozialistischen KZ tun sollte. Verfügte ein frühes KZ über eine Lagerordnung, hatte diese nicht selten die Hausordnungen und Regularien der Justizvollzugsanstalten oder der Arbeitshäuser zum Vorbild.27 Eine verblüffende Parallele lässt sich zwischen einem Produkt der Weimarer Bemühungen um eine Reform des Gefängniswesens, nämlich dem Stufenstrafvollzugssystem, und den KZ herstellen.28 Im Vorgriff auf die Reform des Strafvollzugssystems, die sich an die Reform des Strafrechtes anschließen sollte, hatten einige deutsche Länder – Vorreiter waren Bayern, Thüringen und Sachsen – ein abgestuftes System des Strafvollzugs eingeführt, das dem Ideal des individualisierten Strafens Rechnung tragen sollte. Eng damit verbunden war die Einführung der »erbbiologischen« bzw. »kriminalbiologischen« Erfassung der Strafgefangenen. Das Grundprinzip des Stufenstrafvollzuges bestand darin, die Gefangenen entsprechend ihrer Führung in verschiedene Gruppen zu unterteilen, denen man bestimmte Privilegien gewährte oder versagte. Dadurch wollte man ein Anreizsystem schaffen, das disziplinierend und »bessernd« auf die Gefangenen einwirken sollte.29 In einigen der ersten KZ installierten die verantwortlichen Aufsichtsbehörden oder Lagerkommandanten ein ähnliches System, z. B. im Hamburger KZ Fuhlsbüttel, im württembergischen KZ Heuberg und in seinem »Nachfolgelager« Oberer Kuhberg sowie in einigen sächsischen KZ.30 In Dachau bildete ein am Stufenstrafvollzug orientiertes, dreigliedriges System einen Teil jener Lagerordnung, die der erste Kommandant, Hilmar Wäckerle, im Mai 1933 einführte. Zwar ist fraglich, ob die Häftlinge, von Einzelfällen abgesehen, tatsächlich Aussicht hatten, sich die Hafterleichterungen zu »verdienen«, die das System in Stufe I vorsah. Dennoch lassen sich in der verhaltensabhängigen Gewährung von Privilegien bzw. Schlechterstellung unschwer Vorläufer des späteren Systems der Funktionshäftlinge und des Winkelsystems erkennen. Letzteres ersetzte die verhaltensabhängigen Kategorien des Stufenstrafvollzugs durch eine rassistisch aufgeladene Hierarchie.31 Auch die in den KZ vielfach praktizierten Körperstrafen konnten sich auf die Tradition des deutschen Gefängniswesens berufen. In einer Rede, die Heinrich Himmler im Januar 1937 auf einem »Nationalpolitischen Lehrgang« der Wehrmacht über die »Aufgabe der SS und der Polizei« hielt, rechtfertigte er die Praxis KZ-Häftlinge mit bis zu 25 Stockhieben zu bestrafen damit, dass sich dieses Strafmaß an der Zuchthausordnung Preußens der Jahre 1914 bis 1918 orien27 Als Beispiel vgl. Lechner, Konzentrationslager, S. 86 f., 93. 28 Vgl. Wachsmann, KL, S. 61. 29 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 228–266; Wachsmann, Prisons, S. 22–35. 30 Vgl. Ansprache des Präsidenten, S. 248; Baganz, Erziehung, S. 70, 216 f.; Diercks, Fuhlsbüttel, S. 268–272, 290–293. 31 Vgl. Dillon, Dachau, S. 161 f.
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tiere.32 In der Tat hatten die preußischen Gefängnisregularien noch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges körperliche Züchtigungen erlaubt. Allerdings waren sie in den Jahrzehnten vor ihrem Verbot nur noch äußerst selten zum Einsatz gekommen.33 Eine weitere Quelle der Inspiration, aus der die Betreiber der ersten KZ ihre perfiden Ideen schöpften, waren das Militär bzw. die Freikorpsverbände der Weimarer Republik.34 Auch in diesem Bereich hatten nicht nur viele NS-Führer, sondern auch die überwiegende Mehrheit der einfachen SA- und SS-Leute persönliche Erfahrungen gesammelt. Einige Angehörige des Lagerpersonals, beispielsweise der spätere Kommandant des KZ Dachau, Hans Loritz, waren sogar in Kriegsgefangenenlagern interniert gewesen und hatten daher die Grundprinzipien von Lagerorganisation und -alltag am eigenen Leib erfahren. Es waren u. a. jene Einflüsse von militärischer Disziplin, Drill und blindem Gehorsam, die später das spezifische Männlichkeitsideal und den Korpsgeist von Theodor Eickes SS-Totenkopfdivisionen prägen sollten.35 Aber nicht nur innerhalb der Lager-SS waren die Grundprinzipien militärischer Organisation vorherrschend. Schon das Wachpersonal der ersten KZ übertrug sie auch auf die Insassen. In den Gewaltpraktiken des »Strafexerzierens« und »Sportmachens«36 trieb es gerade jene Elemente auf die Spitze, welche die Rekruten – oder hier die Häftlinge – gefügig machen, ja, sogar ihre Persönlichkeit brechen sollten. Diese entpersonalisierende Seite ist dem militärischen Drill in seinem Doppelcharakter gleichzeitiger Unterwerfung und Ertüchtigung der gedrillten Körper ebenso inhärent, wie die stärkenden und charakterbildenden Elemente, die bei den KZ-Häftlingen selbstredend nicht im Vordergrund standen. Auch Praktiken wie die gefürchteten täglichen Zählappelle oder das Singen von Marschliedern beim Auszug der Arbeitskolonnen entstammten militärischen Ritualen. Die ersten Ansätze zur hierarchischen Untergliederung der Häftlingsgesellschaft reflektierten durch Bezeichnungen wie »Gefangenenkompanien« und »Gefangenenfeldwebel« ebenfalls den militärischen Sprachgebrauch. Später ersetzte die SS sie durch die in allen Lagern einheitlichen Ausdrücke »Stube/Stubenältester«, »Block/Blockältester« und »Lagerältester«, die zwar immer noch auf die Militärsprache zurückgingen, aber keinen militärischen Dienstgraden mehr entsprachen.37 Die Mitgliedschaft in einem der zahlreichen paramilitärischen Freikorpsverbände schließlich hatte viele SA- bzw. SS-Männer schon vor 1933 mit der extralegalen Ausübung brutaler Gewalt sowie mit einem virulenten Antisemitismus in Kontakt gebracht. Ein eindrucksvolles Beispiel für einen derartigen per32 Vgl. Dokument 1992(A)-PS, in: Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg, Urkunden. 33 Vgl. Wachsmann, Prisons, S. 23. 34 Vgl. ders., KL, S. 62 f. 35 Vgl. Dillon, Dachau, S. 200–202; Riedel, Ordnungshüter, S. 41 f. 36 Vgl. Springmann, Sport. 37 Vgl. Dillon, Dachau, S. 208; Pätzold, Häftlingsgesellschaft, S. 117–123; Wachsmann, KL, S. 63.
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sönlichen Erfahrungshorizont ist die Biografie von Rudolf Höß. Bevor dieser 1940 den Posten des Ersten Lagerkommandanten von Auschwitz antrat, hatte er sich nicht nur innerhalb der Hierarchie der Lager-SS emporgearbeitet, sondern war vor dem Machtantritt Hitlers auch als Mitglied eines Freikorpsverbandes in die politischen Gewaltexzesse der Weimarer Republik involviert gewesen und saß eine mehrjährige Zuchthausstrafe wegen Mordes an einem Kommunisten ab.38 »Looking at all these influences«, resümieren Wachsmann und Goeschel ihre Überlegungen zu den Vorläufern der nationalsozialistischen KZ, »it is clear that by drawing on existing customs, ideas and structures, the nazi camps did not initially appear like a complete break with German traditions«.39 Gleichzeitig erkläre diese Heterogenität der Einflussquellen zusammen genommen mit dem Umstand, dass die Errichtung der ersten Lager ohne zentralen Plan, unter der Ägide lokaler Akteure erfolgte, »the jumble of ideas which influenced the early camps, the administrative chaos that characterized their establishment and their varied operation until the nazi regime had consolidated itself«.40
2.2 Die Historiografie der nationalsozialistischen KZ. Das Stufenmodell und die Kontinuitätsthese Einigkeit besteht in der Forschung darüber, dass die Geschichte der nationalsozialistischen KZ als dynamischer Prozess zu verstehen ist, der verschiedene Entwicklungsphasen durchlief. Über deren Anzahl und zeitliche Verortung herrschen jedoch divergierende Auffassungen.41 Noch stärker scheiden sich die Geister an der Frage, ob die Übergänge zwischen den einzelnen Phasen als Zäsuren zu verstehen sind oder ob sie durch Kontinuitätslinien miteinander verbunden waren. Im Folgenden sollen die beiden Interpretationsansätze, die in dieser Frage einander gegenüberstehen, das Stufenmodell und die Kontinuitätsthese, näher erläutert werden. Für die vorliegende Untersuchung von besonderem Interesse ist dabei, wie diese beiden Ansätze die Lager der Gründungsjahre 1933/34 historiografisch einordnen. Ein erstes Phasenmodell zur KZ-Entwicklungsgeschichte legte Martin Broszat 1964 in seinem Sachverständigengutachten für den Frankfurter AuschwitzProzess vor. Bezüglich des hier interessierenden Untersuchungszeitraums, die Vorkriegszeit, zeichnete dieser erste Versuch einer wissenschaftlichen Gesamt-
38 Vgl. Goeschel u. Wachsmann, Auschwitz, S. 532; Orth, Konzentrationslager-SS, S. 105–115. 39 Goeschel u. Wachsmann, Auschwitz, S. 532. 40 Ebd. 41 So unterscheidet Falk Pingel drei, Ulrich Herbert fünf und Karin Orth sieben Entwicklungsphasen. Vgl. Herbert, System, S. 21; Orth, System, S. 21; Pingel, Häftlinge, S. 13–16.
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darstellung des KZ-Systems bereits die wesentlichen Koordinaten der weiteren Diskussion vor.42 Knapp 30 Jahre später griff Ulrich Herbert die Periodisierung Broszats auf und prägte den Begriff »rassische Generalprävention«.43 Zum Durchbruch verhalf dem Herbertschen Interpretationsmodell eine internationale Fachkonferenz, die 1995 in Weimar stattfand,44 sowie der von Herbert gemeinsam mit Karin Orth und Christoph Dieckmann publizierte Tagungsband. In der Einleitung entwickeln die drei Herausgeber eine Gesamtinterpretation der KZEntwicklungsgeschichte,45 deren Kerngedanken allen dem Stufenmodell verpflichteten Interpretationsansätzen zugrunde liegen.46 Darüber hinaus liefert der Tagungsband drei Schlüsselbeiträge, in denen Herbert, Tuchel und Wagner die zentralen Thesen des Modells mit empirischen Analysen unterfüttern.47 Das durch den Weimarer Tagungsband kanonisierte Stufenmodell unterscheidet fünf Phasen:48 Die erste umfasst den Zeitraum zwischen Februar 1933 und Frühsommer 1934, in dem die ersten Lager gegründet wurden. Sie ist deckungsgleich mit der Phase der Machtkonsolidierung des NS-Regimes. Während dieser Phase differierten die Lager und Haftstätten erheblich in ihrer institutionellen Verankerung und Trägerschaft, ihrer Bewachung und inneren Organisation, ihrer Bestandsdauer und ihren Einzugsbereichen sowie hinsichtlich der Lebensbedingungen und Häftlingszahlen. Im Frühsommer 1934, mit der Schaffung der IKL, setzte die Phase der Reorganisation ein, in der deren Leiter Theodor Eicke die Lager der Gründungsphase organisatorisch vereinheitlichte und so die Grundlage für das »System der Konzentrationslager«49 schuf. Im Sommer 1936 läutete der Bau Sachsenhausens die dritte Phase ein. Es handelte sich dabei um das erste große, zweckbestimmte Barackenlager, das als »politisch, finanziell wie architektonisch«50 vorausgeplanter Bestandteil nationalsozialistischer Herrschaftsausübung errichtet wurde. Die vierte Phase umfasst die erste Kriegshälfte zwischen 1939 und 1941/42. Sie war bestimmt durch den dramatischen Anstieg der Häftlingszahlen, die Internationalisierung der Häftlingsgesellschaft sowie die Ökonomisierung der Häftlingszwangsarbeit. Die fünfte 42 Vgl. Broszat, Konzentrationslager. 43 Herbert, System, S. 22. 44 Vgl. Orth, Historiographie, S. 583, 585 f. 45 Vgl. Herbert u. a., Konzentrationslager (1998b), S. 24–32. 46 Als Beispiel vgl. Hördler u. Jacobeit, Dokumentationsort. 47 Vgl. Herbert, Gegnerbekämpfung; Tuchel, Planung; Wagner, Vernichtung. 48 In der Einleitung des Bandes sprechen die Herausgeber nur von vier Phasen. Vgl. Herbert u. a., Konzentrationslager (1998b), S. 25. Innerhalb des ersten Zeitabschnittes (1933 bis 1936) identifizieren sie jedoch eine weitere »Phase zwischen 1934 und 1936«, die durch die »Reorganisation der Konzentrationslager« gekennzeichnet war. Ebd., S. 26. Aufgrund dieser deutlichen Zweiteilung der ersten Entwicklungsperiode scheint es gerechtfertigt, von insgesamt fünf Phasen zu sprechen. 49 Ebd., S. 22. 50 Pingel, Konzeption, S. 156.
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Entwicklungsstufe des KZ-Systems verorten die Herausgeber des Weimarer Tagungsbandes in der zweiten Kriegshälfte. Sie beginnt mit dem Überfall auf die Sowjetunion und endet mit der Kapitulation des Deutschen Reichs und der Befreiung der KZ. In dieser letzten Phase setzte die systematische Deportation und Vernichtung der europäischen Juden ein, im Zuge derer die KZ Auschwitz und Majdanek zu Vernichtungslagern umgebaut wurden.51 Durch die Gründung des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes der SS erhielten die KZ noch im März 1942 eine neue Organisationszentrale. Auch ein weiterer Anstieg der Häftlingszahlen, der Arbeitseinsatz in der Rüstungsproduktion, die rasche Ausbreitung der Außenlager und die Verlegung der Rüstungsproduktion in unterirdische Stollen fielen in diesen Zeitabschnitt. Aufgrund der unmenschlichen Lebensbedingungen und der Strategie »Vernichtung durch Arbeit«52 schnellten die Todesraten in die Höhe. Diese Entwicklung spitzte sich weiter zu, als die Todesmärsche in den letzten Kriegsmonaten eine bis heute unbekannte Anzahl von Häftlingen das Leben kostete.53 Die einzelnen Entwicklungsphasen grenzt das Stufenmodell anhand der beiden Unterscheidungsmerkmale Organisationsstruktur der Lager und Funktion voneinander ab.54 Die Schaffung eines institutionell vereinheitlichten KZSystems durch die Errichtung der IKL im Sommer 1934 und die Erweiterung des Gegnerbegriffs durch den Übergang zur rassischen Generalprävention in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre werden diesbezüglich als tiefgreifende Zäsuren verstanden.55 Von dieser Überlegung ausgehend stellt das Stufenmodell 51 Die Lager der »Aktion Reinhardt«, Belzec, Sobibór und Treblinka, sowie die Tötungsstätte Chełmno unterstanden nicht der Verwaltung durch das Wirtschaftsverwaltungshauptamt. Gemäß dem Stufenmodell zählen sie daher nicht zum KZ-System. Auch waren sie im Grunde gar keine Lager, denn die dort ankommenden Menschen wurden in der Regel sofort ermordet. Außer dem Wachpersonal und einigen »Arbeitsjuden« waren an diesen Orten keine Menschen untergebracht. Darin unterschieden sie sich grundlegend von den als Aufenthaltslager konzipierten KZ. Raul Hilberg bezeichnet sie deswegen als »Vernichtungszentren«. Synonym verwendet er außerdem die Begriffe »Todes«- und »Vernichtungslager«, die mit den KZ Auschwitz-Birkenau und Lublin-Majdanek auch Stätten miteinschließen, die eine Mischform aus KZ und Vernichtungszentrum darstellten. Das gleiche gilt für den Ausdruck »Todesfabriken«, den neben Hannah Arendt auch viele KZ-Überlebende verwendeten und der den industriellen Charakter des Tötungsprozesses unterstreichen sollte. In Forschung und Öffentlichkeit durchgesetzt hat sich schließlich der weniger präzise Begriff »Vernichtungslager«. Vgl. Benz, Zwangslager, S. 23–25; Hilberg, Vernichtung, S. 585, 590, 613; Lüdtke, Bann. 52 Zur diesbezüglichen Forschungskontroverse vgl. Kaienburg, KZ; Wagner, Arbeit. 53 Vgl. Herbert u. a., Konzentrationslager (1998b), S. 24–32. 54 Vgl. ebd., S. 24 f. 55 Eine genaue Datierung dieses Übergangs liegt bislang nicht vor. Herbert hebt ausdrücklich hervor, dass »nicht sicher nachweisbar« sei, wann die entsprechenden Überlegungen innerhalb des Gestapas einsetzten. Herbert, Best, S. 168; vgl. ders., Gegnerbekämpfung, S. 71; ders., System, S. 22. Aus der Gesamtargumentation lässt sich jedoch schließen, dass dies 1934/35 der Fall gewesen sein muss. Die zentralen Entscheidungen, die der rassischen Generalprävention den Weg bereiteten, fielen laut Herbert 1935/36 und die praktische Imple-
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die Kriterien Organisation und Funktion ins Zentrum seiner Definition des »spezifischen Typs nationalsozialistischer Konzentrationslager«.56 Während am Vorabend des Zweiten Weltkrieges in Folge der Funktionserweiterung die politischen Häftlinge im KZ-System gegenüber der wachsenden Zahl Zeugen Jehovas, Homosexueller, »Asozialer«, »Berufsverbrecher« und Juden in die Minderheit gerieten, hätten die Lager der Jahre 1933/34 ausschließlich zur Zerschlagung der Opposition gedient. Den Vertretern des Stufenmodells gelten sie daher als Ausdruck der »Gewalttätigkeit eines sich etablierenden diktatorialen Systems«.57 In dieser Eigenschaft seien sie nicht NS-spezifisch, sondern »vergleichbar der Entwicklung in anderen Diktaturen dieses Jahrhunderts«.58 Dies wird auch begrifflich kenntlich gemacht: Hatte der Weimarer Tagungsband von 1998 die Frage nach einer adäquaten Bezeichnung für die ersten Lager des NS-Regimes zwar schon aufgeworfen,59 war eine eindeutige Antwort aber schuldig geblieben,60 schlug Orth ein Jahr später den Begriff »frühe Lager« vor und plädierte dafür, den Ausdruck »Konzentrationslager« ausschließlich für die von der IKL verwalteten Internierungseinrichtungen zu verwenden.61 Die Lager der Jahre 1933/34 schließt der eng gefasste KZ-Begriff des Stufenmodells also per definitionem aus. Orth begründet diese terminologische Engführung mit mentierung erfolgte 1937/38. Ähnlich argumentiert Orth. Vgl. Orth, System, S. 33–35, 46. Johannes Tuchel hingegen, der sich intensiv mit der bayerischen Verfolgungspraxis befasst hat, sieht die Ursprünge der rassischen Generalprävention nicht so sehr in der Konzeption der Gestapo-Führung, sondern in den Ideen Heinrich Himmlers. Die Unterstützung, die Himmler durch Hitler erfuhr, kommt daher aus Tuchels Perspektive einer Zustimmung des »Führers« zur rassischen Generalprävention gleich. Im Unterschied zum übrigen Reichsgebiet habe das »bayerische System […] von Anbeginn das Konzentrationslager als Sanktionsinstrument gegenüber allen Formen abweichenden politischen und gesellschaftlichen Verhaltens« vorgesehen. Tuchel, Organisationsgeschichte, S. 52. 56 Orth, System, S. 46. 57 Herbert u. a., Konzentrationslager (1998b), S. 26. 58 Ebd. 59 Vgl. ebd., S. 25. 60 So sprechen Herbert und Tuchel von »wilden« bzw. frühen KZ. Vgl. Herbert, Gegner bekämpfung, S. 62; Tuchel, Planung, S. 43. 61 Vgl. Orth, System, S. 26. Orth stützt sich in ihrer Begriffsbildung auf Tuchel, der vorschlug, die Lager der Gründungsphase durch das Attribut »früh« zu kennzeichnen. Im Unterschied zu Orth, die sie dadurch vom »System der Konzentrationslager« abgrenzt, wollte Tuchel mit dem Ausdruck »frühe Konzentrationslager« (nicht »frühe Lager«!) die bis dahin gebräuchliche Bezeichnung »wilde Konzentrationslager« ersetzen. Diese geht auf Rudolf Diels, Chef der preußischen Gestapo zurück, der, um seine Mitverantwortung für die Errichtung der KZ zu verschleiern, nach 1945 behauptete, die SA hätte 1933 ohne das Wissen der Berliner Behörden »wilde Konzentrationslager« geschaffen. Auch Günther Joel, Generalstaatsanwalt und SS-Obersturmbannführer, und Ludwig Grauert, SS-Gruppenführer und Staatssekretär im Preußischen und Reichsinnenministerium, verwendeten in den Nachkriegsprozessen die Dielsche Rechtfertigungsstrategie. Anschließend war der Ausdruck »wilde Konzentrationslager« jahrzehntelang von Historikern weiter tradiert worden. Vgl. Baganz, Erziehung, S. 53–55; Mayer-von Götz, Terror, S. 39–42; Tuchel, Konzentrationslager, S. 38–45.
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zwei Argumenten: Durch die begriffliche Trennung würde erstens vermieden, eine institutionelle Einheitlichkeit zu suggerieren, die nicht der Realität entsprochen hätte. Denn eine unterschiedslose Verwendung des Begriffs »Konzentrationslager« für den gesamten Zeitraum 1933 bis 1945 könnte, so fürchtet Orth, den Eindruck einer Linearität der geschichtlichen Entwicklung evozieren, welche die prinzipielle Offenheit des historischen Prozesses zu überdecken drohe.62 In dieser Argumentation drückt sich nicht nur das Streben nach einer historisch präzisen Begriffsbildung aus. Aus ihr spricht auch die Befürchtung, die KZ und Vernichtungslager der zweiten Kriegshälfte, die im kollektiven Gedächtnis zur Chiffre der NS-Verbrechen gegen die Menschheit geworden sind, durch eine begriffliche Gleichsetzung mit den Lagern der Jahre 1933/34 zu trivialisieren. Hier setzt das zweite Argument Orths an. Aus der Retrospektive schienen den Vertretern des Stufenmodells »Zweifel berechtigt […], ob man ein Lager wie Osthofen bei Worms, das 1933 gegründet wurde und nur ein Jahr bestand, das mit einigen hundert Häftlingen belegt war und in dem sich nachweislich kein Todesfall ereignete, tatsächlich mit der gleichen Bezeichnung versehen kann wie Auschwitz, Mauthausen oder Majdanek, in denen Hunderttausende von Menschen qualvoll den Tod fanden.«63
Allerdings enthält schon der Weimarer Tagungsband zwei Beiträge, in denen Günter Morsch und Falk Pingel die Akzentuierung der Brüche in der KZ-Entwicklungsgeschichte in Frage stellen und stattdessen die Kontinuitäten betonen. Die zentralen Charakteristika und Funktionen der Lager seien im Nucleus vom Moment ihrer Gründung an vorhanden gewesen, jedoch in anderer Gewichtung und Ausprägung als in späteren Entwicklungsphasen. Nichts »von dem, was die Lager in der Frühzeit prägte, [wurde] wirklich aufgegeben«.64 Es habe »keine Sprünge in der Entwicklung«65 gegeben, das System »beruhte auf Kumulation, nicht auf Selektion«.66 In den vergangenen Jahren hat die neuere KZ-Forschung verstärkt alternative Interpretationsansätze jenseits des Stufenmodells entwickelt. Nicht nur die in Großbritannien arbeitenden Historiker Jane Caplan und Nikolaus Wachsmann verschieben in ihren Arbeiten über die NS-Konzentrationslager den Fokus.67 Auch die Herausgeber der Reihe Der Ort des Terrors, Wolfgang Benz und 62 Vgl. Orth, System, S. 25 f. 63 Herbert u. a., Konzentrationslager (1998b), S. 25. 64 Pingel, Konzeption, S. 162. 65 Ebd., S. 161. 66 Ebd., S. 162. Vgl. Morsch, Einleitung, S. 10; ders., Oranienburg, S. 128; ders., Sachsenhausen. Wachsmann verweist allerdings zu Recht darauf, dass dieser Prozess nicht linear verlief. »The KL system did not swell like an avalanche, gathering ever more destructive force as it hurtled toward the abyss; its trajectory sometimes slowed and even reversed.« Wachsmann, KL, S. 22. 67 Vgl. Caplan, Introduction; dies., Detention; dies. u. Wachsmann, Camps; ders., Abyss; ders., KL. Für Befunde, welche die Bedeutung der Lager der Gründungsphase für die Entwicklung
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Barbara Distel, wählen eine neue Herangehensweise. Ziel ihres Forschungsprojektes war es, eine Gesamtgeschichte der KZ zu schreiben.68 Sicherlich bewog nicht zuletzt die Absicht einer enzyklopädischen Bestandsaufnahme die beiden Herausgeber der Reihe, ein weit gefasstes Verständnis des Begriffs »Konzentrationslager« zugrunde zu legen: Für sie stellt der »Ausdruck ›KZ‹ […] eine der Metaphern des Schreckens« dar, »mit denen die nationalsozialistische Diktatur ihren universalen Verfügungsanspruch über das Individuum – von dessen Demütigung bis zu seiner Vernichtung – durchsetzte«.69 Indem Benz und Distel das abstrakte Verhältnis von NS-Staat und Individuum, das in den KZ seinen konkret-gewaltsamen Ausdruck fand, zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen, nehmen sie eine gegenüber der definitorischen Engführung des Stufenmodells erweiterte Perspektive ein. Denn der absolute Verfügungsanspruch über das Individuum kennzeichnete nicht nur die KZ, sondern z. B. auch Arbeitserziehungs- und Polizeihaftlager, Vernichtungslager und Ghettos. Als Sammelbezeichnung für all diese Orte schlägt Benz den Begriff »nationalsozialistische Zwangslager«70 vor. Darunter versteht er Einrichtungen, »in denen Menschen gegen ihren Willen unter Bewachung leben mussten und in denen Tätigkeiten und Verhaltensweisen erzwungen wurden, die nicht vom eigenen Willen und auch nicht von rechtsstaatlichen Normen bestimmt waren«.71 Obwohl die NS-Zwangslager nicht der IKL unterstellt waren, konstituierten sie laut Benz eine »Nebenwelt der Konzentrationslager«,72 in der »weitgehend die gleichen Bedingungen herrschten wie in den offiziellen KZ«.73 Auch hätten sie ähnliche Funktionen erfüllt. Zudem seien die NS-Zwangslager sowohl von ihren Opfern als auch von den übrigen Zeitgenossen als KZ wahrgenommen worden und würden bis in die heutige Zeit als solche erinnert. Nicht zuletzt aus memorialkulturellen Gründen seien diese Terrorstätten daher in die Gesamtgeschichte der KZ einzubeziehen.74
des KZ-Systems unterstreichen vgl. Dillon, Dachau; Moore, Camps (2010); ders., Camps (2011); ders., Zeiten; Wünschmann, Auschwitz. 68 Vgl. Benz u. Distel, Vorwort (2005), S. 9; Benz u. Königseder, Geschichte, S. 138–140. Seit 1999 erarbeitet ein wissenschaftliches Team am United States Holocaust Memorial Museum außerdem eine Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, von der bereits zwei Bände erschienen sind. Sechs weitere sollen folgen. Vgl. Megargee, Camps; Megargee u. Dean, Ghettos. https://www.ushmm.org/research/publications/encyclopedia-camps-ghettos (eingesehen 27.4.2017). 69 Benz u. Distel, Vorwort (2005), S. 7. 70 Benz, Zwangslager, S. 11. 71 Ebd., S. 12. 72 Ebd. 73 Benz u. Königseder, Geschichte, S. 138. Ähnlich argumentiert Wachsmann, wobei er die Spezifika der NS-KZ gegenüber dem übrigen Lagerkosmos stärker akzentuiert. Wachsmann, KL, S. 19. 74 Benz u. Distel, Vorwort (2009), S. 7, 10. Vgl. dies., Einleitung (2008), S. 12 f.
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Indem Benz und Distel eine begriffliche Engführung vermeiden, sind sie in der Lage, sich zunächst der Komplexität des nationalsozialistischen Lagerkosmos anzunähern, bevor sie die verschiedenen Internierungseinrichtungen analytisch in Lagertypen unterteilen.75 Den Haftstätten der Jahre 1933/34 kommt in ihrer Typologie der »Charakter von frühen Konzentrationslagern«76 zu, von denen sich »ein weiter Bogen bis zu den Vernichtungslagern des Holocausts«77 spannen lasse. An diese Betonung der Kontinuität knüpfen die Studien von Carina Baganz und Irene Mayer-von Götz über die frühen KZ in Berlin bzw. Sachsen an. Beide Historikerinnen heben die zentrale Bedeutung der frühen Haftstätten für das Verständnis des Gesamtsystems hervor und kritisieren die eng gefasste Definition des KZ-Begriffs Orthscher Prägung.78 Ihre Befunde, ebenso wie weitere Arbeiten zu systematischen Aspekten der KZ-Geschichte,79 stützen viele Argumente, mit denen bereits Morsch und Pingel die Kontinuitätsthese begründeten. Baganz und Mayer-von Götz beschreiben die frühen KZ übereinstimmend als »Übungsplatz« und »Probebühne«.80 »An diesen Orten«, so Mayer-von Götz, »wurde begonnen und erlernt, was in den späteren Konzentrationslagern seine Fortsetzung, Weiterentwicklung und Perfektionierung fand. Die ersten Konzentrationslager bildeten das Fundament des nationalsozialistischen Terrorinstruments.«81
Diese These wurde bislang besonders schlüssig anhand von Täterbiografien belegt.82 Die Karrieren der Täter fungierten, so schrieb schon Pingel, »als Energieträger und Transmissionsriemen in der späteren Maschinerie des Massenmordes«,83 wobei den frühen KZ die Rolle von »Schule[n] der Gewalt«84 zukam. Aber auch hinsichtlich der Häftlingsgesellschaft hat die neuere Forschung Gemeinsamkeiten zwischen den Lagern der Gründungsphase und den späteren KZ herausgearbeitet. Schon in den Haftstätten 1933/34 hätten sich keines75 Neben den Konzentrations- und Vernichtungslagern unterscheidet die Reihe Der Ort des Terrors folgende Lagertypen: Polizeihaftlager, Erweiterte Polizeigefängnisse, Arbeitserziehungslager, »Jugendschutzlager«, »Polenjugendverwahrlager«, Zwangsarbeitslager für Juden, Lager der »Organisation Schelt«, Ghettos, »Zigeunerlager«, Sonderlager, Zwangsarbeiterlager und nicht klassifizierbare Lager mit besonderer Bestimmung. Vgl. dies., Arbeitserziehungslager. 76 Dies., Einleitung (2005). 77 Dies., Vorwort (2005), S. 8. 78 Vgl. Baganz, Erziehung, S. 61; Mayer-von Götz, Terror, S. 44 f. 79 Vgl. Benz u. Vulesica, Bewachung; Kaienburg, Konzentrationslager; Riedel, Ordnungshüter; Schalm, Arbeit. 80 Baganz, Erziehung, S. 331. 81 Mayer-von Götz, Terror, S. 246. Vgl. ebd., S. 44 f. 82 Vgl. Benz u. Vulesica, Bewachung; Dillon, Dachau; Kaienburg, Konzentrationslager; Orth, Konzentrationslager-SS; Riedel, Ordnungshüter. 83 Pingel, Konzeption, S. 152. 84 Schilde u. Tuchel, Columbia-Haus, S. 11.
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wegs ausschließlich politische Regime-Gegner befunden.85 Dass zu den ersten KZ-Häftlingen u. a. auch »Asoziale« und »Berufsverbrecher« zählten, ist seit Mitte der 1990er-Jahre, seit den Pionierstudien von Ayaß und Wagner, bekannt. Sie belegen, dass bedingt durch die »Bettlerrazzia« und den preußischen »Vorbeugungshafterlass« die KZ-Einweisungen von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« spätestens ab dem Herbst 1933 eine gewisse Systematik erreichte.86 Ähnliche Befunde liegen mittlerweile auch für andere Häftlingsgruppen bzw. einzelne Lager vor. So weisen Baganz und Mayer-von Götz die heterogene Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft für die frühen KZ in Sachsen und Berlin nach. Kim Wünschmann und Julia Pietsch heben die Bedeutung hervor, welche die KZ-Haft bereits in der Frühphase des NS-Regimes bei der antisemitischen Verfolgung hatte.87 Wachsmann trägt diesen Befunden in seiner Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen KL u. a. durch ein eigenes Kapitel über die »early attacks on ›criminals‹ and ›asocials‹« Rechnung.88 In diesem Zusammenhang würdigt er einerseits die Bedeutung, die der These von der rassischen Generalprävention bei der Erklärung der ideologischen Triebkräfte der Verfolgung von sozialen Außenseitern zukam. Andererseits weist er darauf hin, dass ihre Vertreter die frühe Verfolgungspraxis und die Vielzahl der involvierten Akteure vernachlässigten. Obwohl die Lager 1933/34 in erster Linie der Zerschlagung der politischen Opposition gedient hätten,89 sieht Wachsmann in ihnen »multipurpose weapons«,90 aus denen bereits Mitte der 1930er-Jahre »well-established weapons against social outsiders«91 geworden waren. In Anlehnung an Orth bezeichnet Wachsmann die frühen NS-Terrorstätten als »early camps«.92 Mit Blick auf die KZ-Entwicklungsgeschichte hebt er allerdings neben deren Komplexität und Dynamik auch die »continuities from one period to the next« hervor.93 Zentrales Charakteristikum der nationalsozialistischen KZ ist seiner Auffassung nach der Wandel: »The main constant for the KL was change«.94 Um der Bedeutung, die den Haftstätten 1933/34 im Prozess der nationalsozialistischen Machtsicherung und Machtetablierung zukam und die sie als 85 Vgl. Baganz, Erziehung, S. 61 f., 118 f.; Caplan, Introduction, S. 15 f., 42–45; Mayer-von Götz, Terror, S. 44 f., 91 f. 86 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995); Knoch, Editorial, S. 10; Wagner, Vernichtung; ders., Volksgemeinschaft. 87 Vgl. Pietsch, Häftlinge; Wünschmann, Auschwitz. 88 Wachsmann, KL, S. 140–143. 89 Vgl. ebd., S. 27, 33, 78, 141, 143. Wachsmann teil für diese Phase die Einschätzung der Vertreter des Stufenmodells, dass die Lager 1933/34 vergleichbar mit ähnlichen Einrichtungen anderer europäischer Diktaturen im frühen 20. Jahrhundert seien. Vgl. ebd., S. 8. 90 Ebd., S. 78. 91 Ebd., S. 143. 92 Ebd., S. 33. 93 Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 15 f. 94 Ebd., S. 21.
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»Fundament und […] Basis«95 des späteren KZ-Systems hatten, auch terminologisch Rechnung zu tragen, wird die vorliegende Studie sie in Anlehnung an Baganz und Mayer-von Götz als frühe KZ bezeichnen. Dass sich die Lager der Gründungsphase von den KZ ab Mitte der 1930er-Jahre dennoch unterschieden, wird durch das Attribut »früh« bzw. die Spezifizierung der IKL-Lager als »KZ-System« gekennzeichnet. In forschungsstrategischer Hinsicht hat eine solche Öffnung des KZ-Begriffs den Vorteil, dass sie den defizitären Kenntnisstand über die Lager der Gründungsphase nicht verfestigt. Denn die begriffliche Trennung zwischen frühen Lagern und genuin nationalsozialistischem KZ-System, die nicht zuletzt in der Befürchtung begründet lag Auschwitz zu trivialisieren, hat lange dazu geführt, das Unwissen über die Gründungsphase der Lager zu perpetuieren. Caplan brachte dies auf den Punkt, als sie bemerkte: »Perversely, the ultimate horrors of the wartime years can become a kind of unintentional alibi, a curtain drawn over the earlier phase of the regime, when its victims were counted in thousands rather than millions […].«96 Um jedoch »das System der KZ in seiner Gesamtheit, Kontinuität und Vielgestaltigkeit erfassen«97 zu können, bedarf es des Wissens über seinen Entstehungskontext. Oder, um noch einmal Caplan zu zitieren: »If we want to understand the character of National Socialism and its impact on Germany and Europe, we must come to grips with not only the extent but also the diversity of this immense structure of incarceration. We need to inquire exactly how each element of it came into existence, as well as examine the internal relations among these parts.«98
Indem sie die Genese der sozialrassistischen Funktion der KZ am Beispiel der Einweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« ab 1933 einer Analyse unterzieht, will die vorliegende Arbeit dazu einen Beitrag leisten. Der Studie liegt ein bewusst weit gefasster KZ-Begriff zugrunde: Als Untersuchungsgegenstand können alle extra-legalen Haftstätten im »Altreich«99 herangezogen werden, in denen der Freiheitsentzug einer rechtsstaatlichen Grundlage entbehrte.100 Sie alle kennzeichnete der totale Verfügungsanspruch des NS-Re-
95 Mayer-von Götz, Terror, S. 45. 96 Caplan, Introduction, S. 4. 97 Mayer-von Götz, Terror, S. 9. 98 Caplan, Introduction, S. 4. 99 Mit dem Begriff »Altreich« bezeichneten die deutschen Verwaltungsbehörden ab März 1938 das deutsche Staatsgebiet in den Grenzen vor der Annexion Österreichs. 100 Das Kernelement dieser Definition geht auf Drobisch und Wieland zurück, die durch das Kriterium des außergerichtlichen Freiheitsentzugs zunächst eine abstrakte und dadurch flexible Funktionsbestimmung der KZ vorschlagen, die sie durch die Festschreibung auf den Zweck der Inhaftierung politischer Regimegegner jedoch sofort wieder eingrenzen. Vgl. Drobisch u. Wieland, System, S. 11.
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gimes über den Menschen. Berücksichtigung finden können daher auch jene Lager, die zwar über die Phase der Reorganisation der KZ hinaus bestanden, jedoch nicht der IKL unterstellt wurden.101
2.3 Die Entwicklungsgeschichte der Vorkriegs-KZ Die folgende Darstellung soll einen Überblick geben über die zentralen Charakteristika der frühen KZ sowie über die Entwicklung, die 1934 mit Gründung der IKL einsetzte. 2.3.1 Die Lager der Gründungsphase 1933/34 In den ersten Tagen des März 1933 entstand in den Gebäuden der Heimatschule Mitteldeutschland, auf einem Flugplatz im thüringischen Nohra nahe Weimar, ein Lager für Kommunisten. Vermutlich war es das erste KZ im nationalsozialistischen Deutschland. Das Lager unterstand dem Innenministerium des Landes. Während seiner etwa zehnwöchigen Bestandsdauer durchliefen es 260 »Schutzhäftlinge«.102 In den Wochen und Monaten, die auf den Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 folgten, entstanden überall im Deutschen Reich improvisierte Lager für politische Gegner. Hinzu kamen die Haft- und Folterkeller der SA. Gestützt auf die Reichstagsbrandverordnung verhafteten Polizei, SS und vor allem die SA Kommunisten, Angehörige der SPD, des Reichsbanners und Gewerkschaftsfunktionäre sowie linke Intellektuelle und Publizisten. Allein im März und April 1933 fielen mehr als 45.000 Menschen den Razzien zum Opfer. Schnell waren die Gefängnisse und polizeilichen Haftanstalten restlos überfüllt. In dieser Situation suchten einige regionale Polizeibehörden eigenständig nach zusätzlichem Haftraum, andere erhielten entsprechende Weisungen von übergeordneten Dienststellen. Auch regionale SA- und – weit seltener – SS-Formationen richteten frühe KZ ein. Häufig kam es dabei zu einer engen Kooperation zwischen den Parteiformationen der NSDAP und staatlichen Dienststellen.103 Als Haftstätten genutzt wurde alles, was auch nur entfernt dazu geeignet schien, Menschen zusammenzupferchen, zu bewachen und zu schikanieren: Häufig fiel die Wahl auf stillgelegte Fabrikgelände (Dachau, Osthofen) 101 Die hier vorgeschlagene Formulierung dient dazu, den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie zu umreißen und beschränkt sich daher auf deren Untersuchungszeitraum, die Vorkriegszeit. Den KZ-Begriff allgemeingültig zu definieren, liegt nicht in ihrer Absicht. 102 Vgl. ebd., S. 11 f.; Königseder, Entwicklung, S. 30; Wohlfeld, Nohra. 103 Vgl. Drobisch u. Wieland, System, S. 39–62; Königseder, Entwicklung, S. 30 f.; Mayer-von Götz, Terror, S. 37–49; Tuchel, Organisationsgeschichte, S. 44–47.
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und Schloss- oder Klosteranlagen (Lichtenburg, Sachsenburg, Brauweiler, Breitenau). Aber es gab auch außergewöhnliche KZ-Standorte, z. B. den Wasserturm in Berlin Prenzlauer Berg, die Festungsinsel in der Wesermündung Bremerhaven-Langlütjen II oder den ausrangierten Weserschleppkahn BremenOchtumsand.104 Auffällig häufig griffen die Behörden auf die Räumlichkeiten der Arbeitshäuser zurück.105 Diese traditionell multifunktionalen Anstalten hatten im Laufe ihrer knapp 400-jährigen Geschichte106 verschiedensten Zwecken gedient. Ob als isolierter Bereich oder partiell in den Anstaltsbetrieb integriert, fügten sich die frühen KZ problemlos in das Gesamtgefüge der Arbeitshäuser ein. Belegt sind insgesamt acht solcher Arbeitshaus-KZ, von denen sich allein fünf auf preußischem Gebiet befanden.107 Insgesamt existierten 1933/34 mindestens 70 frühe KZ sowie 30 »Schutzhaftabteilungen« in Justiz- und Polizeigefängnissen.108 Gemeinsam waren ihnen lediglich ihr improvisierter Charakter, die Heterogenität ihrer inneren Organisation und administrativen Einbindung sowie der Umstand, dass die Inhaftierung der Insassen jedweder rechtlichen Grundlage entbehrte. »Das typische frühe KZ«, kommentiert Angelika Königseder, »gibt es nicht, da von einer einheitlichen Struktur keine Rede sein kann.«109 Diese auf die Organisationsstruktur der frühen KZ bezogene Aussage lässt sich auch auf die Funktion übertragen. Obgleich die Einrichtung der Lager auf die Initiative von unabhängigen regionalen oder lokalen Akteuren zurückging,110 verfolgten diese zunächst noch dasselbe Ziel: die unwiederbringliche 104 Vgl. Benz u. Distel, Einleitung (2005), S. 10; dies., Lager; Drobisch u. Wieland, System, S. 47–75; Mayer-von Götz, Terror, S. 46. 105 Vgl. Caplan, Introduction, S. 22; Wachsmann, KL, S. 33 f. 106 Das erste Arbeitshaus wurde 1555 in London Bridewell eingerichtet. Auf dem europäischen Kontinent war das 1595 eröffnete »Tuchthuise« in Amsterdam die erste Anstalt dieser Art. Vgl. Ayaß, Arbeitshaus, S. 25 f. 107 Es handelt sich um die KZ Benninghausen, Brauweiler, Breitenau, Glückstadt und Moringen in Preußen, Colditz und Zwickau in Sachsen sowie Kislau in Baden und das KZ Bayreuth in Bayern. Vgl. Benz u. Distel, Lager; Caplan, Detention, S. 30; Drobisch u. Wieland, System, S. 73–75. Legt man als Gesamtzahl die 87 Haftstätten zugrunde, über die sich im zweiten Band der Reihe Der Ort des Terrors ein Eintrag findet, sind das rund zehn Prozent aller frühen KZ reichsweit und etwa 15 Prozent der frühen KZ in Preußen. Abweichende Prozentangaben finden sich bei Klaus Drobisch und Hans Hesse, wobei die Bezugsgrößen vage bleiben. Vgl. Drobisch, Verhaftung, S. 192; Hesse, Frauen-KZ, S. 19, 21 Anm. 34. 108 Vgl. Drobisch u. Wieland, System, S. 12; Königseder, Entwicklung, S. 30. Hinzu kommt eine bis heute unbekannte Anzahl an Haft- und Folterkellern der SA bzw. der SS. Allein im Raum Berlin lokalisiert Irene Mayer-von Götz 170 derartige Einrichtungen. Vgl. Mayervon Götz, Terror, S. 19. 109 Königseder, Entwicklung, S. 31 [Hervorh. i. Orig.]. Vgl. Orth, System, S. 25. Wie Wachsmann hervorhebt, unterschieden sich auch die Lebensbedingungen und das Maß der Gewalt erheblich, der die Häftlinge in den frühen KZ ausgesetzt waren. Vgl. Wachsmann, Terror, S. 14, 17. 110 Vgl. Morsch, Einleitung, S. 15; Wachsmann, KL, S. 32 f.
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Zerschlagung der politischen Opposition.111 Doch entwickelte die KZ-Haft schnell eine starke Eigendynamik, sodass sich die Funktion einiger früher KZ bald gemäß den jeweiligen Programmatiken ihrer selbstermächtigten Betreiber erweiterte. Wie gezeigt, war die Gründung der frühen KZ zunächst situativen Momenten, z. B. dem Mangel an Haftraum, geschuldet. Ebenso zeichneten sich Opferauswahl und Gewaltanwendung durch eine hohe Kontingenz aus. Doch um die Gegner des NS-Regimes nachhaltig auszuschalten, musste der Terror »wirkungsvoll, flächendeckend und für eine längere Dauer angelegt sein«.112 Schnell erwiesen sich die KZ als geeignetes Instrument, denn durch die ihnen eigene »Dualität von Terror und Repression«113 entfalteten sie ihre Wirkung auf zwei Ebenen: Zum einen ermöglichten sie es, durch unbefristete Freiheitsberaubung, brutale Behandlung, Erniedrigung und Willkür, direkten physischen und psychischen Druck auf die inhaftierten Regimegegner auszuüben. Zum anderen verschwanden die »Schutzhäftlinge« nicht unbemerkt. Außer den Familien nahmen auch Nachbarn, Kollegen, Freunde und Parteigenossen Kenntnis von der Inhaftierung. Diese »mittelbare« Betroffenheit war durchaus einkalkuliert. Das Wissen um die Existenz der KZ und die Furcht vor einer Inhaftierung sollte abschreckend wirken. Gerade dieser »Doppeleffekt«114 von Terror und Repression machte die KZ zu einem wirkungsvollen Instrument der Machtkonsolidierung. Diese Zwecksetzung fand ihre Entsprechung in der – retrospektiv bisweilen überraschenden – Sichtbarkeit der frühen KZ. Am Hauptgebäude der ersten dieser frühen Terrorstätten in Hessen prangte umrahmt von zwei Hakenkreuzen in großen Lettern die Aufschrift »Konzentrationslager – Osthofen«. Weithin sichtbar konnte sie sogar von Reisenden auf der häufig frequentierten Bahnstrecke Mainz-Mannheim gelesen werden.115 Andere Haftstätten der Gründungsphase 1933/34 lagen inmitten von Städte und Gemeinden, an Hauptverkehrsstraßen, Marktplätzen, ja, sogar in Gebäuden, die wie die zahlreichen als KZ zweckentfremdeten Schlösser, touristische Anziehungspunkte bildeten.116 Die Ansiedelung der frühen KZ in bekannten, traditionsreichen Gebäuden war zwar dem Zufall geschuldet, hatte aber in doppelter Hinsicht einen 111 Vgl. ders., Terror, S. 12, 20. 112 Mayer-von Götz, Terror, S. 47. 113 Tuchel, Konzentrationslager, S. 5. 114 Ebd. Vgl. Mayer-von Götz, Terror, S. 47–49; Wachsmann, KL, S. 64–67. 115 Vgl. Meyer u. Roth, Einrichtung, S. 214. 116 Mitunter konnten sogar die Lager selbst zur Attraktion für neugierige Besucher werden wie Paul Moore nachweist. Dabei blieb die in den KZ ausgeübte Gewalt vor den Augen der Öffentlichkeit keinesfalls verborgen. So beschwerten sich die Anwohner des sächsischen Städtchens Reichenbach über die Lärmbelästigung, die das im ehemaligen SPD Volkshaus, direkt am Marktplatz angesiedelte KZ verursachte. Die örtliche NS-Frauenschaft spendete daraufhin ein Federkissen, mit dem während der Verhöre die Schreie der Opfer erstickt werden sollten. Vgl. Baganz, Reichenbach, S. 192; Moore, Camps (2011), S. 109 f.
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nützlichen Effekt: Einerseits verstärkte die Sichtbarkeit die repressive und abschreckende Funktion. Gleichzeitig half die Verwurzelung der frühen KZ in der lokalen Topografie, Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung zu schaffen, indem sie es ermöglichte, diese neuen Institutionen in die Lokalgeschichte und damit »in a reassuring local topographical continuity«117 einzubetten. Auch die Presseberichterstattung über die KZ, die in den beiden ersten Jahren des NS-Regimes ihre Hochphase hatte,118 trug zur gleichzeitigen Steigerung von abschreckender Wirkung und Legitimation bei. Anfänglich lag es durchaus im Interesse der Nationalsozialisten, »die Bevölkerung bis zu einem gewissen Grad […] über die Konzentrationslager, Verhaftungsaktionen und Razzien vor Ort zu informieren«.119 Einen besonderen Stellenwert in der Berichterstattung nahmen der Erziehungsanspruch der KZ sowie die Häftlingsarbeit als Mittel der Erziehung ein. Das folgende Zitat, mit dem sich Reichsminister Wilhelm Frick am 8. März 1933, drei Tage nach den Reichstagswahlen, an die deutsche Öffentlichkeit wandte, ist wohl eines der bekanntesten Beispiele: »Wenn am 21. März der neue Reichstag zusammentritt, werden die Kommunisten durch dringende und nützlichere Arbeit verhindert sein, an der Sitzung teilzunehmen. Diese Herrschaften müssen wieder an fruchtbringende Arbeit gewöhnt werden. Dazu werden wir ihnen im Konzentrationslager Gelegenheit geben. Wenn sie sich dann wieder zu nützlichen Mitgliedern der Nation erziehen lassen, wollen wir sie als vollwertige Volksgenossen willkommen heißen, sonst werden wir sie auf die Dauer unschädlich zu machen wissen.«120
Ähnliches wusste der Berliner Börsen-Courier am 19. September zu berichten. Mit der »Einweisung in solche Lager«, hieß es, verfolgten die Behörden das Ziel, »den Insassen die für den Geist der neuen Zeit erforderlichen Eigenschaften anzuerziehen«.121 Die KZ-Haft sollte sie an »Arbeitsamkeit« und an die »Einsicht in den Vorrang des Gemeinnutzes« gewöhnen.122 Resümierend hielt die Zeitung fest: »Die Einrichtung der Konzentrationslager bedeute[t] also eine ausgesprochene Erziehungsanstalt.«123 Selbstverständlich müssen derartige Aussagen mit quellenkritischer Vorsicht gelesen werden, schließlich war die Gleichschaltung der Presse eine der zentralen Maßnahmen, mit denen das NS-Regime seine Herrschaft konsolidierte.
117 Ebd., S. 104. 118 Vgl. ebd., S. 100–104. Als Überblick über die öffentliche Präsenz der frühen KZ vgl. Wachsmann, KL, S. 63–78. 119 Mayer-von Götz, Terror, S. 48. 120 Frick in: VB/Münchner Ausgabe, 11./12.3.1933, S. 2, zit. nach Tuchel, Organisationsgeschichte, S. 44 f. Vgl. Moore, Camps (2011), S. 102; Morsch, Oranienburg, S. 118, 124 f.; Pingel, Konzeption, S. 156; Wachsmann, KL, S. 73 f. 121 Berliner Börsen-Courier, 19.9.1933, zit. nach Mayer-von Götz, Terror, S. 37. 122 Ebd. 123 Ebd.
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Doch sollte zumindest für die Frühphase der KZ und mit Blick auf das Handeln einzelner Akteure der Erziehungsanspruch nicht vorschnell als reine Propaganda und beschönigende Legitimationsstrategie abgetan werden. Als die Nationalsozialisten begannen, das Reichsgebiet mit einem myzelartigen Netz von frühen KZ zu überziehen, war »Erziehung durch Arbeit« ein feststehender Topos mit einer jahrhundertealten, bis auf die klösterliche Disziplin und Askese zurückgehenden Tradition.124 Noch während der Weimarer Zeit fand das Konzept in der straf- und fürsorgerechtlichen Arbeitshausunterbringung lebhaften Ausdruck. Internierung, Arbeit und Erziehung waren diskursiv eng miteinander verknüpft; ihr innerer Zusammenhang für jeden Zeitgenossen nachvollziehbar. Viele Akteure, die als Vertreter der verantwortlichen Aufsichts- oder Einweisungsbehörde, als Wachpersonal, Lieferanten, Handelspartner, Anwohner, Neugierige oder Journalisten mit den KZ in Kontakt kamen, dürften von der Möglichkeit, »fehlgeleitete Volksgenossen« durch die strenge Disziplin und harte Arbeit im Lager umzuerziehen und auf den Weg der »rechten Gesinnung« zurückzuführen, aufrichtig überzeugt gewesen sein. Mit dem Erziehungsanspruch verbunden war zudem das »volksgemeinschaftliche« Versprechen, »Ruhe, Ordnung und Sicherheit« zu stiften, dessen Realisierung die Lager durch die Internierung sämtlicher »Störenfriede« und »Gemeinschaftsfremden« zu manifestieren schienen. Die in den Lagern ausgeübte Gewalt stand dazu nicht im Widerspruch. Sie musste von den Presseartikeln nicht verschleiert werden, galt sie doch als »gerechte« Strafe für die niederträchtige und »volksschädigende« Tätigkeit der Regimegegner.125 Noch eine weitere Beobachtung spricht dafür, dass der positive Tenor, mit dem die Lokalpresse in den Frühjahrs- und Sommermonaten des Jahres 1933 über die KZ berichtete, nicht allein auf Zensur und Manipulation zurückzuführen ist. Nicht selten spricht aus den Artikeln ein »gewisser Stolz«126 darüber, dass die nationalsozialistische Regierung, vor allem aber die örtlichen Kampfverbände, endlich die Entschluss- und Tatkraft zeigten, diese längst überfällige »Erziehungsmaßnahme« gegen »Volksschädlinge« zu ergreifen. Der Duktus der Berichterstattung lässt nicht nur auf echtes Einverständnis der Journalisten schließen, sondern offenbart zudem, dass man meinte, mit der Zustimmung der Bevölkerung rechnen zu können. Die mit der KZ-Haft in Verbindung gebrachten Ziele – »Erziehung durch Arbeit« und Herstellung von »Sicherheit, Ruhe und Ordnung« – knüpften an fest in der deutschen Gesellschaft verankerte Annahmen und Überzeugungen an, die von der Mehrheit der Bevölkerung bereitwillig geteilt und aufgenommen wurden. So wie viele empfänglich für die Botschaft waren, in den Lagern würden »irregeleitete« Personen zu wertvollen »Volksgenossen« erzogen, dürfte allein die Existenz dieser Haftstätten das individuelle Sicherheitsempfinden erhöht haben. Demgegenüber trat das Wissen 124 Vgl. Pfeisinger, Arbeitsdisziplinierung; Treiber u. Steinert, Fabrikation. 125 Vgl. Moore, Camps (2011), S. 102 f., 109 f., 112. 126 Vgl. Pingel, Konzeption, S. 157.
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um die in den KZ ausgeübte Gewalt in den Hintergrund, wurde verdrängt oder als unvermeidlicher Nebeneffekt verharmlost.127 Das partielle Einverständnis der Bevölkerungsmehrheit mit einigen Prämissen der KZ-Haft darf selbstverständlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die im Verlauf des Jahres 1933 gleichgeschaltete Presse ein »sanitised image«128 der KZ erzeugte, das maßgeblich zur »Indoktrination und stillschweigenden Einwilligung der deutschen Öffentlichkeit«129 beitrug und dadurch mithalf, die nationalsozialistische Herrschaft zu konsolidieren.130 2.3.2 Erste Systematisierungsbestrebungen. Das »Preußische« und das »Dachauer Modell« Im Verlaufe des Jahres 1933 zeichneten sich erste Bemühungen zu einer Systematisierung der uneinheitlichen Organisationsstruktur der frühen KZ ab. Dies drückte sich zum einen in den Kontroversen über die Zielgruppen und das Ausmaß der »Schutzhaftpraxis« aus und zum anderen in der Herausbildung zweier Lagertypen, für die sich in der KZ-Forschung die Bezeichnung »Preußisches Modell« und »Dachauer Modell« etabliert hat.131 Entscheidende Instanz für die Entwicklung der preußischen KZ und damit des »Preußischen Modells« war Hermann Göring, dem als kommissarischem Innenminister nicht nur die innere Verwaltung, sondern auch die preußische Polizei unterstand. Als Hitler ihn am 11. April 1933 auch noch zum Ministerpräsidenten Preußens ernannte, waren die Voraussetzungen geschaffen, die Politische Polizei zur Gestapo umzubauen, sie aus der allgemeinen Polizeiverwaltung im Innenministerium herauszulösen und zur Aufsichtsbehörde der preußischen KZ zu machen. Dieser Schritt wurde am 30. November mit dem zweiten »Gestapo-Gesetz« vollzogen. Er brachte eine Entwicklung zum Abschluss, die Anfang des Jahres begonnen hatte und die zunächst auf ein preußisches KZ-System unter staatlicher Leitung hinauszulaufen schien.132 Schon im Frühjahr 1933 schickte sich die Polizeiabteilung im Preußischen Innenministerium unter der Leitung Ludwig Grauerts an, die Problematik des Mangels an geeignetem Haftraum zentral für ganz Preußen zu lösen. Die Anregung dazu kam vom Regierungspräsidenten in Hannover, der am 16. März vor127 Vgl. Moore, Camps (2011), S. 100–104, 109–112; Morsch, Oranienburg, S. 117 f.; Pingel, Konzeption, S. 157 f. 128 Moore, Camps (2011), S. 103. 129 Milton, Konzentrationslager, S. 137. 130 Vgl. Tuchel, Organisationsgeschichte, S. 43, 47 f. 131 Vgl. ebd., S. 48–56; ders., Konzentrationslager, S. 35–158. Der Kontrast zwischen der Dachauer Verwaltungsstruktur und der anderer KZ war allerdings nicht so scharf wie die KZForschung durch ihre Gegenüberstellung des »Preußischen« und des »Dachauer Modells« suggeriert. Vgl. Morsch, Organisationsstruktur; Zámecník, Dachau-Stammlager, 237 f. 132 Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 45–60.
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geschlagen hatte, »Sammellager« für politische Gefangene einzurichten. Schon einen Tag später erkundigte sich Grauert bei den Regierungspräsidenten von Osnabrück und Münster nach einem geeigneten Standort für ein Lager mit 250 bis 300 Häftlingen. Diese Initiative mündete Anfang April in den Plänen für den großen Lagerkomplex in den Moorgebieten des Emslandes, der 3.000 bis 5.000 Häftlingen aufnehmen sollte.133 Parallel dazu verhandelten Rudolf Diels und Hans Volk mit dem Preußischen Justizministerium über die Unterbringung von »Schutzhäftlingen« in einem stillgelegten Zuchthaus namens Sonnenburg in der Nähe Küstrins.134 Hans Volk war zu diesem Zeitpunkt Dezernent für Haftsachen im Landeskriminalpolizeiamt (LKPA). Rudolf Diels verfügte als Leiter der Politischen Gruppe der Polizeiabteilung im Innenministerium sowie als Leiter der Politischen Polizei und des Landeskriminalamtes im Berliner Polizeipräsidium über eine machtvolle Dreifachfunktion. Da die Initiativen zur Schaffung zusätzlicher Haftstätten aus zwei Richtungen, dem Innenministerium und dem LKPA, kamen und unkoordiniert verfolgt wurden, zeichnete sich im Frühjahr 1933 zunächst keine schnelle Lösung ab. Daher wies das Berliner Polizeipräsidium am 25. März die preußischen Landratsämter und kreisfreien Städte an, über die Unterbringung politischer »Schutzhäftlinge« in eigener Regie zu entscheiden. Daraus resultierte zunächst eine relativ große Selbstständigkeit der Mittel- und Oberbehörden. Das hatte für die regionale Entwicklung in Preußen zwei Folgen: Zum einen kam es – zumeist auf Initiative der SA oder der örtlichen Parteiorganisation – zur Gründung einer Reihe kleinerer SA-Lager, zu denen z. B. das KZ Oranienburg bei Berlin zählte.135 Zum anderen entstanden durch die Zusammenarbeit der Regierungspräsidenten, Kommunalbehörden und Provinzialverwaltungen in den Arbeitshäusern Glückstadt, Moringen, Benninghausen und Brauweiler die ersten regionalen KZ unter staatlicher Kontrolle.136 Eine erste zentrale Regelung erging schließlich am 16. Juni 1933: In einer Weisung an die Regierungspräsidenten137 kündigte Ludwig Grauert die Zentralisierung der »Schutzhaftpraxis« und die Zusammenlegung der lokal untergebrachten »Schutzhäftlinge« in großen KZ an. Außerdem erkannte er das Lager Sonnenburg sowie eine im Entstehen begriffene Haftstätte in der Lichtenburg 133 Zur Geschichte der Emslandlager vgl. Knoch, Emslandlager; Buck, Suche. Bei dem Ausdruck Emslandlager handelt es sich nicht um einen Quellenbegriff, sondern um eine Wortschöpfung der KZ-Forschung zur Bezeichnung des gesamten Lagerverbunds im Emsland. Vgl. Knoch, Emslandlager, S. 534. 134 Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 60–62. 135 Zur Geschichte des KZ Oranienburg vgl. Dörner, Oranienburg; Morsch, Konzentrations lager. 136 Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 43, 62–64. Zur Geschichte der genannten KZ vgl. Benz u. Distel, Lager; Daners u. Wisskirchen, Brauweiler; Hesse, Frauen-KZ; ders., KZ. Das KZ Breitenau wurde erst am 16. Juni 1933 eröffnet, zu einem Zeitpunkt, als die Koordinationsbestrebungen gerade in ein neues Stadium eintraten. 137 Abgedruckt in: Tuchel, Konzentrationslager, S. 69.
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bei Prettin als erste staatliche KZ an.138 Das bis dahin nur schleppend vorangekommene Großprojekt im Emsland erhielt mit der Eröffnung des KZ Börgermoor ebenfalls neuen Auftrieb.139 Die Konturen des preußischen Lagersystems zeichneten sich nun immer deutlicher ab: Ausgelegt auf die dauerhafte Unterbringung von 10.000 Häftlingen sollten drei Lagertypen – die Emslandlager zur Vollstreckung längerer Haftzeiten, Sonnenburg, Brandenburg und Lichtenburg als »Durchgangslager« sowie einige regionale »Sammellager«, darunter das KZ Moringen – arbeitsteilig ineinandergreifen. Durch Kultivierungsarbeiten in den Moorgebieten des Emslandes wollte man die Arbeitskraft der Häftlinge ökonomisch produktiv nutzen. Unter dem Einfluss Kurt Dalueges, seines Zeichens Leiter der Polizeiabteilung im Preußischen Innenministerium und hoher SS-Führer, wurde im Juli und August 1933 die Bewachung der staatlichen KZ auf SS-Wachmannschaften umgestellt. Etwa zeitgleich kam es zur Auflösung der meisten kleineren, provisorischen Lager.140 Am 25. September fixierten dann die »Geschäftsanweisungen für die Leitung der Konzentrationslager« des Innenministeriums die Lagerorganisation und -verwaltung in der sogenannten »Direktorialverfassung«.141 Den Höhepunkt der Zentralisierungsbestrebungen des Preußischen Innenministeriums markierte ein Erlass Ludwig Grauerts vom 14. Oktober 1933 über die »Vollstreckung der Schutzhaft«. Von nun an durften »Schutzhäftlinge« nur noch in den staatlichen KZ inhaftiert werden. Als solche galten fortan die Emslandlager, Sonnenburg, Lichtenburg und Brandenburg. »Sonstige Einrichtungen zu Unterbringung politischer Schutzhäftlinge«, verfügte Grauert, »werden von mir als staatliche Konzentrationslager nicht anerkannt; soweit sie noch bestehen, werden sie in Kürze, jedenfalls noch vor Ende diesen Jahres, aufgelöst«.142 Allerdings stellte Grauert die »Schutzhaftabteilungen« in den Arbeitshäusern Brauweiler und Moringen explizit den staatlichen KZ gleich. Damit war das Preußische Innenministerium nicht nur für die Lagereinrichtung und -verwaltung zuständig, sondern auch für alle Angelegenheiten, die mit den Häftlingen zusammenhingen.143 In der Theorie erschien damit der Plan für ein preußisches KZ-System unter staatlicher Kontrolle perfekt. Die praktische Durchführung scheiterte jedoch an den machtpolitischen Interessen der Beteiligten und den daraus resultierenden Konflikten. Nicht nur die »Direktorialverfassung«, sondern auch eine Auseinandersetzung, die im Herbst 1933 zwischen verschiedenen preußischen Behörden und Instanzen des Reiches über die Frage entbrannte, wer die Kontrolle über die Gestapo ausüben sollte, führte zu erheblichen Problemen. Hermann 138 Zur Geschichte des KZ Lichtenburg vgl. Endlich, Lichtenburg; Nürnberg, Sonnenburg. 139 Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 65–72. 140 Wichtige Ausnahmen bildeten die KZ Stettin-Bredow, Kemna und Oranienburg. Vgl. ebd., S. 72–77. 141 Vgl. ebd., S. 61, 69–89, 90, 92 f. 142 Zit. nach ders., Organisationsgeschichte, S. 49. 143 Vgl. ders., Konzentrationslager, S. 79 f.
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Göring löste diese Angelegenheit, indem er die Gestapo mit dem zweiten »Gestapo-Gesetz« als selbstständigen Verwaltungszweig etablierte, der nicht mehr dem Innenministerium, sondern ihm als preußischem Ministerpräsidenten unterstellt war. Zum »Inspekteur der Geheimen Staatspolizei« ernannte er Rudolf Diels. Dadurch verlor das Innenministerium Ende November nicht nur die Kontrolle über die Gestapo, sondern auch die Aufsicht über die KZ. Sie ging auf das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa) über, das am 26. April 1933 mit dem ersten »Gestapo-Gesetz« gegründet worden war. Die Planungen für ein preußisches KZ-System fanden damit ihr Ende.144 Als Heinrich Himmler am 20. April 1934 die preußische Gestapo übernahm, fand er »keine funktionierende Organisation der preußischen Konzentrationslager vor, sondern nur die Reste einer Planung, die von Göring […] durch die Neuordnung der Geheimen Staatspolizei zerstört worden war«.145 Von Bayern ausgehend hatte Himmler 1933/34 nach und nach die Politischen Polizeien der Länder unter seine Kontrolle gebracht. Die Übernahme der preußischen Gestapo bildete den vorläufigen Abschluss dieser Kompetenzusurpation. Dass Hitler dem RFSS dann 1936 als Chef der Deutschen Polizei die Befehlsgewalt über den gesamten Polizeiapparat übertrug, ist zum einen auf die geschickte Strategie zurückzuführen, mit der Himmler seine Macht erweiterte, und zum anderem auf sein Konzept für die »innere Sicherheit« des NS-Staates, mit dem er Hitlers Unterstützung gewinnen konnte. Himmlers Konzept gewährleistete ein Höchstmaß an systematischem Terror. Es ermöglichte nicht nur die effektive Verfolgung der bekannten politischen Gegner, sondern sollte auch die Neubildung jedweder Opposition verhindern. Das Konzept ruhte auf zwei Säulen: dem erweiterten Gegnerbegriff und dem Ausbau der SS zur militärischen Macht. Gemäß der rassischen Generalprävention bezog sich die Gegnerverfolgung nicht nur auf die Kritiker des NS-Regimes, sondern auf sämtliche Einzelpersonen und Gruppen, die aufgrund ihrer Religion und Abstammung oder durch nonkonformes Verhalten bzw. soziale Auffälligkeiten wie Armut und Kriminalität die »Volksgemeinschaft« störten. Im Zentrum von Himmlers Konzept stand das KZ Dachau146 als Ort der Exklusion für alle »Gemeinschaftsfremden« und SS-Ausbildungsund Trainingslager. In Dachau gingen die militärisch-machtpolitischen Ambitionen des RFSS eine konkret-räumliche Verbindung mit dessen sozialrassis tischen Visionen ein. »Damit war«, wie Tuchel hervorhebt, »das Konzentrationslager Dachau bereits 1933/34 nicht mehr nur ein Ort der politischen Auseinandersetzung, sondern zugleich auch Instrument der nationalsozialistischen ›Sozialhygiene‹.«147 144 Vgl. Hensle, Verrechtlichung, S. 82 f.; Tuchel, Konzentrationslager, S. 59 f., 85–87, 89–95, 117–120. 145 Ebd., S. 119. 146 Zur Geschichte Dachaus vgl. ebd., S. 123–128; Zámecník, Dachau-Stammlager. 147 Tuchel, Konzentrationslager, S. 157. Vgl. ebd., S. 303–307.
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Schon bei seiner Errichtung hatte Himmler das KZ Dachau als auf lange Sicht nutzbares Machtinstrument betrachtet. Er verstand es, seine im Frühjahr 1933 erworbenen Kompetenzen als kommissarischer Polizeipräsident Münchens, politischer Referent im Innenministerium148 und Politischer Polizeikommandeur so zu nutzen, dass er bald maßgeblichen Einfluss auf alles gewann, was im Zusammenhang mit dem KZ stand. Auf diese Weise gelang es ihm, Dachau sukzessive allen Eingriffen von außen zu entziehen und es gemäß den oben geschilderten Prämissen als schlagkräftiges Instrument zur terroristischen Erzwingung der »inneren Sicherung« auszugestalten.149 Der genaue Zeitpunkt, zu dem Hitler Himmlers Konzept billigte, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Aus der Retrospektive erscheint die Ernennung von Himmlers Paladin Theodor Eicke zum »Inspekteur der Konzentrationslager« im Sommer 1934 nicht nur als der entscheidende Schritt zur institutionellen Vereinigung der KZ unter dem Dach der IKL, sondern gleichzeitig als Entscheidung, das »Dachauer Modell« auf das gesamte Reich zu übertragen.150 Als »Dachauer Modell« bezeichnet die KZ-Forschung eine bestimmte Form der Lagerorganisation, die Theodor Eicke, nachdem er am 26. Juni 1933 seinen Dienst als Kommandant Dachaus angetreten hatte, dort entwickelte und erprobte. Er machte aus Dachau ein effizientes Terrorinstrument, das Himmlers Konzept entsprechend je nach politischer Zweckmäßigkeit flexibel gegen verschiedenste Zielgruppen gerichtet werden konnte und das gleichzeitig der militärischen Ausbildung der SS diente. Wichtige Eckpfeiler des Dachauer Modells waren die Abschottung des Lagers gegenüber Justiz und Öffentlichkeit, die strikte Trennung von Wachmannschaften und Kommandanturstab,151 die Einführung der »Dachauer Lagerordnung«152 sowie die charakteristische Untergliederung der Kommandantur in fünf Abteilungen (Politische Abteilung, »Schutzhaftlager«,153 Wirtschaftliche Angelegenheiten/Verwaltung, Standortarzt und Wachtruppe). Das gesamte Lager befehligte der Kommandant, dem ein Stabsführer bzw. Adjutant zur Seite gestellt war.154 Mit der »Dachauer Lagerordnung« schuf Eicke ein normiertes System der Gewalt, das in Rechtmäßigkeit suggerierender Weise den Lageralltag der Häftlinge und die Befugnisse der Wachposten regulierte, wodurch es maßgeblich 148 Dabei handelte es sich um die Ministerialinstanz der Politischen Polizei. 149 Vgl. ebd., S. 121–125, 147–149, 156–158; ders., Organisationsgeschichte, S. 51, 53. 150 Vgl. ebd., S. 50–56; ders., Konzentrationslager, S. 157–159. 151 Die Wachtruppe stand unter dem Befehl des Kommandanten, durfte das »Schutzhaftlager« aber nicht betreten, sondern war ausschließlich für die äußere Sicherung sowie gegebenenfalls für die Bewachung der Arbeitskommandos außerhalb des Lagers zuständig. 152 Vgl. Zámecník, Dachau-Stammlager, S. 236. Der Text ist u. a. abgedruckt in: Distel u. Jakusch, Konzentrationslager, S. 68. 153 Der »Schutzhaftlagerführer« fungierte auch als Stellvertreter des Lagerkommandanten. Ihm waren die direkt im Gefangenenlager eingesetzten Kommando-, Arbeitsdienst-, Rapport- und Blockführer unterstellt. Vgl. Orth, System, S. 41. 154 Vgl. ebd., S. 27–31, 39–46; Tuchel, Konzentrationslager, S. 125–128, 148, 151 f.
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zur Abschottung des KZ gegenüber der Justiz beitrug. Die »Dachauer Lagerordnung« trat am 31. Oktober 1933 in Kraft und bestand aus der »Disziplinar- und Strafordnung für das Gefangenenlager« und den »Dienstvorschriften für die Begleitposten und Gefangenenbewachung«, also für die SS. Durch die Übernormierung der an die Häftlinge gestellten Verhaltensanforderungen garantierte sie ein Höchstmaß an Brutalität, denn der kleinste Verstoß konnte mit Strafen geahndet werden, die von einer Post- und Paketsperre bis hin zur Todesstrafe durch Erhängen reichten. Die vollziehende Strafgewalt legte die »Dachauer Lagerordnung« in die Hände des Kommandanten, dessen Unterstellungsverhältnis sie wiederum dergestalt regelte, dass er in letzter Instanz allein Himmler rechenschaftspflichtig war. Den Angehörigen der Wachtruppe gab sie Vorschriften an die Hand, die ein einheitliches Vorgehen gegenüber den Häftlingen sichern und spontane, nicht durch den Lagerkommandanten sanktionierte Gewaltakte verhindern sollten. Gleichzeitig schuf die »Dachauer Lagerordnung« eine Legitimationsgrundlage, indem sie der Gewaltanwendung einen gewissen Rahmen steckte. Daher hatte sie in der Realität des Lageralltags gerade nicht den Effekt, Gewaltausübung zu verhindern. Stattdessen trug sie durch den ihr inhärenten »Dualismus von völliger Willkür und überregulierter Ordnung«155 dazu bei, den Terror zu entgrenzen. Mit der Einführung der Lagerordnung war das KZ Dachau zum Ort des »systematisierten und unsichtbaren Terrors«156 und »zur ›terra incognita‹ für die Justiz«157 geworden.158 2.3.3 Die Phase der Reorganisation durch die IKL 1934 bis 1936. Weichenstellungen für den Aufbau des KZ-Systems Im Mai 1934, kurz nachdem Himmler die preußische Gestapo übernommen hatte, erteilte er Eicke den Auftrag, die staatlichen KZ in Preußen zu reorganisieren. Ende des Monats reiste dieser nach Prettin und unterstellte das KZ Lichtenburg seinem Kommando. In schneller Folge schuf Eicke eine politische Abteilung, führte die »Dachauer Lagerordnung« ein, entließ den Lagerdirektor und veranlasste dessen »Inschutzhaftnahme«. Schon zu dieser Zeit begann Eicke sich »Inspekteur der Konzentrationslager« zu nennen. Aber genau wie den Zusatz »Führer der SS Wachverbände« verlieh Himmler ihm diesen T itel offiziell erst mit Wirkung zum 4. Juli 1934, im Anschluss an die sogenannte »Röhm-Affäre«, bei der Eicke als einer der Todesschützen seine Loyalität gegenüber Hitler und dem RFSS unter Beweis gestellt hatte.159 155 Morsch, Organisationsstruktur, S. 71. 156 Tuchel, Konzentrationslager, S. 157. 157 Ebd., S. 149. 158 Vgl. Orth, System, S. 28–30; Sofsky, Ordnung, S. 246–255; Tuchel, Konzentrationslager, S. 144–149. 159 Über den genauen Zeitpunkt der Ernennung Eickes zum »Inspekteur der Konzentrationslager« sind unterschiedliche Angaben zu finden. Tuchel datiert das Ereignis in seiner
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Zwischen Sommer 1934 und Frühjahr 1935 reorganisierte Eicke in Preußen die KZ Lichtenburg, Esterwegen und Berlin Columbia-Haus. Das KZ Oranienburg löste er auf. In Sachsen übernahm er das KZ Sachsenburg. Mit dieser »Gleichschaltung«160 der frühen KZ legte Eicke den Grundstein des künftigen KZ-Systems.161 Den Auftakt zu dessen Ausbau markierte im Sommer 1936 der Baubeginn Sachsenhausens nahe der Reichshauptstadt Berlin. Das KZ Dachau wurde ab 1937 erheblich erweitert, die kleineren IKL-Lager Esterwegen, Sachsenburg, Columbia-Haus und Bad Sulza wurden dagegen aufgelöst. An ihre Stelle traten bis Kriegsbeginn vier weitere große, zweckbestimmt erbaute KZ: Buchenwald bei Weimar (Sommer 1937), Flossenbürg in der Nähe des oberpfälzischen Weiden (Mai 1938), Mauthausen bei Linz (August 1938) und das Frauen-KZ Ravensbrück bei Fürstenberg (Mai 1939).162 Dennoch bestanden – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – einige der frühen KZ im »Schatten der IKL«163 fort und übernahmen ganz ähnliche Funktionen wie die der SS-Administration angegliederten Haftstätten. Die Entscheidungsprozesse, die in der Gründung der IKL mündeten und in denen sich die Absicht der NS-Führung zur längerfristigen Etablierung der KZ und zu deren Erhalt als Machtbasis der SS ausdrückten, bilden einen neuralgischen Punkt in der historiografischen Diskussion über die Entwicklungsgeschichte der KZ. Ein Blick auf die Häftlingszahlen, so die Argumentation der Vertreter des Stufenmodells, zeige, dass spätestens Ende 1933 keine objektive Notwendigkeit zur Beibehaltung der Lager, geschweige denn zu ihrem Ausbau, mehr bestanden habe. Zu diesem Zeitpunkt sei die NS-Herrschaft weitgehend konsolidiert, der Rechtsstaat zerschlagen und die politische Opposition erfolgreich und nachhaltig ausgeschaltet gewesen. Die vergleichsweise geringe Zahl von »Schutzhäftlingen«, die sich noch in den Lagern befand, hätte problemlos in die regulären Justizvollzugsanstalten integriert werden können.164 Dass dies nicht geschah, sondern im Gegenteil die Weichen für den Aufbau des KZ-Systems gestellt wurden, erklären die Vertreter des Stufenmodells damit, dass es Himmler mit seinem Konzept zur rassischen Generalprävention Monografie über die IKL auf den 20. Juni 1934, in seinem Überblicksaufsatz in der Reihe Der Ort des Terrors hingegen heißt es, sie sei mit Wirkung zum 4. Juli 1934 erfolgt. Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 161–169, 202–205; ders., Organisationsgeschichte, S. 55. 160 Wachsmann, Terror, S. 18. 161 Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 161–169, 202–204; Königseder, Entwicklung, S. 32. 162 Ebd., S. 33. 163 Diese Wendung geht auf eines der Gespräche zurück, die ich mit Kim Wünschmann auf einer unserer gemeinsamen Archivreisen nach Pattensen im Herbst 2008 führte. Sie benutzte den Ausdruck, um die Stellung des Frauen-KZ Moringen im System der IKL-Lager zu charakterisieren. 164 Vgl. Orth, System, S. 24 f. Wachsmann, Terror, S. 17 f. Während im Jahr 1933 mehr als 80.000 Menschen die KZ durchlaufen hatten, zählten offizielle Stellen am 1. August 1934 nur noch rund 5.000 KZ-Häftlinge. Vgl. Tuchel, Organisationsgeschichte, S. 55.
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und dem »Dachauer Modell« gelang, Hitlers Unterstützung zu gewinnen. Dadurch waren sowohl die preußischen Bestrebungen zum Aufbau eines in die allgemeine Verwaltung integrierten KZ-Systems desavouiert als auch jene Stimmen zum Schweigen gebracht worden, welche die Auflösung der KZ und die Überführung der Häftlinge in den justiziellen Strafvollzug gefordert hatten.165 Diese Studie wird zeigen, dass die skizzierte Argumentation einer Ausdifferenzierung bedarf: Erstens war die Erweiterung des Gegnerbegriffs in Bayern und der Einsatz des KZ Dachau als Instrument sozialrassistischer und kriminalpräventiver Verfolgung nicht allein auf die Initiative Himmlers zurückzuführen, sondern entwickelte sich in einem Wechselspiel verschiedener Behörden und Einzelpersonen. Im Konzept zur rassischen Generalprävention offenbarten sich daher nicht nur Himmlers Ideen, sondern auch eine Reihe außerhalb der NS-Ideologie und -Bewegung zu verortende Traditionen, Träger und Ziele. Zweitens bildete das Vorgehen in Bayern keine Ausnahme. Ähnliche Ansätze zum Einsatz der KZ bei der Verfolgung von Devianz und Delinquenz finden sich früh auch in anderen Ländern, z. B. in Preußen, Baden und Thüringen. Zudem begann man im Reichsinnenministerium schon im Herbst 1935, ein Reichsgesetz über die »Vorbeugungshaft« gegen »Berufsverbrecher« vorzubereiten – ein Vorhaben, das allerdings im Frühjahr 1936 im Sande verlief.166 Drittens erscheint die These vom drohenden Funktions- und Bedeutungsverlust der Lager zur Jahreswende 1933/34 nur plausibel, wenn man davon ausgeht, sie hätten ausschließlich der Internierung der politischen Gegner des NS-Regimes gedient. Die Studie wird jedoch zeigen, dass die KZ-Einweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« schon zu diesem Zeitpunkt nicht nur gängige Praxis war, sondern vielerorts bereits eine gewisse Systematik erreicht hatte. Der Strategiewechsel der Polizei-, SS- und Gestapo-Führung von »der Gegner bekämpfung zur rassischen Generalprävention«167 bedeutete für die KZ nicht den Zugewinn einer neuen Funktion nach dem top-down-Prinzip, sondern den Ausbau einer durch die Aktivitäten der unteren Instanzen bereits vorhandenen Funktion.
165 Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 308–315. 166 Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 723. 167 Herbert, System, S. 22.
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3. Die rechtlichen Grundlagen der Einweisungen von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« in die Konzentrationslager 1933 bis 1937/38
Obgleich die NS-Diktatur ihrem Wesen nach ein Unrechtsstaat war, gaben die Funktionsträger des Regimes ihrem Vorgehen meist doch einen legalen Anschein, indem sie es in die Form von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen kleideten.1 Mit ihrer Instrumentalisierung des Rechts verfolgten die Nationalsozialisten drei Ziele: erstens die Herrschaftssicherung, zweitens die Ausschaltung der politischen Gegner und drittens die »Reinigung« des »Volkskörpers« von »rassischen« und sonstigen »Volksschädlingen«. Beispielhaft dafür sind das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (7. April 1933), das »Gesetz zu Verhütung erbkranken Nachwuchses« (14. Juli 1933) oder auch das noch näher zu erörternde »Gesetz gegen Gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung« (24. November 1933). Bei diesen Gesetzen handelte es sich jedoch nur noch der Form, nicht mehr der Substanz nach um Recht. Es war, wie Ralph Angermund es ausdrückt, »ein allen rechtsstaatlichen Grundsätzen entkleidetes Recht«.2 Formal blieb der rechtsstaatliche Rahmen, den die Weimarer Verfassung und das RStGB gesteckt hatten, zwar bestehen, denn der NS-Staat gab sich weder eine eigene Verfassung, noch gelangte die projektierte Reform des Strafgesetzbuches zum Abschluss. Dennoch begann schon bald nach dem Regierungsantritt Hitlers der Rechtsstaat zu erodieren. Im Namen der utilitaristischen Prämisse »Recht ist, was dem Führer nützt« wurde geltendes Recht ständig gebeugt, gebrochen oder pervertiert. Unverbrüchliche Voraussetzungen von Rechtsstaatlichkeit wie die Allge meingültigkeit und Rationalität, Kalkulierbarkeit und Beständigkeit des Rechts waren ab 1933 nicht mehr garantiert.3 Zahlreiche »Sondergesetze« verletzten nicht nur das Allgemeingültigkeitsgebot, indem sie für bestimmte Bevölkerungsgruppen, allen voran die deutschen Juden, galten, sondern schufen gleichzeitig neue Straftatbestände außerhalb des RStGB. Die Errichtung spezieller Gerichte, der »Sondergerichte« im März 1933 und des »Volksgerichtshofes« 1 Schon Fraenkel hatte es als zentrales Anliegen betrachtet, durch seine Analyse des Doppelstaates »den hinter der Aufrechterhaltung traditioneller Fassaden verborgenen wahren Charakter des Regimes [zu] entschleiern«. Brünneck, Vorwort, S. 11. Vgl. Fraenkel, Vorwort, S. 43. 2 Angermund, Recht, S. 57. 3 Vgl. Naucke, Zerbrechlichkeit, S. 201–376; Roxin, Grundlagen, S. 138–1783.
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im August 1934, sollte die regimekonforme Anwendung des politischen Strafrechts gewährleisten. Die rückwirkende Strafandrohung neuer Gesetze verletzte das Grundprinzip nulla poena sine lege und zerstörte die Kalkulierbarkeit des Rechts in ähnlicher Weise wie die Abschaffung des Analogieverbots oder die rückwirkende Legitimierung von Verwaltungshandeln qua Gesetz, Erlass oder Verordnung, die aus dem Mechanismus des »working towards the Führer« resultierte. Mit dem »Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches«, die den § 2 RStGB dahingehend abwandelte, dass nicht nur strafrechtlich kodifizierte Tatbestände bestraft werden konnten, sondern auch Handlungen, die »nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Strafe verdienen«,4 löste die NS-Regierung 1935 den rechtsstaatlichen Fundamentalsatz nulla crimen, nulla poena sine lege endgültig und offiziell auf. Ebenfalls ignoriert wurde das Doppelbestrafungsverbot ne bis in idem, das es untersagt, einen Angeklagten wegen ein und desselben Deliktes mehrfach zur Rechenschaft zu ziehen. Die Einführung unbestimmter Rechtsbegriffe und Negativ-Tatbestände wie auch die Berufung auf das »gesunde Volksempfinden«5 als Quelle des Rechts führten zur Auflösung der Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen der Richter oder Verwaltungen. Hinzu kam, dass Richter, Staatsanwälte und Verwaltungsangestellte im Vorgriff auf das noch zu schaffende, nationalsozialistische Staats- und Strafrecht mit der »rechtsschöpferischen«6 Auslegung vorhandener Rechtsnormen begannen. De facto hieß das, dass sie bestehendes Recht bewusst brachen, um dem, was sie für nationalsozialistisches Recht hielten, Geltung zu verschaffen.7 Bei der Stigmatisierung, Exklusion und Internierung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« kamen sowohl neue, rechtsstaatlichen Grundsätzen wider sprechende NS-Gesetze als auch eine Rechtsprechung und Verwaltungshandeln contra legem zum Einsatz. Wenn im Folgenden von den »rechtlichen Grundlagen« der KZ-Einweisungen gesprochen wird, bilden daher die hier skizzierten Überlegungen zur Funktion des Rechts im Nationalsozialismus den Referenzrahmen. Durch die gewählte Terminologie soll weder die fundamentale Erosion des Rechts noch der prinzipielle Unrechtscharakter der KZ-Haft bezweifelt werden. Für die Gruppe der »Asozialen« ging die KZ-Forschung bisher davon aus, dass erst mit dem »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung«8 vom 4 Gesetz Änderung RStGB, RGBl 1935/I, S. 839. 5 Ab Juni 1935 war es sogar erlaubt, eine Tat, die an sich nicht strafbar war, abzuurteilen, wenn das »gesunde Volksempfinden« dies verlangte. Das Strafmaß sollte in Anlehnung an das jenige Gesetz gefunden werden, dessen »Grundgedanken« den Sachverhalt am besten trafen. Vgl. Angermund, Recht, S. 59. 6 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 68, 90, 93, 101. 7 Gerade darüber, was als Inhalt nationalsozialistischen Rechts anzusehen war, welche juristischen Methoden diesem Recht entsprachen und wie zentrale Rechtsbegriffe zu definieren seien, entspannen sich aber heftige Kontroversen. Vgl. Angermund, Recht, S. 60. 8 Der offizielle Name lautete »Grundlegender Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei«.
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Dezember 1937 eine rechtliche Grundlage für die KZ-Einweisungen geschaffen worden sei, die dann in der »Aktion Arbeitsscheu Reich« 1938 erstmals massenhaft auf vermeintlich »Arbeitsscheue« angewendet wurde.9 Davor sei es nur vereinzelt und in Ausnahmefällen zu »Schutzhaftverhängungen« gegen »Asoziale« gekommen.10 Darüber hinaus erwähnen zwar einige Autoren die Einweisungen in das KZ Dachau, die in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre basierend auf dem § 20 der RFV vorgenommen wurden, sowie die Überstellung von Häftlingen des Arbeitshauses Rebdorf ab November 1933, ohne jedoch näher auf diese Praktiken einzugehen. Zudem werden sie häufig als bayerische Spezifika behandelt.11 Im Folgenden kann gezeigt werden, dass »Asoziale« schon in die KZ eingewiesen wurden, lange bevor der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« im Dezember 1937 dafür eine dezidierte rechtliche Grundlage schuf. Nicht nur – wie bisher angenommen – in Bayern, sondern auch in vielen anderen Gebieten des Reiches experimentierten lokale Akteure schon ab dem Frühsommer 1933 mit der »Schutzhaftverhängung« gegen »Asoziale« bzw. griffen – je nachdem wie es sich gerade anbot oder zweckdienlich erschien – auf andere rechtliche Konstrukte zurück. Die Selbstermächtigung verschiedenster Akteure, die sich zur KZ-Einweisung von »Asozialen« befugt sahen, enthüllt ein maßnahmenstaatliches Agieren der Verantwortlichen bereits in dieser frühen Phase der Verfolgung. Mit Hilfe des Fraenkelschen Analyseinstrumentariums können die KZ-Einweisungen von »Asozialen«, die aus den unterschiedlichen Regionen des Deutschen Reiches überliefert sind, als typischer Ausdruck des Doppelstaates verstanden, statt wie bisher auf isolierte Ausnahmeerscheinungen reduziert zu werden. Während die rechtlichen Grundlagen, auf welche die Verantwortlichen bei den frühen KZ-Einweisung von »Asozialen« zurückgriffen, kaum erforscht sind, ist für die Gruppe der »Berufsverbrecher« der preußische Erlass über die »polizeiliche Vorbeugungshaft« vom November 1933 von verschiedenen Autoren analysiert worden. Auch das ebenfalls im November 1933 erlassene »Gewohnheitsverbrechergesetz« hat mehrfach wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren.12 Allerdings sind diese Untersuchungen, wie schon Ayaß kritisierte,13 9 Vgl. Distel, Kriminelle, S. 197–199; Hensle, Verrechtlichung, S. 85 f.; Königseder, Entwicklung, S. 33 f.; Orth, System, S. 23, 46 f.; Schüler-Springorum, Masseneinweisungen, S. 156 f. 10 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 138. 11 Vgl. ebd.; ders., Gemeinschaftsfremde, S. XVII; Eberle, Häftlingskategorien, S. 97, 104; Königseder, Entwicklung, S. 32; Tuchel, Konzentrationslager, S. 155–158. Eberle und Ayaß betonen aber die Kontinuitäten repressiver Fürsorgepolitik. Eberle begreift die Ereignisse 1937/38 zudem nicht als scharfe Zäsur, sondern zeigt, dass die rassische Generalprävention an Vorläufer aus der ersten Hälfte der 1930er-Jahre anknüpfen konnte. Vgl. Eberle, Häftlingskategorien, S. 91–93, 97. 12 Vgl. Hellmer, Gewohnheitsverbrecher; Leonhard, Verbrechensbekämpfung; Müller, Gewohnheitsverbrechergesetz (1997); Wagner, Volksgemeinschaft; Werle, Justiz-Strafrecht; Terhorst, Überwachung. 13 Vgl. Ayaß, Winkel, S. 23 f.
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von der KZ-Forschung bislang kaum rezipiert worden. Das zeigt sich unter anderem daran, dass mitunter die Haftarten »Vorbeugungshaft« und »Sicherungsverwahrung« sowie die Zuständigkeiten für ihre Verhängung verwechselt werden.14 Dabei handelte es sich um zwei wesensverschiedene Instrumente des nationalsozialistischen Doppelstaates, von denen das eine, die vom Gericht verhängte »Sicherungsverwahrung«, zunächst ausschließlich in den Bereich der Judikative fiel, wohingegen die im Kompetenzbereich der Kriminalpolizei angesiedelte »Vorbeugungshaft« ein Instrument der Exekutive darstellte. Ebenfalls weitgehend unberücksichtigt blieben bislang die Hinweise Terhorsts auf die frühen Vorschriften zur »Vorbeugungshaft« außerhalb Preußens.15 Folglich bildet auch die Frage, ob und in welcher Weise diese regionalen Erlasse und Haftpraktiken in den »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« einflossen, ein Desiderat. Im Folgenden kann gezeigt werden, dass ähnlich wie bei der »Asozialen«Verfolgung auch im Bereich der Kriminalprävention die Arbeitsteilung des Doppelstaates schon in der Frühphase des NS-Regimes angelegt war. Die erho benen Quellen belegen überdies, dass einige regionale »Vorbeugungshafterlasse« bzw. die örtlichen Haftpraktiken die »Asozialen«- und »Berufsverbrecherbekämpfung« schon miteinander verschmolzen, lange bevor der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« dies reichsweit zur Norm erhob. Die Untersuchung der Rechtsgrundlagen der KZ-Einweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« bestätigt außerdem die eingangs formulierte These, dass die Pluralität der in die Verfolgungspolitik involvierten Akteure zu einer entsprechenden Heterogenität der Maßnahmen führte.16
3.1 Legalistischer Rahmen der KZ-Einweisung von »Asozialen« 1933 bis 1937/38 3.1.1 »Schutzhaft« Am 28. Februar 1933, dem Tag nach dem Reichstagsbrand, unterzeichnete Reichspräsident Hindenburg, der laut Art. 48 Abs. 2 Weimarer Reichsverfassung über das Notverordnungsrecht im Ausnahmezustand verfügte, die »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat«. Die sogenannte Reichstagsbrandverordnung trat noch am selben Tag in Kraft. Schon in den frühen Morgenstunden des 28. Februars, noch bevor die Flammen des brennenden Reichstags gelöscht waren, hatten die Nationalsozialisten, den Brand als Vorwand nutzend, damit
14 Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 203. 15 Vgl. Terhorst, Überwachung, S. 101–114. 16 Als Überblick vgl. Hörath, Terrorinstrument, S. 516–525.
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begonnen, ihre politischen Gegner, allen voran die Kommunisten, zu verhaften.17 Die in der Präambel formulierte Zweckbestimmung, in deren Namen die Reichstagsbrandverordnung in § 1 unter anderem das Grundrecht auf persönliche Freiheit außer Kraft setzte, lautete: »Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte«.18 Zwar war weder in der Notverordnung selbst noch in der Durchführungsrichtlinie, die Hermann Göring am 3. März 1933 herausgab, von »Schutzhaft« die Rede.19 Dennoch erfolgte die Anordnung fortan stets unter Berufung auf jenen § 1. Wie bereits gezeigt, reichte die historische Tradition der »Schutzhaft« bis ins 19. Jahrhundert zurück. Allerdings unterschied sich die »Schutzhaft« der Nationalsozialisten von allen vorangegangenen Bestimmungen durch ihren fundamentalen Unrechtscharakter. Sie verstieß gegen die vier international anerkannten Grundprinzipien des rechtmäßigen Freiheitsentzugs, welche die englische Habeas-Corpus-Akte 1679 erstmals kodifiziert hatte: Erstens erfolgte sie ohne richterliche Anordnung. Ihre Verhängung setzte zweitens nicht das Vorliegen einer Straftat voraus. Drittens standen den Betroffenen keine Rechtsmittel zur Verfügung, und viertens war sie generell zeitlich unbefristet.20 17 Ein ähnlicher, konzentrierter Schlag gegen die Gegner des Nationalsozialismus hätte zweifellos auch ohne den Reichstagsbrand stattgefunden. Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 96–100. 18 Reichstagsbrandverordnung, RGBl 1933/I, S. 83. 19 Im Unterschied dazu bezog sich der § 22 der »Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes« vom 4. Februar 1934 ausdrücklich auf die »Schutzhaft«. Vgl. Drobisch u. Wieland, System, S. 25. 20 Vgl. ebd., S. 28 f.; Hensle, Verrechtlichung, S. 80; Wildt, Gewalt, S. 219 f. Viele der Funktionsträger im NS-Staat begriffen das Fehlen einer zeitlichen Befristung der »Schutzhaft« als begrüßenswerten Unterschied zur Strafhaft. So erinnerte Reichsinnenminister Wilhelm Frick Anfang Januar 1934 die Landesbehörden daran, dass es dem Wesen der »Schutzhaft« widerspreche, sie mit einer »von vornherein begrenzt[en] Dauer« zu versehen. GLA Karlsruhe, 233, Nr. 25984, Schreiben RMdI, 9.1.1934. Das Badische Innenministerium räumte daraufhin ein, dass es »die Schutzhaft mehrfach mit einem von vornherein bestimmten Endtermin verhängt« habe, betonte aber, dabei sei »nach Möglichkeit vermieden« worden, »dass eine [solche] zeitlich befristete Schutzhaft den Charakter einer Rechtsstrafe annahm«. Ebd., Schreiben BadMdI, 7.2.1934. Das Beharren Fricks auf der unbefristeten Dauer der »Schutzhaft« kann als Kritik an der Strafhaft gelesen werden. Darin konnte Frick an den Gedanken der Zweckstrafe anknüpfen, den die Strafrechtsreformer schon lange vor 1933 formulierten. Im Unterschied zur klassischen Strafhaft, die zweckfrei zu sein hatte bzw. lediglich dem abstrakten Zweck der Normbestätigung dienen durfte, verfolgte die »Schutzhaft« als polizeirechtliches Instrument den konkreten Zweck der Gefahrenabwehr. Ihre Dauer hing – eben daran erinnerte Wilhelm Frick in dem zitierten Schreiben – von der Erfüllung dieses Zweckes ab. Die Dauer der Strafhaft hingegen bestimmte der Richter im vorhinein. Während also die Strafhaft, so könnte man die Quintessenz des zitierten Schriftwechsels verstehen, aufgrund ihrer rechtlichen Konzeption einen konkreten, ihr wesensfremden Zweck, beispielsweise die Sicherung der NS-Herrschaft, aufgrund ihrer begrenzten Dauer notwendigerweise zu verfehlen drohte, garantierte die »Schutzhaft« als zeitlich unbefristetes polizeirechtliches Präventivinstrument das Erreichen ihres Zweckes.
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Die Handhabung der »Schutzhaft« war zunächst dezentral durch die »Schutzhafterlasse« der Länder geregelt. Da man aber eine »wahre Flut«21 von Bestimmungen erließ, deren Anordnungen sich nicht selten widersprachen, entstand ein unübersichtliches Chaos. In Preußen, dessen »Schutzhaftbestimmungen« viele Länder übernahmen, stand die Anordnungskompetenz eigentlich nur den Kreispolizeibehörden zu. Im Verlaufe des Frühjahrs 1933 ging sie auch auf den Ober- und Regierungspräsidenten, den Polizeipräsidenten in Berlin sowie auf das neu geschaffene Gestapa über.22 In Bayern wiesen die Richtlinien über den Vollzug der »Schutzhaft« vom 22. März 1933 die Kompetenz zu ihrer Verhängung in Städten mit staatlichen Polizeiverwaltungen den Polizeidirektionen und den Staatspolizeiämtern zu. In Städten ohne staatliche Polizeiverwaltung verfügten die Stadt- und Bezirkskommissare sowie kurzzeitig auch die ihnen beigeordneten Beauftragten der Obersten SA-Führung über die Anordnungskompetenz. In letzter Instanz unterstanden sämtliche »Schutzhaftangelegenheiten« der Bayerischen Politischen Polizei (BPP) Himmlers. In Thüringen wiederum durften die Polizeibehörden ausschließlich Reichs- und Landtagsabgeordnete sowie führende Funktionäre der KPD in eigener Zuständigkeit festnehmen. Ansonsten setzte die Anordnung der »Schutzhaft« eine ministerielle Verfügung voraus. Diese holte man allerdings häufig erst nachträglich ein, wobei sich die Polizei auf Gefahr im Verzug berief. Ab Dezember 1933 lag die Anordnungskompetenz bei der Gestapo Weimar. In der Praxis wurden diese Vorschriften jedoch häufig umgangen. In ihrer Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit leisteten sie der Selbstermächtigung lokaler Akteure Vorschub.23 Die Akteure unterliefen die Vorschriften aber nicht nur bei der Anordnungskompetenz. Schnell begannen sie auch die Zweckbestimmung, mit der die Reichstagsbrandverordnung die »Schutzhaft« versehen hatte, zu missachten, indem sie ihren Anwendungsbereich über die »Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte« hinaus ausdehnten. Dennoch korrespondierte ihr Handeln mit den von der Regimeführung formulierten Maßgaben. Schon in seiner Durchführungsrichtlinie vom 3. März 1933 hatte Göring betont, die auf die Reichstagsbrandverordnung gestützten Maßnahmen hätten sich »auch gegen diejenigen zu richten […], die mit den Kommunisten zusammenarbeiteten 21 Drobisch u. Wieland, System, S. 29. 22 In der Phase der Machtergreifung waren zahlreiche, aber nicht alle Vertreter der Bezirks-, Kreis- und Kommunalverwaltungen sowie die Polizeipräsidenten und Landräte, die 1933/34 für die KZ-Einweisungen von »Asozialen« und Mehrfachstraftätern hauptverantwortlich waren, durch »zuverlässige« Beamte ausgetauscht worden. Es ist also von einer systematischen, aber längst nicht flächendeckenden Nazifizierung der unteren und mittleren Verwaltungsbehörden auszugehen. Dabei bemühte man sich, wie Morsch für die Region Brandenburg zeigt, an die preußische Verwaltungstradition anzuknüpfen, indem man die Positionen auffallend häufig mit Adeligen besetzte, die zum größten Teil schon vor 1933 der NSDAP/SA nahegestanden hatten. Vgl. Morsch, Einleitung, S. 13 f. 23 Vgl. Baganz, Erziehung, S. 69, 72; Drobisch u. Wieland, System, S. 33 f.
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und deren verbrecherische Ziele, wenn auch nur mittelbar, unterstützen oder fördern«.24 Diese Begründung war potentiell auf jeden anwendbar. Das leistete einem Phänomen Vorschub, das Morsch mit der Formulierung »Lager der Rache«25 auf eine griffige Formel bringt: Zwar waren in den KZ unmittelbar nach dem Reichstagsbrand mehrheitlich überzeugte Regimegegner inhaftiert; aufgrund des radikalen Willkürcharakters der »Schutzhaft« konnte aber auch ein persönlicher, möglicherweise Jahre zurückliegender Konflikt mit einem plötzlich zur »Schutzhaftverhängung« (selbst)ermächtigten Funktionsträger genügen, um in ein KZ verschleppt zu werden. So führte die Vielzahl der mit der Anordnungskompetenz (selbst)ausgestatteten Akteure dazu, dass der »Schutzhaft« die Heterogenität der potentiell betroffenen Zielgruppen von Anfang an immanent war, denn die Verantwortlichen nutzten das neue Instrument des extra-legalen Freiheitsentzugs eben nicht nur zur Herrschaftssicherung, sondern auch zum Begleichen persönlicher Rechnungen, zur Realisierung ihrer individuellen Visionen von der »Volksgemeinschaft« und zur Durchsetzung ihrer politisch-sozialen Ordnungsvorstellungen. Von daher war auch die Heterogenität der Häftlingsgesellschaft schon in den frühen KZ angelegt. Im Jahresverlauf 1933 sanktionierte eine Reihe von Gerichtsentscheidungen die breite Auslegung der »Schutzhaft«. Einen direkten Bezug zu den »Schutzhaftverhängungen« gegen vermeintliche »Asoziale« stellte man dabei nicht her. Gleichwohl war der Handlungsspielraum, den die Judikative den Akteuren gewährte, auch für solche Fälle relevant, ging es doch grundsätzlich darum, den Exekutivorganen die alleinige Definitionsmacht in »Schutzhaftangelegenheiten« zuzubilligen. Noch bevor das vierte »Gestapo-Gesetz« am 10. Februar 1936 sämtliche staatspolizeiliche Aktionen endgültig der gerichtlichen Nachprüfung entzog, hatte die Justiz »auf die Möglichkeit, den der Willkür der Staatspolizei ausgesetzten Personen Rechtsschutz zu gewähren«26 verzichtet – ein Prozess den Klaus Drobisch und Günter Wieland als »gerichtliche Selbstentmachtung«27 beschreiben. Allerdings fand die Ausdehnung der »Schutzhaft« auf unpolitische Haftgründe nicht nur Fürsprecher. Das zeigt z. B. ein Konflikt über die »Schutzhaftpraxis« in Bayern, wo Heinrich Himmler, kaum war er zum Polizeipräsidenten von München ernannt worden, u. a. die »Vernichtung« des »Verbrechertums« proklamierte.28 Zeitweise verwob sich der Konflikt, der sich ab März 1933 entspann, mit den Bemühungen des Reichsinnenministeriums um eine stärkere Reglementierung der »Schutzhaft«. Erst im Frühjahr 1935 konnte er durch eine Intervention Hitlers beigelegt werden.29 Als Konfliktparteien gegenüber 24 Zit. nach Hensle, Verrechtlichung, S. 80. 25 Morsch, Oranienburg, S. 121. 26 Angermund, Recht, S. 62. Vgl. Hensle, Verrechtlichung, S. 82. 27 Drobisch u. Wieland, System, S. 28. 28 Vgl. Der neue Geist, VB, 15.3.1933; Wachsmann, KL, S. 141. 29 Vgl. Klenner, Verhältnis, S. 129–134, 146–155; Tuchel, Konzentrationslager, S. 153–158; Wachsmann, KL, S. 90–92, 141 f.
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standen sich der bayerische Reichstatthalter Franz Ritter von Epp, Bayerns Justizminister Hans Frank sowie Reichsinnenminister Wilhelm Frick als Gegner einer extensiven »Schutzhaftpraxis« und Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich und Bayerns Innenminister Adolf Wagner als deren Befürworter. Neben der hohen Zahl der »Schutzhäftlinge« standen Anordnungsgründe der »Schutzhaft« wie »Trunksucht, Misshandlung der Ehefrau, Fangen von Singvögeln, Holzfrevel, […], unsittlicher Lebenswandel, grober Unfug, Arbeitsscheue« und »asoziale[s] Verhalten[s]«30 in der Kritik. Eine »Schutzhaftliste« bestätigt, dass die bayerischen Behörden mit solchen Begründungen »Schutzhaft« verhängten. Neben politischen »Schutzhäftlingen« finden sich dort 12 Personen, die im Frühjahr 1933 unter anderem oder ausschließlich aufgrund ihres devianten bzw. delinquenten Verhaltens ins KZ gerieten.31 Da in dieser Liste ausschließlich Häftlinge verzeichnet sind, die sich länger als drei Monate in »Schutzhaft« befanden, könnte die Dunkelziffer höher gelegen haben. Denn wie viele politische »Schutzhäftlinge« dürften auch als »asozial« oder »kriminell« geltende Personen im Jahre 1933 häufig nach einer kurzen, der »Abschreckung« dienenden Haft wieder entlassen worden sein.32 Die »Schutzhaftliste« vom Frühjahr 1933 ist eine der zentralen Quellen zur frühen sozialrassistischen Haftpraxis in Bayern,33 denn eine nach Haftgründen aufgeschlüsselte »Schutzhaftstatistik« liegt erst ab April 1934 vor. Danach waren am Stichtag, dem 10. April 1934, insgesamt 151 Personen aufgrund der oben genannten Vorwürfe in »Schutzhaft«.34 Das entsprach gut sechs Prozent der Gesamthäftlingszahl (2.450), wobei auch die »Schutzhäftlinge« mit30 BayHStA München, StK 6299/1, Schreiben Reichsstatthalter in Bayern, 20.3.1934. 31 Vgl. ebd., MInn 73690, Verzeichnis Schutzhaftgefangene in Bayern, 1.8.1933. 32 Vgl. Wachsmann, KL, S. 67. 33 Zwar sind für die Zeit ab Juli 1933 regelmäßige Berichte über die »Schutzhaftzahlen« in Bayern überliefert; in den ersten zehn Monaten enthalten sie aber keine Angaben zu den Haftgründen. Vgl. BayHStA München, StK 6299/1; ebd., StK 6300. 34 Zusätzlich führt die Statistik 273 »Schutzhäftlinge« an, die den Rubriken »Unterschlagung«, »Volksschädlinge«, »Beleidigung« und »Sonstiges« zugeordnet waren. Es ist schwer einzuschätzen, welche Verhaltensweisen oder Delikte damit genau gemeint waren. Einige dieser Häftlinge hätte man nach Einführung des Winkelsystems möglicherweise mit dem schwarzen Dreieck der »Asozialen« gekennzeichnet. Ein Schreiben des Reichsstatthalters von Epp gibt einige Anhaltspunkte zur Aufschlüsselung der Haftkategorien: So verstand von Epp unter »asozialem Verhalten« nicht das deviante Sozialverhalten von Angehörigen der gesellschaftlichen Unterschichten, sondern Verfehlungen von Arbeitgebern wie das Unterschreiten von Tariflöhnen oder Tätlichkeiten gegen Untergebene. Außerdem lässt von Epps Schreiben den Rückschluss zu, dass sich die Beleidigungsfälle im Kontakt zwischen Bürgern und den Repräsentanten des Staats- bzw. Parteiapparates ereignet hatten. Unabhängig davon, wie die fraglichen Kategorien der »Schutzhaftstatistik« genau voneinander abzugrenzen sind, kann davon ausgegangen werden, dass sie nicht auf eine politisch motivierte Regimegegnerschaft verweisen. Dahingegen ist es durchaus möglich, dass die BPP die Zahl der aus sozialrassistischen Gründen Verhafteten in der Statistik zu gering veranschlagte. Vgl. ebd., StK 6299/1, Schreiben BPP, 2.5.1934 (Anlage 2); ebd., Schreiben Reichsstatthalter in Bayern, 20.3.1934; Tuchel, Konzentrationslager, S. 156, 300.
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gerechnet sind, die sich nicht im KZ Dachau, sondern in anderen Haftstätten befanden. Rechnet man noch die 100 Häftlinge des Arbeitshauses Rebdorf mit ein, die zu diesem Zeitpunkt in Dachau inhaftiert waren, kommt man auf einen Anteil von ca. zehn Prozent aus sozialrassistischen Gründen inhaftierten Personen. Die Auseinandersetzung über die Verhängungsgründe der »Schutzhaft« in Bayern ist nicht nur ein Beleg für das frühe Einsetzen einer sozialrassistischen Haftpraxis. Sie kann auch als Konflikt über die Befugnisse und Grenzen des Maßnahmenstaates gelesen werden. In einem vielzitierten Schreiben an den bayerischen Ministerpräsidenten formulierte Reichsstatthalter von Epp am 20. März 1934 nicht nur die bereits erwähnten Kritikpunkte, sondern mahnte auch die Einhaltung gewisser rechtsstaatlicher Prinzipien an. Mit einigen Argumenten konnte Epp an eine Intervention des Reichsinnenministers Wilhelm Frick anknüpfen, der am 9. Januar in einem Rundschreiben den »unsachgemäßen«35 Gebrauch der »Schutzhaft« beanstandet hatte, worunter er unter anderem ihre Anordnung als »Ersatz für eine gerichtliche oder polizeiliche Strafe« verstand.36 Frick hatte die Landesregierungen ermahnt, »genau zu prüfen, ob ein begründeter Anlass für die Verhängung von Schutzhaft«37 vorläge, und sie zu einer engen Auslegung der Anordnungsvoraussetzungen aufgefordert. Auch Epp erinnerte an die unmissverständliche Zwecksetzung der als politisches Kampfmittel geschaffenen Reichstagsbrandverordnung. Nach der Konsolidierung seiner Macht habe der »totale nationalsozialistische Staat« die »Schutzhaft« unterdessen »entbehrlich« gemacht, weil durch »nachfolgende Gesetze und Verordnungen eine Reihe strafrechtlicher Tatbestände« geschaffen worden seien, die an ihre Stelle treten könnten.38 Es sei daher »nicht in das Belieben der Behörden gestellt, ob strafbare Handlungen strafrechtlich verfolgt werden oder hierwegen Schutzhaft verhängt wird«.39 Sämtliche zur Diskussion stehende Formen von Devianz sollten Epps Auffassung nach nicht unter Berufung auf den Ausnahmezustand im maßnahmenstaatlichen, sondern im normenstaatlichen Bereich behandelt werden: »Trunksucht, Arbeitsscheue, sittenloser Lebenswandel u[nd] ä[hnliche] Ordnungsverstöße sind ebenso wenig Schutzhaftangelegenheiten wie das dehnbare ›asoziale Verhalten‹. Ihnen zu begegnen, stehen ausreichend Handhabungen in den einschlägigen Gesetzen und sonstigen polizeilichen Maßnahmen zur Verfügung.«40 35 GLA Karlsruhe, 233, Nr. 25984, Schreiben RMdI, 9.1.1934. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 BayHStA München, StK 6299/1, Schreiben Reichsstatthalter in Bayern, 20.3.1934 [Hervor. i. Orig.]. 39 Ebd. Aus den weiteren Ausführungen wird deutlich, dass Sondergerichte und Schnellverfahren nicht im Widerspruch zum Rechtsstaatsverständnis des Reichsstatthalters standen, sondern dessen integralen Bestandteil bildeten. 40 Ebd.
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Neben der Berücksichtigung der Befugnisse des Normenstaates forderte der Reichsstatthalter eine Überprüfung, ob das »Schutzhaftverfahren« »künftig mit gewissen Rechtsgarantien ausgestattet werden soll«.41 Überdies verlangte er die Einhegung der Selbstermächtigung von eigentlich nicht zur »Schutzhaftverhängung« befugten Akteuren, insbesondere aus der Partei und den unteren Verwaltungsbehörden. Die Zuständigkeiten bei der Anordnung von »Schutzhaft« sollten strikt eingehalten werden. Allen nicht befugten Stellen müsse man auch das Antragsrecht konsequent verweigern.42 Allerdings gelang es dem Reichsstatthalter nicht, seine Position gegenüber Himmler, Wagner und Heydrich durchzusetzen. Zwar kam die BPP seinen Forderungen minimal entgegen, indem sie die Häftlingszahlen in den folgenden Monaten geringfügig absenkte;43 bei den Haftgründen rechtfertigte aber der bayerische Innenminister in einem Schreiben, das laut Tuchel Himmler persönlich aufgesetzt hatte,44 ganz unverhohlen die gängige Praxis. Dort heißt es: »Ohne weiteres zutreffend ist die Feststellung, dass die Verhängung der Schutzhaft wegen Trunksucht, Holzfrevel, […] unsittlichen Lebenswandels, Arbeitsscheue [und so weiter] nicht den Buchstaben der geltenden Bestimmungen entspricht. Wohl aber entspricht sie dem nationalsozialistischen Empfinden.«45
Hier zeigt sich das typische Argumentationsmuster: Die Kompetenzüberschreitung wird durch den Rekurs auf das »gesunde Volksempfinden« gerechtfertigt. »Es ist in der Praxis unrichtig«, postulierte das Innenministerium zudem, »wenn die Behauptung aufgestellt wird, dass ›asozialem Verhalten‹ auf Grund der gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen auch mit der nötigen Schärfe und Schnelligkeit begegnet werden kann«.46 Gleichzeitig behauptete das Schreiben, dass die »Schutzhaftpraxis« der BPP »schon seit langer Zeit«47 die Befugnisse der Judikative respektiere. Doch fügte es im gleichen Atemzug als Ausnahme das polizeiliche Vorgehen gegen »ganz besonders gefährliche Volksschädlinge«48 hinzu. Diese Einschränkung des normenstaatlichen Bereichs zugunsten einer polizeirechtlichen Präventivlogik ist paradigmatisch für das Verhältnis der beiden Pole im Doppelstaat:49 Dass das Innenministerium die Deutungshoheit, wer 41 Ebd. 42 Vgl. Klenner, Verhältnis, S. 149 f. 43 Für die Entwicklung der »Schutzhäftlingszahlen« in Bayern 1933 und 1934 vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 155. 44 Vgl. ebd., S. 303. 45 BayHStA München, StK 6299/1, Schreiben BayStMdI, 14.4.1934. 46 Ebd. Hierbei bezog sich das Innenministerium möglicherweise auch auf die Auswertung von Berichten der unteren Verwaltungsbehörden, welche die Rechtslage zum Teil vehement als unzureichend kritisiert hatten. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Vgl. Fraenkel, Doppelstaat, S. 113.
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als »ganz besonders gefährlicher Volksschädling« zu betrachten sei, bei der BPP beließ, drückte nichts anderes aus, als dass dem Maßnahmenstaat die alleinige Kompetenz zugesprochen wurde zu definieren, was in seine Verantwortung fiel. Rhetorisch geschickt konnte das Innenministerium auf diese Weise den Vorstellungen des Reichsstatthalters vordergründig entgegenkommen und gleichzeitig den Handlungsspielraum für die sozialrassistische Verfolgung offenhalten. In der Frage des Antragsrechts widersprach es dem Reichsstatthalter dagegen offen: »Im übrigen muss man wohl jedem Volksgenossen und erst recht jedem Kreisleiter, Treuhänder [und so weiter] das Recht einräumen, Anträge auf Inschutzhaftnahme einzureichen«,50 stellte es klar. Es verstand die »Schutzhaft« also nicht nur als Waffe des totalitären Staates, sondern als eine der gesamten »Volksgemeinschaft«! Das Recht, die einzelnen »Schutzhaftbefehle« zu prüfen, beanspruchte der Innenminister aber unter Berufung auf seine Position als oberste Landesbehörde und in klarer Kompetenzabgrenzung gegenüber dem Reichsstatthalter für sich.51 Auf diese Weise konnte mit Hilfe von Innenminister Wagner der Kontrollanspruch einer anderen Behörde über die »Schutzhaftpraxis« der BPP Himmlers erfolgreich abgewehrt werden.52 So gelang es dem RFSS in Bayern früh und gegen alle Widerstände, die »Schutzhaft« als flexibel einsetzbares Mittel gegen alle möglichen Formen abweichenden Verhaltens in den Händen der ihm unterstellten Politischen Polizei zu monopolisieren und gleichzeitig die Insassenzahlen des KZ Dachau auf hohem Niveau zu stabilisieren. Damit fungierte, wie bereits Johannes Tuchel hervorhob, das KZ Dachau als Instrument zur terroristischen Ausgrenzung aller jener, die nicht dem Ideal der »Volksgemeinschaft« entsprachen – und das schon im Frühjahr 1934 als Himmler und seine SS noch nicht mehr waren als »small fish in a complex polycratic pond«.53 Betrachtet man die Entwicklung der »Schutzhaft« ab der Jahreswende 1933/34, so sind zwei parallel verlaufende Prozesse zu beobachten: Im Jahresverlauf 1933 zeichnete sich in der Praxis der »Schutzhaftverhängung« eine Ausweitung der Haftgründe ab,54 die durch die »Bettlerrazzia« im Herbst 1933 zusätzlich befeuert wurde. Diese Entwicklung blieb aber nicht unumstritten. So schwelte der Konflikt um die »Schutzhaftpraxis« bis Anfang 1935 weiter. Im Januar führte Reichsinnenminister Wilhelm Frick erneut eine Beschwerde gegen die hohe 50 BayHStA München, StK 6299/1, Schreiben BayStMdI, 14.4.1934. In Preußen, wo Hermann Göring kurz zuvor durch mehrere Erlasse die »Schutzhaftpraxis« stärker zu regulieren und ins Gestapa einzubinden versucht hatte, rief die Entmachtung der unteren Verwaltungsbehörden die Kritik der lokalen Akteure hervor, die bis dahin unter Berufung auf die Reichstagsbrandverordnung ihre (sozial)politischen Ordnungsvorstellungen zu realisieren versuchten. Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 95. 51 Ähnlich waren die Kompetenzen in »Schutzhaftangelegenheiten« ab dem Frühjahr 1934 auch in Baden geregelt. 52 Vgl. Klenner, Verhältnis, S. 150–152. 53 Dillon, Dachau, S. 48. Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 157. 54 Vgl. Wachsmann, KL, S. 142.
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Zahl der »Schutzhäftlinge« in Bayern, wo zum Jahreswechsel 1934/35 insgesamt 1.600 der reichsweit maximal 3.000 »Schutzhäftlinge« inhaftiert waren. Am 20. Februar 1935 erwirkte Himmler daraufhin eine Grundsatzentscheidung Hitlers zur Beibehaltung der Häftlingszahlen. Diese bildete den Auftakt einer ganzen Reihe von Entscheidungsschritten, durch die es Himmler im Jahresverlauf 1935 gelang, den Ausbau des KZ-Systems abzusichern.55 Der zweite Prozess ist in den Ansätzen zur Vereinheitlichung und Regulierung der »Schutzhaft« zu erblicken. In den meisten Ländern ging zur Jahreswende 1933/34 die Kontrolle über die »Schutzhaftangelegenheiten« auf die Gestapo bzw. die Politischen Polizeien über. Den Vorreiter dieses Prozesses bildete Preußen mit dem zweiten »Gestapo-Gesetz« vom 30. November 1933. Fortan konnten in Preußen sämtliche »Schutzhaftangelegenheiten« unter zentraler Kontrolle des Gestapa und damit unabhängig vom Innenministerium geregelt werden.56 Durch klare Kompetenzzuweisungen wollte man die Anzahl der zur Anordnung der »Schutzhaft« berechtigten Instanzen reduzieren, was gleichzeitig eine stärkere Steuerungsfähigkeit beim Einsatz dieses Herrschaftsmittels versprach. Dieser zweite Prozess stand in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der Ausweitung der Haftgründe, die häufig mit der Selbstermächtigung verschiedenster lokaler Akteure einherging. Mit den beiden »Schutzhafterlassen« vom 12. bzw. 26. April 1934 schrieb das Reichsinnenministerium dann erstmals eine reichsweite Grundlage für die »Schutzhaft« fest.57 Fortan war dem Häftling binnen 24 Stunden ein schriftlicher »Schutzhaftbefehl« auszuhändigen. Das Anordnungsrecht lag in Preußen in den Händen des Gestapa, der Ober- und Regierungspräsidenten, des Polizeipräsidenten in Berlin sowie der Staatspolizeistellen. In den übrigen Ländern sollte das Anordnungsrecht der Gestapo bzw. den Politischen Polizeien obliegen. NSDAP-Formationen wie die SA schloss man von diesem Recht hingegen explizit aus. Sie konnten den zuständigen Behörden lediglich »Schutzhaftanträge« übermitteln. Zu vollstrecken war die »Schutzhaft« in den »staatlichen Gefangenenanstalten oder Konzentrationslagern«, wobei ihre Dauer so bemessen sein sollte, wie »ihr Zweck es erfordert«.58 Der extra-legale Freiheitsentzug blieb also zeitlich unbefristet. Rechtsmittel gegen den »Schutzhaftbefehl« waren nicht vorgesehen. Allerdings untersagten die »Schutzhafterlasse« ausdrücklich die Nutzung als »Ersatzstrafe«. In der Praxis ignorierte man diese Regelung allerding häufig. Hinsichtlich der Haftgründe verfügten die Erlasse, die »Schutzhaft« könne angeordnet werden »a) zum eigenen Schutz des Häftlings« und »b) wenn der Häftling durch sein Verhalten, insbesondere durch staatsfeindliche Betätigung die öffentliche Sicherheit und
55 Vgl. Klenner, Verhältnis, S. 154 f.; Tuchel, Konzentrationslager, S. 307–317. 56 Vgl. Drobisch u. Wieland, System, S. 34. 57 Vgl. Baganz, Erziehung, S. 73–78; Drobisch u. Wieland, System, S. 36. 58 Zit. nach Hensle, Verrechtlichung, S. 83.
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Ordnung unmittelbar gefährdet«.59 Das war eine Generalklausel, welche die Entscheidung über die Zulässigkeit der »Schutzhaft« der Willkür der anordnenden Instanzen anheimstellte. Diesen allein oblag es zu ermessen, welche Verhaltensweisen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellten.60 Die »Schutzhafterlasse« vom April 1934 waren daher wenig geeignet, eine Ausweitung der Haftgründe zu verhindern. Vielmehr konzentrierten sie die Entscheidungskompetenz in den Händen einiger weniger Institutionen, allen voran der im Aufbau befindlichen Gestapo, die den extra-legalen Freiheitsentzug flexibel, nach Maßgabe der jeweiligen gesellschafts- und sicherungspolitischen Notwendigkeiten einsetzen konnten. So führten die bayerischen »Schutzhaftrichtlinien« noch 1936 unter anderem »Bettler, Landstreicher, […] Arbeitsscheue, Müßiggänger, Prostituierte, [und] Querulanten«61 als Zielgruppen auf, gegen die – wenn auch nur als ultima ratio nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel – »Schutzhaft« verhängt werden konnte. Im Januar 1938 erhielt die »Schutzhaft« dann eine neue Grundlage. Allerdings blieb die Neuregelung für die Haftpraxis nahezu bedeutungslos, da sie die »Schutzhaft« lediglich in eine Zwangsmaßnahme der Gestapo zur »Abwehr« aller »staats- und volksfeindlichen Umsturzbestrebungen« umwandelte.62 Sie ersetzte gleichsam eine Generalbevollmächtigung durch eine andere. 3.1.2 »Heimtücke« Ähnlich wie man die »Schutzhaft« nutzte, um vermeintliche »Asoziale« in die frühen KZ zu sperren, instrumentalisierte man auch »Heimtückevorfälle«, um Personen, deren Lebensstil nicht den Normen der »Volksgemeinschaft« entsprach, hinter Schloss und Riegel zu bringen. In solchen Fällen spielte bei der Konstruktion des »Heimtückevorwurfs« die soziale Devianz der Person statt der »Heimtückeäußerung« die ausschlaggebende Rolle. Einen Eindruck, welche Relevanz sozialrassistischen Ressentiments bei den auf der »Heimtückeverordnung« basierenden KZ-Einlieferungen zukam, vermittelt folgende Stichprobe: Unter den überlieferten 327 Insassenakten des Frauen-KZ Moringen finden sich insgesamt 39 »Heimtückefälle«.63 In zwölf Fällen, also bei knapp einem Drittel, führten die Behörden als Grund der 59 Zit. nach Drobisch u. Wieland, System, S. 36. 60 Lediglich »Schutzhaftverhängung« in persönlichen und wirtschaftlichen Angelegenheiten, beispielsweise wegen Beleidigungen oder bei Lohnstreitigkeiten und Kündigungen, schloss der Erlass ausdrücklich aus. Vgl. ebd. 61 »Allgemeine Richtlinien bei der Verhängung von Schutzhaft«, zit. nach Terhorst, Überwachung, S. 107. 62 Zit. nach Baganz, Erziehung, S. 77. 63 Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 1–Nr. 327.
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KZ-Einweisung u. a. die soziale Devianz der Betroffenen an.64 So schrieb die Gestapo Wiesbaden am 27. April 1935 in ihrer »Schutzhaftbegründung« über eine 24-jährige Frau: »Die ledige Betti S. […] wurde am [25. April 1935] hier festgenommen, weil sie in einer öffentlichen Wirtschaft in gemeiner Art und Weise Witze über den Ministerpräsidenten Göring erzählte und über das Winterhilfswerk sich abfällig äußerte. Sie treibt sich in Großstädten ziellos umher, hat keine polizeilich gemeldete Wohnung und führt vermutlichen einen unsittlichen Lebenswandel. […] Sie ist eine verwahrloste Person, welche den Behörden fortgesetzt Schwierigkeiten durch ihr freches Benehmen bereitet.«65
Die offiziell als »Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung« bezeichnete »Heimtückeverordnung« vom 21. März 1933 war eine jener Notverordnungen, mit denen die Nationalsozialisten ihren Machtanspruch absicherten.66 Sie stellte sämtliche Äußerungen unter Strafe, die »eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art« enthielten, sofern diese dazu geeignet waren, »das Wohl des Reiches oder eines Landes oder das Ansehen der Reichsregierung oder einer Landesregierung oder der hinter diesen Regierungen stehenden Parteien oder Verbände schwer zu schädigen«.67 Als Strafmaß sah die Verordnung Gefängnis bis zu zwei Jahren vor. Außer »heimtückischen Angriffen« auf Staat und Partei kriminalisierte die »Heimtückeverordnung« auch den Besitz und das Tragen von Abzeichen und Uniformen der SA, SS und des Stahlhelms durch Unbefugte.68 Eine weitere Verordnung verfügte noch am selben Tag die Schaffung von »Sondergerichten«, die eine regimekonforme Aburteilung der »Heimtückedelikte« garantieren sollten. Sie waren bei den Oberlandesgerichten angesiedelt. Den Angeklagten wurden selbst grundlegende Rechtsmittelgarantien verweigert. Hinzu kam, dass man die Beweislast umdrehte: Nicht die Staatsanwaltschaft musste die Schuld des Angeklagten beweisen, sondern der Angeklagte seine Unschuld.69 Eine lange Bestandsdauer war der »Heimtückeverordnung« nicht beschert. Am 20. Dezember 1934 wurde sie durch das »Gesetz gegen heimtückische An-
64 Für die Stichprobe herangezogen wurden ausschließlich die 327 Insassinnenakten und nicht die außerdem überlieferten 349 Personenbögen, da die in ihnen enthaltenen Angaben für eine qualitative Analyse der Haftgründe nicht ausreichen. Für die Personenbögen vgl. ebd., Acc. 84/82, Nr. 6, Nr. 7. 65 Ebd., Acc. 105/96, Nr. 275. 66 Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 824–826. 67 § 3 Heimtückeverordnung, RGBl 1933/I, S. 135. 68 Vgl. §§ 1, 2 ebd. 69 Vgl. VO Sondergerichte, RGBl 1933/I, S. 136–138; Dörner, Heimtücke, S. 19 f.; Gruchmann, Justiz, S. 946–949.
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griffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen« abgelöst.70 Das Gesetz übernahm die Hauptbestandteile der »Heimtückeverordnung«, erweiterte aber den Strafrahmen, indem es zusätzlich Behauptungen, die keine Tatsachenäußerungen waren, unter Strafandrohung stellte. Fortan konnten auch Werturteile als »Heimtückeäußerungen« verfolgt werden. Damit sollte eine »Lücke« der alten Verordnung geschlossen werden. Die Anklageerhebung machte das Gesetz von der Zustimmung des Reichsjustizministeriums und der NSDAP-Parteikanzlei abhängig. Damit war die Einflussnahme der politischen Exekutivorgane auf die Verfahrensweise von Instanzen der Judikative in Gesetzesform gegossen: »Der heikle Umgang mit dem, was als ›Wahrheit‹ oder ›Lüge‹, ›Hetze‹ oder ›Geschwätz‹ zu qualifizieren war, sollte«, so Bernward Dörner, »nicht von Juristen vor Ort entschieden werden.«71 Die unklaren Rechtsbegriffe des Gesetzes erlaubten es, beinahe jede Äußerung unter die neue Strafnorm zu subsumieren. Geahndet werden konnten neben Bemerkungen tatsächlich regimekritischen Inhalts auch Spekulationen, Gerüchte, Halbwahrheiten oder spontane Unmutsäußerungen, die sich auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse seit der Machtergreifung bezogen, hämische Anspielungen oder Witze, die führende National sozialisten, die NS-Bewegung oder die Regierung lächerlich machten oder verunglimpften, ja, sogar privates Meckern und Nörgeln.72 Wendet man die Aufmerksamkeit nach der Tat dem Täter zu, ist zunächst zu konstatieren, dass vermutlich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung irgendwann im Verlauf der NS-Herrschaft »Heimtückedelikte« begangen hat, da es kaum möglich war, sich nicht hin und wieder in einer Weise zu äußern, die als »abfällig« oder »heimtückisch« qualifiziert werden konnte. Insgesamt schätzt Dörner die Zahl der Anzeigen auf mehrere Zehntausend. Allein im ersten Jahr ihres Bestehens verurteilten die »Sondergerichte« 3.744 »Heimtückeredner«.73 Gestützt auf Dörner lassen sich sieben Faktoren identifizieren, welche die Wahrscheinlichkeit, wegen einer »Heimtückeäußerung« verfolgt zu werden, erhöhten: Der erste Faktor betraf das Herkunftsmilieu. Besonders häufig stammten die »Heimtückeredner« aus dem kommunistischen Arbeiter- oder dem katholischen Milieu. Der zweite Faktor war die soziale Situation. Personen, die ihr Leben am Rand der Gesellschaft fristeten, hatten zahlreiche Gründe zu meckern und zu nörgeln. Nicht selten brachten sie ihre Benachteiligung in Zusammenhang mit den politischen Verhältnissen und ließen sich zu entsprechenden Äußerungen hinreißen. Hinzu kam, dass aufgrund ihres geringen sozialen Status die Hemmschwelle, sie zu denunzieren, niedrig lag. Weitere Risikofaktoren stellten die Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen und Alkoholgenuss dar. So waren Personen, die einen Beruf ausübten, der mit einer starken 70 Vgl. ebd., S. 832. 71 Ebd., S. 20. 72 Vgl. ebd., S. 9, 67–78; Wachsmann, Prisons, S. 113–115. 73 Vgl. Dörner, Heimtücke, S. 9 f., 67, 78; ders., Gestapo.
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ffentlichen Präsenz einherging, überproportional häufig unter den »Heim ö tückerednern« vertreten. Dörner nennt in diesem Zusammenhang Wirte, Frisöre, Geistliche und Handels- bzw. Versicherungsvertreter. Hinzufügen lassen sich noch Tätigkeiten wie Hausieren, Betteln und Prostitution, die ebenfalls mit einer öffentlichen Präsenz einhergingen. Die enthemmende Wirkung des Alkohols wiederum bildete nicht selten den Auslöser für eine »Heimtückeäußerung«. In zahlreichen Fällen kam es zur Strafverfolgung, weil sich eine Person alkoholisiert zu Pöbeleien, Verunglimpfungen, anrüchigen Scherzen oder Wutausbrüchen hatte hinreißen lassen. Antiproportional zum Denunziationsrisiko verhielt sich der fünfte Faktor, das Bildungsniveau. Je höher das Bildungsniveau, über das eine Person verfügte, desto eher besaß sie die Fähigkeit, Unmut und Kritik zu kanalisieren oder so subtil zu äußern, dass eine Strafverfolgung unwahrscheinlich war. Neben der Bildung beeinflussten auch andere individuelle Eigenschaften wie Reizbarkeit, Redseligkeit, ein Hang zur Polemik oder auch psychische Krankheiten die persönliche »Äußerungsdisziplin«.74 Als siebter Faktor ist die Geschlechtszugehörigkeit zu nennen: Männer waren unter den angezeigten »Heimtückerednern« häufiger repräsentiert, da sich Frauen aufgrund ihrer sozialen Rolle weit weniger Risikofaktoren ausgesetzt sahen.75 Nimmt man diese Faktoren zusammen, entsteht ein Profil, das neben kommunistischen und katholischen Arbeitern, Geistlichen und Gastwirten auch die »Asozialen« zur bevorzugten Zielgruppe von »Heimtückevorwürfen« machte.76 Für die KZ-Einweisungen von »asozialen« »Heimtückerednern« sind nicht nur Inhalte und Anwendungsbereich der Strafnorm, sondern auch die Rolle und Vorgehensweise der Gestapo von Interesse. Die Gestapo verfügte bei »Heim tückevorfällen« über das Entscheidungsmonopol, war es doch in ihr Ermessen gestellt, ob sie einen Fall an die Staatsanwaltschaft weiterleitete. Hatte die Gestapo Bedenken, dass die Sondergerichte »angemessen« urteilen würde, handelte sie in Eigenregie, verhängte »Schutzhaft« und lieferte die betroffene Person gegebenenfalls in ein KZ ein.77 Ein hohes Gewicht bei der Entscheidungs findung kam der Persönlichkeit des Täters zu bzw. genauer: dessen »Gefährlichkeit«. Darin folgte die Gestapo einer polizeirechtlichen Logik. Strafrechtliche Rationalitäten, selbst die Frage, ob die angezeigte Äußerung tatsächlich gegen die Strafnorm verstieß, waren für sie von sekundärem Interesse. Nur wenn zu 74 Ders., Heimtücke, S. 92. 75 Vgl. ebd., S. 85–95; Mallmann u. Paul, Herrschaft, S. 337. 76 Damit soll weder der grundlegend politische Charakter der Strafnorm negiert werden, noch die »Streubreite« der »Heimtückevorwürfe«, die potentiell jeden treffen konnten. Vgl. Dörner, Heimtücke, S. 78, 90, 93 f., 275. 77 Entschied die Gestapo, weder eine strafrechtliche Verfolgung zu veranlassen, noch »Schutzhaft« anzuordnen, stand ihr noch ein differenziertes Arsenal an Maßnahmen zur Verfügung, mit denen sie »Heimtückeredner« verwarnen konnte: Neben Rede- und Aufenthaltsverboten, die dazu dienten, die Tätigkeit von Geistlichen zu beschränken, konnte sie auch »Sicherungsgelder« und »Wirtshausverbote« verhängen. Vgl. ebd., S. 246–251.
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erwarten stand, dass ein Täter, den die Gestapo als »gefährlich« einstufte, auch verurteilt werden würde, gab sie den Fall an die Staatsanwaltschaft ab. Kam es dennoch zu einem »Fehlurteil« griff die Gestapo »korrigierend« ein, indem sie den Betroffenen in »Schutzhaft« nahm. Gerade denjenigen, welche die Gestapo als »unverbesserliche Asoziale« ansah, unterstellte sie häufig aufgrund des devianten Sozialverhaltens auch eine besondere »Gefährlichkeit«. Diese »Gefährlichkeit« musste jedoch nicht unbedingt mit der Erfüllung des Straftatbestandes »Heimtücke« korrelieren. Daher war die Gestapo bestrebt, solche Personen mittels »Schutzhaft« »unschädlich« zu machen, statt das Risiko einzugehen, sie an die Staatsanwaltschaft zu übergeben, die möglicherweise das Verfahren wegen Geringfügigkeit einstellte. Angehörige sozialer Randgruppen liefen also eher Gefahr, aufgrund einer »Heimtückeäußerung« direkt in ein KZ eingeliefert zu werden, als Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft.78 Die juristische Konstruktion des Straftatbestandes »Heimtücke« sowie die Verfolgungs- und Spruchpraxis von Gestapo und »Sondergerichten« verdeutlichen das arbeitsteilige Ineinandergreifen verschiedener Institutionen im Doppelstaat. Die Kriminalisierung bestimmter privater Äußerungen als »Heim tückedelikte« kam einer Ausdehnung des politischen Kontrollanspruchs in die Privatsphäre gleich.79 Darin bestätigt sich Fraenkels These, dass der Maßnahmenstaat definiert, wo die Grenzen zwischen politischer und privater Sphäre verliefen. Alles, was der Maßnahmenstaat zum Gegenstand politischer Beurteilung erklärte, lag in seiner Zuständigkeit.80 Dass in den Verfahren gegen »Heimtückeredner« die Gestapo darüber entschied, ob die Strafnorm zur Anwendung kommen sollte, lag in der Logik des Doppelstaates begründet. Indem die Gestapo souverän darüber befand, welche »Heimtückefälle« sie in »eigener Regie« behandelte, welche sie strafrechtlich verfolgen ließ und ob sie gegebenenfalls »korrigierend« eingriff, nahm sie eine Kontrollfunktion gegenüber der Justiz ein, die einer rechtsstaatlichen Aufgabenverteilung fundamental widersprach. Fraenkel bringt diese für den Doppelstaat typische Umkehrung der Kontrollverhältnisse auf den Punkt, wenn er schreibt: »Im Rechtsstaat kontrollieren die Gerichte die Verwaltung unter dem Gesichtspunkt der Gesetzmäßigkeit; im Dritten Reich kontrollieren die Polizeibehörden die Gerichte unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit.«81 Mit Blick auf die Anwendung der »Heimtückeverordnung« auf vermeintliche »Asoziale« ist festzuhalten, dass es ähnlich wie bei der »Schutzhaft« durchaus der inneren Logik des »Heimtückedeliktes« als maßnahmenstaatlichem Instrument entsprach, wenn die Gestapo den Anwendungsbereich der Verordnung über ihre ursprüngliche Zwecksetzung hinaus ausdehnte, um sie zur Verfol78 Vgl. Angermund, Recht, S. 68; Dörner, Heimtücke, S. 62–65, 252–275. 79 Vgl. ebd., S. 9; Wachsmann, Prisons, S. 113. 80 Vgl. Fraenkel, Doppelstaat, S. 113. 81 Ebd., S. 95.
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gung devianten Sozialverhaltens einzusetzen. Denn in letzter Konsequenz war der Maßnahmenstaat der auf Dauer gestellte Ausnahmezustand. Maßnahmenstaatliches Vorgehen war daher niemals an Recht und Gesetz gebunden. 3.1.3 Fürsorgerechtlicher Arbeitszwang nach § 20 »Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht« (RFV) Spätestens im Verlaufe des Jahres 1934 drohte als »asozial« und »arbeitsscheu« geltenden Empfängern von Wohlfahrtshilfe die KZ-Einweisung auf fürsorgerechtlicher Grundlage. Diese Praxis knüpfte an drei rechtliche Bestimmungen an, die noch aus der Weimarer Zeit stammten: §§ 19 und 20 der »Reichsfürsorgepflichtverordnung«,82 § 13 der »Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge« (RG) und Art. 9 und 10 des bayerischen »Gesetzes zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen«.83 Die RFV war 1924 in Kraft getreten und blieb während des Nationalsozialismus ohne grundlegende Veränderungen gültig.84 Nach § 19 RFV konnten die Wohlfahrtsämter »in geeigneten Fällen« arbeitsfähigen Hilfesuchenden »angemessene Arbeit gemeinnütziger Art« zuweisen und die Unterstützung »von der Leistung solcher Arbeit abhängig« machen.85 Die Fürsorgepflichtarbeit konstituierte weder ein Arbeitsverhältnis im bürgerlich-rechtlichen Sinne, noch wurden Beiträge zur Renten-, Kranken- oder Arbeitslosenversicherung gezahlt.86 Vielmehr galt sie als Gegenleistung für die Wohlfahrtsunterstützung. Der Pflichtarbeiter erhielt allenfalls eine Fahrtkostenerstattung und ein kostenloses Mittagessen. Verweigerte er die Pflichtarbeit, konnte das Wohlfahrtsamt die Leistungen kürzen, ja, sogar komplett streichen. Ein weiteres Sanktionsmittel stellte der § 20 RFV bereit. Er ermächtigte die Wohlfahrtsämter, Fürsorgeempfänger mit Arbeitszwang zu belegen und sie
82 »Reichsfürsorgepflichtverordnung« war eine häufig gebrauchte Kurzform der offiziellen amtlichen Bezeichnung. 83 § 13 RG und Art. 9 und 10 des »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetzes« bildeten wichtige konzeptionelle Vorläufer für die fürsorgerechtliche KZ-Einweisung. Hinweise darauf, dass sie ähnlich wie § 20 RFV auch direkt dazu herangezogen wurden, ließen sich bislang nicht finden. 84 Während der Weimarer Republik hingegen erfuhr die RFV auf dem Verordnungswege einige Veränderungen. Im Folgenden liegt die 1934 gültige Fassung zugrunde. Vgl. Baath, Verordnung, S. 8–23; VO Fürsorgepflicht Ausland, RGBl 1934/I, S. 194 f. 85 § 19 RFV lautete: »Die Unterstützung Arbeitsfähiger kann in geeigneten Fällen durch Anweisung angemessener Arbeit gemeinnütziger Art gewährt werden oder von der Leistung solcher Arbeit abhängig gemacht werden, es sei denn, dass dies eine offensichtliche Härte bedeuten würde oder ein Gesetz dem entgegensteht.« Baath, Verordnung, S. 15. 86 Darin unterschied sie sich von der »Fürsorgearbeit«, bei der ein privatrechtliches Arbeitsverhältnis mit der Stadtverwaltung eingegangen wurde, inklusive Renten- und Arbeitslosenversicherung. Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 58 f.
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zur Vollstreckung zeitlich befristet in ein Arbeitshaus oder eine landesrechtlich anerkannte »sonstige[n] Arbeitseinrichtung« einzuweisen. Voraussetzung war, dass der betroffene Unterstützungsempfänger seine Bedürftigkeit durch »sittliche[s] Verschulden« selbst verursacht hatte, die ihm nach § 19 RFV zugewiesene Arbeit verweigerte oder sich der Unterhaltspflicht für seine Angehörigen entzog.87 Außer »Asozialen« und »Arbeitsscheuen« waren also jene Personen betroffen, die man im Behördenjargon »säumige Unterhaltszahler« oder »säumige Nährpflichtige« nannte. In den Geltungsbereich der RFV gerieten sie, wenn ihre Angehörigen durch den Ausfall der Unterhaltsleistungen der öffentlichen Fürsorge »anheim fielen«, wie man es zeitgenössisch ausdrückte.88 In einem engen Zusammenhang mit den §§ 19 und 20 RFV stand der § 13 RG. Die »Reichsgrundsätze über die Fürsorgepflicht«, wie man die Regelung im Behördenalltag kurz nannte, waren ebenfalls 1924 erlassen worden. Sie konkretisierte die Form, in der die Wohlfahrtsunterstützung geleistet, und die Bedingungen, unter denen sie gewährt werden sollte. Beides hatte die RFV weitgehend offengelassen.89 § 13 Abs. 2 RG befugte die Kommunen »bei arbeitsscheu[em] und offenbar unwirtschaftlichem Verhalten« die Unterstützung durch Geldoder Sachleistungen, also in »offener Fürsorge«,90 abzulehnen und stattdessen »die Hilfe auf Anstaltspflege« zu beschränken.91 Im Freistaat Bayern ermöglichte ab 1926 das »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz« zudem ein sicherheitspolizeiliches Vorgehen gegen Personen, denen gegenüber den Fürsorgeverbänden die Hände gebunden waren, weil sie keine Wohlfahrtsunterstützung bezogen. Art. 9 und 10 ermächtigte die Bezirks 87 § 20 RFV lautete: »(1) Wer obwohl arbeitsfähig infolge seines sittlichen Verschuldens der öffentlichen Fürsorge selbst anheimfällt oder einen Unterhaltsberechtigten anheimfallen lässt, kann von der Verwaltungsbehörde auf Antrag des vorläufig oder endgültig verpflichteten Fürsorgeverbandes oder desjenigen, der dem Fürsorgeverband die Kosten der Unterstützung zu ersetzen hat, in einer vom Lande als geeignet anerkannten Anstalt oder sonstigen Arbeitseinrichtung zur Arbeit untergebracht werden, wenn er Arbeit beharrlich ablehnt oder sich der Unterhaltspflicht beharrlich entzieht. […] (3) Die Unterbringung ist unzulässig, wenn sie eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde; sie darf nicht in einer Strafanstalt erfolgen. (4) Die Länder können Vorschriften über weitere Voraussetzungen und Dauer der Unterbringung, über die Zuständigkeit und das Verfahren erlassen.« Baath, Verordnung, S. 15 f. 88 Während der Weltwirtschaftskrise hatten viele Männer ihre Familien verlassen, um nur noch für sich selbst sorgen zu müssen. Vgl. Rothmaler, Fürsorge, S. 246. 89 Die RG wurden in der Weimarer Republik mehrfach geändert. Hier liegt die im Jahre 1934 gültige Fassung vom 1. August 1931 zugrunde, die im Mai 1933 erneut einige Änderungen erfuhr, welche die hier interessierende geschlossene Anstaltsunterbringung aber unberührt ließen. Weitere Modifizierungen erfolgten im Februar und Dezember 1934. Vgl. RG, RGBl 1931/I, S. 441–445; VO Änderung RG, ebd., S. 439–441; Dritte VO Änderung RG, ebd. 1933/I, S. 316; Vierte VO Änderung RG, ebd. 1934/I, S. 99 f.; Fünfte VO Änderung RG, ebd., S. 1279. 90 Die Formen der Unterstützungsgewährung regelte § 11 RG. Er unterschied grundsätzlich zwischen »offener« und »geschlossener Fürsorge«. Vgl. RG, ebd. 1931/I, S. 442. 91 Ebd., S. 443. Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 58–60.
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polizeibehörden »Zigeuner und Landfahrer«,92 Personen, die sie als »Arbeitsscheue«93 ansahen, und »Gewohnheitsverbrecher«94 mit »sicherheitspolizeili chem Arbeitszwang«95 zu belegen, wenn dies »aus Gründen der öffentlichen Sicherheit«96 erforderlich erschien.97 So wie der fürsorgerechtliche konnte auch der sicherheitspolizeiliche Arbeitszwang in Form von offener Arbeit oder durch die Einweisung in eine geschlossene Arbeitsanstalt vollstreckt werden. Verpflichtete die Polizei eine Person, sich eine Arbeitsstelle in der freien Wirtschaft zu suchen, nannte man das einen »polizeilichen Arbeitsauftrag«. Bei nicht-sesshaften Personen verband die Polizei diesen häufig mit einem »polizeilichen Unterkommensauftrag«, also der Auflage, sich einen festen Wohnsitz zu suchen. Dabei konnte sie sich außer auf das »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz« auch auf § 361 RStGB stützen.98 Das »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz« grenzte die Zielgruppe des Arbeits zwangs im Art. 9 lediglich durch zwei Anordnungsvoraussetzungen ein: das Mindestalter von 16 Jahren und das Fehlen einer geregelten Arbeit. Art. 10 fügte dem einen weiteren Negativ-Tatbestand hinzu: das nicht erkennbare »ernst liche[r] Bemühen um Arbeit«.99 Darüber hinaus waren allein sicherheitspolizeiliche Erwägungen ausschlaggebend. Wie für eine polizeirechtliche Logik allgemein kennzeichnend, stand die »Gefahrenabwehr« im Mittelpunkt. Entscheidend für die Anordnung des Arbeitszwangs war daher die Einstufung der Betroffenen als »gefährlich«, wobei die vermeintliche Gefahr vorwiegend von dem devianten Sozialverhalten der Zielgruppe des Gesetzes ausging. Mit der Fürsorgepflichtarbeit, dem fürsorgerechtlichen Arbeitszwang und der geschlossenen Anstaltsunterbringung verfügten die Kommunen schon vor 1933 über ein breites Instrumentarium zur Disziplinierung missliebiger Klienten. Nach Auffassung der Behörden stellte die Zuweisung von Arbeitsgelegenheiten ein »probates Mittel zur Trennung arbeitsscheuer und arbeitswilliger 92 Unter »Landfahrern« fasste das Bayerische Innenministerium »nach Zigeunerart umherziehende Personen«. Art. 1 Abs. 1 Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz, GVBlFrstBay 1926, S. 359. 93 In der Ausführungsverordnung heißt es zum Begriff »Arbeitsscheue«: »Der Art. 10 richtet sich gegen das arbeitsscheue Gesindel, welches insbesondere in den großen Städten Unterschlupf sucht und dort in unruhigen Zeiten und in Zeiten wirtschaftlicher Not eine gesteigerte Gefahr für die allgemeine Sicherheit bildet.« Abschn. B § 1 AVO Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz, GVBlFrstBay 1926, S. 361. 94 Der Begriff »Gewohnheitsverbrecher« findet nicht im Gesetzestext, sondern erst in der Ausführungsverordnung Verwendung, ohne dort genauer definiert zu werden. Vgl. Abschn. B §§ 3, 7 ebd., S. 365 f. 95 Ebd., S. 366. 96 Ebd., S. 360. 97 Neben dem sicherheitspolizeilichen Arbeitszwang führte das »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz« die Ausweis- und Meldepflicht für »Zigeuner« und »Landfahrer« ein, verbot das Lagern im Freien ohne polizeiliche Genehmigung, ermöglichte gravierende Beschränkungen der Freizügigkeit und schuf den Straftatbestand des »Reisen[s] in Horden«. Ebd. 98 Vgl. Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 105 Anm. 2, 201 Anm. 1. 99 Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz, GVBlFrstBay 1926, S. 360.
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Hilfeempfänger« dar.100 Allerdings verhängte man derartige Sanktionen während der Weimarer Republik vergleichsweise selten. Sie waren »eher Drohmittel als Regelfall.«101 Das hatte verschiedene Gründe: Zum einen stand die Praxis der Wohlfahrtsämter unter Beobachtung einer kritischen Öffentlichkeit. Überdies schränkten die Rechtsmittelgarantien der Klienten das behördliche Handeln erheblich ein. Auch Kostenerwägungen spielten eine Rolle, denn die Anstaltsunterbringung war teurer als offene Fürsorgeunterstützung. Nicht zuletzt bewirkte die dezidiert liberale Ausrichtung der Sozial- und Wohlfahrtspolitik, welche die Weimarer Demokratie lange prägte, wohl eine gewisse Zurückhaltung der Kommunen. Als Ende der 1920er-Jahre die »autoritäre Wende«102 des Weimarer Wohlfahrtsstaates einsetzte, war dies eine Reaktion auf die wachsenden Arbeitslosenzahlen während der Weltwirtschaftskrise. Angesichts der desolaten Finanzsituation der Fürsorgeverbände begann man zwischen »sozial wertvollen« und »asozialen« bzw. »minderwertigen« Unterstützungsempfängern zu unterscheiden. Letzteren kürzte oder entzog man systematisch die Leistungen. Allerdings trat dieser Umschwung zu einem Zeitpunkt ein, als die Wohlfahrtsämter aufgrund der schlechten Konjunkturlage die Fürsorgepflichtarbeit und den Arbeitszwang nur sehr begrenzt als Differenzierungs- und Disziplinierungsinstrument einsetzen konnten. In Hamburg waren z. B. im Sommer 1932 lediglich drei Prozent der Unterstützungsempfänger mit Fürsorgepflichtarbeit beschäftigt.103 Der Regierungsantritt Hitlers erhöhte den Handlungsspielraum der Kommunen zur repressiven Ausgestaltung der Wohlfahrtspolitik erheblich. Das machte sich schnell durch eine sinkende Zahl an Unterstützungsempfängern bemerkbar. Bezogen am Stichtag 31. März 1933 noch 2.431.056 Personen – das war etwa jeder 27. Deutsche – laufend Wohlfahrtsunterstützung, gab es genau ein Jahr später schon knapp anderthalb Millionen weniger Wohlfahrtserwerbslose.104 Gründe dafür waren nicht nur der rasch einsetzende Wirtschaftsaufschwung und die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des FAD, sondern auch der systematische Einsatz der §§ 19 und 20 RFV als Repressions- und Abschreckungsmittel. So gelang es beispielsweise der Stadt Stuttgart, ihre Unterstützungszahlungen erheblich zu reduzieren. Von den 8.779 männlichen Fürsorgeempfängern, die sie bis zum Herbst 1935 zur Pflichtarbeit einberufen hatte, waren nur 4.380 erschienen. Den übrigen 4.399 strich man umgehend jede weitere Fürsorgeunterstützung.105 100 Ayaß, Asoziale (1995), S. 58. Vgl. Brunner, Bettler, S. 10. 101 Ayaß, Asoziale (1995), S. 58. 102 Sachße u. Tennstedt, Fürsorge. 103 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 59; Brunner, Bettler, S. 10; Rothmaler, Fürsorge, S. 251–254. 104 Am 31. März 1934 zählte man 1.108.100 Leistungsempfänger. Vgl. Statistisches Reichsamt, Jahrbuch 1934, S. 5, 515; dass., Jahrbuch 1935, S. 502; dass., Jahrbuch 1936, S. 500. 105 Zunächst kümmerte es die Stuttgarter Stadtverwaltung wenig, aus welcher Quelle die Betroffenen fortan ihre Einkünfte bezogen. Dann begann sie, die ehemaligen Unterstützungsempfänger der Polizei zu melden, die überprüfen sollte, ob diese möglicherweise il-
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Das Arsenal der fürsorgerischen Zwangsmittel, das die Kommunalbehörden unter der Regierung Hitlers zur Bekämpfung der sozialen Krisenerscheinungen aufboten, erschöpfte sich aber nicht in der Verhängung von Pflichtarbeit. Einige Stadtverwaltungen errichteten überdies besondere Lager, in denen sie Unterstützungsempfänger zur Arbeit zwangen. Grundlage für dieses Vorgehen bildete meist die »rechtsschöpferische« Auslegung der §§ 19 und 20 RFV oder die Berufung auf ein noch zu schaffendes »Bewahrungsgesetz«. Da diese Fürsorgelager in lokaler Eigenregie entstanden, war ihre konkrete Ausgestaltung sehr unterschiedlich. Das Spektrum reichte von offenen über halboffene bis hin zu geschlossenen Lagern, die von bewaffneten Aufsehern bewacht wurden.106 Die »Lager für geschlossene Fürsorge«107 können laut Ayaß angesichts ihrer inneren Organisation, ihrer Funktion und ihrer Stellung im arbeitsteiligen System der NS-Zwangslager »im Vorfeld der Konzentrationslager«108 angesiedelt werden. Gegenstand der folgenden Erörterungen sind jedoch nicht die Fürsorgelager, sondern ein zweiter, wenig beachteter Entwicklungsstrang in der Vollstreckung des fürsorgerechtlichen Arbeitszwangs unter dem NS-Regime: die Einweisungen von angeblich »arbeitsscheuen« Unterstützungsempfängern und »säumigen Unterhaltszahlern« in die KZ selbst. In Bayern sanktionierte das Innenministerium dieses Vorgehen, indem es im Herbst 1934 das KZ Dachau offiziell als Arbeitsanstalt im Sinne des § 20 RFV anerkannte.109 Die Initiative dazu war von Walter Schultze110 ausgegangen, Leiter der Gesundheitsabteilung im Bayerischen Innenministerium und überzeugter Verfechter der Rassenhygiene.111 Am 16. Oktober 1934 erließ das Bayerische Innenministerium eine entsprechende Vollzugsvorschrift, die das verwaltungsrechtliche Einweisungsverfahren regelte, wobei es sich auf die RFV stützte sowie auf die Art. 38 bis 45 des »Bayerische[n] Ausführungsgesetzes zur Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht« von 1930, kurz »Fürsorgegesetz (FürsG)« genannt.112
legal ihren Lebensunterhalt bestritten. Es waren derartige lokal initiierten Praktiken, die dazu führten, dass sich die Institutionen der Wohlfahrts- und Strafrechtspflege im Nationalsozialismus zu einem arbeitsteiligen Netz allumfassender Überwachung und Repression verflochten. Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 77. Für Berlin vgl. Weber, Berlin, S. 331. 106 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 57–137; Gaida, Formierung, S. 52–56, 59–63; Lohalm, Wohlfahrtsdiktatur, S. 239–252, 325–381; Rothmaler, Fürsorge, S. 251–261; Weber, Berlin, S. 331–335. 107 Ayaß, Asoziale (1995), S. 61. 108 Ebd., S. 100. Vgl. Gaida, Formierung, S. 56–59. 109 Das Zulassungsverfahren regelte § 34 Abs. 3 der bayerischen »Verordnung über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge« vom 12. April 1930. Vgl. VO Voraussetzungen Fürsorge, GVBlFrstBay 1930, S. 130. 110 Für biografische Anmerkungen zu Walter Schultze vgl. Anhang. 111 Vgl. Alles für das Volk, MNN, 27.10.1934. 112 Vgl. FürsG, GVBlFrstBay 1930, S. 38–50. Ich danke Christoph Bachmann, Leiter des StA München, der mir geholfen hat, das in den mir vorliegenden Quellen zum Vollzug des § 20 RFV im KZ Dachau nicht näher spezifizierte »FürsG[esetz]« ausfindig zu machen.
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Am 22. November wurde die Vollzugsvorschrift noch um eine Durchführungsrichtline ergänzt. Danach konnten in Bayern fortan »männliche Personen im Alter von mindestens 18 Jahren, die Arbeit beharrlich ablehnen oder sich der ihnen obliegenden Unterhaltspflicht gegenüber Angehörigen beharrlich entziehen und aus sittlichem Verschulden selbst der öffentlichen Fürsorge anheimfallen oder einen Unterhaltsberechtigten anheimfallen lassen, zur Arbeitsleistung im Lager Dachau«113
herangezogen werden. Diese eng an die §§ 19 und 20 RFV angelehnten Anordnungsvoraussetzungen versah das Innenministerium noch mit einer neuen präventiven Komponente, indem es unter Berufung auf Art. 38, Abs. 1 FürsG die Unterbringung auf »arbeitsfähige Personen« ausdehnte, »die infolge ihres sittlichen Verschuldens sich selbst oder einen Unterhaltsberechtigten der naheliegenden Gefahr aussetz[t]en, der öffentlichen Fürsorge anheimzufallen, wenn sie Arbeit beharrlich ablehnen oder sich der Unterhaltspflicht beharrlich entziehen«.114 Mit dieser Klausel hatte der polizeirechtliche Gedanke der Gefahrenabwehr schon 1930 Einzug in das bayerische Fürsorgerecht gehalten. Als Bezeichnung für die neue Form des fürsorgerechtlichen Freiheitsentzuges schlug das Innenministerium »Arbeitshaft« vor.115 Um diese im KZ Dachau vollstrecken zu können, setzte es die »Dachauer Lagerordnung« einer »Arbeitsordnung im Sinne des Art. 45 FürsG«116 gleich. Als Vollstreckungsort für Frauen fungierte ab dem 20. November 1934 die Arbeitsabteilung der Fürsorgeanstalt Taufkirchen an der Vils.117 Allerdings konnte diese lediglich 20 Plätze zur Verfügung stellen. Ab März 1935 kam dann das Arbeitsheim Weiher 113 BayHStA München, MInn 71561, DVO BayStMdI zum § 20 RFV (Arbeitszwang), 22.11.1934 [Hervor. i. Orig.]. Vgl. § 1 Vollzugsvorschrift § 20 RFV (16.10.1934), GVBlFrstBay 1934, S. 401; Brunner, Bettler, S. 14–16. 114 BayHStA München, MInn 71561, DVO BayStMdI zum § 20 RFV (Arbeitszwang), 22.11. 1934 [Hervor. i. Orig.]. Vgl. FürsG, GVBlFrstBay 1930, S. 46. Einen entsprechenden Passus enthielt auch der § 6 der »Verordnung über die öffentliche Fürsorge in der Hansestadt Hamburg« vom 30. Mai 1939. Vgl. Rothmaler, Fürsorge, S. 258. 115 »Um eine Verwechslung mit Schutzhäftlingen zu vermeiden« verfügte das Bayerische Innenministerium eine gesonderte Kennzeichnung der Arbeitshäftlinge. BayHStA München, MInn 71561, DVO BayStMdI zum § 20 RFV (Arbeitszwang), 22.11.1934. In der Dachauer Lagerverwaltung vermochte sich der Ausdruck Arbeitshaft jedoch nicht durchzusetzen. Die Kommandantur verwendete stattdessen die Abkürzung »AZ« für »Arbeitszwang«. Ab 1938 kam noch das Kürzel »AZR« für »Arbeitszwang Reich« hinzu. Es kennzeichnete Häftlinge der »Aktion Arbeitsscheu Reich«. Vgl. GS-Arch Dachau, H. 39.458, Zugangsbuch 1 (1937), Bl. 1, Eintrag 10.7.1937; ebd., Zugangsbuch 2 (1938), Bl. 1, Eintrag 28.6.1938; Knoll, Belege, E-Mail 24.8.2012. Die Bezeichnung »AZG/Arbeitszwang Gemeinde« ist hingegen kein Quellenbegriff. Vgl. Eberle, Häftlingskategorien, S. 104. 116 Vollzugsvorschrift § 20 RFV (16.10.1934), GVBlFrstBay 1934, S. 401. Vgl. FürsG, ebd. 1930, S. 47; § 34 Abs. 3 VO Voraussetzungen Fürsorge, ebd., S. 130. 117 Betreiber war der Landesfürsorgeverband Oberbayern. Vgl. Vollzugsvorschrift § 20 RFV (20.11.1934), ebd. 1934, S. 428; Brunner, Bettler, S. 19.
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bei Hersbruck als Unterbringungsort hinzu.118 Von Januar 1936 an konnten die Fürsorgeverbände »weibliche Personen, […] die einer besonders strengen Aufsicht bedürfen«,119 zudem in die Abteilung Arbeitshaus des Zuchthauses und der Gefangenenanstalt Aichach einliefern.120 Die Dauer der Unterbringung war zeitlich befristet und musste im Einweisungsbeschluss vorab festgelegt werden. Sie sollte mindestens drei Monate betragen, durfte drei Jahre aber nicht überschreiten. Diese Bestimmung lehnte sich an den Art. 38, Abs. 3 FürsG an. Allerdings hatte dieser, indem er die Unterbringungsdauer bei erstmaliger Einweisung auf ein Jahr beschränkte und erst im Wiederholungsfalle maximal drei Jahre zuließ, die zeitliche Befristung des Freiheitsentzugs noch stärker zugunsten der Betroffenen reglementiert.121 Zweck der neuen Maßnahme war die Erziehung und Abschreckung von missliebigen Wohlfahrtsunterstützungsempfängern. »Mit der Einweisungsmöglich keit in das Konzentrationslager«, erläuterte das Innenministerium seine Intention, »ist den Fürsorgeverbänden ein neues, wirksames Zuchtmittel gegen asoziale Personen in die Hand gegeben«.122 Diejenigen, die tatsächlich nach § 20 RFV in das KZ Dachau bzw. in die entsprechenden Anstalten für Frauen eingewiesen wurden, sollten dort an »Ordnung, Zucht und geregelte Tätigkeit«123 gewöhnt werden. Darüber hinaus hoffte man, dass die drohende KZ-Einweisung eine »abschreckende Wirkung«124 auf andere »säumige Unterhaltszahler«, »Asoziale« und »Arbeitsscheue« ausüben würde. 118 Das Arbeitsheim Weiher betrieb der Landesverein für Innere Mission mit Sitz in Nürnberg. Vgl. Vollzugsvorschrift § 20 RFV (8.3.1935), GVBlFrstBay 1935, S. 111. Am 25. Oktober 1937 hob das Bayerische Innenministerium den Status Weihers als Arbeitsanstalt im Sinne des § 20 RFV auf. Vgl. Vollzugsvorschrift § 20 RFV (25.10.1937), Bayerisches Gesetzund Verordnungsblatt 1937, S. 296. 119 Vollzugsvorschrift § 20 RFV (15.1.1936), GVBlFrstBay 1936, S. 14. 120 Der Strafanstaltskomplex in Aichach diente ab März 1933 der Unterbringung weiblicher »Schutzhäftlinge«. Später kam noch die Strafanstalt Landshut hinzu. Ab dem Jahreswechsel 1935/36 erörterten die bayerischen Behörden auf Weisung des Reichsjustizministers die Möglichkeiten, längerfristig inhaftierte »Schutzhäftlinge« nicht mehr in den Justizvollzugsanstalten zu internieren. Ab Januar 1936 wurden die weiblichen »Schutzhäftlinge« aus Bayern, deren Haft voraussichtlich drei Monate überschreiten würde, in das Frauen-KZ Moringen überstellt. Die freien Kapazitäten schöpfte man gleich aus, um die weiblichen Arbeitshäftlinge unterzubringen. Nur gute drei Wochen nach der Anerkennung Aichachs als Arbeitsanstalt im Sinne des § 20 RFV nominierte das Bayerische Innenministerium die Strafanstalt außerdem als Unterbringungsort für weibliche »Vorbeugungshäftlinge«. Vgl. BayHStA München, MInn 73691, Schreiben BPP, 23.1.1936; ebd., Schreiben BPP, 13.2.1936; BayStA München, Poldir Mü/Sachakten II, 7434, Schreiben BayStMdI, 8.2.1936. 121 Vgl. BayHStA München, MInn 71561, DVO BayStMdI zum § 20 RFV (Arbeitszwang), 22.11.1934; Art. 38 Abs. 3, Art. 41, Art. 42 FürsG, GVBlFrstBay 1930, S. 46 f.; § 3 Vollzugsvorschrift § 20 RFV (16.10.1934), ebd. 1934, S. 401; Vollzugsvorschrift § 20 RFV (20.11.1934), ebd., S. 428. 122 BayHStA München, MInn 71561, DVO BayStMdI zum § 20 RFV (Arbeitszwang), 22.11.1934. 123 Ebd. 124 Ebd.
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Beantragt werden konnte die Arbeitshaft vom Fürsorgeverband, der für die Zahlung von Unterstützungsleistungen an den Betroffenen oder dessen Angehörige zuständig war. Die »Auswahl der Einweisungsfälle« blieb allein dem »pflichtgemäßen Ermessen« der Fürsorgeverbände anheimgestellt, wobei das Bayerische Innenministerium ausdrücklich dazu aufforderte, »in der ersten Linie jene Fälle herauszugreifen, die zu besonderem Ärgernis Anlaß geben«.125 Anordnung und Vollzug der Arbeitshaft oblag den Bezirksämtern bzw. in Stadtkreisen mit staatlicher Polizeiverwaltung den Polizeidirektionen.126 Als besondere Stärke des neuen Verfahrens hob das Innenministerium hervor, dass »die Einweisung in die Arbeitsanstalt«, also in das KZ Dachau, »bei Erfüllung des fürsorgerechtlichen Tatbestandes« auf dem Verwaltungswege, das heißt »ohne vorgängige strafgerichtliche Verurteilung« vollzogen werden könne.127 Ähnlich hatte es schon 1926, bei der Einführung des »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetzes« argumentiert. Damals waren es die Bezirkspolizeibehörden, die man durch die Schaffung des sicherheitspolizeilichen Arbeitszwangs in ihrem Vorgehen gegen »Zigeuner«, »Landfahrer« und »Arbeitsscheue« von der Anordnung der »korrektionellen Nachhaft« durch ein Gericht unabhängig machen wollte. Der Beschluss zur fürsorgerechtlichen KZ-Einweisung musste schriftlich ergehen, und die Einweisungsbehörde war verpflichtet, den Betroffenen dazu anzuhören. Als Rechtsmittel standen ihm die Beschwerde und bei einer Einweisung aufgrund ausstehender Unterhaltszahlungen die Bestreitung der Unterhaltspflicht zur Verfügung. Die Entscheidung, ob das Verfahren bis zur Klärung der Unterhaltspflicht ausgesetzt werden sollte, lag im Ermessen der Vollstreckungsbehörde. Die Beschwerde hingegen hatte keine aufschiebende Wirkung.128 Da man glaubte, der intendierte Erziehungs- und Abschreckungseffekt würde durch schnelles und rigides Handeln erhöht, waren die geistigen Väter der fürsorgerechtlichen KZ-Einweisung auf einen zügigen Verfahrensablauf bedacht. »Verschleppungsmanövern«, so hieß es, sei »nachdrücklich entgegenzutreten«129 und das Anordnungsverfahren »mit der durch den Charakter der Maßnahme bedingten Beschleunigung und Tatkraft durchzuführen«.130 Auch bei der vorgeschriebenen amtsärztlichen Tauglichkeitsprüfung käme eine »zu ängstliche Abwägung der Leistungsfähigkeit […] nicht in Frage«.131 Selbst 125 Ebd. 126 Vgl. ebd.; Art. 38 Abs. 3, Art. 40 Abs. 1 FürsG, GVBlFrstBay 1930, S. 46 f.; § 34 Abs. 4 VO Voraussetzungen Fürsorge, ebd., S. 130; § 2 Vollzugsvorschrift § 20 RFV (16.10.1934), ebd. 1934, S. 401. Ende Juli 1935 ging in Städten mit staatlicher Polizeiverwaltung die Anordnungskompetenz auf die örtliche Gestapo über. Vgl. Gesetz Änderung FürsG, ebd. 1935, S. 582. 127 BayHStA München, MInn 71561, DVO BayStMdI zum § 20 RFV (Arbeitszwang), 22.11.1934. 128 Vgl. ebd. Art. 38 Abs. 4, Art. 39, Art. 40 Abs. 2 FürsG, GVBlFrstBay 1930, S. 46 f. 129 BayHStA München, MInn 71561, DVO BayStMdI zum § 20 RFV (Arbeitszwang), 22.11.1934. 130 Ebd. 131 Ebd.
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»Leute mit beschränkter Arbeitsfähigkeit« und »leichteren Gebrechen« könnten in Dachau »verwendet« werden.132 Für die notwendige Publizität, die das neue Disziplinierungsinstrument brauchte, um seine abschreckende Wirkung entfalten zu können, sorgten Meldungen in der Tagespresse. Am 27. Oktober 1934, zehn Tage nach Inkrafttreten der ersten Vollzugsvorschrift, berichteten die Münchner Neuesten Nachrichten über den Vorstoß der bayerischen Landesregierung. Unter der Überschrift »Alles für das Volk – Arbeitsscheue und Unterhaltsverweigerer kommen nach Dachau« informierten sie die Leser über einen – vermutlich öffentlich gehaltenen – Vortrag des Ideengebers der Maßnahme, Walter Schultze, und erläuterten in diesem Zusammenhang die Anordnungsvoraussetzungen. Unverhohlen drohend ließen die Münchner Neuesten Nachrichten ihr Publikum anschließend wissen: »Die ersten Anträge gegenüber bestimmten männlichen Personen sind bereits in Behandlung und werden in der allernächsten Zeit durchgeführt. Die Vorbereitungen für gleiche Behandlung weiblicher Personen sind ebenfalls im Gange und soweit gediehen, daß mit ihrer Verwirklichung schon in nächster Zeit zu rechnen ist.«133
Der mit der KZ-Haft beabsichtigte Erziehungs- und Abschreckungseffekt fand deutliche Zustimmung in der Presse. So stand der Bayerischen Ostmark zufolge zu erwarten, »dass bereits die Einweisungsmöglichkeit erziehliche Wirkung ausübt«.134 Die Münchner Neuesten Nachrichten stellten das entschiedene Vorgehen der Behörden gegen »Arbeitsscheue« und »säumige Unterhaltszahler« überdies in den Kontext des Aufbaus der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«: »Damit ist wieder ein Werk im Gang gesetzt, das ausschließlich dem Volk und seiner Gemeinschaft zugute kommt. Gleichzeitig werden damit auch Forderungen der Rassenhygiene hinsichtlich der Ausmerzung von Volksschädlingen aus dem Volkskörper und hinsichtlich Erziehungsversuchen erfüllt.«135
Rassenhygienische »Ausmerze« und pädagogische Ansätze, das macht diese Passage deutlich, existierten nicht nur parallel, sondern waren im Denken der Zeitgenossen auch problemlos kombinierbar. Wie noch zu zeigen sein wird, prägte in der Vorkriegszeit beides die KZ-Haft von »Asozialen«. Sowohl rassenhygienische Zielvorgaben, insbesondere die Verhinderung der Fortpflanzung durch Sterilisation und Internierung sowie die erbbiologische »Siebung und Sichtung«, spielten eine Rolle als auch zeitgenössische Erziehungsvorstellungen und die damit beabsichtigte Herstellung von Leistungsbereitschaft und Produktivität. Zwar hatte die Institutionalisierung der fürsorgerechtlichen KZ-Einweisungen von »Asozialen« durch die bayerischen Vollzugsvorschriften zum § 20 RFV 132 Ebd. Vgl. Eberle, Herzogsägmühle, S. 52. 133 Alles für das Volk, MNN, 27.10.1934 [Hervor. i. Orig.]. 134 Bayerische Ostmark, 1.12.1934, zit. nach Sopade-Berichte 1935, S. 160. 135 Alles für das Volk, MNN, 27.10.1934. Vgl. Moore, Opinion, S. 59.
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ein stark regionales Gepräge. In Bayern hatten sich die repressiven Tendenzen im Fürsorgerecht früher als anderswo gesetzlich niedergeschlagen.136 Dennoch blieb die Vollsteckung des fürsorgerechtlichen Arbeitszwangs im KZ kein bayerischer Sonderfall. Auch in Baden können KZ-Einweisungen von »Asozialen« auf der Grundlage von § 20 RFV nachgewiesen werden. Dort erkannte das Innenministerium am 20. August 1935 in einem Runderlass über die »Unterbringung asozialer Personen« die Arbeiterkolonie Ankenbuck und das Landesarbeitshaus Kislau als Arbeitsanstalt im Sinne des § 20 RFV an. Gleichzeitig kritisierte es, dass die Wohlfahrtsverbände von den Möglichkeiten der fürsorgerechtlichen Zwangsinternierung »nicht im wünschenswerten Maße und mit der notwendigen Beschleunigung Gebrauch gemacht« hätten, und rief sie dazu auf, »diese Bestimmungen […] in allen geeigneten Fällen beschleunigt zur Anwendung zu bringen«.137 Mit der Arbeiterkolonie Ankenbuck und dem Landesarbeitshaus Kislau machte das Innenministerium zwei jener tradierten Arbeitsanstalten Badens zum Vollstreckungsort des § 20 RFV, die auch ein frühes KZ beherbergten. Während jedoch das KZ Ankenbuck am 16. März 1934, also bevor der Runderlass zur »Unterbringung asozialer Personen« in Kraft trat, geschlossen worden war, befand sich das KZ Kislau zu diesem Zeitpunkt noch in Betrieb. Trotz der Bemühungen um eine klare organisatorische Trennung verwischten sich in Kislau bis Mitte der 1930er-Jahre die Grenzen zwischen Arbeitshaus und KZ und damit auch die Zuordnung der einzelnen Haftgruppen zu den beiden Institutionen. Wie noch zu zeigen sein wird, führten die diffusen Zuständigkeiten dazu, dass auch das Arbeitshaus zeitweise den Charakter einer extra-legalen Haftstätte annahm. Für die Zeit ab Sommer 1936 lassen die Quellen aber keinen Zweifel mehr daran, dass man die auf Grundlage des § 20 RFV von den Bezirksämtern eingewiesenen »Arbeitsscheuen« zu den KZ-Insassen zählte. Weibliche Arbeitszwangshäftlinge aus Baden brachte man in das Arbeitshaus der Frauenstrafanstalt Aichach in Bayern.138 Das quantitative Ausmaß der fürsorgerechtlichen KZ-Einweisungen in Baden lässt sich bislang lediglich punktuell ermitteln. So verzeichnet der Jahresbericht des KZ Kislau für 1936 den Zugang von 97 Arbeitszwangshäftlingen.139 Für den Stichtag 24. Juni 1938 ist ein Häftlingsstand von 47 Arbeitszwangshäftlingen überliefert. Die Zahl der »politischen Schutzhäftlinge«140 hingegen betrug an diesem Tag lediglich drei Personen, was sich daraus erklärt, dass 136 Vgl. Brunner, Bettler, S. 12. 137 RdErl Unterbringung Asoziale (20.8.1935), BadGVBl 1935, 987 f. 138 Vgl. GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Tätigkeitsbericht Bewahrungslager 1936; Konzentrationslager in Ankenbuck, BadPr, 24.3.1934; RdErl Aufhebung Bewahrungslager, MinBlBadIV 1939, S. 120 f.; RdErl Bewahrungslager, ebd. 1936, S. 675; RdErl Unterbringung Asoziale (29.11.1937), ebd. 1937, S. 1329 f.; RdErl Vollzug RFV, ebd. 1939, S. 749–753; Borgstedt, Ankenbuck. 139 Vgl. GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Tätigkeitsbericht Bewahrungslager 1936. 140 Ebd., Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 16.7.1938.
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sich das KZ Kislau bereits in Auflösung befand und dessen Insassen in das KZ Dachau überstellt wurden. Gleichwohl waren auch im Herbst 1938 noch durchschnittlich 40 bis 50 »säumige Unterhaltszahler« auf Grundlage des § 20 RFV dort interniert.141 Wesentlich besser nachzuvollziehen ist die quantitative Entwicklung der KZ-Einweisungen nach § 20 RFV in Bayern. Für den Zeitraum April 1934 bis Juli 1938 ist eine monatliche »Schutzhaftstatistik« der BPP (ab November 1936 Geheime Staatspolizei/Staatspolizeistelle München) überliefert, die neben den »Schutzhäftlingen« auch jene Insassen Dachaus aufführt, welche die Behörden unter Rückgriff auf andere Rechtsgrundlagen eingeliefert hatten.142 Ab Dezember 1934 weist die »Schutzhaftstatistik« die Arbeitszwangshäftlinge als eigene Gruppe aus. Mit einem Anstieg von 21 auf 55 Personen verdoppelte sich ihre Zahl gleich innerhalb des ersten Monats. Im März 1935 erreichte sie mit 126 Personen bereits den dreistelligen Bereich, obwohl zu diesem Zeitpunkt die ersten Arbeitszwangshäftlinge nach Ablauf von drei Monaten Haft schon wieder entlassen worden sein könnten. Für die folgende Zeit ist ein steter Anstieg zu beobachten. Im Januar 1936 verzeichnet die Statistik einen vorläufigen Höchststand von 266 Arbeitszwangshäftlingen. Danach ist erstmals seit Inkrafttreten der neuen Regelung ein leicht abfallender Trend zu beobachten. Folgt man Eberle, machte allein die Wohlfahrtsbehörde der Stadt München im Zeitraum zwischen November 1934 und Januar 1940 in 194 Fällen von der Möglichkeit Gebrauch, den fürsorgerechtlichen Arbeitszwang im KZ zu vollstrecken.143 Insgesamt sind für Dachau bis 1945 1.409 Einlieferungen auf Grundlage von § 20 RFV nachweisbar.144 Versteht man unter maßnahmenstaatlichem Agieren das einer polizeirechtlichen Logik folgende Handeln der Exekutivorgane, das sich auf den Ausnahmezustand beruft, sich ausschließlich an politischen Zweckmäßigkeitserwägungen orientiert und der Kontrolle der Judikative entzogen ist, erfüllen die KZ-Einweisungen nach § 20 RFV diese Kriterien. Indes, einen ausdrücklichen Bezug zur Reichstagsbrandverordnung sucht man in den hier analysierten Verordnungen der bayerischen und der badischen Landesregierung vergebens. 141 Vgl. ebd., Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 17.11.1938. 142 Ab Dezember 1933 führen die »Schutzhaftstatistiken« die »Arbeitsscheuen« an, die »wegen der Überfüllung des Arbeitshauses Rebdorf« nach Dachau kamen, ab April 1935 verzeichnen sie fortlaufend die »Berufsverbrecher« und von August 1936 bis September 1937 listen sie zudem die Häftlinge auf, die im Juli 1936 im Zuge der bayerischen Großrazzia gegen Bettler und Landstreicher verhaftet worden waren. Vgl. BayHStA München, StK 6299/1; ebd., StK 6300. 143 Vgl. Eberle, Asoziale, S. 258. Die von Eberle ermittelten Fälle verweisen darauf, dass die Wohlfahrtsämter das ihnen vertraute fürsorgerechtliche Verfahren der KZ-Einweisungen auch dann noch nutzten, als der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« bereits eine neue Handhabe gegen »Asoziale« geschaffen hatte. 144 Diese Angabe beruht auf den Einträgen in die Häftlingsdatenbank der KZ-Gedenkstätte Dachau (Stand: April 2017). Vgl. Knoll, Gesamtzahl, E-Mail 25.4.2017.
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Auch sind die Kontinuitäten zum Vorgehen gegen »Asoziale«, »Arbeitsscheue« und »säumige Unterhaltszahler« vor 1933 stark ausgeprägt. Und dennoch hielt mit der Möglichkeit, den § 20 RFV im KZ zu vollstrecken, der Maßnahmenstaat Einzug ins Fürsorgerecht. Schon vor dem Regierungsantritt Hitlers hatte der § 20 RFV die Exekutive, konkret die Fürsorgeverbände, Bezirksverwaltungen und Polizeidirektionen, unter bestimmten Voraussetzungen ermächtigt, unabhängig von der Judikative einen zeitlich befristeten Freiheitsentzug anzuordnen. In Bayern dehnte das »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz« die Zielgruppe auf Personen aus, die nicht im Leistungsbezug der öffentlichen Fürsorge standen. Indem es die »Gefährlichkeit« der Person zur Anordnungsvoraussetzung und die öffentliche Sicherheit und Ordnung zum Schutzobjekt erklärte, lag dem Gesetz eine dezidiert polizeirechtliche Logik zugrunde. Überdies zielten sowohl das »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz« als auch § 20 RFV darauf, Negativ-Tatbestände wie das »arbeitsscheue« Verhalten zu sanktionieren. Da diese schwer nachzuweisen waren, boten beide Regelungen ein Einfallstor für behördliche Willkür. Die Rechtsunsicherheit wurde dadurch verschärft, dass der Sachverhalt, der für die Zwangseinweisung ausschlaggebend war, außer im Fall einer Verletzung der Unterhaltspflicht nicht gerichtlich, sondern auf dem Verwaltungswege festgestellt wurde. Es handelte sich daher dem Wesen nach um eine verwaltungsrechtliche Maßregel, nicht um eine gerichtliche Strafe. Aus der Perspektive des klassisch-liberalen Rechts war die juristische Konstruktion des »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetzes« und des § 20 RFV von jeher problematisch. Demgegenüber waren die nach 1933 vorgenommenen Veränderungen gradueller Natur: Man beschnitt die Rechtsmittel der Betroffenen; es ist eine Tendenz zur zeitlichen Entfristung des Freiheitsentzuges zu beobachten; weitere unbestimmte Rechtsbegriffe und Negativ-Tatbestände kamen hinzu, und der Präventivgedanke gewann an Bedeutung. Ähnlich wie bei der »Schutzhaft« führte das Bestreben, die Exekutivorgane in ihrem Vorgehen von der Judikative unabhängig zu machen, für die von der Maßregel Betroffenen zur Suspendierung wesentlicher Habeas-Corpus-Rechte.145 Hinzu kam, dass zumindest im Falle Bayerns der Vollstreckungsort, das KZ Dachau, zu dem Zeitpunkt, als das Innenministerium seine Vollzugsrichtlinie erließ, bereits weitgehend der Kontrolle der Judikative entzogen war. Darin unterschied es sich fundamental von den Arbeitshäusern und »sonstigen Arbeitseinrichtungen«, die vor 1933 dem Vollzug des fürsorgerechtlichen und sicherheitspolizeilichen Arbeitszwangs gedient hatten.146 Ausschlaggebend für die repressive Auslegung des Fürsorgerechts ab 1933, die auch vor dem offenen Rechtsbruch nicht zurückschreckte, waren politische 145 Ähnlich argumentiert Angermund mit Blick auf die Rechtsprechung im Krieg, insbesondere hinsichtlich der Spruchpraxis, die auf der »Volksschädlingsverordnung« vom 5. September 1939 basierte. Vgl. Angermund, Recht, S. 70. 146 Anders verhielt es sich mit dem badischen KZ Kislau, das zunächst der badischen Justizverwaltung und dann dem Innenministerium unterstand.
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Opportunitätserwägungen, vor allem die angestrebte Reduzierung der Fürsorgekosten und der Aufbau der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«. Diese Instrumentalisierung des Rechts zu politischen Zwecken ist ein typisches Charakteristikum maßnahmenstaatlichen Agierens. Ermöglicht wurde es erst durch den Handlungsspielraum, den die Errichtung einer Herrschaft im Ausnahmezustand hatte entstehen lassen. Das heißt, auch ohne einen expliziten Bezug zur Reichstagsbrandverordnung war der Ausnahmezustand die Bedingung der Möglichkeit, dass der Maßnahmenstaat Einzug in die Wohlfahrtspflege hielt.
3.2 Die Rechtsgrundlagen der präventiven Internierung von »Berufs«- und »Gewohnheitsverbrechern« Ebenso wie die Gruppe der »Asozialen« gerieten auch die im kriminologischstrafrechtspflegerischen Jargon als »Berufs«- und »Gewohnheitsverbrecher« bezeichneten Mehrfachstraftäter gleich in den ersten Monaten nach der Machtübernahme unter einen verschärften Verfolgungsdruck. Ähnlich wie die Wohlfahrtspflege hatten sich auch Teile des Polizeiapparates bereits in der Endphase der Weimarer Republik radikalisiert. Der Ruf nach härteren Strafen und der Befreiung der Kriminalpolizei von den »Fesseln« des Rechtsstaates war immer lauter geworden. Angesichts der brisanten sozialen Situation und steigender Kriminalitätsraten konnten die Befürworter einer »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« wie Erich Liebermann von Sonnenberg147 und Arthur Nebe148 die 147 Erich Liebermann von Sonnenberg, geboren 1885, studierter Jurist, kam 1910 zur Kriminalpolizei. 1923 gehörte er zur deutschen Delegation bei der Gründung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission in Wien. Anfang der 1930er-Jahre leitete er die Deutsche Zentralstelle zur Bekämpfung von Geldfälschungen im Berliner Polizeipräsidium. Liebermann von Sonnenberg war Anhänger der Perseveranzthese und strebte ein spezialpräventives Vorgehen in der Verbrechensbekämpfung an. 1933 wurde er als Personalreferent im Preußischen Innenministerium zunächst Assistent von Kurt Daluege, dann stellvertretender Leiter und am 1. Juli 1933 schließlich Chef der Berliner Kriminalpolizei. 1936 entließ man ihn, weil er, wie Hsi-Huey Liang vermutet, nicht als überzeugter Nationalsozialist galt. Vgl. Liang, Polizei, S. 186 f.; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 182 f., 187. 148 Arthur Nebe, geboren 1894, leitete zunächst das Rauschgiftdezernat der Berliner Kriminalpolizei und ab April 1931 das Raubkommissariat. Im selben Jahr wurde er förderndes Mitglied der SS und trat der NSDAP sowie der SA bei. Nach der Machtübernahme wechselte Nebe ins preußische Gestapa. Ab 1. Januar 1935 stand er als Chef des LKPA an der Spitze der preußischen Kriminalpolizei. Er behielt diese Funktion auch, als man den Apparat 1937 in das Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) bzw. 1939 in das Amt V (Kriminalpolizei) des RSHA umwandelte. Als Leiter der Einsatzgruppe B trug er direkte Verantwortung für die Ermordung von 45.000 Menschen. Gleichzeitig unterhielt Nebe Kontakte zum militärisch-konservativen Widerstand um Ludwig Beck und zu den Attentätern des 20. Juli 1944. Laut Wildt zählte er jedoch nicht direkt zum Kreis der Widerstandskämpfer. Wenige Tage nach dem missglückten Attentat tauchte Nebe unter, wurde aber gefasst und
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Berliner Kriminalpolizei schon Anfang der 1930er-Jahre auf ihre kriminalpolitischen Positionen einschwören. Das war zum einen deswegen von besonderer Bedeutung, weil es sich bei der Berliner Kriminalpolizei um den größten lokalen Kripoapparat des Deutschen Reiches handelte. Zum anderen sollten ab 1933 die meisten Schlüsselpositionen innerhalb der Kriminalpolizei mit Berliner Beamten besetzt werden. Zu einer radikalen »Säuberung« kam es 1933 indes nicht.149 Einer Schätzung Hsi-Huey Liangs zufolge wurden in Berlin nur wenig mehr als ein Dutzend Kriminalbeamte aus politischen Gründen entlassen.150 Auch anderswo hielten sich die Eingriffe in Grenzen. Bei der Polizei Hamburg wechselte man 3 Prozent, bei der Kripo Bremen 7 Prozent der Beamten aus.151 »Vernichtung der Berufsverbrecher«,152 so hatte schon vor 1933 die Parole der nationalsozialistischen »Strategen der Verbrechensbekämpfung«153 innerhalb der Berliner Kriminalpolizei gelautet. Ganz in diesem Sinne proklamierte Kurt Daluege, kaum hatte Göring ihn als »Kommissar zur besonderen Verwendung« in das Preußische Innenministerium berufen, »Hauptaufgabe der Kriminalpolizei in nächster Zeit« sei »eine auf Vernichtung abzielende scharfe Bekämpfung des Berufsverbrechertums«.154 Die Umsetzung dieser Kampfansage ließ nicht lange auf sich warten: Noch im Frühjahr 1933 versuchte die Kriminalpolizei in verschiedenen Gebieten des Reiches die Ringvereine zu zerschlagen.155 Die Berliner Kriminalpolizei führte 1945 durch den Volksgerichthof zum Tode verurteilt. Vgl. Benz u. a., Enzyklopädie (2001), S. 866; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 187; Wildt, Generation, S. 301–310. 149 Als Rechtsgrundlage für die »Säuberungen« diente das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«. Vgl. Mommsen, Beamtentum, S. 46 f. 150 Vgl. Liang, Polizei, S. 188; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 180, 185 f. Nach Auskunft von Stefan Heinz (Arbeitsstelle für Nationale und Internationale Gewerkschaftspolitik, Freie Universität Berlin) ist im Landesarchiv Berlin eine Liste mit weit mehr als einem Dutzend Namen von Polizeibeamten überliefert, die vor 1933 Mitglied der Polizeigewerkschaft oder einer Arbeiterpartei waren und die deswegen aus dem Polizeidienst entlassen wurden. Zwar bezieht sich diese Liste auf den gesamten Berliner Polizeiapparat, dennoch könnte es sein, dass Liangs Schätzung deutlich nach oben korrigiert werden muss. 151 Vgl. Diercks, Dokumentation, S. 22; Fangmann u. a., Parteisoldaten, S. 44 Anm. 158; Krämer, Kriminalpolizei, S. 77; Leßmann, Schutzpolizei, S. 288; Mühl-Benninghaus, Beamtentum, S. 60 f.; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 72 f. 152 Daluege, Kampf, S. 17. 153 Wagner, Volksgemeinschaft, S. 194. 154 GStAPK, I. HA. Rep. 77, Nr. 29, Schreiben Daluege, 22.2.1933. Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft, S. 193. 155 Vgl. Aufklärung durch Mitglieder, S. 45; Daluege, Kampf, S. 20; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 194. Bei den Ringvereinen handelte es sich um offiziell im Vereinsregister eingetragene Zusammenschlüsse von entlassenen Strafgefangenen bzw. Mehrfachstraftätern. Die Ringvereine erlebten in den 1920er-Jahren vor allem in den Großstädten ihre Hochphase und prägten die Fantasien von Kriminologen und bürgerlicher Öffentlichkeit über die »kriminelle Unterwelt« gleichermaßen. Über ihre Organisationsstruktur und Mitgliederzahl ist wenig bekannt. Für das Jahr 1929 gibt Wagner eine Zahl von 40 Ringvereinen mit über Tausend Mitgliedern allein in Berlin an. Ob die Vereine direkt in die Planung und
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zwischen Mai und Oktober außerdem eine Reihe von Razzien durch, bei denen sie mit Unterstützung der SA Hunderte Verdächtige festnahm. In anderen Städten, insbesondere in Hamburg, ging die Polizei in den ersten Monaten nach Hitlers Regierungsantritt mit systematischen Kontrollen gegen Straßenprostituierte vor. Sie konnte sich damit auf einen Erlass des preußischen Innenministers Hermann Göring vom 22. Februar stützen, in dem dieser die Polizeibehörden zwecks »Reinhaltung des Straßenbilds« zu einem verschärften Vorgehen gegen »Dirnen« aufforderte.156 Für verschiedene Gebiete des Deutschen Reiches sind »Schutzhaftverhängungen« gegen polizeibekannte Mehrfachstraftäter nachweisbar, deren Strafregister zahlreiche Einträge wegen unpolitischer Delikte wie Einbruch, Diebstahl oder Hehlerei enthielten. Die Einweisung solcher Personen in frühe KZ sind für Dachau,157 Kislau,158 Oberer Kuhberg,159 Oranienburg160 und Vulkanwerft161 sowie für die sächsischen KZ Colditz, Hohnstein, Sachsenburg und Zwickau/Schloss Osterstein162 belegt. Wie noch zu zeigen sein wird, ist bei den Mehrfachstraftätern ähnlich wie bei den »Asozialen«, die im Frühjahr und Sommer 1933 in »Schutzhaft« gerieten, zu beobachten, dass häufig Kommunismus-Vorwürfe den offiziellen Haftgrund bildeten.163 Aber auch »Schutzhaftverhängungen«, die ausschließlich in der angeblichen »Gefährlichkeit« der Person begründet lagen, kamen bereits vor.164 Durchführung von Straftaten verwickelt waren, ist in der Forschung umstritten. Weitgehende Einigkeit herrscht wiederum darüber, dass die Vereine eine wichtige Soldidarstruktur bildeten. So übernahmen sie z. B. die Anwaltskosten, wenn eines ihrer Mitglieder unter Anklage stand, versorgten die Familien von Inhaftierten und organisierten für die Zeit nach der Entlassung eine Arbeitsstelle. Nach dem Machtantritt wurde die Infrastruktur der Vereine durch die anwachsende Repression zwar empfindlich geschwächt, entgegen den Behauptungen der Nationalsozialisten bestand aber an einigen Orten ein stark reduziertes, informelles Netzwerk fort. Vgl. Goeschel, Underworld; Hartmann u. Lampe, Underworld; Lieske, Opfer, S. 59–64; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 155–164. 156 Erlass PrMdI, 22.2.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 3, Dok 2. Vgl. ders., Asoziale (1995), S. 184 f.; Wachsmann, KL, S. 142; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 195–197; Weber, Berlin, S. 328. 157 Vgl. BayHStA München, MInn 73690, Verzeichnis Schutzhaftgefangene in Bayern, 1.8.1933; Rubner, Dachau, S. 67. 158 Vgl. GLA Karlsruhe, 521 Zug. 1982–48. 159 Für das KZ Heuberg, dessen Nachfolgelager das KZ Oberer Kuhberg war, werden »kriminelle« Häftlinge zwar erwähnt, es sind aber keine Fallbeispiele bekannt. Vgl. Kienle, Konzentrationslager (1998), S. 111 f. 160 Vgl. ITS-Arch Bad Arolsen, KL Oranienburg, Ordn. 1–Ordn. 31. 161 Vgl. Rudorff, Misshandlung, S. 42–46. 162 Vgl. Baganz, Erziehung, S. 145 f. 163 Als Beispiele vgl. BayHStA München, MInn 73690, Verzeichnis Schutzhaftgefangene in Bayern, 1.8.1933; GLA Karlsruhe, 521 Zug. 1982–48, Nr. 8417; ITS-Arch Bad Arolsen, KL Oranienburg, Ordn. 31, Akte K. L. 164 Als Beispiele vgl. BayHStA München, MInn 73690, Verzeichnis Schutzhaftgefangene in Bayern, 1.8.1933.
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Ein Schreiben des Badischen Innenministeriums weist darauf hin, dass in einigen Regionen die Polizeibehörden schon im Verlauf der Sommermonate 1933 dazu übergegangen waren, die »Schutzhaft« als Substitut für die seit Jahrzehnten geforderte »Sicherungsverwahrung« zu nutzen.165 Am 31. August 1933 richtete ein Beauftragter des badischen Innenministers folgende Anfrage an das Innenministerium des benachbarten – und wesentlich größeren und einflussreicheren – Landes Bayern: »Ich beabsichtige, mich dem Verfahren anderer Länder anzuschließen, rückfällige, gemeingefährliche Sittlichkeitsverbrecher, bei denen nach den Umständen und auf Grund ihrer Veranlagung ein Rückfall zu befürchten ist, nach der Entlassung aus der Strafhaft in Schutzhaft zu nehmen und in einem Arbeitshaus unterzubringen. Vor Weiterem wäre ich für baldgefällige Mitteilung darüber sehr verbunden, ob Sie eine ähnliche Maßnahme bereits getroffen oder in Aussicht genommen haben. Gegebenenfalls wäre ich für Mitteilung des Veranlassten dankbar.«166
In seiner Antwort vom 9. September 1933167 schilderte das Bayerische Innenministerium die Praxis der ihm unterstellten Behörden, »Sittlichkeitsverbrecher«, »soweit es sich […] um arbeitsscheue Personen über 18 Jahre handelt«,168 auf Grundlage des »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetzes« für eine Dauer von bis zu zwei Jahren in ein Arbeitshaus einzuweisen.169 Ob dies erst seit der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten geschah oder schon vorher praktiziert wurde, blieb in dem Schreiben offen. »In den letzten Monaten« hätten überdies aber eine Reihe von »Polizeibehörden […] Anlass genommen, rückfällige gemeingefährliche Verbrecher […] in Schutzhaft zu nehmen und in ein Konzentrationslager einzuschaffen«.170 »Eine allgemeine Anweisung hierüber« sei »jedoch nicht ergangen und derzeit auch nicht beabsichtigt«.171 Eine Bemerkung, die auf dem Schreiben notiert ist, verweist auf die rechtlichen und prak-
165 Bestätigt wird dies durch den Bericht von Wenzel Rubner, der 1933 fünf Monate im KZ Dachau inhaftiert war. Vgl. Rubner, Dachau, S. 67. Zum Einsatz der »Schutzhaft« als Mittel zur Korrektur und Ergänzung der Strafrechtspflege vgl. Gruchmann, Justiz, S. 583–632. 166 BayHStA München, MInn 72644, Schreiben BadMdI, 31.8.1933. 167 Dieses Schreiben ist in einer anderen Publikation versehentlich auf das Jahr 1934 datiert. Vgl. Hörath, Terrorinstrument, S. 523 Anm. 42. 168 BayHStA München, MInn 72644, Schreiben BayStMdI, 9.9.1933. 169 Art. 10 nannte als Anordnungsvoraussetzung neben dem »arbeitsscheuen« Verhalten ausdrücklich auch das Vorliegen einer Freiheitsstrafe aufgrund der Delikte »Päderastie, Kuppelei, Zuhälterei [und] Gewerbsunzucht«. Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz, GVBlFrstBay 1926, S. 360. 170 BayHStA München, MInn 72644, Schreiben BayStMdI, 9.9.1933. Eine »Schutzhaftliste« der BPP legt die Vermutung nahe, dass die Polizeidirektion Augsburg im Sommer 1933 besonders scharf gegen Mehrfachstraftäter vorging. Bei fünf der insgesamt sieben verzeichneten »Kriminellen« ging die Einweisung nach Dachau auf diese Polizeibehörde zurück. Vgl. ebd., MInn 73690, Verzeichnis Schutzhaftgefangene in Bayern, 1.8.1933. 171 Ebd., MInn 72644, Schreiben BayStMdI, 9.9.1933.
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tischen Probleme, mit denen eine systematische straftatunabhängige Arbeitshausunterbringung von »Sittlichkeitsverbrechern« konfrontiert gewesen wäre: »Eine allgemeine Weisung, dass Sittlichkeitsverbrecher in das Arbeitshaus einzuschaffen sind, würde nicht nur am Mangel einer Rechtsgrundlage, sondern an der tatsächlichen Unterbringungsmöglichkeit scheitern. Das Arbeitshaus Rebdorf ist schon bis an die Grenze seiner Aufnahmefähigkeit (600 Mann) belegt.«172
Man war sich also im Klaren, dass sich die Praxis, als Ersatz für die »Sicherungsverwahrung« »Schutzhaft« zu verhängen, jenseits der Legalitätsgrenze bewegte. Dennoch legt der Hinweis auf die Überfüllung Rebdorfs nahe, dass zumindest einige Polizeibehörden Bayerns systematisch eine solche »rechtsschöpferische« Auslegung der bestehenden Gesetze und Verordnungen betrieben. Nicht erst die Einweisungen im Zuge der »Bettlerrazzia« waren also die Ursache dafür, dass das bayerische Arbeitshaus im Herbst 1933 bis an seine Kapazitätsgrenze belegt war. Vielmehr scheinen die Schlafstätten und Arbeitssäle Rebdorfs aufgrund der »Sicherungsverwahrung« contra legem bereits weitgehend besetzt gewesen zu sein, als man Ende September/Anfang Oktober vor der Frage stand, wo man die im Zuge der Razzia verhafteten Bettler und Landstreicher unterbringen könnte. Ungeachtet derartiger Probleme war die kriminalpräventive Haftpraxis in den Augen ihrer Befürworter im Bayerischen Innenministerium durchaus erfolgreich. Im Rahmen der oben erörterten Auseinandersetzungen über die Gründe und Häufigkeit der »Schutzhaftverhängungen« in Bayern rechtfertigte das Innenministerium die KZ-Einweisung von Mehrfachstraftätern mit der angeblich verbrechensverhütenden Wirkung dieser Maßnahme: »Tatsache ist jedenfalls, dass die Inschutzhaftnahme von Personen wegen […] krimineller Delikte zweifellos wesentlichsten Anteil an dem Rückgang der Kriminalität in Bayern hat. Die Furcht vor Inschutzhaftnahme hält zahlreiche Gewohnheitsverbrecher, die gerade auf den Lücken der Rechtsmittel ihre Tätigkeit aufbauten, davon ab, ihren bisherigen Lebenswandel fortzusetzen.«173
Deutlich wird hier erneut die maßnahmenstaatliche Argumentation: Ausschlaggebend war für das Innenministerium die politische Zweckmäßigkeit des Vorgehens, die in diesem Falle getreu der polizeirechtlichen Logik in der Gefahrenabwehr durch die präventive Verhinderung von Straftaten gesehen wurde. Die rechtliche Zulässigkeit hingegen war zweitrangig. Mehr noch, die Stärke der Maßnahme lag dem zitierten Schreiben zufolge gerade darin, dass sie genau jene Gesetzeslücken schloss, welche die Delinquenten vordem geschickt auszunutzen vermochten. Im Umkehrschluss gelesen heißt das nichts anderes, als dass es sich um eine bewusst rechtswidrige Praxis handelte. Zwar waren diese Maßnahmen zu172 Ebd. 173 Ebd., StK 6299/1, Schreiben BayStMdI, 14.4.1934.
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nächst das Resultat des Handelns selbstermächtigter lokaler Akteure. Anknüpfend an die Diskurse und Reformvorhaben des Wilhelminischen Deutschlands und der Weimarer Republik nutzten diese den neuen Handlungsspielraum, um endlich das kriminalpräventive Potenzial zu erproben, das man der modernen Polizeiarbeit zuschrieb. Ihr Vorgehen war aber mehr als nur das Zufallsprodukt unsystematischer Haftpraxen einzelner bayerischer Behörden. Ihm lag eine kriminalpräventive Strategie zugrunde, die von den Entscheidungsträgern im Innenministerium, allen voran von Adolf Wagner und Heinrich Himmler, unterstützt wurde. Der Schriftwechsel mit dem Badischen Innenministerium belegt zudem, dass Bayern in seinen extra-legalen Maßnahmen der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« im Sommer 1933 zwar Vorbild für die kriminalpräventive Haftpraxis in anderen Regionen war. Es dokumentiert aber auch, dass es keineswegs die Rolle eines »Sonder«- oder »Ausnahmefalls« innehatte. Noch vor dem Jahreswechsel 1933/34 sollten zwei Regelungen zur präventiven Inhaftierung von Mehrfachstraftätern getroffen werden. Damit war ein erster wichtiger Schritt getan, um eine Rechtsgrundlage für die »vorbeugende Verbrechensbekämpfung« zu schaffen. Während das »Gesetz über gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung« vom 24. November 1933 ein justizielles Instrument der Kriminalprävention schuf, stellte der preußische Geheimerlass über die »Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft für Berufsverbrecher« vom 13. November 1933, hier abgekürzt als »Vorbeugungshafterlass«, das polizeirechtliche Pendant dazu dar. Zwar zählte die im »Gewohnheitsverbrechergesetz« kodifizierte »Sicherungsverwahrung« während der Vorkriegszeit nicht zu den Rechtsgrundlagen der KZ-Einweisung. Dennoch müssen beide Regularien im Zusammenhang betrachtet werden. Andernfalls würde die ihnen inhärente Arbeitsteilung zwischen Normen- und Maßnahmenstaat nicht verständlich. 3.2.1 Das »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung« vom 24. November 1933 Nachdem das Jahrzehnte währende Ringen um eine allgemeine Reform des Strafrechts bis zum Ende der Weimarer Republik erfolglos geblieben war, führte die hier als »Gewohnheitsverbrechergesetz« apostrophierte Gesetzesnovelle vom 24. November 1933 die sogenannten »Maßregeln der Sicherung und Besserung« in das deutsche Strafrecht ein.174 Insbesondere die damit vollzogene Kodifizierung der »Sicherungsverwahrung« hatte zuvor den Gegenstand zahlreicher Kontroversen gebildet. Unter Umgehung eines demokratischen Gesetz 174 Für einen Überblick vgl. Gruchmann, Justiz, S. 838–844; Müller, Gewohnheitsverbrechergesetz (1999); Terhorst, Überwachung, S. 61–72. Als umfassende Darstellung vgl. Müller, Gewohnheitsverbrechergesetz (1997).
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gebungsverfahrens und begrüßt von der regimekonformen Presseberichter stattung175 fügte die Novelle sie nun als § 42e in das RStGB ein.176 Weitere Maßregeln neben der »Sicherungsverwahrung« waren die Zwangsunterbringung in Heil- und Pflegeanstalten, Trinkerheilanstalten, Entziehungsanstalten und Arbeitshäusern, die Untersagung der Berufsausübung, die Reichsverweisung und die »Entmannung« »gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher«.177 Die in § 42d kodifizierte Arbeitshausunterbringung hob den alten § 362 RStGB, der die »korrektionelle Nachhaft« geregelt hatte, teilweise auf. Zielgruppe waren jene Personen, die man traditionell der »Asozialität« bezichtigte. Fortan konnten die Gerichte Angeklagte, die sie nach § 361 RStGB wegen Bettelei, Landstreicherei, Verwahrlosung, »Arbeitsscheu«, Obdachlosigkeit oder Prostitution verurteilt hatten, im Anschluss an die Strafhaft, ohne vorherige Überweisung an die Landespolizeibehörde, direkt in ein Arbeitshaus einweisen, sofern dies erforderlich erschien, um den Betroffenen »zur Arbeit anzuhalten und an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen«.178 Damit schloss man die Polizei formal aus der strafrechtlichen Zwangsunterbringung von »Asozialen« aus. Zudem hob § 42f RStGB die zeitliche Befristung der Arbeitshaushaft ab der zweiten Einweisung auf. Alle zwei Jahre musste jedoch gerichtlich geprüft werden, ob die Anordnungsvoraussetzungen fortbestanden.179 Bedingung für die Anordnung der »Sicherungsverwahrung« nach § 42e RStGB war, dass der Richter den Straftäter als »gefährlichen Gewohnheitsverbrecher« einstufte.180 Die äußerst vage gehaltenen Kriterien lieferte ein in den § 20 RStGB eingefügter Abschnitt 20a,181 der es den Gerichten unter bestimmten Bedingungen ermöglichte, bei der Verurteilung von Mehrfachstraftätern das Strafmaß zu verschärfen, vorausgesetzt eine »Gesamtwürdigung der Taten« ergab, dass es sich bei dem Täter um einen »gefährlichen Gewohnheitsverbrecher« handelte.182 Zwingend war die Strafverschärfung, wenn man den Täter bereits zwei Mal rechtskräftig zu mindestens sechsmonatigen Freiheitsstrafen verurteilt hatte und das Gericht ihn eines erneuten, mit Freiheitsstrafe geahndeten Verbrechens oder Vergehens für schuldig befand. Eine fakultative Strafverschärfung sah die Novelle für Täter vor, die mindestens dreier vorsätzlicher, noch nicht rechtskräftig abgeurteilter Straftaten bezichtigt wurden, ohne je175 Als Beispiele vgl. Großkampf gegen Gewohnheitsverbrecher, BadPr, 4.1.1934; Strafrechtsreform, ebd., 17.11.1933. Für eine Analyse der publizistischen Reaktionen und die Bewertung der Novelle durch die juristische und kriminologische Fachpresse vgl. Müller, Gewohnheitsverbrechergesetz (1997), S. 45–52. 176 Vgl. Gewohnheitsverbrechergesetz, RGBl 1933/I, S. 996. 177 Vgl. § 42a ebd. 178 § 42d ebd. Bei Bettelei war die Anordnung der Arbeitshaushaft nur dann möglich, »wenn der Täter aus Arbeitsscheu oder Liederlichkeit oder gewerbsmäßig gebettelt hat«. Ebd. 179 Vgl. ebd.; Gruchmann, Justiz, S. 841 f.; Terhorst, Überwachung, S. 62–65, 69 f. 180 Vgl. Gewohnheitsverbrechergesetz, RGBl 1933/I, S. 996. 181 Ebd., S. 995. 182 § 20a ebd.
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doch erheblich vorbestraft zu sein.183 Hatte das Gericht einen Täter nach § 20a RStGB als »gefährlichen Gewohnheitsverbrecher« eingestuft, konnte es unter der Voraussetzung, dass »die öffentliche Sicherheit es erfordert«,184 zusätzlich zur Strafhaft die »Sicherungsverwahrung« verhängen. Sie war zeitlich unbefristet, alle drei Jahre hatte das Strafvollstreckungsgericht aber eine Haftprüfung vorzunehmen.185 Das »Gewohnheitsverbrechergesetz« ermöglichte erstmals in der Geschichte der deutschen Rechtspflege eine der »Täterpersönlichkeit« angepasste, abgestufte Bestrafung.186 Mit den »Maßregeln der Sicherung und Besserung«, die dem »Gesellschaftsschutz«, der »Abschreckung« und »Besserung«187 dienen sollten, verankerte es zudem erstmals konkrete Strafzwecke im RStGB. Damit verstieß das »Gewohnheitsverbrechergesetz« fundamental gegen das klassisch-liberale Gebot der Zweckungebundenheit von Strafe, das als einzigen, abstrakten Strafzweck die Wiederherstellung der Norm mittels Sühne des vergangenen Unrechts zuließ. Welche grundsätzliche Problematik die Einführung konkreter Strafzwecke in das Recht mit sich bringt, verdeutlicht insbesondere das Ziel des »Gesellschaftsschutzes«, das unter den politisch-ideologischen Vorzeichen der NS»Volksgemeinschaft« zu nichts anderem diente, als die Linien sozialrassistischer Inklusion und Exklusion auch auf der Ebene des Rechts zu ziehen.188 Zwar war die Einstufung als »gefährlicher Gewohnheitsverbrecher« und damit die Anordnung der »Sicherungsverwahrung« an formale Kriterien wie die Anzahl und Art der Vorstrafen gebunden. Indem das »Gewohnheitsverbrechergesetz« sie aber in letzter Instanz der Abwägung der »Gefährlichkeit« nach »Gesamtwürdigung der Taten« durch den Richter anheimstellte, oblag sie de facto dessen subjektivem Ermessen. Das bildete ein gefährliches Einfallstor für richterliche Willkürakte, denn mit dem »gefährlichen Gewohnheitsverbrecher« hatte die Novelle ein kriminologisches Konstrukt zum Rechtsbegriff erhoben, das nicht dazu geeignet war, ein strafrechtlich geschütztes Rechtsgut zu normieren, son183 Sowohl bei der fakultativen als auch bei der obligatorischen Strafverschärfung gab es eine Klausel zur Rückfallverjährung. 184 Vgl. § 42e ebd., S. 996. 185 Vgl. § 42f ebd.; Terhorst, Überwachung, S. 65–68, 70 f. Zur Praxis der Haftprüfung und Entlassung vgl. Pasquale, Resozialisierung, S. 431–447. 186 Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 843; Pasquale, Resozialisierung, S. 136; Wachsmann, Prisons, S. 129. 187 Der Strafzweck »Erziehung« oder »Besserung« war jedoch unter Strafrechtlern und Praktikern des Strafvollzuges während der gesamten NS-Zeit umstritten. Während einige bis in den Krieg hinein am Konzept der »Besserung« festhielten, lehnten andere es von Beginn an grundsätzlich ab, weil sie die Mehrheit der Mehrfachstraftäter für »besserungsunfähig« und im rassenhygienischen Sinne für »minderwertig« hielten. Als Beispiele vgl. Einkreisung des Verbrechertums, BadPr, 6.12.1933; Sicherung des Rechtslebens, ebd., 3.8.1933; Verbrechen und Strafe, ebd., 28.11.1933; Wann Sicherungsverwahrung, ebd., 26.9.1935. 188 Vgl. Wachsmann, Prisons, S. 134.
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dern ursprünglich darauf abzielte, Straftäter im Hinblick auf die kriminogenen Faktoren ihrer Delinquenz zu klassifizieren.189 Entsprechend vage blieb die Definition des Begriffs. So war der amtlichen Begründung zum »Gewohnheitsverbrechergesetz« lediglich zu entnehmen, dass der »gefährliche Gewohnheitsverbrecher« negativ durch den Gegensatz zu den sogenannten »Zufalls- und Gelegenheitsverbrechern«190 bestimmt sei. Das Reichsgericht definierte ihn im April 1934 in einem Revisionsurteil als »Persönlichkeit, die infolge eines auf Grund charakterlicher Veranlagung bestehenden oder durch Übung erworbenen inneren Hanges wiederholt Rechtsbrüche begeht und zur Wiederholung von Rechtsbrüchen neigt«.191 Die Rückfallprognose bildete gleichzeitig das Kriterium für die »Gefährlichkeit« des »Gewohnheitsverbrechers«. Sie war laut einer Entscheidung des Reichsgerichts vom Juli 1938 dann gegeben, »wenn eine bestimmte Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass er auch in Zukunft weitere erhebliche Straftaten begehen wird«.192 Die Verwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe im »Gewohnheitsverbrechergesetz« war weder dem Zufall, noch dem Unvermögen seiner Autoren geschuldet. Vielmehr legt eine Bemerkung des Ministerialbeamten Werner Hoche aus dem Reichsinnenministerium, die in einem Zeitungsartikel der Badischen Presse überliefert ist, nahe, dass dahinter ein gezieltes Kalkül stand. Man wollte den Handlungs- und Ermessensspielraum der Richter bei der Aburteilung von Mehrfachstraftätern offenhalten, indem man sie von »formalen Beschränkungen befreit[e]«, um ein »rücksichtsloses Zupacken« zu ermöglichen.193 Der Artikel gab den Wortlaut der Äußerung des Ministerialrats Hoche folgendermaßen wieder: »Was die Bekämpfung der gefährlichen Gewohnheitsverbrecher anlange, so stelle die Feststellung, ob jemand ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, das Gericht vor eine verantwortungsvolle Aufgabe. Der Begriff sei gesetzlich nicht festgelegt, was nur zu begrüßen sei, da eine gesetzliche Definition nie so lückenlos sein könne, dass sie nicht gerade den abgefeimtesten Burschen eine Möglichkeit geben würde, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen.«194
Das »Gewohnheitsverbrechergesetz« trat zum 1. Januar 1934 in Kraft. Gemäß einer Übergangsvorschrift konnten die Gerichte, die »Sicherungsverwahrung« auch dann anordnen, wenn die abzuurteilende Tat vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begangen worden war. Mit dieser Regelung wollte man insbeson189 Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 731, 839–841. 190 Begründung Gewohnheitsverbrechergesetz, DRAuPrStA 1933, S. 2. Vgl. Begründung Gewohnheitsverbrechergesetz, 1. Forts., ebd., 1. Beil; Begründung Gewohnheitsverbrechergesetz, 2. Forts., ebd., 2. Beil. 191 Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen 1934, S. 155. Vgl. ebd. 1939, S. 295. 192 Ebd. 193 Großkampf gegen Gewohnheitsverbrecher, BadPr, 4.1.1934. 194 Ebd.
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dere jene »gefährlichen Gewohnheitsverbrecher« erfassen, deren Verurteilung im Januar 1934 unmittelbar bevorstand. Das sogenannte »nachträgliche Sicherungsverfahren« ermöglichte zudem unter bestimmten Voraussetzungen eine rückwirkende Anordnung der »Sicherungsverwahrung« gegen Personen, die gerade eine Freiheitsstrafe verbüßten. Die Leiter der Strafanstalten wurden aufgefordert, einsitzende »gefährliche Gewohnheitsverbrecher« dafür vorzuschlagen. Antragsteller war dann die Staatsanwaltschaft, die Entscheidung oblag dem zuständigen Gericht. Beide Übergangsregelungen bedeuteten einen gravierenden Verstoß gegen das rechtsstaatliche Prinzip nulla poena sine lege.195 Insgesamt wurde die »Sicherungsverwahrung« zwischen 1934 und 1943 in mindestens 15.829 Fällen verhängt. Eine Spitzenstellung nahm das Jahr 1934 ein, in dem die Gerichte die »Sicherungsverwahrung« von 3.723 Personen anordneten, darunter in 2.367 Fällen nachträglich.196 Vollstreckt wurde die »Sicherungsverwahrung« zunächst in den regulären Justizvollzugsanstalten.197 Im Mai 1940 erging eine Weisung Freislers, dass »Sicherungsverwahrte« für die restliche Dauer des Krieges nicht mehr zu entlassen seien. Vermutlich war dies eine Reaktion auf ein Rundschreiben des RKPA, das am 20. März 1940 erklärte hatte, aus der »Sicherungsverwahrung« entlassene Personen würden in »polizeiliche Vorbeugungshaft« genommen und in ein KZ gebracht.198 Ab September 1942 überstellte die Justiz zu »Sicherungsverwahrung« verurteilte »Gewohnheitsverbrecher« dann direkt in die KZ. Die Grundlage bildete eine Vereinbarung zwischen Reichsjustizminister Otto-Georg Thierack und Heinrich Himmler über die »Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit«.199 Im KZ erhielten die »Gewohnheitsverbrecher« ebenso wie die von der Kriminalpolizei als »Vorbeugungshäftlinge« eingelieferten »Berufsverbrecher« zur Kennzeichnung der Häftlingskategorie den »grünen Winkel«.200 195 Vgl. Pasquale, Resozialisierung, S. 137–139, 390–396; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 267; Terhorst, Überwachung, S. 71 f. 196 Für eine ausführliche Darstellung der Anordnungspraxis vgl. Müller, Gewohnheitsverbrechergesetz (1997), S. 53–66; Pasquale, Resozialisierung, S. 137–139. 197 Vgl. Wachsmann, Prisons, S. 132. 198 Durch diese Regelung wollte die Kriminalpolizei den hohen Personal- und Verwaltungsaufwand umgehen, den eine polizeiliche Überwachung entlassener »Sicherungsverwahrter« erfordert hätte. Ihre Internierung im KZ war unter den Bedingungen des Krieges einfacher und kostengünstiger. 199 Zit. nach Klausch, Vernichtung, S. 60. Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 745. Das Himmler-Thierack-Abkommen vom 18. September 1942 sah vor, dass ohne weitere Überprüfung der Einzelfälle alle Juden, »Zigeuner«, Russen und Ukrainer sowie alle polnischen Gefangenen ab drei Jahren Freiheitsstrafe und alle »Sicherungsverwahrten« an die Polizei zwecks Überstellung in ein KZ abgegeben wurden. Bis 1945 waren davon mehr als 20.000 Justizhäftlinge betroffen. Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 175 f.; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 268–271; Wachsmann, Prisons, S. 284–318, 378. 200 Vgl. Pasquale, Resozialisierung, S. 141, 447 f., 498–531; Rahe u. Seybold, Berufsverbrecher; Terhorst, Überwachung, S. 124; Wagner, Vernichtung.
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3.2.2 Die polizeiliche »Vorbeugungshaft« Im Gegensatz zur »Sicherungsverwahrung« als justiziellem Instrument war die »Vorbeugungshaft« ein polizeiliches Mittel der Kriminalprävention. Wie aus verschiedenen Quellen hervorgeht, die den Entstehungsprozess des »Gewohnheitsverbrechergesetzes« dokumentieren, wiesen einige Beteiligte schon frühzeitig auf eine gravierende »Lücke«201 im geplanten Gesetzeswerk hin: Da die »Sicherungsverwahrung« nur in Verbindung mit einem Gerichtsurteil angeordnet werden konnte, hatte sie zur Voraussetzung, dass ein Richter die als »gefährlicher Gewohnheitsverbrecher« angesehene Person in einem ordentlichen Verfahren schuldig sprach. Nicht erfasst wurden also jene in Freiheit befindlichen Delinquenten, die zwar über eine lange Vorstrafenliste verfügten und die polizeilich seit Jahren als »Verbrecher« bekannt waren, denen die Kriminalpolizei aber keine aktuelle Straftat gerichtsfest nachzuweisen vermochte. Angesichts dieser Problematik schlugen Mitarbeiter des Preußischen Justizministeriums in einer Denkschrift vor, die sie am 26. Oktober 1933 dem Ministerpräsidenten und Innenminister Hermann Göring überreichten, die angemahnte »Lücke« durch ein Landesgesetz zu schließen.202 Daraufhin nahm man in der amtlichen Begründung des »Gewohnheitsverbrechergesetzes« eigens einen Passus auf, der hervorhob, dass die neuen strafrechtlichen Maßnahmen gegen »Gewohnheitsverbrecher« einer Schaffung von Instrumenten zur kriminalpolizeilichen Gefahrenabwehr nicht entgegenstanden. »Polizeiliche Präventivmaßnahmen«, hieß es dort, »sind nicht ausgeschlossen, da das Strafgesetz derartige Maßnahmen nicht berührt«.203 Der preußische Geheimerlass über die »Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft für Berufsverbrecher«, den Ministerpräsident Göring am 13. November 1933, also noch vor der Verabschiedung des »Gewohnheitsverbrechergesetzes«, unterzeichnete, war ein solches Instrument kriminalpolizeilicher Gefahrenabwehr. Als entscheidendes Argument für das geplante, präventive Tätigwerden der Polizei hob das Preußische Innenministerium in der Einleitung des Schriftstückes den Schutz der »Volksgemeinschaft« vor den vom »Berufsverbrechertum« ausgehenden Gefahren hervor sowie die durch die strafrechtliche Verfolgung verursachten Kosten. Darin klang schon der für den Nationalsozialismus typische Polizeigedanke an, demzufolge die Polizei als Organ der rassischen Generalprävention dem allumfassenden Schutz der Gemeinschaft dienen sollte. 201 Legt man rechtsstaatliche Prinzipien zugrunde, handelte es sich selbstverständlich nicht um eine »Gesetzeslücke«, denn vorbestrafte Personen, die das »Gewohnheitsverbrechergesetz« nicht erfasste, hatten ihre Strafen verbüßt und galten bis zum Nachweis eines neuerlichen Rechtsbruchs als unschuldig. 202 Vgl. GStAPK, I. HA. Rep. 84a, Nr. 8203, Denkschrift Preußisches Ministerium der Justiz, 26.10.1933; ebd., Protokollvermerk auf Schreiben RMdJ, 21.9.1933; Polizeiliche Vorbeugungshaft, BadPr, 22.10.1935; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 199, 201; Terhorst, Überwachung, S. 71–75. 203 Begründung Gewohnheitsverbrechergesetz, DRAuPrStA 1933, S. 3.
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Unter Bezugnahme auf § 1 der Reichstagsbrandverordnung ermächtigte der Erlass die preußischen Landeskriminalpolizeistellen, Personen ohne zeitliche Befristung in »Vorbeugungshaft« zu nehmen,204 die in der Vergangenheit mindestens drei Mal aufgrund eines aus »Gewinnsucht« begangenen Verbrechens zu Freiheitsstrafen von mindestens einem halben Jahr Dauer verurteilt worden waren, wobei der zwischen den einzelnen Taten verstrichene Zeitraum fünf Jahre nicht überschreiten durfte. Haft- und Bewährungszeiten hemmten den Lauf der Frist. Als »Berufsverbrecher« im Sinne des Erlasses galten Personen, die der Kriminalpolizei als solche bekannt waren und die »ausschließlich oder zum größten Teil vom Erlös aus Straftaten«205 lebten. Die gleichen Voraussetzungen galten für die präventive Inhaftierung vorbestrafter »Sittlichkeitsverbrecher«.206 Des Weiteren sollte die Kriminalpolizei in Ausnahmefällen auch bis dahin unbescholtene Bürger inhaftiert können, sofern diese »einen auf Mord, Raub, Einbruchsdiebstahl oder Brandstiftung abzielenden verbrecherischen Willen«207 offenbarten. Die darauf hinweisenden Handlungen selbst brauchten die Voraussetzungen eines Straftatbestandes nicht zu erfüllen; es genügte, dass sie den Handelnden in den Augen der Kriminalpolizei als eine »Gefahr für die öffentliche Sicherheit«208 qualifizierten. Rechtsmittel gegen die »vorbeugende Polizeihaft« waren nicht vorgesehen. Die Ermächtigung der Polizei zum gerichtsunabhängigen unbefristeten Freiheitsentzug untergrub fundamentale rechtsstaatliche Prinzipien. Doch grenzte die erste Passage des Erlasses die Zielgruppe zumindest noch anhand klar 204 Schon zuvor war die preußische Polizei gemäß § 15 Abs. 1 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes vom 1. Oktober 1931 zwecks Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr zum kurzfristigen Freiheitsentzug berechtigt. Spätestens im Laufe des Tages nach der Verhaftung musste man die betroffene Person aber wieder entlassen. Diese Schutzbestimmung verlor die Wirkung, wenn durch die Erklärung des Ausnahmezustandes der Art. 5 der Preußischen Verfassung von 1850, der die Freiheit der Person gewährleistete, außer Kraft gesetzt wurde. Obwohl der polizeiliche Freiheitsentzug im Ausnahmezustand eine lange Tradition hatte, stellte der Rekurs des »Vorbeugungshafterlasses« auf die Reichstagsbrandverordnung einen Rechtsbruch dar: die präventive polizeiliche Inhaftierung von Mehrfachstraftätern war mit der »Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte« nicht zu rechtfertigen. Man löste das Problem ähnlich wie schon bei der Ausdehnung der »Schutzhaftgründe«, indem man der Präambel der Reichstagsbrandverordnung entweder nur eine Motivwirkung beimaß oder sie dahingehend interpretierte, dass sie sich gegen jedwedes staatsgefährdende Verhalten richte. Vgl. Parey, Maßnahmen, S. 55; Terhorst, Überwachung, S. 75–78. 205 GStAPK, I. HA. Rep. 84a, Nr. 8203, Geheimerlass PrMdI, 13.11.1933 [pr. Vorbeugungshafterlass]. 206 Am 16. Oktober 1935 weitete ein Folgeerlass die »Vorbeugungshaft« auf Personen aus, »die durch unzüchtige oder Sitte und Anstand verletzende Erzeugnisse die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden«. Terhorst, Überwachung, S. 94. 207 GStAPK, I. HA. Rep. 84a, Nr. 8203, Geheimerlass PrMdI, 13.11.1933 [pr. Vorbeugungshafterlass]. 208 Ebd. Im kriminalpolizeilichen Jargon nannte man die aufgrund dieser Bestimmung in »Vorbeugungshaft« genommenen Personen »Gemeingefährliche«.
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formulierter, überprüfbarer Anordnungsvoraussetzungen ein. Der letzte, dem Willensstrafrecht entlehnte Passus, der eine radikal straftatunabhängige Zwangs internierung von als »gefährlich« eingeschätzten Personen ermöglichte, stellte die Verhängung der »Vorbeugungshaft« dann aber vollständig in das willkürliche Ermessen der Kriminalpolizei.209 Die einzige effektive Schranke, mit der das Preußische Innenministerium die »Vorbeugungshaft« versah, war ihre quantitative Begrenzung mittels einer Quote. Insgesamt sollten in Preußen 165 »Berufsverbrecher« festgenommen werden dürfen, davon 30 von der Berliner Kriminalpolizei und je fünf von den übrigen 27 Landeskriminalpolizeistellen. Nachdem die Kriminalpolizei zwei Wochen nach Inkrafttreten des »Vorbeugungshafterlasses« bereits 155 angebliche »Berufsverbrecher« inhaftiert hatte,210 erhöhte ein Folgeerlass am 10. Februar 1934 die Quote auf 120 für Berlin und je 15 pro Landeskriminalpolizeistelle, insgesamt also auf 525 Verhaftungen in ganz Preußen. Im Gegensatz zum Herbst des Vorjahres schöpfte die Kriminalpolizei dieses neue Kontingent nicht gleich aus. Am 1. Juli 1934, drei Monate nach der Erhöhung der Quote, zählte man in Preußen 391 »Vorbeugungshäftlinge«. Am 31. Dezember 1935 waren es 492. Als Vollstreckungsort der »Vorbeugungshaft« nominierte das Preußische Innenministerium das KZ Lichtenburg. Ab Februar 1935 kamen die »Vorbeugungshäftlinge« in das KZ Esterwegen und nach dessen Auflösung im Jahre 1936 in das KZ Sachsenhausen.211 Der preußische Erlass vom 10. Februar 1934 erhöhte nicht nur die Verhaftungsquote, er definierte auch weitere Tatbestände, aufgrund derer die Kripo gegen »Gemeingefährliche« »Vorbeugungshaft« verhängen konnte und schuf Bestimmungen zur »Planmäßige[n] Überwachung der auf freiem Fuß befindlichen Berufsverbrecher«.212 Im Folgenden wird dieser Erlass als »Überwachungserlass« bezeichnet. Er ermächtigte die preußischen Landeskriminalpolizeistellen, »Berufs«- oder »gewohnheitsmäßigen Sittlichkeitsverbrechern« gewisse Auflagen zu machen. Im Falle einer Zuwiderhandlung drohte die »Vorbeugungshaft«. Mögliche Auflagen waren z. B. das Verbot nachts die Wohnung zu verlassen oder unter Chiffre zu inserieren.213 Sie zielten darauf, den Betroffenen das Ausüben bestimmter krimineller Delikte unmöglich zu machen. So 209 Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 720; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 199; Terhorst, Überwachung, S. 76–81. 210 Laut Kurt Daluege waren die ersten 134 Mehrfachstraftäter innerhalb von 24 Stunden nach Unterzeichnung des »Vorbeugungshafterlasses« dingfest gemacht worden. Vgl. Daluege, Kampf, S. 39. 211 Vgl. Langhammer, Verhaftungsaktion, S. 56–58; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 198–200, 204; Terhorst, Überwachung, S. 72–81, 97–99. 212 GStAPK, I. HA. Rep. 84a, Nr. 8203, Erlass PrMdI, 10.2.1934 [Erlass planmässige Überwachung]. 213 Mit diesen Überwachungskompetenzen trat die preußische Kriminalpolizei in direkte Konkurrenz zu den Sicherungsmitteln der §§ 38 und 39 RStGB, die es den Richtern ermöglichten, bei bestimmten Delikten auf die Zulässigkeit von Polizeiaufsicht zu erkennen. Vgl. Terhorst, Überwachung, S. 92 f.
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sollte die Verpflichtung, nachts in der Wohnung zu bleiben, Einbrechern das Handwerk legen. Durch das Verbot Inserate aufzugeben, hoffte man, Heiratsschwindlern und Betrügern die Grundlage ihres Tätigwerdens zu entziehen. Die Anordnungsvoraussetzungen waren denen der »Vorbeugungshaft« ähnlich. Als einziges Rechtsmittel sah der Erlass eine Beschwerde auf dem Dienstaufsichtsweg vor, über die in letzter Instanz das Preußische Innenministerium entschied. Die genaue Durchführung der »planmäßigen Überwachung« regelte am 3. März 1934 eine Richtlinie des preußischen Landeskriminalpolizeiamtes.214 Die »planmäßige Überwachung« ging ihrer Konzeption nach von der »Besserungsfähigkeit« der »Berufsverbrecher« aus und sollte es ihnen ermöglichen, sich in Freiheit zu »bewähren«. Sie war daher der »Vorbeugungshaft« vorgelagert.215 In der Regel verhängte man sie aber auch nach der KZ-Entlassung, um deren »Besserungserfolg« zu überprüfen. Daher schrieb der Erlass ausdrücklich vor, dass die »planmäßige Überwachung« die Aufnahme geregelter Arbeit bzw. bestehende Arbeitsverhältnisse nicht beeinträchtigen durfte. Das preußische LKPA nannte Anfang März 1934 sogar ausdrücklich als Zweck der Maßnahmen, »das Verbrechertum vom Verbrechen abzudrängen und zur Arbeit zu zwingen«.216 Am 8. März 1934 setzte das preußische LKPA die übrigen Länder über seine Bestimmungen zur »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« in Kenntnis und forderte sie auf, über etwaige landeseigene Vorschriften Bericht zu erstatten. Die Reaktionen waren unterschiedlich: Während sich einige Länder eifrig an die Formulierung analoger Erlasse machten, handelten andere erst nachdem am 17. Dezember 1934 das Reichs- und Preußische Ministerium des Innern den Ländern ein Ultimatum stellte, indem es als Rücksendefrist für die Berichterstattung den 1. Juli 1935 festlegte.217 Während der »Vorbeugungshafterlass« des Landes Baden auf den 9. März,218 der Braunschweigs auf den 2. Juni219 und der Anhalts auf den 19. November 1934220 datiert, trafen Thüringen221 und Bayern222 erst am 16. bzw. 19. Januar 214 Vgl. GStAPK, I. HA. Rep. 84a, Nr. 8203, Erlass PrMdI, 10.2.1934 [Erlass planmässige Überwachung]; Terhorst, Überwachung, S. 88–92; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 202 f. 215 In der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre änderte die Polizeiführung diese Strategie. Um das aufwendige Überwachungsverfahren zu vermeiden, nahm sie »Berufsverbrecher« vermehrt direkt in »Vorbeugungshaft«. 216 Zit. nach Terhorst, Überwachung, S. 92. Vgl. Daluege, Kampf, S. 88. 217 Vgl. Terhorst, Überwachung, S. 102 f. 218 Vgl. GLA Karlsruhe, 233, Nr. 25984, Schreiben BadMdI, 9.3.1934 [Vorbeugungshafterlass]. Im Badischen Gesetz- und Verordnungsblatt wurde der Erlass nicht veröffentlicht. 219 Vgl. Terhorst, Überwachung, S. 103–105. 220 Vgl. ebd., S. 103 Anm. 287. 221 Vgl. ThRdErl Bekämpfung Verbrechertum [erster thür. Vorbeugungshafterlass], BMstP 1935, S. 9–12. 222 Vgl. BayHStA München, MInn 71597, Erlass BayStMdI, 19.1.1935 [Vorbeugungshafterlass]. Für ein weiteres Exemplar des Erlasses vgl. BayStA München, Poldir Mü/Sachakten II, 7434, Erlass BayStMdI, 19.1.1935 [Vorbeugungshafterlass]. Im Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Bayern wurde der Erlass nicht veröffentlicht.
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1935, also nach der ultimativen Aufforderung durch die Zentralbehörde, entsprechende Vorkehrungen.223 Die Regierung des Freistaats Oldenburg blieb sogar bis April 1936 weitgehend untätig. Und auch dann erklärte sie lediglich, von der Schaffung eigener Regelungen zur Kriminalprävention absehen zu wollen, da es im Lande Oldenburg keine »Berufsverbrecher« gebe. Die Landesregierung beschränkte sich darauf, die untergeordneten Behörden von dem preußischen »Vorbeugungshafterlass« in Kenntnis zu setzen, wobei es sie wissen ließ, dass im Einzelfall eine Verhängung der »Vorbeugungshaft« beantragt werden könne. Bislang liegen der historischen Forschung noch nicht alle Ländererlasse zur »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« vor.224 Einer Äußerung Kurt Dalueges zufolge hatten im Herbst 1935 aber die meisten Länder die preußischen Bestimmungen über die polizeilichen Präventivmaßnahmen übernommen.225 Unabhängig von einzelnen, ähnlich zögerlichen Reaktionen wie die der Regierung Oldenburgs ist diese Aussage Dalueges vermutlich zutreffend. Die »Vorbeugungshafterlasse« Bayerns,226 Braunschweigs und Thüringens lehnten sich in ihrem Wortlaut tatsächlich eng an das preußische Vorbild an, wobei Bayern mit 65 Personen eine verhältnismäßig geringe Verhaftungsquote festlegte, während die anderen beiden Länder diesbezüglich gar keine Angaben machten. Vollstreckt wurde die »Vorbeugungshaft« in Bayern bei Männern im KZ Dachau, bei Frauen im Zuchthaus Aichach.227 Spätestens ab den reichsweiten Massenverhaftungen im März 1937 kamen bayerische »Berufsverbrecherinnen« vermutlich in das Frauen-KZ Moringen.228 Im KZ Dachau befanden sich im April 1935, drei Monate nach Einführung der »Vorbeugungshaft«, insgesamt 20 »Berufsverbrecher«. Ein Jahr später waren es 38 Häftlinge.229 Angesichts dieser im Vergleich zu Preußen geringen Anzahl ist daran
223 Die meisten, aber nicht alle Ländererlasse umfassten neben Bestimmungen zur »Vorbeugungshaft« auch solche zur »planmäßigen Überwachung«. Da hier die »Vorbeugungshaft« im Mittelpunkt des Interesses steht, werden die Ländererlasse vereinfachend als »Vorbeugungshafterlasse« bezeichnet. 224 Zu Bayern, Braunschweig und Oldenburg vgl. Terhorst, Überwachung, S. 103–109. Ferner erwähnt Terhorst kurz die »Vorbeugungshafterlasse« Hamburgs und Bremens. 225 Vgl. Parey, Maßnahmen, S. 55; Polizeiliche Vorbeugungshaft, BadPr, 22.10.1935. 226 In Bayern hatte die Polizei zwecks Verhütung von Straftaten schon vor 1933 ein Festnahmerecht, dass sich nicht auf eine konkrete gesetzliche Grundlage stützte, sondern sich aus ihrer Aufgabenbeschreibung, nämlich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung zu dienen, ableitete. Allerdings war dieses präventive Festnahmerecht angesichts des Verstoßes gegen den Gesetzmäßigkeitsgrundsatz umstritten. Vgl. Terhorst, Überwachung, S. 105 f. 227 Vgl. BayStA München, Poldir Mü/Sachakten II, 7434, Schreiben BayStMdI, 8.2.1936; Langhammer, Verhaftungsaktion, S. 59. 228 Darauf lassen zwei Insassinnenakten des Frauen-KZ Moringen schließen. Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 266, Nr. 308. 229 Vgl. BayHStA München, StK 6300, Schreiben BPP, 1.4.1935; ebd., Schreiben BPP, 1.4.1936.
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zu erinnern, dass die bayerischen Behörden schon seit 1933 mit der Verhängung von »Schutzhaft« gegen »rückfällige gemeingefährliche Verbrecher«230 vorgingen. Interessante Sonderfälle stellen der badische »Vorbeugungshafterlass« sowie die Zusatzbestimmungen zur Kriminalprävention dar, die das Thüringische Innenministerium ab Februar 1935 herausgab. Verglichen mit der preußischen, der anhaltinischen und der Braunschweiger Verordnung über die »vorbeugende Polizeihaft und planmäßige Überwachung des Verbrechertums«231 sticht die badische Anordnung vom 9. März 1934 dadurch hervor, dass in ihr weder die Begriffe »Vorbeugungshaft« oder »vorbeugende Verbrechensbekämpfung« Verwendung finden, noch von »Berufsverbrechern« die Rede ist. Sämtliches einschlägige Vokabular aus den Diskursen der Kriminologie und Strafrechtspflege sucht man in dem Dokument mit dem nüchternen Betreff »Unterbringung im Arbeitshaus«232 vergeblich – ganz zu schweigen von Ausdrücken wie »Konzentrations«- oder »Schutzhaftlager«. Der Zeitpunkt, zu dem die Anordnung erging, sowie eine Kontextualisierung anhand anderer Quellen233 machen aber zweifelsfrei deutlich, dass es sich bei dem Dokument um den badischen Erlass zur Einführung der »Vorbeugungshaft« handelt. Doch statt »Berufsverbrecher« visierte das Badische Innenministerium »asoziale und arbeitsscheue Personen«234 als Zielgruppe der Zwangsunterbringung an. Eine Definition, welcher Personenkreis darunter zu verstehen sei, blieb es ebenso schuldig, wie die Festsetzung einer Verhaftungshöchstgrenze oder objektiver Verhaftungskriterien. Lediglich die Anordnungsvoraussetzung spezifizierte die Zielgruppe etwas näher: Es musste sich um Personen handeln, »die eine Gefahr für ihre Umwelt«235 darstellten. Zweckbestimmung des badischen »Vorbeugungshafterlasses« war unter Rückgriff auf den § 1 der Reichstagsbrandverordnung die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Doch sollte die Anordnung nur dann erfolgen, »wenn die Möglichkeit einer richterlichen Einweisung in das Arbeitshaus aufgrund des […] Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 nicht gegeben ist«.236 Darin folgte der badische Erlass also genau jener Argumentation, mit der das Preußische Justizministerium Ende Oktober 1933 die Einführung von Maßnahmen zur »vorbeu-
230 Ebd., MInn 72644, Schreiben BayStMdI, 9.9.1933. Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 722; Langhammer, Verhaftungsaktion, S. 59. 231 So lauteten die Titel der entsprechenden Dokumente Anhalts und Braunschweigs. Vgl. Terhorst, Überwachung, S. 103. 232 GLA Karlsruhe, 233, Nr. 25984, Schreiben BadMdI, 9.3.1934 [Vorbeugungshafterlass]. 233 Als Beispiele vgl. ebd., Schreiben BadMdI, 4.5.1934; Drei Jahre Landeskriminalpolizeiamt, BadPr, 1.9.1936. 234 GLA Karlsruhe, 233, Nr. 25984, Schreiben BadMdI, 9.3.1934 [Vorbeugungshafterlass]. 235 Ebd. 236 Ebd.
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genden Verbrechensbekämpfung« vorgeschlagen hatte. Das Recht der Antragstellung legte der badische Erlass in die Hände der Bezirksämter. Angeordnet wurde die »Vorbeugungshaft« vom LKPA Karlsruhe. Auch die badische Variante der »Vorbeugungshaft« war zeitlich unbefristet, allerdings sah der Erlass als Turnus für die Haftprüfung lediglich sechs Monate und nicht wie die preußischen Bestimmungen drei Jahre vor. Der ausdrückliche Bezug zur Reichstagsbrandverordnung kennzeichnete die badische Verfügung vom 9. März 1934 wie alle anderen Ländererlasse zur »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« als Instrument maßnahmenstaatlicher Gefahrenabwehr im Ausnahmezustand. Die straftatunabhängige Anordnung, der Verzicht auf eine richterliche Entscheidung und die unbefristete Dauer der Zwangsunterbringung verletzten wesentliche Habeas-Corpus-Rechte. Daher hatte der auf ihrer Basis verhängte Freiheitsentzug, obgleich als Vollstreckungsort mit dem Arbeitshaus Kislau eine legale Einrichtung angegeben war, von Beginn an extra-legalen Charakter. Zwar ist die Zuordnung der »Vorbeugungshäftlinge« zum KZ bzw. Arbeitshaus für die ersten zwei Jahre nach Inkrafttreten des Erlasses nicht eindeutig zu eruieren, für die Zeit ab Sommer 1936 bis zur Schließung des Lagers Kislau kann deren Unterbringung im KZ aber zweifelsfrei belegt werden.237 In der Praxis erwies sich der badische »Vorbeugungshafterlass« aufgrund der vage gehaltenen Bestimmungen als sehr flexibel. So brachten die badischen Behörden auf seiner Grundlage sowohl »Asoziale« als auch »Berufsverbrecher« nach Kislau. In einer Presseerklärung, die Paul Werner,238 Leiter des badischen LKPA in Karlsruhe, im September 1936 anlässlich des dreijährigen Bestehens seiner Behörde abgab, beschrieb der badische Kripo-Chef die »polizeiliche Vorbeugungshaft« als Instrument zur präventiven Internierung von »verbrecherische[n] asoziale[n] Elemente[n], die eine Gefahr für ihre Umwelt bedeuten« und nannte neben Mehrfachstraftätern ausdrücklich auch »asoziale Personen (Trinker, Arbeitsscheue und dergl[eichen])« als Zielgruppe.239 In Fällen »asozialen« Verhaltens nutzten die Behörden die »Vorbeugungshaft« gezielt als Mittel der KZ-Einweisung, wenn § 20 RFV nicht angewendet werden konnte, weil die »asoziale« Person weder selbst im Fürsorgebezug stand noch einen Angehörigen der Wohlfahrtsunterstützung anheim fallen ließ. Um solche Fälle zu kennzeichnen, war das badische LKPA gehalten, auf den Einweisungsbeschlüssen zu notieren, ob die »Bewahrung« aus »fürsorgerischen Gründen« erfolgte.240 237 Vgl. GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Bewahrungslager Kislau/RdErl BadMdJ, 4.8.1936; ebd., Tätigkeitsbericht Bewahrungslager 1936; RdErl Aufhebung Bewahrungslager, MinBlBadIV 1939, 120 f.; RdErl Bewahrungslager, ebd. 1936, S. 675. 238 Für biografische Anmerkungen zu Paul Werner vgl. Anhang. 239 Drei Jahre Landeskriminalpolizeiamt, BadPr, 1.9.1936. 240 RdErl Bewahrungskosten (8.4.1937), MinBlBadIV 1937/A, S. 394–396. Vgl. RdErl Bewahrungskosten (4.3.1938), ebd. 1938, S. 263.
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Paul Werner zufolge kam die »Vorbeugungshaft« schon 1934, im Jahr ihrer Einführung, in 98 Fällen zur Anwendung. Im folgenden Jahr nahm die badische Kripo weitere 68 Personen in Haft. 1936 waren schon vor dem 1. September 60 »Vorbeugungshaftfälle« aktenkundig. Allerdings scheint das LKPA Karlsruhe nicht alle Haftanträge bestätigt bzw. die Verhafteten nach Kislau eingeliefert zu haben. So stehen den 60 »Vorbeugungshaftfällen«, die Werner für das Jahr 1936 angibt, der Zugang von nur 51 »Vorbeugungshäftlingen« im KZ Kislau gegenüber.241 Diese Aufstellung ergibt, dass das badische LKPA noch vor der Massenverhaftungsaktion gegen »Berufsverbrecher« im März 1937 in mindestens 226 Fällen »Vorbeugungshaft« verhängt hatte. Eine ähnliche Ausweitung der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« auf Personengruppen, die nicht dem Profil des »Berufsverbrechers« im engeren Sinne entsprachen, erfolgte in Thüringen. Dort erließ das von NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel geleitete Innenministerium Mitte Februar 1935, das heißt nur einen Monat nachdem es den preußischen »Vorbeugungshafterlass« übernommen hatte, eine Zusatzbestimmung, welche die »planmäßige polizeiliche Überwachung« auf »gewerbs- und gewohnheitsmäßige Wilderer«242 ausdehnte. Fort an konnte die Polizei Personen, die ihr als Wilderer bekannt waren, u. a. die Auflage machen, den Wald nicht zu betreten oder nur bestimmte Straßen zu benutzen. Diese Anpassung des kriminalpräventiven Maßnahmenkatalogs an eine in ländlichen Regionen typische und häufig vorkommende Form der Kriminalität steht beispielhaft für einen Mechanismus, der bei der Verfolgung von Devianz und Delinquenz in den ersten Jahren des NS-Regimes oft zu beobachten ist: Die regionalspezifische Adaption zentraler Vorgaben. Keine vier Monate später, am 20. Juli 1935,243 dehnte das Thüringische Innenministerium die »Vorbeugungshaft« durch eine weitere Zusatzbestimmung auf weibliche »asoziale Personen«244 aus. Zielgruppe des Erlasses waren Frauen, die sich zwecks Behandlung einer Geschlechtskrankheit in der Landesheilanstalt Stadtroda befanden. Ihnen unterstellte man pauschal, sich als Prostitu241 Vgl. GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Tätigkeitsbericht Bewahrungslager 1936; Drei Jahre Landeskriminalpolizeiamt, BadPr, 1.9.1936. Zusammen mit den 97 Personen, die 1936 aufgrund des § 20 RFV in Kislau einsaßen, überstieg die Zahl der »asozialen« und »kriminellen« KZ-Häftlingen mit insgesamt 148 Personen die 83 Einweisungen von politischen Häftlingen bereits um fast das Doppelte. Vgl. GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Tätigkeitsbericht Bewahrungslager 1936. 242 Bekämpfung Verbrechertum [zweiter thür. Vorbeugungshafterlass], BMstP 1935, S. 30. 243 Eine Dissertation über das thüringische Vorgehen gegen »asoziale« Geschlechtskranke aus dem Jahre 1937 datiert den einschlägigen Erlass abweichend auf den 21. Juni 1935. Ein ungekennzeichnetes Zitat legt die Vermutung nahe, dass dem Verfasser, Günter Brumm, ein internes Dokument vorlag. Aus dem Zitat gehen Informationen über die möglichen Rechtsmittel im Falle einer Verhängung der »Vorbeugungshaft« hervor, die der veröffentlichte Erlass des Thüringischen Innenministeriums nicht enthält. Vgl. Brumm, Maßnahmen, S. 7. 244 ThRdErl Vorbeugungshaft [dritter thür. Vorbeugungshafterlass], BMstP 1935, S. 127.
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ierte zu betätigen oder zumindest einem »unmoralischen Lebenswandel«245 zu frönen. Als »asozial« galten sie, »weil sie mit den für sie fortgesetzt notwendigen Behandlungskosten die Allgemeinheit nicht nur finanziell stark belasten, sondern auch […] ihren Mitmenschen einen unsagbaren gesundheitlichen Schaden zufügen«.246 Objektiv nachprüfbare Anordnungsvoraussetzungen für die »Vorbeugungshaft« kodifizierte die thüringische Zusatzbestimmung nicht. Vielmehr machten sie ihre Verhängung davon abhängig, wie das Anstaltspersonal in Stadtroda die Persönlichkeit der Patientin einschätzte und wie es deren Sozialprognose beurteilte. Bestand aufgrund der »seelischen Veranlagung« und der »Vergangenheit« einer Patientin der »begründete Verdacht […], dass sie nach der Entlassung aus der Heilbehandlung ihr früheres Dirnenleben oder ihren sonstigen unmoralischen Lebenswandel wieder aufnehmen und durch ihr Beispiel auf die allgemeine Moralauffassung der Bevölkerung zersetzend einwirken«247
würde, konnte der Leiter der Landesheilanstalt Stadtroda, Obermedizinalrat Boening, im Einvernehmen mit dem Direktor der Universitätshautklinik Jena, Professor Hämel, die »Vorbeugungshaft« bei der thüringischen Landeskriminalpolizeistelle beantragen. Diese musste wiederum eine Bestätigung des Innenministeriums einholen. Derselbe Verfahrensweg galt im Falle der Entlassung. Als Rechtsmittel stand den Betroffenen lediglich die Aufsichtsbeschwerde zur Verfügung.248 Ganz im Sinne der polizeirechtlichen Logik diente die Ausdehnung der »Vorbeugungshaft« auf »asoziale« Frauen der Gefahrenabwehr. Allerdings war das Schutzobjekt nicht wie im Ausnahmezustand üblich die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Ebenso wenig handelte es sich ausschließlich um eine Form der Ansteckungsprävention, die eine gesundheitliche Gefährdung der Bevölkerung abwenden sollte. Vielmehr galt es, die »Moralauffassung« der »Volksgemeinschaft«, die das Thüringische Innenministerium durch die Patientinnen in Stadtroda gefährdet sah, durch das maßnahmenstaatliche Vorgehen zu schützen. So sah der Erlass ausdrücklich vor, dass für die Anordnung der »Vorbeugungshaft« »in jedem Einzelfall ein von der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten völlig losgelöster polizeilicher Tatbestand vorliegen«249 musste. Vollstreckt werden sollte die »Vorbeugungshaft« für Frauen in der bereits am 15. Oktober 1934 eingerichteten »asozialen Abteilung für Geschlechts245 Ebd. Die Zwangsunterbringung zielte in erster Linie auf Prostituierte, bezog sich aber auch auf »weibliche Personen, die aus einer gewissen Veranlagung heraus einen dauernd wechselnden Geschlechtsverkehr ausüben, ohne daraus ein Gewerbe zu machen« und die aufgrund mangelnder »Krankheitseinsicht« die Gesundheit ihrer Mitmenschen gefährdeten. Brumm, Maßnahmen, S. 6 f. 246 Ebd., S. 7. 247 ThRdErl Vorbeugungshaft [dritter thür. Vorbeugungshafterlass], BMstP 1935, S. 127. 248 Vgl. Brumm, Maßnahmen, S. 7, 9. 249 ThRdErl Vorbeugungshaft [dritter thür. Vorbeugungshafterlass], BMstP 1935, S. 127.
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kranke [sic]«250 der Landesheilanstalt Stadtroda.251 Ab Juni 1936 konnten die dort internierten Frauen aufgrund eines Sonderabkommens in das preußische Frauen-KZ Moringen überstellt werden. Unter den überlieferten Insassinnenakten des KZ Moringen lassen sich sechs Fälle weiblicher »Vorbeugungshäftlinge« aus Thüringen nachweisen, deren Einlieferung auf diesem Abkommen beruhte.252 Mit der Einbeziehung von »Asozialen« in die »vorbeugende Verbrechensbekämpfung« schufen Baden und Thüringen bereits 1934/35 eine organisatorische und argumentative Verbindung im Kampf gegen Devianz und Delinquenz, lange bevor sie der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« im Dezember 1937 zum reichsweiten Standard erheben sollte. Einer derjenigen Akteure, die maßgeblich für die Ausarbeitung des »Grunderlasses« verantwortlich zeichneten, war Paul Werner. Als Leiter des badischen LKPA war Werner bis Ende 1937 letztinstanzlich zuständig für die Anordnung der »Vorbeugungshaft« in Baden. Er hatte also ab März 1934 Erfahrungen mit einem »Vorbeugungshafterlass« sammeln können, der es aufgrund der vagen Zielgruppenbestimmung erlaubte, nicht nur gegen Mehrfachstraftäter vorzugehen, sondern auch gegen all jene Personen, deren »asoziales« oder »arbeitsscheues« Verhalten in den Augen der Behörden »eine Gefahr für ihre Umwelt«253 darstellte. Berücksichtigt man die Ländererlasse zur »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« aus den Jahren 1933 bis 1935 als Vorläufer des »Grunderlasses« vom Dezember 1937 und bedenkt die personelle Kontinuität in Gestalt Paul Werners, so erhält die These, im »Grunderlass« sei der Begriff »Asozialität« bewusst nicht eindeutig definiert worden, weil man auf diese Weise eine höchst mögliche Flexibilität bei der Anwendung der »Vorbeugungshaft« garantieren wollte,254 eine ganz neue, rechtshistorische Begründung. Die generalklauselartige Formulierung des »Grunderlasses« lautete, in »Vorbeugungshaft« könne auch genommen werden, »wer ohne Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher zu 250 Ebd. Untergebracht war die Abteilung in einem eigenen Gebäude auf dem Gelände der Landesheilanstalt. Die »ärztliche Überwachung, psychiatrische Beurteilung und organisatorische Leitung« oblag dem Direktor der Landesheilanstalten, Obermedizinalrat Boening. Brumm, Maßnahmen, S. 8. Das Aufsichtspersonal bestand aus einer Fürsorgerin und einigen Pflegerinnen, denen ein ehemaliger Gefängniswachtmeister vorgesetzt war. Die Unterbringung der Frauen erfolgte in Schlafsälen mit mehreren Betten, es gab eine Nähstube, ein Behandlungszimmer, einen Baderaum und ein Strafzimmer. Der Alltag unterlag einem strengen Reglement. Beschäftigt wurden die Frauen mit den im Anstaltsbetrieb erforderlichen hauswirtschaftlichen Arbeiten. 251 Bei Errichtung der Sonderabteilung waren dort zunächst sieben Patientinnen zwangsuntergebracht. Schon im Verlauf des ersten Jahres ihres Bestehens stieg die Zahl der Insassinnen auf 74. Diese Angabe bezieht sich allerdings nicht ausschließlich auf die »Vorbeugungshäftlinge«, sondern auf die Gesamtinsassinnenzahl. Vgl. ebd., S. 10. 252 Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 85, Schreiben Reichsstatthalter Thüringen, 14.8.1937. 253 GLA Karlsruhe, 233, Nr. 25984, Schreiben BadMdI, 9.3.1934 [Vorbeugungshafterlass]. 254 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 219; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 262 f.
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sein, durch sein asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdet«.255 Sehr ähnlich lauteten die Anordnungsvoraussetzungen der Ländererlasse Badens und Thüringens, die bereits seit März 1934 bzw. Juli 1935 die Verhängung von »Vorbeugungshaft« gegen »Asoziale« ermöglicht hatten.
3.3 Kontinuität oder Bruch? Anknüpfungspunkte der unbefristeten Inhaftierung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« aus der Zeit vor 1933 und nationalsozialistische Spezifika Vergleicht man die rechtlichen Grundlagen der sozialrassistischen und kriminalpräventiven KZ-Einweisungen in den frühen 1930er-Jahren, also während der Phase des praktischen Experimentierens, mit den Diskursen und Gesetzesvorhaben der Phase des konzeptionellen Experimentierens zwischen 1880 und 1933, treten deutliche Kontinuitäten hervor: Sowohl die autoritär-repressiven Bestimmungen des Fürsorgerechts in der Spätphase der Weimarer Republik als auch die Debatten über die Strafrechtsreform und das »Bewahrungsgesetz« lieferten wichtige inhaltliche, organisatorische und legitimatorische Anknüpfungspunkte. So war das »Gewohnheitsverbrechergesetz« vom November 1933 im Grunde ein »Schubladengesetz«. Unter Umgehung eines demokratischen Gesetzge bungsverfahrens setzte es das um, was Reichsrat, Reichstag und Strafrechtskommissionen während der Weimarer Republik als »Maßregeln der Besserung und Sicherung« diskutiert hatten. Der »Vorbeugungshafterlass« bildete das polizeirechtliche Pendant dazu. Er folgte einer Argumentation, die im Gesetzgebungsverfahren der Weimarer Zeit für erhebliche Konflikte gesorgt hatte. Im Jahr 1927, während der Beratungen des Reichsrats, hatte das Land Preußen unter Berufung auf seine Verwaltungstradition vorübergehend durchsetzen können, dass die Anordnung und der Vollzug der »Maßregeln der Besserung und Sicherung« nicht wie ursprünglich geplant der Judikative, sondern der Exekutive überlassen werden sollte. Erst der Strafrechtsausschuss des Reichstages machte dies aus rechtsstaatlichen Erwägungen wieder rückgängig, bevor das gesamte Projekt einer Strafrechtsreform im Strudel der untergehenden Republik scheiterte.256 Angesichts der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen am Ende der krisengeschüttelten Weimarer Republik radikalisierten sich die Forderungen der Verantwortlichen aus der Strafrechts- und Wohlfahrtspflege und ließen sie auf eine praktische Umsetzung der repressiv-autoritären Konzepte drängen. Steigende Kriminalitätsraten, öffentlicher Druck sowie Frustration 255 »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung«, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 96, Dok 50. 256 Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 731; Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 192 f., 198–205.
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und Ohnmachtsgefühle machten weite Teile des Polizeiapparates wie auch der Richterschaft empfänglich für Gesetzesverschärfungen, die ein härteres Durchgreifen gegen das »Verbrechertum« ermöglichten. Rechtsstaatliche Erwägungen traten dabei schon vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten in den Hintergrund. Ähnlich gestalteten sich die Verhältnisse im Fürsorgewesen. Krisenbedingte Massenarbeitslosigkeit, ein Heer vagabundierender Armer, drastische Kürzungen im Budget der Kommunen und chaotische Zustände auf den Wohlfahrtsämtern hatten die Forderungen nach einer repressiveren Wohlfahrtspolitik immer lauter werden und durch Gesetzesvorhaben wie das projektierte »Bewahrungsgesetz« Gestalt annehmen lassen. Die in diesem Zusammenhang diskutierten Eingriffe in die persönliche Freiheit von »bewahrungsbedürftigen« Personen und die bereits vorhandenen, aber rechtlich noch eingehegten Möglichkeiten der Zwangsunterbringung von Wohlfahrtsunterstützungsempfängern in geschlossenen Anstalten bildeten gemeinsam mit den rassenhygienischen »Aufartungs«- und Exklusionsfantasien die Anknüpfungspunkte für die KZ-Einweisung von »Asozialen«. Die vor 1933 entwickelten Gesetzentwürfe, Pläne und Begründungszusammenhänge waren aber nicht nur in organisatorischer Hinsicht von Bedeutung. Sie lieferten, ähnlich wie der stete Rekurs der KZ-Einweisungen auf Erlasse und Verordnungen, eine ideologische Legitimationsgrundlage, schufen ein »Schutzschild von Normalität«,257 mit dem wo nötig der offenkundige Rechtsbruch verschleiert werden konnte. Ohne dieses »Schutzschild« ist weder die Eigeninitiative und bereitwillige Mitwirkung, welche die lokalen Einweisungsbehörden bei der Deportation von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« in die KZ an den Tag legten, zu verstehen, noch die breite Akzeptanz dieser Maßnahmen innerhalb der Justiz, der Verwaltung, der Polizei und Fürsorge sowie innerhalb der 1933/34 noch nicht vollständig »gleichgeschalteten« Öffentlichkeit. Was aber war das originär Nationalsozialistische an der 1933 durch verschiedene rechtliche Mittel ins Werk gesetzten Zwangsinternierung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern«?258 Resümiert man die Erkenntnisse der vorstehenden rechtshistorischen Betrachtung, könnte man die Antwort auf folgende Formel bringen: Nicht die Ideologie war das originär Nationalsozialistische, sondern der Maßnahmenstaat.
257 Pingel, Konzeption, S. 153. 258 Bezüglich des »Gewohnheitsverbrechergesetzes« stehen sich in dieser Frage zwei Thesen der jüngeren Forschungsliteratur diametral gegenüber: Während Wachsmann die Kontinuitäten betonte, die das »Gewohnheitsverbrechergesetz« mit den Entwürfen der Strafrechtskommission der Weimarer Republik verband, sieht Sylvia de Pasquale das »Gewohnheitsverbrechergesetz« als Ausdruck einer spezifisch nationalsozialistischen Ideologie und »Vorstufe zur Mordpolitik«. Pasquale, Resozialisierung, S. 550. Sowohl die vorliegende empirische Untersuchung der Geschichte der »Sicherungsverwahrung« und der »Vorbeugungshaft« als auch die im Folgenden angestellten theoretischen Überlegungen stützen die These Wachsmanns. Vgl. Wachsmann, Prisons, S. 128–132.
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Sowohl der Sozialrassismus als auch die aus ihm resultierenden politischen Konzepte existierten schon vor 1933 – die in rassenhygienischen »Aufartungskonzepten« begründeten Exklusionsfantasien ebenso wie die in den Vorstellungen der Kriminalbiologie wurzelnden präventiven Strategien der Verbrechensbekämpfung. Neu waren der durch die NS-Diktatur eröffnete Handlungsspielraum, der die praktische Erprobung dieser Konzepte ermöglichte, und das maßnahmenstaatliche Element in ihrer Umsetzung. Das Jahr 1933 brachte daher zweifelsohne eine gravierende, qualitative Zäsur in der Stigmatisierung und Verfolgung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« mit sich. Doch war es keine Zäsur der Ziele oder der ideologischen Begründungszusammenhänge, sondern eine der Mittel. Der Ausnahmezustand als der Ursprung des Maßnahmenstaats bestimmte auch die nationalsozialistische Sozial- und Kriminalpolitik von Beginn an und führte dazu, dass lange diskutierte Reformvorhaben eine Wendung ins Terroristische erfuhren. Die Geschichte der »Sicherungsverwahrung« und der »Vorbeugungshaft« ist eine Geschichte des arbeitsteiligen Ineinandergreifens von Normen- und Maßnahmenstaat,259 die gleichzeitig zeigt, dass unter den Bedingungen des NS-Regimes auch der normenstaatliche Pol, in diesem Falle die »Sicherungsverwahrung«, jederzeit ins Maßnahmenstaatliche umschlagen konnte. Der »Sicherungsverwahrung«, wie auch den übrigen »Maßregeln der Sicherung und Besserung«, wohnten schon der juristischen Konstruktion nach maßnahmenstaatliche Tendenzen inne. Aus der Perspektive des liberalen Rechts hatten diese einen grundsätzlich problematischen Charakter, weil sie gegen das Doppelbestrafungsverbot verstießen. Durch ihre Orientierung an der »Täterpersönlichkeit« verletzten sie überdies das Allgemeingültigkeitsgebot und stellten die rationale Kalkulierbarkeit des Rechts in Frage. Indem die »Maßregeln der Sicherung und Besserung« der präventiven Abwehr künftiger Straftaten dienten, führten sie eine polizeirechtliche Logik in das Strafrecht ein. Das Einfallstor bildete der Begriff der »Gefährlichkeit«. Nicht Sühne vergangenen Unrechts und Wiederherstellung der Norm waren ihr Zweck, sondern der Schutz der Gesellschaft vor dem »gefährlichen« Täter. Dennoch fehlt ein entscheidendes Kriterium, um die »Maßregeln der Sicherung und Besserung« eindeutig dem Bereich des Maßnahmenstaats zurechnen zu können: Ihre Verhängung und ihr Vollzug standen nicht im Zeichen eines von richterlicher Kontrolle verselbstständigten Handelns der Exekutivorgane, wurden sie doch richterlich angeordnet und in Anstalten vollstreckt, die der Kontrolle der Judikative unterstanden. Mit Blick auf die »Sicherungsverwahrung« änderte sich dies, als Himmler und Thierack 1942 darin übereinkamen, die »asozialen Elemente« aus dem Strafvollzug in die KZ zu überstellen. 259 Andere Autoren gehen von einem eher konflikthaften Verhältnis zwischen »Vorbeugungshaft« und »Sicherungsverwahrung« aus, beziehen sich mit dieser Einschätzung aber hauptsächlich auf die Kriegszeit. Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 727–745; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 203, 265–270.
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Die »Vorbeugungshaft« hingegen war von Anfang an als maßnahmenstaatliche Ergänzung zur »Sicherungsverwahrung« konzipiert. Durch die Entkoppelung des Freiheitsentzugs vom richterlichen Urteil und die Haftvollstreckung in den KZ, die dem Zugriff der Judikative entzogenen waren, konnte sich die polizeirechtliche Logik verselbstständigen und von den Fesseln juristischer Kontrolle befreien. Anordnung und Vollzug der »Vorbeugungshaft« standen ganz im Zeichen des Ausnahmezustands. Die Geschichte der »Vorbeugungshaft« zeigt, wie polizeiliches Handeln in Willkür umschlagen kann, wenn es von rechtsstaatlichen Bindungen befreit und ausschließlich in den Dienst politischer Zweckmäßigkeitserwägungen gestellt wird.260 So konnte sich der Polizeiapparat, den das NS-Regime aus dem Weimarer Rechtsstaat übernommen hatte, in ein schrankenloses Instrument des »Behemoth«261 verwandeln.
260 Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 727. 261 Neumann, Behemoth.
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4. Die »Bettlerrazzia« im September 1933. Planung, Durchführung und Wirkungen der ersten sozialrassistischen Massenverhaftungsaktion des NS-Regimes
Bettler und Landstreicher galten den eugenisch argumentierenden Kräften innerhalb der Wohlfahrts- und Strafrechtspflege schon vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten als rassisch »minderwertig«. Sie waren daher prädestinierte Objekte polizeilicher und fürsorgerechtlicher Repressionen. Mit der »Bettlerrazzia« im September 1933 gerieten sie erstmals in das Visier einer groß angelegten Verhaftungsaktion,1 durch welche die NS-Regierung auf einem uralten sozialpolitischen Politikfeld, der »Bettlerbekämpfung«, versuchte, neue Akzente zu setzen. Dabei handelte sie nicht nur im Einklang mit den Initiativen und Forderungen der tradierten Akteure dieses Politikfeldes, sondern kooperierte sowohl bei der Planung als auch bei der Durchführung der Aktion aufs engste mit ihnen. Die Verhaftungswelle des Septembers 1933, für die sich im zeitgenössischen Sprachgebrauch schnell die Bezeichnung »Bettlerrazzia«2 oder »Bettlerwoche«3 einbürgerte, war nach den Massenverhaftungen von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern die erste zentral gesteuerte Großrazzia gegen eine jener Personengruppen, die im Verlauf der NS-Herrschaft aus (sozial)rassistischen Gründen terrorisiert, interniert und schließlich vernichtet werden sollten. Wichtige Impulse für die Aktion gingen vom Reichspropaganda- und vom Reichsinnenministerium aus.4 Doch schon bevor die Zentralinstanzen mit ihrer Planung begannen, formulierten lokale Akteure in verschiedenen Gebie1 Während sich in der Forschungsliteratur einige Hinweise auf die Verhaftung von Prostituierten finden (vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 186; Harris, Role), wird im Folgenden weder auf deren Schicksal, noch auf das von Bettlerinnen und Landstreicherinnen eingegangen. Die Ausblendung der weiblichen Verfolgten ist ein zufallsbedingtes Resultat der gewählten Recherchestrategie und der stark fragmentierten Quellenlage zur »Bettlerrazzia«. Die Stichproben, die in verschiedenen Archiven erhoben wurden, förderten hauptsächlich Quellen über die Verhaftung von Männern zutage. Eine darüberhinausgehende, gezielte Erforschung des Schicksals von Frauen hätte den Rahmen der vorliegenden Studie überschritten. 2 Als Beispiel vgl. Bettler beziehen Renten, BadPr, 25.9.1933. 3 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 23. 4 Für eine systematische Untersuchung der Pläne der Reichsbehörden vgl. ders., Asoziale (1995), S. 19–41. Der Schwerpunkt von Ayaß Analyse der »Bettlerrazzia« liegt auf der Mitwirkung der öffentlichen und privaten Wohlfahrtspflege, auf den Argumentationsmustern der Presseberichterstattung und den Diskussionen die im Anschluss an die Aktion die »Haltung der öffentlichen und privaten Fürsorge« prägten. Ebd., S. 32.
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ten des Reiches unabhängig voneinander ihre Forderungen und Vorschläge zur Bettlerbekämpfung oder setzten ihre Vorstellungen eigenmächtig in die Tat um. Durch den regional- und lokalgeschichtlichen Fokus vermag diese Studie ein daraus resultierendes, wichtiges Charakteristikum in den Blick zu rücken, welches diese erste Großaktion gegen »Asoziale« kennzeichnete: die Heterogenität und Ungleichzeitigkeit des politischen Prozesses in allen seinen Phasen. Schon in der »Bettlerrazzia« zeichnete sich ein für das NS-Regime typisches Interaktionsmuster ab: Stigmatisierung, Entrechtung und Verfolgung wurden »keineswegs von oben nach unten durchgesetzt«,5 sondern in einem Wechselspiel zwischen lokalen, regionalen und zentralen Behörden entwickelt.
4.1 Die Phase der Politikformulierung zur »Bettlerrazzia«, Februar bis September 1933 Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise galt das auf mehrere hunderttausend Menschen geschätzte Heer von Vagabunden und Bettlern als »sozialpolitisches Problem erster Ordnung«.6 Aufgrund der wirtschaftlichen Notlage und angesichts leerer öffentlicher Kassen fielen überall im Reichsgebiet immer mehr Menschen aus den Systemen sozialer Sicherung heraus. Zahlreiche alleinstehende Männer, aber auch ganze Familien, verließen ihre Heimatorte und begaben sich auf Wanderschaft, um andernorts Arbeit zu suchen. Schon vor der Weltwirtschaftskrise umfasste die Sammelbezeichnung »Wanderer«7 verschiedene Personengruppen, die sich grob in fünf Kategorien einteilen lassen: Es handelte sich erstens um Menschen, die entweder gar nicht oder nur eingeschränkt arbeitsfähig waren und daher keine oder nur gelegentlich Beschäftigung fanden. Um sich ein Auskommen sichern zu können, waren sie auf Arbeitsmigration angewiesen. Hinzu kamen zweitens Personen, die sich der bürgerlichen Sozialordnung, der geforderten Leistungsbereitschaft und den Strukturen eines geregelten Arbeitsverhältnisses nicht fügen konnten oder wollten. Als dritte Kategorie sind Handwerksburschen zu nennen, die im Anschluss 5 Gruner, Fürsorge, S. 598. Vgl. ders., Wohlfahrt. 6 Ayaß, Asoziale (1995), S. 19. 7 Der Begriff »Wanderer« löste während des Kaiserreichs den bis dahin in der fürsorgerischen Fachsprache gebräuchlichen Ausdruck »Vagabund« bzw. »Vagant« ab. Er steht in der Tradition des vormodernen, zünftischen Gesellenwanderns, der »Walz«. Im Gegensatz zu dem Begriff »Vagabund« war der Ausdruck »Wanderer« eng mit der Vorstellung von Arbeitssuche durch Migration verbunden. Diese Untersuchung verwendet die Ausdrücke »Wanderer/ Wandergeselle«, »Landstreicher« und »Vagabund«, welche die Betroffenen auch als Selbstbeschreibung nutzten. Sie dienen im Folgenden der Bezeichnung einer Person, die, statt an einem festen Ort zu leben, im Lande umherzieht, ohne diese Lebensweise bewerten oder an den Normen bürgerlicher Ordnungsvorstellungen messen zu wollen. Vgl. ders., Beispiel, S. 80; Sondermann-Becker, Volksgenossen, S. 11.
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an ihre Lehrjahre ihr Können auf der »Walz« zu vervollkommnen suchten oder an ihrem Wohnort keine Arbeit fanden, weil der Betrieb ihres Lehrmeisters die Nachfrage vollständig abdeckte. Eine vierte Gruppe waren die Saisonarbeiter, die in der Erntesaison von Ort zu Ort zogen, um als zusätzliches Arbeitskräftereservoir die temporär erhöhte Nachfrage der Bauern nach Tagelöhnern zu befriedigen. Die fünfte Untergruppe der »Wanderer« bildeten die Betreiber eines fahrenden Gewerbes wie Schausteller, Jahrmarktverkäufer, Korbflechter und Scherenschleifer. In dieser letzten Kategorie fanden sich viele Angehörige der von der Mehrheitsbevölkerung umgangssprachlich als »Zigeuner« diffamierten ethnischen Minderheiten der Sinti und Roma. Zu den fünf Kategorien gesellten sich noch die Wanderer der bündischen Jugendbewegung, die aus Liebe zur Natur und um ihrer Freiheit und Bildung Willen durch die Lande streiften, sich aber nur temporär, in Ferien und Freizeit auf der Straße befanden.8 Die Heterogenität der Gruppe der »Wanderer« war auch den zeitgenössischen Wohlfahrtsexperten bewusst. Die Unterscheidung zwischen »berechtigten« und »asozialen« Wanderern spielte in allen Diskursen der »Wandererfürsorge«9 eine zentrale Rolle. Ausschlaggebendes Kriterium war die »Arbeitswilligkeit« eines Wanderers, denn seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, angesichts der Ausbildung des Wohlfahrtsstaates und der Veränderungen im Verkehrs- und Nachrichtenwesen, begriff man das Wandern zwecks Arbeitssuche zunehmend als überflüssig. Dies führte schon während des Kaiserreichs dazu, dass die Behörden sinnlos erscheinendes Wandern »systematisch zur asozialen und krankhaften Eigenschaft der Betroffenen«10 stilisierten und diese entsprechend stigmatisierten. Seit dem Ende der 1920er-Jahre wurden die Landstraßen des Deutschen Reiches dann auch noch von Facharbeitern, ungelernten Arbeitern, kleineren Angestellten und einer stetig wachsenden Zahl von Jugendlichen bevölkert, die aufgrund der Massenarbeitslosigkeit ihre Beschäftigung verloren hatten bzw. keinen Ausbildungsplatz fanden. Um zu überleben, nahmen diese Menschen Gelegenheitsarbeiten an, bettelten oder schlugen sich mit Hausieren, Musizieren, Betrügereien und kleinkriminellen Delikten wie Essensdiebstählen und Zechbetrug durch. In der Wahrnehmung von Öffentlichkeit und Wohlfahrtsexperten verschwammen Wander- und Saisonarbeiter, Betreiber von fahrendem Gewerbe, wandernde Schausteller und Musikanten, Landstreicher und ortsansässige bet8 Vgl. Stellungnahme des Provinzialausschusses, S. 144. 9 Die Wandererfürsorge entstand in den 1880er- und 1890er-Jahren. Beteiligt waren die »Herbergen zur Heimat« (Innere Mission), die Wanderarbeitsstätten und Arbeiterkolonien, der Deutsche Herbergsverband (rein protestantisch), der Gesamtverband der Verpflegungsstationen (Dachverband der Wanderarbeitsstätten) und der Zentralverband Deutscher Arbeiterkolonien (ein Zusammenschluss protestantischer, katholischer und kommunaler Träger sowie mit der Wandererfürsorge befasster Stellen). Das Zentralorgan der Wandererfürsorge war die Zeitschrift Der Wanderer. Vgl. Sondermann-Becker, Volksgenossen, S. 9, 12. 10 Ebd., S. 11. Vgl. Stellungnahme des Provinzialausschusses, S. 144.
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telnde Arbeitslose zum Bild einer allumfassenden »Bettlerplage«11 oder, um den zweiten zeitgenössischen Kampfbegriff zu benutzten, eines immer stärker grassierenden »Bettelunwesens«.12 Ausgerechnet in dieser Situation war die »Arbeitswilligkeit« als Kriterium, um zwischen »ordentlichen« und »asozialen« Wanderern zu unterscheiden, aufgrund der katastrophalen Lage auf dem Arbeitsmarkt vollkommen unbrauchbar geworden.13 Laut Gregor Gog,14 dem Mitbegründer und Vorsitzenden der »Bruderschaft der Vagabunden«, waren im Jahre 1932 eine halbe Millionen Arbeitslose auf der Landstraße. Ein Jahr später, im Juli 1933, schätzte man die Zahl der obdachlosen Wanderer allein in Württemberg auf 4.000 bis 5.000 Personen. Eine einzige württembergische »Herberge zur Heimat«, jene im Evangelischen Vereinshaus zu Ulm, hatte im Jahr 1933 insgesamt 16.500 Personen Unterkunft gewährt.15 Verschärft wurde das Krisenphänomen »Wanderarmut« durch die fürsorgerechtlichen Regelungen der Kostenerstattung. Normalerweise war der Fürsorgeverband des Wohnortes, des »gewöhnlichen Aufenthaltes« oder »Unterstützungswohnsitzes« wie es im Verwaltungsjargon hieß,16 zur Leistung von Wohlfahrtsunterstützung verpflichtet. Diese Regelung führte dazu, dass Personen in dem Moment, in dem sie Arbeit und Wohnung verloren und sich zwecks Arbeitssuche auf Wanderschaft begaben, auch ihres Unterstützungswohnsitzes verlustig gingen. Um wandernde Hilfsbedürftige vor der Verelendung zu bewahren, so zumindest die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers, verpflichtete die RFV jeden Ortsfürsorgeverband zur Hilfeleistung in Form von Verpflegung und Unterkunft. Die Kosten trugen die Landesfürsorgeverbände als endgültig verpflichtete Fürsorgeverbände. Sie erstatteten den Ortsfürsorgeverbänden als vorläufig verpflichteten Fürsorgeverbänden die Ausgaben für mittellose Wanderer ab zehn Reichsmark (RM) pro Person und Tag. Statt zu einer besseren sozialen Absicherung wohnungsloser Wanderer führte diese Regelung jedoch dazu, dass die Ortsfürsorgeverbände versuchten, die ortsfremden Bedürftigen abzuschieben, obwohl § 17 RFV ein solches Vorgehen verbot. Dass man diese Regelung häufig missachtete, lag zum einen an der Mindestgrenze bei der Kostenerstattung. Zum anderen befürchteten die Ortsfürsorgeverbände, dass mittellose Wanderer kurzfristig Arbeit finden und sich am Ort niederlassen könnten. Dadurch hätten sie wieder einen »gewöhnlichen Aufenthalt«, und der Ortsfürsorgeverband wäre im Falle erneuter Arbeitslosigkeit unterstützungspflichtig. 11 Als Beispiel vgl. BayHStA München, MInn 71575, Die Bettlerplage, VB, 25.9.1933. 12 Als Beispiele vgl. Aktion gegen Bettel, BadPr, 21.9.1933; Kurzmeldung, ebd., 7.9.1933. 13 Vgl. Stellungnahme des Provinzialausschusses, S. 144; Ayaß, Asoziale (1995), S. 19. 14 Vgl. Gog an Jeshow, 13.5.1938, in: Stammberger u. Peschke, Moskau, S. 174. Für biografische Anmerkungen zu Gregor Gog vgl. Anhang. 15 Vgl. Ulmer Bilderchronik, S. 34, 73. Derartige Herbergen und Verpflegungsstellen für obdachlose Wanderer betrieb die Wandererfürsorge in vielen Regionen des Reichsgebiets. 16 Vgl. Sunder, Regelung, S. 7–12.
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Zeitgleich mit der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten in der Weltwirtschaftskrise und der Entstehung der Wanderarmut als Massenphänomen setzte die Problemdefinition ein. Die Forderungen nach Beseitigung der Wanderarmut gingen von der lokalen bzw. regionalen Ebene des politisch-administrativen Systems aus und stammten naturgemäß insbesondere aus den Reihen der Wohlfahrtspflege. Vertreter der privaten und öffentlichen Fürsorgeverbände, aber auch die Beamten der kommunalen Wohlfahrtsstellen, die tagtäglich nicht nur mit den ortsansässigen Wohlfahrtsempfängern, sondern auch mit der Flut der um Unterstützung bittenden Wanderer konfrontiert waren, hatten seit dem Ende der 1920er-Jahre wiederholt auf die Notwendigkeit hingewiesen, die fürsorgerechtlichen Regelungen zu modifizieren und Programme zur Bekämpfung der »asozialen« Wanderer vorgelegt. Die Diskussionen und Vorschläge kulminierten in der Forderung nach einer reichsweiten Regelung der Wandererfürsorge. Die Entwürfe, die verschiedene Organisationen dafür vorlegten,17 stützen sich trotz Abweichungen im Detail im Wesentlichen auf drei Eckpfeiler: erstens die Einführung eines Wanderbuches mit Lichtbild als Identifikationsdokument für Wanderer; zweitens die Schaffung eines reichsweiten Netzes von Wanderstraßen, an denen sich drittens in der Marschentfernung eines halben Tages Wanderarbeitsstätten befinden sollten, die Wanderern gegen Arbeitsleistungen Unterkunft und Verpflegung gewähren würden. Wer dann noch »ohne Erlaubnis in ungeordneter Form wandert«, sollte »wie ein Landstreicher behandelt werden«.18 Der Regierungsantritt Hitlers im Januar 1933 bedeutete zunächst nur insofern einen Einschnitt in der Entwicklung, als dass die mit der Wandererfürsorge befassten Akteure in den neuen politischen Verhältnissen die Chance erkannten, ihren Forderungen endlich Gehör zu verschaffen. Die Kontinuität in der Problemformulierung zeigt sich sehr plastisch daran, dass die Landesfürsorgeverbände schon am 20. Januar 1933, also noch vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, ein schärferes polizeiliches und strafrechtliches Vorgehen gegen »asoziale« Wanderer zu initiieren versucht hatten. Neben den auf der Januar-Tagung gefassten Beschlüssen verkündeten sie in der Februar/März-Ausgabe des Nachrichtendienstes des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge folgende Absicht: »Zur Bekämpfung der gegenwärtig im ganzen Reiche bestehenden Bettler- und Landstreicherplage halten die Landesfürsorgeverbände […] eine polizeiliche und strafrechtliche Verfolgung der asozialen Wanderer für unerlässlich. Sie werden sich ihrerseits mit den Oberlandesgerichtspräsidenten, Generalstaatsanwälten und Landespolizeibehörden ihres Bezirks in Verbindung setzen, um eine enge Zusammenarbeit zwischen Polizei, Strafverfolgungsbehörden, Gerichten und Verwaltungs
17 Als Beispiele vgl. Entwurf des Vereins, S. 114; Stand der Vorarbeiten, S. 314–316. 18 Stellungnahme des Provinzialausschusses, S. 144. Vgl. Stellungnahme der Landesfürsorgeverbände, S. 55 f.
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behörden zur Erfassung und Verfolgung dieser Asozialen zu erreichen. […] All diese Maßnahmen sind im Hinblick auf eine spätere reichsgesetzliche Regelung der gesamten Wandererfürsorge zu treffen.«19
Schon in dieser Absichtserklärung klingt eine Verwischung der Gewaltenteilung zugunsten eines effektiven Agierens der Exekutive an. Aber nicht nur die traditionell mit der Wandererfürsorge befassten Kräfte meldeten sich zu Wort. Aus dem norddeutschen Raum ist für den Mai 1933 der Versuch eines lokalen SA-Aktivisten überliefert, ein schärferes Vorgehen gegen die im Straßenbild sichtbare Armut anzuregen. Am 10. des Monats schlug der Führer der SA-Gruppe »Nordmark« in Itzehoe (Freistaat Oldenburg) dem Regierungspräsidenten des Landesteils Lübeck vor,20 strengere Maßnahmen gegen das »Bettelunwesen« zu ergreifen, wobei er sein Anliegen durch die Bemerkung zu bekräftigen suchte, bei vielen Bettlern handele es sich um Anhänger der KPD. So fadenscheinig diese Begründung erscheinen mag, darf man zum einen nicht vergessen, dass sich unter den Wanderern krisenbedingt tatsächlich eine große Anzahl ehemaliger Industriearbeiter befand, die Anhänger der sozial demokratischen oder kommunistischen Partei gewesen sein dürften. Zum anderen werden die breiten Mobilisierungsversuche, mit denen die KPD vor 1933 das bettelnde und vagabundierende Subproletariat zu agitieren versuchte, vielen »alten Kämpfern« noch lebhaft vor Augen gestanden haben.21 Die Angst vor einer von Bettlern und Landstreichern ausgehenden »kommunistischen Gefahr«, die im Denken und Handeln der mit der Regulierung des Wanderwesens befassten Akteure immer wieder durchscheint und die nicht selten irrationale Züge annahm, entbehrte also nicht völlig einer realen Grundlage.22 Die erste weisungsbefugte Instanz, die auf das Problem der Wanderarmut reagierte, war das Preußische Innenministerium.23 Am 1. Juni 1933 wies Hermann Göring die Polizeibehörden per Erlass an, die in Preußen Ende der Weimarer Republik nahezu vollständig eingestellte polizeiliche Bettlerverfolgung wiederaufzunehmen. Ende Juni setzte Reichsinnenminister Wilhelm Frick mit einer Rede, die er in der ersten Sitzung des Sachverständigenbeirats für Bevöl19 Ebd., S. 56. 20 Das »Groß-Hamburg-Gesetz« beendete am 1. April 1937 die Geschichte des Freistaats Oldenburg. Der oldenburgische Landesteil Lübeck ging im Landkreis Eutin des preußischen Regierungsbezirks Schleswig auf. Vgl. Wollenberg, Rückruf, S. 12; Stokes, Schutzhaftlager, S. 619. 21 Gog zufolge hatte die bürgerliche Presse in der Endphase der Weimarer Republik unterstellt, dass von der halben Million Arbeitslosen, die angeblich die Landstraßen bevölkerten, 90 Prozent »bolschewistisch verseucht« gewesen seien. Gog an Jeshow, 13.5.1938, zit. nach Stammberger u. Peschke, Moskau, S. 174. 22 Bei der Hauptversammlung der Wandererfürsorgeverbände Mitte Oktober 1933 bezeichnete Carl Schneider, später einer der Täter in der »Euthanasie«-Aktion, die Wanderer als »Reservearmee des Kommunismus«. Schneider, zit. nach Klee, Euthanasie, S. 40. 23 Seit dem 1. März 1933 waren das Preußische und das Innenministerium des Reiches zusammengelegt.
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kerungs- und Rassepolitik hielt, ein weiteres Signal, das jenen Kräften, die ein rücksichtsloses Vorgehen gegen sozial marginalisierte Bevölkerungsgruppen wie die Wanderer forderten, zeigte, dass ihre Absichten im Einklang mit denen führender Nationalsozialisten standen. In dieser Rede, die sogar im Rundfunk übertragen wurde, kündigte Frick eine »Verminderung der Lasten für Minderwertige und Asoziale« an, weil die »Ausgaben für Minderwertige, Asoziale, Kranke, Schwachsinnige, Geisteskranke, Krüppel und Verbrecher« längst »das Maß dessen überschreiten, was wir unserer schwer um ihre Existenz ringenden Bevölkerung zumuten dürfen«.24 Als Mittel schlug Frick Zwangssterilisationen vor. Im Verlauf des Sommers wurden die Forderungen nach der Beseitigung der Wanderarmut immer lauter. Am 11. Juli leitete die Bayerische Landesbauernkammer die Klage eines Landwirts aus Schwaben an das Bayerische Wirtschaftsministerium (WM)/Abteilung Landwirtschaft weiter, das die Eingabe eine Woche später dem Bayerischen Innenministerium vorlegte. Angeregt durch die Beschwerde des Landwirts hatte die Landesbauernkammer die Kreisbauernkammern darüber befragt, ob die gegebenen rechtlichen Bestimmungen für eine effektive Bekämpfung des »Landfahrer- und Bettlerunwesens«25 ausreichten. Basierend auf den Ergebnissen dieser Umfrage lieferte die Landesbauernkammer eine lebhafte Schilderung des Problems und unterbreitete Vorschläge zu dessen Beseitigung. »Die Landbewohner« werden, so hieß es »von durchziehenden und umherstreifenden Pfannenpflickern, Schirmmachern, Scherenschleifern, Bettelmusikanten, zweifelhaften Händlern belästigt und heimgesucht; […]. Der Lebensunterhalt aller wird in der Hauptsache durch Bettel bestritten und es besteht namentlich in der Erntezeit, wo nur noch Kinder und alte gebrechliche Leute im Dorfe sind, die größte Unsicherheit: sie können sich dieser Zudringlichkeiten auch Bedrohungen nur durch reichliche Spende erwehren.«26
Als Gegenmaßnahmen schlug die Landesbauernkammer vor: erstens einen »strengeren Vollzug« der vorhandenen rechtlichen Regelungen, namentlich des bayerischen »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetzes«; zweitens eine Einschränkung bei der Ausstellung der Wandergewerbescheine;27 drittens eine rechtliche Neuregelung, die es den Bezirkspolizeibehörden erlaube, den Wandergewerbeschein bei einem wiederholten Verstoß gegen die polizeilichen Anordnungen zu widerrufen; sowie viertens die Verstärkung der Ortspolizei insbesondere während der Erntezeit.
24 Rede RMdI Frick vor Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassepolitik, 28.6.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 9, Dok 5. Vgl. ders., Beispiel, S. 69. 25 BayHStA München, MInn 72578, Schreiben Bayerische Landesbauernkammer, 11.7.1933. 26 Ebd. [Hervorh. i. Orig.]. 27 Dabei handelte es sich um eine polizeiliche Legitimierung für Gewerbetreibende, die ihre Waren nicht in einem Ladengeschäft anboten.
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Während sich dieser Vorschlag der Bayerischen Landesbauernkammer noch im Rahmen der aus der Weimarer Republik stammenden landesrechtlichen Gesetze und des tradierten Institutionengefüges bewegte, trug ein Vorstoß, den der Provinzialausschuss Hannover28 etwa zur selben Zeit unternahm, radikalere Züge: Im Juli-Heft des Nachrichtendienstes des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge legte der Provinzialausschuss seine Vorstellungen zur Neuregelung der Wandererfürsorge dar. Ziel müsse es sein, den »Wanderstrom«29 erheblich zu verringern und »in geordnete Bahnen«30 zu lenken, um so die Fürsorgeverbände zu entlasten. Das vorgelegte Programm stützte sich zwar im Wesentlichen auf die noch zu Zeiten der Weimarer Republik von den Fürsorgeverbänden entwickelten Entwürfe. Doch im Unterschied zu diesen, so hob der Provinzialausschuss Hannover explizit hervor, sei künftig »der Zwangsgedanke und die Mitwirkung der Polizei stärker zu betonen«.31 Dass er unter den Bedingungen der NS-Diktatur mit seiner Forderung nach Beschränkung der persönlichen Freiheiten nicht mehr an rechtsstaatliche Grenzen stoßen würde, dessen war sich der Provinzialausschuss zweifellos bewusst. Mit dem Nationalsozialismus, konstatierte er, sei »der Grundsatz zur Herrschaft gelangt«, dass das »an sich wertvolle Recht des Einzelnen zurückzutreten habe, wenn es das Interesse des Volksganzen erfordert«.32 Daher fielen nach Ansicht des Provinzialausschusses Hannover die im Recht der Freizügigkeit implizierten »Hemmungsgründe«,33 die bisher einer gesetzlichen Reglementierung des Wanderns entgegengestanden hatten, fort. Um »asoziale« Wanderer »auch gegen ihren Willen«34 internieren zu können, schlug der Provinzialverband Hannover einen Rückgriff auf den § 20 RFV vor. Für jene Fälle, in denen die RFV nicht greife, weil der Wanderer keine Fürsorgeunterstützung beziehe, müssten ein »Bewah28 Preußen verfügte neben dem Landtag auch auf der Ebene der Provinzen über gewählte Volksvertretungen, die Provinziallandtage. Begründet lag diese Regelung in der Größe des Landes. Die Provinziallandtage waren in ihrer politischen Bedeutung in etwa den Landtagen der übrigen Länder vergleichbar. Vgl. Jeserich, Provinzen; Obenaus, Anfänge. Kurt Jeserich, ab 1933 SA-Mitglied und später SS-Sturmbannführer, war geschäftsführender Präsident des 1933 gegründeten Deutschen Gemeindetags, des einzigen kommunalen Spitzenverbands der NS-Zeit, und damit federführend an der Ausgrenzung der Juden aus der Wohlfahrtshilfe und der Koordinierung antijüdischer Lokalpolitik beteiligt. Vgl. Gruner, Wohlfahrt, S. 37 f., 105, 119, 142, 195, 207, 312 f., 321, 328. 29 Stellungnahme des Provinzialausschusses, S. 145. 30 Ebd., S. 144. 31 Ebd., S. 145. Die Formulierung »Zwangsgedanke« bezog sich auf die geforderte Verpflichtung für Wanderer, ein Wanderbuch mit sich zu führen, und auf den Zwang zur Einhaltung der vorgegebenen Wanderstraßen. Beides widersprach dem demokratischen Grundprinzip der Freizügigkeit. Von den drei Ländern bzw. Regionen, die das Wanderbuch bereits eingeführt hatten, gingen die Wanderordnungen Bayerns und der Rheinprovinz vom Prinzip der Freiwilligkeit aus, während Baden einen Zwang zum Führen des Wanderbuches vorsah. 32 Ebd., S. 144. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 145.
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rungsgesetz« und die Strafrechtsreform eine gesetzliche Grundlage schaffen.35 Als Strafmaßnahme für wiederholt rückfällige »asoziale« Wanderer forderte der Provinzialausschuss Hannover sogar die KZ-Einweisung: »Neu zu schaffen sind Bestimmungen, wie mit den Wanderern zu verfahren ist, die ohne Erlaubnis wandern, die Wanderstraßen nicht einhalten oder aus den Wanderarbeitsstätten durch ihr Verschulden ausgewiesen werden. Die Wanderer werden zunächst zu verwarnen sein, in den Wanderarbeitsstätten eine grundsätzlich schlechtere Behandlung (hartes Lager oder dergl[eichen]) erhalten müssen und sind im Wiederholungsfalle zu bestrafen, bei hartnäckiger Übertretung der Bestimmungen schließlich durch Urteil der Landespolizeibehörde zur Verbringung in ein Arbeitshaus oder Konzentrationslager zu überweisen.«36
Zwar orientierte sich der skizzierte Maßnahmenkatalog gegen »asoziale« Wanderer noch weitgehend an dem bis dahin gängigen straf- und verwaltungsrechtlichen Procedere: Das neu geschaffene Terrorinstrument »Konzentrationslager« stand gleichgewichtig neben der Zwangsunterbringung in der tradierten Institution des Arbeitshauses. Auch war die KZ-Einweisung nicht als extra-legale Maßnahme konzipiert, sondern orientierte sich am strafrechtlich kodifizierten Vorgehen bei der Verhängung der »korrektionellen Nachhaft« nach § 362 RStGB. Dennoch ist schon hier die bewusste Negierung individueller Freiheitsrechte und die Ermächtigung eines Exekutivorgans, der Landespolizeibehörde, zum Freiheitsentzug zu beobachten – aus rechtsstaatlicher Perspektive ein fragwürdiges Verfahren. Während einige Akteure, wie die Bayerische Landesbauernkammer und der Provinzialausschuss Hannover, noch mit der Problemdefinition, Datenerhebung und der Formulierung erster Zielvorgaben und Programmatiken beschäftigt waren, schritten andere bereits mit konkreten Maßnahmen zur Tat. In Berlin ordnete der neu ernannte Polizeipräsident Magnus von Levetzow bereits am 3. Februar 1933 eine Razzia in einer Wärmehalle an, bei der mehrere Hundert Obdachlose unter dem Vorwand, sie hätten sich kommunistisch betätigt, festgenommen wurden.37 Ein besonders eindrückliches Beispiel für eine solche eigenmächtige Kampfansage an Bettler und Landstreicher ist aus dem bayerischen Straubing überliefert: Dort hatte am 18. April 1933 mit Georg Schirm38 ein überzeugter Nationalsozialist die Leitung der örtlichen Polizeistation übernommen. Auf Wunsch der nationalsozialistischen Vertreter im Straubinger Stadtrat, einen zuverlässigen Parteigänger an die Spitze der Straubinger Polizei 35 Der Provinzialverband Hannover differenzierte zwischen »asozialen« Wanderern, die basierend auf § 20 RFV bzw. aufgrund des projektierten »Bewahrungsgesetzes« zwangsinterniert werden sollten, und den »antisoziale[n], verbrecherische[n] Wanderer[n]«, »die künftig auf strafrechtlicher Grundlage in »Sicherungsverwahrung« zu nehmen seien. Ebd., S. 146. 36 Ebd., S. 143. 37 Vgl. Weber, Berlin, S. 328. 38 Für biografische Anmerkungen zu Georg Schirm vgl. Anhang.
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zu setzen, hatte man Schirm von der Polizeidirektion München nach Straubing abkommandiert. Er sollte »die verworrenen und unbrauchbaren Polizeiverhältnisse«39 ordnen. Doch machte sich Schirm nicht nur diensteifrig an die Gleichschaltung der Straubinger Polizei, sondern nahm schon im Sommer 1933 mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den Kampf gegen Bettler auf. Nach Einschätzung der örtlichen Ordnungskräfte war in Straubing das »Bettelunwesen« »außergewöhnlich stark«40 vertreten. Grund sei die Praxis von Klöstern und anderen Anstalten, regelmäßig kostenloses Essen auszugeben. Der sogenannte »Kloster- und Anstaltsbettel«41 mache Straubing zum attraktiven Anziehungspunkt für auswärtige Bettler. Polizeiinspektor Schirm meinte folgende Kausalkette beobachten zu können: »In den Klöstern und Anstalten bettelten sie sich das Essen und von Wohnung zu Wohnung und von Laden zu Laden das zum Rauchen und Trinken erforderliche Geld. Zahlreiche Wohnungs- und Fahrraddiebstähle wurden von diesen auswärtigen Bettlern verübt«.42
Als Schirm bei seinem Dienstantritt von diesem »Misstand« erfuhr, sei ihm eigenen Angaben zufolge sofort klar gewesen, »dass hier mit allen polizeilichen u[nd] gesetzlichen Mitteln vorgegangen werden« müsse.43 Während des gesamten Monats Juni habe er daher »täglich von 7–9 Uhr alle verfügbaren Schutzleute in Zivilkleidung ausschließlich zur Bekämpfung des Bettelunwesens eingesetzt«.44 Im Zuge dieser Aktion kontrollierte die Straubinger Polizei insgesamt 98 Bettler, darunter etwa 76 auswärtige Personen. Das »scharfe Vorgehen der Polizei« hätte sich »in Bettlerkreisen« schnell herumgesprochen,45 sodass die Aktion auch einen nachhaltigen Effekt erzielt habe.46 Schirms Bericht an den Straubinger Stadtrat zufolge seien in den Monaten Januar, Februar, März und April 1933 insgesamt lediglich 50 Bettler kontrolliert worden. In den Monaten Mai, Juni, Juli und August, also nach Schirms Dienstantritt, seien es dann insgesamt 191, davon 150 auswärtige Personen gewesen. Das konsequente Einschreiten gegen Bettler habe überdies eine Reduzierung der Wohnungs- und Fahrraddiebstähle bewirkt: »Während im Monat Mai 23 Fahrrad39 StadtArch Straubing, EAPL 037-2/821, Dienstleistungszeugnis, 23.11.1935. 40 BayHStA München, MInn 71575, Bericht Polizeiamt Straubing, 1.10.1933. 41 Derartige Armenspeisungen fanden auch in anderen Regionen des Reiches statt und erreichten in den Jahren der Wirtschaftskrise einen immensen Umfang. So gab ein Franziskanerkloster in Ulm im Jahr 1933 täglich an 140 bis 190 Personen Essen aus. Die Zahl der insgesamt an der Klosterpforte ausgehändigten Portionen betrug in diesem Jahr 51.000. Vgl. Ulmer Bilderchronik, S. 57. 42 BayHStA München, MInn 71575, Bericht Polizeiamt Straubing, 1.10.1933. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Bis zur »Bettlerwoche« im September 1933 richtete sich das Vorgehen der Straubinger Polizei noch nicht direkt gegen das »Kloster- und Anstaltsbetteln«.
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diebstähle verübt wurden, waren im Monat Juni nur mehr 7 Fahrraddiebstähle zu verzeichnen.«47 Während die Bettlerbekämpfung an manchen Orten also schon in vollem Gange war, schalteten sich im Juli 1933 erstmals die Zentralinstanzen ein. Bei der nun beginnenden Zielbildung und Programmierung auf Reichsebene, die schließlich in der Septemberrazzia münden sollte, wurde frühzeitig eine enge Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Organen Polizei und öffentliches Fürsorgewesen, den Einrichtungen der privaten Wohlfahrtspflege und Parteiorganisationen wie der SA, SS und NSV in die Wege geleitet. Bemerkenswert ist ferner, dass, obwohl das Reichsinnenministerium den Fürsorgeverbänden schon kurz nach dem Machtantritt die Einführung eines reichseinheitlichen Wanderbuchs als Pflichtausweis in Aussicht gestellt hatte,48 dieses Vorhaben auf der Ebene der staatlichen Zentralinstanzen in den folgenden Monaten gegenüber den Vorbereitungen für die polizeiliche Großrazzia vollkommen in den Hintergrund getreten zu sein scheint. Statt auf der Schaffung einer einheitlichen Gesetzesgrundlage für die Wandererfürsorge lag das Schwergewicht in der Programmatik der Reichsbehörden offenbar von Anfang an auf den viel leichter umsetzbaren maßnahmenstaatlichen Aktionen gegen Bettler und Landstreicher. Als erste Behörde der Reichsebene ergriff am 12. Juli 1933 das neu gegründete Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda die Initiative. In einem an Reichsinnenminister Wilhelm Frick adressierten Schreiben erläuterte der Leiter der Abteilung Propaganda, Wilhelm Haegert,49 die Pläne für eine zentral gesteuerte, reichsweite Verhaftungsaktion. Zeitgleich informierte er auch SAStabschef Röhm über das Vorhaben. Zum Vorgehen schlug Haegert vor, »schlagartig in einer bestimmten Zeitspanne mit ganzem Aufgebot aller Polizeikräfte sämtliche bettelnde Personen«50 zu verhaften. Um die Kooperation der SA mit den staatlichen Stellen und privaten Fürsorgeverbänden zu gewährleisten, sei eine »möglichst baldige Fühlungnahme der regionalen und örtlichen Befehlsstellen mit den zuständigen Polizeibehörden und Wohlfahrtsämtern« sowie »privaten Wohlfahrtsorganisationen […] im Interesse der Sache erwünscht«.51 Den Organen der Fürsorge sollte abgesehen von der Mitwirkung bei der Verhaftungsaktion »auch zur Pflicht gemacht werden, in den voraussichtlich wenigen Fällen, in denen tatsächlich Not zur Bettelei getrieben hat, einzugreifen und die festgenommenen Personen zu übernehmen und zu betreuen«.52 Die Koordination der in die Verhaftungsaktion involvierten regionalen Kräfte legte man in 47 Ebd. 48 Vgl. Stellungnahme der Landesfürsorgeverbände, S. 55 f. 49 Zu Haegert vgl. Klee, Personenlexikon, S. 216. 50 Schreiben RMfVP an RMdI Frick, 12.7.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 13, Dok 6. 51 Schreiben RMfVP an Röhm, 12.7.1933, zit. nach ebd., S. 14, Dok 7. 52 Schreiben RMfVP an RMdI Frick, 12.7.1933, zit. nach ebd., S. 13, Dok 6.
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die Hände der Landesregierungen. Stattfinden sollte die Razzia in der zweiten Septemberhälfte, um, wie es hieß, »mit dieser Aktion gleichzeitig die am 1. Oktober beginnenden Aufrufe für die Winterhilfe einzuleiten«.53 Doch zunächst kamen die Planungen nicht recht in Gang, weil das Reichsinnenministerium nicht reagierte. Erst nach einer zweiten, ultimativen Aufforderung des Propagandaministeriums erteilte Frick am 15. August 1933 den Landesregierungen den Auftrag, für die zweite Septemberhälfte gezielte Maßnahmen gegen das »Bettelunwesen« vorzubereiten. Der Erlass, der die Durchführung der Razzia anordnete, erging am 2. September 1933 durch das Preußische Innenministerium. Die »nähere Bestimmung des Beginns und der Beendigung der Aktion« war dem »Ermessen der Landesregierungen überlassen«.54 Die Hauptstoßrichtung und den Begründungszusammenhang der Verhaftungsaktion hatte das Reichspropagandaministerium allerdings schon in seinen beiden ersten Schreiben an das Reichsinnenministerium und die SAFührung festgelegt. Die Argumente, die Haegert in diesem frühen Planungsstadium verwendetet hatte, wurden in allen späteren Schriftwechseln, ja, sogar in den Presserichtlinien und Berichten der Tageszeitungen, geradezu formelhaft wiederholt. Wie Ayaß bereits dargelegt hat, stand die Zielsetzung der Septemberrazzia in unmittelbarem Zusammenhang mit den Vorbereitungen für die Geldsammlungen des Winterhilfswerks.55 In den Augen des Propagandaministeriums stellte das »Heer der Bettler« eine unerwünschte Konkurrenz für das Winterhilfswerk dar, die, so fürchtete man, die Spendenbereitschaft der Bevölkerung überstrapazieren könnte. Die gewaltsame Beseitigung der Bettler aus dem öffentlichen Straßenbild würde die Sammlungen erleichtern, weil dann »mit Recht an die Besitzenden der Appell gerichtet werden kann, nach Befreiung von dieser Landplage des privaten Bettelunwesens um so großzügiger für die von Staat und Partei organisierte Winterhilfe zu spenden«.56 Während die Fürsorgeverbände glaubten, das Problem der Wanderarmut durch die Einführung der Reichswanderordnung tatsächlich lösen zu können, strebte das Reichspropagandaministerium explizit die »Bekämpfung und möglichst weitgehende Unterdrückung des Bettelunwesens«57 an. Im Gegensatz zu den Zielen der Wandererfürsorge war
53 Ebd. 54 BayHStA München, MInn 71575, Schreiben RMdI, 15.9.1933. Vgl. Erlass PrMdI, 2.9.1933, in: Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 38 f., Dok 17; Schreiben RMdI, 15.8.1933, in: ebd., S. 35 f., Dok 35. 55 Vgl. ders., Asoziale (1995), S. 20–23, 28 f. 56 Schreiben RMfVP an Röhm, 12.7.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 14, Dok 7. Vgl. BayHStA München, MInn 71575, Presserichtlinien Aktion zur Bekämpfung des Bettelunwesens [o. D.]. 57 Schreiben RMfVP an RMdI Frick, 12.7.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 12 f., Dok 6. Vgl. BayHStA München, MInn 71575, Presserichtlinien Aktion zur Bekämpfung des Bettelunwesens [o. D.].
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ihm die Beseitigung der Wanderarmut nicht Selbstzweck, sondern lediglich Mittel, um das Spendenaufkommen für die Winterhilfe zu erhöhen. Damit zusammen hing eine weitere Zwecksetzung: die »Erziehung des Publikums« hinsichtlich seines »Verhalten[s] gegenüber Bettlern«.58 So führte das Reichsinnenministerium schon in der Phase der Politikformulierung aus, das »Bettelunwesen« könne nur dann erfolgreich bekämpft werden, wenn dies mit einer Verhaltensänderung der Öffentlichkeit einhergehe. »Wenn der Almosengeber verschwindet,« so das Kalkül, »wird auch der Bettler das Feld räumen«.59 Daher müsse das »Publikum […] darüber aufgeklärt werden, dass das Almosengeben an Bettler zu unterbleiben hat, weil es den volksschädlichen Bettel fördert, Mittel fehlleitet, die in den Händen der geordneten Fürsorge wertvolle Hilfe bringen würden, und zudem nach den Erfahrungen aller Fachkreise die ungeeignetste Form der Hilfe von Mensch zu Mensch darstellt«.60
Mit diesem Erziehungs- und Aufklärungsanspruch griff das Reichsinnenministerium ähnlich lautende Forderungen auf, die zuvor die Wohlfahrtsverbände,61 aber auch der preußische Innenminister in seinem Erlass vom Juni 1933 formuliert hatten.62 Die mit der Umsetzung der Razzia betrauten Landesregierungen wurden aufgefordert, in die »Aktion zur Bekämpfung des Bettelunwesens auch die Aufklärung des Publikums […] einzubeziehen«.63 Wie noch zu zeigen sein wird, fand gerade diese aufklärerische Stoßrichtung der Kampagne gegen das »Bettelunwesen« lebhaften Widerhall. Neben der Beseitigung der unerwünschten Konkurrenz für das Winterhilfswerk und der damit verbundenen »Erziehung« der Bevölkerung zu einer regimekonformen Mildtätigkeit erhoffte sich die NS-Führung von der Razzia noch einen dritten Effekt. Mit dem demonstrativ-entschlossenen Vorgehen gegen das Phänomen der Wanderarmut wollte man die Öffentlichkeit im Inund Ausland positiv beeindrucken.64 Eine »planmäßige Bekämpfung des Bettelunwesens«, so hieß es, sei »auch aus psychologischen Gründen nicht zu unterschätzen«:65 »Wenn die oft in widerlich aufdringlicher Weise aus egoistischen Zwecken öffentlich zur Schau gestellte Not aus dem Gesichtskreis der werktätigen Bevölkerung, vor allem der Fremden und Ausländer, verschwindet, so wird damit auch ein gewisses Gefühl 58 Schreiben RMdI, 15.8.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 36, Dok 14. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Als Beispiele vgl. Stellungnahme des Provinzialausschusses, S. 145; Wohlfahrtspflege als Bundesgenossen, S. 140. 62 Vgl. Erlass PrMdI, 1.6.1933, in: Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 5 f., Dok 4. 63 Schreiben RMdI, 15.8.1933, zit. nach ebd., S. 36, Dok 14. 64 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 22. 65 BayHStA München, MInn 71575, Presserichtlinien Aktion zur Bekämpfung des Bettelunwesens [o. D.].
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der Befreiung und Erleichterung, der Stabilisierung der Verhältnisse und des wirtschaftlichen Vorwärtskommen gewährleistet.«66
Durch die gewaltsame Beseitigung der sichtbaren Armut aus der öffentlichen Wahrnehmung versprach sich das noch nicht gefestigte NS-Regime also einen leicht zu erringenden, sozialpolitischen Erfolg. Eine ernsthafte Anstrengung, das Problem der Wanderarmut durch ein wirksames sozialpolitisches Programm zu lösen, unternahm die NS-Führung hingegen nicht.
4.2 Die Durchführung der »Bettlerrazzia« Nachdem sich im Juli und August die staatlichen Zentralbehörden in die Politikformulierung zur Bettlerbekämpfung eingeschaltet hatten, wurde Ende August/Anfang September 1933 die Phase der Politikdurchführung eingeleitet. An erster Stelle stand die Programmkonkretisierung und Ressourcenbereitstellung. Ein wesentliches Kennzeichen dieser Etappe war die Dominanz regionaler und lokaler Akteure. Die mit der Realisierung der »Bettlerrazzia« betrauten Landesregierungen koordinierten das Agieren der ihnen untergeordneten Instanzen, der NSDAP-Kampfverbände und der privaten Wohlfahrtsorganisationen. Aus der Heterogenität der Akteure folgte eine Heterogenität der Politiken, die als zweites Charakteristikum dieser Phase des politischen Problemverarbeitungsprozesses gelten kann. Im Folgenden stehen drei Fragenkomplexe im Mittelpunkt: Erstens soll erörtert werden, ob man bei der Durchführung der »Bettlerrazzia« die Weisungen der Reichsbehörden beachtete. Die Untersuchung der Programmkonkretisierung erfolgt exemplarisch anhand der Erlasse der bayerischen und württembergischen Staats- bzw. Landesregierung. Zweitens wird zu fragen sein, wie die unteren Instanzen auf die Erlasse der Landesregierungen reagierten. Ausgehend von der These der Politikfeldanalyse, dass politische Prozesse nie vollständig steuerbar sind, soll der Frage nachgegangen werden, welche Verschiebungen sich bei der Umsetzung der Großrazzia ergaben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die hochgradige Eigenständigkeit der lokalen und regionalen Kräfte grundsätzlich im Einklang mit den Anordnungen der Reichsinstanzen stand. Ein dritter Fragenkomplex widmet sich den Ergebnissen des politischen Prozesses: Lassen sich Aussagen über die Anzahl der bei der »Bettlerrazzia« verhafteten Personen treffen? Welche Konsequenzen hatte die Verhaftung für sie? Da ein wichtiges Ziel in der Phase der Politikformulierung die »Erziehung« oder »Aufklärung« der Bevölkerung darstellte, kann sich die Erörterung der Politikergebnisse der »Bettlerrazzia« aber nicht in der Betrachtung von Haftzahlen und 66 Schreiben RMfVP an RMdI Frick, 12.7.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 12 f., Dok 6.
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rechtlichen Konsequenzen erschöpfen. Es ist auch nach Erfolg oder Scheitern bei der Umsetzung des »Erziehungs- und Aufklärung«-Auftrages im Rahmen der Presseberichterstattung zu fragen. Diese Überlegungen können auf Ayaß’ Analyse der Pressekampagne zur »Bettlerrazzia« aufbauen67 und diese gleichzeitig um einen Gesichtspunkt erweitern. Die Konkretisierung der programmatischen Leitlinien, die das Reichspropaganda- und das Reichsinnenministerium im Sommer 1933 vorgelegt hatten, leitete eine weitere, allerdings nichtstaatliche Zentralinstanz ein: die NSVReichsführung. Am 28. August 1933 wandte sie sich an den Zentralausschuss für die Innere Mission, den Deutschen Caritasverband und das Deutsche Rote Kreuz, um die drei großen privaten Wohlfahrtsorganisationen zur Mitwirkung an der geplanten Verhaftungsaktion aufzufordern. Sie bat den Zentralausschuss, die örtlichen und regionalen Untergliederungen der ihm angeschlossenen Verbände entsprechend zu instruieren. Die Mitwirkung des Wohlfahrtsapparates war nicht nur als Garantie für einen reibungslosen Ablauf der Großrazzia von Nöten. Sie sicherte überdies seinen Teil des für die Durchführung notwendigen Personals, das man sonst anderweitig hätte rekrutieren müssen. Auch auf die Expertise der jahrelang auf diesem Gebiet beschäftigten Fachkräfte wollte man zurückgreifen: So bat die NSV-Reichsleitung den Dachverband der privaten Wohlfahrtsorganisationen, ihr über die Erfahrungen mit der »Bettlerbekämpfung« zu berichten sowie »wirkungsvolles Propagandamaterial zur Verfügung zu stellen«.68 Von den einzelnen Landesregierungen ergingen ebenfalls Weisungen, die das Verfahren entsprechend der Anordnungen der Reichsinstanzen konkretisierten, es um eigene Ideen ergänzten und die in die Durchführung involvierten Kräfte koordinierten. Am 8. September rief Bayerns Innenminister Wagner die Bezirksregierungen und Polizeidirektionen auf, »die Zusammenarbeit mit den Wohlfahrtsämtern sowie mit den weiter in Betracht kommenden, der N. S. Volkswohlfahrt angegliederten privaten Wohlfahrtsorganisationen vorzubereiten«.69 Ein entsprechender Erlass, den Innenminister Jonathan Schmid und Wirtschaftsminister Oswald Lehnich am 12. September 1933 für Württemberg herausgaben, wies das Polizeipräsidium Stuttgart an, wegen »der Verstärkung der Polizeibeamten […] sofort mit den örtlichen Beauftragten der Obersten SAFührung […] ins Benehmen zu treten«.70 Einige der im Zuge der Vorbereitungen angesprochenen Wohlfahrtsverbände befürworteten die in Aussicht gestellten Massenverhaftungen schon im Vorfeld lebhaft und meldeten sich mit eigenen Ideen zu Wort. So lobte Karl 67 Vgl. ebd., S. 25–30. 68 Schreiben NSV-Reichsführung, 28.8.1933, zit. nach ders., Gemeinschaftsfremde, S. 38, Dok 16. 69 BayHStA München, MInn 71575, Schreiben BayStMdI, 8.9.1933. 70 Erlass MdI und WM Württemberg, 12.9.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 40, Dok 18.
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Mailänder von der Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg71 am 25. August 1933 nicht nur die geplante Verschärfung der Repressionen: Die Wohlfahrtspflege habe, so Mailänder, »immer wieder betont, dass die Fürsorge für die geordneten, mittellosen Wanderer« sich nur dann »voll auswirken kann, wenn sie Hand in Hand geht mit einer strengen polizeilichen und strafrechtlichen Behandlung der asozialen Elemente«.72 Darüber hinaus regte er ein Treffen der involvierten Kräfte an, »um ein erfolgreiches Zusammenarbeiten von Polizei, öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege und Presse sicherzustellen«.73 Ebenso wie ihre Koordinierungsfunktion nahmen die Landesregierungen auch den »Erziehungs- und Aufklärungsauftrag«, den die Reichsinstanzen den untergeordneten Behörden erteilt hatten, überaus ernst. Der württembergische Erlass vom 12. des Monats führte aus, dass ein Erfolg der Verhaftungsaktion »ohne verständnisvolle Mitwirkung der Bevölkerung nicht zu erreichen«74 sei. Diese müsse daher »entsprechend erzogen und vor allem darüber aufgeklärt werden, dass in Württemberg für die mittellosen Wanderer bewährte Einrichtungen bestehen […], dass das Almosengeben an Bettler den volksschädlichen Bettel nur fördert […] und Mittel fehlleitet, die in den Händen der geordneten Fürsorge wertvolle Hilfe bringen würden. Der Bevölkerung ist hauptsächlich klar zu machen, dass sie Bettler abweisen und an die Fürsorgestellen verweisen muß.«75
Dahingehende Anordnungen erteilte die württembergische Landesregierung nicht nur Presse und Rundfunk. Die Polizeibehörden beauftragte sie, eine »Aufklärung« der Bevölkerung durch »regelmäßig wiederkehrende Hinweise in der Presse« zu unterstützen.76 Die aufklärerische Stoßrichtung der Großrazzia fand auch in der württembergischen Zentralleitung für Wohltätigkeit positiven Widerhall.77 Allerdings waren sich zumindest einige der involvierten Akteure des krisenbedingten Ursprungs des »Bettelunwesens« bewusst und befürchteten aufgrund 71 Die Zentralleitung für Wohltätigkeit war 1871 gegründet worden und unterstand als öffentlich-rechtliche Körperschaft dem Württembergischen Innenministerium. Sie fungierte als Koordinationsstelle der nichtstaatlichen Wohlfahrtspflege und gleichzeitig als Bindeglied zwischen öffentlichen und privaten Fürsorgeorganisationen. Karl Mailänder war als Oberregierungsrat in der Zentralleitung tätig und führte gleichzeitig den Vorsitz des württembergischen Vereins zur Förderung der Wanderarbeitsstätten. Vgl. ebd., S. 36 Anm. 1. 72 Schreiben Zentralleitung für Wohltätigkeit Württemberg, Mailänder, 25.8.1933, zit. nach ebd., S. 36, Dok 15. 73 Ebd., S. 37, Dok 15. 74 Erlass MdI und WM Württemberg, 12.9.1933, zit. nach ebd., S. 40, Dok 18 [Hervorh. i. Orig.]. 75 Ebd. [Hervorh. i. Orig.]. Vgl. BayHStA München, MInn 71575, Schreiben BayStMdI, 8.9.1933; Erlass PrMdI, 2.9.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 38 f., Dok 17. 76 Erlass MdI und WM Württemberg, 12.9.1933, zit. nach ebd., S. 40, Dok 18. 77 Vgl. Schreiben Zentralleitung für Wohltätigkeit Württemberg, Mailänder, 25.8.1933, zit. nach ebd., S. 37, Dok 16.
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dessen, dass die verschärften Repressionen gegen Bettler in der Öffentlichkeit nicht nur auf Zustimmung stoßen würden. Indirekt hatte diese Sorge bereits Abteilungsleiter Haegert aus dem Reichspropagandaministerium zum Ausdruck gebracht, als er die SA-Führung zur taktvollen Zurückhaltung gegenüber den staatlichen Wohlfahrtsstellen und privaten Fürsorgeorganisationen mahnte. Nicht die Härte des Vorgehens, sondern die angestrebte Besserung des Loses der Bettler sei in den Vordergrund zu stellen.78 Erst im Kontext dieser Argumentation wird auch die Bedeutung verständlich, die man der »Aufklärung« und »Erziehung« der Bevölkerung beimaß: Man wollte einer Kritik zuvorkommen und ihr, notfalls durch propagandistische Verdrehung, den Nährboden entziehen. Bayerns Innenminister Wagner brachte das klar zum Ausdruck: »Mit Rücksicht darauf, dass die Bettler zum großen Teil aus wirtschaftlicher Not handeln und infolgedessen erfahrungsgemäß in vielen Fällen zu erwarten sein wird, dass das Publikum sich über die Anhaltung der Bettler missliebig äußert, ist für entsprechende Aufklärung in der Presse zu sorgen.«79
Am 15. September 1933 bekräftigte die bayerische Landesstelle des Propagandaministeriums mit besonderen Richtlinien für die Presse über die Aktion zur Bekämpfung des Bettelunwesens80 den »Erziehungs- und Aufklärungsauftrag«. Aufgabe der Tageszeitungen sei es, »die Aktion zur Bekämpfung des Bettelunwesens mit aller Energie zu unterstützen und die öffentliche Meinung so zu beeinflussen, dass diese Aktion in der Gesamtheit des Volkes freudigen Widerhall findet«.81 Am 18. September 1933, dem Tag des Auftaktes der »Bettlerwoche«, wandte sich die bayerische Staatsregierung sogar selbst mit einem Aufruf, der in der gesamten bayerischen Tagespresse abgedruckt war, an die Bevölkerung.82 Um die »Aufklärung« der Öffentlichkeit abzurunden, plante das Bayerische Innenministerium sogar eine Rundfunkansprache, die im unmittelbaren Anschluss an die Razzia gesendet werden sollte.83 Die Argumentationsstrategie, mit der die Bevölkerung von der Verderbtheit der angeblichen »Berufsbettler« überzeugt und über die Möglichkeiten regimekonformen Almosengebens informiert werden sollte, folgte – mitunter 78 Vgl. Schreiben RMfVP an Röhm, 12.7.1933, in: ebd., S. 13 f., Dok 7. 79 BayHStA München, MInn 71575, Schreiben BayStMdI, 8.9.1933. Diese Passage folgte einer Argumentation, die bereits der Erlass des Preußischen Innenministeriums vom 1. Juni 1933 vorgegeben hatte. Vgl. Erlass PrMdI, 1.6.1933, in: Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 5, Dok 4. 80 Vgl. BayHStA München, MInn 71575, Presserichtlinien Aktion zur Bekämpfung des Bettelunwesens [o. D.]. Datierung und Urheberschaft ergeben sich nicht aus dem Dokument selbst, sondern sind einem in derselben Akte überlieferten Brief der bayerischen Landesstelle des Propagandaministeriums zu entnehmen, bei dem es sich offenbar um das Anschreiben an das Bayerische Innenministerium handelt, das den Presserichtlinien beigefügt war. Vgl. ebd., Schreiben Landesstelle Bayern des RMfVP, 15.9.1933. 81 Ebd., Presserichtlinien Aktion zur Bekämpfung des Bettelunwesens [o. D.]. 82 Vgl. Aufruf Bayerische Staatsregierung, 18.9.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 43, Dok 20. 83 Vgl. BayHStA München, MInn 71575, Schreiben, 23.9.1933 [Urheber vermutlich BayStMdI].
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bis ins wörtliche Detail – dem Begründungszusammenhang, den Abteilungsleiter Haegert aus dem Reichspropagandaministerium bereits im Sommer formuliert hatte.84 In Form von Rundschreiben und Presserichtlinien gaben die Landesregierungen und Landesstellen des Propagandaministeriums nicht nur den »Erziehungs- und Aufklärungsauftrag« nach unten an die örtliche Presse zur Verkündung weiter, sondern überdies die von Haegert verwendete Argumentationsstrategie. Selbst in zahllosen Zeitungsartikeln finden sich direkte, aber selbstverständlich ungekennzeichnete, Zitate aus den beiden Ursprungsschreiben des Propagandaministeriums. Die Presse setzte das an sie herangetragene Anliegen in einer Flut von Artikeln und Kurzmeldungen um, welche die »Bettlerwoche« kampagnenartig begleiteten. Die ersten Pressemeldungen erschienen bereits Wochen vor der Razzia, wobei einige Zeitungen sogar so weit gingen, den geplanten Beginn der Verhaftungsaktion im Vorhinein anzukündigen.85 Die Berichterstattung erstreckte sich bis weit in den Spätherbst, ja, mitunter sogar bis in den Winter 1933/34. Betrachtet man die Pressekampagne zur »Bettlerrazzia« im Hinblick auf die »Aufklärungs- und Erziehungsfunktion«, so sind vier Argumentationsstrategien auszumachen: erstens die Schilderung »besonders krasse[r]«86 Fälle von Bettelei, zweitens offene Drohungen, drittens Appelle und Versprechen sowie viertens eine Erläuterung der Grundideen der »völkischen Wohlfahrtspflege« mit ihrer Zweiteilung in »aufbauende Volkspflege« und negativ-eugenischer Behandlung der »Minderwertigen« und »Asozialen«. Den argumentativen Ausgangspunkt bildete vielfach die Feststellung: »Dem Wunsch des Führers entsprechend soll im kommenden Winter kein Mensch in Deutschland mehr hungern oder frieren. Dieser Kampf gegen Hunger und Kälte soll weit über den Rahmen der bisherigen Winterhilfe hinaus zu einer großzügigen und einheitlichen Aktion gestaltet werden.«
Diese Sätze waren wortwörtlich dem Schreiben entnommen, das Haegert am 12. Juli 1933 an Ernst Röhm geschickt hatte.87 Sie bildeten eine Art Legitimationsformel, an welche die »Aufklärung« der Leser anknüpfen konnte. In den Kontext der Winterhilfe gestellt, konnte die Bekämpfung des »Bettelunwesens« als »unbedingt notwendige Voraussetzung«88 für die Erreichung eines übergeordneten Ziels, der effektiven Linderung der Not in den kalten Wintermonaten, propagiert werden. Von diesem argumentativen Grundmuster ausgehend, zielte die erste Strategie darauf, bettelnde Menschen durch die Schilderung der Praktiken angeblich 84 Als Beispiel vgl. BayHStA München, MInn 71575, Schreiben BayStMdI, 8.9.1933. 85 Vgl. Süddeutsche Zeitung, 23.8.1933, zit. nach Ayaß, Asoziale (1995), S. 2, 27. 86 Berliner Börsen-Zeitung, 28.9.1933, zit. nach ebd., S. 26. 87 Vgl. Schreiben RMfVP an Röhm, 12.7.1933, in: ders., Gemeinschaftsfremde, S. 13 f., Dok 7. 88 BayHStA München, MInn 71575, Presserichtlinien Aktion zur Bekämpfung des Bettelunwesens [o. D.].
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»berufsmäßige[r] Bettler«89 unter Generalverdacht zu stellen und der Betrügerei zu überführen. Die Delegitimierung des Bettlers sollte der Legitimation der Massenverhaftungen dienen. Schon in seinem Schreiben an die SA-Führung hatte Abteilungsleiter Haegert das Bild vom »falschen Bettler« und der »Bettlermafia« skizziert, wobei er an eine lange Tradition tief verwurzelter Vorurteile anknüpfte:90 Bei den meisten Bettlern handele es sich nicht um Notleidende, sondern um »minderwertige Elemente«,91 die mitunter über beträchtliche Geldmittel verfügten. Mancher »falsche Bettler« verdiene mit seinem verwerflichen Gewerbe mehr als jeder anständige Arbeiter. Überdies werde ein schwunghafter Handel mit den erbettelten Lebensmitteln und Waren betrieben. Schlagzeilen wie »Ein Bettler mit 5 Morgen Land«,92 »Der Bettler mit dem Bankkonto«93 oder »Bettler beziehen Renten«94 waren typisch für diese Argumentationsstrategie. Nicht selten stand derselbe »krasse Fall« für Artikel in mehreren Tageszeitungen Pate.95 Abgesehen davon, dass die Zeitungen spektakuläre Meldungen schlichtweg voneinander abschrieben, lässt sich anhand der bayerischen Überlieferung ein weiterer Mechanismus nachweisen, der zu der Verselbständigung des Bildes vom »falschen Bettler« beitrug: Nachdem Göring am 2. September 1933 die staatlichen Mittel- und Unterbehörden zur Berichterstattung über die »Bettlerwoche« aufgefordert hatte, konkretisierte ein auf den 23. September datiertes Dokument, das vermutlich auf die Autorenschaft von Bayerns Innenminister Wagner zurückgeht, die inhaltlich vage gebliebene Vorgabe des preußischen Ministerpräsidenten. Die unteren Instanzen sollten der bayerischen Landesregierung über »Einzelfälle« berichten, »die sich propagandistisch verwerten lassen oder sonst für die heutigen Bettlermethoden kennzeichnend sind«.96 Den überlieferten Berichten sind dann tatsächlich entsprechende Schilderungen zu entnehmen. So wartete beispielsweise das Polizeiamt Straubing mit einer regionalspezifischen, zum dortigen »Kloster- und Anstaltsbettel« passenden Version des Bildes vom »falschen Bettler« auf: »Ein ortsansässiger Wohlfahrtsunterstützungsempfänger«, berichtete Polizeiinspektor Georg Schirm, »schickt seit den letzten Jahren seine Kinder täglich 3–4 mal in die Anstalten um Essen zu holen. Dieses Essen wurde aber in der Regel nicht in der Familie verzehrt, sondern in einen zuhause bereitgestellten Eimer geschüttet und so gesammelt an die Schweine verfüttert. Der Betreffende kaufte sich jährlich 2 bis 3 junge Schweine, fütterte dieselben fast ausschließlich mit dem in den Klöstern gebettelten Essen (Suppe und Gemüse) und verkaufte sie dann zu Schlachtzwecken weiter.«97 89 Schreiben RMfVP an Röhm, 12.7.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 14, Dok 7. 90 Vgl. ders., Asoziale (1995), S. 23–30. 91 Schreiben RMfVP an Röhm, 12.7.1933, zit. nach ders., Gemeinschaftsfremde, S. 14, Dok 7. 92 Bettler mit Land, BadPr, 23.9.1933. 93 Bettler mit Bankkonto, ebd., 10.10.1933. 94 Bettler beziehen Renten, ebd., 25.9.1933. 95 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 23. 96 BayHStA München, MInn 71575, Schreiben, 23.9.1933 [Urheber vermutlich BayStMdI]. 97 Ebd., Bericht Polizeiamt Straubing, 1.10.1933.
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Solche Darstellungen entsprachen genau jenen generalisierenden Unterstellungen, die das Reichspropagandaministerium gegenüber Bettlern und Landstreichern schon im Vorfeld der Verhaftungsaktion formuliert hatte. Es kann davon ausgegangen werden, dass es solche Fälle waren, die der Weisung der bayerischen Landesregierung entsprechend in Presseerklärungen gezielt an die Öffentlichkeit gegeben wurden. Die bayerische Überlieferung zeigt, dass das Bild vom »falschen Bettler«, das von der Reichsebene seinen Weg hinunter zu den Staatsorganen der Bezirke und Gemeinden nahm, die es wiederum in ihren Berichten an die vorgesetzten Behörden reproduzierten und so erneut nach oben gaben, den Charakter einer selbsterfüllenden Prophezeiung trug. Die zweite Argumentationsstrategie, mit der die Presse den »Erziehungsund Aufklärungsauftrag« umsetzte, bestand in offenen Drohungen. So ermahnte die Vossische Zeitung unter der Überschrift »Nichts dem Bettler direkt!«98 ihre Leser, dass jeder, der einen Bettler unterstütze, sich staatsfeindlich betätige. Andere Presseartikel setzten die »Aufklärung des Publikums«99 in Form von Versprechen und Appellen um. Als positiver Anreiz für ein regimekonformes Verhalten gegenüber Bettlern diente in dieser dritten Argumentation die Suggestion eines künftig von lästigen Bettlern und Hausierern befreiten Lebens.100 Würden diese nur konsequent abgewiesen und das Geld stattdessen der Wohlfahrt gespendet, wäre der »Bettlerplage« bald der Nährboden ent zogen. Der Strategie des Appells bediente sich die bayerische Staatsregierung am ersten Tage der »Bettlerwoche«. In ihrer Erklärung an die Bevölkerung hieß es: »Pflicht eines jeden Volksgenossen« sei es, »diese Aktion […] zu unterstützen und so die Beseitigung eines Zustands mit herbeizuführen, der eines arbeitsamen und aufbauwilligen Kulturvolks unwürdig ist«.101 Nicht selten leiteten derartige Parolen über in die vierte Argumentationsstrategie, welche die Grundidee der »völkischen Wohlfahrtspflege« erläuterte. Im Zentrum dieser Strategie stand die beruhigende Versicherung, dass sich NSV, Winterhilfe und Wohlfahrtsstellen um die wirklich Not leidenden Menschen kümmerten. So konstatierte der Völkische Beobachter zu Beginn der »Bettlerwoche« zuerst in scharfen Worten »Volkgenosse, die berufsmässigen Bettler müssen verschwinden!«,102 um dann im gleichen Atemzug zu erläutern: »Wirklich Not kannst Du lindern, wenn Du Spenden gibst für das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes.«103 Die Verheißung, dass unverschuldet Not leidende Menschen versorgt würden, stellte tatsächlich ein neues, sozialpolitisches Versprechen dar, das im Zu98 Vossische Zeitung, 3.11.1933, zit. nach Ayaß, Asoziale (1995), S. 28. 99 Schreiben RMdI, 15.8.1933, zit. nach ders., Gemeinschaftsfremde, S. 36, Dok 14. 100 Vgl. Der Führer, 16.9.1933; Karlsruher Zeitung, 16.9.1933; Vossische Zeitung, 17.12.1933; Ayaß, Asoziale (1995), S. 27. 101 Aufruf Bayerische Staatsregierung, 18.9.1933, zit. nach ders., Gemeinschaftsfremde, S. 42 f., Dok 20 [Hervorh. i. Orig.]. 102 VB, 19.9.1933, zit. nach ders., Asoziale (1995), S. 28. 103 Ebd.
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sammenhang mit der »Bettlerwoche« der Öffentlichkeit angepriesen wurde. Seit der Weltwirtschaftskrise war es keineswegs mehr selbstverständlich, dass arbeits- und in Folge dessen wohnungslos gewordene Menschen staatliche Unterstützung erhielten oder Hilfe bei privaten Wohlfahrtsorganisationen fanden. Im Gegenteil, das Phänomen der aus der Arbeitslosenversicherung ausgesteuerten, auf unzureichende Leistungen der kommunalen Wohlfahrtsämter angewiesenen »Wohlfahrtserwerbslosen« war in der öffentlichen Wahrnehmung allgegenwärtig. Gerade in Verbindung mit dem Versprechen, die wirtschaftliche Not der Bevölkerung zu beseitigen, deuteten die Presseartikel aber auch schon die scharfe sozialrassistische Selektions- und Exklusionspolitik an, welche die »völkische Wohlfahrtspflege« in den kommenden Jahren prägte. In dem Aufruf der bayerischen Staatsregierung vom 18. September 1933 hieß es in Anlehnung an die Rede Fricks vor dem Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassepolitik: »Für die wirklich Bedürftigen wird sich die NS-Volkswohlfahrt im Rahmen des Winterhilfswerks einsetzen. Deutschland ist jedoch zu arm, um berufsmässige Bettler, Arbeitsscheue, Trinker und Betrüger zu unterstützen. Wir brauchen unser Geld für die Anständigen und Gesunden!«104
Während die bayerische Staatsregierung noch offen ließ, welche Konsequenzen eine solche Politik für jene Personen haben würde, die man einer Unterstützung für »unwürdig« hielt, gab die »Bettlerrazzia« einen Vorgeschmack darauf, was als »Asoziale« stigmatisierte Personen unter den Bedingungen des NS-Regimes zu erwarten hatten: Ausschluss aus dem Wohlfahrtsunterstützungsbezug, strafrechtliche Verfolgung, Arbeitshauseinweisung sowie Zwangsinternierung in Konzentrations- und anderen Lagern. Lediglich die Zwangssterilisierungen, die in den folgenden Jahren an zahllosen Menschen aufgrund ihrer angeblichen »Asozialität« vollzogen wurden, spielten im Zusammenhang mit der »Bettlerrazzia« noch keine Rolle. Die Instruktion und Koordination der in die Razzia involvierten Akteure war ein entscheidendes Stadium der Programmkonkretisierung. Einen letzten wichtigen Schritt stellte die nähere Bestimmung der Zielgruppen der Verhaftungsaktion dar. Während sich die Reichsbehörden bei der Politikformulierung zur »Bettlerwoche« immer nur vage über den anvisierten Personenkreis geäußert hatten, ist bei der Durchführung der Razzia eine Anpassung an die regional spezifischen Erscheinungsformen des »Bettelunwesens« zu beobachten.105 Nannten die Schreiben der Zentralinstanzen ganz allgemein »Bettler«, »Straßenbettler« 104 Aufruf Bayerische Staatsregierung, 18.9.1933, zit. nach ders., Gemeinschaftsfremde, S. 43, Dok 20 [Hervorh. i. Orig.]. 105 In ihren Anordnungen zur »Bettlerwoche« nahmen einige Landesregierungen in einer Art Präambel auf regionale Besonderheiten und Maßnahmen der Bettlerverfolgung Bezug. Vgl. BayHStA München, MInn 71575, Schreiben BayStMdI, 8.9.1933; Erlass MdI und WM Württemberg, 12.9.1933, in: Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 39, Dok 18.
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und »berufsmäßige Bettler« als Zielgruppe oder bezogen sich noch unspezifischer auf das »Bettelunwesen«, den »volksschädlichen Bettel« und »unwürdige Elemente«,106 wies die württembergische Landesregierung am 12. September 1933 die Polizeibehörden an, »vor allem auch gegenüber den sog[enannten] sesshaften ›Wanderern‹ keine falsche Nachsicht zu üben«.107 Gemeint waren damit Personen, die zwar noch nicht obdachlos geworden, aber verarmt waren und die daher in der Umgebung ihres Wohnsitzes bettelten, als Hausierer versuchten, billige Waren zu verkaufen, oder sich als Musikanten und Schausteller betätigten. Des Weiteren wollte die württembergische Landesregierung »schärfstes Augenmerk auf die Personen« gerichtet wissen, »die den Betrieb eines nicht stehenden Gewerbes […] zum Deckmantel für Bettelei mißbrauchen«.108 Wie vom Preußischen Innenministerium angeordnet, begann die Verhaftungswelle reichsweit am 18. September 1933. Ihre Dauer war regional unterschiedlich, erstreckte sich aber vielerorts maximal über eine Woche, also bis zum 23. September.109 Das Vorgehen der an der Razzia beteiligten Kräfte orientierte sich genau an den vom Reichspropagandaministerium im Juli formulierten Vorstellungen. In enger Kooperation kontrollierten und verhafteten SA, SS und Hilfspolizei alle Personen, die sie der Bettelei oder Landstreicherei verdächtigten, oder die ihnen von den privaten Fürsorgeorganisationen und staatlichen Wohlfahrtsstellen gemeldet wurden. Dabei wurden insbesondere alle jene Orte systematisch durchkämmt, die den Polizeibehörden und Wohlfahrtsämtern als Obdachlosen- und Wanderertreffpunkte bekannt waren, z. B. Nachtasyle, Wanderherbergen und einschlägige Kneipen. Nach der Verhaftung wurden die aufgegriffenen Personen in die Polizeistationen gebracht, wo eine Vernehmung erfolgte. Das weitere Procedere erhellt wiederum der Erlass des Württembergischen Innen- und Wirtschaftsministeriums zur Durchführung der Razzia. Das darin angeordnete Vorgehen dürfte exemplarisch für die übrigen Gebiete des Reiches stehen, da es den Maßgaben des Reichspropagandaministeriums fast im Wortlaut folgte:110 Neben den Per106 Vgl. Erlass PrMdI, 2.9.1933, in: ebd., S. 38 f., Dok 17; Schreiben RMdI, 15.8.1933, in: ebd., S. 35 f., Dok 14; Schreiben RMfVP an RMdI Frick, 12.7.1933, in: ebd., S. 12 f., Dok 6; Schreiben RMfVP an Röhm, 12.7.1933, in: ebd., S. 13 f., Dok 7. Interessant ist die diskursive Verknüpfung zwischen dem Begriff Bettler und den kriminologischen Ausdrücken »Berufs«- bzw. »Gewohnheitsverbrecher«. Ganz der kriminologischen Logik folgend stellten »Besserungsunfähigkeit« und mangelnde Arbeitsbereitschaft die ausschlaggebenden Definitionskriterien dar: »Dem Berufsbettler fehlt der Wille, sich grundlegend helfen zu lassen. Er kann und will nicht mehr arbeiten.« Aufruf Bayerische Staatsregierung, 18.9.1933, zit. nach ebd., S. 43, Dok 20. Vgl. BayHStA München, MInn 71575, Bericht Bezirksamt Dingolfing, 4.10.1933; Moore, Opinion, S. 59. 107 Erlass MdI und WM Württemberg, 12.9.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 40, Dok 18. 108 Ebd., S. 41. 109 Vgl. ders., Asoziale (1995), S. 23. 110 Vgl. Schreiben RMfVP an RMdI Frick, 12.7.1933, in: ders., Gemeinschaftsfremde, S. 13, Dok 6.
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sonalien sollten auch etwaige Vorstrafen festgestellt werden. Zudem war mit den Organen der öffentlichen und privaten Fürsorge die Frage zu klären, ob die Betroffenen Unterstützungszahlungen erhielten. In den »voraussichtlich wenigen Fällen«111 tatsächlicher Bedürftigkeit seien die Betroffenen den zuständigen Stellen zu übergeben. Bei jugendlichen Bettlern bestand die Weisung, in allen Fällen die Jugendämter zu verständigen. Wie viele Personen die Polizei im gesamten Deutschen Reich während der »Bettlerwoche« verhaftete, kann aufgrund der stark fragmentierten Quellenlage bislang nur geschätzt werden.112 Ayaß vermutet, insgesamt seien mehrere zehntausend Menschen betroffen gewesen. »Nie zuvor« waren im Deutschen Reich »bei einer einzigen Polizeiaktion so viele Menschen aufgegriffen«113 worden. Eine punktuelle Zusammenstellung der Verhaftungszahlen vermittelt einen ungefähren Eindruck, welche Größenordnungen die »Bettlerrazzia« in verschiedenen Gebieten des Reiches annahm: So meldete Württemberg insgesamt 4.818 Kontrollen. In Hamburg griff die Polizei 1.400, in Leipzig 243, in Bremen »weit über hundert«114 Personen auf. In Baden wurden 2.763 Personen kontrolliert und gegebenenfalls verhaftet.115 Für die Stadt München liegt sogar eine nach Geschlechtern aufgeschlüsselte Meldung vor: Dort gerieten während der »Bettlerwoche« 471 Männer und 39 Frauen in die Kontrollen der Polizei.116 Für das Gebiet Bayerns liegen die Berichte mehrerer Regionalbehörden über die Aktion vor. Die Landkreise Dingolfing, Rottenburg und Wolfstein und der Stadtrat Amberg117 meldeten zusammen insgesamt 301, das Polizeiamt Straubing118 über 70 während der »Bettlerwoche« durchgeführte Kontrollen.119 Im Landkreis Tölz beschränkte die Polizei den Kampf gegen Bettler und Landstreicher nicht auf die Woche vom 18. bis zum 23. September, sondern führte 111 Erlass MdI und WM Württemberg, 12.9.1933, zit. nach ebd., S. 41, Dok 18. 112 Entsprechende Zahlen müssten der Überlieferung in den Stadt-, Staats- und Hauptstaatsarchiven sowie der Tagespresse entnommen werden. 113 Ders., Asoziale (1995), S. 24. 114 Zit. nach ebd. 115 Vgl. Aufmachen, BadPr, 6.11.1934. 116 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 24; Kolata, Sozialdisziplinierung, S. 323; Lohalm, Wohlfahrtsdiktatur, S. 385. 117 Bei dem Bericht des Stadtrates Amberg ist unklar, ob die dort genannten Zahlen die Verhaftungen im gesamten Einzugsbereich des Bezirksamtes Amberg oder nur im Stadtgebiet beinhalten. Es liegt jedoch die Vermutung nahe, dass es sich um den Bericht des Bezirksamtes handelt. 118 Ähnlich wie im Falle Ambergs ist auch bei den im Bericht des Polizeiamtes Straubing genannten Haftzahlen unklar, ob sie sich nur auf die Stadt Straubing oder auf den gleichnamigen Landkreis beziehen. Da das Schreiben an den Stadtrat Straubing adressiert ist, kann unter Berücksichtigung des Dienstwegs bei der Berichterstattung angenommen werden, dass sich die Angaben auf die Stadt Straubing beziehen. 119 Vgl. BayHStA München, MInn 71575, Bericht Bezirksamt Dingolfing, 4.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Rottenburg, 7.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Wolfstein, 6.10.1933; ebd., Bericht Polizeiamt Straubing, 1.10.1933; ebd., Bericht Stadtrat Amberg, 2.10.1933.
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mindestens bis Mitte November verschärfte Kontrollen durch. Für diesen Zeitraum meldete das Bezirksamt 83 aufgegriffene Personen.120 Rechnet man zu diesen Zahlen die 510 Personen hinzu, welche die Polizeidirektion München sistierte, kommt man allein schon für die genannten Teilgebiete Bayerns auf eine Gesamtzahl von 964 Kontrollen und Festnahmen.121 Auffällig ist das Bemühen der Berichterstatter, die verhafteten Personen zu kategorisieren. Während einige sich dabei schlicht auf die Tätigkeit bezogen, deretwegen die an der Razzia beteiligten Exekutivorgane auf die Betroffenen aufmerksam wurden, verwendeten andere eine an den straf- und »bewahrungsrechtlichen« Diskurs angelehnte Terminologie. So unterteilte eine Aufstellung aus der württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart die bei der Razzia kontrollierten Personengruppen recht nüchtern in Bettler, Hofsänger und Hausierer.122 Das Bezirksamt Tölz unterschied zwischen fünf Gruppen: erstens »Gewohnheitsbettler und Landstreicher«, zweitens »Taugenichtse und sonstige Arbeitsscheue«, drittens »Übelbeleumundete und Verbrecher«, viertens »Gutsituierte« und schließlich fünftens »arme Bettler«.123 Der Berichterstatter des bayerischen Bezirkes Dingolfing wiederum, wo man insgesamt 108 Personen kontrolliert hatte, beurteilte jene 49 Menschen, gegen die tatsächlich Strafanzeige erstattet worden war, als »Gewohnheitsbettler«, die »arbeitsunfähig oder arbeitsscheu« seien.124 Den Alten und Invaliden unter den Verhafteten unterstellte das Bezirksamt Dingolfing pauschal, sie bezögen »nicht unbeträchtliche Renten«.125 Damit reproduzierte es das Bild des »falschen Bettlers«, das das Reichspropagandaministerium vorgezeichnet hatte. Unter den Berichten aus Bayern gab es aber auch Stimmen, welche die propagandistischen Prämissen zurückwiesen. Deutlich Bezug nehmend auf die Vorgaben, welche die bayerische Landesregierung für die Berichterstattung gemacht hatte, konstatierte das Bezirksamt Rottenburg: 120 Vgl. ebd., Bericht Bezirksamt Tölz, 11.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Tölz, 25.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Tölz, 14.11.1933. 121 Der Bericht des Bezirksamtes Pfaffenhofen (Regierungsbezirk Oberbayern) enthält kurioserweise keine Verhaftungszahlen. Vgl. ebd., Bericht Bezirksamt Pfaffenhofen/Ilm, 14.10.1933. 122 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 24. 123 Vgl. BayHStA München, MInn 71575, Bericht Bezirksamt Tölz, 11.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Tölz, 25.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Tölz, 14.11.1933. Interessant an der Entwicklung der »Bettlerbekämpfung« im Bezirk Tölz ist, dass die Zahl der Verhaftungen mit zunehmender Dauer der Aktion nicht sank, sondern stieg. So berichtete das Bezirksamt am 11. Oktober von 15, am 25. Oktober von 29 und am 14. November 1933 über 39 Kontrollen. Gleichzeitig stieg der Anteil derer, die das Bezirksamt Tölz als »wirklich Arme« einstufte, im Verlauf der Aktion überproportional an. Während diese Beschreibung am 11. Oktober seiner Einschätzung nach nur auf vier Verhaftete zutraf, waren es am 14. November 19 der insgesamt 39 Betroffenen. In seinem letzten Bericht resümierte das Bezirksamt Tölz vor dem Hintergrund dieser Zahlen: »Die Bettlerplage hat so gut wie aufgehört.« 124 Ebd., Bericht Bezirksamt Dingolfing, 4.10.1933. 125 Ebd.
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»Besonders schwere Fälle von Bettelei, insbesondere solche, die sich propagandistisch auswerten ließen oder sonst für die Bettlermethoden besonders kennzeichnend wären, sind […] hier nicht gegeben. Unter den hier bekannt gewordenen Bettlern wurden zwar einige Rentenbezieher […] festgestellt. Es handelt sich jedoch nur um geringe Rentenbeträge und, nach den gesamten Umständen überhaupt um leichtere Fälle.«126
Von den 49 Personen, welche im Einzugsbereich des Bezirksamtes Rottenburg während der »Bettlerwoche« kontrolliert worden waren, sei zwar »ungefähr die Hälfte« festgenommen und vom Amtsgericht wegen Bettelei verurteilt worden, doch sei »ein guter Teil der Bettler […] auf der Rückkehr von der Hopfenpflückertätigkeit« gewesen bzw. habe erfolglos nach einer Beschäftigung bei derartigen landwirtschaftlichen Erntearbeiten gesucht.127 Der Bericht des Bezirksamtes Rottenburg gibt nicht nur über den sozialen Hintergrund der Verhafteten Auskunft, sondern liefert auch detaillierte Einblicke in das weitere Verfahren. Diejenigen unter den auswärtigen Saisonarbeitern, welche die Polizei inhaftiert hatte, seien verhört und belehrt worden. Anschließend habe man jedem, der glaubhaft versichern konnte, nach Hause, zu seinen Angehörigen oder an eine Arbeitsstelle zurückkehren zu wollen, mit entsprechenden Papieren für die Rückreise versehen. Um eine geordnete Rückkehr der Saisonarbeiter an ihre Heimatorte zu garantieren, hielt es das Bezirksamt Rottenburg für notwendig, besondere Vorkehrungen zu treffen. Zu diesem Zweck setzte es sich mit den Fürsorgeverbänden der Umgebung in Verbindung und wies sie auf ihre Pflicht hin, den Durchreisenden bei Vorlage der eigens ausgestellten Ausweise und »im Falle der Hilfsbedürftigkeit pflichtgemäss die erforderliche Verpflegung und Unterkunft zu gewähren«.128 Mehr noch, soweit möglich trat man an die Fürsorgebehörde der Heimatgemeinde heran, um eine hinreichende Versorgung der zurückkehrenden Saisonarbeiter sicherzustellen. In anderen Fällen bemühte sich das Bezirksamt, den als unterstützungswürdig erachteten Personen, die nirgendwohin zurückkehren konnten, ein Auskommen zu verschaffen. So vermittelte es zwei junge Männer, die »einen guten Eindruck« gemacht hätten und die »offenbar noch […] keine Gewohnheitsbettler waren, sondern auf der Wanderschaft (Arbeitssuche) aus Not gebettelt hatten«,129 in ein FAD-Lager. Zwei gebrechliche alte Männer wiederum wollte man laut Bericht in einer Pfründneranstalt oder einem Spital unterbringen. Eine weitere Person, einen »typische[n] alte[n] Landstreicher mit unzähligen Vorstrafen«130 beabsichtigte man zwangsweise in eine Arbeitsanstalt einzuliefern. Als Rechtsgrundlage diente das bayerische »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz«. 126 Ebd., Bericht Bezirksamt Rottenburg, 7.10.1933. Vgl. ebd., Bericht Bezirksamt Wolfstein, 6.10.1933; ebd., Bericht Stadtrat Amberg, 2.10.1933. 127 Ebd., Bericht Bezirksamt Rottenburg, 7.10.1933. 128 Ebd. 129 Ebd. 130 Ebd.
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Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die regionalen Spezifika bei der Durchführung der »Bettlerrazzia« ist das Vorgehen im bayerischen Landkreis Straubing. Wie oben angeführt, hatte Polizeiinspektor Schirm bereits im Juni 1933 den Kampf gegen das »Bettelunwesen« aufgenommen. Voll Stolz verkündete er in seinem Bericht an den Stadtrat Straubing: »Zu Beginn der Bettler bekämpfungswoche vom 18. [bis] 23.9.33 war das Bettelunwesen im Stadtbezirk Straubing bereits beseitigt.«131 Auch das Straubinger Tagblatt war voll des Lobes: »Die Straubinger Polizei ist unter ihrer neuen Leitung der Zeit voraus geeilt«,132 hob es die Vorreiterrolle Schirms bei der »Bettlerbekämpfung« hervor. Durch sein energisches Vorgehen sei der Polizeiinspektor »der neuen Regierungsmaßnahme durch eigene Initiative und wirkungsvolle Sonderaktionen um Monate zuvor gekommen«.133 Aus der Lektüre des Berichtes der Straubinger Polizei ergibt sich jedoch eine eigentümliche Modifizierung dieser Aussagen, die sich aus dem in der Umgebung Straubings besonders ausgeprägten »Kloster- und Anstaltsbetteln« erklärt. Von Ortsansässigen ausgeübt, galt diese Praxis den lokalen Polizeikräften offenbar nur bedingt als »Bettelei«. So war man im Sommer hauptsächlich gegen auswärtige Bettler vorgegangen, während die ortsansässigen Armen weiterhin unbehelligt bei den Klöstern und Anstalten um Essen hatten bitten können. Erst im Zuge der »Bettlerwoche« richtete sich das polizeiliche Vorgehen auch gegen Einheimische. In Schirms Bericht heißt es:134 »In dieser Woche erstreckte sich die Tätigkeit der Polizei hauptsächlich auf die Beseitigung des Kloster- und Anstaltsbettels, gegen den vorher nur in Einzelfällen, wenn es sich um auswärtige Gewohnheitsbettler handelte, eingeschritten wurde. Es wurden während der Bettlerbekämpfungswoche insgesamt 70 Bettler vorgeführt, davon 53 Kloster- und Anstaltsbettler und 17 Laden- und Wohnungsbettler.«135
Waren bei den Kontrollen, welche die Straubinger Polizei zwischen Mai und August 1933 durchgeführt hatte, die auswärtigen Bettler gegenüber den Einheimischen mit einem Anteil von über zwei Dritteln noch weit in der Mehrheit gewesen, hatte sich dieses Verhältnis bei der Septemberrazzia umgekehrt: Unter den kontrollierten Personen befanden sich nur noch 22 auswärtige Personen, dagegen 48 Bürger des Landkreises Straubing. Zwar kategorisierte der Bericht der Straubinger Polizei 64 der Personen als »Gewohnheitsbettler«, von denen wiederum 40 als Wohlfahrtsempfänger in das Klischee des »falschen 131 Ebd., Bericht Polizeiamt Straubing, 1.10.1933. 132 Ebd., Straubinger Tagblatt, 23./24.9.1933. 133 Ebd. 134 Auch in anderen Regionen Bayerns nutzten die Ordnungskräfte die Septemberrazzia, um gegen die »Kloster- und Anstaltsbettelei« einzuschreiten. So meldete der Stadtrat Amberg, bei den öffentlichen Essensausgaben seien 80 Personen kontrolliert worden. Vgl. ebd., Bericht Stadtrat Amberg, 2.10.1933. 135 Ebd., Bericht Polizeiamt Straubing, 1.10.1933.
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Bettlers« passten, dennoch wurden schließlich nur 21 Menschen ins Gefängnis eingeliefert.136 Da man der Überzeugung war, künftig das »Bettelunwesen« nur dann »mit vollem Erfolg«137 bekämpfen zu können, wenn die regional spezifische Form der Armenpflege in Gestalt der Essensausgabe an Bedürftige in Klöstern und anderen Anstalten beseitigt würde, veranlasste die Straubinger Polizei, unterstützt von den Wohlfahrtsämtern, eine Übereinkunft der involvierten Akteure, die das »Kloster- und Anstaltsbetteln« regulieren helfen sollte. Fortan waren die Wohlfahrtsämter angehalten, den Klöstern und Anstalten täglich so viele Bedürftige zuzuweisen, wie jene überschüssiges Essen zur Verfügung hatten. Im Gegenzug verpflichteten sich diese, nicht zusätzlich für Bettler zu kochen und die Speisungen nicht in ihren Räumlichkeiten durchzuführen. Vielmehr sollten die Empfangsberechtigten das Essen in Gefäßen abholen, wobei sie sich mit einem vom Wohlfahrtsamt ausgestellten Ausweis legitimieren mussten. »An andere Personen wird kein Essen verabreicht«, konstatierte das Polizeiamt Straubing knapp, »dieselben werden als Bettler behandelt«.138 Das Straubinger Tagblatt kommentierte die Übereinkunft beifällig: »So ist es gut. Jetzt ist Ordnung geschaffen.«139 Dank der vorausschauenden polizeilichen Strategie und der im Zuge der »Bettlerwoche« getroffenen Übereinkunft zur Regulierung des »Kloster- und Anstaltsbettelns« sei aus »der Stadt mit der drückenden Bettlerplage […] eine Stadt ohne Bettler geworden, eine Stadt, die gewiss vor unverschuldeten Armen die Tore nicht verschließt, sondern geordnet und nach gerechtem Maß unauffällig und ohne beschämende Geste Almosen gibt all denen, die würdig sind und bedürftig«.140
Nach den Untersuchungen zur Programmkonkretisierung, Durchführung und zu den Ergebnissen sollen nun abschließend die Auswirkungen für die Betroffenen erörtert werden. Welche rechtlichen Konsequenzen konnte eine Polizeikontrolle während der »Bettlerwoche« für die Betroffenen haben? Welche Tendenzen im Umgang mit dem Recht lassen sich bei der gerichtlichen Ahndung beobachten? Zeigten sich schon hier, im Herbst 1933, erste Andeutungen einer Auflösung des Normenstaates? Ganz der These der Politikfeldanalyse entsprechend, dass das institutionelle Arrangement der beteiligten Akteure sich auf das Politikergebnis auswirkt, hatte eine Verhaftung im Rahmen der »Bettlerwoche« für die Betroffenen je nach Region sehr unterschiedliche rechtliche Konsequenzen. Über die allgemeine Zielformulierung »Bekämpfung und möglichst weitgehende Unterdrückung des
136 Vgl. ebd., Straubinger Tagblatt, 23./24.9.1933. 137 Ebd., Bericht Polizeiamt Straubing, 1.10.1933. 138 Ebd. 139 Ebd., Straubinger Tagblatt, 23./24.9.1933. 140 Ebd.
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Bettelunwesens«141 hinaus waren die Zentralbehörden eine Erläuterung, was mit den Verhafteten geschehen sollte, weitgehend schuldig geblieben. Aufgrund der allgemein gehaltenen Anordnungen hatten die Landesregierungen bei der Durchführung der Razzia einen großen Handlungs- und Ermessensspielraum. In den meisten Ländern wurden die Betroffenen entsprechend den geltenden strafrechtlichen Bestimmungen nach § 361 RStGB vor den Amtsrichter gebracht, der sie mit kurzen Haftstrafen belegte. Gegebenenfalls konnten sie anschließend nach § 362 RStGB für die Dauer von maximal zwei Jahren zur »korrektionellen Nachhaft« in ein Arbeitshaus eingewiesen werden. Überdies kamen vielerorts landesrechtliche Regelungen zum Einsatz, denn in vielen Regionen war es der Polizei erlaubt, ohne richterliche Anordnung eine »polizeiliche Strafverfügung« zu verhängen, die meist mit einer bis zu vierzehntägigen Polizeihaft verbunden war.142 Wie der Erlass des Württembergischen Innen- und Wirtschaftsministeriums zeigt, legten einige Länder die strafrechtlichen Bestimmungen zur Ahndung von Bettelei jedoch recht weit, zugunsten eines verschärften Vorgehens aus. So sollte die württembergische Polizei, abgesehen von »den voraussichtlich wenigen Fällen, in denen tatsächlich die Not zum Bettel getrieben hat«,143 gegen alle aufgegriffenen Personen eine »polizeiliche Strafverfügung« verhängen, sie also für die Dauer von maximal zwei Wochen in Polizeihaft nehmen. »Offensichtlich arbeitsscheue Bettler« seien jedoch der »Staatsanwaltschaft zu übergeben, damit sie der Landespolizeibehörde überwiesen und in das Arbeitshaus eingewiesen werden können«.144 Mit dieser Anordnung bezog sich der Erlass auf die §§ 361 und 362 RStGB. Doch war im Falle einer Verurteilung wegen Bettelei oder Landstreicherei nach § 361 RStGB die anschließende Überweisung an die Landespolizeibehörde zwecks Arbeitshauseinweisung fakultativ. § 362 RStGB stellte sie allein dem Ermessen des Richters anheim. Dessen ungeachtet ersuchten Innenminister Schmid und Wirtschaftsminister Lehnich im Vorfeld der »Bettlerwoche« das Justizministerium, »die Staatsanwaltschaften wegen Unterstützung der Polizeibehörden mit entsprechenden Weisungen zu versehen«.145 Offenbar wollte man die württembergischen Staatsanwaltschaften instruieren, gegen Personen, die ihnen die Polizei im Zuge der »Bettlerwoche« überstellte, in jedem Falle Anklage zu erheben und möglichst hohe Strafen zu beantragen. In diesem Versuch, per Dienstanweisung die Verfahrensweise der Staatsanwaltschaft zu beeinflussen, ist ein Bestreben der württembergischen Landesregierung zu erkennen, den Justizapparat im Sinne der von der Exekutive bei der 141 Schreiben RMfVP an RMdI Frick, 12.7.1933, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 12 f., Dok 6. 142 Vgl. ders., Asoziale (1995), S. 30. 143 Erlass MdI und WM Württemberg, 12.9.1933, zit. nach ders., Gemeinschaftsfremde, S. 41, Dok 18. 144 Ebd., S. 40 f. 145 Ebd., S. 41. Vgl. ders., Asoziale (1995), S. 23 f.
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Bettlerbekämpfung verfolgten Ziele zu manipulieren. Es fand also eine gezielte Verwischung der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung zugunsten eines maßnahmenstaatlichen Vorgehens statt.146 Von den 4.818 Personen, welche die württembergischen Exekutivorgane im Zuge der »Bettlerwoche« insgesamt kontrollierten, kamen 1.616 nach einer Verwarnung wieder frei. Weitere 2.327 Menschen nahm die Polizei mittels »polizeilicher Strafverfügung« in Haft. Vor einem Amtsgericht verantworten mussten sich insgesamt 875 Personen, von denen wiederum 500, also etwa jeder zehnte der insgesamt Inhaftierten, nach Verbüßung einer Haftstrafe in das Arbeitshaus Vaihingen eingewiesen wurden. Dabei waren die Behörden offenbar bemüht, das gesamte Verfahren möglichst zügig abzuwickeln. So berichtete das Stuttgarter Neue Tageblatt am 23. September unter dem Titel »15 Bettler vor dem Schnellrichter«147 von einem Massenprozess. Die in diesem Verfahren ausgesprochenen Urteile folgten einem einfachen Schema: Die zehn über fünfzigjährigen Männer verurteilte man zu jeweils drei Wochen Haft, die fünf Angeklagten unter fünfzig Jahren bekamen vier Wochen Strafhaft und anschließende Arbeitshausunterbringung. In Bayern, wo man unmittelbar nach der Errichtung Dachaus begann, die ersten »Asozialen« ins KZ einzuweisen, setzte die Landesregierung bei der Durchführung der »Bettlerrazzia« von vornherein auf extra-legale Mittel. Auf Anweisung von Innenminister Wagner war in Fällen »krassen Missbrauchs des Mildtätigkeitssinnes der Bevölkerung« der »Bettelbetrüger […] ohne weiteres in Schutzhaft« zu nehmen.148 Erst anschließend sei Strafanzeige zu erstatten. Bei Erfüllung der gesetzlichen Bestimmungen würde der Betroffene alsdann »in ein Arbeitshaus eingeschafft«.149 Was zu geschehen hatte, wenn das Gericht keine Verurteilung wegen Bettelei aussprechen und demzufolge auch nicht die Überstellung an die Landespolizeibehörde zwecks »korrektioneller Nachhaft« verfügen wollte, ließ Wagners Schreiben offen. Eine Konkretisierung war im
146 Vgl. Erlass MdI und WM Württemberg, 12.9.1933, in: ders., Gemeinschaftsfremde, S. 41, Dok 18. Bei der Beurteilung des Vorgehens der württembergischen Landesregierung muss allerdings berücksichtigt werden, dass die von ihr betriebene Kompetenzverschiebung zugunsten der Exekutive der inneren Logik des § 362 RStGB folgte, denn bei der Arbeitshauseinweisung handelte es sich »letztendlich um eine Verwaltungsentscheidung«. Ders., Nachhaft, S. 189. Einen ähnlichen Versuch, per Dienstanweisung die Verfahrensweise der Staatsanwaltschaften zu beeinflussen, unternahm im April 1935 Reichsjustizminister Gürtner: Unter dem Betreff »Gemeinschädliches Verhalten/Bekämpfung öffentlichen Bettelns« wies Gürtner die Staatsanwälte darauf hin, dass die polizeiliche Bekämpfung des »Bettelunwesens« nur erfolgreich sein könnte, wenn die Bemühungen »von den Justiz behörden tatkräftig unterstützt werden«. Daher seien Strafen zu beantragen, »die das Bettelunwesen wirksam einzudämmen geeignet sind«. Vgl. Verfügung RMdJ, 13.4.1935, in: ders., Gemeinschaftsfremde, S. 59 f., Dok 59. 147 Stuttgarter Neues Tageblatt, 23.9.1933, zit. nach ders., Asoziale (1995), S. 30. 148 BayHStA München, MInn 71575, Schreiben BayStMdI, 8.9.1933. 149 Ebd.
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Grunde aber auch nicht notwendig, denn befand sich eine Person erst einmal in »Schutzhaft« und damit im extra-legalen Bereich des Maßnahmenstaates, oblag die Verfügungsgewalt über ihr Schicksal ohnehin den Exekutivorganen. Mit Blick auf die rechtlichen Konsequenzen einer Verhaftung im Rahmen der »Bettlerwoche« kommt Ayaß zu dem Ergebnis, dass die überwiegende Mehrheit der Betroffenen nach höchstens sechswöchiger Strafhaft wieder freikam. Nur ein geringer Teil der Festgenommenen sei zur »korrektionellen Nachhaft« in ein Arbeitshaus oder in eine geschlossene Fürsorgeanstalt eingewiesen worden. Angesichts der geschätzten Größenordnung der Razzia von mehreren 10.000 Menschen müsste es sich dabei aber immerhin um mehrere Tausend Personen gehandelt haben.150 Wie viele der Septemberhäftlinge statt in den Justizvollzugsanstalten oder den Arbeitshäusern in einem improvisierten Bettlerlager oder einem frühen KZ interniert waren, kann auf Grundlage des derzeitigen Forschungsstandes nicht gesagt werden.
4.3 KZ-Einweisungen im Zuge der »Bettlerrazzia« und ihre Folgen Am 25. Oktober 1933 berichtete die Inspektion 19 der Hamburger Kriminalpolizei, im Rahmen der »Bettlerwoche« seien in der Hansestadt insgesamt 1.400 Personen in »Schutzhaft« genommen worden. »Weil keine Möglichkeit bestand,« hieß es weiter, »diese Personen für längere Zeit unterzubringen, musste der größte Teil nach mehrtägiger Festhaltung (3–7 Tage) wieder entlassen werden. Nur 108 Personen konnten für längere Dauer im Versorgungsheim Farmsen untergebracht werden«.151 Ähnlich gestaltete sich die Lage vielerorts.152 Schließlich war es das Problem mangelnden Haftraumes gewesen, das nach den Massenverhaftungen in Folge des Reichstagsbrands zur Errichtung der ersten KZ führte. Zwar sank Ende Juli 1933 die Gesamtzahl der im Deutschen Reich inhaftierten »Schutzhäftlinge« schon wieder um ein Drittel auf etwa 27.000 Menschen;153 doch waren zum Zeitpunkt der »Bettlerwoche« viele Polizei- und Amtsgerichtsgefäng150 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 32. 151 Bericht Inspektion 19 Hamburger Kriminalpolizei, 25.10.1933, in: ders., Gemeinschaftsfremde, S. 46, Dok 23. Das Versorgungsheim Farmsen wurde vom Hamburger Amt für Wohlfahrtsanstalten betrieben. Es war eine der größten Fürsorgeanstalten Deutschlands. Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 96–100; Lohalm, Wohlfahrtsdiktatur, S. 385. Im Gegensatz zu dem Bericht der Hamburger Kriminalpolizei ermittelte die Historikerin Christiane Rothmaler 87 Männern und neun Frauen, die nach Farmsen gebracht wurden. Außerdem seien 120 Männer wegen »Arbeitsverweigerung«, als »Wiederholungstäter« oder weil sie zuvor mehrfach aus Farmsen geflohen waren in das KZ Dachau deportiert worden. Vgl. Rothmaler, Fürsorge, S. 254 f. 152 Vgl. 236 Bettler, BadPr, 26.9.1933. 153 Vgl. Orth, System, S. 24.
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nisse noch immer überfüllt. Auch die Kapazitäten der Arbeitshäuser, von denen einige »Schutzhaftabteilungen« unterhielten, hatte man schnell ausgeschöpft. Einige Städte und Gemeinden griffen daher im Zuge der »Bettlerwoche« auf das bereits bewährte Mittel zur Akquirierung von Haftraum zurück: Sie richteten spezielle Haftlager für die Gefangenen der Septemberrazzia ein. Im südbadischen Singen nutzte man dazu ein Gelände, das ursprünglich der Sozialistischen Sport- und Kulturgemeinschaft als Sportplatz gedient hatte. Insgesamt 67 Häftlinge, welche die badischen Amtsgerichte zu einer Haft zwischen drei und 28 Tagen verurteilt hatten, mussten dort ihre Strafen verbüßen. Beschäftigt wurden sie mit Arbeiten auf dem Sportplatzgelände.154 In der norddeutschen Ausgabe des Völkischen Beobachters vom 4. Oktober 1933 findet sich eine kurze Notiz über ein solches »Konzentrationslager für Bettler«: »Auf Veranlassung des Landrats Merker-Meseritz wurde zur Bekämpfung des Bettler- und Landstreicherunwesens in Gumpertshof bei Meseritz ein Konzentrationslager für Bettler und Landstreicher errichtet, das zur Zeit 50 Insassen beherbergt. Die Bettler werden hier mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt, um nach einer Bewährungsfrist als Arbeiter in der Landwirtschaft untergebracht zu werden.«155
Bei diesen Zeilen handelt es sich um die Bildunterschrift eines Fotos, das etwa 25 Personen in einer Art Appell-Situation zeigt. Versehen mit leicht abgewandelten Bildunterschriften druckten es verschiedene Tageszeitungen ab.156 Derartige regionale Bettlerlager verschwanden allerdings schnell wieder von der Bildfläche. Andernorts fanden sich die während der »Bettlerwoche« Verhafteten jedoch in den Gemäuern oder hinter den Stacheldrähten der frühen KZ wieder. Auch die Inspektion 19 der Hamburger Kriminalpolizei hatte in ihrem eingangs zitierten Bericht unterschlagen – ob unwissentlich oder beabsichtigt muss hier dahingestellt bleiben –, dass die Behörden der Hansestadt im Rahmen der »Bettlerwoche« nicht nur auf die gegebenen straf- und fürsorgerechtlichen Unterbringungsformen zurückgriffen, sondern auch auf neue, extra- legale Haftorte. Doch schon lange vor den Massenverhaftungen im September 1933 erhob mancher örtliche Entscheidungsträger die KZ-Einweisung von Bettlern und Landstreichern zum Politikziel. So erteilte der Landrat des Kreises Görlitz (Niederschlesien) am 18. Juli 1933 unter Berufung auf § 1 der Reichstagsbrandverordnung die Weisung, »dass alle durchreisenden Wanderer, die beim Betteln angetroffen werden oder die öffentliche Fürsorge […] bei den kreisangehörigen Gemeinden in Anspruch nehmen, von den Ortspolizeibehörden in Schutzhaft zu nehmen und dem Konzentrations 154 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 31. 155 VB/Norddeutsche Ausgabe, 4.10.1933, zit. nach ders., Gemeinschaftsfremde, S. 46, Dok 22. 156 Vgl. Elmshorner Nachrichten, 7.10.1933.
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lager in Posottendorf-Leschwitz zuzuführen sind, sofern sie den Eindruck von Vagabunden (gewerbsmässigen Landstreichern) und politisch Verdächtigen machen«.157
Diesem Ansatz einer frühen Institutionalisierung der KZ-Haft für Bettler und Landstreicher war allerdings nur eine kurze Bestandsdauer beschieden, denn das KZ Leschwitz wurde am 30. August 1933 aufgelöst.158 An anderen Orten konnten die KZ-Einweisungen im Zuge der »Bettlerrazzia« aber an bereits etablierte Praktiken der extra-legalen Inhaftierung von Angehörigen gesellschaftlicher Randgruppen anknüpfen. Ein Beispiel dafür liefert die Region um Lübeck und Eutin. Wie bereits dargestellt, hatte im oldenburgischen Landesteil Lübeck ein örtlicher SA-Führer schon im Mai 1933 den Vorschlag gemacht, endlich mit dem »Bettelunwesen« aufzuräumen. In einer Region, in der mit SA-Oberführer Johann-Heinrich Böhmcker159 seit Juli 1932 ein überzeugter Nationalsozialist das Amt des Regierungspräsidenten bekleidete,160 war das Ansinnen, die »Volksgemeinschaft« nicht nur auf politischem, sondern auch auf sozialem Gebiet gewaltsam durchzusetzen, auf fruchtbaren Boden gefallen. Am 5. Juli 1933 signalisierten die regionalen NS-Würdenträger auf einer Tagung des NSDAP-Gaus Schleswig-Holstein, dass im KZ Eutin nicht nur überzeugte politische Gegner, sondern auch sogenannte »Meckerer« und »Saboteure« inhaftiert werden könnten. Doch schon im Vormonat, am 15. Juni 1933, war gegen einen Postbeamten »Schutzhaft« verhängt worden, nachdem die Reichspost den Mann wegen seines »schlechten Lebenswandel[s]«161 entlassen hatte. Für den 8. Juli 1933 ist dann auch die Einlieferung eines renitenten Fürsorgeempfängers dokumentiert: Walter S. hatte der Polizei und Wohlfahrtsbehörde zu dauerhaftem Ärger Anlass gegeben und galt als Arbeitsverweigerer, »Faulenzer« und »ganz roher Patron«.162 Er befand sich mindestens drei Monate im KZ Eutin.163 157 StadtArch Görlitz, Akte KZ Weinhübel, Schreiben Landrat Görlitz, 18.7.1933. Das südlich von Görlitz gelegene Dorf Leschwitz-Posottendorf wurde 1937 in Weinhübel umbenannt. Diese Namensänderung bestand nach 1945 fort. 158 Schon am 2. August 1933 hieß es in einem Rundschreiben des Landrats von Görlitz, dass von »einer weiteren Überführung [der] Landstreicher[…] in das Konzentrationslager Leschwitz […] von jetzt ab abzusehen« sei. StadtArch Görlitz, Akte KZ Weinhübel, Schreiben Landrat Görlitz, 2.8.1933. Zur Geschichte des KZ Leschwitz vgl. Otto, Rache. 159 Für biografische Anmerkungen zu Johann-Heinrich Böhmcker vgl. Anhang. 160 Schon bei der Reichstagswahl am 14. September 1930 erhielt die NSDAP im Landesteil Lübeck 27,9 Prozent der Stimmen. Der Reichsdurchschnitt lag bei 18,3 Prozent. Aus der Landtagswahl im Mai 1931 ging die NSDAP mit 41,8 Prozent als stärkste Partei hervor. 1932 errang sie zwar nicht die Mehrheit der Wählerstimmen im ganzen Freistaat (im holsteinischen Landesteil allerdings 50,4 Prozent), aber die Mehrheit der Landtagssitze. Mit diesem Wahlergebnis bildete die NSDAP im Freistaat Oldenburg die erste Alleinregierung im gesamten Reich. Vgl. Stokes, Landesteil, S. 58; Wollenberg, Arbeitslose, S. 64–67. 161 Zit. nach Stokes, Schutzhaftlager, S. 620. 162 Bericht Hilfspolizeibeamter K., Eutin, 8.7.1933, zit. nach ders., Kleinstadt, S. 536. 163 Am 21. Januar 1936 nahm die Gestapo Eutin Walter S. auf Antrag der Eutiner Wohlfahrtsstelle erneut in »Schutzhaft«, weil er angeblich einen Beamten bedroht hatte. Zwei Wochen
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Als dann im Spätsommer 1933 die Anordnungen der Reichsbehörden zur »Bettlerwoche« ergingen, trafen sie im Landesteil Lübeck mit einem regionalen Ereignis zusammen, das die Stimmung gegen unangepasste, an den Rändern der Gesellschaft lebende Menschen zusätzlich verschärfte: In Neukirchen und Malente, zwei Orten nahe Eutins, waren Gendarmeriekommissare von Unbekannten angegriffen und niedergestochen worden – eine Tat, die man in eigentümlicher Verallgemeinerung dem »Bettelunwesen« anlastete.164 Am 3. September 1933, also einen Tag nach dem Erlass von Innenminister Göring, verkündete die Regierung des oldenburgischen Landesteils Lübeck, sich fortan »nicht mehr damit [zu] begnügen, gefasste Bettler der Bestrafung zuzuführen, sondern sie auf Monate ins Konzentrationslager [Eutin zu] stecken«.165 Ganz dem arbeitspädagogischen Konzept entsprechend, welches das KZ Eutin als institutioneller Nachfolger des FAD in der Region übernommen hatte, wollte man den Verhafteten dadurch die Gelegenheit geben, »den Wert geregelter Arbeit«166 kennenzulernen. Man hielt die KZ-Haft für zweckdienlich, sie »zu einem geordneten Lebenswandel zurückzuführen«.167 Tatsächlich lieferte die Polizei des Landesteils Lübeck die »Schutzhäftlinge« der »Bettlerwoche« in das KZ Eutin ein. Dort waren sie wie die übrigen »Schutzhäftlinge« streng von den Strafgefangenen getrennt untergebracht und allein der Willkür des SA-Lagerkommandanten Theodor Tenhaaf, dem berüchtigtsten Nazi-Schläger der norddeutschen Kleinstadt, ausgeliefert. Dem Prinzip »Erziehung durch und zur Arbeit« entsprechend wurden sie gemeinsam mit den anderen »Schutzhäftlingen« zu Moorkultivierungsarbeiten herangezogen.168 Während die KZ-Einweisungen im Rahmen der »Bettlerrazzia« in Regionen wie der um Eutin an bereits existierende extra-legale Haftpraktiken anknüpfen konnten, hatten sie an anderen Orten die Wirkung einer Initialzündung. In den Herbstmonaten des Jahres 1933 ist dann ein Radikalisierungsschub im Vorgehen gegen Angehörige sozialer Randgruppen zu beobachten. Das von höchster Stelle legitimierte, massive Einschreiten gegen Bettler, Landstreicher und »Unterstützungsbetrüger« und die gezielte Stimmungsmache führten zu einem verschärften Klima sozialer Ausgrenzung, das durch das Inkrafttreten des »Gewohnheitsverbrechergesetzes« und des preußischen »Vorbeugungshafterlasses« sicherlich zusätzlich befeuert wurde. Ablesen lässt sich dies an einer erhöhten Denunziationsbereitschaft und an einer Verstetigung der »Schutzhaftverhängungen« aufgrund missliebiger sozialer Verhaltensweisen. später kam S. wieder frei, wurde allerdings verwarnt, dass ihm im »Wiederholungsfall die Verbringung in ein Konzentrationslager« drohe. Schreiben MdI Oldenburg, 29.1.1936, zit. nach ebd., S. 815. Vgl. ebd., S. 514, 531 f. 164 Vgl. Arbeitsprogramm Regierung oldenburgischer Landesteil Lübeck, 3.9.1933, zit. nach ebd., S. 554. 165 Ebd. 166 Ebd. 167 Protokoll Sitzung Eutiner Stadtmagistrat, 5.12.1933, zit. nach ebd., S. 536. 168 Vgl. Schutzhaft verhängt, Eutin 22.9.1933, in: ebd., S. 531; ders., Eutin, S. 95.
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Wie geringfügig die Anlässe für eine Denunziation sein konnten, mag die Geschichte des 24-jährigen, wandernden Tischlergesellen Heinrich G. aus Berlin-Wilmersdorf verdeutlichen. Die Polizei verhaftete ihn am 8. Oktober, zwei Wochen nach dem offiziellen Ende der Septemberrazzia, nachdem ein Krankenpfleger G. wegen Bettelei und einer »Heimtückeäußerung« denunzierte. Gemeinsam mit zwei weiteren Wandergesellen hatte G. im Beelitzer Krankenhaus um ein Mittagessen gebeten und als ihm dies verweigert wurde, angeblich geschimpft: »Die Proleten an der Regierung haben die längste Zeit dort gesessen! Es dauert nicht mehr lange, dann werden sie genagelt.«169 Durch diese Äußerung sah der Krankenpfleger sich veranlasst, Anzeige zu erstatten. Wenig später konnte die Polizei zwei der drei Wandergesellen, Heinrich G. und Werner K.,170 verhaften. Der Dritte hatte Beelitz rechtzeitig verlassen können. Für Heinrich G. war dies die zweite Inhaftierung innerhalb von drei Wochen. Während der »Bettlerrazzia« hatte ihn die Polizei schon einmal aufgegriffen, als er gerade in Bayern »auf der Walz« war. Das Amtsgericht Nürnberg verurteilte ihn daraufhin am 23. September wegen Bettelei zu einer Woche Haft. Kaum wieder auf freiem Fuß, befand G. sich Anfang Oktober also schon wieder hinter Schloss und Riegel. Doch dieses Mal begnügte sich der mit dem Fall befasste Polizeihauptwachtmeister nicht damit, Strafanzeige zu erstatten, sondern hielt es für »zweckmäßig« G. und seinen Begleiter in »eine[r] Arbeitsanstalt oder in ein[em] Konzentrationslager unterzubringen«.171 Das weitere Schicksal von Werner K. konnte bisher nicht erhellt werden. Gegen G. ordnete der Landrat des Kreises Zauch-Belzig am 16. Oktober 1933 »Schutzhaft« an und veranlasste die Einweisung in das KZ Brandenburg,172 wo G. am folgenden Tag eintraf. Etwa zeitgleich mit der »Inschutzhaftnahme« muss auch ein Strafverfahren wegen Bettelei eingeleitet worden sein. Am 8. Dezember verurteilte das Amtsgericht Beelitz Heinrich G. zu zwei Wochen Haft. Die Strafvollstreckung erfolgte allerdings erst zweieinhalb Monate später, nachdem G., den man unterdessen am 11. Januar 1934 in das KZ Oranienburg überstellt hatte, auf Weisung des Gestapa Berlin am 22. Februar aus der »Schutzhaft« entlassen worden war.173 Wie bereits erwähnt, lässt sich der Radikalisierungsschub, den die »Bettlerrazzia« auslöste, nicht nur an der erhöhten Bereitschaft ablesen, Personen wie 169 ITS-Arch Bad Arolsen, KL Oranienburg, Ordn. 15, Akte H. G., Bericht Polizeihauptwachtmeister Beelitz, 3.10.1933. Der Bericht der Beelitzer Polizei ist fälschlicherweise auf den 3. Oktober 1933 datiert. Dem Schreiben ist aber zu entnehmen, dass sich der geschilderte Vorfall am 8. Oktober ereignete. Die Anzeige des Krankenpflegers bestätigt dies. Vgl. ebd., Verhandelt, Beelitz 9.10.1933 [Anzeige des Krankenpflegers gegen Heinrich G.]. Heinrich G. selbst wiederum datiert seine Inschutzhaftnahme auf den 7. Oktober 1933. Vgl. ebd., Schreiben Heinrich G., 6.3.1934. 170 Die Identität von Werner K. konnte bislang nicht geklärt werden. 171 Ebd., Bericht Polizeihauptwachtmeister Beelitz, 3.10.1933. 172 Zum KZ Brandenburg vgl. Bendig, Brandenburg. 173 Eine Personenrecherche im BLHA Potsdam ergab keine Informationen über das weitere Schicksal des Heinrich G.
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Heinrich G. zu denunzieren, die ihr Leben am Rand der Gesellschaft fristeten und den Aufbau der »Volksgemeinschaft« zu stören schienen. In den Zeitungen häuften sich in den Herbst- und Wintermonaten 1933/34 zudem die Meldungen über lokale Maßnahmen der Sozialdisziplinierung, bei denen »Schutzhaft« und KZ als Drohkulisse dienten. So berichteten die Erfurter Nachrichten in den auf das offizielle Ende der »Bettlerwoche« folgenden Tagen unter der Schlagzeile »Die politische Polizei schafft Ordnung. Weitere Verhaftungen illegaler Elemente – Neuer Zuwachs für die Konzentrationslager«174 von einer Razzia im örtlichen Schlachthof, die der städtische Oberbürgermeister veranlasst hatte. Dabei seien fünf Schwarzarbeiter sistiert worden, die sich auf dem Schlachthof verdingt hatten, obwohl sie Wohlfahrtshilfe bezogen. Des Weiteren informierte der Artikel, dass die Polizei »in den letzten Tagen […] dazu übergegangen« sei, »Berufsschüler, die unentschuldigt dem Unterricht ferngeblieben sind, zwangsweise vorzuführen«.175 Ob die verhafteten Schwarzarbeiter oder gar die schwänzenden Berufsschüler tatsächlich in »Schutzhaft« genommen und in ein KZ eingeliefert worden waren, ließen die Erfurter Nachrichten offen.176 In Düsseldorf hatten es die Behörden auf spielfreudige Fürsorgeempfänger abgesehen. Zwei Wochen vor Weihnachten, am 11. Dezember 1933, führte dort die »staatliche[n] Polizei in Verbindung mit dem städtischen Wohlfahrtsamt eine Großrazzia auf Wettannahmestellen« durch, bei der »rund 1.000 Personen gestellt wurden«.177 Darunter hätten sich insgesamt 320 Fürsorgeempfänger befunden. »Dieses Ergebnis zeigt«, kommentierte die Badische Presse, »wie notwendig die Razzien sind, denn es geht nicht an, dass Unterstützungsempfänger ihr Geld in Rennwetten anlegen und dem Glücksspiel huldigen«.178 Informationen darüber, welche Konsequenzen die Verhaftung für die Betroffenen nach sich zog, blieb der Artikel seinen Lesern schuldig. Ein weiteres Beispiel stammt aus dem Kreis Konstanz. Laut einem Bericht der Badischen Presse gingen die Behörden der Stadt Singen, wo bereits die Häftlinge der Septemberrazzia in einem eigens errichteten Bettlerlager eingesperrt worden waren, ab Ende Dezember verschärft gegen »arbeitsscheue« Unter stützungsempfänger vor. Während man den ledigen unter ihnen sämtliche Leistungen strich, wurden jene, die verheiratet waren »umgehend nach einem Lager gebracht«.179 Ihre Angehörigen versorgte die städtische Wohlfahrtsfürsorge. Um was für eine Art von Lager es sich handelte, bleibt unklar. 174 Erfurter Nachrichten, 28.9.1933 zit. nach Münzel u. Schörle, Erfurt, S. 77. 175 Ebd. 176 In Baden berichtete die Tagespresse im Februar 1934, dass Schwarzarbeitern neben dem Entzug der Wohlfahrtsunterstützung fortan in jedem Fall auch eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft drohe. Vgl. Kampf gegen Schwarzarbeit, BadPr, 21.2.1934. 177 Großrazzia Düsseldorf, ebd., 12.12.1933. 178 Ebd. 179 Kurzmeldung, ebd., 20.12.1933.
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Die Beispiele zeigen eine Tendenz zur Ausweitung der »Schutzhaftgründe« über die Delikte Bettelei, Landstreicherei und »Unterstützungsbetrug« hinaus, die während der Septemberrazzia den Hauptanlass für die Verhaftungen geboten hatten. Erreichten derartige »Schutzhaftverhängungen« eine gewisse Systematik und überstiegen die angeordneten Haftzeiten einige Tage bzw. Wochen, zog das eine Funktionserweiterung des örtlichen oder regionalen frühen KZ nach sich. Dieser Prozess soll anhand von drei Lagern verdeutlich werden, wobei jedes auf eine andere Facette der Funktionserweiterung verweist. Das erste Beispiel ist das württembergische KZ Heuberg bzw. dessen Nachfolgelager, das in den unterirdischen Kasematten eines aus dem 19. Jahrhundert stammenden Forts eingerichtete KZ Oberer Kuhberg.180 Mit Gregor Gog saß im KZ Heuberg ein prominenter Fürsprecher des Landstraßenproletariats ein. Allerdings war Gog vermutlich hauptsächlich aufgrund seiner KPD-Mitgliedschaft in »Schutzhaft« geraten. Von ihm abgesehen gab es Markus Kienle zufolge im KZ Heuberg keine Bettler und Landstreicher. Doch schon vor der Jahreswende 1933/34 – Kienle spricht vage von dem Zeitraum ab »der Festigung der Macht und der Reduzierung der Häftlingszahlen«181 – kam es zu »Schutzhaftverhängungen« aufgrund von Trunksucht, »asozialem« Verhalten oder der »Veruntreuung von Unterstützungsgeldern«.182 Beispielsweise nahm man den Hilfsarbeiter Erwin M. für fünf Tage in »Schutzhaft«, weil er angeblich seine Wohlfahrtsunterstützung vertrunken hatte. Allerdings vollstreckten die württembergischen Behörden eine »Schutzhaft« von so kurzer Dauer nicht im KZ. Für das »Nachfolgelager« Heubergs, das Mitte November 1933 gegründete KZ Oberer Kuhberg bei Ulm, sind dann einige »asoziale« Häftlinge nachweisbar.183 Eine treibende Kraft bei ihrer Einweisung war der Ulmer Polizeidirektor und SS-Standartenführer Wilhelm Dreher,184 seit 1925 ein Protagonist der NS-Bewegung in der Region. Er benutzte die »Schutzhaft« als persönliches Machtinstrument, um ihm missliebige Verhaltensweisen zu unterdrücken.185 Dabei konnte er sich auf die kurz zuvor vom Leiter der württembergischen Politischen Polizei Hermann Mattheiß proklamierten polizeilichen Handlungsmaximen stützen. Mattheiß hatte die ihm unterstellten Einheiten Ende Januar 1934 zu »Wächter[n] des nationalsozialistischen Programms und seiner Ver180 Zur Geschichte der beiden KZ vgl. Kienle, Konzentrationslager (1998); ders., Konzentrationslager (2001); Lechner, KZ; ders., Ulm (2005). 181 Kienle, Konzentrationslager (2001), S. 58. 182 Zit. nach ebd. 183 Vgl. Lechner, Ulm (2005), S. 211. Sieben »asoziale« Häftlinge sind im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg namentlich bekannt. Die Dunkelziffer liegt vermutlich höher. 184 Für biografische Anmerkungen zu Wilhelm Dreher vgl. Anhang. 185 Seit dem 1. April 1934 lag in Württemberg die Kompetenz zur »Schutzhaftverhängung« allein bei der Politischen Polizei. Oberster Dienstherr der Außenhauptstelle Ulm war vermutlich Polizeidirektor Dreher. Es ist daher anzunehmen, dass das Recht zur »Schutzhaftverhängung« offiziell in seiner Hand lag. Vgl. ders., Konzentrationslager, S. 85 f.
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wirklichung«186 ernannt. Demgemäß waren ihre Aufgaben nicht allein auf politisch-polizeiliche Angelegenheiten beschränkt. Vielmehr sollten sie das gesamte politische und kulturelle Leben des Volkes überwachen. Diesem erweiterten Polizeibegriff entsprechend kündigte Dreher am 24. Januar an, »mit aller Schärfe gegen Quertreibereien, von welcher Seite sie auch kommen mögen«, vorzugehen, weil diese die »ruhige Aufwärtsentwicklung der Stadt im Geiste der nationalsozialistischen Weltanschauung und Staatsauffas sung« hemmten.187 Wie willkürlich Dreher von seiner Exekutivgewalt Gebrauch machte, zeigt die Auflösung eines Katholischen Arbeitervereins aufgrund einer angeblichen Störung der Nachtruhe durch Singen und die Anordnung von »Schutzhaft« gegen drei Metzgermeister mit der Begründung, sie hätten die Schlachtsteuer hinterzogen und das Fleischbeschaugesetz umgangen.188 Gegen wen Dreher seine Waffe »Schutzhaft« richtete, schien allein von seinem persönlichen Gutdünken abzuhängen. Bald gerieten auch Personen ins Visier, die Dreher aufgrund ihres devianten Sozialverhaltens ein Dorn im Auge waren. Mit Verweis auf den angeblich weit verbreiteten Alkoholismus verkündete er am 13. Februar 1934: »Ich werde künftig sowohl gegen Betrunkene wie auch gegen Wirte, die sich gegen gesetzliche Vorschriften verfehlen, rücksichtslos einschreiten. Beide Teile haben neben der Einleitung eines Strafverfahrens unter Umständen Schutzhaftnahme zu gegenwärtigen [sic].«189
Mit seinen Maßnahmen gegen tatsächliche oder vermeintliche Alkoholiker bildete Dreher keine Ausnahme. Nach dem konzentrierten Vorgehen gegen Bettler und Landstreicher im Rahmen der Septemberrazzia kündigten verschiedene Akteure an, den Kampf gegen »Trinker« zu verschärfen.190 Außerdem schritt man vielerorts stärker gegen die vielfältigen Formen des »Unterstützungsbetrugs« ein, wozu die Wohlfahrtsbehörden z. B. auch den übermäßigen Alkoholkonsum eines Hilfsbedürftigen zählten. Für das KZ Oberer Kuhberg ist bislang allerdings erst eine Einweisung belegt, bei der Alkohol eine Rolle spielte. Ein Jahr nach der zitierten Ankündigung Drehers geriet ein Fürsorgeempfänger in »Schutzhaft«, der angeblich seine »Unterstützungsgelder in zweifelhafter Gesellschaft«191 vertrunken hatte.
186 Zit. nach Wilhelm, Polizei, S. 98. 187 Ulmer Bilderchronik, S. 60. Vgl. Sicherungsmaßnahmen in Württemberg, BadPr, 6.1.1934. 188 Vgl. Ulmer Bilderchronik, S. 61. 189 Dreher, zit. nach ebd., S. 62. Vgl. Lechner, Konzentrationslager, S. 101. 190 Vgl. Alkoholfrage im Rahmen, BadPr, 9.3.1934; Einblicke Heil- und Pflegeanstalten, ebd., 10.5.1934; Einkreisung des Verbrechertums, ebd., 6.12.1933; Kampf dem Alkoholismus, ebd., 11.12.1933; Landesverband gegen Alkoholismus, ebd., 4.3.1934. Die Ausdehnung der KZ-Haft auf »Trinker« fand sogar in der internationalen Presse Wiederhall. Vgl. Camp for Drunkards, The Times, 9.1.1934. Ich danke Paul Moore für den Hinweis auf diese Quelle. 191 Ulmer Bilderchronik, S. 102.
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Das Beispiel des Ulmer Polizeidirektors, der um die Jahreswende 1933/34 begann, verschiedenste ihm missliebige Personengruppen mit KZ-Haft zu bedrohen, zeigt deutlich, welches radikale Willkür-Potenzial der Selbstermächtigung lokaler Akteure innewohnte, die sich in den Monaten seit dem Reichstagsbrand durch »Schutzhaftverhängungen« und Errichtung der frühen KZ Bahn gebrochen hatte. Nicht vom Willen und der politischen Zielsetzung der national sozialistischen Regierung hing es schlussendlich ab, welche Funktion ein frühes KZ erfüllte, sondern von den Absichten und Visionen jener Akteure vor Ort, in deren Händen die Einweisungs- und Vollzugspraxis lag.192 Ein weiteres Beispiel für die Funktionserweiterung einiger früher KZ in Folge der »Bettlerrazzia« ist aus Hamburg überliefert.193 Es verdeutlicht die regionalspezifische Ausprägung, welche die Ausweitung der »Schutzhaftgründe« auf missliebige, aber unpolitische Verhaltensweisen annehmen konnte. In den letzten Monaten des Jahres 1933 intensivierten die Hamburger Strafverfolgungsbehörden ihre Bemühungen, das hafenstadt-typische Problem eines ausgeprägten Rotlichtmilieus mit seinen charakteristischen Formen von Devianz und Delinquenz durch »Schutzhaft« und KZ-Einweisungen zu bekämpfen: Am 25. September 1933, zwei Tage nach dem offiziellen Ende der Verhaftungsaktion, wiesen sie die Polizeidienststellen an, »gemeingefährliche asoziale zuhälterische Elemente« im KZ Wittmoor zu internieren, wo sie zu »Arbeitsleistung[en]« heranzuziehen und auf diese Weise »wieder an Arbeit zu gewöhnen« seien.194 Wenig später, am 28. September, bestätigte der Hamburger Generalstaatsanwalt als Vertreter der Justiz diese Anordnung, indem er mitteilte, »dass die Verbringung von Zuhältern in das Lager Wittmoor anstelle von Untersuchungshaft zu begrüßen sei«.195 Am 2. Oktober 1933, bei einer Besprechung in der Hamburger Justizverwaltung, welche die künftige »Schutzhaftordnung« zum Gegenstand hatte,196 konstatierte man folgerichtig, dass das weithin gebräuchliche Adjektiv »politisch« vor »Schutzhaft« gestrichen werden müsse, »da es sich bei den Inschutzhaftnahmen vielfach gar nicht um politische Angelegen192 Eine ähnliche Funktionserweiterung ist beim KZ Osthofen zu beobachten. Als Fallbeispiele vgl. GS-Arch Osthofen, Datenbank Nr. 240, Nr. 600, Nr. 1.480, Nr. 1.481, Nr. 1.482, Nr. 1.538, Nr. 1.539. 193 Zunächst brachte man die Hamburger »Schutzhäftlinge« im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis unter. Angesichts ihrer wachsenden Zahl stellte die Strafvollzugsbehörde im März 1933 einen Gebäudekomplex in der Vollzugsanstalt Fuhlsbüttel zur Verfügung. Aus diesem Provisorium ging am 4. September 1933 das berüchtigte KZ »Kola Fu« hervor. Das erste frühe KZ Hamburgs war aber das Ende März/Anfang April errichtete Wittmoor. Vgl. Diercks, Fuhlsbüttel, S. 262–268, 270–272; Klawe, Wittmoor, S. 251–254. 194 Zit. nach Timpke, KL, S. 18. 195 Zit. nach ebd. 196 Anwesend waren Max Lahts (NSDAP), Präsident des Strafvollzugsamtes, dem zu diesem Zeitpunkt die Dienstaufsicht über das KZ Fuhlsbüttel oblag, Lagerkommandant Paul Ellerhusen sowie Oberinspektor Margert von der Hamburger Staatspolizei. Vgl. Diercks, Hamburg, S. 113; Timpke, Dokumente, S. 314 f., 318, 322.
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heiten handelt«.197 Als Beispiel verwies das Sitzungsprotokoll explizit auf Bettler und Zuhälter. Die Ausweitung der KZ-Haft auf andere, über die politische Opposition im engeren Sinne hinausgehende Gruppen, fand ihre Fortsetzung auf einer Präsidentenbesprechung der Inneren Verwaltung, die am 13. November 1933 stattfand. Auf ihr erhielt die Hamburger Polizeibehörde, repräsentiert durch SA-Standartenführer Wilhelm Boltz in seiner Funktion als Polizeiherr,198 den Auftrag, künftig auch »Transvestiten besonders zu beachten und erforder lichenfalls in das Konzentrationslager zu überführen [gemeint ist hier das KZ Fuhlsbüttel, d. Vf.]«.199 Wie viele der Zuhälterei verdächtige Personen und Transvestiten die Hamburger Polizei aufgrund der Anordnungen vom Herbst 1933 tatsächlich in das KZ Wittmoor einlieferte, ist bisher nicht bekannt. Für das KZ Fuhlsbüttel ist zwar eine starke Zunahme der Häftlingszahlen belegt: Während die Insassenzahl zwischen August und September nur um 65 auf insgesamt 479 Häftlinge anstieg, wuchs sie zwischen September und Oktober um 253 auf insgesamt 732 Häftlinge an. Im November verzeichnete man einen Zuwachs um weitere 88 Häftlinge.200 Ob der Anstieg aber auf die Einlieferung von Bettlern, Zuhältern und Transvestiten zurückzuführen ist, lässt sich anhand des derzeitigen Forschungsstands nicht beurteilen. Als gesichert gilt, dass man einige der Zuhälter bei der Auflösung des KZ Wittmoor Mitte Oktober 1933 in das kurz zuvor gegründete KZ Fuhlsbüttel überstellte. Ayaß weist überdies nach, dass zwischen dem 20. und dem 28. September 1933 insgesamt 204 Bettler und Landstreicher, die man im Zuge der »Bettlerwoche« in »Schutzhaft« genommen hatte, in das Werkhaus und ins ehemalige Männergefängnis auf dem Gelände der Fuhlsbüttler Anstalten eingeliefert wurden. Ob es u. a. diese Häftlinge waren, die den Anstieg der Insassenzahl des KZ Fuhlsbüttel von 479 im September auf 732 im Oktober 1933 verursachten, ist unklar.201 Zwar ist die Ausweitung der Hamburger »Schutzhaftpraxis« nur lückenhaft mit Zahlen belegbar, doch bestätigen auch die Erinnerungen ehemaliger Häftlinge, dass im Herbst und Winter 1933 neue Verfolgtengruppen zu den politi197 StA Hamburg, 2749, 241-1I, Besprechung Aufstellung einer Schutzhaftordnung, 2.10.1933. 198 Ferner waren anwesend: Alfred Richter (NSDAP, Senator in der Inneren Verwaltung, zuvor Reichskommissar für die Polizei), Paul Münstermann (Regierungsdirektor, Oberstleutnant der Ordnungspolizei), Friedrich Ofterdinger (NSDAP, Präsident der Gesundheits- und Fürsorgebehörde), Julius Peters und Oskar Martini (beide Vizepräsident der Gesundheits- und Fürsorgebehörde) sowie ein Oberregierungsrat und zwei Staatsräte, außerdem auf Einladung Regierungsdirektor Dr. Schlotterer (vermutlich Gustav Schlotterer, seit 1933 Hauptschriftleiter des Hamburger Tageblatts). Vgl. ebd., A II 11, 113-2, Besprechung, 13.11.1933; Timpke, Dokumente, S. 323–325. 199 Zit. nach ders., KL, S. 18. Vgl. Diercks, Fuhlsbüttel, S. 278. 200 Für das KZ Wittmoor sind nur die Häftlingszahlen der Monate September und Oktober eruierbar: 140 bzw. 110 Personen. Der Rückgang ist vermutlich auf die Auflösung des Lagers zurückzuführen. Vgl. Timpke, KL, S. 25. 201 Vgl. Diercks, Fuhlsbüttel, S. 266 f., 278.
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schen Gefangenen im KZ Fuhlsbüttel stießen.202 Gerade diese unpolitischen Häftlinge waren es, auf die sich die Schikanen des Wachpersonals konzentrierten. Insbesondere Lagerkommandant Johannes Rode203 wählte sich Transvestiten, Homosexuelle und Zuhälter zu seinen bevorzugten Hassobjekten, die er nach Gutdünken schlug und quälte.204 Ähnlich wie in Hamburg, wo die Behörden im Anschluss an die »Bettler woche« eine gezielte Ausweitung der »Schutzhaftgründe« betrieben, ist, wie bereits dargestellt, auch für das KZ Eutin eine Funktionserweiterung zu beobachten. Doch führte hier die Ausweitung des Personenkreises, der von der »Schutzhaft« betroffen war, sogar zu einer Erweiterung der räumlichen Kapazitäten des KZ. Schon am 20. September, zwei Tage nach Beginn der »Bettlerwoche«, berich tete Lagerkommandant Tenhaaf Regierungspräsident Böhmcker, dass in das KZ im Amtsgerichtsgefängnis Eutin 19 Landstreicher eingeliefert worden seien. Da die Überführung der Häftlinge aus den umliegenden Ortschaften Malente, Wöbs, Ahrensbök, Schwartau und Strand noch ausstünden, sei insgesamt mit einem Neuzugang von etwa 40 Mann zu rechnen. »Erbitte Anweisung, wohin damit«, schrieb Tenhaaf und schlug im gleichen Atemzug vor, »irgendeine Schule, Technikum […] oder sonst wie einen Raum in der Stadt« zu belegen, da er andernfalls einige der Gefangenen frei lassen müsse.205 Einem die »Bettlerwoche« resümierenden Bericht der Eutiner Polizei vom 25. September ist dann zu entnehmen, dass man aufgrund der Überfüllung des »hiesigen Gefängnis[ses]«206 von einer »Inschutzhaftnahme« von 66 Landstreichern hatte Abstand nehmen müssen.207 Das im Vorfeld der »Bettlerwoche« angekündigte scharfe Vorgehen gegen Bettler und Landstreicher scheiterte im Landesteil Lübeck also zunächst daran, dass es den Verantwortlichen nicht rechtzeitig gelang, das Unterbringungs problem zu lösen. Nachdem Regierungspräsident Böhmcker die Anregung Tenhaafs, nach einer weiteren Unterbringungsmöglichkeit für »Schutzhäftlinge« zu suchen, zunächst abschlägig beantwortet hatte, begann er drei Tage nach dem Ende der »Bettlerrazzia« doch damit, sich um eine Ausweichgelegenheit zu 202 Vgl. Bär, Göttingen, S. 57; Bredel, Prüfung, S. 186, 192; Diercks, Fuhlsbüttel, S. 278. 203 Johannes Rode, geboren 1889, trat erst am 1. Mai 1933 der NSDAP bei. Seit 1919 im Hamburger Polizeidienst beschäftigt, bekleidete er vor seiner Ernennung zum Kommandanten des KZ Fuhlsbüttel zuletzt den Posten eines Kriminalsekretärs bei der Staatspolizei. Vgl. ebd., S. 298 f. 204 Vgl. ebd., S. 278, 284, 287, 300 f.; Timpke, KL, S. 21 f. 205 Vermerk Lagerkommandant Tenhaaf, 20.9.1933, zit. nach Stokes, Kleinstadt, S. 555. 206 Bericht städtische Polizei Eutin, 25.9.1933, zit. nach ebd., S. 554. 207 In einem Vermerk über die Anzahl der »Schutzhaftverhängungen« vom 22. September 1933 ist von 13 Landstreichern die Rede. Jörg Wollenberg spricht von 17 Personen, die während der »Bettlerwoche« in das KZ Eutin eingeliefert wurden. Einer Aufstellung Lawrence D. Stokes über die Zusammensetzung der Eutiner Häftlingsgesellschaft ist zu entnehmen, dass sich unter den 236 nachweisbaren Insassen 16 Landstreicher bzw. »Asoziale« befanden. Vgl. Schutzhaft verhängt, Eutin 22.9.1933, in: ebd., S. 531; ders., Eutin, S. 95 f.; Wollenberg, Arbeitslose.
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bemühen. Am 26. September 1933 fragte er beim oldenburgischen Innenminister an, ob jene Landstreicher, die Renten bekämen oder Invaliden seien, in das Arbeitshaus Vechta verlegt werden könnten. Die Zustimmung des Innenministers ließ jedoch bis Ende Oktober auf sich warten.208 Was unterdessen mit den mindestens 19 im KZ Eutin eingesperrten Bettlern, Landstreichern und angeblichen »Arbeitsscheuen« geschah, lässt sich im Einzelnen nicht mehr nachvollziehen. Einige von ihnen wurden vermutlich nach wenigen Tagen Haft wieder entlassen. Gleichzeitig begann man jedoch das Unterbringungsproblem durch die Verlegung der KZ-Häftlinge in die Außenlager Neukirchen und Nüchel zu lösen.209 Ab dem 3. Oktober setzten dann auch die Transporte in das KZ Ahrensbök-Holstendorf, das Nachfolgelager Eutins, ein.210 Dessen ersten Standort Holstendorf gründete man, um die mittlerweile auf 93 Personen angewachsene Häftlingsgruppe der Landstreicher, Bettler und »Arbeitsscheuen« unterzubringen. Die »Asozialen« waren die zweitgrößte Häftlingsgruppe des vom 3. Oktober 1933 bis zum 9. Mai 1934 existierenden KZ Ahrensbök-Holstendorf.211 Versucht man eine Zusammenschau der hier gesetzten Schlaglichter auf die Praxis sozialrassistischer KZ-Einweisungen im Jahre 1933, ergibt sich die Frage, wer die treibenden Kräfte bei der Ausweitung der »Schutzhaft« auf Bettler, Landstreicher und andere »Asoziale« waren. Welche Akteure hatten die daraus resultierende Funktionserweiterung einzelner früher KZ zu verantworten? In Bayern und im oldenburgischen Landesteil Lübeck, jenen Regionen also, in denen sich schon im Frühjahr und Sommer 1933 die ersten Ansätze einer über Einzelfälle hinausgehenden sozialrassistischen Einweisungspraxis nachwei208 Vgl. Stokes, Schutzhaftlager, S. 619 f. 209 Die Außenlager (bei Neukirchen handelte es sich um einen Gasthof, in Nüchel um einen Schweinestall) hatten zunächst zur vorübergehenden Unterbringung einer kleinen Zahl von Häftlingen gedient, die in der Nähe beim Wegebau eingesetzt waren. Die Gründung der Standorte Nüchel und Neukirchen folgte schon dem Prinzip, die Lager zur Unterbringung der Häftling in unmittelbarer Nähe des Arbeitseinsatzortes zu schaffen, das später bei der Gründung der KZ-Außenlager eine wichtige Rolle spielen sollte. Vgl. ebd., S. 585 f.; ders., Eutin, S. 96 f. 210 Das in der Historiografie zusammenfassend als KZ Ahrensbök-Holstendorf bezeichnete Lager zog während seiner siebenmonatigen Bestandsdauer einmal um. So entstand der aus zwei Ortsbezeichnungen zusammengesetzte Name. Am 3. Oktober 1933 in den FADGebäuden auf dem stillgelegten Gelände einer Chemiefabrik in Holstendorf errichtet, bestand das Lager eine Weile parallel zum KZ Eutin bzw. zu den Außenlagern Neukirchen und Nüchel. Anfang Dezember 1933 zog das Lager in ein unbewohntes Privathaus im Ortskern von Ahrensbök um. An beiden Orten unterstand das KZ dem ehemaligen Kommandanten Eutins, SA-Führer Theodor Tenhaaf. Die Oberaufsicht führte Regierungs präsident Böhmcker. Vgl. Wollenberg, Ahrensbök-Holstendorf, S. 17 f.; Stokes, Eutin, S. 97; ders., Schutzhaftlager, S. 586–589, 619 f. 211 Vgl. Wollenberg, Arbeitslose, S. 80 f. Im Januar 1934 führte man in der Region um Eutin eine neue Verhaftungswelle durch, die sich vor allem gegen »Wiederholungstäter« richtete. Ob es sich dabei um politische Vergehen oder gewöhnliche Straftäter handelte ist unklar. Vgl. ders., Ahrensbök-Holstendorf, S. 18.
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sen lassen, waren die jeweiligen KZ – Dachau und Eutin/Ahrensbök-Holsten dorf – in einem ausgeprägten Maße das persönliche Machtinstrument eines regionalen Herrschaftsträgers. Auch das KZ Fuhlsbüttel des Jahres 1934 gilt in der Forschungsliteratur als »Privat-KZ«212 des Reichsstatthalters und NSDAPGauleiters Karl Kaufmann. In Bayern hatte Himmler es nicht nur verstanden, sich durch Ämterakkumulation als RFSS und Kommandeur der BPP frühzeitig den Einfluss über Verhängung und Vollzug der »Schutzhaft« im KZ Dachau zu sichern; überdies traf Himmlers allumfassender, sozialrassistischer Gegnerbegriff auf ein politisches Klima, das sich durch scharfe soziale Ausgrenzung und eine lange Tradition behördlicher Repressionen gegen gesellschaftliche Randgruppen auszeichnete. Im oldenburgischen Landesteil Lübeck repräsentierte Regierungspräsident Böhmcker – so wie Himmler in Bayern – die oberste Instanz in allen »Schutzhaftangelegenheiten«.213 Der Gebrauch, den der Regierungspräsident von diesem Instrument machte, war ähnlich wie die bayerische »Schutzhaftpraxis« nicht allein von dem Bestreben gekennzeichnet, den Nationalsozialismus an der Regierung zu halten, sondern mindestens ebenso sehr von Böhmckers ausgeprägten sozialen Ordnungsvorstellungen. Dabei ist zu bedenken, dass Böhmcker nicht nur der NSDAP angehörte, sondern auch zu den Protagonisten der lokalen Arbeitsdienst-Bewegung zählte.214 Als solcher vertrat er ein striktes völkisches Arbeitsethos und sah sich berufen, diesem durch arbeitspädagogische Maßnahmen zur Durchsetzung zu verhelfen. Dass er dazu nicht nur die Lager des FAD für geeignet hielt, sondern durchaus auch die ihm 1933/34 unterstellten KZ, zeigen sowohl die vielfältigen terminologischen Anleihen aus dem begrifflichen Repertoire der Arbeitsdienst-Bewegung, die sich im Zusammenhang mit den KZ Eutin bzw. Ahrensbök-Holstendorf finden lassen, als auch die zahlreichen strukturellen Verbindungen zwischen den extra- legalen Haftstätten auf der einen und dem FAD auf der anderen Seite.215 Da Bettler und Landstreicher von jeher zu den traditionellen Objekten arbeitspädagogischer Maßnahmen zählten, lag es aus der Perspektive Böhmckers nahe, diese in die ihm unterstehenden Lager zur »Erziehung durch und zur Arbeit« einzuweisen. Bestärkt durch die Anordnungen der Reichsinstanzen zur »Bettlerwoche« betrieb er nicht nur eine Ausweitung der »Schutzhaft«, sondern en passant auch eine Funktionserweiterung des ihm unterstehenden KZ, die schließlich sogar im Ausbau der Lagerkapazitäten mündete.
212 Diercks, Fuhlsbüttel, S. 273, 307. 213 Dieses Kräfteverhältnis veränderte sich im März 1934, als Böhmckers alleinige Verfügungsgewalt über das KZ durch die Errichtung einer Staatspolizeistelle eingeschränkt wurde. Sie hatte fortan auch die Befehlsgewalt über das KZ Ahrensbök-Holstendorf inne. Am 9. Mai 1934 verfügte die Staatspolizeistelle die Schließung des Lagers. Vgl. Stokes, Landesteil, S. 61. 214 Vgl. ebd., S. 58 f. 215 Vgl. Wollenberg, Ahrensbök-Holstendorf, S. 17 f.; Stokes, Eutin; ders., Schutzhaftlager, S. 573–592.
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Doch nicht nur in der Region um Eutin war die sozialrassistische Funktionserweiterung des frühen KZ flankiert von einer arbeitspädagogischen Orientierung der Verantwortlichen. Ähnliche Querverbindungen finden sich auch andernorts. So verfolgte die Hamburger Polizeiführung bei der Gründung des KZ Wittmoor explizit das Ziel, die Häftlinge zu produktiver landwirtschaftlicher Arbeit,216 in erster Linie zum Torf stechen und zu den in Verbindung mit dem Gedanken der »Arbeitserziehung« so beliebten Meliorations- und Kultivierungsarbeiten, einzusetzen.217 Auch bei den behördlichen Überlegungen zum Einsatz des KZ Dachau als Instrument zur Bekämpfung sozialer Devianz spielten arbeitspädagogische Konzepte immer wieder eine wichtige Rolle. Eine weitere treibende Kraft bei der Einweisung von Bettlern, Landstreichern und anderen »asozialen« Personen in die frühen KZ war die Polizei. Im Falle des württembergischen KZ Oberer Kuhberg ergriff der Ulmer Polizeidirektor die Initiative und bedrohte ihm missliebige, aber strafrechtlich nicht belangbare Personen mit KZ-Haft. Auch in Hamburg ging die Ausweitung der »Schutzhaft« auf die Polizeibehörde zurück. Das Lager Wittmoor, in dem ab dem 25. September 1933 auf ihre Weisung hin Zuhälter wieder an geregelte Arbeit gewöhnt werden sollten, war sogar direkt der Polizeibehörde unterstellt. Dass die Polizei bei der Erweiterung der Haftgründe, die sich in Hamburg im Verlauf des Herbstes 1933 vollzog, insgesamt eine treibende Kraft darstellte, zeigt sich auch daran, dass die betroffenen Personengruppen – Zuhälter, Transvestiten und Homosexuelle – deckungsgleich mit der traditionellen polizeilichen Klientel einer Hafenstadt mit ausgeprägtem Rotlichtmilieu war und zudem genau jene notorisch Verdächtigen betraf, die sich häufig in einer rechtlichen Grauzone bewegten und daher besonders schwer greifbar waren.218 Die Schlaglichter auf die sozialrassistische KZ-Haft im Jahre 1933 zeigen deutlich, dass der (Selbst-)Ermächtigung der lokalen Akteure, die sich in den Lagergründungen und der »Schutzhaftpraxis« ausdrückten, eine Tendenz zur Ausweitung der Haftpraxis inhärent war, die auch alle jene Personen poten tiell betraf, die durch ihr deviantes Sozialverhalten auffielen. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass sobald ein einzelner Akteur, eine Akteursgruppe oder eine Behörde die Ausweitung der »Schutzhaftpraxis« mit einer gewissen Systematik vorantrieb, sich auch Land- und Stadträte, Bezirks216 Vgl. Schreiben Registratur, 31.3.1933, in: Timpke, Dokumente, S. 236. 217 Für das Gelände der Torffabrik im Wittmoor war ursprünglich eine Nutzung als FAD-Lager angedacht. Die Entscheidung, dort »Schutzhäftlinge« zum Torf stechen einzusetzen, fiel in einem Augenblick, als die diesbezüglichen Verhandlungen gerade aufgrund bürokratischer Schwierigkeiten ins Stocken geraten waren. Die Errichtung des KZ sah man als praktikable, weil schnell und unbürokratisch umsetzbare Alternative zu der Schaffung eines FAD-Lagers. Vgl. Klawe, Wittmoor, S. 252–254. 218 Beispielsweise war nach § 175 RStGB zwar der gleichgeschlechtliche Sex zwischen Männern strafbar, nicht aber das Tragen von Frauenkleidern durch Männer. Da diese als Tra(ns)vestie bezeichnete Praktik mit Homosexualität gleichgesetzt wurde, galt sie als Verdachtsmoment. Heute spricht man auch von Cross-Dressing.
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ämter, Regierungs- und Polizeipräsidenten sowie Fürsorgebehörden fanden, die bereit waren, KZ-Einweisungen auch aus anderen als politischen Gründen zu veranlassen. Im Lichte der hier dargelegten Erkenntnisse erscheint es angemessen, für eine Pluralisierung des KZ-Begriffs zu plädieren.219 Wie die Untersuchung der sozialrassistischen KZ-Einweisungen im Jahre 1933 zeigt, differierten die Lager der Gründungsphase 1933/34 nicht nur erheblich in ihrer Verwaltungsund Organisationsstruktur, sondern auch in den gesellschaftspolitischen Zielen, zu denen sie eingesetzt wurden. Zwar war ihr gemeinsames Kennzeichen, dass sie alle der Zerschlagung der politischen Opposition dienten, darüber hinaus konnten ihre Funktionen aber erheblich variieren. Vor der Vereinheit lichung von »Schutzhaftpraxis« und Verwaltungsstruktur der KZ, wie sie sich im Frühjahr und Sommer 1934 durch die »Schutzhafterlasse«, das »GestapoGesetz« und die Gründung der IKL vollzog, hingen die konkreten Funktionen des jeweiligen frühen KZ maßgeblich von den Zielen jener lokalen Herrschaftsträger ab, die sich der Verhängung und des Vollzugs der KZ-Haft bemächtigt hatten. Entsprach es deren persönlichen Interessen oder schienen es regionalspezifische Problemlagen zu erfordern, begannen diese schnell, bei der Kontrolle und Repression von Devianz und Delinquenz auch mit der KZ-Haft zu experimentieren. Hatte sich das dabei entwickelte Vorgehen erst einmal als praxistauglich erwiesen, gaben es die regionalen Behörden ungeachtet der Reglementierungsversuche der Zentralinstanzen so schnell nicht wieder auf.
4.4 Die Wirkungen der »Bettlerrazzia« In den Wochen des Spätherbstes und Winters 1933 feierte die Presse die Beseitigung der »Bettlerplage«: »Berlin, die Stadt ohne Bettler«220 titelte die Deutsche Zeitung, und das Straubinger Tagblatt berichtete unter der Schlagzeile »Straubing von einer Plage befreit. Kein Bettelunwesen mehr«:221 »Mit Freuden begrüßt Straubings Öffentlichkeit diese Säuberung und […] ist der Polizei dankbar für ihre verständnisvolle Tatkraft«.222 Doch wie erfolgreich war die »Bettlerrazzia« gemessen an den zuvor formulierten Zielen tatsächlich? Wie wirkte sich die Polizeiaktion auf den Lebenswandel der Adressaten, der Bettler und Landstreicher, aus? Welchen Effekt hatte die begleitende Pressekampagne? Entfaltete die »Erziehung« und »Aufklärung« der Öffentlichkeit die beabsich219 Vgl. Buggeln u. Wildt, Lager, S. 201. 220 Deutsche Zeitung, 12.10.1933, zit. nach Ayaß, Asoziale (1995), S. 86. Vgl. ebd., S. 39; Weber, Berlin, S. 329. 221 BayHStA München, MInn 71575, Straubinger Tagblatt, 23./24.9.1933. 222 Ebd. Auch die für die Organisation der Razzia verantwortlichen Behörden schätzten die Resonanz positiv ein. Vgl. ebd., Bericht Bezirksamt Dingolfing, 4.10.1933.
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tigte Wirkung? Welche Folgen hatte dies für den Umgang von Öffentlichkeit und Wohlfahrts- bzw. Strafrechtspflege mit Bettlern und Landstreichern? Welche Veränderungen rief die »Bettlerrazzia« bei den verantwortlichen Akteuren hervor? Veränderte sie das Gefüge der in die Regulierung der Wanderarmut bzw. allgemeiner in die Wohlfahrts- und Strafrechtspflege involvierten Kräfte? Welche Folgen hatte die Razzia schließlich für den modus operandi bei der Kontrolle und Bekämpfung sozialer Devianz? Anhand von Presseartikeln und der Berichte der bayerischen Gebietskörperschaften über die »Bettlerrazzia« wird zunächst die Frage erörtert, wie erfolgreich die angestrebte Beseitigung des »Bettelunwesens« war und welche Auswirkungen die Maßnahmen auf die Zielgruppe hatten. Der nächste Abschnitt untersucht exemplarisch die Wirkungen der Razzia auf die Öffentlichkeit. Anschließend werden ihre Folgen für das System der sozialen Sicherungen analysiert. Dies geschieht im ersten Schritt anhand der Berichte der bayerischen Gebietskörperschaften. Im zweiten Schritt richtet sich der Blick dann von der lokalen Ebene auf das Reichsgebiet. Basierend auf den gesammelten Ergebnissen werden die Wirkungen der »Bettlerrazzia« auf das Gefüge der Akteure erörtert, bevor das Kapitel mit einem Ausblick auf die Bettlerbekämpfung 1934 bis 1936 schließt. Unabhängig von ihrem propagandistischen Gehalt schilderten die eingangs zitierten Presseartikel die Wirkungen der »Bettlerrazzia« insofern zutreffend, als dass die Verhaftungsaktion tatsächlich zu einer temporären Unterdrückung der »Wanderarmen« führte. Das bezeugen u. a. die Berichte der bayerischen Gebietskörperschaften. Zwar kann die Gesamtzahl der Aufgegriffenen nur geschätzt werden; im Spätherbst und Winter 1933 müssen sich aber einige tausend Opfer der Razzia in Straf-, Polizei- oder »Schutzhaft« befunden haben. Diejenigen, die noch auf freiem Fuß waren, ließen angesichts der verschärften Polizeikontrollen, die mancherorts bis in den Winter hinein anhielten, mehr Vorsicht walten.223 Ähnlich wie viele andere Tageszeitungen schilderte auch das Straubinger Tagblatt den Abschreckungseffekt der »Bettlerwoche«: »Das sprach sich herum. Bettler und Vagabunden pflegen sich sehr gut und rasch zu verständigen. Früher hatten sie einander auf das ›eindringlichste‹ [auf] Straubing verwiesen, jetzt warnten sie. Sie sagten es einander in Passau, Plattling und sogar in München, dass Straubing ein heißes Pflaster geworden ist […]. So blieben sie weg.«224
Aus Angst vor Repressionen und weil die »Möglichkeit, sich durch Betteln fortzubringen, […] nicht mehr gegeben«225 war, versuchten viele Vagabunden, ein Unterkommen zu finden. Das Bezirksamt Pfaffenhofen/Ilm berichtete: »Seit die Bekämpfung des Bettelunwesens in verstärktem Maße eingesetzt« hat, 223 Vgl. ebd., Bericht Bezirksamt Rottenburg, 7.10.1933. 224 Ebd., Straubinger Tagblatt, 23./24.9.1933. Vgl. ebd., Bericht Polizeiamt Straubing, 1.10.1933; Bericht Inspektion 19 Hamburger Kriminalpolizei, 25.10.1933, in: Ayaß, Asoziale (1995), S. 46. 225 BayHStA München, MInn 71575, Bericht Bezirksamt Pfaffenhofen/Ilm, 14.10.1933.
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»wird das [Bezirksamt] von Personen überlaufen, die sich auf Wanderschaft befinden und nicht wissen, wo sie sich niederlassen sollen. Fast täglich kommen 5–10 Wanderer, teilweise mit Familie, zum Amt und fragen, wo sie sich hinwenden sollen.«226
Wie bereits erläutert, waren die unteren Verwaltungsbehörden einiger Regionen ehrlich bemüht, für eine geordnete Rückführung der Wanderer an ihre Ursprungsorte zu sorgen. So konnte vorübergehend tatsächlich der Eindruck entstehen, die »Bettlerplage« habe »so gut wie aufgehört«.227 Damit war das vom Reichspropagandaministerium in der Planungsphase der »Bettlerrazzia« formulierte Politikziel erreicht: Der Verlauf der Spendenkampagne für das Winterhilfswerk wurde nicht durch eine unkontrollierte Flut von Bettlern und Landstreichern gestört. Hatten die in Reichweite und Personalaufwand vergleichsweise begrenzten Sammlungen für das Winterhilfswerk in den Krisenwintern 1931/32 und 1932/33 nur 97 bzw. 91 Millionen RM ergeben, betrug das Gesamtspendenaufkommen 1933/34 insgesamt 358.136 Millionen RM.228 Die Einschätzungen des Bayerischen Innenministeriums, die »Bettlerrazzia« habe »wesentlich mit dazu beigetragen […], die Stimmung der Bevölkerung zu heben und sie für die großen Leistungen des Winterhilfswerks geneigt zu machen«,229 ist vermutlich zutreffend. Auch das Reichsinnenministerium zeigte sich mit dem »gute[n] Ergebnis« zufrieden. Seiner Ansicht nach hatte die Verhaftungsaktion »vor allem einen vorzüglichen Eindruck auf die Bevölkerung« gemacht.230 Andererseits zeigen Verfolgungsschicksale wie das des Tischlergesellen Heinrich G. aus Wilmersdorf, der keine drei Wochen nach seiner Verurteilung im Rahmen der »Bettlerrazzia« erneut denunziert wurde und daraufhin viereinhalb Monate in den KZ Brandenburg und Oranienburg einsaß, dass die Bekämpfung der Wanderarmut durch Repression und Abschreckung an ihre Grenzen stieß: Zum einen war die soziale Lage vieler Menschen, die auf den Landstraßen durch das Deutsche Reich zogen, Ende 1933 aufgrund objektiver ökonomischer Faktoren immer noch hoffnungslos. Auch wenn die Wirtschaftskrise bereits abflaute und Beschäftigungsprogramme erste Erfolge zeigten, hatten viele Menschen keine Aussicht darauf, einen Arbeitsplatz zu finden. Das sollte sich erst in den folgenden Jahren durch die Verbesserung der Konjunktur und die damit steigende Nachfrage nach Arbeitskräften ändern. Wie weiter unten noch auszuführen sein wird, kam erschwerend hinzu, dass viele Kommunen bestrebt waren, Wanderer daran zu hindern, sich in ihrem Ort niederzulassen. 226 Ebd. 227 Ebd., Bericht Bezirksamt Tölz, 14.11.1933. 228 In der Vorkriegszeit stieg das Spendenaufkommen für das Winterhilfswerk kontinuierlich an. Vgl. Sachße u. Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 120–128. 229 BayHStA München, MInn 71575, Schreiben BayStMdI, 17.8.1934. 230 Ebd., Schreiben RMdI, 8.10.1934.
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Zum anderen fand das Konzept der Abschreckung auch in einer gewissen Gleichgültigkeit oder Widerspenstigkeit der Bettler und Vagabunden seine Grenze. Ein nicht unerheblicher Teil der Zielgruppe verfügte über jahre-, mitunter sogar jahrzehntelange Erfahrungen mit den Institutionen der Sozialdisziplinierung. Die Vorstrafenregister alter Bettler und Landstreicher, die nicht selten zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Einträge aufwiesen, geben darüber beredt Auskunft. Die Haft im Rahmen der »Bettlerwoche« war für sie nur einer unter vielen Zwangsaufenthalten in Gefängnissen und Arbeitshäusern. Sogar die Einweisung in ein frühes KZ wie Ahrensbök-Holstendorf oder Wittmoor, wo strenger Arbeitszwang herrschte und kaum physische Gewalt ausgeübt wurde, dürfte einige eher an die altbekannten Arbeiterkolonien erinnert haben. Dass sie mit einem qualitativ neuen Phänomen, dem genuin nationalsozialistischen Instrument extra-legaler Herrschafts- und Gewaltausübung konfrontiert waren, realisierten sicherlich die wenigsten. Ähnlich wie viele der für die Einweisungen Verantwortlichen, welche die frühen KZ auf einem Kontinuum mit den offenen, halboffenen und geschlossenen Fürsorge- bzw. Strafanstalten verorteten, nahmen auch die Betroffenen sie innerhalb dieser Matrix wahr. Auf jene Personen, die nicht die Not der Wirtschaftskrise auf die Straße getrieben hatte, sondern die aus Freiheitsdrang, persönlichem Unvermögen oder schlichter Ablehnung und Außenseitertum gegen die Normen bürgerlicher Lebensführung verstießen, dürfte die Inhaftierung im Herbst 1933 wenig Eindruck gemacht haben. In vielen Fällen war sie jedenfalls nicht dazu geeignet, die Betroffenen von ihrem Lebenswandel abzubringen. Für zahlreiche der als »Asoziale« verfolgten Menschen war die Haft in Folge der »Bettlerrazzia« weder der Anfang noch das Ende ihrer Odyssee durch die Anstalten des Wohlfahrts- und Strafsystems. Viele saßen auch während der 1930er-Jahre mehrfach in Gefängnissen, Zucht- und Arbeitshäusern oder im KZ. Ab Kriegsbeginn, als die Entlassung von KZ-Häftlingen immer seltener wurde, fanden auch viele der mit dem »schwarzen Winkel« gekennzeichneten »Asozialen« aufgrund von Folter, Mord und katastrophalen Lebensbedingungen den Tod oder wurden erst 1945 von den Alliierten wieder befreit. So wie das Ziel der repressiven Unterdrückung des »Bettelunwesens« zumindest temporär erfolgreich umgesetzt werden konnte, scheint auch die beabsichtige »Erziehung« und »Aufklärung« der Öffentlichkeit eine gewisse Wirkung entfaltet zu haben. Zwar ist die öffentliche Meinung, darauf hat die Forschung wiederholt hingewiesen, innerhalb der NS-Diktatur schwer einzuschätzen, weil das Regime die Meinungsfreiheit radikal, unter Einsatz von Terror und Gewalt, negierte. Manche Autoren bezweifeln sogar, dass unter nicht-demokratischen Bedingungen von der Existenz einer öffentlichen Meinung ausgegangen werden kann.231 Aber selbst unter Berücksichtigung dieser Überlegungen gibt es Hinweise darauf, dass die »Bettlerrazzia« zu einer deutlichen Verschlechterung der 231 Zum Problem der öffentlichen Meinung im Nationalsozialismus vgl. Moore, Opinion, S. 7, 12 f., 14; Kershaw, Opinion, S. 4; Steinert, Krieg, S. 17–48.
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Stimmungslage gegenüber Bettlern, Landstreichern und anderen als »asozial« stigmatisierten Personengruppen führte. Dagegen konnten sich alle jene, die schon lange ein hartes Durchgreifen gefordert hatten, in diesem Ziel bestärkt sehen und zum Handeln ermutigt fühlen. Dass die Großrazzia in der Bevölkerung durchaus positive, mitunter sogar begeisterte Reaktionen hervorrief, davon zeugt die Initiative eines Münchner Bürgers.232 Am 18. September, dem ersten Tag der Verhaftungsaktion, unterbreitete der Mann der bayerischen Staatsregierung eilfertig einen Vorschlag, wie man die Bekämpfung des »Bettelunwesens« effektivieren könnte. Die Regierung sollte veranlassen, dass der Aufruf, mit dem sie sich am selben Tage an die Bevölkerung gewandt hatte, als Sonderdruck an alle Haushalte verteilt werde. Anschließend müssten die Bürger aufgefordert werden, das Pamphlet an die Haus-, Wohnungs- und Ladentüren zu hängen. Diese Maßnahme sollte nach der Vorstellung des unaufgeforderten Ideengebers der »Abschreckung des unverbesserlichen Bettlers«233 dienen. Ähnlich wie die Initiative des Münchner Bürgers verweist auch die Denunziationsbereitschaft auf die Bejahung des Kampfes gegen die »Bettlerplage«. So war der Tischlergeselle Heinrich G. von einem Krankenpfleger denunziert worden, als er, wie unter Wandergesellen damals üblich, in einem Krankenhaus um ein Mittagessen gebeten hatte. Der Überraschung darüber, dass ihm die erbetene Mahlzeit plötzlich verweigert wurde, machte Heinrich G. in einem Wutausbruch Luft, der ihm, einem vorbestraften Bettler, auch noch einen »Heimtückevorwurf« eintrug. Diese Fallgeschichte zeigt, wie in Folge der »Bettlerrazzia« tradierte Praktiken des Bettelns mit den neuen Grundsätzen des regimekonformen Almosengebens in Konflikt gerieten. Aufgelöst wurde die Konfrontation zu Ungunsten der bis dahin geduldeten Bettelpraktiken: Der Krankenpfleger entschloss sich zur Denunziation, und der Landrat verhängte »Schutzhaft« über Heinrich G. In eine ähnliche Richtung weisen die Zeugnisse aus Straubing, wo die Essensausgabe in Klöstern und Anstalten im Zuge der »Bettlerwoche« polizeilich reglementiert und fortan über die Wohlfahrtsämter vermittelt wurde. Das von Polizeiinspektor Schirm initiierte Abkommen zeugt von einer behördenübergreifenden Kooperation, die Wohlfahrtsämter, Polizei und Klöster bzw. Anstalten der Region umfasste. Um ein so breites Bündnis zu bilden, mussten die Beteiligten den Einsatz repressiver Mittel zur Bekämpfung der »Bettlerplage« zumindest tolerieren, wenn nicht gar befürworten. Die fest in der christlichen Tradition des direkten Almosengebens verwurzelte Praktik des »Kloster- und Anstaltsbettels« wurde im Zuge dessen für illegitim und regulierungsbedürftig erklärt. Welchen Eindruck die Pressekampagne zur »Bettlerrazzia« auf Einzelne oder auf gesellschaftliche Gruppen machte, kann hier nur exemplarisch dargestellt werden. Die geschilderte Mitwirkungs- und Denunziationsbereitschaft einfacher Bürger, aber auch die weitgehend reibungslose behördenübergrei232 Vgl. BayHStA München, MInn 71575, Schreiben E. Schulz jr., 18.9.1933. 233 Ebd.
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fende Kooperation bei der Verhaftungsaktion zeugen jedoch davon, dass eine allgemeine Zustimmung zur »Bettlerbekämpfung« das gesellschaftliche Klima prägte. In einer wahren Flut von Zeitungsartikeln war der Grundgedanke der »völkischen Wohlfahrtspflege«, die Schlechterstellung der angeblich »Minderwertigen«, offensiv propagiert worden. Anknüpfend an lang gehegte und weit verbreitete Ressentiments gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen, schwor man die Bevölkerung auf den Kampf der »Volksgemeinschaft« gegen jedwede Form sozialer Devianz ein. Belege für Kritik oder Ablehnung der Maßnahmen finden sich kaum. Während die »Bettlerrazzia« bei den beiden wichtigsten Adressatengruppen, den Wanderarmen und der Öffentlichkeit, zunächst die gewünschte Wirkung erzielte, führte sie im System sozialer Sicherung zu einer radikalen Überlastung der Kostenträger und verschärfte dadurch das Problem, statt es zu lösen. Die Berichte der bayerischen Gebietskörperschaften über die Durchführung und die Ergebnisse der »Bettlerwoche« geben darüber beredt Auskunft. Einige von ihnen nutzten die Gelegenheit nicht nur, um eine grundlegende Kritik am bestehenden Fürsorgerecht zu formulieren, sie unterbreiteten auch Vorschläge zur Behebung der Mängel. Zwei Richtungen der Problembeschreibung lassen sich unterscheiden: Während die einen der Ansicht waren, die RFV habe die Wanderarmut mit verursacht und stehe daher auch ihrer Beseitigung im Weg, vertraten die anderen die Auffassung, die Wanderarmut resultiere lediglich aus einer falschen Anwendung des geltenden Fürsorgerechts. Den Berichten aus Bayern ist zu entnehmen, dass die »Maßnahmen gegen das Bettelunwesen« eine »erheblich[e] Belastung[en] der vorläufig verpflichteten Fürsorgeverbände«,234 also der Kommunen, verursacht hatten. Es ist davon auszugehen, dass im Herbst und Winter 1933/34 reichsweit mehrere zehntausend wohnungslose, fürsorgeberechtigte Personen, die sich zuvor am Rande bzw. außerhalb des Systems sozialer Sicherung durchzuschlagen versucht hatten, plötzlich ein Unterkommen suchten. Da sie sich oft seit Jahren auf Wanderschaft befanden, hatten sie ihren an den »gewöhnlichen Aufenthalt« geknüpften fürsorgerechtlichen Unterstützungswohnsitz schon vor langer Zeit verloren. Angesichts der verschärften Repressionen wendeten sie sich »irgend einer Gemeinde«235 zu, die dann zur vorläufigen Erstattung der benötigten Fürsorgeleistungen verpflichtet war. Aber gerade wenn es um die Unterbringung von alten oder arbeitsunfähigen Personen ging, berichtete das Bezirksamt Rottenburg, sei mit den Ortsfürsorgeverbänden »meistens nichts Rechtes anzufangen«.236 Einspringen mussten daher meist die Landesfürsorgeverbände, wodurch auch ihnen in Folge der Septemberrazzia »unerschwingliche Kosten« entstünden.237 234 Ebd., Schreiben Regierung Niederbayern und Oberpfalz, 21.11.1933. Vgl. ebd., Bericht Bezirksamt Wolfstein, 6.10.1933. 235 Ebd. 236 Ebd., Bericht Bezirksamt Rottenburg, 7.10.1933. 237 Ebd., Bericht Regierung Oberbayern, 23.10.1933.
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Viele Kommunen versuchten, die drohende finanzielle Überlastung dadurch abzuwenden, dass sie Hilfesuchende einfach abwiesen. Diese Praxis gab einigen bayerischen Gebietskörperschaften Anlass zu der erwähnten Einschätzung, dass das gültige System der Kostenträgerschaft die Wanderarmut perpetuiere.238 »Ist eine Familie obdachlos geworden«, kritisierte der Berichterstatter aus Dingolfing, »wird sie keine Gemeinde aufnehmen, weil jede befürchtet, dass diese Familie alsbald zur Last fällt«.239 Es sei sogar »wiederholt […] festgestellt worden, dass Gemeindeorgane auf Personen, die eine Wandererfamilie in die Wohnung aufnehmen wollten, […] eingewirkt haben, diese abzuweisen«.240 Die Folge derartiger Praktiken sei, schrieb das Bezirksamt Tölz, »dass der Wanderer wieder auf die Landstrasse angewiesen ist und sich – trotz seines guten Vorsatzes, nicht mehr zu wandern – seinem nun einmal bestimmten Nomadenschicksal ergibt«.241 Aber nicht nur für die vagabundierende Lebensweise, auch für die Bettelei seien die Kommunen mitverantwortlich. Oft müssten Wanderer »tatsächlich betteln«, weil die Ortsfürsorgeverbände ihnen »weder ein Nachtquartier noch irgendwelche Verpflegung gewähren«.242 Diese »Gleichgültigkeit und Pflichtwidrigkeit«243 treffe nicht nur wohnungslose Wanderer. Auch unter den »einheimischen Bettlern« seien »zweifellos öfters solche, die hilfsbedürftig sind, aber von ihrem zuständigen Fürsorgeverband […] überhaupt nicht oder doch ungenügend unterstützt werden und somit zum Betteln gezwungen sind«.244 »In machen Fällen wäre es […] angebrachter«, polemisierte das Bezirksamt Rottenburg, »statt des ohne Verschulden aus Not Bettelnden die schuldigen pflichtwidrig handelnden Organe der Ortsfürsorge einzusperren«.245 Das Bezirksamt Rottenburg repräsentiert mit seiner Argumentation jene Gebietskörperschaften Bayerns, die der Auffassung waren, die RFV habe die »Entwurzelung der Massen begünstigt«.246 Die Vertreter der zweiten Argumentationslinie, welche die Ursache der Wanderarmut nicht in der RFV selbst, sondern in ihrer falschen Auslegung begründet sahen, waren dagegen bemüht, in ihren Berichten die Rechtslage klarzustellen. So betonte die Regierung von Nieder bayern und der Oberpfalz, dass die Ortsfürsorgeverbände zur vorläufigen Kostenträgerschaft verpflichtet waren. In dem Moment, in dem sie einen Landstreicher einem anderen Fürsorgeverband, etwa dem des Geburtsortes, zuwiesen, machten sie sich nach § 17 RFV einer Abschiebung schuldig. Ebenso wenig 238 Vgl. ebd., Bericht Bezirksamt Dingolfing, 4.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Pfaffenhofen/Ilm, 14.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Rottenburg, 7.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Tölz, 25.10.1933. 239 Ebd., Bericht Bezirksamt Dingolfing, 4.10.1933. 240 Ebd. 241 Ebd., Bericht Bezirksamt Tölz, 25.10.1933. 242 Ebd., Bericht Bezirksamt Rottenburg, 7.10.1933. 243 Ebd. 244 Ebd. 245 Ebd. 246 Ebd.
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könnten sie sich, wie in der Praxis üblich, auf die §§ 4 und 5 des Freizügigkeitsgesetzes berufen. Die dort geregelte Weg- und Abweisung sei nur dann rechtmäßig, wenn der endgültig verpflichtete Fürsorgeverband festgestellt sei und eine Annahmeerklärung vorliege. Zwar seien durch die »Maßnahmen gegen das Bettlerunwesen […] ohne Zweifel erhebliche Belastungen der vorläufig verpflichteten Fürsorgeverbände entstanden«,247 räumten auch die Vertreter der zweiten Argumentationslinie ein. Doch dürfte »bei richtiger Handhabung der Bestimmungen der RFV […] in den meisten Fällen Ersatz von einem anderen Fürsorgeverband, der als endgültig verpflichteter festgestellt worden ist, erlangt werden können«.248 Daher seien die Ortsfürsorgeverbände zu einer »genaue[n] Einhaltung«249 des rechtlich vorgeschriebenen Procederes anzuhalten. Ganz anders fielen die Lösungsvorschläge jener Gebietskörperschaften aus, welche in der Abweisungspraxis eine logische Folge der fürsorgerechtlichen Regelung der Kostenträgerschaft sahen. »Das ganze System des derzeitigen Fürsorgerechts«, so das Fazit des Bezirksamts Rottenburg, sei »tatsächlich sehr wenig geeignet«,250 dem sozialen Krisenphänomen der Wanderarmut Abhilfe zu schaffen. Mehrere bayerische Bezirksämter schlugen daher vor, zum alten Prinzip des Unterstützungswohnsitzes zurückzukehren. Im Unterschied zum »gewöhnlichen Aufenthalt« wurde der Unterstützungswohnsitz, wie er im gleichnamigen Gesetz von 1871 bis zum Inkrafttreten der RFV geregelt war, durch Abstammung, Aufenthalt von bestimmter Dauer oder Verehelichung erworben, sodass er im Falle eines Verlusts der Wohnung nicht gleich mit verloren ging. Außerdem schlossen sich mehrere Gebietskörperschaften der Forderung nach Einführung eines reichsweiten Wanderbuchs an.251 Einen dritten Lösungsansatz sahen viele in der Realisierung des »Bewahrungsgesetzes«. So wollte man die Versorgung von alten, kranken, erwerbsbe schränkten oder »asozialen« Wanderern regeln. Weil diese »für Arbeiten überhaupt nicht mehr zu gebrauchen« seien und daher »auch kaum mehr eine Arbeit erhalten«,252 sah man darin die einzige Möglichkeit, sie am Vagabundieren zu hindern. Allerdings unterstellte man ihnen einen »überaus starken Freiheitsund Wandertrieb«.253 Deswegen wollte man per Gesetz ihre Zwangsunter bringung ermöglichen.254 247 Ebd., Schreiben Regierung Niederbayern und Oberpfalz, 21.11.1933. 248 Ebd. 249 Ebd. 250 Ebd., Bericht Bezirksamt Rottenburg, 7.10.1933. 251 Vgl. Ebd., Bericht Bezirksamt Dingolfing, 4.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Pfaffen hofen/Ilm, 14.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Rottenburg, 7.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Wolfstein, 6.10.1933; ebd., Bericht Bezirksamt Tölz, 25.10.1933; ebd., Bericht Regierung Oberbayern, 23.10.1933. 252 Ebd., Bericht Bezirksamt Dingolfing, 4.10.1933. 253 Ebd. 254 Vgl. ebd., Bericht Bezirksamt Rottenburg, 7.10.1933; ebd., Bericht Regierung Ober- und Mittelfranken, 23.10.1933.
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Während die Forderung nach einem »Bewahrungsgesetz« an die jahrzehntelangen Diskussionen der Wohlfahrtspflege anknüpfte, verließen andere Gebietskörperschaften altbekanntes Terrain und orientierten sich stattdessen an den jüngsten Entwicklungen. So schlug die Regierung von Ober- und Mittelfranken die »Schaffung besonderer Konzentrations- oder Arbeitslager« vor.255 Dort wollte man alle jene Bettler inhaftieren, »die von der Straße verschwinden sollen, ohne doch in sich die moralischen Voraussetzungen für das Arbeitshaus zu haben«.256 Das Bayerische Innenministerium reagierte reserviert. In einer Stellungnahme vom 9. Februar 1934 hieß es: »Der Gedanke, für Bettler, bei denen die Voraussetzungen zur Unterbringung im Arbeitshaus nicht ohne weiteres gegeben sind, eine geeignete Verwahrungsmöglichkeit zu schaffen, wurde bereits erwogen, war jedoch bisher mangels der hierfür erfor derlichen […] Mittel nicht zu verwirklichen. Da andererseits auch das Arbeitshaus Rebdorf an der Grenze seiner Aufnahmefähigkeit angelangt ist […], haben sich die Bezirkspolizeibehörden […] darauf zu beschränken, die Einschaffung von Bettlern in das Arbeitshaus nur in solchen Fällen anzuordnen, in denen diese Maßnahme unbedingt geboten erscheint und in denen die Voraussetzungen zweifelsfrei vorliegen.«257
Diese Äußerung suggerierte vordergründig, innerhalb der bayerischen Landesgrenzen wären die Behörden angehalten gewesen, sich bei der Behandlung von Bettlern und Landstreichern strikt an Recht und Gesetz zu halten und eine Anstaltseinweisung nur in besonders schweren Fällen anzuordnen. Damit verschleierte sie, dass in Bayern die extra-legale Inhaftierung von »Asozialen« längst an der Tagesordnung war. Auch die Behauptung, die Bemühungen, eine »Verwahrung« zu ermöglichen, scheiterten aufgrund knapper finanzieller Ressourcen, traf nur zum Teil zu. Zwar liefen entsprechende Initiativen tatsächlich weitgehend ins Leere, de facto hatte man aber längst begonnen, das KZ Dachau zur kostengünstigen Zwangsunterbringung von genau jenen Personengruppen zu nutzen, die für eine solche »Verwahrung« in Frage gekommen wären. Wie bereits erwähnt, löste man das Problem, dass das Arbeitshaus Rebdorf im Herbst 1933 hoffnungslos überfüllt war, am 21. November dadurch, dass man 100 Insassen in das KZ Dachau überstellte. Außerdem verhängten die bayerischen Behörden seit dem Frühjahr 1933 auch in Fällen devianten Sozialverhaltens »Schutzhaft«. Die erste nach Haftgründen aufgeschlüsselte »Schutzhaftstatistik« der BPP ordnet mindestens sechs Prozent der Gesamthäftlingszahl Kategorien zu, die auf sozialrassistische Verhaftungsgründe schließen lassen.258 Die gravierende Heterogenität und Ungleichzeitigkeit der Akteure, Ziele und Strategien sowie der Entwicklungsstadien im politischen Problemverarbei255 Ebd. 256 Ebd. 257 Ebd., Schreiben BayStMdI, 9.2.1934. 258 Vgl. ebd., StK 6299/1, Schreiben BPP, 1.2.1934; ebd., Schreiben BPP, 2.5.1934 (Anlage 2).
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tungsprozess, die bereits bei der Planung und Durchführung der »Bettlerrazzia« zu beobachten waren, findet sich also auch bei der Analyse der Wirkungen wieder. Während sich die einen noch mit Folgen wie der Überlastung der sozialen Sicherungssysteme beschäftigten, war für andere die KZ-Einweisung wegen devianten Sozialverhaltens – wenn auch in quantitativ begrenztem Umfang – längst an der Tagesordnung. Aber die Umbrüche im Gefüge der Wohlfahrtspflege gestalteten sich noch facettenreicher als bisher am Beispiel Bayerns erörtert. Das zeigt der Blick auf andere Akteure und in andere Gebiete des Reichs. Waren die Stimmen, die sich gegenüber der autoritären Wende in der Wohlfahrtspolitik skeptisch äußerten, schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik langsam verstummt, kann für die Zeit ab der Jahreswende 1933/34 konstatiert werden, dass zentrale Akteure auf dem Gebiet der Fürsorge erfolgreich auf die »völkische Wohlfahrtspflege« eingeschworen waren. Dies ist sicherlich nicht zuletzt ein Verdienst der Pressekampagne zur »Bettlerrazzia« gewesen. Am 15. Januar 1934 begrüßte der Deutsche Gemeindetag in einem Rundschreiben die Maxime, die Leistungen für den einzelnen Hilfsbedürftigen an dessen »Wert« für die »Volksgemeinschaft« zu messen und forderte die Kommunen dazu auf, die daraus resultierende Differenzierung der Wohlfahrtspflege in die beiden entgegengesetzten Pole »produktive, aufbauende Volkspflege«259 und »Pflege und Bewahrung in einfachster Form«260 auch praktisch umzusetzen. Nur zwei Wochen später, am 1. Februar, pries Oskar Martini, Vizepräsident der Hamburger Gesundheits- und Sozialbehörde, in einem Interview mit dem Hamburger Fremdenblatt den Handlungsspielraum, den das NS-Regime für die faktische Schlechterstellung der »Minderwertigen« geschaffen hatte: »Wer sich [seiner] Pflicht der Gemeinschaft gegenüber entzieht, wird als Unwirtschaftlicher und Asozialer kräftig angepackt, nur mit dem Allernotwendigsten versehen oder in der Regel Anstalten, in denen er zu arbeiten hat, überwiesen. […] Im nationalsozialistischen Staat […] können die Beamten die Fürsorge wieder mit der notwendigen Autorität ausüben: sie können Unwürdige abweisen, Asoziale mit Zwang anpacken, Wohlfahrtsschwindler ausmerzen.«261
Nahezu überall im Reichsgebiet waren Maßnahmen wie die von Martini geschilderten konsensfähig geworden. Um eine schnelle und zweifelsfreie Identifizierung »asozialer« Wohlfahrtsempfänger zu gewährleisten, ging man in Frankfurt am Main noch vor dem Jahresende 1934 dazu über, die entsprechenden Akten mit der Bezeichnung »As.« zu kennzeichnen. Ein ähnliches System entwickelte sich in Berlin. Vielerorts war die Kennzeichnung der angeblich »Aso259 Rundschreiben Deutscher Gemeindetag, 15.1.1934, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 50, Dok 25. 260 Ebd., S. 49. 261 Gespräch mit Martini, in: Hamburger Fremdenblatt, 1.2.1934, zit. nach ebd., S. 51, Dok 26. Ähnlich äußerte sich auch Pastor Paul Braune, Geschäftsführer des Deutschen Herbergsvereins, Mitte Oktober 1933 auf der Hauptversammlung der Wandererfürsorgeverbände. Vgl. Klee, Euthanasie, S. 39.
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zialen« der erste Schritt zu Leistungskürzungen und schließlich zur Ausgrenzung der Betroffenen aus der Wohlfahrtspflege.262 Die Schlechterstellung »asozialer« Hilfsbedürftiger war nicht zentral gesteuert, sondern wurde von den Kommunen in eigener Verantwortung durchgeführt. Überdies fehlte ihr die rechtliche Grundlage. Das hatte der Deutsche Gemeindetag bereits Anfang 1934 betont, als er darauf hinwies, dass eine Neugestaltung des Fürsorgerechts im Sinne der »völkischen Wohlfahrtspflege« noch ausstünde. Dennoch hätten die kommunalen Wohlfahrtsstellen »die Pflicht«, schon »jetzt […] im Rahmen des bestehenden Fürsorgerechts den nationalsozialistischen Grundsätzen Rechnung zu tragen«.263 Das war eine Aufforderung zur Rechtsbeugung, die, so die Erwartungshaltung des Deutschen Gemeindetags, durch die Gerichte Rückendeckung erhalten sollte.264 Hatten die Auswirkungen der »Bettlerrazzia« auf das System sozialer Sicherungen gezeigt, dass für eine langfristige Beseitigung des »Bettelunwesens« eine fürsorgerechtliche Lösung des Problems der Wanderarmut erforderlich gewesen wäre, zog das ebenfalls durch die »Bettlerrazzia« verstärkte Einschwenken der Fürsorgeverbände auf die »völkische Wohlfahrtspflege« einen tiefgreifenden Wandel in der Rechtsauffassung nach sich. Rechtsetzung sollte nicht mehr durch ein reguläres Gesetzgebungsverfahren, sondern durch die Anwendungspraxis der Exekutive und eine korrespondierende Auslegung des Gesetzes durch die Gerichte erfolgen. Die sich darin offenbarende Bereitschaft zum Rechtsbruch bedeutete eine erste Weichenstellung für ein von der Exekutive gesteuertes, maßnahmenstaatliches Vorgehen bei der Kontrolle und Bekämpfung sozialer Devianz. Selbst dort, wo sich das Vorgehen noch im Rahmen des gültigen Rechts bewegte, verschob sich das Schwergewicht zugunsten der Exekutive. Eine fürsorgerechtliche Lösung des Problems rückte in immer weitere Ferne. Lassen sich in der Handhabung des Rechts bereits die ersten maßnahmenstaatlichen Tendenzen beobachten, werden diese noch deutlicher, blickt man auf die Folgen, welche die »Bettlerrazzia« für das Gefüge der involvierten Akteure zeitigte. Einem Initiationsritus gleich, hatte die Septemberrazzia den tradierten Institutionen der Wohlfahrts- und Strafrechtspflege nicht nur Gelegenheit geboten, maßnahmenstaatliches Agieren wie das »rechtsschöpferische« Überschreiten gesetzlicher Grundlagen zu erproben, sondern auch die Kooperation mit den neu geschaffenen Instrumenten des NS-Terrorstaates einzuüben. Wie gezeigt, arbeiteten Polizei, Wohlfahrtsämter und private Fürsorgeorganisationen sowie SA, SS und Gestapo bei der Durchführung der Razzia Hand in 262 Vgl. Verfügung des Dezernenten des Frankfurter Stadtgesundheits- und Fürsorgeamtes, 30.11.1934, in: Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 59, Dok 59; Gaida, Formierung, S. 27 f.; Lohalm, Wohlfahrtsdiktatur, S. 383–389; Weber, Berlin, S. 325, 333. 263 Rundschreiben Deutscher Gemeindetag, 15.1.1934, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 49. 264 Dieser Apell strebte eine ähnliche Kompetenzverschiebung zugunsten der Exekutive an, wie sie weiter oben bereits anhand der württembergischen Durchführungsrichtlinien zur »Bettlerrazzia« analysiert wurde.
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Hand. Die Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte unterstützten die »Bettlerbekämpfung«, indem sie wie gefordert die Strafzumessung verschärften. Landräte, Bezirksämter, Polizeidirektionen, staatliche Wohlfahrtsämter und private Fürsorgeorganisationen kooperierten bei der Verhängung von »Schutzhaft« mit der Gestapo sowie mit den Verwaltungen und Kommandanten der frühen KZ. Diese wiederum interagierten mit den Gerichten, welche die Anwesenheit angeklagter »Schutzhäftlinge« im Strafverfahren verlangten und weil gegebenfalls die Vollstreckung von »Schutz«- und Strafhaft koordiniert werden musste.265 Wie die Überstellung der Rebdorfhäftlinge in das KZ Dachau eindrücklich versinnbildlicht, führten diese vielfältigen Interaktionen der Akteure zu einer Integration der frühen KZ in das bestehende System der wohlfahrtspflegerischen und strafrechtlichen Anstaltsunterbringung. Allerdings verlief dieser Prozess weder reibungslos, noch widerspruchsfrei. Das zeigen die Bestrebungen verschiedener Akteure, z. B. Herrmann Görings oder des Reichsstatthalters von Epp, die »Schutzhaft« auf politische Gründe zu beschränken. Letztendlich scheinen die KZ-Einweisungen der »Bettlerrazzia« aber zu einer Art »Normalisierungsschub« geführt zu haben. Abgesehen von der bisher nicht genauer zu quantifizierenden Zunahme von »Schutzhaftverhängungen« gegen Bettler und Landstreicher ab dem letzten Quartal 1933, spricht für diese Annahme auch die Beobachtung, dass in Folge der »Bettlerrazzia« die KZ-Haft in zunehmendem Maße zur Bekämpfung aller möglichen Formen von Devianz und Kleinkriminalität benutzt wurde, wobei die Flexibilität und hohe Anpassungsfähigkeit an lokalspezifische Problemlagen hervorsticht. Dennoch brachte die »Bettlerrazzia«, bezogen auf das konkrete sozialpolitische Problem, die Wanderarmut und das »Bettelunwesen«, keine langfristige Lösung. Allen Erfolgsmeldungen zum Trotz sind z. B. aus Bayern schon für die erste Jahreshälfte 1934 Klagen über ein »Wiederaufflackern des Bettelunwesens«266 überliefert. Anfang des Sommers forderte das Bayerische Innenministerium daher die untergeordneten Behörden auf, dem »mit allen Mitteln«267 entgegenzutreten. Nachweisbar ist bislang lediglich, dass daraufhin der Regierungsbezirk Pfalz in der ersten Juliwoche verschärfte Kontrollen gegen Bettler und Landstreicher durchführte.268 265 Zum Phänomen der »Schutzhaftunterbrechungen« zum Zweck des Strafhaftvollzugs vgl. Gruchmann, Justiz, S. 610–627; Nowak, Justiz. 266 BayHStA München, MInn 71575, Schreiben an Regierungen, Kammern des Innern, Polizeidirektionen und Staatspolizeiämter, 14.6.1934. Vgl. ebd., Auszug Halbmonatsbericht Regierungspräsidium Niederbayern und Oberpfalz, 5.3.1934; ebd., Halbmonatsbericht Regierungspräsidium Ober- und Mittelfranken, 6.2.1934; ebd., Schreiben Regierung Pfalz, 6.6.1934. 267 Ebd., Schreiben BayStMdI, 14.6.934. 268 Einen Monat später berichtete die Regierung der Pfalz an das Staatsministerium in München: »Von den Aussenämtern ist fast durchwegs berichtet worden, dass von einem Wiederaufflackern des Bettelunwesens keine Rede sein kann. Die Bettlerplage hat fast ganz nachgelassen. Klagen über das Bettlerunwesen sind fast nirgends mehr laut geworden.« Ebd., Schreiben Regierung Pfalz, 18.8.1934.
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Am 8. Oktober 1934, also wiederum im Vorfeld der Sammlungen für das Winterhilfswerk, wies dann das Reichsinnenministerium die Landesregierungen erneut an, »geeignete Maßnahmen zu einer ähnlich wirkungsvollen Bekämpfung des Bettelunwesens« wie im Vorjahr »vorzubereiten und in der letzten Oktoberwoche […] durchzuführen«.269 Nachweisbar sind entsprechende lokale »Bettlerrazzien« bisher in den Ländern Bayern,270 Baden,271 Württemberg272 und Thüringen273 sowie im oldenburgischen Landesteil Lübeck274 und in Hamburg.275 Für einige Regionen ist darüber hinaus auch ein gezieltes, kampagnenartiges Einschreiten der Behörden gegen Bettler und Landstreicher in den Jahren 1935 (Bayern, Baden, Thüringen)276 und 1936 (Bayern, Berlin)277 dokumentiert. Es erfolgte vermutlich in Eigenverantwortung, ohne einen Befehl der Reichsbehörden. Für das Land Baden konnten sogar Vergleichszahlen für die »Bettlerrazzien« der Jahre 1933 bis 1935 ermittelt werden. Waren im Jahr 1933 noch 2.763 Personen kontrolliert und gegebenenfalls verhaftet worden, griff die Polizei im Jahre 1934 nach Angaben der Badischen Presse nur noch rund 1.000 Bettler und Landstreicher auf.278 Bei der einwöchigen Razzia, die man in Baden vom 18. bis 23. November 1935 durchführte, brachten die »Beamten des staatlichen Sicherheitsapparates«279 dann lediglich 313 Personen zur Anzeige. Die Gründe für diesen drastischen Rückgang waren laut einer Zeitungsmeldung die »Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Regierung«, die »scharfen polizeilichen Maßnahmen zur Bekämpfung des Bettelunwesens« und die »helfende[n] Tätigkeit des Winterhilfswerkes«.280 In Bayern griff die Polizei im Rahmen der »Bettlerrazzia«, die dort im Juli 1936 stattfand, insgesamt 1.300 Personen auf und wies einen Teil davon in das KZ Dachau ein.281 Ohne eine teleologische Entwicklung hin zur radikalen Exklusion gesellschaftlicher Außenseiter qua KZ-Haft oder gar zu ihrer Vernichtung behaupten zu wollen, zeichnete sich doch schon im Herbst und Winter 1933/34 ein 269 Ebd., Schreiben RMdI, 8.10.1934. 270 Vgl. ebd., Schreiben BayStMdI, 19.10.1934. 271 Vgl. ITS-Arch Bad Arolsen, Hist.-Ordn. Kislau 2, 506, Schreiben BadMdI, 25.10.1934; Aufmachen, BadPr, 6.11.1934; Bekämpfung Bettelunwesen, ebd., 25.9.1934. 272 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 40 f. 273 Vgl. Bekämpfung Bettelunwesen, BMstP 1934, S. 163. 274 Vgl. Bericht städtisch Polizei Eutin, 21.11.1934, in: Stokes, Kleinstadt, S. 555 Anm. 3. Der Bericht der Eutiner Polizei ist bei Stokes falsch datiert. Vgl. ders., Schutzhaftlager, S. 620. 275 Vgl. Anordnung Hamburger Polizeipräsident (Wilhelm Boltz) zur Fahndung nach Bettlern, 26.10.1934, in: Diercks, Dokumentation. Vgl. Rothmaler, Fürsorge, S. 255. 276 Vgl. ITS-Arch Bad Arolsen, Hist.-Ordn. Kislau 2, 506, Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 18.11.1935; 700 Bettler, BadPr, 29.1.1936. 277 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 50; Wachsmann, KL, S. 143; Weber, Berlin, S. 329–330. 278 Vgl. Aufmachen, BadPr, 6.11.1934; 700 Bettler, ebd., 29.1.1936. 279 Ebd. 280 Ebd. 281 Vgl. Eberle, Herzogsägmühle, S. 57.
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Muster des politischen Problemverarbeitungsprozesses ab, welches das nationalsozialistische Vorgehen gegen soziale Devianz auch in den kommenden Jahren kennzeichnen sollte: Der maßnahmenstaatliche Zugriff auf »Asoziale« hatte sich im Verlauf der »Bettlerwoche« zumindest kurzfristig als effizient erwiesen, wodurch langfristige, fürsorgerechtliche Lösungsansätze ins Hintertreffen gerieten. Gleichzeitig wurden die Fürsorgeverbände, also jene Kräfte, die jahrelang eine solche fürsorgerechtliche Lösung gefordert hatten und die zu deren Vorbereitung und Umsetzung unabkömmlich gewesen wären, erfolgreich auf die Prinzipien der »völkischen Wohlfahrtspflege« eingeschworen. Abgesegnet von der obersten Staats- und Parteiführung, begleitet von einer geschickt gesteuerten, affirmativen Pressekampagne, breit unterstützt von verschiedensten gesellschaftlichen Kräften, getragen von allen Ebenen des politischen Systems erfuhr die Zusammenarbeit von Polizei, Fürsorge und den unteren Ebenen von Gebietskörperschaften und Gerichtsbarkeit mit SA, SS, Gestapo und KZKommandanturen durch die »Bettlerrazzia« einen ersten Schub der »Normalisierung«.282 Damit war gleichzeitig eine wichtige Weichenstellung in Richtung einer maßnahmenstaatlichen Unterdrückung anstelle einer normenstaatlichen Lösung von komplexen sozialen Phänomenen wie der Wanderarmut erfolgt. In diesem Sinne hatte die »Bettlerrazzia« durchaus langfristige Wirkungen, obgleich diese sich nicht in einer unmittelbaren Lösung des Problems der »Wanderarmut« und Beseitigung des »Bettelunwesens« ausdrückten. Wenn auch nicht flächendeckend oder annähernd den Dimensionen der politischen Verfolgung entsprechend, hatte die Septemberrazzia des Jahres 1933 zu einer Ausweitung der KZ-Haft auf eine erste Gruppe von »Asozialen«, die Bettler und Landstreicher, geführt. In ihrer Folge dehnte man in einigen Regionen die »Schutzhaftverhängung« auf weitere Formen sozialer Devianz aus. Maßgeblich initiiert und getragen von Akteuren, die nur zum Teil zur NS-Bewegung im engeren Sinn zählten, erlebte die Verfolgungspolitik mit der »Bettlerrazzia« einen ersten Radikalisierungsschub. Sie kann daher als frühes Experimentierfeld dessen begriffen werden, was Herbert als rassische Generalprävention beschrieben hat.283 Es war ein Experimentierfeld, auf dem nicht Angehörige der NS-Führungselite, sondern lokale Akteure maßnahmenstaatliches Agieren sowie die Kooperation mit den örtlichen NSDAP-Kampfverbänden, mit der Gestapo und den frühen KZ erprobten. Dabei entpuppte sich dieser erste große Angriff auf »Asoziale« bei genauerer Betrachtung als Summe regionaler Spezialpräventionen.
282 Vgl. Caplan, Introduction, S. 43–45. 283 Vgl. Herbert, Gegnerbekämpfung.
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5. Im Schatten der IKL. Die Bedeutung lokaler Akteure für den Einsatz der KZ als Instrumente sozialrassistischer und kriminalpräventiver Gesellschaftspolitik, 1934 bis 1936
Nachdem bereits während des Sommers 1933 Akteure aus den verschiedenen territorialen Verwaltungsebenen des Staats- und Parteiapparates die KZ-Haft als Instrument der sozialrassistischen Spezialprävention einsetzten, befand sich zum Jahreswechsel 1933/34 eine bislang nicht genauer zu beziffernde, aber vermutlich im vierstelligen Bereich anzusiedelnde Zahl von Häftlingen in den KZ, die man den »Asozialen« bzw. »Berufsverbrechern« zurechnen kann. Spätestens als Folgewirkung der »Bettlerrazzia« hatte die KZ-Haft vielerorts eine erste Ausdehnung erfahren. Die »Schutzhafterlasse« vom April 1934 sind durchaus auch als Antwort auf diese Praxis zu verstehen. In einem gewissen Spannungsverhältnis zum Zweck der »Schutzhafterlasse« stand der preußische »Vorbeugungshafterlass« vom 13. November 1933. Mit ihm schuf das Preußische Innenministerium, dem als Innenbehörde des größten deutschen Landes von jeher eine besondere Machtstellung und Vorbildfunktion zukam und das überdies am 1. März 1933 mit dem Reichsinnenministerium vereinigt worden war, eine Alternative zur »Schutzhaft«. Das half zwar, deren regelwidrigen Gebrauch einzudämmen. Gleichzeitig basierten die preußischen Bestimmungen zur »Vorbeugungshaft« aber auf einer Auslegung der Reichstagsbrandverordnung, die deren Zweckbestimmung systematisch überschritt. Damit erteilte der preußische »Vorbeugungshafterlass«, ein Musterbeispiel maßnahmenstaatlicher Kompetenzusurpation, dem Rechtsbruch gewissermaßen einen staatlichen Segen. Ähnlich wie der »Bettlerrazzia« kam ihm eine Signalwirkung zu, die zum Einsatz der KZ-Haft als Instrument der Kriminalprävention zu ermächtigen schien. Die »Vorbeugungshafterlasse« der Länder, aber auch die Vollzugsrichtlinien zum § 20 RFV, die mancherorts die »Schutzhaft« als Instrument der KZ-Einweisung von »Asozialen« ersetzten, können als Gegenbewegung der regionalen Ebene gegen die »Schutzhafterlasse« der Reichsbehörde verstanden werden. Sie sicherten den Einsatz der KZ-Haft zur Bekämpfung von Devianz und Delinquenz weiterhin rechtlich ab. Während sich die vorangegangenen Kapitel mit den Rechtsgrundlagen und der Einweisungspraxis befassten, wird das folgende Kapitel die Ausbildung der sozialrassistischen und kriminalpräventiven Funktion der KZ exemplarisch 201
auf der Mikroebene untersuchen.1 Als Beispiele dienen die frühen KZ Moringen (Preußen), Dachau (Bayern) und Kislau (Baden). Wie bereits gezeigt, war die extra-legale Inhaftierung von Personen, die man den Häftlingskategorien der »Asozialen« und »Berufsverbrecher« zurechnen kann, nicht das Ergebnis zentraler Weisungen, sondern ging auf die eigenverantwortliche Initiative der Akteure am Ort zurück. Die Anordnungen der Zentralbehörden kodifizierten häufig nur das, was an der Basis längst gängige Praxis war. Ähnlich wie die Exklusion der Juden aus der Wohlfahrtspflege wurde auch die Ausgrenzung der »Asozialen« und »Berufsverbrecher« im Wechselspiel zwischen lokalen und zentralen Behörden durchgesetzt, das mit Wolf Gruner als »learning by doing«2 charakterisiert werden kann. Die dabei entfesselte Radikalisierung war »kein zwangsläufiger, teleologischer Prozess von Kausalitäten«,3 sondern das Ergebnis einer Reihe von Gelegenheiten, die in der Dynamik dieses Wechselspiels ergriffen bzw. geschaffen wurden. Am Beispiel Hugo Kracks, in Personalunion Direktor des Arbeitshauses Moringen und des dort angesiedelten preußischen Frauen-KZ,4 sowie Alarich Seidlers, eines Funktionärs der bayerischen Wandererfürsorge, soll im Folgenden die Bedeutung lokaler Akteure und Initiativen für die Funktionserweiterung der KZ verdeutlicht werden. Das Wechselspiel zwischen zentralen und lokalen Instanzen wird anschließend anhand der Entwicklung des badischen KZ Kislau untersucht. Bei Moringen und Kislau handelt es sich um zwei Lager, die innerhalb der Historiografie bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren haben, was u. a. daran liegen könnte, dass sie der engen Begriffsdefinition des Stufenmodells nach gar nicht als »richtige« KZ gelten. Sowohl Moringen als auch Kislau gehörten zu jenen frühen KZ, die in den Räumen bestehender Arbeitshäuser eingerichtet wurden.5 Sie teilten aber noch ein weiteres, wichtiges Merkmal: Beide waren nicht der IKL, sondern einer zivilen Behörde unterstellt. Denn im Gegensatz zu allen übrigen frühen KZ, die Eicke ab Sommer 1934 entweder reorganisierte oder auflöste, wurden Moringen und Kislau nicht der zentralen SS-Administration angegliedert, sondern bestanden als zivil verwaltete Lager im Schatten der IKL fort.6 Zwar war Heinrich Himmler in seiner Funktion als Politischer Polizeikommandeur der Länder für beide Lager weisungsbefugt; doch für den Dienst1 Für eine komprimierte Fassung der folgenden Argumentation vgl. Hörath, Terrorinstrument, S. 513–516, 525–532. 2 Gruner, Fürsorge, S. 598. 3 Wildt, Volksgemeinschaft (2007), S. 374. 4 An dieser Stelle möchte ich Angelika Königseder danken, die mich, als ich die vorliegende Studie konzipierte, auf den Aktenbestand des Frauen-KZ Moringen aufmerksam machte. 5 Vgl. Caplan, Introduction, S. 22; Drobisch, Verhaftung, S. 192; Hesse, Frauen-KZ, S. 19, 21 Anm. 34. 6 Abgesehen von Moringen und Kislau existierten im Frühjahr 1935 nur noch sechs der ehemaligen frühen KZ, die als IKL-Lager nun unter SS-Hoheit standen: Dachau, Lichtenburg, Esterwegen, Sachsenburg, Berlin Columbia-Haus und Bad Sulza. Vgl. Königseder, Entwicklung, S. 32.
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alltag der Lagerverwaltung weit ausschlaggebender erwiesen sich in Moringen der Provinzialverband Hannover als übergeordnete Behörde und in Kislau das Badische Innenministerium sowie der Generalstaatsanwalt in Karlsruhe. Dem Frauen-KZ Moringen schreibt Tuchel daher einen »Sonderstatus« zu.7 Dennoch spricht einiges dafür, dass Moringen in die Planungen für das KZ-System einbezogen war. So fiel die Entscheidung, das im April 1933 im Moringer Arbeitshaus errichtete frühe KZ für Männer aufzulösen und stattdessen die dort seit Juni 1933 bestehende »Frauenschutzhaftabteilung« zum Frauen-KZ auszubauen, im Zuge der Reorganisation des preußischen KZ-Systems.8 Im Oktober 1933, einen Monat bevor die Zusammenlegung der weiblichen »Schutzhäftlinge« Preußens in Moringen begann, stellte ein Runderlass das Lager explizit den »staatlichen Konzentrationslagern« gleich. Schließlich hätte der Provinzialverband Hannover das Frauen-KZ nach der Gründung der IKL ohne das Einverständnis der SS-Führung auf Dauer gar nicht betreiben können. In Anlehnung an Hans Hesse lässt sich Moringen wohl am Besten als frühes KZ für Frauen beschreiben, dessen Entwicklung verglichen mit jener der Männerlager einer gewissen Zeitverzögerung unterlag. Erst mit der Verlegung der weiblichen KZ-Häftlinge in die Lichtenburg (Prettin) verfügte die SS ab der Jahreswende 1937/38 über ein ausschließlich unter ihrer Hoheit stehendes Frauen-KZ.9
5.1 Das Provinzial-Werkhaus und das Frauen-KZ Moringen (Preußen) Das Agieren von Hugo Krack als »Direktor des Frauen-Schutzhaftlagers Moringen«10 ist durch die Überlieferung im NdsHStA Hannover ungewöhnlich gut dokumentiert. Krack, geboren am 5. August 1888 in Hannover, bestand nach einem Studium in München und Leipzig im Jahre 1913 die Lehrer- sowie fünf Jahre später die Rektorprüfung. Bis 1930, dem Jahr seines Dienstantritts als Direktor des Arbeitshauses Moringen,11 arbeitete er als Geschichtslehrer im Schuldienst. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler trat Krack, der zuvor der liberalen Deutschen Demokratischen Partei nahestand, der NSDAP und der SA bei.12 7 Tuchel, Konzentrationslager, S. 173. Vgl. Wachsmann, KL, S. 131–135. 8 Als Überblick über die Geschichte der zwischen 1933 und 1945 im Arbeitshaus Moringen angesiedelten KZ vgl. Hesse, Moringen. 9 Vgl. ders., Frauen-KZ, S. 12 f., 29 f., 197. 10 Für diese von Krack häufig verwendete Selbstbezeichnung vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 109, Schreiben Direktor Frauenschutzhaftlager, 7.11.1936. 11 Die Moringer Anstalt wurde zwischen 1732 und 1738 als Waisenhaus erbaut. Über die Jahrhunderte diente sie verschiedenen Zwecken und beherbergt heute ein Landeskrankenhaus. Vgl. Caplan, Introduction, S. 18–22; Hesse, KZ, S. 22–24; Meyer, Werkhaus. 12 Vgl. Hesse, Frauen-KZ, S. 96–99.
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Als Direktor des Frauen-KZ spielte er eine höchst ambivalente Rolle.13 Sein pädagogisches Interesse und seine Experimentierfreude machten ihn aufgeschlossen für das Beschreiten neuer Wege. Anknüpfend an die Tradition der Arbeitshäuser war das Leitprinzip seiner Tätigkeit die Vorstellung vom »Erziehungscharakter«14 der neu geschaffenen Einrichtung: Durch die »strenge Zucht des Lagers« würden die Häftlinge zu »guten Volksgenossen erzogen«15 – ein »interessante[r] psychologische[r] Versuch«,16 den Krack mit großem Engagement seinen Vorstellungen entsprechend zu gestalten versuchte. Dabei machte er bereitwillig Gebrauch von dem neuen Maßnahmenkatalog, den das NS-Regime ihm zur Verfügung stellte. Er schlug z. B. KZ-Insassinnen für rassenhygienische Zwangssterilisationen vor.17 Statt aber Devianz und Delinquenz ausschließlich auf eine irreversible Degeneration des Erbguts zurückzuführen und damit die vermeintlichen Träger solcher Erbanlagen zu einer »rassischen« Bedrohung zu stilisieren, glaubte er an die »Besserungsfähigkeit« der KZ-Häftlinge.18 War eine Insassin in der Lage, Krack davon zu überzeugen, dass sie ernsthaft gewillt sei, in Zukunft den Lebensstil einer ehrbaren »Volksgenossin« zu führen, unterstützte er sie bei der Suche nach einer Unterkunft und Arbeitsstelle. Damit übertrug er ein Verfahren auf die KZ-Häftlinge, das als »nachgehende Fürsorge«19 bei zu entlassenden Arbeitshaushäftlingen Anwendung fand. Konnte eine Insassin dank Kracks Engagement ein Quartier und eine Einkommensquelle nachweisen, erhöhten sich die Chancen erheblich, dass die Einweisungsbehörde ihren Haftbefehl aufhob.20 Aber Kracks Ambitionen reichten noch weiter. Es war wohl hauptsächlich seiner Initiative zu verdanken, dass sich Moringen zum Frauen-KZ für das gesamte Reichsgebiet entwickelte. Um dies zu erreichen, bediente sich Krack einer Strategie, die darin bestand, mit nicht-preußischen Ländern Sonderabkommen über die Einweisung weiblicher KZ-Häftlinge zu treffen. Bei seinem Vorgehen nutze er geschickt die veränderten Rahmenbedingungen aus, welche die Errichtung des KZ in den Räumlichkeiten des von ihm geleiteten Arbeitshauses geschaffen hatte: Denn während das Provinzial-Werkhaus einen klar definierten Einzugsbereich hatte, erwies sich das KZ als flexibel gestalt- und formbar. 13 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Roth in seiner Untersuchung über das Kölner Justiz- und Polizeipersonal. Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 136. 14 Zit. nach Hesse, Frauen-KZ, S. 85. 15 Zit. nach ebd., S. 86. 16 Zit. nach ders., KZ, S. 9. 17 Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 119, Nr. 235. 18 Ebenso wenig wie »Asoziale« und »Berufsverbrecherinnen« betrachtete Krack Jüdinnen per se als eine »rassische« Gefahr für die »Volksgemeinschaft«. War die »Erziehung« im Lager in seinen Augen erfolgreich, konnten auch Jüdinnen als »gebessert« entlassen werden. Vgl. Wünschmann, Auschwitz, S. 100 f. 19 Vgl. Provinzialverband von Hannover, Verwaltungsbericht 1935, S. 31; ders., Verwaltungsbericht 1936, S. 26. 20 Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 1, Nr. 43, Nr. 85, Nr. 142, Nr. 230; Caplan, Introduction, S. 24 f.; Hesse, Frauen-KZ, S. 59–64, 88–107, 173, 194 f., 200–202.
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Die Kracksche Strategie der Sonderabkommen führte im Ergebnis nicht nur zu einer Erweiterung des Einzugsbereichs der Anstalt, sondern auch zu einer Funktionserweiterung des Frauen-KZ: Schon 1935/36 war Moringen ein Instrument der rassischen Generalprävention, knapp zwei Jahre bevor der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« dieses Konzept auf Reichsebene institutionalisierte. Wie kam es dazu? Motiviert war Kracks Vorgehen vermutlich durch das Bestreben, der Moringer Anstalt neue Häftlinge zuzuführen und die Insassenzahl auf möglichst hohem Niveau zu stabilisieren. Denn noch wenige Jahre zuvor hatte Krack um die Zukunft des Provinzial-Werkhauses bangen müssen. Angesichts eines steten Rückgangs der »Korrektionshäftlinge« seit der Jahrhundertwende, der auf die Reformierung von Strafrechtsvollzug und Wohlfahrtspolitik, aber auch auf die mildere Spruchpraxis der Gerichte zurückzuführen war, hatte vielen Arbeitshäusern die Schließung gedroht. Der Gebäudekomplex in Moringen stand im Jahre 1919 sogar kurze Zeit leer. Erst im April 1933, mit der Errichtung eines frühen KZ für Männer, füllte er sich wieder mit In sassen. Schon zu Zeiten dieses unter Polizei- bzw. SS-Kommando stehenden Lagers hatte Krack nachdrücklich – und schließlich erfolgreich – auf den Ausbau der im Sommer 1933 geschaffenen »Frauenschutzhaftabteilung« gedrängt. Die Aufnahme weiblicher Häftlinge sei für die Anstalt attraktiv, da sie, wie Krack nicht müde wurde zu betonen, »keine besonderen Unkosten«21 verursache, gleichzeitig aber durch die für die Unterbringung anfallenden Tagessätze eine lukrative Einkommensquelle darstelle. Außerdem gedachte Krack, die Verantwortung für die weiblichen KZ-Insassen selbst zu übernehmen und so seinen Machtbereich gegenüber dem des Lagerkommandanten abzusichern und zu erweitern.22 In den Betrieb des Arbeitshauses, als multifunktionale Anstalt von jeher ausgerichtet auf die Unterbringung verschiedener Zielgruppen und die Verfolgung variierender Zwecke, ließ sich sowohl das Männerlager als auch die »Frauenschutzhaftabteilung« problemlos integrieren.23 Mit seiner Politik der Sonderabkommen knüpfte Krack also an eine Strategie zum Ausbau des Anstaltsbetriebes an, die zu Zeiten der »Frauenschutzhaftabteilung« ihren Anfang nahm und mit der er durch die Etablierung des Frauen-KZ einen ersten Erfolg zu verzeichnen hatte. Die Grundlage für Kracks weiteres Vorgehen schuf um die Jahreswende 1933/34 eine Erklärung Görings, in der sich der preußische Ministerpräsident mit der Unterbringung von »weiblichen Schutzhäftlingen [aus] außerpreu ßischen Ländern«24 in Moringen einverstanden erklärte. Im Oktober 1935 erstreckte sich der Einzugsbereich des KZ bereits auf Sachsen, Thüringen, HessenDarmstadt, Bremen, Hamburg und Braunschweig. Am 20. Januar 1936 sicherte 21 Zit. nach ders., Frauen-KZ, S. 25. 22 Vgl. ebd., S. 23–35; ders., KZ, S. 77–86, 191. 23 Vgl. Ayaß, Arbeitshaus, S. 346 f.; Hesse, Frauen-KZ, S. 200 f.; ders., KZ, S. 205. 24 Zit. nach ebd., S. 37.
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Krack dann auch der BPP zu, dass sie Frauen, deren »Schutzhaft« voraussichtlich länger als drei Monate dauern würde, in das preußische Frauen-KZ überstellen konnte.25 Ein entsprechender Runderlass an die bayerischen Behörden erging am 13. Februar 1936.26 Im Sommer desselben Jahres folgte das erste Sonderabkommen, das sich nicht auf »Schutzhäftlinge«, sondern auf »Vorbeugungshäftlinge« bezog: Im Juni 1936 traf Krack die Vereinbarung mit dem Thüringischen Innenministerium, aufgrund derer Frauen nach Moringen deportiert werden konnten, die gemäß dem thüringischen »Vorbeugungshafterlass« als »asoziale Personen« galten.27 Ein Jahr später folgten ähnliche Abkommen mit den Polizeidirektionen Hamburg und Bremen, denen zufolge weibliche »Polizeigefangene«28 aus den beiden Hansestädten in Kracks Anstalt überstellt werden konnten. Diese Regelung betraf hauptsächlich wegen Prostitution aufgegriffene Frauen. Außerdem nutzte die Wohlfahrtsbehörde der Stadt Bremen die KZ-Einweisung als Disziplinarmaßnahme für weibliche Fürsorgezöglinge, deren Verhalten sie für »asozial« hielt.29 Aufgrund der Quellenlage ist es im Einzelfall kaum möglich, eine Aussage darüber zu treffen, auf wessen Initiative die Krackschen Sonderabkommen zurückgingen. Ebenfalls unbeantwortet bleiben muss die Frage, ob die interbehördlichen Verhandlungen allein horizontal, das heißt auf Ebene der Länder, oder auch vertikal, also zwischen zentralstaatlichen und regionalen Behörden stattfanden. Die einzige Ausnahme bildet das Abkommen über die Einweisung bayerischer »Schutzhäftlinge«. In diesem Fall war es die BPP, die auf der Suche nach geeignetem Haftraum an Krack herantrat.30 Sie handelte dabei in Übereinkunft mit einer zentralen Instanz, dem Politischen Polizeikommandeur der Länder Heinrich Himmler. Abgesehen davon ist lediglich die Beteiligung einer zweiten wichtigen Persönlichkeit der NS-Führung an der Krackschen Politik 25 Vgl. BayHStA München, MInn 73691, Schreiben BPP, 23.1.1936. 26 Vgl. ebd., Schreiben BPP, 13.2.1936. Aus Kostengründen forderte das Innenministerium die BPP allerdings dazu auf, die Zahl der Überstellungen nach Moringen möglichst gering zu halten. Vgl. ebd., Schreiben BayStMdI, 24.1.1936. 27 Vgl. Provinzialverband von Hannover, Verwaltungsbericht 1936, S. 26; Hesse, Frauen-KZ, S. 190 f. 28 Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 85; Provinzialverband von Hannover, Verwaltungsbericht 1936, S. 26; ders., Verwaltungsbericht 1937, S. 27. Die Hamburger Polizei tat sich bereits 1933 durch ihr scharfes Vorgehen gegen Angehörige sozialer Randgruppen hervor und verhaftete im Rahmen von Razzien u. a. mehrere Tausend Prostituierte. Vgl. Wachsmann, KL, S. 142. 29 Hans Hesse führt die Einlieferung der Bremer Fürsorgezöglinge ebenfalls auf ein Sonderabkommen zurück. Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 271. 30 Nachdem Anfang Dezember 1935 der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht München die Polizeibehörden aufgefordert hatte, für die Unterbringung weiblicher »Schutzhäftlinge« eine Alternative zu den Justizvollzugsanstalten zu suchen, war die BPP »im Benehmen mit dem Politischen Polizeikommandeur der Länder« an Krack »mit der Bitte um Aufnahme von weiblichen Schutzhaftgefangenen aus Bayern herangetreten«. BayHStA München, MInn 73691, Schreiben BPP, 23.1.1936. Vgl. ebd., Schreiben BPP, 13.2.1936.
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der Sonderabkommen belegt: Die grundsätzliche Einwilligung Hermann Görings in die länderübergreifende Nutzung Moringens als Vollstreckungsort für die »Schutzhaft« an Frauen bildete gewissermaßen ihren Ausgangspunkt. Wie noch zu zeigen sein wird, setzte Krack in seinen Schriftwechseln mit den außerpreußischen Behörden die bestehenden Abkommen diplomatisch geschickt ein, um die Einlieferung neuer Haftgruppen zu erwirken. Das lässt darauf schließen, dass Krack ein starkes Interesse am Erfolg der Abkommen hatte, wenn er nicht sogar die treibende Kraft darstellte. Es ist aber anzunehmen, dass Kracks Vorgehen im Einklang mit den Interessen der Zentralinstanzen stand. Als »KZ-Direktor« war er in letzter Instanz dem Politischen Polizeikommandeur der Länder Heinrich Himmler unterstellt und die Gestalt, die Moringen als Ergebnis der Krackschen Bemühungen annahm, fügte sich offenbar nahtlos in die Pläne der SS- und GestapoFührung ein. Anders ist es kaum zu erklären, dass Krack als KZ-Direktor bis zum Jahreswechsel 1937/38, bis die Verlegung des Frauen-Lagers in die Lichtenburg erfolgte, weitgehend unbehelligt seine Vorstellungen umsetzen konnte. Denn wie am Beispiel Kislaus noch zu zeigen sein wird, zögerte Himmler nicht, seine Autorität einzusetzen, um ein zivil geführtes KZ aufzulösen, sobald dessen Existenz seinen Plänen zuwiderlief. Obgleich nicht der IKL unterstellt, war das Frauen-KZ Moringen doch fester Bestandteil des im Aufbau befindlichen KZ-Systems. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass, als sich im März 1937 die Frage stellte, wo die im Zuge der ersten reichsweiten Großrazzia der Kriminalpolizei verhafteten »Berufsverbrecherinnen« untergebracht werden sollten, die Wahl offenbar ohne Zögern auf Moringen fiel. Dort nahm Hugo Krack die neue Häftlingsgruppe ebenso selbstverständlich in Empfang und integrierte sie in den Anstaltsbetrieb.31 Die durch die Sonderabkommen bewirkte Erweiterung der Moringer Häftlingsgesellschaft kann anhand der überlieferten 327 Insassenakten des FrauenKZ Moringen nachvollzogen werden, die im Folgenden als Stichprobe I zugrunde gelegt werden.32 Die Fallakten repräsentieren etwa ein Viertel der 1.350 weiblichen Häftlinge, die im KZ Moringen schätzungsweise inhaftiert waren.33 Innerhalb der Stichprobe I ging die Einlieferung der betroffenen Frauen 31 Vgl. Provinzialverband von Hannover, Verwaltungsbericht 1936, S. 26; Caplan, Introduction, S. 23 f.; Hesse, Frauen-KZ, S. 100. 32 Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 1–Nr. 327. Eine Kopie der Insassinnenakten lagert im BArch Berlin. Sämtliche Fälle der Stichprobe I teilen eine Besonderheit: Die Frauen wurden alle wieder aus Moringen entlassen. Von jenen Häftlingen, die bei Auflösung des KZ Moringen in die Lichtenburg überstellt wurden, schickte die Moringer Verwaltung die Insassinnenakten mit nach Prettin. Sämtliche Akten, die mit den Frauen auf Transport gingen, verblieben in der Lichtenburg und müssen als verloren gelten. Die Insassinnenakten der aus Moringen entlassenen Häftlinge hingegen verwahrte die dortige Verwaltung, sodass sie in der Überlieferung des Arbeitshauses erhalten geblieben sind. Vgl. Hesse, Frauen-KZ, S. 13 f., 107–115. 33 Vgl. ebd., S. 41.
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in fünf Fällen auf das Abkommen mit der thüringischen Landesregierung zurück, demzufolge weibliche »Vorbeugungshäftlinge« aus der Landesheilanstalt Stadtroda nach Moringen überstellt werden sollten.34 23 der insgesamt 27 KZInsassinnen, welche die Moringer Verwaltung als Prostituierte führt, waren von den Polizeidirektionen Hamburg und Bremen eingeliefert worden.35 Des Weiteren konnten drei Fälle weiblicher Fürsorgezöglinge nachgewiesen werden, deren Haft in Moringen die Bremer Wohlfahrtsbehörde zu verantworten hatte.36 Blickt man auf die Einlieferungsdaten der betroffenen Frauen zeigt sich, dass die Sonderabkommen unter anderem dazu gedient zu haben scheinen, eine bereits gängige Praxis vertraglich abzusichern. So dokumentiert der Fall einer Frau aus Bremen, die am 29. November 1935 in Moringen eintraf,37 dass die Bremer Polizeidirektion Prostituierte schon in das preußische Frauen-KZ überstellte, bevor das Abkommen mit dem KZ-Direktor diese Praxis 1937 institutionalisierte. Die Anzahl der Frauen, die man aufgrund von Devianz oder Delinquenz nach Moringen einlieferte, beschränkt sich aber nicht allein auf jene Fälle, deren Einweisung direkt auf eines der hier erörterten Sonderabkommen zurückzuführen ist. Das zeigt Stichprobe II, die Aufschluss über die Zusammensetzung der Moringer Häftlingsgesellschaft gibt. Sie umfasst sämtliche 841 namentlich bekannten Insassinnen des Frauen-KZ.38 Das entspricht 62,3 Prozent der Gesamtinsassinnenzahl. Bei der Auswertung der Quellen, auf der Stichprobe II basiert, ergibt sich allerdings ein zentrales Problem: Da es während der Be34 Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 85, Nr. 119, Nr. 128, Nr. 192, Nr. 242. 35 Als »Prostituierte« werden hier nur Frauen gezählt, bei denen eine tatsächliche oder unterstellte Tätigkeit im Sexgewerbe den Hauptgrund für die Inhaftierung bildete. Sie machten aber nur einen Teil der Frauen aus, die wegen ihres devianten Sexualverhaltens ins KZ Moringen gerieten. Eine weitere große Gruppe waren die sogenannten »Rasseschänderinnen«. Einigen von ihnen unterstellte die Gestapo zugleich, dass sie der Prostitution nachgingen. Vgl. Przyrembel, Rassenschande, S. 172–182, 273–309; Wünschmann, Auschwitz, S. 110–112. 36 Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 89, Nr. 257, Nr. 271; Hesse, Frauen-KZ, S. 35, 38 f., 176 Anm. 618. 37 NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 205. 38 Die 841 namentlich bekannten Frauen erhält man, wenn man die Informationen folgender Quellen miteinander kombiniert: 1.) Die 327 erhalten gebliebenen Insassinnenakten. Vgl. ebd., Nr. 1–Nr. 327. 2.) Die beiden Transportlisten vom 15. Dezember 1937 und vom 21. Februar 1938. Sie enthalten die Namen von 350 Frauen, die bei der Auflösung des KZ Moringen in die Lichtenburg überstellt wurden. Bis auf eine Ausnahme ist für jede dieser Frauen (349) der Personenbogen der Moringer Insassinnenakten überliefert, denn im Gegensatz zu den Akten schickte die Verwaltung des KZ Lichtenburg die Personenbögen nach Moringen zurück. Vgl. ebd., Acc. 84/82, Nr. 6, Nr. 7. 3.) Die Liste des dritten Transportes, der am 21. März 1938 in die Lichtenburg ging: Dort finden sich die Namen von 164 Frauen, von denen 57 als »Berufsverbrecherinnen« ausgewiesen sind. Von diesen Frauen sind sowohl die Insassinnenakten als auch die Personenbögen verloren gegangen. Vgl. ebd., Nr. 9. Zur Überlieferungsgeschichte vgl. Hesse, Frauen-KZ, S. 13 f., 107–115.
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Abb. 2: Handschriftlich modifizierte Aktendeckelaufdrucke für »Polizeigefangene« im Frauen-KZ Moringen.
standsdauer des Frauen-KZ Moringen noch keine Kennzeichnung der Häftlingsgruppen durch farbige Winkel gab,39 muss die Aufschlüsselung der Haftgründe retrospektiv erfolgen. Eine trennscharfe Unterscheidung bereitet jedoch Schwierigkeiten.40 Die Moringer Verwaltung differenzierte zwar spätestens ab März 1937 zwischen zwei Hauptgruppen von KZ-Häftlingen, die sie durch verschiedenfarbige Aktendeckel und eine aufgedruckte Bezeichnung der Haftart kennzeichnete: grüne Aktendeckel für »Schutzhäftlinge«, rosafarbene für »Berufsverbrecherinnen«.41 Aber auch dieses System stellte die Verwaltungsmitarbeiter mitunter vor Probleme, von denen durchgestrichene und veränderte Aktendeckelaufdrucke noch heute zeugen.42 Die hier vorgenommene Kategorisierung basiert auf einer Analyse der Haftgründe. Unterschieden wurde zwischen Prostituierten, »Berufsverbrecherin39 Das Winkelsystem zur einheitlichen Kennzeichnung der verschiedenen Häftlingsgruppen führte die SS erst etwa 1938 ein. Vgl. Eberle, Häftlingskategorien, S. 91. 40 Vgl. Caplan, Introduction, S. 27; Hesse, Frauen-KZ, S. 112 f. Das ist auch der Grund für die leichte Abweichung der Zahlen bei Hesse. Vgl. Hesse, Frauen-KZ, S. 144. 41 Die Akten der »Berufsverbrecherinnen« enthalten zudem einen eigens auf »Vorbeugungshäftlinge« abgestimmten Personenbogen, der Rubriken wie »Erbbiologische Angaben« und »Vorstrafen« verzeichnet. Als Beispiel vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 59. 42 Vgl. ebd., Nr. 192, Nr. 200, Nr. 224, Nr. 257.
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Abb. 3: Rosafarbener Aktendeckel einer als »Berufsverbrecherin« kategorisierten Frau im Frauen-KZ Moringen.
nen«, Fürsorgezöglingen und sozialrassistisch motivierten »Heimtückefällen«. Einen ersten Anhaltspunkt, auf den sich die Analyse stützen kann, notierte die Moringer Verwaltung gleich auf der ersten Seite der Insassinnenakte, dem Personenbogen, unter der Rubrik »Politische Betätigung«. Dort finden sich Einträge wie »Prostituierte«, »Rassenschänderischer Verkehr mit Juden«,43 »Verächtlichmachung des Winterhilfswerks«, »Hat abfällige Äußerungen über den Staat gemacht«, »10x wegen Diebstahl« sowie »IBV« für »Internationale Bibelforscher Vereinigung« und »Polizeigef.« für »Polizeigefangene«.44 43 Vgl. Wünschmann, Auschwitz, S. 51–54,106–113. 44 Als Beispiele vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 1, Nr. 4, Nr. 5, Nr. 10, Nr. 15, Nr. 22, Nr. 59, Nr. 130, Nr. 200.
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Abb. 4: Personenbogen einer als »Berufsverbrecherin« kategorisierten Frau mit der Rubrik »Erbbiologische Angaben«, Frauen-KZ Moringen.
Die bei weitem größte Häftlingsgruppe45 im Frauen-KZ Moringen bildeten die Zeuginnen Jehovas, dicht gefolgt von den politischen Häftlingen.46 Den Anteil jüdischer Häftlinge an Stichprobe II beziffert Kim Wünschmann auf 13,4 Prozent.47 Darüber hinaus ergab die Auswertung 81 »Berufsverbrecherinnen« (9,6 Prozent) und 27 Prostituierte (3,2 Prozent). Neben den Prostituierten gab es noch eine zweite Insassengruppe, die nach Einführung des Winkelsystems 45 Für das Frauen-KZ Moringen können folgende Häftlingskategorien gebildet werden: Zeuginnen Jehovas, Politische (KPD, SPD), »Heimtücke«, Remigrantinnen, »Rassenschande«, Prostituierte, »Berufsverbrecherinnen«, Fürsorgezöglinge sowie eine kleine Gruppe »Sonstige«. 46 Vgl. Hesse, Frauen-KZ, S. 114. 47 Vgl. Wünschmann, Auschwitz, S. 106.
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mit dem schwarzen Stoffdreieck der »Asozialen« gekennzeichnet worden wäre: die Fürsorgezöglinge. Rechnet man die vier Fälle (0,5 Prozent) zu den Prostituierten hinzu, ergibt sich für die »asozialen« Häftlinge ein Anteil von 3,7 Prozent. Der Anteil sozialrassistischer »Heimtückefälle« kann lediglich für die Stichprobe I angegeben werden, da die notwendige Tiefenschärfe bei der Analyse der Haftgründe nicht allein anhand der Personenbögen, sondern nur unter Einbeziehung der gesamten Insassenakte erreicht werden kann. Innerhalb von Stichprobe I ging die KZ-Einweisung in 39 Fällen auf ein »Heimtückedelikt« zurück. In zwölf Fällen,48 das entspricht knapp einem Drittel, spielte das deviante Sozialverhalten der »Heimtückerednerin« bei der »Inschutzhaftnahme« eine ausschlaggebende Rolle. Die ersten Einweisungen sozialrassistisch motivierter »Heimtückefälle« sind für die Jahreswende 1933/34 belegt.49 Die erste Überstellung einer Prostituierten in das Frauen-KZ dokumentierte die Verwaltung am Ende des folgenden Jahres, am 29. November 1935.50 Frauen, die der Gruppe der »Berufsverbrecherinnen« zuzurechnen sind, erreichten Moringen erstmals in Folge der Großrazzia der Kriminalpolizei im März 1937. Wie ging die Moringer Anstaltsleitung mit den Frauen um, die nicht zu den politischen »Schutzhäftlingen« zählten? Einige von ihnen entsprachen genau der traditionellen Klientel der Arbeitshäuser. Die Haftart, auf der ihre Festnahme beruhte, war jedoch gerade erst geschaffen worden und die Einlieferung nach Moringen überhaupt nur möglich, weil die Eröffnung des KZ die Erweiterung des Einzugsbereichs der Anstalt erlaubte. Ein Beispiel für diesen Sachverhalt sind die »asozialen« »Vorbeugungshäftlinge« aus der Landesheilanstalt Stadtroda. Grundsätzlich war die Verwaltung Moringens um eine klare administrative Trennung von Arbeitshaus und KZ bemüht. Auch die Unterbringung der jeweiligen Insassen erfolgte separat. In Einzelfällen lässt sich heute allerdings nur noch schwer eine Aussage darüber treffen, ob eine als KZ-Häftling geführte Insassin tatsächlich in den Räumen des KZ oder aber im Arbeitshaus unter gebracht wurde. Wenn es ihm zweckdienlicher erschien, quartierte Krack gerade Fürsorgezöglinge und Prostituierte – Personengruppen, die zur angestammten Klientel der Arbeitshäuser zählten – mitunter statt im KZ in der »Korrektionsabteilung« des Werkhauses ein.51 Innerhalb des KZ begann Krack spätestens ab 1936 politische Häftlinge, Jüdinnen und Zeuginnen Jehovas voneinander zu separieren. Als im März 1937 die »Berufsverbrecherinnen« eingeliefert wurden, richtete er eine »Nebenabteilung des Frauenschutzlagers«52 ein. Dass die »asozialen« KZ-Häftlinge hingegen 48 Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 5, Nr. 25, Nr. 30, Nr. 35, Nr. 36, Nr. 169, Nr. 184, Nr. 199, Nr. 214, Nr. 275, Nr. 321. In einem der zwölf Fälle handelte es sich bei der Beschuldigten um eine Jüdin. Vgl. ebd. Nr. 47. 49 Vgl. ebd., Nr. 36, Nr. 199, Nr. 214. 50 Vgl. ebd., Nr. 205. 51 Vgl. ebd., Nr. 64, Nr. 85, Nr. 89. 52 Provinzialverband von Hannover, Verwaltungsbericht 1936, S. 26. Im Zusammenhang mit der Einweisung einer Bäuerin aus Sangerhausen, die Ende März 1937 wegen des Verdachts
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partiell in das Gefüge des Arbeitshauses integriert blieben, zeigt einerseits, dass zu Zeiten des Frauen-KZ Moringen die Verankerung der Zwangsasylierung devianter Frauen in der Tradition der Arbeitshäuser noch nicht vollständig ge brochen war. Andererseits aber kann sie als eine frühe Form der nach Häftlingsgruppen getrennten Unterbringung interpretiert werden und verweist als solche auf die inneren Differenzierungen und Hierarchisierungen, wie sie die SS in den späteren KZ etablierte.53 Gerade die enge Anbindung des KZ an das Arbeitshaus war es, die Krack einen Argumentationsspielraum verlieh, der ihm half, die Erweiterung des Zuständigkeitsbereichs und damit auch der Funktion Moringens voranzutreiben. Im Falle der 18-jährigen Erika F. aus Thüringen beispielsweise54 machte er sich seine Doppelfunktion als Direktor des Arbeitshauses und des Frauen-KZ gezielt zu Nutze, um die Vorbehalte des Reichsstatthalters von Thüringen gegen eine Überstellung der jungen Frau nach Moringen zu zerstreuen. Beantragt worden war die KZ-Einweisung gemäß den Bestimmungen des thüringischen »Vorbeugungshafterlasses« von der Landesheilanstalt Stadtroda, wo sich Erika F. einer Heilbehandlung unterziehen musste und angeblich ein »asoziales Verhalten«55 an den Tag gelegt hatte. Von der Absicht, F. nach Moringen zu überstellen in Kenntnis gesetzt, erhob der thüringische Reichsstatthalter im August 1937 beim Bürgermeister von Eisenach, der als Vorsitzender des Jugendamtes für den Fürsorgezögling Erika F. zuständig war, Einspruch: »Die Fürsorgeerziehung muss nach § 62 [Reichsjugendwohlfahrtsgesetz] in einer Erziehungsanstalt durchgeführt werden. Es ist daher an sich nicht angängig, einen Fürsorgezögling ohne weiteres in einem Frauenschutzhaftlager unterzubringen. Mit Rücksicht auf den besonders gelagerten Fall würde ich nicht abgeneigt sein, ausnahmsweise der vorgeschlagenen Unterbringung der Erika F. in dem Frauenschutzhaftlager Moringen zuzustimmen. Bevor ich jedoch hierüber endgültig entscheide, ersuche ich, nähere Feststellungen über das Frauenschutzhaftlager zu treffen, insbesondere über die Art und den Zweck der Einrichtung und in wessen Händen die Leitung des Lagers liegt.«56
Der Bürgermeister von Eisenach wandte sich daraufhin Hilfe suchend nach Moringen. Um die Wogen zu glätten, warf Krack seine gesamte Autorität als akaauf »gewerbsmäßige Abtreibungen« in »Schutzhaft« geriet, schrieb Krack an das Gestapa Berlin, die Frau würde in einer »Sonderabteilung für Berufsverbrecherinnen« untergebracht. Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 33, Schreiben KZ-Direktor Moringen, 27.5.1937; Caplan, Introduction, S. 25–27; Hesse, Frauen-KZ, S. 62, 115, 173 Anm. 618, 190–196. 53 Vgl. Eberle, Häftlingskategorien; Pätzold, Häftlingsgesellschaft. 54 Kurz erwähnt wird die Fallgeschichte von E. F. bei Hans Hesse. Vgl. Hesse, Frauen-KZ, S. 196. 55 NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 85, Schreiben Landesheilanstalt Stadtroda, 28.10.1927. 56 Ebd., Schreiben Reichsstatthalter Thüringen, 14.8.1937.
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demisch ausgebildeter Pädagoge in die Waagschale. Am 4. September 1937 teilte er dem Eisenacher Bürgermeister mit, »dass die betreffende asoziale Person nicht in dem weiblichen Frauenschutzhaftlager für politische Schutzhäftlinge [sic] untergebracht wird, sondern in der Korrektionsabteilung der Anstalt«.57 »Das Landeswerkhaus ist«, ließ Krack den Bürgermeister wissen, »eine Zwangsfürsorgeanstalt, in der einmal die korrektionelle Nachhaft […] durchgeführt wird und zum anderen säumige Unterhaltspflichtige, entmündigte Trinker, asoziale Frauen und Mädchen Aufnahme finden. So werden die erziehungsbedürftigen Mädchen aus Stadtroda, soweit es sich um schwierige Fälle handelt, nach hier überführt. In diese Abteilung würde die F. ebenfalls aufgenommen werden können. Die Betreuung erfolgt durch ausgebildetes, weibliches Aufsichtspersonal. Die Leitung der Anstalt liegt in Händen eines pädagogisch und psychologisch vorgebildeten Verwaltungsbeamten.«58
Indem er die Grenzen zwischen Arbeitshaus und KZ verwischte und die Verwurzelung seiner Anstalt im traditionellen Konzept der »Korrektion« betonte, konnte Krack den thüringischen Reichsstatthalter überzeugen, neue Wege bei der Disziplinierung renitenter Fürsorgezöglinge zu beschreiten. Der »Normalisierungseffekt«,59 den die Ansiedlung des preußischen FrauenKZ in den Räumen des altehrwürdigen Provinzial-Werkhauses erzeugte und den Krack in seinem Antwortschreiben nach Thüringen geschickt auszuspielen wusste, war bei der Errichtung des Lagers sicherlich nicht intendiert. Er entstand mehr oder weniger zufällig, als die Nationalsozialisten auf ihrer Suche nach geeigneten Hafträumen auf die nicht voll ausgelasteten Arbeitshäuser stießen. Gerade bei den frühen KZ-Einweisungen von »Asozialen« und »Berufs verbrechern« dürfte es aber dieser »Normalisierungseffekt« gewesen sein, der half, mögliche Vorbehalte der Verantwortlichen zu zerstreuen. Erika F. traf jedenfalls am 11. November 1937 tatsächlich in Moringen ein. Geführt wurde die junge Frau als KZ-Häftling. Über den Ort ihrer Unterbringung innerhalb der Moringer Anstalt lässt sich heute keine Aussage mehr treffen. Dass Hugo Krack, wie er in seinem Antwortschreiben andeutete, nach Abschluss des Sonderabkommens mit dem Thüringischen Innenministerium eigens eine Abteilung für weibliche »Vorbeugungshäftlinge« aus der Landesheilanstalt Stadtroda eingerichtet hatte, darf allerdings bezweifelt werden. Im Herbst 1937, als die IKL die Verlegung des Frauen-KZ in die Lichtenburg plante, offenbarte sich noch einmal Kracks Sendungsbewusstsein. Er reiste eigens nach Berlin, um mit Paul Werner, der mittlerweile vom Chef des badischen LKPA zum stellvertretenden Leiter des RKPA aufgestiegen war, über die künftige Zwangsinternierung von »asozialen« Frauen zu sprechen. Geplant war zunächst, dass »Prostituierte und [dergleichen]« nicht in die Lichtenburg über57 Ebd., Schreiben Landeswerkhaus Moringen, 4.9.1937. 58 Ebd. 59 Vgl. Caplan, Introduction, S. 43–45; Wachsmann, KL, S. 63.
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stellt werden, sondern in Moringen verbleiben sollten, um dort an ihnen eine »Erziehungshaft für asoziale Personen« zu vollstrecken.60 Ein zweites Treffen brachte Krack mit Günther Tamaschke zusammen, der als zukünftiger Lager direktor der Lichtenburg vorgesehen war. Bevor Tamaschke seinen neuen Posten antrat, wollte Krack, der sich selbst für den einzigen Experten auf dem Gebiet der Führung eines Frauen-KZ hielt, dem ehemaligen »Schutzhaftlagerführer« Dachaus und Leiter der Politischen Abteilung der IKL über seine praktischen Erfahrungen als »KZ-Direktor« in Moringen berichten. In einem Briefwechsel mit der Landesregierung Hannover entwickelte Krack außerdem Ideen für die Zukunft des Moringer Arbeitshauses und prognostizierte dessen bedeutende Rolle bei der »Lösung des asozialen Problems [sic]«.61 Zentrale Antriebskraft für Kracks Bemühungen war vermutlich erneut die Sorge um die Zukunft des Arbeitshauses. Dennoch offenbaren seine Vorschläge, dass er in den durch die NS-Diktatur geschaffenen Bedingungen einen Handlungsspielraum erkannte, den er zur Verwirklichung seiner Vorstellungen zu nutzen gewillt war. Zunächst schien es auch so, als seien Kracks Bemühungen, die »asozialen« und »kriminellen« KZ-Häftlinge in Moringen zurückzuhalten, von Erfolg gekrönt. Mit den ersten beiden Transporten, die Moringen am 15. Dezember 1937 und am 21. Februar 1938 in Richtung Prettin verließen, wurden weder Prostituierte noch »Berufsverbrecherinnen« in das neue Frauen-KZ überstellt. Erst am 21. März 1938 brachte der dritte Transport neben 107 »Schutzhäftlingen« auch 57 »Berufsverbrecherinnen« in die Lichtenburg. Am 13. Juni 1938 verzeichnet das Posteingangsbuch des örtlichen Bürgermeisters schließlich auch den »Eingang« von 13 »Vorbeugungsgefangenen« aus Moringen,62 bei denen es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die von Krack zurückgehaltenen Prostituierten handelt.63 Damit waren die letzten weiblichen KZ-Häftlinge aus Moringen in das neue, SS-geführte Frauenlager überstellt worden. Hugo Kracks Vision von Moringens Rolle bei der »Lösung des asozialen Problems« sollte dennoch auf tragische Weise in Erfüllung gehen, als das RKPA im August 1940 dort ein KZ für männliche Jugendliche errichtete – freilich ohne Krack als Direktor des Arbeitshauses erneut maßgeblichen Einfluss zu gewähren.64
60 Zit. nach Hesse, Frauen-KZ, S. 107. Vgl. Caplan, Introduction, S. 25. 61 Zit. nach Hesse, Frauen-KZ, S. 109. 62 Vgl. StadtArch Annaburg-Prettin, Tagebuch – Bürgermeister als Ortspolizeibehörde, 1938, Nr. 918. Ich danke Sven Langhammer für den Hinweis auf diese Quelle. 63 Zählt man diese 13 »Vorbeugungshäftlinge« zu den namentlich bekannten KZ-Insassinnen hinzu, so erhöht sich der Anteil »asozialer« Frauen an der Moringer Häftlingsgesellschaft auf 5,15 Prozent. 64 Vgl. Hesse, Frauen-KZ, S. 107–111; ders., Moringen, S. 165–167.
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5.2 Das SS-KZ Dachau und der Bayerische Landesverband für Wanderdienst (LVW, Bayern) Einen ähnlichen Gestaltungswillen wie Hugo Krack in Preußen zeigte auch der bayerische Wohlfahrtsfunktionär Alarich Seidler, geboren 1897, gelernter Kaufmann. 1922 trat Seidler der NSDAP und der SA bei. Schnell stieg er zum Landesführer des Winterhilfswerks und der NSV im Gau München/Oberbayern auf. Im Februar 1934 veröffentlichte Seidler eine kleine Denkschrift mit dem Titel Der Wander-Dienst,65 in der er ein Konzept für die Wandererfürsorge in Bayern entwickelte. Seine Vorschläge waren nicht neu, vielmehr strebte Seidler eine radikale Umsetzung längst geäußerter Zielvorstellungen an: die Errichtung eines Netzes von »Wanderstraßen« mit entsprechenden Übernachtungseinrichtungen, die Einführung eines reichsweiten Wanderbuchs und die Anbindung der Wandererfürsorgeeinrichtungen an den Arbeitsmarkt. Außerdem beabsichtigte Seidler, die Wandererfürsorge mit den neu geschaffenen Repressionsinstrumenten der Nationalsozialisten zu vernetzen. Die Wanderhöfe sollten z. B. der Leitung von SA- und SS-Männern unterstellt werden und die »Asozialen« und »Verbrecher« unter den Vagabunden plante Seidler in speziellen Lagern zu internieren.66 In Bayern, wo mit der Rückendeckung Himmlers verschiedene Akteure eine überaus repressive Politik gegenüber sozialen Außenseitern und vermeintlichen »Kriminellen« verfolgten, fielen Seidlers Vorschläge auf fruchtbaren Boden. Im November 1933 läutete die bereits mehrfach erwähnte Überstellung von 100 Arbeitshaushäftlingen aus Rebdorf nach Dachau eine Kooperation zwischen einer tradierten Zwangsanstalt und dem KZ ein. Im März 1934 erwog dann die BPP, das KZ Dachau zu erweitern. Man wollte entweder eine »Abteilung ›Arbeitshaus‹«67 einrichten oder es in zwei große Abteilungen untergliedern: Die erste Sektion sollte die politischen »Schutzhäftlinge« aufnehmen, die zweite war für die »kriminellen Verbrecher«68 vorgesehen. Inspiriert waren diese Pläne von den Erfolgen, welche die BPP der KZ-Haft bei der »Erziehung« angeblich »asozialer« Personen zuschrieb. Ob auch Seidler mit seinem Vorschlag, spezielle Lager für »Asoziale« und »Verbrecher« zu errichten, ein Ideengeber für diese Pläne war, ist nicht dokumentiert. Das Vorhaben, in Dachau eine Art »Arbeitslager« für »Asoziale« und »Verbrecher« zu schaffen, wurde nie umgesetzt. Stattdessen etablierte Seidler, dem es schnell gelungen war, sich in Bayern einen Namen als Experte der Wandererfürsorge zu machen, eine enge Kooperation zwischen den Wanderhöfen und 65 Seidler, Wander-Dienst. 66 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 47 f. 67 BayHStA München, MInn 73635, Schreiben Politischer Polizeikommandeur Bayern, 27.3.1934. 68 Ebd.
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dem KZ Dachau. Noch 1934 übernahm er den Vorsitz des LVW, eine Funktion, in der er nicht nur den Verband reorganisierte, sondern außerdem den Einsatz Dachaus als Instrument sozialrassistischer und kriminalpräventiver »Volksgemeinschafts«-Politik maßgeblich mitgestaltete.69 Bald drohte die Hausordnung der Herzogsägmühle, der größten Unterbringungsstätte für Wanderer in Bayern,70 renitenten Insassen als Disziplinarmaßnahme die KZ-Einweisung an.71 Umgekehrt überführte die Dachauer Lagerleitung KZ-Häftlinge in den Wanderhof, die nicht mehr voll arbeitsfähig waren. Sie folgte darin einer Anregung Seidlers. Ab Oktober 1937 überwies die Kommandantur ebenfalls auf dessen Initiative hin »Schutzhäftlinge« in bestimmten Fällen nach der Entlassung aus dem KZ direkt in den Wanderhof, von wo aus sie in Arbeit vermittelt werden sollten. So wollte man verhindern, dass »mittellose entlassene Schutzhäftlinge bettelnd im Lande umherziehen und in kurzer Zeit wieder straffällig werden«.72 Das Seidlersche Konzept schien so erfolgversprechend, dass das Bayerische Innenministerium im April 1936 den LVW mit der Durchführung der gesamten Wandererfürsorge in Bayern beauftragte. Nun konnte Seidler die Wanderordnung implementieren, die er zwei Jahre zuvor in der Broschüre der Wander-Dienst vorgestellte hatte. Zwischen dem 7. und dem 16. Juli 1936 führte die Ordnungspolizei im rechtsrheinischen Bayern eine Großrazzia zur Durch setzung der neuen Regelung durch.73 Von den insgesamt 1.307 Verhafteten behandelte die Polizei 370 Personen »in eigener Zuständigkeit«,74 161 überstellte sie den Gerichten, 40 wurden des Reiches verwiesen und 736 in das KZ Dachau gebracht. Die nicht oder nur geringfügig Vorbestraften unter ihnen transportierte man in den nächsten 14 Tagen von dort in den Wanderhof Herzog sägmühle oder setzte sie wieder auf freien Fuß. Bis zum 27. Juli hatte sich die Anzahl der in Dachau befindlichen Häftlinge der Razzia um 96 Personen auf 640 reduziert. Weitere 106 Häftlinge kamen nach einem Monat Haft frei.75 Im Verlauf der Vorkriegszeit wurde die Inhaftierung der aufgegriffenen Bettler und Landstreicher in geschlossenen Einrichtungen und ihre rassenbiologische Klassifizierung zur Kerntätigkeit des LVW. In einem System der »Siebung und Sichtung«, sollten die angeblich »degenerierten Arbeitsscheuen« und die »erziehbaren, unverschuldete Armen« identifiziert werden. Je nach Ergebnis variierte die »Behandlung« der Betroffenen: Während man die »Besserungsfähigen« in den Wanderhöfen »erziehen« wollte, drohte den »Unerziehbaren« die 69 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 47 f. 70 Zur Geschichte des Wanderhofs Herzogsägmühle vgl. Eberle, Arbeiterkolonie; dies., Herzogsägmühle; dies., Wanderhof. 71 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 53. 72 GS-Arch Dachau, A 542, Schreiben Gestapo München, 9.9.1937. 73 Vgl. BayHStA München, MInn 71575, RdErl BayStMdI, 22.6.1936. 74 Ebd., Übersicht Bettleraktion [Juli 1936]. 75 Vgl. ebd.; ebd., StK 6300, Schreiben BPP, 3.8.1936; Ayaß, Asoziale (1995), S. 50.
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Deportation nach Dachau, wo das arbeitspädagogische Konzept aber im Verlaufe der 1930er-Jahre aufgegeben wurde.76 Doch ähnlich wie Hugo Krack war auch Alarich Seidler zu ambitioniert, um sich mit dem Erreichten zu bescheiden. Es beabsichtigte vielmehr, das in Bayern praktizierte Modell der Wandererfürsorge auf das gesamte Reichsgebiet zu übertragen. Damit reihte er sich in Forderungen ein, die Vertreter der Wandererfürsorge bereits in den Weimarer Jahren vorgebracht hatten. Im Spätsommer 1936 versprachen zwei Ereignisse eine baldige Realisierung von Seidlers Plänen: Zum einen war Wilhelm Frick bei einem Besuch des Wanderhofs Herzogsägmühle so begeistert von der Einrichtung, dass er Seidler beauftragte, basierend auf den bayerischen Erfahrungen ein Konzept für das gesamte Reichsgebiet zu entwickeln; zum anderen erhielt Seidler bei einem Treffen der Wandererfürsorgeverbände in Bielefeld die Gelegenheit, den Fachkollegen seine Ideen vorzustellen. In seinem Vortrag betonte er die enge Kooperation zwischen den Wanderhöfen und dem KZ Dachau. Zwar rief er damit höchst kontroverse Reaktionen hervor, dennoch verabschiedeten die Delegierten eine Resolution, die forderte, das Seidlersche System auf das gesamte Reich auszudehnen.77 In den folgenden Jahren verliefen die Pläne, die Wandererfürsorge gemäß dem bayerischen Modell zu vereinheitlichen, im Sande. 1940 verkündete die SS offiziell, dass sie die Einführung einer Reichswanderordnung bis zum Inkrafttreten des projektierten »Gemeinschaftsfremdengesetz«78 hintanstellen werde. Dieses Vorhaben kam bekanntlich nie zum Abschluss. Was das unerwünschte Wandern anbetraf, hatte im Dezember 1937 der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« mit seinen dehnbaren Bestimmungen zur »Asozialität« vermutlich ohnehin jede weitergehende Regelung überflüssig gemacht. Dennoch trug Seidler, gemeinsam mit anderen Fürsprechern einer radikalen Exklusion von sozial marginalisierten Personengruppen, maßgeblich dazu bei, in Bayern bereits 1934 die KZ-Einweisung als Standardverfahren im Vorgehen gegen Vagabunden zu etablieren. Der RFSS mit seinem sozialrassistischen Konzept der »inneren Sicherheit« bildete dabei gleichsam ihre Speerspitze. Die Funktionserweiterung des KZ Dachau war aber nicht allein durch konzeptionelle Überlegungen bedingt, wie sie z. B. die Pläne Seidlers offenbarten. Eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielten situative Momente, insbesondere die Überfüllung des Arbeitshauses Rebdorf. Durch die Überstellung von Arbeitshausinsassen in das KZ entspann sich eine Kooperation zwischen der Lager-SS bzw. der BPP und dem bayerischen Arbeitshaus. Bei näherer Betrachtung enthüllt diese Zusammenarbeit Problemlagen, Triebkräfte, Entscheidungsprozesse und Wirkungsmechanismen, die in ihrer Summe den Ausbau Dachaus zum Instrument der sozialrassistischen und kriminalpräventiven Ver76 Vgl. ders., Asoziale (1995), S. 51–53. Wann die Vorstellung von einer »Erziehung durch und zur Arbeit« genau aufgegeben wurde, lässt sich schwer ermitteln. 77 Vgl. ebd., S. 49 f. 78 Vgl. ebd., S. 202–209.
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folgung entscheidend begünstigten. Zudem finden sich im Schriftwechsel zwischen den beteiligten Instanzen zahlreiche praktische und diskursive Anknüpfungspunkte, die darauf verweisen, dass dabei einerseits die Debatten über Sozialdisziplinierung und Strafrechtspflege der vorangegangenen Jahrzehnte und andererseits Praktiken wie fürsorgerechtliche Pflichtarbeit und Arbeitszwang, aber auch der FAD eine Rolle spielten. Wie erwähnt, erörterte die BPP im Frühjahr 1934 den Ausbau Dachaus zum Zwecke der Zwangsinternierung von angeblichen »Asozialen« und »Verbrechern«. Auf diese Weise wollte man die Inhaftierung der Arbeitshausinsassen, die sich bereits in Dachau befanden, institutionalisieren. Gleichzeitig hätte dies eine langfristige Lösung des drängenden Problems herbeigeführt, dass man für diese Zielgruppe nicht über genügend Haftraum verfügte. Neben der BPP waren auch die Leitung des Arbeitshauses Rebdorf und die Münchner Polizeidirektion in die Überlegungen involviert. Schon im Winter 1933/34 hatte die Polizeidirektion, ähnlich wie Seidler, die Errichtung eines Arbeits- oder Konzentrationslagers für »arbeitshausreife Elemente« vorgeschlagen, die aufgrund der Überbelegung der »Korrektionsanstalten« oder wegen Nicht-Erfüllung der rechtlichen Anordnungsvoraussetzungen nicht eingesperrt werden konnten. In einem solchen Lager sollten sie zur Arbeit gezwungen und einer »straffen militärische[n] Zucht« unterworfen werden.79 Gedacht war an einen »stufenartige[n] Vollzug« von verschiedenen, zum Teil im Lager, zum Teil außerhalb zu vollstreckenden »Arbeitszwangsmaßregeln« – ein System, das nach Einschätzung der Polizei direktion »gute Besserungswirkung[en] erzeugen« würde.80 Die Überlegungen, welche die Akteure in diesem Zusammenhang anstellten, belegen, dass nicht nur der Haftvollzug im Arbeitshaus Rebdorf, sondern auch der im KZ Dachau der Intention nach von arbeitspädagogischen Konzepten getragen war.81 Die Kooperation zwischen den beiden Einrichtungen ging sogar so weit, dass die BPP im Mai 1934, als das KZ Dachau geschulte Arbeitskräfte benötigte, gezielt 300 bis 500 ausgebildete Handwerker aus Rebdorf anforderte. Die Anfrage an die Direktion des Arbeitshauses verweist außerdem auf einen Plan Himmlers, in Dachau gegebenenfalls eine Art »Sicherungsverwahrung« für die ursprünglich nach Rebdorf eingelieferten Personen zu vollziehen. In einem Schreiben an die Leitung Rebdorfs hieß es, »nach Ablauf der beschlussmäßigen Verwahrdauer« solle »im Benehmen mit der Einweisungsbehörde die Frage geprüft« werden, »ob der Arbeitshausgefangene nach Sachlage in Schutzhaft zu überführen ist«.82 Ob diese Pläne in die Tat umgesetzt worden sind, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Dennoch offenbart allein das Annsinnen eine frühe Form des Doppelstaates. Verstießen schon Maßregeln wie die »Sicherungsverwahrung« oder die »korrektionelle Nachhaft« nach klassisch-liberaler Lesart 79 BayHStA München, MInn 73635, Schreiben Poldir Mü, 20.11.1933. 80 Ebd. 81 Vgl. ebd., Schreiben Politischer Polizeikommandeur Bayern, 27.3.1934. 82 Ebd., Schreiben Politischer Polizeikommandeur Bayern, 7.5.1934.
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des Rechts gegen das Doppelbestrafungsverbot, hätte eine Überführung in die »Schutzhaft« für die Betroffenen de facto eine Dreifachbestrafung bedeutet. Indem sie aus politischen Zweckmäßigkeitserwägungen nach Ablauf der in Verbindung mit einem Richterspruch angeordneten Maßregel eine Entlassung verweigerte, hätte die BPP im Einzelfall Kompetenzen der Judikative usurpiert. Eine derartig eigenmächtige Haftverlängerung würde ein maßnahmenstaatliches Vorgehen in geradezu idealtypischer Reinform darstellen. Die Pläne der BPP, an den Rebdorf-Häftlingen eine extra-legale »Sicherungsverwahrung« zu vollziehen, machen aber noch etwas Anderes deutlich: Obwohl die Arbeitshaushäftlinge bis zum Ablauf der richterlich angeordneten Maßregel nicht als »Schutzhäftlinge« galten, verließen sie in dem Moment, in dem sie das Lagertor durchschritten, den Bereich des Normenstaates und waren derselben maßnahmenstaatlichen Willkür ausgeliefert wie die anderen KZ-Häftlinge. Der Schriftwechsel, den die Behörden im Zusammenhang mit den RebdorfHäftlingen führten, gewährt aber nicht nur Einsichten in die Verwerfungen innerhalb des Institutionengefüges. Er verdeutlicht einmal mehr die eigenständige Politikgestaltung und Initiativkraft der untergeordneten Instanzen. Überdies bestätigt er, dass im Winter 1933/34 in Folge der »Bettlerrazzia« eine Ausweitung der »Schutzhaftgründe« stattfand. In der Wahrnehmung der bayerischen Behörden war Ende November 1933 aus der »Bettlerbekämpfung« eine umfassende »Aktion gegen asoziale Wohlfahrtsunterstützungsempfänger«83 geworden. Offenbar wiesen einige Behörden angesichts der Überbelegung der Arbeitshäuser Personen, die sie als »arbeitshausreif« erachteten, in eigener Verantwortung in das KZ Dachau ein. So beschwerte sich die Polizeidirektion Würzburg am 23. März 1934 in einem Schreiben an die Bezirksregierung in Unterfranken darüber, dass die bayerischen Anstalten nur unzulängliche Kapazitäten für den Haftvollzug an »Arbeitsscheuen« bereithielten und kritisierte die daraus resultierende »unerwünschte Einschränkung in der Handhabung der Sicherheitspolizei«:84 »Die Polizeidirektion hat sich eine Zeitlang in der Weise beholfen, dass sie Elemente der einschlägigen Art mit Einverständnis der [BPP] im Konzentrationslager Dachau unterbrachte. Aber auch hier sind in den letzten Tagen sämtliche nichtpolitischen Gefangenen entlassen worden.«85
Die letzte Bemerkung bezog sich auf die Entlassungen, welche die BPP im Frühjahr 1934 als Zugeständnis im Streit mit Epp und Frick über das Ausmaß und die Gründe der »Schutzhaftverhängungen« veranlasst hatte. Allerdings bedeuteten diese Entlassungen keineswegs, dass man künftig auf die Internierung von »asozialen« und »kriminellen« Personen in Dachau verzichtete. 83 Ebd., Schreiben Polizeidirektion Nürnberg-Fürth, 30.11.1933. Vgl. ebd., Schreiben Poldir Mü, 20.11.1933. 84 Ebd., Schreiben Polizeidirektion Würzburg, 23.3.1934. 85 Ebd.
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Vielmehr ist davon auszugehen, dass die BPP ab dem Frühjahr 1934 begann, ihre »Schutzhaftstatistik« zu »schönen«, um den Forderungen von Epp und Frick vordergründig entgegenzukommen. Vermutlich entließ man tatsächlich einen Teil der »Schutzhäftlinge«, die aus unpolitischen Gründen in Dachau inhaftiert waren. Andere schrieb man statistisch möglicherweise kurzerhand den Kommunisten oder Sozialdemokraten zu. Nicht zu vergessen sind auch die Arbeitshausinsassen, deren Zahl in der ersten Jahreshälfte 1934 sprunghaft ansteigen sollte. Zudem wichen die Behörden bei Neu-Einweisungen bald auf andere Haftarten aus. Die bayerische Vollzugsrichtlinie zum § 20 RFV datiert auf den 16. Oktober 1934, der »Vorbeugungshafterlass« auf den 19. Januar 1935. Die Hinweise auf eine vermehrte KZ-Einweisung von »asozialen Wohlfahrtsunterstützungsempfängern« ab dem Winter 1933 legen nahe, dass diese Regularien dazu dienten, bereits gängige Praktiken nachträglich abzusichern und zu legitimieren. Zuvor wurden die Betroffenen vermutlich als »Schutzhäftlinge« deklariert und waren damit in der »Schutzhaftstatistik« der BPP »unsichtbar«. Ähnlich verfuhr man wohl mit Arbeitshausinsassen, wenn sie, wie von der BPP geplant, nach Ablauf der »Korrektionshaft« in »Schutzhaft« überführt wurden. So ungenau die »Schutzhaftstatistik« der BPP auch sein mag, sie ist eine der wenigen Quellen, die für die Frühphase des NS-Regimes Auskunft über die Anzahl »asozialer« und »krimineller« Häftlinge in einem KZ geben kann. Damit besitzt die historische Forschung für Dachau weit besseres quantitatives Datenmaterial, als es für andere frühe KZ der Fall ist. Allerdings kommt bei der Analyse der »Schutzhaftstatistik« erschwerend hinzu, dass sie nicht die gleichen Häftlingskategorien verwendet, nach denen später die farbigen Winkel vergeben wurden, sondern zwischen den verschiedenen Haftarten differenziert: »Schutzhäftlinge«, Häftlinge des Arbeitshauses Rebdorf,86 und Arbeitszwangshäftlinge.87 Ab April 1935 kamen als weitere Gruppe die »Berufsverbrecher« hinzu und ab Juli 1936 die Häftlinge der »Bettlerrazzia«.88 Die »Berufsverbrecher«
86 Diese Gruppe listete die »Schutzhaftstatistik« ab Dezember 1933 gesondert auf. Die BPP bezeichnete sie zunächst als »Arbeitsscheue, die wegen Überfüllung des Arbeitshauses Rebdorf im Lager aufgenommen wurden«, später als »Arbeitshausgefangene, die wegen Überfüllung des Arbeitshauses Rebdorf aushilfsweise im Lager untergebracht sind«. Vgl. ebd., StK 6299/1; ebd., StK 6300. 87 Sie werden im Dezember 1934 erstmals als eigene Gruppe geführt. Anfangs lautete die Bezeichnung »Personen, die zum Arbeitszwang nach § 20 der Reichsfürsorgepflichtverordnung in das Lager eingewiesen« wurden. Vgl. ebd.; ebd., StK 6299/1. 88 Die Bezeichnung in den Quellen lautet »Personen, die anlässlich der vom Bayer[ischen] Staatsministerium des Innern […] angeordneten Aktion gegen Bettler und Landstreicher in Polizeihaft genommen und vorübergehend im Konzentrationslager Dachau verwahrt sind«. Im September 1937 war diese Gruppe mit 80 Personen zum letzten Mal gesondert in der Statistik aufgeführt. Ab Oktober beinhaltet die Liste stattdessen 81 Arbeitshausgefangene – eine Kategorie, die zwischenzeitlich aus der Statistik verschwunden war. Ihre Zahl reduzierte sich im Folgemonat November um die Hälfte auf 41 Personen. Vgl. ebd., StK 6300.
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waren die einzige Gruppe, die in der Statistik nicht mit der Haftart, nämlich »Vorbeugungshaft«, bezeichnet ist.89 Wie viele Personen befanden sich während des Untersuchungszeitraums im KZ Dachau, die man basierend auf den Gründen ihrer Haft den Kategorien »Asoziale« und »Berufsverbrecher« zurechnen kann? Betrachten wir zunächst die quantitative Entwicklung der einzelnen Haftgruppen:90 Nachdem die ersten 100 Häftlinge des Arbeitshauses Rebdorf am 21. November 1933 in Dachau eingetroffen waren, erreichte am 21. April 1934 ein weiterer, 50 Mann umfassender Transport das SS-Lager.91 Dabei handelte es sich um einen Teil der handwerklich geschulten Arbeitskräfte, welche die BPP gezielt angefordert hatte. Nach Auskunft der Arbeitshausdirektion wurden zwischen November 1933 und Mai 1934 insgesamt 450 Arbeitshaushäftlinge in das SS-Lager überstellt. In dieser Zahl inbegriffen war offenbar auch der Transport der ersten 100 Insassen vom November 1933. Ob sich unter den Arbeitshaushäftlingen, wie von der BPP »bestellt«, weitere ausgebildete Handwerker befanden, geht aus der Quelle nicht hervor. Überliefert ist jedoch, dass die Lagerkommandantur im Laufe der Zeit 42 von ihnen wegen »Unbrauchbarkeit«,92 gemeint waren Erkrankungen oder anderweitig verursachte Arbeitsunfähigkeit, nach Rebdorf zurückschickte. Weitere 45 Personen wurden bis Februar 1935 entlassen – vermutlich nach Ablauf der regulären Haftdauer. Das Schreiben der Arbeitshausdirektion vom 15. Februar 1935, das über diese Entwicklung Auskunft gibt, erlaubt es, die »Schutzhaftstatistik« der BPP zumindest exemplarisch für einen Monat, den Februar 1935, mit einer anderen Quelle zu kontrastieren. Dabei ergibt sich eine Abweichung von immerhin 46 Häftlingen: Während die BPP in ihrer auf den 1. Februar datierten Statistik eine Anzahl von 317 Arbeitshausgefangenen aus Rebdorf in Dachau angibt, waren laut Arbeitshausdirektion am 15. des Monats noch 363 seiner Insassen dort untergebracht.93 Die Gründe für diese Abweichungen sind unklar. Es könnte zwischen dem 1. und dem 15. Februar ein weiterer Transport von Rebdorf nach Dachau gegangen sein oder die Lagerkommandantur hatte es versäumt, Entlassungen an die Arbeitshausverwaltung zu melden, sodass diese die Häftlingszahl zu hoch veranschlagte. Ein Jahr später, im Februar 1936, verzeichnete die »Schutzhaftstatistik« der BPP nur noch eine Zahl von elf Rebdorf-Häftlingen. Um die Jahreswende 1935/36 hatte es aufgrund einer veränderten Regelung des Kostenersatzes für 89 Vgl. ebd.; ebd., StK 6299/1. 90 Bei der Erörterung der Häftlingszahlen wird im Folgenden angenommen, dass ein Sinken der Häftlingszahlen auf Entlassungen zurückzuführen ist. Zwar gab es in Dachau bereits in der Vorkriegszeit zahlreiche Todesfälle. Doch kann davon ausgegangen werden, dass die Mehrheit der »Asozialen« und »Berufsverbrecher«, die vor den Massenverhaftungen 1937/38 nach Dachau kamen, das KZ lebend wieder verließen. 91 Vgl. ebd., MInn 73635, Schreiben Politischer Polizeikommandeur Bayern, 7.5.1934. 92 Ebd., Schreiben Direktion Arbeitshaus Rebdorf, 15.2.1935. 93 Vgl. ebd.; ebd., StK 6300, Schreiben BPP, 1.2.1935.
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Abb. 5: »Asoziale« Häftlinge im KZ Dachau aufgeschlüsselt nach Haftarten bzw. -anlässen (Dezember 1933 bis Juli 1938).
Für die Monate September und Dezember 1935 liegen keien Daten vor.
»Arbeitsscheue« Häftlinge der »Aktion Arbeitsscheu Reich« 1938
Häftlinge der »Bettlerrazzia« 1936 (ab Oktober 1937 Arbeitshausgefangene)
Arbeitszwangshäftlinge
Häftlinge des Arbeitshauses Rebdorf
die Unterbringung in Dachau eine Reihe von Rücküberstellungen gegeben.94 Ab März 1936 führt die bayerische »Schutzhaftstatistik« überhaupt keine Arbeitshausgefangenen mehr an. Schon vier Monate später, im Juli 1936, lieferte die bayerische Polizei aber die 736 Häftlinge der »Bettlerrazzia« nach Dachau ein. Im Unterschied zu den vorangegangenen Razzien sparte sie sich also dieses Mal den Umweg über das Arbeitshaus Rebdorf. Nachdem 202 Personen im Verlaufe des ersten Monats entlassen oder in den Wanderhof Herzogsägmühle überstellt worden waren,95 kamen weitere 417 nach zwei Monaten Haft frei.96 Im Verlaufe der nächsten sieben Monate, bis April 1937, blieb ihre Zahl dann aber relativ konstant und sank nur geringfügig von 111 auf 100 Personen. In den folgenden vier Monaten stabilisierte sie sich auf einem Stand zwischen 97 und 93 Personen. Nach weiteren Entlassungen im August 1937 verzeichnete die Statistik vom 1. September 1937 dann nur noch 80 Bettler und Landstreicher. Sie befanden sich nun schon seit vierzehn Monaten in Dachau in KZ-Haft. Verglichen mit den Haftzeiten, die im Rahmen der »Bettlerrazzia« 1933 verhängt wurden, hielt man einen Teil der Betroffenen nun also erheblich länger gefangen. In der Statistik vom 1. Oktober 1937 deklarierte die BPP diese Gruppe, die sie nun auf 81 Personen bezifferte, in »Arbeitshausgefangene«97 um und entließ in den folgenden vier Wochen 40 von ihnen. Die verbleibenden Häftlinge der »Bettlerrazzia« vom Sommer 1936 hielt sie für weitere sechs Monate in Dachau fest. Lediglich zwei wurden im April und Mai entlassen. Die übrigen 39 Häftlinge scheinen im Juni 1938, also erst nach zwei Jahren KZ-Haft, die Freiheit wiedererlangt zu haben. Möglicherweise wurden sie aber auch den im Folgemonat eingelieferten Häftlingen der »Aktion Arbeitsscheu Reich« zugeschlagen. Jedenfalls verzeichnete die »Schutzhaftstatistik« der BPP für den Juli 1938 keine Arbeitshausgefangenen mehr. Ab August 1938 reißt dann die Überlieferung ab. Die nächste hier interessierende Gruppe, die Arbeitszwangshäftlinge, deren Einweisung nach Dachau auf der bayerischen Vollzugsrichtlinie zum § 20 RFV basierte, führt die »Schutzhaftstatistik« erstmals im Dezember 1934 an. Es handelte sich um 21 Personen. Schon innerhalb des ersten Quartals 1935 war ihre Zahl auf 166 Häftlinge angestiegen. Am 1. August zählte die Statistik dann 203 und am 4. November insgesamt 263 Arbeitszwangshäftlinge. Im ersten Halbjahr 1936 bewegte sich ihre Anzahl zwischen maximal 266 (Januar) und minimal 214 Personen (Juni), im zweiten Halbjahr zwischen höchstens 290 (Dezember) und wenigstens 236 (Juli). Im folgenden Jahr, 1937, schwankte die Anzahl der § 20 RFV-Häftlinge in den ersten sechs Monaten zwischen 279 (Januar) und 94 Vgl. ebd., MInn 73635, Schreiben BayStMdI, 13.11.1935. 95 Personen, die nur wenige Tage oder Wochen in Dachau verbrachten, sind in der »Schutzhaftstatistik« nicht erfasst, da diese nur die Belegungsstärke an bestimmten Stichtagen spiegelt. 96 Vgl. ebd., StK 6300, Schreiben BPP, 3.8.1936; ebd., Schreiben BPP, 1.9.1936; ebd., MInn 71575, Übersicht Bettleraktion [Juli 1936]. Für leicht abweichende Zahlen vgl. ebd., Verlauf Bettlerbekämpfungsaktion, 20.7.1936. 97 Ebd., StK 6300, Schreiben BPP, 1.10.1937.
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233 (Juni), im zweiten Halbjahr nahm sie bis zu einem Tiefstand von 197 Arbeitszwangshäftlingen im November 1937 stetig ab, um dann im Dezember wieder geringfügig anzusteigen. Im den Monaten Januar bis Juli 1938 betrug die Anzahl der § 20 RFV-Häftlinge in Dachau wenigstens 186 (Juni) und höchstens 207 Personen (Februar). Die letzte Haftgruppe, die hier von Interesse ist, sind die »Berufsverbrecher«. Sie sind mit 20 Personen erstmals in der Statistik vom 1. April 1935 verzeichnet.98 Ihre Zahl stieg in den folgenden sechs Monaten nur geringfügig auf 28 Personen an. Auch ein Jahr später, am 1. April 1936, verzeichnete die Statistik lediglich 38 »Berufsverbrecher«. In der zweiten Jahreshälfte 1936 ist ein schwacher Anstieg zu beobachten, sodass die Zahl der »Berufsverbrecher« am 1. Dezember 53 Personen betrug. In den folgenden drei Monaten veränderte sich dieser Wert nur unwesentlich. Ein gravierender Anstieg trat dann aber im März/April 1937 ein, da im Anschluss an die reichsweite Verhaftungsaktion ein Teil der »Vorbeugungshäftlinge« nach Dachau eingeliefert wurde. So verzeichnete die »Schutzhaftstatistik« im April 1937 insgesamt 353 »Berufsverbrecher aus dem ganzen Reichsgebiet«.99 Neun von ihnen wurden nach etwa zwei Monaten Haft, 14 weitere nach etwa vier Monaten wieder entlassen. In der »Schutzhaftstatistik« vom 5. Juli 1937 finden sich noch 330 »Berufsverbrecher«. Bis zur Juni-Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« 1938 stabilisierte sich ihre Zahl auf durchschnittlich 344 Personen. Es scheinen zwar sowohl einige Entlassungen als auch einige Neu-Einweisungen vorgekommen zu sein; der Großteil der »Berufsverbrecher« dürfte sich aber seit März 1937 in Dachau befunden haben. Im Juli 1938, in Folge der zweiten Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich«, stieg ihre Zahl dann sprunghaft auf 1.037 Personen an. Als neue Haftgruppe kamen in diesem Monat außerdem 956 »Arbeitsscheue« hinzu.100 Den Großteil der nach Dachau eingewiesenen »Aktionshäftlinge« kategorisierte die BPP also als Berufsverbrecher. Welche Kriterien sie dabei zugrunde legte, ist unklar. Zählt man nun die Haftzahlen der im Vorangegangenen einzeln erörterten Gruppen zusammen, um so die Gesamtzahl der »asozialen« und »kriminellen« Häftlinge in Dachau zu erhalten, und setzt sie mit der Gesamtinsassenzahl des KZ ins Verhältnis, ergibt sich folgendes Bild. Im Januar 1934 machte der Anteil der Rebdorf-Häftlinge an der Gesamtinsassenzahl Dachaus vier Prozent (100 Personen) aus. Dieser Wert blieb in den ersten vier Monaten des Jahres 1934 weitgehend stabil. Doch schon im Juni stieg er bedingt durch die Überstellung der von der BPP bei der Arbeitshausdirektion angeforderten Arbeitskräfte auf 22 Prozent (434 Personen). Im Januar 1935, die Arbeitszwangshäftlinge waren gerade einen Monat zuvor als neue Häftlingsgruppe in der »Schutzhaftstatistik« aufgelistet worden, hielt sich der 98 Warum man in Bayern eine im Vergleich zu Preußen relativ geringe Zahl von »Berufsverbrechern« findet wurde weiter oben bereits erörtert. 99 Ebd., Schreiben BPP, 2.4.1937. 100 Ebd., Schreiben BPP, 1.7.1938.
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Abb. 6: Häftlingsgesellschaft des KZ Dachau aufgeschlüsselt nach Häftlingsgruppen (Dezember 1933 bis Juli 1938).
Für die Monate September und Dezember 1935 liegen keien Daten vor.
Staatenlose
»Berufsverbrecher«
»Asoziale«
»Schutzhäftlinge«
Anteil von Rebdorf- und Arbeitszwangshäftlingen weiterhin bei 22 Prozent (377 Personen). Doch sechs Monate später, im Juli 1935, verzeichnete die »Schutzhaftstatistik« einen Anstieg von »asozialen« und »kriminellen« Häftlingen auf 29 Prozent (451 Personen) der Gesamtinsassenzahl. Die »Berufsverbrecher« waren unterdessen als dritte, in dieser Angabe berücksichtigte Häftlingsgruppe hinzugekommen. Zurückzuführen ist der Zuwachs aber auf den Anstieg an Arbeitszwangshäftlingen um 129 auf insgesamt 184 Personen.101 Im Januar 1936 ist dann ein Abfall auf 19 Prozent (342 Personen) zu beobachten, der sich durch die Rücküberführung der Rebdorfhäftlinge erklärt. Dieser Trend setzte sich in der ersten Jahreshälfte 1936 fort. Im Juli 1936 verzeichnete die Statistik 17 Prozent »asoziale« und »kriminelle« Häftlinge (281 Personen). Aber schon einen Monat später, bedingt durch die Einweisungen im Rahmen der »Bettlerrazzia«, stieg ihr Anteil wieder auf 36 Prozent (835 Personen). Bis Januar 1937 sank er dann erneut auf 23 Prozent (437 Personen), um in Folge der März-A ktion gegen »Berufsverbrecher« wieder auf 31 Prozent (707 Personen) anzusteigen. Im Juli 1937 machten die »Berufsverbrecher«, Arbeitszwangshäftlinge und Opfer der »Bettlerrazzia« zusammen 29 Prozent (653 Personen), ein halbes Jahr später, im Januar 1938, immerhin noch 25 Prozent (587 Personen) der Dachauer Häftlingsgesellschaft aus. Der rückläufige Trend setzte sich in den folgenden fünf Monaten zunächst fort. Im Juni betrug der Anteil »asozialer« und »krimineller« Häftlinge nur noch 19 Prozent (546 Personen). Aufgrund der »Aktion Arbeitsscheu Reich« ist im Juli 1938 dann erneut ein Anstieg auf 34 Prozent (2.180 Personen) zu verzeichnen. Dieser Entwicklungsverlauf zeigt eindrücklich, dass die Einlieferungen der »Aktion Arbeitsscheu Reich« in absoluten Zahlen betrachtet zwar zu einem enormen Anwachsen der beiden Häftlingskategorien »Asoziale« und »Berufsverbrecher« führte. Doch schlüsselt man die »Schutzhaftstatistik« anhand der angegebenen Haftarten für die vorangegangenen Jahre so weit wie möglich nach Haftgründen auf, zeigt sich, dass der Anteil »asozialer« und »krimineller« Häftlinge an der Gesamthäftlingszahl spätestens ab Juni 1934 mit 20 bis knapp 30 Prozent deutlich wahrnehmbar war. Nach den Einlieferungen im Zuge der »Bettlerrazzia« des Sommers 1936 überschritt er mit 36 Prozent sogar den Anteil nach der »Aktion Arbeitsscheu Reich« um zwei Prozentpunkte. Erinnert sei in diesem Zusammenhang schließlich ein weiteres Mal daran, dass sich insbesondere 1933, 1934 und 1935, bevor die »Vorbeugungshaft« und der Vollzug 101 Für den Juli 1935 ist es möglich, die »Schutzhaftstatistik« der BPP mit einer anderen Quelle zu kontrastieren. Einem Bericht der British Legion über einen Besuch im KZ Dachau zufolge, habe die SS von den insgesamt 1.543 Häftlingen 950 als »political«, 246 als »professional criminal«, 198 als »work-shy«, 26 als »hardened criminals«, 38 als »moral perverts« und 85 als »returned emigrant jews« klassifiziert. Demgegenüber weist die »Schutzhaftstatistik« für den 1. Juli 1935 von insgesamt 1.564 Insassen des KZ Dachau 234 als Arbeitshausgefangene aus Rebdorf, 184 als Häftlinge nach § 20 RFV und 24 »Berufsverbrecher« aus. Vgl. ebd., StK 6300, Schreiben BPP, 1.7.1935; National Archives London, FO 371/18882, Visit to Concentration Camp at Dachau, 21.7.1935; Wachsmann, KL, S. 143.
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des § 20 RFV in Dachau institutionalisiert wurden, von einer Dunkelziffer »asozialer« und »krimineller« »Schutzhäftlinge« ausgegangen werden muss. Wie oben erläutert stimmten die in der »Schutzhaftstatistik« aufgelisteten Haftarten und verwendeten Bezeichnungen noch nicht mit denen des Winkelsystems überein. Die Personengruppen bzw. die Gründe, warum sie aus der »Volksgemeinschaft« ausgeschlossen und in Dachau eingesperrt wurden, waren aber die gleichen wie bei jenen Personen, welche die SS später als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« mit dem schwarzen bzw. grünen Stoffdreieck kennzeichnete. Nimmt man diese Überlegung bei einer Analyse der »Schutzhaftstatistik« zum Ausgangspunkt, zeigt sich, dass »Asoziale« und »Berufsverbrecher« spätestens ein Jahr nach der Errichtung des KZ Dachau einen festen Bestandteil der Häftlingsgesellschaft darstellten.
5.3 Das Landesarbeitshaus und das KZ Kislau (Baden) Eine bisher nicht bekannte Bedeutung bei der Durchsetzung des Konzepts zur rassischen Generalprävention kam dem KZ Kislau zu. Ende April 1933 in den Räumen des Badischen Landesarbeitshauses Kislau errichtet,102 unterstand es bis Juni 1933 der kommissarischen Leitung des Arbeitshausdirektors Theodor Zahn. Abgelöst wurde dieser von Polizeimajor a.D. Franz Konstantin Mohr,103 102 Bei dem Gebäudekomplex, in dem sich das Arbeitshaus Kislau befand, handelt es sich um ein ehemaliges Jagd- und Lustschloss, das bei Mingolsheim im Kraichgau, etwa 30 Kilo meter von Karlsruhe entfernt liegt. Seit Anfang des 19. Jahrhundert diente es als Festung und Strafanstalt. Vor Errichtung des Arbeitshauses für Männer im Jahre 1880 waren dort erst ein Staatsgefängnis und anschließend eine polizeiliche Verwahrungsanstalt für Frauen angesiedelt. Während des Ersten Weltkrieges beherbergte es ein Lazarett, später ein Kriegsgefangenenlager. Zwischen 1930 und 1933 unterhielt die Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch eine Außenstelle in Kislau, das »Pflegeheim für geistesschwache Frauen«. Das Arbeitshaus für Männer blieb bis 1945 bestehen. Der Teil der Anstalt, der als KZ gedient hatte, wurde nach dessen Auflösung zum 1. April 1939 als Strafgefängnis genutzt, in dem man ab 1941 auch Polen, Franzosen, Belgier und Kämpfer aus dem Spanischen Bürgerkrieg unterbrachte. Nach Räumung der Anstalt durch französische Truppen im Mai 1945 dienten die Gebäude wieder als Gefängnis: bis 1970 als Außenstelle der Landesstrafanstalt Bruchsal, bis 1991 dann als solche der Justizvollzugsanstalt Karlsruhe. Derzeit befindet sich in Kislau wieder ein Zweig der Justizvollzugsanstalt Bruchsal. Zwischen 1946 und 1964 beherbergten die Gebäude außerdem ein Altersheim für Flüchtlinge. Heute erinnert im Hof ein Mahnmal an das KZ Kislau. Es wurde anlässlich des 50. Todestages von Ludwig Marum eingeweiht, dem Rechtsanwalt, ehemaligen Minister und SPD-Reichstagsabgeordneten sowie vermutlich prominentesten Häftling des KZ Kislau. Vgl. Borgstedt, Kislau (2002), S. 217 f., 228 f.; ders., Kislau (2005), S. 134, 136. 103 Franz Konstantin Mohr, geboren 1882, war Polizeihauptmann und Kolonialoffizier, bevor er Kommandant der KZ Ankenbuck und Kislau wurde. Er starb 1950. Vgl. Schwarzmaier u. a., Wirtschaftsgeschichte, S. 798.
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vordem Kommandant des KZ Ankenbuck. Im Frühjahr 1935 übernahm Mohr dann auch den Posten des Arbeitshausdirektors, sodass KZ und Arbeitshaus erneut in Personalunion geleitet wurden.104 Obwohl das KZ Kislau nicht der SS-Administration angegliedert war, sondern auch nach Gründung der IKL dem Badischen Innenministerium unterstellt blieb und zum 1. April 1935 in die Dienstaufsicht des Justizministeriums wechselte,105 galt es innerhalb der NS-Presse als »vollwertiges« KZ. Noch im Januar 1936, anderthalb Jahre nach der Ernennung Eickes zum »Inspekteur der Konzentrationslager«, verkündete Der Stürmer: »Was Dachau für Bayern und Oranienburg für Norddeutschland bedeutet, das bedeutet Kislau für Baden. Kislau ist der Sitz eines Konzentrationslagers.«106 Wie das Frauen-KZ Moringen existierte auch das KZ Kislau bis zu seiner Auflösung im April 1939 im Schatten der IKL und übernahm die gleichen Funktionen wie andernorts die SS-geführten Lager. Doch war der Fortbestand des Lagers umstritten. So versuchte das Reichsjustizministerium im Sommer 1936 seine Schließung zu erwirken. Angesichts der permanenten Überbelegung des Arbeitshauses und des dadurch hervorgerufenen »eigenen Bedarfs der Justizverwaltung an Unterbringungsraum«107 würden sämtliche Kapazitäten benötigt. Für die KZ-Häftlinge war nach Ansicht des Reichsjustizministeriums kein Platz mehr. Doch stand das Ansinnen der Reichsbehörde diametral den Plänen entgegen, welche die Lagerverwaltung und ihre lokalen Fürsprecher, der Generalstaatsanwalt in Karlsruhe und der badische Innenminister Karl Pflaumer,108 für die Anstalt in Kislau hatten. Sie beabsichtigten »weniger einen Abbau als […] einen Ausbau des Schutzhaft104 Vgl. GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Schreiben Leiter Arbeitshaus und Bewahrungslager Kislau, 7.12.1937. Im behördlichen Schriftwechsel vermied Mohr die Bezeichnung »Kommandant«. Während er als Leiter des Arbeitshauses den Briefkopf »Der Direktor des Bad. Landesarbeitshauses Kislau« und später »Der Direktor des Arbeitshauses Kislau« benutzte, fehlte beim entsprechenden Stempel für das KZ eine genaue Bezeichnung der Leitung; die Aufschrift lautete lediglich »Bewahrungslager Kislau«. Ein mit diesem Briefkopf versehenes Schreiben unterzeichnete Mohr mit »Der Leiter: Mohr«. Vgl. ebd., Schreiben Bewahrungslager Kislau, 7.12.1937; ebd., Schreiben Direktor Landesarbeitshaus Kislau, 6.8.1935; ebd., Schreiben Direktor Landesarbeitshaus Kislau, 7.12.1937. Nach Auflösung des »Bewahrungslagers« lautete der Briefkopf der Anstalt dann: »Der Vorstand des Arbeitshauses Kislau«. Vgl. ebd., Nr. 95, Schreiben Vorstand Arbeitshaus Kislau, 27.7.1939. 105 Vgl. ebd., Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 12.11.1935; Borgstedt, Kislau (2005), S. 134. Justizminister war vom 8. Mai 1933 bis zum 4. Dezember 1934, als das Badische Justizministerium aufgehoben und seine Kompetenzen dem Reich übertragen wurden, der Nationalsozialist und spätere SS-Oberführer Otto Wacker. Vgl. Klee, Personenlexikon, S. 647; Schwarzmaier u. a., Wirtschaftsgeschichte, S. 486, 958. 106 Besuch in Kislau. Vgl. Moore, Opinion, S. 182 f. Ich danke Paul Moore und Kim Wünsch mann für den Hinweis auf diese Quelle. 107 GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Schreiben RMdJ, 6.6.1936. 108 Für biografische Anmerkungen zu Karl Pflaumer vgl. Anhang.
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lagers«.109 Um dieses Projekt nicht zu gefährden, erwirkte der badische Innenminister eine Intervention des RFSS persönlich. Dessen Reaktion kann als Ausdruck der Bestrebungen der SS-Führung gelesen werden, das gerade entstehende KZ-System zum Instrument der rassischen Generalprävention auszubauen. Dabei schien Himmler das KZ Kislau gleichzeitig als eine Art Prototyp für die Funktionserweiterung der Lager und als stille Reserve für den Kriegsfall zu verstehen. Ein Antwortschreiben des RFSS oder eine Aktennotiz, die auf ein persönliches Gespräch hinweisen würde, konnten bislang nicht gefunden werden. Doch teilte der badische Innenminister im Juli 1936, knapp zwei Monate nach Beginn der Kontroverse um den Fortbestand des KZ Kislau, mit: »Der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichs- und Preußischen Ministerium des Innern hat persönlich dem Wunsche Ausdruck verliehen, dass das Schutzhaftlager Kislau auf alle Fälle beibehalten wird. Die Beibehaltung ist deshalb erforderlich, damit ein unnötiges Aufsehen im Ausland durch die Errichtung neuer Lager vermieden wird, falls es eines Tages erforderlich werden sollte, eine größere Anzahl von Schutzhäftlingen als gegenwärtig lagermässig unterzubringen. Das Schutzhaftlager wird künftig als Bewahrungslager geführt werden, das nicht nur als Lager für politische Schutzhäftlinge, sondern auch als Durchgangslager für Fremdenlegionäre110 und als Bewahrungsanstalt für Berufsverbrecher und fürsorgerisch betreute Asoziale, die jeweils in besonderen Abteilungen untergebracht werden, dienen.«111
Damit legitimierte Himmler das KZ Kislau ausdrücklich als neben den IKL-Lagern existierende, aber mit den Interessen der SS im Einklang stehende Einrichtung und segnete die badische Praxis der außergerichtlichen Inhaftierung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« von höchster Stelle ab.112 Mit der Umbenennung in »Bewahrungslager« knüpfte Himmler terminologisch an die Debatten aus der Weimarer Republik an. Wie dem zitierten Schreiben zu entnehmen ist, hing die Namenswahl unmittelbar mit der Zweckbestimmung des KZ Kislau als Haftstätte für »Berufsverbrecher« und »Asoziale« zusammen. 109 GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 23.6.1936. 110 Seit Dezember 1934 war die Unterbringung von Fremdenlegionären, die, aus dem Ausland zurückgekehrt, eine Weile in »Quarantäne« gehalten werden sollten, um sie auf ihre ideologische Eignung zur Eingliederung in die »Volksgemeinschaft« zu prüfen sowie eine Ausbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, eine zentrale Funktion des KZ Kislau. Vgl. Borgstedt, Kislau (2002), S. 225–227. 111 GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Schreiben BadMdI, 30.7.1936. Vgl. RdErl Bewahrungslager, MinBlBadIV 1936, S. 675. 112 Wie bereits erörtert, basierten in der Region Baden die KZ-Einweisungen im Falle der »Asozialen« auf den badischen Vollzugsvorschriften zum § 20 RFV und auf dem badischen »Vorbeugungshafterlass«. Zum richterunabhängigen Freiheitsentzug für »Berufsverbrecher« stützte man sich in Baden ebenfalls auf die Regularien zur »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung«.
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Abb. 7: Nominierung Kislaus als »Bewahrungslager« für »Asoziale« und »Berufsverbrecher«, 4. August 1936.
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Beide Gruppen bildeten schon vor 1933 den Bezugspunkt der Konzepte für die »Sicherungsverwahrung« bzw. das »Bewahrungsgesetz«, die jetzt bei der Namensgebung Pate standen. Unter dem Druck des RFSS blieb dem Reichsjustizministerium offenbar nichts anderes übrig, als einzulenken. Zwar ist ein entsprechendes Antwortschreiben nicht überliefert, ein Runderlass der badischen Landesregierung vom 4. August 1936 setzte Himmlers Anordnung jedoch wortgetreu um.113 Mit der getrennten Unterbringung der verschiedenen Häftlingsgruppen, die in der oben zitierten Passage im Zusammenhang mit dem neuen Namen »Bewahrungslager« erwähnt wird, thematisierte das Badische Innenministerium ein zentrales Problem der Anstaltsverwaltung. Zwar war man bemüht, das Arbeitshaus und das KZ klar voneinander zu trennen, tatsächlich aber verschwammen die Zuständigkeiten immer wieder, was durch die Personalunion in der Leitung vermutlich noch begünstigt wurde. Die administrative Zuordnung der beiden Haftgruppen, die hier im Mittelpunkt des Interesses stehen, nämlich der Arbeitszwangs- und der »Vorbeugungshäftlinge«, scheint mindestens ein Mal, eben im Sommer 1936, gewechselt zu haben. Allerdings ist unklar, ob die Häftlinge nicht bereits zuvor zwar verwaltungstechnisch dem Arbeitshaus zugerechnet, de facto aber im KZ untergebracht und von dessen Personal bewacht wurden. Das Unterfangen, retrospektiv Aufschluss über die innere Organisation der Kislauer Anstalt zu gewinnen, wird zusätzlich dadurch erschwert, dass auch die badischen Behörden – ähnlich wie Hugo Krack in Moringen – die institutionellen Grenzen gezielt verwischt haben könnten, um den extra-legalen Inhaftierungen einen rechtsmäßigen Anschein zu verleihen. Obwohl sich die »Vorbeugungshaft« explizit auf § 1 der Reichstagsbrandverordnung, also den Ausnahmezustand, berief und auch die verschärfte Zwangsunterbringung auf Grundlage des § 20 RFV maßnahmenstaatliche Züge trug, ist in den beiden entsprechenden Verordnungen nicht vom KZ, sondern vom »Arbeitshaus Kislau« als Vollstreckungsort die Rede.114 Doch ist schon für Anfang April 1934, der badische »Vorbeugungshafterlass« war gerade einmal einen Monat in Kraft, die Einweisung eines »Vorbeugungshäftlings« in das KZ Kislau nachweisbar: Friedrich H., laut Polizei eine »vielfach vorbestrafte asoziale Person, die eine schwere Gefahr für die Umwelt bedeutet«,115 hielt sich nach Angaben des badischen LKPA am 6. April im KZ Kislau auf. Aber noch 1935 ordnete man sowohl die Arbeitszwangs-, als auch die »Vorbeugungshäftlinge« zumin113 Vgl. GLA Karlsruhe, Bewahrungslager Kislau/RdErl BadMdJ, 4.8.1936; RdErl Bewahrungslager, MinBlBadIV 1936, S. 675. 114 Vgl. GLA Karlsruhe, 233, Nr. 25984, Schreiben BadMdI, 9.3.1934 [Vorbeugungshafterlass]; RdErl Unterbringung Asoziale (20.8.1935), BadGVBl 1935, S. 987. 115 GLA Karlsruhe, 521 Zug. 1982–48, Nr. 3059, Verfügung BadLKPA, 6.4.1934. Mit dieser Formulierung bezog sich das badische Landeskriminalpolizeiamt wörtlich auf die Anordnungsvoraussetzung des badischen »Vorbeugungshafterlasses«. Vgl. ebd., 233, Nr. 25984, Schreiben BadMdI, 9.3.1934 [Vorbeugungshafterlass].
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dest administrativ eindeutig dem Arbeitshaus zu.116 Noch Anfang 1936 listete die Hausordnung unter § 1 »Zuständigkeit« beide Gruppen als Insassen auf, die »im Landesarbeitshaus […] verwahrt« seien. Dieses war klar von einer weiteren »Abteilung der Anstalt« unterschieden, die »besonderen Zwecken«, nämlich als »K. L.«, diente.117 Mit dem Beschluss Himmlers über den Fortbestand und die Umbenennung Kislaus wurden dann die Arbeitszwangs- und die »Vorbeugungshäftlinge« zweifelsfrei dem fortan als »Bewahrungslager« bezeichneten KZ zugeschlagen. Das geht nicht nur aus den Quellen hervor, die diesen Verwaltungsakt dokumentieren,118 sondern auch aus dem »Tätigkeitsbericht des Bewahrungslagers im Berichtsjahr 1936«, der neben den Fremdenlegionären, »Schutzhäftlingen« und Ausweisungshäftlingen auch Gefangene als KZ-Insassen anführt, die sich »aufgrund des § 1 der [Verordnung] zum Schutz von Volk und Staat« in »Vorbeugungshaft« befanden sowie Häftlinge, »die aufgrund des § 20 RFV eingewiesen wurden«.119 Bei den »Vorbeugungshäftlingen« handelte es sich dem Bericht zufolge »durchweg um erheblich vorbestrafte Elemente«,120 deren durchschnittliche Unterbringungsdauer im Lager etwa acht Monate betrage. Das Durchschnittsalter habe im Jahre 1936 bei 40 Jahren gelegen, wobei der älteste »Vorbeugungshäftling« 65 und der jüngste 21 Jahre alt gewesen sei. Nach Auffassung der Anstaltsleitung wirkte sich die unbefristete Dauer der »Vorbeugungshaft« positiv auf die Disziplin der Häftlinge aus, denn »die meisten von ihnen [versuchten] durch gutes Verhalten im Lager ihre Haftzeit abzukürzen«.121 »Nur einzelne schwieriger zu behandelnde Elemente«, so das Resümee, »mussten entsprechend schärfer angefasst werden, um an Gehorsam, Ordnung und geregelte Arbeit gewöhnt zu werden«.122 Die Beschreibung der Haftgründe jener KZ-Insassen, die gemäß § 20 RFV als Arbeitszwangshäftlinge nach Kislau kamen, stimmte genau mit den Formen normabweichenden Sozialverhaltens überein, welche die zeitgenössischen Akteure aus Wohlfahrtswesen, Polizei und Kommunalverwaltungen gemeinhin unter dem Begriff »asozial« subsummierten: »Vernachlässigung der Familie, Arbeitsscheue, Trunksucht, Verweigerung von Pflichtarbeit oder Nichtannahme der vom Arbeitsamt nachgewiesenen Arbeit«.123 Laut dem Jahresbericht von 1936 betrug das durchschnittliche Alter der Arbeitszwangshäftlinge 35 Jahre und die Zeit ihrer Inhaftierung zwölf Monate. Der Bericht charakterisiert die Betroffenen als »größtenteils hemmungslose Menschen, deren Familienver116 Vgl. ebd., 309 Zug. 1996-66, Nr. 94, Schreiben Direktor Landesarbeitshaus Kislau, 31.1.1935; ebd., Nr. 95, Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 12.11.1935. 117 Ebd., Nr. 94, Landesarbeitshaus Kislau, Hausordnung, bearbeitet Januar 1936. 118 Vgl. ebd., Nr. 108, Bewahrungslager Kislau/RdErl BadMdJ, 4.8.1936; RdErl Bewahrungslager, MinBlBadIV 1936, S. 675. 119 GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Tätigkeitsbericht Bewahrungslager 1936. 120 Ebd. 121 Ebd. 122 Ebd. 123 Ebd.
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hältnisse völlig zerrüttet« und die »nicht selten mehrfach erheblich vorbestraft« seien.124 Doch im Unterschied zu den »Vorbeugungshäftlingen« machten die Arbeitszwangshäftlinge laut Anstaltsleitung »im Lager erhebliche Schwierigkeiten«, da sie sich »nur widerwillig in die Anstaltsordnung« fügten und »bei den ihnen übertragenen Arbeiten keine Ausdauer« zeigten.125 Daher sei es »nur durch strenge Disziplin […] möglich, bei diesen Elementen die geforderte Arbeitsnorm zu erreichen und sie an geregelte Arbeit […] zu gewöhnen«.126 Letzteres war, wie der Bericht betonte, das wichtigste Ziel der Zwangsunterbringung. Die Anstaltsleitung schätzte die Vollstreckung der Arbeitszwangshaft im KZ Kislau diesbezüglich als erfolgversprechend ein: »Immerhin kann die Einweisung der asozialen und arbeitsscheuen Elemente in das Bewahrungslager als eine ausgezeichnete Maßnahme zur Besserung, die zweifellos in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ihren Zweck nicht verfehlen wird, angesehen werden. Es wird diesen Volksschädlingen im Lager mit allem Nachdruck klar gemacht, dass der heutige Staat keinesfalls gesonnen ist, ihr verantwortungsloses und schädliches Treiben weiterhin zu dulden.«127
Obgleich hier noch der »Erziehungs- und Besserungsgedanke« betont wird, waren das doch harsche Worte. Trotzdem galt den badischen Behörden das »Bewahrungslager« verglichen mit dem Arbeitshaus als »mildere« Form der Zwangsunterbringung. Einer Aktennotiz des Generalstaatsanwalts in Karlsruhe aus dem Jahre 1936 ist zu entnehmen, der Direktor des Arbeitshauses habe »sich vorbehalten, im Schutzhaftlager untergebrachte Schutzhäftlinge ins Arbeitshaus einzuweisen, sofern sie durch ihr Verhalten Anlass zu einer strengeren Verwahrung und Behandlung gaben«.128 Als richtige »Arbeitshäusler« betrachtete man wiederum nur jene Insassen, deren Einweisung auf Grundlage des »Gewohnheitsverbrechergesetzes« erfolgte.129 Die Personen, die gemäß § 362 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Ebd. 127 Ebd. 128 GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 25.7.1936. 129 Vgl. ebd., Nr. 95, Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 12.11.1935. In einer Meldung, die Hauptwachtmeister Fritz Runz, ein Angehöriger der Wachmannschaft des KZ Kislau, am 6. Juni 1935 an die Lagerleitung machte, hieß es über einen alten Mann, der, bevor er am 11. Dezember 1934 wegen einer »Heimtückeäußerung« verhaftet wurde, bereits 25 Mal wegen Bettelei, Landstreicherei, Sachbeschädigung, Bruch der Landesverweisung, Hausfriedensbruch sowie zwei vorangegangenen »Heimtückevergehen« vorbestraft war: »P. ist seit dem 28.3.35 im Lager und [dennoch] hat die Schutzhaft bis heute noch nicht bessernd gewirkt. Er ist ein unverträglicher streitsüchtiger Mensch, der die Schutzhaft nicht verdient hat, sondern im Arbeitshaus [bzw.] in Sicherungsverwahrung gehört. Da er bereits 60 Jahre als ist, wurde bis jetzt noch etwas Rücksicht auf ihn genommen und die bis heute vorgekommenen Ungehörigkeiten als Alterserscheinungen betrachtet.« Ebd., 521 Zug. 1982–48, Nr. 8427, Meldung Hauptwachtmeister Runz, 6.6.1935.
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RStGB zur »korrektionellen Nachhaft« nach Kislau kamen, zählten hingegen nicht zu den »Arbeitshäuslern« im engeren Sinne. Sie waren in dieser eigenwilligen Hierarchisierung der Haftarten in etwa den Arbeitszwangshäftlingen des »Bewahrungslagers« gleichgestellt. Beide Haftarten erfassten denselben Personenkreis, so der dahinter stehende Gedanke, wobei es die Arbeitszwangshäftlinge, wie sich die Anstaltsleitung ausdrückte, »lediglich der Einweisung durch die Verwaltungsbehörden« zu »verdanken« hatten, »dass sie nicht von den Gerichten ins Arbeitshaus gesteckt wurden«.130 In loser Analogie galt auch die »Vorbeugungshaft« als »eine gelindere Art der Sicherungsverwahrung«.131 Aus der Perspektive des nationalsozialistischen Behördenapparates bedeuteten die richterlich verhängten, zeitlich unbefristeten »Maßregeln der Sicherung und Besserung« offenbar eine schärfere Form der Zwangsunterbringung als eine polizeilich angeordnete und im KZ vollzogene Haft, bei der der Häftling ohne rechtsstaatliche Garantien schutzlos dem Terror und der Willkür des Wachpersonals ausgeliefert war. Diese aus heutiger Sicht irritierend anmutende Bewertung könnte sich aus dem geradezu notorischen Hass erklären, den viele Anhänger der NS-Bewegung, insbesondere die sogenannten »alten Kämpfer«, aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit Richtern und Justizvollzugsanstalten vor 1933 entwickelt hatten. Wendet man sich dem weiteren Verlauf der historischen Entwicklung zu, stellt sich die Frage, welche Rolle Kislau bei der März-Razzia 1937 spielte. In Anbetracht der Tatsache, dass Himmler es im Sommer 1936 eigens zum »Bewahrungslager« für »Asoziale« und »Berufsverbrecher« ausersehen hatte, steht zu vermuten, dass das badische LKPA auch jene Mehrfachstraftäter, die es im Rahmen der reichsweiten Großrazzia festnahm, in das örtliche KZ einlieferte. Ein solches Vorgehen hätte allerdings einen klaren Verstoß gegen den Befehl des preußischen LKPA bedeutet, das als »fachliche Leitung der Kriminalpolizei aller deutschen Länder«132 zum Zeitpunkt der März-Razzia gegenüber dem badischen LKPA weisungsbefugt war. In einem Schreiben vom 27. Februar 1937 hatte das preußische LKPA ausschließlich die KZ Sachsenhausen, Sachsenburg, Lichtenburg und Dachau sowie das Frauen-KZ in Moringen als Unterbringungsorte für die Häftlinge der Aktion benannt.133
130 Ebd., 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 31.10.1938. Vor diesem Hintergrund ging man auch davon aus, dass »unter dem Gesichtspunkt des Gefangenenmaterials« im Grunde keine Notwendigkeit bestehe, »die Unterhaltssäumigen und Arbeitsscheuen i[m] S[inne] des § 20 RFV[O] von den Bettlern zu trennen«, die auf Grundlage der §§ 361 und 362 RStGB in Kislau gefangen gehalten wurden, denn Erstere stellten »keinen Fremdkörper im Arbeithaus« dar. Ebd. Vgl. ebd., Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 30.3.1939. 131 Wann Sicherungsverwahrung, BadPr, 26.9.1935. 132 Zit. nach Wagner, Volksgemeinschaft, S. 234. 133 Vgl. Schreiben PrLKPA, 27.2.1937, in: Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 29; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 256.
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Dennoch spricht außer der zeitlichen Nähe – zwischen der Nominierung Kislaus als »Bewahrungslager« für »Asoziale« und »Berufsverbrecher« und der reichsweisen Verhaftungswelle lag kaum mehr als ein halbes Jahr – noch ein weiteres Indiz für die These, dass Kislau Einweisungslager der März-Aktion 1937 gewesen sein könnte: Einem Schreiben des Lagerleiters Mohr vom 8. März 1938 ist zum einen zu entnehmen, dass im Vorjahr die Häftlingszahlen derart gestiegen waren, dass die Kislauer Anstaltsleitung sich zu Umbaumaßnahmen veranlasst gesehen hatte, um die Unterbringungskapazitäten zu erhöhen. Zum anderen weist das Schriftstück darauf hin, dass Mohr zu einem Zeitpunkt, als die Vorbereitungen für die »Aktion Arbeitsscheu Reich« in vollem Gange waren,134 davon ausging, auch seine Anstalt müsse eine größere Zahl von Neuankömmlingen aufnehmen. Beides legt die Vermutung nahe, dass die im März 1937 in Baden verhafteten »Berufsverbrecher« in das KZ Kislau kamen. Angesichts der bevorstehenden Gestapo-Aktion gegen »Arbeitsscheue« schrieb Mohr an das Badische Innenministerium: »Falls die vorbeugende Verbrechensbekämpfung eine erheblich stärkere Inanspruchnahme des Bewahrungslagers als bisher zur Folge hätte, wäre […] im Arbeitshaus ein gesonderter Schlaf- und Aufenthaltsraum bereitzustellen und eine entsprechende Bewachung einzuteilen.«135
Im Juli 1938, einen Monat nach der zweiten Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich«, registrierte die Lagerleitung allerdings lediglich 31 »Vorbeugungshäftlinge«.136 Darunter befand sich vermutlich nicht ein einziger Häftling der »Aktion Arbeitsscheu Reich«. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Heinrich Himmler scheint um die Jahreswende 1937/38 einen Sinneswandel bezüglich der Vollstreckung der »Vorbeugungshaft« im KZ Kislau vollzogen zu haben. Offenbar erging Anfang April 1938 eine Weisung, die Kislauer Häftlinge in ein anderes Lager zu verlegen.137 134 Ursprünglich hatte die erste Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« zwischen dem 4. und 9. März 1938 stattfinden sollen. Angesichts der hohen Arbeitsbelastung, welche die Gestapo aufgrund des »Anschlusses« Österreichs zu bewältigen hatte, sowie wegen der bevorstehenden Volksabstimmung und Reichstagswahl wurde die Verhaftungsaktion zweimal verschoben, so dass sie schließlich erst vom 21. bis 30. April stattfand. Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 140–147; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 279. 135 ITS-Arch Bad Arolsen, Hist.-Ordn. Kislau 1, 505, Schreiben Kommandant KZ Kislau, 8.3.1938. 136 Vgl. GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 16.7.1938. 137 Es könnte sich dabei um eine Reaktion der Zentralbehörden auf die Frage von Lagerkommandant Mohr handeln, ob Kislau als Vollzugsort in die »Aktion Arbeitsscheu Reich« einzubeziehen sei. Möglicherweise hatte das Badische Innenministerium, Adressat der Anfrage Mohrs, dessen Schreiben zur Klärung des Sachverhalts an die Reichsbehörden weitergeleitet. Bedauerlicher Weise konnte im Rahmen dieser Studie der Schriftwechsel, der die Rolle Kislaus innerhalb der »Aktion Arbeitsscheu Reich« betrifft, nur fragmentarisch rekonstruiert werden.
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Um die Auflösung des »Bewahrungslagers« abzuwenden, wandte sich ein Beamter der badischen Kriminalpolizei am 12. des Monats an das RKPA in Berlin. Das ist einem Schreiben zu entnehmen, das die Kriminalpolizeistelle Karlsruhe fünf Monate später, am 7. September 1938, an die Direktion des »Bewahrungslagers« Kislau schickte. Weiter geht daraus hervor, dass Himmler die »Belassung der Vorbeugungshäftlinge im Arbeitshaus Kislau« inzwischen »abgelehnt« hatte.138 Allerdings scheint die endgültige Entscheidung darüber nicht im April, sondern erst im Spätsommer 1938 gefallen zu sein. Himmlers Begründung gab die Kriminalpolizeistelle Karlsruhe in dem Dokument vom 7. September wie folgt wieder: »Die mit der polizeilichen Vorbeugungshaft erwünschte erzieherische Wirkung könne nur in den Konzentrationslagern erzielt werden, die nach einheitlichen Grundsätzen geführt würden. Außerdem würden die Häftlinge in den Konzentrationslagern im Hinblick auf die dem Reichsführer übertragenen besonderen Aufgaben im Rahmen des Vierjahresplanes dringend benötigt. Ich ersuche daher, nunmehr die sofortige Überführung der in dem Bewahrungslager Kislau noch einsitzenden Vorbeugungshäftlinge in das Konzentrationslager Dachau zu veranlassen.«139
Den Hintergrund für Himmlers Argumentation dürfte die reichseinheitliche Institutionalisierung der »Vorbeugungshaft« und die Etablierung des KZ-Systems gebildet haben, die sich unterdessen vollzogen hatte. Aus den vielfältigen lokalen Experimenten mit der KZ-Inhaftierung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« hatte der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« eine schlagkräftige Waffe geschmiedet. Nach der rechtlichen Vereinheitlichung der »Vorbeugungshaft« und der Zentralisierung des Einweisungsverfahrens sollten nun auch beim Vollzug einheitliche Standards gelten. Offenbar passte eine Haftstätte wie Kislau Anfang 1938 weder in das Konzept der Kriminalprävention noch in das KZ-System, dessen Aufbau inzwischen viel weiter fortgeschritten war als zum Zeitpunkt von Kislaus Umbenennung in »Bewahrungslager« anderthalb Jahre zuvor. Des Weiteren spielten vermutlich die Vorbereitungen für die »Aktion Arbeitsscheu Reich« eine ausschlaggebende Rolle bei Himmlers Entscheidung. Angesichts der geplanten Zentralisierung der »Vorbeugungshäftlinge« in den großen KZ Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald wollten Himmler und das RKPA vermutlich vermeiden, dass weiterhin »Vorbeugungshäftlinge« in Kislau verblieben. Derartige Erwägungen könnten auch mit den sich 1937/38 vorübergehend abzeichnenden Bestrebungen im Zusammenhang gestanden haben, die KZ-Häftlinge verschiedener Kategorien voneinander zu separieren und in bestimmten Lagern zu konzentrieren. So hatte man im Februar 1937 sämtliche jüdische Häftlinge im KZ Dachau zusammengelegt.140 138 Ebd., Schreiben Kriminalpolizeistelle Karlsruhe, 7.9.1938. 139 Ebd. 140 Kaienburg, KZ-System, S. 164–168, 173f.; Wünschmann, Auschwitz, S. 160–162.
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Während die genannten Motive schon im April 1938 den Hintergrund gebildet haben dürften, vor dem Himmler die Schließung des »Bewahrungslagers« erwog, bestanden zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch keine konkreten Pläne zum Einsatz der KZ-Häftlinge im Rahmen des Vierjahresplans. Wie noch zu zeigen sein wird, rückten die Erfassung eines vermeintlich brachliegenden Arbeitskräftepotentials und die Schaffung großer Arbeitslager zwar schon 1937 in den Planungshorizont der SS-Führung, doch blieben derartige Ideen, vor allem die Rolle der KZ darin, zunächst vage. Die vorliegenden Quellen weisen darauf hin, dass man die »vorbeugende Verbrechensbekämpfung« erst im Verlauf des Sommers 1938 direkt mit dem Ziel der Arbeitskräfterekrutierung verband. Der Vierjahresplan mag zwar im September 1938 den Ausschlag gegeben haben, dass Himmler die Schließung des »Bewahrungslagers« Kislau endgültig durchsetzte, doch bei den diesbezüglichen Überlegungen Anfang des Jahres spielte er allenfalls eine untergeordnete Rolle. Allerdings gelang es den badischen Behörden, die Verlegung der Kislauer »Vorbeugungshäftlinge« noch aufzuschieben. Sie hätte auch einen empfindlichen Schlag für die Kislauer Anstalt bedeutet. Aber zunächst konnte der Generalstaatsanwalt in Karlsruhe Mitte Juli 1938 vom Erfolg der Verzögerungstaktik berichten: »Der Vorstand [gemeint ist die Anstaltsleitung, d. Vf.] teilt mit, dass die Vorbeugungs häftlinge nach einer Verfügung des Reichsministers des Innern grundsätzlich nach Dachau verbracht werden sollen. Es sei ihm auf seine Vorstellung hin gelungen, dass vorerst von einer Verbringung dieser Gefangenen nach Dachau abgesehen wird.«141
Weiter geht aus dem Schreiben hervor, dass auch die nach § 20 RFV eingewiesenen Personen nicht mehr in Kislau, sondern in »anderen Arbeitslagern verwahrt werden«142 sollten. Aber auch diesbezüglich war der Intervention der Anstaltsleitung offenbar ein temporärer Erfolg beschieden. So teilte der Generalstaatsanwalt mit, dass es »dem Vorstand gelungen« sei, »wenigstens vorerst die Gefangenen im Bewahrungslager Kislau behalten zu dürfen«.143 Deutlich wird aus dem Brief auch der Grund, warum sich die badischen Behörden veranlasst sahen, mit allen Mitteln die Verlegung der »Asozialen« und »Berufsverbrecher« zu verhindern: »Falls diese beiden Gefangenenarten dem Bewahrungslager Kislau entzogen werden würden, würde dieses voraussichtlich das Ende des Bewahrungslagers bedeuten.«144 Damit wäre vermutlich der Fortbestand der gesamten Kislauer Anstalt bedroht gewesen. Mit 107 Häftlingen stellte das »Bewahrungslager« im Sommer 1938 mehr als ein Drittel der 271 Insassen zählenden Gesamtbelegschaft. Unter den Häftlingen des »Bewahrungslagers« wiederum waren die Arbeits141 Ebd., Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 16.7.1938. 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Ebd.
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zwangs- und »Vorbeugungshäftlinge« in der Mehrheit.145 Wären die beiden Gruppen in andere Lager gebracht worden, hätte sich die Belegungsstärke des »Bewahrungslagers« um 78 Insassen verringert und es wären dort lediglich 17 Fremdenlegionäre, sieben »Ausweisungshäftlinge« sowie drei »Schutzhäftlinge« verblieben.146 Trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und des einschneidenden Perso nalabbaus, den die Verlegung eines derart großen Anteils von Insassen für die Kislauer Anstalt nach sich ziehen würde,147 konnten die badischen Behörden die Auflösung des »Bewahrungslagers« nicht lange verhindern. Am 22. September 1938 überstellte man die letzten 30 »Vorbeugungshäftlinge« nach Dachau. Damit war die Insassenzahl des »Bewahrungslagers« auf 94 Personen zusammengeschrumpft.148 Im Januar 1939 verfügte der badische Innenminister schließlich mit Wirkung zum 1. April die vollständige Auflösung des Lagers.149 Die verbliebenen 30 Arbeitszwangshäftlinge wurden am 1. Februar 1939 in die Zuständigkeit des Arbeitshauses Kislau überführt. Künftig sollte der § 20 RFV dort oder in der Arbeiterkolonie Ankenbuck vollstreckt werden.150 Gleichzeitig mit der Auflösung des »Bewahrungslagers« übernahm die Kislauer Anstalt die Funktion eines Strafgefängnisses. Es wurde nach der Befreiung 1945 von französischen Soldaten aufgelöst.151 Analysiert man die Geschichte der Kislauer Anstalt mit Hilfe der Fraenkelschen Theorie des Doppelstaates, stellt sich die Frage ihrer inneren Organisation als eine Frage der Grenzen zwischen Normen- und Maßnahmenstaat. Auch wenn sich die Hinweise nicht weiter erhärten lassen, dass Arbeitszwangs- und »Vorbeugungshäftlinge« zwar als Insassen des Arbeitshauses geführt, aber im KZ untergebracht worden sein könnten, war ihre Inhaftierung in Kislau nicht legal, sondern bewegte sich in einer Grauzone des Doppelstaates. Die Anordnung der Haft erfolgte bei beiden Gruppen durch Exekutivorgane, die sich in ihrem Handeln auf den Ausnahmezustand beriefen. Sie trug also deutlich maßnahmenstaatliche Züge. Vollstreckte man die Haft tatsächlich im Arbeitshaus, so würde sich daraus ein Paradoxon des Doppelstaates ergeben: Das hieße nämlich, dass der Vollzug der extra-legal angeordneten Freiheitsberaubung in einer Anstalt stattfand, die noch nach normenstaatlichen Prinzipien funktionierte, 145 Der Großteil der Kislauer »Schutzhäftlinge« muss bereits im Verlauf des Frühsommers nach Dachau überstellt worden sein. Vgl. ebd., Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 17.11.1938. 146 Vgl. ebd., Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 16.7.1938. 147 Vgl. ebd., Schreiben Bewahrungslager Kislau, 28.10.1938; ebd., Schreiben Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 17.11.1938. 148 Vgl. ebd., Schreiben BadMdI, 23.1.1939; ebd., Schreiben Vorstand Arbeitshaus Kislau, 28.1.1939. 149 Vgl. RdErl Aufhebung Bewahrungslager, MinBlBadIV 1939, S. 120 f. 150 Vgl. RdErl Vollzug RFV, ebd., S. 749–653. Für weibliche Arbeitszwangshäftlinge sah der Runderlass die Arbeitshausabteilung der Frauenstrafanstalt Aichach sowie das Arbeitshaus Brauweiler als Vollstreckungsort vor. Vgl. ebd. 151 Vgl. Borgstedt, Kislau (2005), S. 136.
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Abb. 8 u. 9: Erlass über die Auflösung des »Bewahrungslagers« Kislau, 23. Januar 1939.
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da sie der Kontrolle der Judikative unterlag.152 Doch bestand der Unrechtscharakter der Haft unabhängig vom Haftort. Indem auch das Arbeitshaus Kislau, nicht nur das KZ, zur Stätte des extra-legalen Freiheitsentzuges wurde, rückte es selbst, eine Zwangsanstalt mit weit über hundertjähriger Tradition, in den Bereich des Maßnahmenstaates. Versucht man nun in einem weiteren Gedankenschritt die Auseinandersetzung um den Fortbestand des KZ Kislau als Ausdruck der Kompetenzkonflikte im Doppelstaat zu interpretieren, könnte man auf den ersten Blick meinen, eine geradezu klassische Konstellation zu erkennen. Mit Heinrich Himmler auf der einen und Franz Gürtner auf der anderen Seite, scheinen die Konfliktparteien der zentralstaatlichen Ebene die beiden Pole des Doppelstaates par excellence zu verkörpern: der RFSS und Chef der Deutschen Polizei (RFSSuChdDtPol) als Repräsentant des Maßnahmen- und der Reichsminister der Justiz als Vertreter des Normenstaates. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass auf der Ebene der Landesbehörden das Badische Innenministerium und der Generalstaatsanwalt in Karlsruhe um den Erhalt des KZ Kislau kämpften. Würde man eine Lesart Fraenkels zugrunde legen, welche die beiden Pole des Doppelstaates nicht als Idealtypen, sondern als empirische Beschreibung konkreter Institutionen begreift, müssten diese beiden Instanzen aber ebenfalls als Exponenten des Normenstaates gelten. Soweit aus den vorliegenden Quellen ersichtlich, spielten aber die regionalen Gliederungen der SS oder die badische Gestapo, die man im Rahmen einer solchen Interpretation als klassische Repräsentanten des Maßnahmenstaates auf Landesebene betrachten könnte, in der Auseinander setzung überhaupt keine Rolle. Will man den Konflikt also innerhalb der Parameter des Doppelstaates verstehen, so zeigt er zweierlei: Erstens bestätigt er die hier favorisierte Inter pretation Fraenkels, die den Normen- und Maßnahmenstaat als Idealtypen im Weberschen Sinne begreift. Beide können sowohl auf originär nationalsozialistische als auch auf tradierte Institutionen wie die Innenministerien oder die Generalstaatsanwaltschaften angewendet werden, um im Hinblick auf eine spezifische historische Situation, konkrete Institutionen, Akteure und Prozesse die normen- bzw. maßnahmenstaatlichen Tendenzen des Handels zu analysieren. Indem der badische Innenminister und der Generalstaatsanwalt in Karlsruhe für den Erhalt des KZ Kislau als extra-legale Haftstätte votierten und damit auch für die Fortführung des richterunabhängigen Freiheitsentzuges, der sich allein durch die polizeiliche Gefahrenabwehr im Ausnahmezustand recht fertigte, agierten sie als Exponenten des Maßnahmenstaates. Zweitens bestätigt der Konflikt Fraenkels These von der Kompetenzkompetenz des Maßnahmenstaates. Da das KZ Kislau ab April 1935 über das Ba152 Zwar war auch das KZ Kislau dem Badischen Justizministerium unterstellt und unterlag daher offiziell der Kontrolle der Judikative; die Auseinandersetzung um den Fortbestand des Lagers und die Intervention Himmlers zeigen aber deutlich, dass deren Einfluss nur so lange geduldet wurde, wie er mit den Interessen der SS vereinbar war.
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dische Justizministerium in letzter Instanz der Dienstaufsicht des Reichsjustizministeriums unterstellt war, lag die Kompetenzvermutung zweifelsfrei bei eben diesem. Offensichtlich ging auch Gürtner davon aus, im Rahmen seiner Kompetenzen zu handeln, als er im Sommer 1936 die Schließung des KZ forderte. Die Intervention Himmlers machte jedoch unmissverständlich deutlich, dass in dieser Angelegenheit nicht der Reichsjustizminister, sondern der RFSS das letzte Wort hatte. In dem Moment also, in dem das legitime normenstaatliche Handeln den politischen Zweckmäßigkeitserwägungen der Regimeführung, in diesem Falle verkörpert durch Himmler, zuwiderlief, griff die Kompetenzkompetenz des Maßnahmenstaates, der jede beliebige Materie, so auch den Fortbestand des KZ Kislau, zum Gegenstand seiner Entscheidung machen konnte.153 Allem voran ist der Verlauf des Konfliktes daher ein eindrückliches Beispiel für die überragende Machtstellung Himmlers.
5.4 Die frühen KZ Moringen, Dachau und Kislau als Impulsgeber für die Funktionserweiterung des Lagersystems Die Landschaft der frühen KZ war komplexer, als es die Forschung bisher zum Ausdruck gebracht hat. Die Untersuchung von Moringen, Dachau und Kislau hat gezeigt, dass kaum beachtete Haftstätten über die Entwicklungsdynamiken und Wirkungsmechanismen Aufschluss geben können, die zur Funktionserweiterung der KZ führten. Unter den Zeitgenossen galten Lager als »vorbildhaft« oder »Modelle« für den Ausbau des KZ-Systems, die heute fast vergessen sind. So betrachtete Heinrich Himmler Mitte der 1930er-Jahre Kislau eine Zeit lang als Prototyp des um die Funktion der »Bewahrung« erweiterten KZ und als stille Reserve für den Kriegsfall. Im Falle Bayerns, dem Ursprungsland des »Dachauer Modells«, verdeutlicht das Beispiel des Bayerischen Landesverbandes für Wanderdienst mit Alarich Seidler an seiner Spitze, dass nicht allein Himmler und Eicke die treibenden Kräfte bei der Ausgestaltung Dachaus als Instrument der rassischen Generalprävention waren. Auch die Geschichte des Frauen-KZ Moringen, das ganze vier Jahre im Schatten der IKL existierte, lässt sich als »Erfolgsgeschichte« der Betreiber, des Provinzialverbandes Hannover und des KZ-Direktors Hugo Krack, lesen. Trotz seines Sonderstatus fungierte Moringen spätestens ab Anfang 1936 als Frauen-KZ für das gesamte Reichsgebiet. Nebeneffekt der von Krack betriebenen Erweiterung des Einzugsgebietes war eine Funktionserweiterung des KZ. Als man das Lager dann zum Jahreswechsel 1937/38 in die Lichtenburg verlegte, war zumindest Hugo Krack derart von der Mustergültigkeit des KZ-Betriebes in seiner Anstalt überzeugt, dass er meinte, einen Mitarbeiter der IKL persönlich über seine Erfahrungen unterrichten zu müssen. 153 Vgl. Fraenkel, Doppelstaat, S. 113–120.
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6. Die Praxis sozialrassistischer und kriminalpräventiver KZ-Haft 1933 bis 1937/38
Die konkreten Wege, auf denen »Asoziale« und »Berufsverbrecher« in den frühen 1930er-Jahren in die KZ gelangten, liegen noch weitgehend im Dunkeln. So ist bislang weder bekannt, wer im Einzelnen für die KZ-Einweisungen verantwortlich war, noch wurden die Verfahrensabläufe systematisch untersucht. Zentrales Anliegen dieses Kapitels ist es, die Verfolgungsschicksale und Haftwege der »vergessenen Opfer« der NS-KZ zu dokumentieren. In seiner Grundstruktur war der Ablauf einer KZ-Einweisung für alle Haftarten gleich.1 Dem Wesen nach handelte es sich um einen schlichten Verwaltungsakt, der wie alle bürokratischen Abläufe einem klaren Reglement folgte. Freilich musste die Verfahrensweise erst kodifiziert und eingeübt werden. Doch auch nach Etablierung des Instanzenwegs wurde das vorgeschriebene Procedere mitunter durchbrochen bzw. verändert. Abstrahiert man zunächst sowohl von solchen Unregelmäßigkeiten in den Verfahrensabläufen als auch von den regionalen Spezifika, welche die KZ-Einweisungen in den frühen 1930er-Jahren prägten, so wies der Verwaltungsakt »KZ-Einweisung« folgende Etappen auf: Initiiert wurde das Einweisungsverfahren durch eine Anzeige, die meist lokale Funktionsträger des politischen Systems oder Behördenmitarbeiter erstatteten, die in unmittelbarem Kontakt mit der betroffenen Person standen: Fürsorgerinnen oder Wohlfahrtspfleger, Ortspolizisten, Kripobeamte oder Bürgermeister in ihrer Funktion als Ortspolizeibehörde sowie lokale Parteiaktivisten. Mitunter stammte die Anzeige auch aus dem direkten persönlichen Umfeld der Betroffenen, von Familienmitgliedern oder Bekannten. Gerichtet war sie meist an die Ortspolizei, die lokale Kripo- oder Gestapostelle bzw. an die Bezirks- und Landratsämter, weit seltener an die örtliche NSDAP oder die SA. Die genannten Stellen veranlassten in der Regel die Verhaftung der denunzierten Person und stellten, sofern sie nicht selbst zur Bestätigung der Haft berechtigt waren, einen Haftantrag an die zuständige Behörde. Dabei stützten sie ihre Haftbegründungen häufig auf die Argumentation der Anzeigenden. Hatte die zuständige Behörde den Haftantrag bestätigt, wurde der Haftbefehl dem Betroffenen mündlich eröffnet. War dieser nicht schon inhaftiert, erfolgte spätestens jetzt die polizeiliche »Vorführung« und Festnahme. Meist sperrte man
1 Ausnahmen bildeten selbstverständlich die Verhaftungen »von der Straße weg«, welche die SA in den Tagen nach dem Reichstagsbrand vornahm, sowie die Sistierungen im Rahmen der großen Massenrazzien.
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den Häftling für eine begrenzte Zeit, einige Tage oder Wochen, in das Polizeioder Amtsgerichtsgefängnis, bis ein Sammeltransport in das nächstgelegene KZ zusammengestellt war. Der Transport erfolgte entweder mit den Gefangenentransportwagen der Polizei bzw. Gestapo oder mit der Bahn. Gerade in der Gründungsphase der KZ 1933/34 konnte es aber durchaus vorkommen, dass einzelne Häftlinge in Begleitung eines Polizei- oder Gestapobeamten mit öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Fuß zum nächsten KZ gebracht wurden, wo das Wachpersonal sie am Bahnhof oder am Lagertor in Empfang nahm. Die konkrete Ausgestaltung des eben in seinen Grundzügen geschilderten Einweisungsverfahrens wird im Folgenden anhand von Fallbeispielen »asozialer« und »krimineller« Häftlinge, die vor den Massenverhaftungswellen 1937/38 in die KZ gelangten, dargestellt und analysiert. Die Zusammenstellung der Fallgeschichten basiert auf umfangreichen Recherchen in zahlreichen Archiven: Vollständig gesichtet wurden der Bestand der 327 Insassinnenakten des Frauen-KZ Moringen,2 die 281 Personendossiers des Polizeipräsidiums Duisburg3 sowie sämtliche im Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau gesammelten personenbezogenen Akten zu den ehemaligen »asozialen« und »kriminellen« Häftlingen des Lagers. Die Auswahl der Fälle erfolgte anhand qualitativer Kriterien.4 Aus dem Bestand des Frauen-KZ Moringen erwiesen sich 67 Fallakten als relevant. Die Auswahl aus der Überlieferung des Polizeipräsidiums Duisburg umfasst 25 aufschlussreiche Fälle. Drei weitere große Bestände an Personenakten wurden in Form von Stichproben gesichtet. Aus den 4.033 personenbezogenen Ermittlungsakten der Polizeidirektion München5 wurden 32,6 aus den 546 Personendossiers des Polizei 2 Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 1–Nr. 327. Eine Kopie der Akten ist im BArch Berlin überliefert. 3 Vgl. LAV NRW R, BR 1111. Unter den 281 Personendossiers befinden sich 32 Fallakten, die sich auf als »Zigeuner« verhaftete Personen beziehen. Diese konnten anhand des Findbuches herausgefiltert werden. Die übrigen 249 Fallakten betreffen Maßnahmen der planmäßigen polizeilichen Überwachung sowie »Vorbeugungshaftverfahren« gegen »Asoziale« bzw. »Berufs«- und »Gewohnheitsverbrecher«. Die »Vorbeugungshaftverfahren« stammen über wiegend aus der Zeit ab 1937/38. 4 Berücksichtigt wurden Fälle, bei denen die KZ-Einlieferung vor 1937/38 stattfand, bei denen die Haftbegründung auf sozialrassistische und kriminalpräventive Motive verweist und die ausreichend Informationen für eine weitere qualitative Analyse enthielten. Die Probleme, die sich ergeben, will man für die Zeit vor der Einführung des Winkelsystems in den KZ eine Zuordnung einzelner Häftlinge zu den Kategorien »Asoziale« und »Berufsverbrecher« vornehmen, wurden bereits erörtert. 5 Vgl. BayStA München, Poldir Mü/Personenakten II, C 0402 1978, Nr. 11474–14922. Die Ermittlungsakten der Polizeidirektion München umfassen sämtliche dort bearbeiteten Fälle, also auch jene, die ungelöst blieben, die an die Staatsanwaltschaft abgegeben wurden oder in denen die Polizei eine polizeiliche Überwachung anordnete. 6 Eine anhand der Informationen im Findbuch getroffene Vorauswahl umfasste 51 Fallakten. Davon mussten 19 verworfen werden, weil sie sich entweder als irrelevant erwiesen oder weil sie zu wenige Informationen enthielten.
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präsidiums Köln7 zehn und aus den 4.366 Namenseinträge umfassenden Insassenakten des KZ Oranienburg8 sechs Fallbeispiele ausgewählt.9 Zu den durch die systematische Bearbeitung der genannten Bestände erhobenen Daten kommen Zufallsfunde aus anderen Archiven hinzu. Einige der so gewonnenen Fallbeispiele10 dienen im Folgenden dazu, die sozialrassistische und kriminalpräventive Haftpraxis zu analysieren. Dabei leiten folgende Fragen die Untersuchung: Wie wurden die im Vorangegangenen erörterten Rechtsgrundlagen der KZHaft für »Asoziale« und »Berufsverbrecher« in die Praxis umgesetzt? Welche Schwierigkeiten oder Irritationen sind in den Verfahrensabläufen zu beobachten? Kam es zwischen den Behörden zu Kompetenzkonflikten und wo bildeten sich Formen der Kooperation aus? Erwies sich das lückenlose, arbeitsteilige Ineinandergreifen der »Sicherungsverwahrung« und der »Vorbeugungshaft«, das die nationalsozialistischen »Strategen der Verbrechensbekämpfung« bei der Konzeption dieser beiden Verfolgungsinstrumente beabsichtigten, als praxistauglich? Was sagt das wiederum über die Beziehungen zwischen dem Normenund dem Maßnahmenstaat aus? 7 Vgl. LAV NRW R, BR 2034 VH I, Nr. 8. In dem Bestand VH I (Männer) der Polizeidirektion Köln sind ausschließlich »Vorbeugungshaftfälle« überliefert. Die Akten jener Personen, welche die Kripo Köln überwachen ließ, befinden sich in einem gesonderte Bestand. Die überlieferten »Vorbeugungshaftfälle« stammen überwiegend aus der Zeit ab 1937/38. 8 Vgl. ITS-Arch Bad Arolsen, KL Oranienburg, Ordn. 1–Ordn. 68. Wieviele Insassenakten der Bestand umfasst, kann aufgrund der gegenwärtigen Erschließung nicht angegeben werden. Die 4.366 erfassten Namen schließen auch Angehörige, Beamte des Verfolgungsapparates und andere Personen ein, die in den Akten namentlich genannt sind. Die Anzahl der Insassenakten muss deutlich unter diesem Wert liegen. Während seiner gesamten Bestandsdauer durchliefen das Lager etwa 3.000 Häftlinge. Vgl. Borggräfe, Personenakten, E-Mail 17.2.2016; Dörner, Oranienburg, S. 178. 9 Aus vielen Insassenakten des KZ Oranienburg geht der Haftgrund nicht hervor, sodass sich bei der Durchsicht die Relevanz der Fälle für diese Studie oft schwer beurteilen ließ. 17 weitere Namen von »asozialen« und »kriminellen« Häftlingen des KZ Oranienburg konnten anhand der Sachakten im BLHA Potsdam und des Gedenkbuchs des »Arbeitskreises des ehemaligen KZ Sonnenburg« ermittelt werden. Vgl. BLHA Potsdam, Rep. 35 G, Landrat Kreis Jüterbog-Luckenwalde, Schutzhaftbefehl, 30.9.1933; ebd., Strafsache gegen W. B., O. S. und E. L., 7.11.1933; Arbeitskreis Ehemaliges KZ Sonnenburg, Sonnenburg. Ich danke in diesem Zusammenhang Julia Pietsch, die mich auf vier »asoziale« Häftlinge des KZ Oranienburg aufmerksam machte. Frank Schmid vom BLHA Potsdam hat mit viel Geduld meine Personenanfrage zu den insgesamt 23 Namen von »asozialen« bzw. »kriminellen« Oranienburg-Häftlingen bearbeitet, die im Rahmen dieser Studie ermittelt wurden. Auch ihm gilt mein Dank. 10 Zwar stellt jedes Fallbeispiel für sich genommen nur einen Einzelfall dar. Da die Fallauswahl jedoch auf der Auswertung eines breiten Quellenfundus basiert, können die individuellen Geschichten exemplarisch stehen für das Schicksal der zahlreichen namenlosen Opfer. Die als Promotionsschrift eingereichte Fassung dieser Studie schildert eine größere Anzahl von Fällen. In der folgenden Darstellung wird zum Teil in Fußnoten auf wichtige Aspekte dieser zusätzlichen Fallgeschichten hingewiesen. Vgl. Hörath, Experimente, S. 436–518.
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6.1 Die Ausweitung der »Schutzhaft« auf Devianz und Delinquenz Mit der Schaffung des Instituts der »Schutzhaft« setzte auch die Ausdehnung der Haftgründe ein. Betroffen waren von Anfang an auch Menschen, die aufgrund ihres devianten oder delinquenten Verhaltens in das Visier der Verfolgungsbehörden gerieten. Einen ersten Radikalisierungsschub erfuhr dieser Prozess durch die bereits erörterte »Bettlerrazzia« im September 1933. Gegenstand der folgenden Überlegungen ist die Entwicklung, die der »Bettlerwoche« voranging: die »Schutzhaftverhängungen« gegen »Asoziale« und Mehrfachstraftäter im Frühjahr und Sommer 1933. Eine der ersten sozialrassistischen »Inschutzhaftnahmen«, die im Rahmen dieser Studie dokumentiert werden konnten, betraf den 60-jährigen Sigmund O. aus Haunetal, der mindestens drei Monate im KZ Dachau interniert war.11 Der Begründung des »Schutzhaftbefehls«, den der Bayreuther Stadtrat am 4. April ausstellte, ist zu entnehmen, O. habe »seit Jahren die Polizei-, Steuerund Strafvollzugsbehörden in einer Art und Weise mit Eingaben belästigt, die in jeder Form Anstand u[nd] Sitte vermissen lassen«.12 Des Weiteren warf man O. vor, er habe sich »gegen national eingestellte Beamte, die mit der Bearbeitung und Verbescheidung seiner Eingaben beschäftigt waren, […] gehässig gezeigt und versucht, diese bei ihren vorgesetzten Stellen zu denunzieren«.13 In grotesker Zuspitzung der an sich schon kruden, zeitgenössischen Rassentheorien kam der Verfasser des Haftbefehls zu dem Schluss, O. gehöre »dem Rassestamm der Volksausbeuter und Volksbetrüger«14 an. Diese Formulierung erklärte das unerwünschte Sozialverhalten zu einer »erbbiologisch« determinierten Eigenschaft. Hinweise auf eine politische Betätigung des Simon O. fehlen hingegen vollständig. Abgesehen davon, dass angeblich »national eingestellte Beamte« die Hauptzielscheibe seines Grolls bildeten, wird weder eine Zugehörigkeit zu einer der Arbeiterparteien noch eine Gewerkschaftsmitgliedschaft erwähnt. Auch »Inschutzhaftnahmen«, die zwar eindeutig kriminalpräventiven Zwecken dienten, aber keine parteipolitischen Bezüge aufwiesen, sind aus der Region Bayern schon für den April 1933 überliefert. In den Haftbegründungen charakterisierte die Polizei die Betroffenen als »bodenständige Verbrecher«, die zwecks Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in »Schutzhaft« zu nehmen seien.15 In einigen Fällen wird aus der Argumentation der Poli11 Vgl. BayHStA München, MInn 73690, Verzeichnis Schutzhaftgefangene in Bayern, 1.8.1933. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Vgl. ebd. Im Fall von Stanislaus G., der eine längere Freiheitsstrafe wegen eines Sittlichkeitsverbrechens verbüßt hatte, führte das Bezirksamt Karlstadt als Haftbegründung den »Schutz der eigenen Person« an. »Die Erregung der Bevölkerung« gegen G. sei »äußerst groß, sodass Tätlichkeiten gegen ihn zu erwarten« seien. Ebd.
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zei deutlich, dass man die »Schutzhaft« als maßnahmenstaatliches Substitut für die zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeführte »Sicherheitsverwahrung« nutzte.16 In den Wochen unmittelbar nach dem Reichstagsbrand bildeten »Schutzhaftbegründungen«, die sich ausschließlich auf die soziale Devianz oder das kriminelle Verhalten des Betroffenen stützten, allerdings noch die Ausnahme. Dahingegen sind zahlreiche Fälle überliefert, in denen sich Vorwürfe der Devianz bzw. Delinquenz mit einer unterstellten politischen Regimegegnerschaft überschnitten. So beschrieb das bayerische Bezirksamt Kehlheim den am 15. März 1933 verhafteten Wenzel M. nicht nur als »kommunistische[n] Hetzer«, sondern auch als »arbeitsscheu[en] Landstreicher u[nd] Bettler«.17 Über den 34-jährigen Friedrich A., den die Politische Polizei München am 27. März verhaftete, hieß es, er sei »geistiger«, wohlgemerkt nicht organisatorischer, »Leiter«18 der KPD-Ortsgruppe in der niederbayerischen Gemeinde Frauenau. Darüber hinaus führte die Politische Polizei München an, dass A. wiederholt wegen Eigentumsdelikten vorbestraft und als »arbeitsscheuer Mensch und Taugenichts«19 bekannt sei. Ähnliche Fälle, in denen Personen im »Schutzhaftbefehl« zum einen als Kommunisten20 bezeichnet und zum anderen als deviant oder delinquent charakterisiert werden, sind nicht nur aus Bayern, sondern auch aus anderen Regionen des Reiches überliefert.21 Wie kam es zu diesen Überschneidungen zwischen einer unterstellten marxistischen Gesinnung und dem angeblich normabweichenden bzw. delinquenten Verhalten? Ein wesentlicher Grund war die Anordnungsvoraussetzung der »Schutzhaft«, die durch die Präambel der Reichstagsbrandverordnung an die »Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte« gebunden war. Zwar hatte Hermann Göring schon in seiner Durchführungsrichtlinie vom 3. März 1933 die Zweckbestimmung der »Schutzhaft« dahingehend aufgeweicht, dass auch eine »mittelbare« Zusammenarbeit mit den Kommunisten oder die indirekte Förderung ihrer »verbrecherischen Ziele« als Rechtfertigung ausreichten.22 Dennoch setzte auch die Durchführungsrichtlinie eine Tätigkeit voraus, 16 Vgl. ebd. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. In der Haftbegründung für den am 29. März 1933 sistierten Sebastian B. stand der Kommunismus-Vorwurf gleichwertig neben der Feststellung, B. sei »vordem schon in Fürsorgeerziehung« gewesen. Auch bei zwei Mehrfachstraftätern findet sich eine Überschneidung von kriminalpräventiven Motiven und Kommunismus-Vorwürfen. Vgl. ebd. 20 Seltener findet sich eine Überschneidung von Anschuldigungen der Devianz bzw. Delinquenz bei Sozialdemokraten und Gewerkschaftern. 21 Vgl. GLA Karlsruhe, 521 Zug. 1982–48, Nr. 8417; ITS-Arch Bad Arolsen, KL Oranienburg, Ordn. 16, Akte P. G.; ebd., Ordn. 19, Akte M. G.; ebd., Ordn. 28, Akte W. K.; ebd., Ordn. 31, Akte K. L.; ebd., Akte W. L.; Kienle, Konzentrationslager (1998), S. 111. 22 Zit. nach Hensle, Verrechtlichung, S. 80.
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von der eine Gefährdung des Staatswesens ausging und die daher im weitesten Sinne als »politisch« zu verstehen war. Dementsprechend stellten die meisten »Schutzhaftbefehle«, die auf die erste Jahreshälfte 1933 datieren, einen Bezug zwischen den Haftbegründungen und einer vermeintlichen Staatsgefährdung her oder postulierten eine irgendwie geartete kommunistische Tätigkeit. Rekurrierte eine Haftbegründung nicht nur auf die oppositionelle Einstellung, sondern argumentierte auch mit dem devianten Sozialverhalten oder dem »kriminellen Charakter« des Betroffenen, liegt die Vermutung nahe, dass die Regimegegnerschaft aus strategischen Gründen unterstellt wurde, um die KZEinweisung zu rechtfertigen. Derartige Argumentationen sind selbst dann zu beobachten, wenn aus der übrigen Haftbegründung oder dem politisch-sozialen Kontext des Falles deutlich wird, dass die Inhaftierung ausschließlich oder hauptsächlich aus Gründen der Sozialdisziplinierung oder Kriminalprävention erfolgte.23 In den meisten Fällen ist solch ein strategischer Einsatz von Kommunismus-Vorwürfen allerdings nur schwer oder gar nicht nachweisbar. Die Überschneidung zwischen Vorwürfen der marxistischen Gesinnung und des devianten oder delinquenten Verhaltens resultierte aber nicht nur aus praktisch-strategischen Erwägungen, sie hatte auch ideologische Gründe: In Personen wie Friedrich A., dem »arbeitsscheue[n] Mensch[en]«, »Taugenichts« und »geistige[n] Leiter[n]« der KPD-Ortsgruppe Frauenau,24 vereinten sich zwei traditionelle bürgerliche Feindbilder: das der »roten Gefahr« und das des unproduktiven, sozial devianten, zumindest latent kriminellen und behördlich schwer kontrollierbaren Angehörigen gesellschaftlicher Randgruppen. Seit Entstehung der Arbeiterbewegung zählte im Weltbild vieler Rechts-Konservativer die »Arbeitscheu« zu den ideologischen Grundfesten des Marxismus. Ohne Ansehen 23 In der Region Worms griff die Polizei am 17. September 1933 drei Wanderburschen auf der Landstraße auf, nahm sie in »Schutzhaft« und wies sie in das KZ Osthofen ein. Ihr Wanderleben, der Verdacht auf Bettelei sowie einschlägige Vorstrafenregister wurden ihnen am Vorabend des offiziellen Auftaktes der »Bettlerrazzia« zum Verhängnis. Den Bezug zur Reichstagsbrandverordnung stellte die »Schutzhaftbegründung« durch den Vorwurf her, die drei hätten »kommunistische Lieder« gesungen. Vgl. GS-Arch Osthofen, Datenbank Nr. 1.480, Nr. 1.481, Nr. 1.482. Dass auch die verantwortlichen Akteure sich der Fadenscheinigkeit derartiger Argumentationen bewusst waren, verdeutlicht der Fall von Albert L. aus Altlewin, der am 10. Juli 1933 in das KZ Oranienburg eingeliefert wurde. L. galt als »arbeitsscheu« und »Querulant«, weil er auf seiner »Arbeitsstelle im kommunistischen Sinne agitiert« und seit Jahren verschiedene lokale Behörden »absichtlich und mit Überlegung schikaniert« hatte. Außerdem war er 13 Mal wegen Betrügereien vorbestraft, hatte rufschädigende Äußerungen über lokale Honoratioren getätigt und den Musikunterricht der Schule immer gerade dann von der Straße her durch Pöbeleien gestört, wenn das Horst-Wessel-Lied gesungen wurde. Als müsse er sich selbst von der Rechtmäßigkeit seines »Schutzhaftantrages« überzeugen, schloss der Gemeindevorsteher von Altlewin seine Haftbegründung mit den Worten: »In allen diesen Äußerungen und Agitationen des L. liegt doch wohl die staatsfeindliche Einstellung«. ITS-Arch Bad Arolsen, KL Oranienburg, Ordn. 31, Akte A. L., Schreiben Gemeindevorsteher Altlewin, 13.7.1933. 24 BayHStA München, MInn 73690, Verzeichnis Schutzhaftgefangene in Bayern, 1.8.1933.
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der Person galt sie ihnen daher auch als zentrale Charaktereigenschaft all seiner Vertreter.25 Viele Nationalsozialisten dürften also tatsächlich davon überzeugt gewesen sein, in jedem Kommunisten gleichzeitig auch einen »Arbeitsscheuen« vor sich zu haben. Gerade in der Phase der nationalsozialistischen Machtkonsolidierung scheinen einige der zur »Schutzhaftverhängung« befugten Akteure das Feindbild des sozial devianten und kriminellen marxistischen Agitators in zugespitzter Form adaptiert und ihre Verfolgungspolitik daran ausgerichtet zu haben. In Anbetracht der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse ginge man jedoch fehl, wollte man ihr Vorgehen auf eine Jagd nach einem ideologischen Konstrukt reduzieren. Angesichts der existenzbedrohenden Formen, welche die Armut der Arbeiterschaft seit der Weltwirtschaftskrise angenommen hatte, dürften bis zur wirtschaftlichen Konsolidierung nicht selten marxistische Weltanschauung, Notkriminalität oder unfreiwillige Devianz, vor allem in der Gestalt des Wanderers, tatsächlich aufeinandergetroffen sein. Dabei erhöhte eine vagabundierende Lebensweise in den Augen der Behörden die Gefährlichkeit des oppositionellen Individuums noch zusätzlich. Stellte schon der unpolitische Wanderer eine enorme Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung dar, verkörperte der wandernde Kommunist die Bedrohung des NS-Regimes par excellence.26
6.2 Die Instrumentalisierung von »Heimtückedelikten« zur Bekämpfung von Devianz und Delinquenz Ähnlich wie die Kommunismus-Vorwürfe bei »Schutzhaftverhängungen« wurden mitunter auch »Heimtückevorfälle« instrumentalisiert, um Personen hinter Schloss und Riegel zu bringen, deren Lebensstil von den Normen der »Volksgemeinschaft« abwich. Das wird besonders deutlich, wenn es sich um Personen handelte, die den örtlichen Behörden schon seit vielen Jahren zur Last fielen. Exemplarisch soll hier der Fall der Münchnerin Konstanze B. vorgestellt werden, die am 3. Juni 1937 für die Dauer von zweieinhalb Monaten27 in das 25 Vgl. Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. XII; Wachsmann, Prisons, S. 39 f., 194 f.; Wollenberg, Arbeitslose, S. 92–94. 26 Deutlich macht dies die Geschichte des 32-jährigen Gustav B. aus Alesheim, der als Hausierer durchs Land wanderte und am 20. April 1933 wegen einer »Heimtückeäußerung« in »Schutzhaft« geriet. Das Bezirksamt Weißenburg begründete am 1. August 1933 die Aufrechterhaltung der Haft damit, »dass B., der ohne festen Wohnsitz ist und ständig im Lande umherzieht, sein übles Treiben« andernfalls fortsetzen würde. BayHStA München, MInn 73690, Verzeichnis Schutzhaftgefangene in Bayern, 1.8.1933. Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 229. 27 Dass »Schutzhaftgefangene« aus Bayern weniger als drei Monate in Moringen inhaftiert waren, ist äußerst selten, da die bayerischen Behörden aus Kostengründen nur Frauen in das preußische KZ schickten, deren Haft voraussichtlich drei Monate überschreiten würde.
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Frauen-KZ Moringen eingeliefert wurde. Wie aus dem »Schutzhaftbefehl« hervorgeht, den die Staatspolizeistelle München am 27. Mai 1937 für die 63 Jahre alte Frau ausstellte, vereinten sich in Konstanze B. gleich mehrere Feindbilder: Sie galt nicht nur als »sittlich verdorben«, sondern auch als mehrfach vorbestrafte, »unbelehrbare Querulantin« und »Unterstützungsbetrügerin«: »Bei der Kassierin [sic] B. handelt es sich um eine amtsbekannte übelbeleumundete Persönlichkeit, die wegen Sachbeschädigung, Nötigung, Bedrohung, Hausfriedensbruch, groben Unfugs, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Betrug […] vorbestraft ist und außerdem hinsichtlich ihres sonstigen Verhaltens, insbes[ondere] in sittlicher Hinsicht vielfach zu polizeilichen Beanstandungen Anlass gegeben hat. Sie ist eine Gegnerin der Regierung und benützt jede Gelegenheit, um über die Regierung [und] deren Maßnahmen zu schimpfen. Sie geht jeder geregelten Arbeit aus dem Wege und hat es in letzter Zeit verstanden, sich ihren Lebensunterhalt aus Zuwendungen des Wohlfahrtsamtes zu verschaffen, wobei sie verschwieg, dass sie von ihrem Sohn […] unterstützt wird und […] ein Vermögen […] besitzt. […] Bei ihren Vorsprachen beim Wohlfahrtsbezirksamt München schimpfte sie über die »heutigen Zustände« und stellte in der Öffentlichkeit die Behauptung auf, dass die frühere Regierung viel besser gewesen sei. Für die Sammlungen des WHW. gab sie überhaupt nichts, sie beschimpfte im Gegenteil [die] mit der Durchführung der Sammlung beauftragten […] Kästner und […] Hirsch mit den gemeinsten Ausdrücken wie »Hanswurst saudummer, du kannst mich am Arsch lecken« […]. B. bildet in Freiheit belassen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit, ihre Inschutzhaftnahme ist daher dringend geboten, um so mehr, als sie sich den gut gemeinten Belehrungen vollkommen unzugänglich zeigte und den Führer [und] führende Persönlichkeiten mit Zuschriften unwahren Inhalts belästigte.«28
Insbesondere die Schlusspassage macht deutlich, wie man »Heimtückereden« und notorische Querulanz zu einer Bedrohung für den NS-Staat verdichtete, wobei die »Gefahr« nicht von den politischen Äußerungen der B. ausging, sondern von ihrem devianten Gesamtverhalten und den Unannehmlichkeiten, die sie damit den Behörden und Repräsentanten des Staates bescherte.29 Wie schon am Beispiel der »Schutzhaftanordnungen« gegen als »asozial« oder »kriminell« angesehene Personen gezeigt, erhöhte eine mobile Lebensweise 28 NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 35, Schutzhaftbefehl Gestapo München, 27.5.1937. 29 Im Fall der 45-jährigen Corinna B. aus Leipzig, nach Ansicht des örtlichen Polizeipräsidenten eine »freche, hysterische Dirne«, bestätigte sogar KZ-Direktor Krack, dass B. »politisch grundsätzlich wohl nicht gegen den Staat eingestellt«, sondern »von ihrer Prostituiertenmoral aus zu den staatsfeindlichen Äußerungen im Trunke gekommen« sei. Ebd., Nr. 25, Schreiben Polizeipräsident Leipzig, 17.12.1935; ebd., Führungsbericht KZ-Direktor, 27.2.1936. Bei einer weiteren Insassin des KZ Moringen kam es überhaupt erst zur »Heimtückeäußerung«, als die Frau auf der Straße durch ihre Trunkenheit Anstoß erregt hatte. Einen Feldjäger, der sie aufforderte »nach Hause zu gehen und auszuschlafen« beschimpfte sie, woraufhin die Polizei hinzugezogen und das »Heimtückeverfahren« in Gang gebracht wurde. Ebd., Nr. 36, Schutzhaftbefehl, 21.12.1934.
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die »Gefahr«, die in den Augen der Behörden von der Devianz bzw. Delinquenz ausging, noch zusätzlich: Ähnlich wie der wandernde Kommunist knüpfte auch der vagabundierende »Heimtückeredner« auf seinen Reisen zahlreiche Kontakte und gereichte so einem weit größeren Personenkreis zum schlechten Vorbild als jeder sesshafte »Gemeinschaftsfremde«.30 Der Fall von Magnus R. zeigt, welche Bedeutung der Mobilität bei der Begründung der »Gefährlichkeit« zukam. In einem vom Amtsgericht Friedberg am 29. August 1935 ausgestellten Haftbefehl hieß es, R. sei »fluchtverdächtig, da er ohne festen Wohnsitz ist«.31 Bei seiner Vernehmung durch die Gestapo Gießen bewies R. außerdem, was für ein »verbissener, gemeingefährlicher Gegner von Führer und Bewegung« er war, indem er eine Frage »im frechen Tone« beantwortete.32 Als weiterer Beleg für seine »Gefährlichkeit« musste eine vorangegangene Haft im KZ Osthofen herhalten, die jedoch nicht aus politischen Gründen erfolgt war. Vielmehr hatte man R. am 15. Februar 1934, im Anschluss an die Verbüßung einer einwöchigen Haftstrafe wegen Bettelei, in »Schutzhaft« genommen und nach Osthofen gebracht. »Der Beschuldigte ist ein fanatischer Gegner des heutigen Staates«, hieß es dessen ungeachtet am 21. November 1935 in der Anklageschrift des Sondergerichts Darmstadt, »der schon längere Zeit im Konzentrationslager zugebracht hat«.33 All das machte Magnus R. zu einer »wandernden Gefahr« für das NS-Regime. Das Bedrohungsszenario, das in den Augen der Behörden von einem durch die Lande ziehenden Wandergesellen ausging, der trotz Strafandrohung durch das »Heimtückegesetz« sich nicht davon abhalten ließ, seine Häme und Missachtung für die Angehörigen der NS-Führungsspitze kundzutun, brachte das Sondergericht Darmstadt am 3. Februar 1936 in seiner Urteilsbegründung zum Ausdruck: Bei Menschen, wie dem Angeklagten, seien »derartige Äußerungen auch ernst zu nehmen, da sie weit im Lande umher kommen und meistens in Kreisen von Arbeitern und Bauern versuchen, diese gegen den Staat einzunehmen. Auch ist straferschwerend zu berücksichtigen, dass gerade die Bett30 Das zeigt außerdem, wie sehr der Sozialrassismus allen biologistischen Argumentationen zum Trotz letztlich an gesellschaftliche Kriterien geknüpft blieb. 31 GS-Arch Osthofen, Datenbank Nr. 600, Haftbefehl hessisches Amtsgericht Friedberg, 29.8. 1935. Ähnlich argumentierte später das Sondergericht Darmstadt: Die »Vorstrafenliste des Beschuldigten«, die fünf Verurteilungen wegen Bettelei und Landstreicherei aufwies, zeige, »dass es sich um einen unzuverlässigen Landstreicher handelt«. GS-Arch Osthofen, Datenbank Nr. 600, Anklageschrift Sondergericht Darmstadt, 3.1.1936. 32 Ebd., Bericht Gestapo Gießen, 19.11.1935. 33 Ebd., Anklageschrift Sondergericht Darmstadt, 21.11.1935. Erschwerend hinzu kam wohl, dass Magnus R. entgegen dem Schweigegebot, das die Lagerkommandanturen den Häftlingen im Falle einer Entlassung auferlegten, über seine KZ-Haft geredet hatte. Zudem berichtete er offensiv über Kontakte zu Juden, die allerdings nicht freundschaftlicher Art waren. Offenbar hatte R. Juden, die bereits im KZ gewesen waren, unter Druck gesetzt, ihm Geld zu geben.
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ler und Landstreicher in den Obdachlosenheimen Zentralen für derartige Hetzereien finden. Es muss daher durch strenge Strafen versucht werden, diese Hetzzentralen zu treffen, um auch auf andere abschreckend zu wirken.«34
In zwei Strafverfahren wegen Verstößen gegen das »Heimtückegesetz« verurteilte das Sondergericht Darmstadt Magnus R. zu einer Gesamtstrafe von einem Jahr und acht Monaten Gefängnis, wobei man ihm vier Monate Untersuchungshaft anrechnete.35 Aufgrund des Straffreiheitsgesetzes vom 23. April 1937 wurde Magnus R. am 4. Mai des Jahres mit einer dreijährigen Bewährungsfrist bedingt entlassen. Da er die Bewährungsauflagen jedoch nicht einhielt, widerrief der Oberstaatsanwalt Darmstadt am 30. April 1937 die bedingte Begnadigung.
6.3 KZ-Einweisungen nach § 20 RFV Ab Oktober 1934 ermöglichten in Bayern die länderrechtlichen Vollzugsrichtlinien zum § 20 RVF eine fürsorgerechtliche KZ-Einweisung von Wohlfahrtshilfeempfängern, die als »asozial« und »arbeitsscheu« galten. In Baden trat im August 1935 eine ähnliche Regelung in Kraft. Einen neuralgischen Punkt des Einweisungsverfahrens bildete die Feststellung, ob die Bedürftigkeit des Unterstützungsempfängers in dessen »sittliche[m] Verschulden«36 begründet lag, ob sein Verhalten also die Anordnungsvoraussetzung der KZ-Einweisung erfüllte. Der Einlieferung nach Dachau bzw. Kislau voran gingen daher in der Regel zahlreiche fehlgeschlagene Versuche, die fragliche Person »in Arbeit zu vermitteln« – ein Anspruch, der für die meisten Wohlfahrtsbeamten gleichbedeutend war mit der Verhängung von fürsorgerechtlicher Pflichtarbeit oder sicherheitspolizeilichem Arbeitszwang und dem sich mancher Betroffene verweigerte. Das wiederum konnten die Wohlfahrtsbeamten als »Arbeitsscheue« werten und damit als Beweis einer selbst verschuldeten Bedürftigkeit. Obgleich die Wohlfahrtsbehörden die Pflichtarbeit gezielt nutzten, um die »Arbeitswilligkeit« der Unterstützungsempfänger zu prüfen, sollte dieses Vorgehen retrospektiv betrachtet nicht als zielgerichtetes Hinarbeiten auf eine KZEinweisung interpretiert werden. Zwar hatte das Bayerische Innenministerium 34 Ebd., Urteil Sondergericht Darmstadt, 3.2.1936. Ähnlich argumentierte die Gestapo Augsburg im Falle der 40-jährigen Landstreicherin Martha K., die in einem städtischen Zufluchtsheim das Bild des »Führers« beleidigte hatte. Sie wurde daraufhin in »Schutzhaft« genommen und für elf Monate in das Frauen-KZ Moringen gesperrt. Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 169, Schutzhaftbefehl Staatspolizeistelle Augsburg, 1.12.1936. 35 Vgl. GS-Arch Osthofen, Datenbank Nr. 600, Urteil Sondergericht Darmstadt, 20.12.1935; ebd., Urteil Sondergericht Darmstadt, 3.2.1936. 36 Baath, Verordnung, S. 15 f.
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den Vollzug des fürsorgerechtlichen Arbeitszwangs im KZ Dachau bewusst als »neues, wirksames Zuchtmittel gegen asoziale Personen«37 konzipiert und die Wohlfahrtsbehörden explizit angewiesen, »in erster Linie jene Fälle herauszugreifen, die zu besonderem Ärgernis Anlass geben«.38 Unzweifelhaft entsprach es mit dieser Zweckbestimmung der von Experten und Praktikern der Wohlfahrtspflege seit langem formulierten Forderung nach schärferen Mitteln der Sozialdisziplinierung. Dennoch war die KZ-Einweisung nicht unmittelbare Folge eines singulären »Ärgernisses«, sondern maßnahmenstaatlicher Kulminationspunkt einer häufig Jahre oder sogar Jahrzehnte währenden Auseinandersetzung zwischen Klient und Behörde. Die Fallgeschichte des Schneiders und »Ausgehers« Rüdiger B., der im Mai 1935, im Alter von 52 Jahren, für die Dauer von drei Monaten in das KZ Dachau eingeliefert wurde, soll den Ablauf eines fürsorgerechtlichen Einweisungsverfahrens verdeutlichen. Rüdiger B. wurde 1882 im bayerischen Geretsried geboren. Zum Zeitpunkt seiner KZ-Einweisung hatten ihn verschiedene Gerichte 17 Mal wegen Delikten wie Diebstahl, Unterschlagung, Betrug und Bettelei zu kleineren Freiheitsstrafen von einigen Tagen oder Wochen verurteilt. Seit 1924 war B. mit Unter brechungen immer wieder auf Fürsorgeunterstützung angewiesen. Die Versuche, ihn zur Arbeit zu zwingen, setzten spätestens Ende der 1920er-Jahre ein. Am 14. Juni 1928 stellte das Wohlfahrtsbezirksamt München bei der Polizeidirektion einen Antrag, ihm gemäß dem bayerischen »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz« einen polizeilichen »Arbeitsauftrag«39 zu erteilen. »Seine Bemühungen um Arbeit«, hieß es in der Begründung, »dürften nicht besonders ernst zu nehmen sein. Zweifellos besteht Arbeitsunwille, weil er in der fraglichen Zeit nicht einmal Gelegenheitsarbeiten aufzuweisen vermag. Bei jeder Antragstellung gebärdet er sich in ungehörigster Weise. Seine Angaben entsprechen nicht immer der Wahrheit.«40
Wie das sicherheitspolizeiliche Arbeitszwangsverfahren im Jahre 1928 ausging, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Sechseinhalb Jahre später, das NS-Regime hatte sich unterdessen erfolgreich etabliert und das Arbeitsbeschaffungsprogramm verzeichnete erste Erfolge, unternahm das Wohlfahrtsamt einen weiteren Versuch, Rüdiger B. zur Arbeit zu zwingen, indem es ihn im November 1934 zum Reichsautobahnbau schickte. Doch B. entzog sich diesem »Vermittlungsversuch«, indem er schlichtweg nicht auf der Baustelle erschien. Bei einer späteren Vernehmung durch die Polizeidirektion München begründete er dieses Verhalten mit seinem Ge37 BayHStA München, MInn 71561, DVO BayStMdI zum § 20 RFV (Arbeitszwang), 22.11.1934. 38 Ebd. 39 BayStA München, Poldir Mü/Personenakten II, C 0402 1978, Nr. 11630, Wohlfahrtsbezirksamt München VII, 14.6.1928. 40 Ebd.
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sundheitszustand. Wie seiner Aussage weiter zu entnehmen ist, wurde ihm die Arbeitsunfähigkeit auch nachträglich bescheinigt.41 Dennoch eröffnete das Städtische Wohlfahrtsamt München Rüdiger B., dass man ihm fortan die Wohlfahrtsunterstützung nicht mehr bar auszahlen, sondern nur noch in Form von Anstaltsunterbringung in der Herzogsägmühle gewähren werde. Angesichts dessen verzichtete B. auf den Unterstützungsbezug und lebte fortan von den Zuwendungen seiner Mutter. Als Vater eines minderjährigen Sohnes, demgegenüber Unterhaltspflicht bestand, war Rüdiger B. langfristig aber nicht vor fürsorgerechtlichen Repressionen sicher, obwohl er selbst keine Leistungen bezog. Das Kind lebte nämlich auf Wohlfahrtskosten bei einer Pflegemutter. Nachdem der Ortsfürsorgeverband Gräfeling, der Kostenträger, erfolglos versucht hatte, Rüdiger B. zu Unterhaltszahlungen heranzuziehen, stellte er am 25. Februar 1935 bei der Polizei direktion München einen »Antrag auf Einschaffung des [Schneiders] Rüdiger B. in das Arbeitslager Dachau«.42 Die Begründung lautete: »Der in München […] wohnhafte […] [Schneider] Rüdiger B. ist […] Vater des Kindes R üdiger S. […] und soll monatl[ich] 35 RM Unterhaltsbeitrag leisten. Nach Mitteilung der Amtsvormundschaft des Bezirksjugendamts München war es nicht möglich seit Geburt des Kindes auch nur einen Pfennig Unterhalt beizutreiben […]. [Rüdiger B.] ist meistens unbekannten Aufenthalts und wurde wiederholt im Bayer[ischen] Polizeifahndungsblatt ausgeschrieben. B. ist der typische Taugenichts, der sich seiner Unterhaltspflicht mit Absicht entzieht und der daher in ein Arbeitslager gehört.«43
Die Polizeidirektion München reagierte allerdings nur zögerlich auf den Haftantrag. Offenbar erkundigte sie sich zunächst beim zuständigen Jugendamt München-Land, ob von dieser Seite aus rechtliche Schritte gegen B. eingeleitet worden seien. Nach § 361 Abs. 5 konnte das Jugendamt Strafanzeige wegen Müßiggang stellen. Im Falle einer Verurteilung hätte das möglicherweise eine Arbeitshauseinweisung nach sich gezogen. Das Antwortschreiben des Jugendamts legt beredt Zeugnis davon ab, für wie ineffizient man die Justiz bei der Herstellung von Sicherheit und Ordnung hielt. »Erfahrungsgemäß«, hieß es in dem Schreiben, »pflegen diese Verfahren nicht zu nützen, wenn sie überhaupt zur Verurteilung des Schuldners führen, was bei den vielen Wenn und Aber, an die das Verfahren geknüpft ist, zweifelhaft ist. Denn wenn die Verurteilung zu einer Geldstrafe erfolgt, so wird sie in den meisten Fällen, da sie nicht hoch genug ist, bezahlt oder aber die geringere Haftstrafe wird im Winter gerne verbüsst.«44 41 Vgl. ebd., Poldir Mü, Vorführungsprotokoll, 8.5.1935. Ein überliefertes amtsärztliches Gutachten aus dem Jahr 1942 bestätigt diese Angabe. Vgl. ebd., Städtisches Gesundheitsamt München, 20.7.1942. 42 Ebd., Antrag Ortsfürsorgeverband Gräfeling, 25.2.1935. 43 Ebd. 44 Ebd., Amtsvormundschaft Bezirksjugendamt München-Land, 4.3.1935.
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Am 24. April 1935, zwei Monate nachdem der Ortsfürsorgeverband Gräfeling die »Einschaffung« des B. nach Dachau beantragt hatte, stellte auch das Städtische Wohlfahrtsamt München, bei dem B. kurz zuvor um Unterstützung gebeten hatte, einen Antrag auf »Vollzug des § 20 RFV«.45 In der Begründung rekurrierte es auf die schon ein Jahrzehnt währende behördliche Auseinandersetzung mit Rüdiger B., die den »Beweis« erbracht hätte, dass es sich um einen renitenten Wohlfahrtsunterstützungsempfänger, »Arbeitsverweigerer« und »säumigen Unterhaltszahler« handele. Am 8. Mai 1935 eröffnete die Polizeidirektion München Rüdiger B. den Einweisungsbeschluss. Drei Tage später überstellte man ihn nach Dachau. Er kam am 12. August nach drei Monaten KZ-Haft wieder frei. Doch endete die Verfolgungsgeschichte von Rüdiger B. keineswegs mit seiner Entlassung aus Dachau. Schon ein Jahr später, im Juli 1936, schlug ihn das Städtische Wohlfahrtsamt München für eine Verhaftung im Rahmen der bayerischen »Bettlerrazzia« vor. Doch konnte sich B. durch »Abtauchen« und häufigen Wohnungswechsel einer Festnahme entziehen. Auch der »Aktion Arbeitsscheu Reich« scheint er entgangen zu sein. Erst für den Juli 1942 ist ein erneuter Versuch des Jugendamtes München-Land dokumentiert, Rüdiger B. polizeilich zur Arbeit zu zwingen. Kurz zuvor hatte B. seine Beschäftigung als Pförtner beim Luftgaukommando VII aufgegeben, als man versuchte, ihn zu vollen Unterhaltsleistungen für seinen Sohn heranzuziehen. Außer dass sich die Indizienkette um ein weiteres »Beweisglied« für die »Arbeitsunwilligkeit« des B. verlängert hatte, führte das Jugendamt keine grundlegend neuen Vorwürfe gegen ihn ins Feld.46 Die von der Polizeidirektion München anberaumte amtsärztliche Untersuchung des B. kam zu dem Ergebnis, dass dieser nur beschränkt erwerbsfähig war. Das könnte erklären, warum die Polizeidirektion München es dabei beließ, ihn zu verwarnen und ihm einen polizeilichen Unterkommensauftrag zu erteilen.47 Im Gegensatz zu unzähligen anderen »säumigen Unterhaltszahlern«, »Asozialen« und »Arbeitsscheuen« mit einer ähnlichen Verfolgungsgeschichte war Rüdiger B. mit drei Monaten KZ-Haft in Dachau und einem polizeilichen Unterkommensauftrag »glimpflich« davongekommen. Trotz ärztlich attestierter Erwerbsbeschränkung hätte seine fortwährende Verweigerung von Pflichtarbeit und Unterhaltszahlungen leicht mit jahrelanger Lagerhaft enden können. Doch im Hinblick auf die Kontinuitäten der Ausgrenzung teilte er das Schicksal vieler anderer Häftlinge, die als »Asoziale« ins KZ gekommen waren: Noch am 14. April 1954 beschrieb das Amt für öffentliche Ordnung in München B. als »arbeitsscheue[n] Mensch[en], der wegen Unterhaltsverweigerung schon in das KZ eingewiesen war«.48 Wie aus seiner Akte hervorgeht, lebte Rüdiger B. bis zu 45 Ebd., Antrag Bezirksfürsorgeverband München-Stadt/Städtisches Wohlfahrtsamt, 24.4.1935. 46 Vgl. ebd., Schreiben Amtsvormundschaft Kreisjugendamt München-Land, 14.7.1942. 47 Vgl. ebd., Polizeipräsident München, Unterkommensauftrag, 20.7.1942. 48 Ebd., Aktennotiz Amt für öffentliche Ordnung München, 14.4.1954.
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seinem Tod in ärmlichen Verhältnissen. Auch nach 1945 kam er noch mehrfach mit den staatlichen Behörden in Konflikt.
6.4 »Vorbeugungshaftverfahren« gegen »Berufsverbrecher« in Preußen Nur zwei Wochen nachdem der preußische »Vorbeugungshafterlass« die Kriminalpolizei zur präventiven Verhaftung von Mehrfachstraftätern ermächtigt hatte, war das vorgeschriebene Verhaftungskontingent nahezu vollständig ausgeschöpft. Ähnlich wie die Wohlfahrtsbehörden den § 20 RFV als Instrument nutzten, um langjährige lästige Klienten in die KZ einzuweisen, entledigte sich auch die Kripo zunächst jener Delinquenten, die über Jahre oder Jahrzehnte hinweg durch ihre notorische Straffälligkeit den Beamten vor Ort das alltägliche Scheitern des kriminalistischen Sisyphus besonders eindringlich vor Augen geführt hatten. Die Anwendungspraxis der »Vorbeugungshaft« kann daher als Geschichte der gewaltsamen Lösung sozialer Konflikte verstanden werden, die ihren Ausdruck auf der lokalen Ebene, in der konkreten Interaktion zwischen Orts- oder Kriminalpolizeibeamten und Delinquenten fanden. Ihre Ursprünge lagen – sowohl aus gesellschaftspolitischer Perspektive betrachtet als auch im Hinblick auf die jeweils involvierten Akteure – meist in der Zeit vor 1933. Dass sich die Verhaftungen insbesondere in der Anfangszeit auf lange polizeibekannte Mehrfachstraftäter konzentrierten, ergab sich wie eine selbsterfüllende Prophezeiung aus der Zielgruppendefinition der »Vorbeugungshaft«: Neben dem aus »Gewinnsucht« begangenen Verbrechen verfügte der Erlass, dass der Delinquent »der Kriminalpolizei als Berufsverbrecher bekannt« sein musste.49 Während die Frage, ob die Zielperson die formalen Anordnungsvoraussetzungen – Anzahl und Art der Vorstrafen sowie Dauer vorangegangener Haftzeiten – erfüllte, oft in einem Satz abgehandelt wurde, verwendeten die Antragsteller häufig weit mehr Aufmerksamkeit darauf, den Beweis für das Vorliegen dieser subjektiven Anordnungsvoraussetzungen zu führen. Überdies gingen viele Haftbegründungen auf das »volksschädigende Verhalten« und die »Gefährlichkeit« der Zielperson ein und erörterten, zumeist auf Grundlage des »kriminellen Lebenslaufs«, deren Rückfallprognose. Mit dem »volksschädigenden Verhalten« bezogen sie sich auf die Einleitung des Erlasses, in der das Preußische Innenministerium die Notwendigkeit der Kriminalprävention mit dem »Schaden« begründet hatte, den die »Berufsverbrecher« der »Volksgemeinschaft« zufügten.50 Der Begriff der »Gefahr« hingegen 49 GStAPK, I. HA. Rep. 84a, Nr. 8203, Geheimerlass PrMdI, 13.11.1933 [pr. Vorbeugungshafterlass]. 50 Vgl. ebd.
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spielte im preußischen »Vorbeugungshafterlass« keine so zentrale Rolle wie im »Gewohnheitsverbrechergesetz«.51 Sein Stellenwert ergab sich indirekt aus dem Bezug zur Reichstagsbrandverordnung und der jeder kriminalpräventiven Strategie zugrunde liegenden polizeirechtlichen Logik, deren Zweck per definitionem die »Gefahrenabwehr« ist. Der Rekurs auf die Rückfallprognose schließlich fand keinen Bezugspunkt im Text des Erlasses, sondern erklärte sich vermutlich aus dem kriminalistischen common sense: Seit dem Aufkommen der an »Verbrechertypen« orientierten modernen Kriminologie gehörte die Erstellung »krimineller Lebensläufe«, welche die Vergangenheit des »Verbrechers« beleuchteten, ebenso zum alltäglichen Routinehandeln der Beamten wie das Formulieren einer darauf basierenden Sozialprognose. Ein zweites Erklärungsmoment ist in der konzeptionellen Nähe des »Vorbeugungshafterlasses« zum »Gewohnheitsverbrechergesetz« zu sehen: Letzteres ging vom »inneren Hang zum Verbrechen« als zentralem Definitionsmerkmal der Zielgruppe aus und machte damit die Rückfallprognose zum wesentlichen Argument für die Anordnung der »Maßregeln der Sicherung und Besserung«. Da die Akteure, die in die Anordnung der »Vorbeugungshaft« involviert waren, diese mitunter begrifflich mit der »Sicherungsverwahrung« gleichsetzten, ist es wenig verwunderlich, dass auch die für die »Sicherungsverwahrung« vorgesehenen Anordnungsvoraussetzungen in die Begründungen für die Verhängung von »Vorbeugungshaft« Eingang fanden.52 Der Ablauf eines »Vorbeugungshaftverfahrens« soll im Folgenden anhand der Geschichte von Simon Z. dargestellt werden, den die Kripo Duisburg am 30. März 1934 in das KZ Lichtenburg bringen ließ. Von dort kam Z. am 25. Februar 1935 nach Esterwegen. Am 23. Dezember 1935, nach knapp 20 Monaten Haft, erlangte er die Freiheit wieder. Das Polizeipräsidium Duisburg stellte ihn zunächst unter planmäßige polizeiliche Überwachung, hob diese aber zwei Jahre später wegen »guter Führung« auf.53 Simon Z. scheint anschließend nicht wieder straffällig geworden zu sein. Doch wie war es zu seiner KZ-Einweisung gekommen? Der Jahresbeginn 1934 stand für den 26-jährigen Simon Z. zunächst ganz im Zeichen seiner Entlassung aus der Strafanstalt Wuppertal, die am 13. Januar erfolgte. Obgleich man ihn umgehend unter Polizeiaufsicht stellte, ordnete die 51 Der preußische »Vorbeugungshafterlass« vom 13. November 1933 bezog sich an zwei Stellen auf die »Gefährlichkeit« der Zielgruppe. Zum einen machte er die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zum Kriterium der Haftanordnung bei sogenannten »Gemeingefährlichen«. Ein weiteres Mal erwähnte er die »Gefährlichkeit« im Zusammenhang mit der festgesetzten Verhaftungsquote: »Bei der Auswahl der mit der Vorbeugungshaft zu treffenden vorbestraften Berufsverbrecher ist bei gleicher Gefährlichkeit zunächst auf unverheiratete und dann auf kinderlos Verheiratete zurückzugreifen.« Ebd. Verhaftet werden sollten also Männer, die keine unterhaltsberechtigten Angehörigen hatten, die – schickte man den Familienernährer ins KZ – vom Wohlfahrtsamt hätten unterstützt werden m üssen. 52 Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 203. 53 Vgl. LAV NRW R, BR 1111, Nr. 232, Schreiben an Kriminalpolizei Essen, 17.2.1938.
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Kripo Duisburg am 25. März »Vorbeugungshaft« an. In der Haftbegründung hieß es: »Z. genießt hier seit zehn Jahren den denkbar schlechtesten Ruf. Seine Diebstähle und sonstigen Taten führte er stets mit der größten Verwegenheit und Raffinesse aus. Es hat stets schwer gehalten, ihn zu überführen [sic]. Den Polizeiorganen ist er stets in frecher und herausfordernder Weise entgegen getreten. Bei der Ausführung seiner Straftaten konnte nie von Not die Rede sein. Außer Gewinnsucht lag Hang zum Verbrechertum bei ihm vor. Z. hat noch nie nach seiner Tat Reue gezeigt.«54
Mit dem »schlechten Ruf« spielte die Kripo Duisburg offenbar auf die im Erlass vorgegebene subjektive Anordnungsvoraussetzung an, der zufolge die Zielperson der Kriminalpolizei als »Berufsverbrecher« bekannt sein musste. Durch den Hinweis, Z. habe sich gegenüber den Polizeibeamten fortwährend »frech« und »herausfordernd« benommen, verstärkte der Verfasser der Haftbegründung dieses Argument.55 Der Ausdruck »Berufsverbrecher« hingegen, findet in der ganzen Haftbegründung kein einziges Mal Verwendung.56 Dennoch bezieht sich das Schreiben an mehreren Stellen deutlich auf die Charakteristika, die laut zeitgenössischer Kriminologie diesen »Verbrechertyp« auszeichneten: Neben der »Gewinnsucht«,57 die ja die zweite subjektive Anordnungsvoraussetzung der »Vorbeugungshaft« bildete, betonte der Verfasser den Mut und das Geschick, mit denen Z. seine Taten ausführte. Damit rekurrierte er auf die Spezialisierung und das »handwerkliche Können«, die schon nach Heindl dem »Berufsverbrecher« zu Eigen waren. Gleich zu Beginn hieß es außerdem, Z. sei »13 Mal wegen Eigentumsvergehen vorbestraft«.58 Anhand dieser Schilderung vermochte jeder kriminologisch geschulte Leser unschwer den »Berufsverbrecher« in Simon Z. zu erkennen. Damit aber nicht genug: Der Verfasser der Haftbegründung unterstellte Z. zwei weitere Eigenschaften, die in der zeitgenössischen Kriminologie zur Typisierung von Mehrfachstraftätern dienten. Ob dies gezielt geschah oder 54 Ebd., Kriminalpolizei Duisburg, Begründung Vorbeugungshaft, 25.3.1934. 55 In anderen Haftbegründungen stellte die Kripo Duisburg einen direkten Bezug zu dieser Anordnungsvoraussetzung her. So hieß es über Christoph H.: »H. ist ein Mensch, der vor keiner Straftat zurückschreckt. Er ist unbedingt als Berufsverbrecher anzusprechen.« Ebd., Nr. 96, Kriminalpolizei Duisburg, Begründung Vorbeugungshaft, 24.3.1934. Mitunter scheute die Polizei aber auch nicht vor fragwürdigen Argumentationen zurück. Im »Vorbeugungshaftverfahren« gegen Reiner H. musste der »Feldhüter Dick aus Gleuel« als Zeuge für »Ruf und Führung« des Häftlings herhalten. Ebd., BR 2034 VH I, Nr. 8, Ortspolizei Gleuel, Krimineller Lebenslauf, 24.3.1934. 56 In anderen Dokumenten, z. B. in den Führungsberichten der KZ-Kommandanturen und in einem Schreiben der Kripo Duisburg (27. Juli 1935), wird Simon Z. explizit als »Berufsverbrecher« bezeichnet. Vgl. ebd., BR 1111, Nr. 232. 57 Um das Kriterium der »Gewinnsucht« zu verstärken, beschrieben viele Haftbegründungen die Betroffenen zusätzlich als »arbeitsscheu«. Vgl. ebd., Nr. 96, Kriminalpolizei Duisburg, Begründung Vorbeugungshaft, 24.3.1934; Hörath, Volksgenossen, S. 322–324. 58 Ebd., Nr. 232, Kriminalpolizei Duisburg, Begründung Vorbeugungshaft, 25.3.1934.
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sich aus Unsicherheiten in der Begründung der neuen Haftart erklärte,59 muss hier offen bleiben. Resultat war jedenfalls eine Überschneidung verschiedener »Verbrechertypen«: Indem die Haftbegründung Simon Z. neben der »Gewinnsucht«, dem Merkmal des »Berufsverbrechers«, auch noch einen »Hang zum Verbrechertum« zuschrieb, schilderte sie ihn gleichzeitig als »Gewohnheitsverbrecher«.60 Verstärkt wurde dieses Argument durch die Betonung der mangelnden Reue. Dadurch beschrieb die Haftbegründung Simon Z. als typischen Rückfallstraftäter, der sich dem Strafzweck klassischer Freiheitsstrafen gegenüber als resistent erwiesen hatte. Wo das klassische Strafrecht versagte, könnte der Antragsteller damit suggeriert haben wollen, war es an der Zeit, die modernen »Maßregeln der Sicherung und Besserung« anzuwenden, zu denen gewissermaßen auch die »Vorbeugungshaft« gehörte. Die objektiven Anordnungsvoraussetzungen der »Vorbeugungshaft« sah die Kripo Duisburg im Falle von Simon Z. offenbar als erfüllt an, hielt sich mit deren Erörterung aber nicht auf. Während die Haftbegründung lediglich auf die 13 Vorstrafen wegen Eigentumsdelikten verwies, hieß es an anderer Stelle: »Z. ist in einer Zeitspanne von drei Jahren acht Mal, darunter mit einem Jahre sechs Monaten Zuchthaus und Nebenstrafen bestraft.«61 Ob sich darunter, wie im »Vorbeugungshafterlass« gefordert, zwei weitere Freiheitsstrafen wegen eines aus »Gewinnsucht« begangenen Verbrechens von mindestens einem halben Jahr Dauer befanden, blieb in den Stellungnahmen der Kripo Duisburg zwar offen;62 tatsächlich entsprach das Vorstrafenregister, das durch die vom Landgericht Duisburg bzw. vom Amtsgericht Hamborn beschlossenen Zusammenführungen mehrerer Einzelstrafen recht unübersichtlich war, aber den Vorgaben. Weit mehr Bedeutung als den objektiven Anordnungsvoraussetzungen maß die Stellungnahmen der Kripo Duisburg dem Arbeitsaufwand bei, den Simon Z. den Beamten über viele Jahre hinweg verursacht hatte. Nicht nur aufgrund seiner »Verwegenheit« und »Raffinesse« war Z. kaum zu überführen. Erschwerend hinzu kam, dass er sich mitunter »wohnunglos umhertrieb«.63 »Erst nach
59 In der Akte heißt es an mehreren Stellen, Z. sei im KZ Lichtenburg bzw. Esterwegen in »Sicher ungsverwahrung«. Vgl. ebd. Ähnliche begriffliche Überschneidungen sind auch in anderen Fällen zu beobachten. Vgl. ebd., Nr. 96, Kriminalpolizei Duisburg, Begründung Vorbeugungshaft, 24.3.1934. 60 Möglicherweise hatte sich der Verfasser durch die virulenten Debatten über die Auslegung des »Gewohnheitsverbrechergesetzes« zu dieser Formulierung inspirieren lassen. Knapp einen Monat nach der Inhaftierung von Simon Z. erging das Urteil des Reichsgerichts, das den »inneren Hang« zum wesentlichen Definitionskriterium des »Gewohnheitsverbrechers« erklärte. 61 Ebd., Nr. 232, Schreiben Kriminalpolizei Duisburg, 27.7.1935. 62 Auch über Christoph H. vermerkte die Kripo Duisburg lediglich: »Er ist 27 Mal wegen verschiedener Delikte vorbestraft«. Ebd., Nr. 96, Kriminalpolizei Duisburg, Begründung Vorbeugungshaft, 24.3.1934. 63 Ebd., Nr. 232, Schreiben Kriminalpolizei Duisburg, 23.11.1934.
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vielen zeitraubenden Umfragen und vertraulichen Ermittlungen«64 war es den Kriminalbeamten in der Vergangenheit gelungen festzustellen, wo der Gesuchte sich aufhielt. Solche Schilderungen lehnten sich deutlich an das Postulat des Preußischen Innenministeriums an, das in der Einleitung des »Vorbeugungshafterlasses« die Notwendigkeit kriminalpräventiver Maßnahmen damit begründet hatte, dass den gegen »Berufsverbrecher« angestrengten Gerichtsverfahren, sofern sie überhaupt zu Stande kamen, »stets ein oft schwieriges, meistens langwieriges und kostspieliges Ermittlungs- und Untersuchungsverfahren voraus gehe«,65 was den Staatshaushalt erheblich belaste. Möglicherweise hatte sich die Kripo Duisburg überdies durch jene Passage des »Vorbeugungshafterlasses« inspirieren lassen, die auf die Geschichte der Gebrüder Saß Bezug nahm, deren Unüberführbarkeit die Weimarer Kriminalpolizei in Angst und Schrecken versetzt und zum Gespött der Boulevardpresse hatte werden lassen. Allerdings sagen solche Bemerkungen mehr über die persönlichen Beziehungen der Duisburger Kriminalbeamten zu Simon Z. aus, als über die Frage, ob sein Vorstrafenregister und seine Täterpersönlichkeit den Anordnungsvoraussetzungen der »Vorbeugungshaft« entsprachen. Sie enthüllen einmal mehr den Frust des kriminalistischen Sisyphus über sein alltägliches Scheitern. Der Hinweis auf die notorische Unüberführbarkeit von Simon Z. macht aber noch etwas deutlich: Der Kripo Duisburg lagen keinerlei Beweise für eine aktuelle Straftat vor. Nicht einmal Anhaltspunkte für einen konkreten Tatverdacht sind in den überlieferten Dokumenten zu finden. Damit bestätigt auch die Haftpraxis, dass die »Vorbeugungshaft« radikal straftatunabhängig war. Obgleich die »Vorbeugungshaft« in ihrer rechtlichen Konzeption gezielt so angelegt war, könnte der fehlende Tatverdacht eine weitere Erklärung liefern, warum die »Vorbeugungshaftbefehle« häufig eine Rückfallprognose enthalten, obwohl der Erlass dies gar nicht forderte. Im Fall von Simon Z. machte die Beschreibung des familiären Umfeldes und die daraus abgeleitete negative Sozialprognose etwa die Hälfte der gesamten Haftbegründung aus. Dabei wurde die gesamte Familie Z. kriminalisiert:66 Nach Ansicht der Kriminalpolizei bildete der Kohlenhandel des Vaters die Ausgangsbasis, von der aus Simon Z. seine Straftaten beging. Da Z. im Anschluss an seine Entlassung aus der Strafanstalt Wuppertal wieder »im Geschäft seines
64 Ebd. Ähnlich fruchtlos gestaltete sich die Ermittlungsarbeit im Fall von Christoph H. Ihm unterstellte die Kripo sogar gezielte Täuschungsmanöver, mit denen er sich die Gelegenheit zur Flucht verschafft habe. Vgl. ebd., Nr. 96, Kriminalpolizei Duisburg, Begründung Vorbeugungshaft, 24.3.1934. 65 GStAPK, I. HA. Rep. 84a, Nr. 8203, Geheimerlass PrMdI, 13.11.1933 [pr. Vorbeugungshafterlass]. 66 Ein weiteres Mitglied der Familie, Linus Z., nahm die Kripo Duisburg im Rahmen der reichsweiten Verhaftungsaktion im März 1937 in »Vorbeugungshaft«. Vgl. LAV NRW R, BR 1111, Nr. 131.
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Vaters tätig«67 war, ging die Kripo Duisburg davon aus, dass er »diese Gelegenheit genau wie früher wahrnehmen und in seine alten Fehler [zurück]fallen«68 werde. Erschwerend kam laut Haftbegründung der schlechte Einfluss der Eltern hinzu. Diese hätten »ihren Sohn Simon niemals energisch zum Guten angehalten«.69 Sie selbst stünden »hier in keinem guten Rufe«.70 Der Vater sei seit längerem der Hehlerei verdächtig, und die Mutter habe die Straftaten ihres Sohnes stets gedeckt.71 Angesichts dessen fiel die Rückfallprognose der Kripo Duisburg denkbar ungünstig aus: »Simon Z. wird nach Lage der Sache«, schloss der Verfasser die Haftbegründung, »keine Gewähr bieten, dass er vorerst ein brauchbares Glied der menschlichen Gesellschaft wird«.72 Hinter dieser Einschätzung stand ein 15-jähriger Dauerkonflikt zwischen der Duisburger Polizei und der Familie Z. »Z. war noch ein Schulkind, als er mit der Polizei erstmalig wegen Geringfügigkeiten in Konflikt geriet«,73 heißt es in seiner Akte. Das Gewicht, das dieser persönlich geprägten Konfliktgeschichte in dem »Vorbeugungshaftverfahren« zukam, trat zu Tage, als der Vater von Simon Z. am 4. April 1934 ein Entlassungsgesuch stellte. In diesem Zusammenhang verfasste die Kripo Duisburg mehrere Stellungnahmen, in denen sie ihre ursprüngliche Haftbegründung ausführlich rechtfertigte.74 Man habe den Fall »gewissenhafte[n] Prüfungen« unterzogen und »eingehende Ermittlungen in der früheren und jetzigen Nachbarschaft der Familie Z.« angestellt.75 Überdies verbürgten sich »neun Beamte der Kriminalinspektion III in Hamborn« als »Gewährsleute« für den schlechten Ruf der Familie Z.76 Eine Passage aus deren negativem Leumundszeugnis zeigt exemplarisch, welche Vorfälle zu einer Einstufung als »unverbesserlicher Verbrecher« führen konnte, und welcher Art die Konflikte waren, die zu so verhängnisvollen Sozialprognosen wie im Fall des Simon Z. führten: »Die Beamten berichten u. a. über einen […] Vorgang aus dem Jahre 1919 auf der Wache […] in Hamborn: Eines Nachts wurde […] gemeldet, dass eine Polizeistreife den Simon Z. [er war gerade zwölf Jahre alt, d. Vf.] nach Mitternacht mit seinem jüngeren Bruder herumstrolchend auf der Straße aufgegriffen und den Eltern zugeführt hätte. 67 Ebd., Nr. 232, Kriminalpolizei Duisburg, Begründung Vorbeugungshaft, 25.3.1934. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Vgl. ebd., Schreiben Kriminalpolizei Duisburg, 9.11.1934. 72 Ebd., Kriminalpolizei Duisburg, Begründung Vorbeugungshaft, 25.3.1934. 73 Ebd., Schreiben Kriminalpolizei Duisburg, 9.11.1934. 74 Vgl. ebd., Bericht Kriminalassistent Strauss, 15.11.1934; ebd., Schreiben Kriminalpolizei Duisburg, 9.11.1934; ebd., Schreiben Kriminalpolizei Duisburg, 23.11.1934. Der Regierungspräsident in Düsseldorf hatte das Entlassungsgesuch des Vaters bereits am 22. August 1934 abgelehnt. Warum die Kripo Duisburg noch im November mit viel Aufwand ihren negativen Bescheid begründete, geht aus der Akte nicht hervor. 75 Ebd., Schreiben Kriminalpolizei Duisburg, 9.11.1934. 76 Ebd., Schreiben Kriminalpolizei Duisburg, 23.11.1934.
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Bald darauf erschien der Vater Z. auf der Wache und führte lebhafte Beschwerde darüber, dass Polizeibeamte sich um seine Kinder gekümmert hätten. Er gestatte seinen Kindern, zu jeder Tages- und Nachtzeit auf der Straße herumzulaufen, ohne dass Polizeibeamte sich darum zu kümmern hätten. Jeder Versuch, den Vater von seiner […] Auffassung abzubringen, scheiterte. Die damalige Wohnung der Familie Z. lag in unmittelbarer Nähe der Polizeiwache […]. Simon Z. ist den hier tätigen Beamten wiederholt aufgefallen. Auch von der Peterschule, die er besuchte, wurden beim Revier Klagen über [sein] ungezügeltes Treiben […] vorgebracht. Immer ist, wie die Beamten berichten, […] jede Anregung bei den Eltern, auf ihren Sohn erzieherisch einzuwirken, vergeblich geblieben.«77
Der Bericht der Duisburger Kriminalbeamten zeigt deutlich, dass in der Vorkriegszeit oft nicht die »Gefährlichkeit« des Straftäters, sondern eine Aneinanderreihung subjektiver »Ärgernisse« für die KZ-Einweisung ausschlaggebend war. Mit zunehmender Ausweitung der Haftpraxis anonymisierte sich das »Vorbeugungshaftverfahren«, denn die Zahl der in Freiheit befindlichen, langjährig polizeibekannten »Berufsverbrecher« reduzierte sich im Laufe der Jahre. Eine nicht näher bestimmbare Anzahl von ihnen zählte gleich zu den ersten Opfern der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung«. Zwar kamen viele, so wie Simon Z., nach einer Weile wieder frei. Einige verließen die KZ aber erst nach Kriegsende wieder, sofern sie überhaupt überlebten. Doch selbst bei den großen Massenverhaftungen 1937/38, bei denen die lokalen Behörden ihre Verhaftungsvorschläge an die übergeordneten Stellen weiterleiteten, lassen sich noch ähnlich persönlich geprägte Konfliktgeschichten finden wie im Falle der Familie Z. Denn trotz Terrordrohung und Repression rissen die üblichen Konflikte zwischen Staat und Randgruppen während der gesamten zwölfjährigen Dauer der NS-Herrschaft nie ganz ab, sondern schufen ständig neue Anlässe für polizeiliche oder auch wohlfahrtspflegerische Interventionen.
6.5 »Vorbeugungshaftverfahren« gegen »asoziale« Frauen in Thüringen Der thüringische Erlass vom 20. Juli 1935 ermöglichte es, geschlechtskranke Patientinnen der Landesheilanstalt Stadtroda in »Vorbeugungshaft« zu nehmen, die als »asozial« und »volksschädlich« galten. Man wollte dadurch verhindern, dass die Frauen »ihr früheres Dirnenleben oder ihren sonstigen unmoralischen Lebenswandel« wiederaufnahmen und »durch ihr schlechtes Beispiel auf die allgemeine Moralauffassung der Bevölkerung zersetzend« wirkten.78 Objektive Anordnungsvoraussetzungen für die »Vorbeugungshaft« hatte das Thüringische Innenministerium nicht formuliert, vielmehr machte es sie davon abhän77 Ebd. 78 Brumm, Maßnahmen, S. 7.
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gig, wie die antragsberechtigten Stellen, der Direktor der Universitätshautklinik Jena und der Leiter der Landesheilanstalt Stadtroda, den Charakter und die Sozialprognose der Zielperson einschätzten. Auf was für eine soziale Vergangenheit jene Frauen zurückblickten, welche die Anstaltsleiter aufgrund »ihrer gesamten asozialen Einstellung« oder »geistiger Defekte« für »unverbesserlich« hielten und in »Vorbeugungshaft« nehmen ließen,79 verdeutlicht die Geschichte von Hedwig H. aus Apolda. Als sie am 24. Oktober 1936 in das Frauen-KZ Moringen eingeliefert wurde, war sie knapp 22 Jahre alt. Dennoch lagen bereits zahlreiche Konfrontationen mit den Organen der Jugendfürsorge, dem Gesundheitsamt und der Polizei hinter ihr. Hedwig H. kam 1914 als »außereheliches« Kind zur Welt, denn ihre Mutter war zum Zeitpunkt der Geburt bereits verwitwet. Angeblich war H. schon im Alter von zehn Jahren »kriminell in Erscheinung getreten«, als sie »im Stadtbad einem anderen Kind ein Paar Schuhe« stahl.80 »Da sie immer herumstromerte und sehr schwer zu erziehen war«81 brachte man sie im September 1926 im städtischen Kinderheim in Apolda unter. Damit begann für Hedwig H. eine lange Odyssee durch zahlreiche staatliche Fürsorgeanstalten. Grund für den häufigen Wechsel waren die fortwährenden Konflikte, in die H. mit dem Anstaltspersonal geriet. Schon wenige Monate nach der Ankunft im Kinderheim Apolda, im Januar 1927, versuchte die Leiterin das Mädchen wieder aus der Einrichtung zu entfernen, da die Zwölfeinhalbjährige durch ihr »sittliches Verhalten« die anderen Kinder »verderbe«.82 Hedwig H. unterhielt, wie es hieß, in der Stadt eine Beziehung zu einem älteren Lehrling und war »deshalb sexuell so gut unterrichtet«.83 Das Amtsgericht ordnete Fürsorgeerziehung an und man brachte H. Mitte März in die »Verwahrungsabteilung« der Landesheilanstalt Stadtroda. Im Mai 1927 schickte man sie in das Karl-Marienhaus in Ebeleben, wo sie bis Juni 1929 blieb. Unterbrochen von einem kurzen Aufenthalt in der Obhut ihrer Mutter folgte bis zur Erlangung der Volljährigkeit im Alter von 19 Jahren die Unterbringung in zwei weiteren Erziehungsheimen. Noch während ihrer Heimaufenthalte war Hedwig H., nachdem sie die Volksschule beendet hatte, in verschiedene Stellungen vermittelt worden. Doch »führte [sie] sich« laut Darstellung der Behörden auch dort »so auf, dass sie niemand mehr um sich haben wollte«.84 Statt zu arbeiten, »trieb [sie] sich in Schankwirtschaften und obdachlos umher«.85
79 Ebd., S. 10. 80 NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 128, Aktenauszug ThMdI, [o. D.]. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Ebd.
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Am 9. Oktober 1934 denunzierte die Mutter Hedwig H. beim Jugendamt wegen Prostitution und forderte ihre Unterbringung in einem Arbeitshaus.86 Da aber eine Geschlechtskrankheit bei H. diagnostiziert wurde, wies man sie zur Zwangsbehandlung in die Universitätshautklinik Jena ein. Nach vier Monaten unfreiwilligem Klinikaufenthalt unternahm H. am 9. Februar 1935 gemeinsam mit vier anderen Patientinnen einen Fluchtversuch, doch die Polizei griff sie schnell wieder auf.87 Am 29. Mai 1935 verurteilte das Amtsgericht Jena sie dann wegen eines sogenannten »Kontrollvergehens«.88 Außerdem lag ein Antrag auf Zwangssterilisation vor, für den vermutlich entweder der Direktor der Universitätshautklinik Jena, Professor Hämel, oder der Leiter der Landesheilanstalt Stadtroda, Obermedizinalrat Boening, verantwortlich zeichnete. Der operative Eingriff erfolgte Ende September 1935 in Jena. Anschließend hätte die junge Frau ihre Freiheit wiedererlangen müssen, denn es ist davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt der Sterilisation die Geschlechtskrankheit ausgeheilt war, die ihre Zwangsunterbringung begründet hatte. Doch statt Hedwig H. zu entlassen, verhängte die Landeskriminalpolizeistelle Weimar am 21. September 1935 »Vorbeugungshaft« gegen sie. Wenn sie nicht schon zuvor in die Landesheilanstalt gebracht worden war, überstellte man sie spätestens jetzt in die »geschlossene Abteilung für asoziale Geschlechtskranke«89 in Stadtroda. Wer die »Vorbeugungshaft« beantragte, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Der Fall einer anderen jungen Frau, Elfriede K., bestätigt aber, dass die Verantwortlichen in Jena und Stadtroda den im Erlass vorgeschriebenen Instanzenweg bei der Anordnung der »Vorbeugungshaft« einhielten.90 Elfriede K., bei ih86 Dass mitunter die Eltern der Frauen bei den Behörden um die »Verwahrung« ihrer Töchter baten, bestätigen auch mehrere Fallbeispiele, die Brumm in seiner 1937 publizierte Dissertation vorstellt. Zwar ist der Autor ein Apologet der Zwangsunterbringung »asozialer« Frauen. Da aber auch unabhängige Quellen über derartige Denunziationen berichten, sind Brumms Angaben in diesem Punkt zwar vielleicht etwas übertrieben, aber grundsätzlich glaubwürdig. Vgl. Brumm, Maßnahmen, S. 20, 23, 43 f. 87 Für die Geschichte einer zweiten Beteiligten vgl. ebd., S. 21–23. 88 Geschlechtskrankheiten galten gemäß dem »Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« vom 18. Februar 1927 als meldepflichtig. Stellte ein Arzt eine entsprechende Diagnose, musste er sie dem Gesundheitsamt melden. Die Betroffenen konnten dann polizeilich zu Kontrolluntersuchungen verpflichtet werden. Das geschah meist dann, wenn gleichzeitig ein Verdacht auf Prostitution vorlag oder wenn eine Frau offiziell bei der Polizei als Prostituierte registriert war. Als »Kontrollvergehen« bezeichnete man es, wenn die Betroffenen die polizeilich angeordneten Untersuchungen versäumten. § 327 RStGB belegte ein solches Vergehen mit einer Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren. Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 184–196; Schikorra, Kontinuitäten, S. 42–50. 89 Brumm, Maßnahmen, S. 6. 90 Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 192, Direktor Universitätshautklinik Jena, Vorbeugungshaftantrag, 5.12.1936. Der Antrag ähnelt in Argumentationsaufbau und Sprachduktus dem bereits mehrfach zitierten, undatierten Schriftstück aus der
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rer Inhaftierung 26 Jahre alt und Mutter von vier unehelichen Kindern, wurde zwei Mal in der Universitätshautklinik Jena wegen einer Geschlechtskrankheit behandelt. Sie galt zwar als »arbeitswillig«, denn sie hatte ihren Lebensunterhalt als Hausmädchen in Hotels und Gastwirtschaften bestritten; laut Hämel war sie aber ein »leichtfertiger Mensch«, »dem jede Lebensauffassung, jeder Ernst« fehlte.91 Während ihres ersten Klinikaufenthaltes habe sie »sich derart aufsässig« betragen, »dass ihre Verlegung nach der geschlossenen Abteilung erforderlich wurde«.92 Kurz nach ihrer ersten Entlassung diagnostizierte man bei ihr erneut eine Geschlechtskrankheit. Die Behandlung erfolgte zunächst ambulant. Nachdem sie aber angeblich zwei Soldaten angesteckt hatte, wies man K. wieder zur Zwangsbehandlung in die Universitätshautklinik Jena ein. Nach Hämels Auffassung bildete sie eine »Infektionsquelle«, hatte sie doch »durch ihren Lebenswandel gezeigt,« »dass sie nicht gewillt war, den Vorschriften nachzukommen, die im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Volksgesundheit« erlassen worden waren.93 Damit erfüllte sie die Voraussetzungen für eine »Verlegung nach der asozialen Abteilung für Geschlechtskranke in Stadtroda«.94 Gleichzeitig setzte man das »Vorbeugungshaftverfahren« in Gang, denn mit der negativen Sozialprognose und dem Verweis auf die »Gefährdung« der Öffentlichkeit waren zentrale Haftkriterien angesprochen. Am 21. Oktober 1936 traf Elfriede K. in Stadtroda ein, wo sie Obermedizinalrat Boening einem psychiatrischen Begutachtungsverfahren unterzog.95 Er kam dabei zu widersprüchlichen Ergebnissen: Einerseits bescheinigte Boening der Akte von Hedwig H. Das legt die Vermutung nahe, dass es sich bei diesem Dokument ebenfalls um einen Haftantrag Hämels handeln könnte. Vgl. ebd., Nr. 128, Aktenauszug ThMdI, [o. D.]. In der Akte einer dritten aus Thüringen stammenden Frau ist auch die im »Vorbeugungshafterlass« geforderte Bestätigung der Haft durch den Reichsstatthalter und Leiter des Thüringischen Innenministeriums Fritz Sauckel überliefert. Der Vorgang macht deutlich, dass die Landeskriminalpolizeistelle Weimar bei der Verhängung der »Vorbeugungshaft« im Vorgriff auf die Bestätigung Sauckels handelte. Am 25. November 1936 stellte sie den Haftbefehl für die betroffene Frau, Edith M., aus. Er erlangte zum 1. Dezember Wirkung. Die Bestätigung Sauckels erfolgte erst vier Tage später. Vgl. ebd., Nr. 242. 91 Ebd., Nr. 192, Direktor Universitätshautklinik Jena, Vorbeugungshaftantrag, 5.12.1936. 92 Ebd. 93 Vgl. ebd. 94 Vgl. ebd. 95 Die Selbstverständlichkeit, mit der sowohl die Haftbegründung Hämels als auch die Dissertation von Brumm auf die psychiatrische Beurteilung der Frauen in Stadtroda verweisen, legt nahe, dass es sich um ein übliches Verfahren bei der Verhängung der »Vorbeugungshaft« handelte. Diese These wird dadurch bekräftigt, dass der einschlägige Erlass des Thüringischen Innenministeriums die »seelische Veranlagung« der Frauen zum Haftkriterium machte. ThRdErl Vorbeugungshaft [dritter thür. Vorbeugungshafterlass], BMstP 1935, S. 127. Vermutlich wurde die erforderliche Sozialprognose im Rahmen einer psychiatrischen Begutachtung erstellt. Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 192, Direktor Universitätshautklinik Jena, Vorbeugungshaftantrag, 5.12.1936; Brumm, Maßnahmen, S. 8.
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K. »intellektuell durchschnittlich[e]« Fähigkeiten und räumte ein, sie habe sich »auf der Station gut eingefügt«, mache »äußerlich keine Disziplinschwierigkeiten« und sei »ausgeglichener Stimmung«. Auch ihre Arbeit sei »an und für sich sauber und ordentlich«. Allerdings wertete er diese positiven Verhaltensweisen offenbar als Ergebnis ihres »berechnend[en]«, »beherrscht[en]« Charakters. Mitunter könne sie aber auch »bockig und trotzig werden« und sei »manchmal etwas verbissen«. Sie bedürfe daher einer »längere[n] Disziplinierung«. Deswegen und aufgrund »ihres Vorlebens« schlug Boening sie für die »Vorbeugungshaft« vor.96 Professor Hämel schloss sich diesem Vorschlag an und formulierte den Haftantrag. Vergleicht man sein Schreiben mit den im Erlass formulierten Anordnungsvoraussetzungen, fällt auf, dass unklar bleibt, worin genau der »von der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten völlig losgelöste[r] polizeiliche[r] Tatbestand«97 gelegen haben soll. Da auch die anderen vorliegenden Haftbegründungen Hämels nicht eindeutig auf dieses Kriterium Bezug nehmen,98 liegt die Vermutung nahe, dass man damit schlicht den unterstellten »unmoralischen Lebenswandel« bzw. den angeblich drohenden Rückfall der Frauen in »ihr früheres Dirnenleben« meinte.99 Eine solche Deutung korrespondiert auch mit der expliziten Zwecksetzung des Erlasses: Nicht vom Schutz vor ansteckenden Krankheiten war dort die Rede, sondern von der »Moralauffassung der Bevölkerung«,100 die vor dem »zersetzenden« Einfluss, den die Frauen durch ihr schlechtes Beispiel gaben, bewahrt werden musste. Was aber geschah nun mit den beiden jungen Frauen, die nach Auffassung der thüringischen Behörden einen solchen verderblichen Einfluss auf ihre Umgebung ausübten? Hedwig H. erlangte im Mai 1936, nach acht Monaten »Vorbeugungshaft« in der »Abteilung für asoziale Geschlechtskranke« der Landesheilanstalt Stadtroda, noch einmal für kurze Zeit die Freiheit wieder. Wie aus einem Schreiben des Oberbürgermeisters von Weimar hervorgeht, bestand bei den Behörden »über die Zeit nach ihrer Entlassung […] kein klares Bild«.101 Daraus zog der Bürgermeister den Schluss: »Sie scheint sich dann herumgetrieben zu haben«.102 Die Ereignisse, die schließlich zur Einlieferung der H. in das FrauenKZ Moringen führten, lassen sich anhand der vorliegenden Quellen nur bruch96 Das psychiatrische Gutachten ist im vollständigen Wortlaut zitiert in: NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 192, Direktor Universitätshautklinik Jena, Vorbeugungshaftantrag, 5.12.1936. 97 ThRdErl Vorbeugungshaft [dritter thür. Vorbeugungshafterlass], BMstP 1935, S. 127. 98 Vgl. NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 128, Aktenauszug ThMdI, [o. D.]; ebd., Nr. 242, Aktenauszug ThMdI, [o. D.]. 99 ThRdErl Vorbeugungshaft [dritter thür. Vorbeugungshafterlass], BMstP 1935, S. 127. 100 Ebd. 101 NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 128, Schreiben Oberbürgermeister Weimar/Landeswohlfahrtsamt, 18.1.1937. 102 Ebd.
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stückhaft rekonstruieren. Offenbar wurde sie am 15. Juni 1936 wegen Verdachts auf Prostitution erneut verhaftet. Am 27. Juni ordnete die Landeskriminalpolizeistelle Weimar »Vorbeugungshaft« an.103 Die Haftbestätigung durch Reichsstatthalter Sauckel erfolgte am 6. August. Gut sechs Wochen später wandelte Sauckel seinen Beschluss ab und verfügte die Überstellung der H. nach Moringen. Sie traf dort am 24. Oktober 1936 ein. Bei einer Haftprüfung Mitte März 1937 sprach sich der Direktor des Frauen-KZ Krack zunächst gegen eine Entlassung von Hedwig H. aus und schlug vor, sie mindestens ein Jahr im FrauenKZ zu belassen. In seinem Urteil stützte er sich mehr auf ihr Vorleben als auf ihr Verhalten in Moringen.104 Einen Monat bevor sich ihre Einlieferung zum ersten Mal jährte wandte Krack sich dann erneut an Sauckel und legte ihm nahe, Hedwig H. zu entlassen. Zuvor hatte er der jungen Frau Arbeit bei einem Bauern vermittelt. Nachdem der Reichsstatthalter die Entlassung bestätigt hatte, kam Hedwig H. am 20. Oktober 1937 frei und trat ihre Stelle als Landarbeiterin an. Elfriede K. blieb, nachdem die Landeskriminalpolizeistelle auf Hämels Antrag hin »Vorbeugungshaft« über sie verhängt hatte, zunächst in der »Abteilung für asoziale Geschlechtskranke« in Stadtroda untergebracht. Am 22. März 1937 wurde sie in Begleitung eines Polizeibeamten auf Transport in das Frauen-KZ Moringen geschickt, wo sie einen Tag später eintraf. Sie erlangte am 1. Januar 1938, nach knapp zehn Monaten KZ-Haft, die Freiheit wieder. Auch ihre Entlassung hatte Hugo Krack durch mehrere positive Führungszeugnisse und die Suche einer Arbeitsstelle unterstützt.105
6.6 »Vorbeugungshaftverfahren« gegen »Asoziale« und »Berufsverbrecher« in Baden Die Zielgruppe des badischen »Vorbeugungshafterlasses« vom 9. März 1934 ging über den Kreis von »Berufsverbrechern« hinaus, den die einschlägigen preußischen Regularien in den Anordnungsvoraussetzungen beschrieben hatten. Statt auf notorische Delinquenten bezogen sich die badischen Bestimmungen auf »asoziale und arbeitsscheue Personen«.106 Einzige Anordnungsvoraussetzung war, dass die fragliche Person durch ihr Verhalten »eine Gefahr für ihre Umwelt«107 darstellte. Die »Vorbeugungshaft« war der richterlich verfügten Arbeitshaushaft oder »Sicherungsverwahrung« nachrangig. Sie sollte nur dann 103 Vgl. ebd., Karteikarte Frauen-KZ Moringen. Möglicherweise wurde sie am 4. Juli 1936 »versuchsweise« entlassen, doch wenig später wieder verhaftet. Vgl. ebd., Schreiben Reichsstatthalter, Staatssekretär und Leiter des ThMdI, 26.5.1937. 104 Vgl. ebd., Führungsbericht KZ-Direktor Moringen, 13.3.1937. 105 Vgl. ebd., Nr. 192. 106 GLA Karlsruhe, 233, Nr. 25984, Schreiben BadMdI, 9.3.1934 [Vorbeugungshafterlass]. 107 Ebd.
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zur Anwendung kommen, wenn keines der erstgenannten Rechtsinstitute zur »Verwahrung« der Zielperson in Frage kam. Das Antragsrecht lag bei den Bezirksämtern. Die Anordnung der Haft erfolgte durch das badische LKPA. Indem das Badische Innenministerium auf eine Konkretisierung der Haftkriterien verzichtete, schuf es – ob intendiert oder zufällig, muss hier dahingestellt bleiben – einen Handlungsspielraum, den die Behörden voll ausschöpften. Die hohe Flexibilität des Erlasses, auf die schon im Zusammenhang mit den Ausführungen des badischen Kripo-Chefs Paul Werner zur »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« hingewiesen wurde,108 bestätigt sich auch in der Analyse der Haftpraxis. Nur gegen drei der insgesamt acht badischen »Vorbeugungshäftlinge«, über die persönliche Daten vorliegen,109 hätte auch in Preußen »Vorbeugungshaft« verhängt werden dürfen.110 Ihre Fallakten bestätigen, dass die »Vorbeugungshaft« anderen Formen der Zwangsunterbringung nachgeordnet war. Gegen keinen der drei »Berufsverbrecher« lag ein konkreter Tatverdacht vor, das heißt es stand kein Urteilsspruch in Aussicht, der mit der Anordnung von »Sicherungsverwahrung« oder Arbeitshaushaft hätte verbunden werden können. Bei einem der acht »Vorbeugungshäftlinge« war aufgrund der schlechten Lesbarkeit des Vorstrafenregisters kein Abgleich mit den preußischen Anordnungsvoraussetzungen möglich. Die übrigen vier Personen erfüllten die Vorgaben dagegen nicht. So wies das Vorstrafenregister von Friedhelm H., einem ledigen Eisenflechter aus Frankenthal in der Pfalz, zwar insgesamt 17 Einträge auf, wobei die Verurteilungen in der Mehrheit wegen Diebstahls und Betrugs erfolgten. Angesichts dieser Deliktstruktur »Gewinnsucht« zu unterstellen, lag aus kriminologischer Sicht durchaus nahe. Allerdings unterschritten die gegen H. verhängten Freiheitsstrafen das vom preußischen »Vorbeugungshafterlass« vorgesehene Mindeststrafmaß.111 Zwei weitere »Vorbeugungshäftlinge«, Justus S. und Konrad S., könnte man als kleinkriminelle »Raufbolde« bzw. »Querulanten« charakterisieren. Ihre Verurteilungen waren wegen Delikten wie Urkundenfälschung, Beleidigung, Erregung öffentlichen Ärgernisses und Körperverletzung erfolgt. Zwar hätte man der einen oder anderen Tat »Gewinnsucht« als Motiv zuschreiben können, jedoch erreichten weder Justus S. noch Konrad S. mit diesen Delikten das in Preußen geforderte Mindeststrafmaß.112 Das Strafregister des Arbeiters Fritz T. aus Lauterbach schließlich entsprach dem eines Bettlers und Landstreichers. Es wies zwar neun Einträge auf, der 30-Jährige hatte aber nie einen Freiheitsentzug erlitten, der länger als drei Monate 108 Vgl. Drei Jahre Landeskriminalpolizeiamt, BadPr, 1.9.1936. 109 Gegen alle acht Personen verhängte das LKPA in der ersten Jahreshälfte 1934 »Vorbeugungshaft«, gegen drei davon Ende März, also kurz nach Inkrafttreten des badischen »Vorbeugungshafterlasses«. 110 Vgl. die Strafregister in: GLA Karlsruhe, 521 Zug. 1982–48, Nr. 5893, Nr. 4618, Nr. 4655. 111 Vgl. ebd., Nr. 3059, Strafregister. 112 Vgl. die Strafregister in: ebd., Nr. 6427, Nr. 6936.
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dauerte.113 Im Jahre 1932 war er schon einmal für drei Monate im Arbeitshaus Kislau untergebracht. Vergleicht man die badischen Einweisungsbeschlüsse, fällt auf, dass sie stark formelhaften Charakter tragen und – genau wie der badische »Vorbeugungshafterlass« selbst – den Begriff »Vorbeugungshaft« nicht erwähnen. Ihre Betreffzeile lautet entweder »Maßnahmen gegen Gewohnheitsverbrecher«114 oder »Unterbringung des Schutzhäftlings […] im Landesarbeitshaus Kislau«115 bzw. »in der Landesarbeitsanstalt Kislau«.116 Die Bezeichnung »Schutzhäftling« ist nicht, wie man vielleicht meinen könnte, einer Irritation der Kripobeamten über die korrekte Bezeichnung der neu geschaffenen Haftart zuzuschreiben, sondern verweist auf einen interessanten Aspekt der badischen Haftpraxis, der im Folgenden noch erörtert wird. Den Bezug zum badischen »Vorbeugungshafterlass« stellen die Haftbefehle lediglich durch die nahezu wörtliche Wiedergabe der Anordnungsvoraussetzungen her: Das angesprochene Individuum sei »eine vielfach vorbestrafte, asoziale Persönlichkeit, die eine schwere Gefahr für die Umwelt bedeutet«.117 Sie werde »daher aufgrund des § 1 der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 bis auf weiteres in das Landesarbeitshaus Kislau eingewiesen«.118 Der Instanzenweg bei der Anordnung der »Vorbeugungshaft« lässt sich anhand der vorliegenden Akten nur bruchstückhaft rekonstruieren, da zwar die Einweisungsbeschlüsse des badischen LKPA, nicht aber die Haftanträge überliefert sind. In einigen Fällen finden sich aber Hinweise, dass die »Vorbeugungshaft« wie im badischen Erlass vorgesehen von den Bezirksämtern beantragt worden war.119 Überliefert sind außerdem drei Fälle, in denen das Badische Innenministerium die vom LKPA angeordnete »Vorbeugungshaft« genehmigte. Dabei fällt auf, dass die Bearbeitungszeit rund sechs Monate beanspruchte.120 Aus den entsprechenden Schreiben lässt sich schließen, dass das LKPA eine solche Genehmigung erbeten hatte. Eine entsprechende Vorschrift enthielt der badische »Vorbeugungshafterlass« nicht. Welche Verhaltensweisen bzw. sozialen Umstände dazu geführt hatten, dass eine Person als »asozial« und »Gefahr für die Umwelt« galt, geht aus den Führungsberichten und Leumundszeugnissen hervor, welche die Verwaltung des 113 Vgl. ebd., Nr. 7305, Strafregister. 114 Ebd., Nr. 6427, Verfügung BadLKPA, 24.3.1934; ebd., Nr. 6936, Verfügung BadLKPA, 26.3.1934; ebd., Nr. 7305, Verfügung BadLKPA, 24.3.1934. 115 Ebd., Nr. 5259, Verfügung BadLKPA, 7.6.1934; ebd., Nr. 4618, Verfügung BadLKPA, 7.6.1934; ebd., Nr. 4655, Verfügung BadLKPA, 7.6.1934. 116 Ebd., Nr. 3059, Verfügung BadLKPA, 6.4.1934. 117 Ebd., Nr. 4655, Verfügung BadLKPA, 7.6.1934. 118 Ebd. 119 Vgl. ebd., Nr. 4618, Schreiben KZ Kislau, 13.6.1934; ebd., Nr. 4655, Schreiben KZ Kislau, 13.6.1934; ebd., Nr. 7305, Verfügung BadLKPA, 24.3.1934. 120 Vgl. ebd., Nr. 4618, Schreiben BadMdI, 21.1.1935; ebd. Nr. 4655, Schreiben BadMdI, 21.1.1935; Nr. 5893, Schreiben BadMdI, 27.12.1934.
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Kislauer Arbeitshauses bei anderen Anstalten einholte. Außerdem führte man in Kislau eigene Erhebungen zur »erbbiologischen« Begutachtung der »Vorbeugungshäftlinge« durch und verschickte zu diesem Zweck Fragebögen an die Behörden und Honoratioren in deren Geburts- und Wohnorten. Gefragt wurde u. a. nach der »Aufführung und Befähigung in der Schule«, »früh aufgetretene[n] üble[n] Gewohnheiten« und »nach erbliche[n] Krankheitsanlagen in der Familie sowie darin etwa herrschende[n] Laster[n], insbesondere Trunksucht«.121 Der Pfarrer von Ludwigshafen am Rhein beispielsweise beschrieb daraufhin den Häftling Friedhelm H. als »einfältig, leichtsinnig, jedoch nicht frech«.122 Die »Erziehung durch die Pflegeeltern« sei »gut« gewesen, aber »gelegentlich« habe H. daheim Geld entwendet, »um es an seine Kameraden zu verteilen«.123 Im Hinblick auf mögliche Erbkrankheiten und Laster in der Familie konstatierte der Pfarrer: »Anscheinend verdorbenes Blut durch das leichtsinnige Leben des Vaters. Der Vater ist dem weibl[ichen] Geschlecht zu sehr zugetan gewesen, dagegen lag keine Trunksucht vor.«124 Wie derartige Persönlichkeitsbeurteilungen von Zwangsinstitution zu Zwangsinstitution weitergereicht wurden und sich dabei perpetuierten, weil jeder »Rückfall« die vorangegangene negative Sozialprognose zu bestätigen schien, veranschaulicht der Fall von Jasper O. Dieser hatte Teile seiner Jugend in Fürsorgeerziehung und mindestens ein Jahr in einer Heil- und Pflegeanstalt verbracht. Außerdem saß er in verschiedenen Strafanstalten ein. Anschließend war O. drei Mal als »Vorbeugungshäftling« in Kislau untergebracht.125 Die erste Haftzeit erstreckte sich vom 16. Juni bis zum 20. November 1934. An diesem Tag überstellte man ihn zur Zwangssterilisation in eine Klinik. O. entzog sich dem operativen Eingriff, indem er am darauffolgenden Tag floh. Fast ein Jahr lang konnte er untertauchen, bis er am 15. November 1935, angeblich von der bayerischen Grenzpolizeistelle Kufstein, aufgegriffen wurde.126 An die Verhaftung schloss sich der zweite Zwangsaufenthalt in Kislau an, der vom 28. November 1935 bis zum 1. April 1936 dauerte. Ein drittes Mal war Jasper O. vom 16. November 1936 bis zum 1. November 1937 in Kislau in »Vorbeugungshaft«.127 121 Ebd., Nr. 6427, Schreiben Direktor Landesarbeitshaus Kislau, 6.4.1934. 122 Ebd., Nr. 3059, Schreiben Protestantisches Pfarramt V Ludwigshafen am Rhein, 10.7.1934. 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Bevor das LKPA am 7. Juni 1934 »Vorbeugungshaft« gegen O. verhängte, befand sich dieser bereits als »Schutzhäftling« im KZ Kislau. Der »Vorbeugungshaftbeschluss« zog die Überstellung in das Arbeitshaus Kislau nach sich. Vgl. ebd., Nr. 5259, Schreiben KZ Kislau, 16.6.1934; ebd., Nr. 5259, Verfügung BadLKPA, 7.6.1934. 126 Diese Angabe ist vermutlich fehlerhaft, denn eine Grenzpolizeistelle Kufstein konnte nicht ermittelt werden. Vgl. Bachmann, Personenanfrage, E-Mails 15.2., 16.2., 18.2. und 22.2.2016. 127 Nur zwei Monate nach seiner Entlassung im April 1936 hatte ihn die Gestapo unter dubiosen Umständen in »Schutzhaft« genommen. Als Grund gab sie an, O. sei »dringend verdächtig[t]«, »an Versammlungen der illegalen kommunistischen Partei teilgenommen« zu haben. GLA Karlsruhe, 521 Zug. 1982–48, Nr. 5259, BadGestapa, Schutzhaftbefehl,
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Damit schien sich eine »Verbrecherlaufbahn« zu bestätigen, die in den Führungsberichten über O. schon seit vielen Jahren heraufbeschworen worden war. So hatte der Heimleiter einer Jugendfürsorgeanstalt bereits 1920 geschrieben: »Bei seiner Schulentlassung wurde er [bei einem] Bäckermeister […] in die Lehre gegeben. Schon nach wenigen Monaten flüchtete er, nachdem er Brotgelder im Werte von 5,64 RM unterschlagen hatte. Aus der Zwangserziehungserkenntnis [der amtlichen Anordnung der Fürsorgeerziehung, d. Vf.] geht hervor, dass der Junge schon 1909 auf Abwege geraten war und einen Hang zum Stehlen zeigte. Aus dem Jahre 1909 und 1910 werden eine ganze Reihe größerer und kleinerer Diebstähle aufgeführt. Die Eltern erklärten sich außerstande, den Burschen zu erziehen.«128
Ein Jahr später bescheinigte ihm ein Gutachten des Zuchthauses Bruchsal: »O. […] ist ein nicht unbegabter, ethisch normal fühlender, zugänglicher, aber […] hemmungsloser Mensch, wenn es sich um Versuchungen gegen das 6. und 7. Gebot handelt. Gegen Ende der Strafhaft erlitt er einen völligen Zusammenbruch […].«129
Als Jasper O. 1925 erneut in das Zuchthaus Bruchsal eingewiesen wurde, kam die Leitung zu folgendem Urteil: Er »muss jetzt in die Klasse der so ziemlich rettungslos verlorenen Verbrecher auf psychopathologischer Grundlage eingereiht werden. Normales ethisches Fühlen ist bei ihm ausgeschlossen, dazu ist er seelisch zu sehr zerbrochen«.130 Dieses Stigma blieb fortan an ihm haften. Zwölf Jahre später, im September 1937, stellte die Leitung des »Bewahrungslagers« Kislau für O. ein negatives Führungszeugnis aus, obwohl sie selbst einräumte, dass dessen Verhalten »zu Beanstandungen […] keinen Anlass«131 gab. Dennoch hieß es: »O. ist ein haltloser, geistig minderwertiger Mensch, der schon zum zweiten Male hier eingewiesen wurde. Es ist zu bezweifeln, ob auch diese zweite Unterbringung in der hies[igen] Anstalt einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen wird.«132 Ungeachtet dieser negativen Prognose entließ man Jasper O. am 1. November 1937 aus dem KZ Kislau. Der entsprechende Bescheid verweist auf mehrere interessante Eigenheiten der badischen »vorbeugenden Verbrechensbekämp-
2.6.1936. Untergebracht war O. vermutlich zunächst im Bezirksgefängnis Karlsruhe. Am 8. September 1936 verfügte das badische LKPA die Einweisung nach Kislau. Zur Begründung hieß es nun, O. sei eine »mehrfach vorbestrafte, asoziale Person«. Es handelte sich also zweifellos um einen »Vorbeugungshaftbefehl«. Ebd., Verfügung BadLKPA, 8.9.1936. Der Zugang in Kislau ist für den 16. November 1936 vermerkt. Vgl. ebd., Aktendeckel. 128 Ebd., Abschrift – Charakteristiken des Insassen J. O. von Karlsruhe, Höfingen 24.7.1920. 129 Ebd., Abschrift – Charakteristiken des Insassen J. O. von Karlsruhe, Bruchsal 14.10.1921. Es handelt sich um die Gebote, »Du sollst nicht ehebrechen« und »Du sollst nicht stehlen«. 130 Ebd., Abschrift – Charakteristiken des Insassen J. O. von Karlsruhe, Bruchsal 25.3.1925. 131 Ebd., Führungsbericht Bewahrungslager Kislau, 17.9.1937. 132 Ebd.
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fung«: Hatte sich das LKPA zu einer Entlassung entschieden,133 »beurlaubte« es den Häftling für die Dauer einiger Monate. Diese Bewährungszeit knüpfte es an bestimmte Auflagen, die an die Maßnahmen der polizeilichen planmäßigen Überwachung in Preußen erinnern. Bei einem Verstoß drohte die erneute Inhaftierung. Mehreren »Vorbeugungshäftlingen« erteilte die Kripo das Verbot, Wirtshäuser zu betreten und Alkohol zu kaufen.134 Jasper O. »beurlaubte« sie Ende 1937 unter der Auflage »sich für diese Zeit in der Arbeiterkolonie Ankenbuck aufnehmen« zu lassen und sich dort einer »einwandfreien Führung zu befleißig[en]«.135 Die Bewährungsfrist betrug sechs Monate. Als O. gegen diese Auflage verstieß, indem er die Gelegenheit nutzte und aus der Arbeiterkolonie entwich, verhängte das LKPA am 15. Februar 1938 ein drittes Mal »Vorbeugungshaft« gegen ihn. Da sich das »Bewahrungslager« Kislau zu diesem Zeitpunkt schon in Auflösung befand, wurde die Haft im KZ Dachau vollstreckt.136 Am 21. März 1939 überstellte man O. in das KZ Mauthausen. Dem Totenbuch des Lagers zufolge verstarb er ein knappes Jahr später, am 19. Januar 1940, angeblich aufgrund von allgemeiner sowie Herz- und Kreislaufschwäche.137 Mit der Inhaftierung in der Zwangsanstalt Kislau, der Verhängung von polizeilichen Überwachungsauflagen im Falle der Entlassung und der Zwangs133 Bei der Haftprüfung hielt sich das LKPA weder an die vorgegebene Frist von sechs Monaten, noch standen seine Entscheidungen immer im Einklang mit den Empfehlungen der Kislauer Anstaltsleitung. 134 Vgl. ebd., Nr. 3059, Entlassungsbescheid BadLKPA, 25.1.1935; ebd., Entlassungsbescheid BadLKPA, 18.9.1936; ebd., Nr. 5893, Entlassungsbescheid BadLKPA, 14.1.1935; ebd., Nr. 6427, Entlassungsbescheid BadLKPA, 13.10.1934. 135 Ebd., Nr. 5259, Entlassungsbescheid Kriminalpolizeistelle Karlsruhe, 12.10.1937. Auch Jasper O. hatte bei einer vorangegangenen »Beurlaubung« eine solche Auflage erhalten. Vgl. ebd., Entlassungsbescheid Kriminalpolizeistelle Karlsruhe, 18.3.1936. 136 Die Angaben zu dieser KZ-Einweisung sind widersprüchlich. Aus einem Schreiben der Kriminalpolizei Karlsruhe geht hervor, dass sich O. seit dem 29. August im KZ Dachau befand. In der Datenbank des Archivs der KZ-Gedenkstätte Dachau hingegen ist der 13. August 1938 als Zugangsdatum verzeichnet. Die Zuordnung zur Kategorie »Arbeitszwang Reich« legt überdies nahe, dass O. im Zuge der »Aktion Arbeitsscheu Reich« nach Dachau gelangte. Die Aufhebung der »Beurlaubung«, die das badische LKPA am 15. Februar 1938 verfügte, stellt die Einlieferung jedoch in den Kontext der üblichen Verfahrensabläufe im Rahmen der badischen »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« und spricht gegen eine Verhaftung des O. im Rahmen der gegen »Asoziale« gerichteten Massenrazzien. Vgl. ebd., Schreiben Kriminalpolizeistelle Karlsruhe, 12.1.1939; Knoll, Personenanfrage, E-Mail 12.2.2016. 137 Vgl. GLA Karlsruhe, 521 Zug. 1982–48, Nr. 5259, Schreiben Kriminalpolizeistelle Karlsruhe, 12.1.1939; ebd., Verfügung Kriminalpolizeistelle Karlsruhe, 15.2.1938; GS-Arch Mauthausen, AMM/Y46, Totenbuch des KZ Mauthausen, Eintrag 19.1.1940; Egger, Personenanfrage, E-Mail 14.6.2016. Mit Ausnahme eines Häftlings, der bei der Auflösung des »Bewahrungslagers« entweder nach Dachau, in das Landesarbeitshaus Kislau oder in die Arbeiterkolonie Ankenbuck überwiesen wurde, kamen die übrigen »Vorbeugungshäftlinge«, auf deren Fallgeschichten sich die Analyse stützt, noch in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre wieder frei. Ihre Haft dauerte vermutlich jeweils etwa ein Jahr.
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überstellung in die Arbeiterkolonie Ankenbuck griffen in Baden verschiedene Maßnahmen der Sozialdisziplinierung und Kriminalprävention in einem abgestuften System ineinander. Gleichzeitig bereitete man schon 1934 systematisch die erbbiologische Erfassung der »Vorbeugungshäftlinge« vor und führte Zwangssterilisationen durch. Ähnlich wie in Bayern ist dabei auch in Baden eine enge Kooperation zwischen verschiedenen tradierten Zwangseinrichtungen und dem KZ Kislau zu beobachten. Wie eingangs erwähnt, befanden sich alle acht Personen, deren Haftwege hier analysiert wurden, zu dem Zeitpunkt, als das badische LKPA die »Vorbeugungshaft« und damit verbunden die Einweisung in das Landesarbeitshaus Kislau anordnete, bereits im KZ Kislau in »Schutzhaft«. Drei der Haftumwandlungen datieren auf Ende März, eine auf Anfang April 1934.138 Sie wurden also kurz nach Inkrafttreten des badischen »Vorbeugungshafterlasses« veranlasst. Eine mögliche Erklärung für das Vorgehen der badischen Behörden könnte darin liegen, dass Innenminister Pflaumer und Kripo-Chef Paul Werner das gerade geschaffene rechtliche Institut nutzen wollten, um jene »Schutzhäftlinge« in die neue Haftart zu überführen, deren Haftgründe nicht der engen Auslegung der »Schutzhaftbestimmungen« entsprachen, die das Reichsinnenministerium im Frühjahr 1934 durchzusetzen versuchte.139 Tatsächlich sind die Fälle, in denen die »Vorbeugungshaft« im März und April angeordnet wurde, deckungsgleich mit jenen vier Personen, die aufgrund ihres Vorstrafenregisters als »Bettler«, »Raufbolde« oder »Querulanten« charakterisiert werden können. Die Aufrechterhaltung ihrer »Schutzhaft« hätte sich gegenüber den Reichsinstanzen kaum rechtfertigen lassen. Obwohl die Landesregierung in Karlsruhe mit der »Vorbeugungshaft« eine praktikable Alternative zur »Schutzhaft« schuf, zeigt die badische Haftpraxis auch das Beharrungsvermögen der einmal eingeübten Verfahrensweisen. Der Fall von Phillip R. belegt, dass selbst nachdem das Reichsinnenministerium die »Schutzhaft« per Erlass auf politische Haftgründe beschränkt hatte, sie in Baden noch gegen »Asoziale« und Mehrfachstraftäter zur Anwendung kam. Die »Inschutzhaftnahme« von Phillip R. ging vermutlich auf die Initiative der Polizeidirektion Heidelberg zurück. Er wurde am 8. Mai 1934 zunächst in das KZ 138 Es handelt sich um Friedhelm H., Fritz T., Justus S. und Konrad S. In den übrigen vier Fällen wurde die »Vorbeugungshaft« am 7. Juni (Jasper O., Kaspar M. und Lorenz M.) und am 2. Juli 1934 (Phillip R.) verhängt. 139 Ähnlich wie Werner war Pflaumer ein überzeugter Verfechter einer flexiblen Handhabung der Bestimmungen zur präventiven Inhaftierung. Nachdem das Reichsinnenministerium am 9. Januar 1934 die Landesregierungen zu einer engen Auslegung der »Schutzhaft« ermahnt und eine reichsgesetzliche Regelung angekündigt hatte, konstatierte er am 7. Februar: »Ich halte es jedoch nicht für angebracht, bereits [zum] gegenwärtigen Zeitpunkte zu einer genauen gesetzlichen Fixierung der Voraussetzungen für eine Verhängung zu schreiten, da die Tätigkeit staatsfeindlicher Elemente noch nicht derartig abgeflaut ist, dass man dieses wirksamste polizeiliche Präventivmittel in seiner bisherigen unbeschränkten Form entbehren könnte.« GLA Karlsruhe, 233, Nr. 25984, Schreiben BadMdI, 7.2.1934.
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Kislau eingeliefert, bevor das badische LKPA am 2. Juli »Vorbeugungshaft« verhängte und die Überstellung in das Landesarbeitshaus verfügte. Am 26. Juli bestätigte Kommandant Mohr die Überführung des R. aus den Räumen des KZ in die des Arbeitshauses.140 Bei den Haftumwandlungen hatte die polizeiliche »Vorbeugungshaft« Vorrang gegenüber der »Schutzhaft«. Im »Vorbeugungshaftbeschluss« für Jasper O. ließ das LKPA den Adressaten, die Direktion des Landesarbeitshauses z. B. wissen: »Das Geheime Staatspolizeiamt wird seinen Schutzhaftbefehl aufheben, sobald die Vorbeugungshaft vollzogen werden kann.«141 Darin ist zweifellos ein Primat der Kriminalpolizei gegenüber der Gestapo zu erblicken. Welche Schlussfolgerungen lässt diese Beobachtung im Hinblick auf die Funktionsmechanismen des Doppelstaates zu? Zugespitzt könnte man sagen, dass der Maßnahmenstaat, hier in Gestalt des Badischen Innenministeriums und des LKPA in Karlsruhe, eine normenstaatliche Einrichtung, in diesem Falle das Landesarbeitshaus Kislau, als Refugium nutzte, um »Schutzhäftlinge«, deren Inhaftierung nicht den Richtlinien des Reichsinnenministeriums vom Februar 1934 entsprach, dem Zugriff der Zentralinstanzen zu entziehen. Dabei kooperierten sie eng mit dem Gestapa in Karlsruhe, das erst die »Schutzhaftbefehle« aufheben musste, um die Überführungen in die länderrechtlich geregelte »Vorbeugungshaft« zu ermöglichen. Damit bestätigt die badische Haftpraxis, dass man sich bei der Operationalisierung des Fraenkelschen Analyseinstrumentariums nicht darauf beschränken darf, das institutionelle Gefüge des NS-Staates statisch in die Pole Normen- und Maßnahmenstaat zu unterteilen, um die konkreten Institutionen anschließend dem einen oder anderen Pol zuzuordnen. Eine solche Lesart müsste die Gestapo, eine originär nationalsozialistische Organisation und zentrales Terrorinstrument, als Repräsentanten des Maßnahmenstaates begreifen und sie einer normenstaatlichen Kriminalpolizei gegenüberstellen. Das hieße jedoch, den radikal maßnahmenstaatlichen Charakter der »Vorbeugungshaft« zu negieren und den unrechtmäßigen Haftvollzug für sozial auffällige oder vermeintlich »kriminelle« Personen im Arbeitshaus Kislau zu übersehen, den die badischen Behörden unter Berufung auf den Ausnahmezustand und unter Umgehung wesentlicher Habeas-Corpus-Rechte verfügten. Eine solch simplifizierende Lesart Fraenkels könnte schließlich dazu verleiten, die Überführung der »Schutzhäftlinge« in »Vorbeugungshaft« und ihre Überstellung in das Arbeitshaus Kislau als Rückführung in den Bereich des Normenstaates fehlzuinterpretieren, statt darin die Absicherung des extra-legalen Freiheitsentzuges gegen Eingriffe von außen zu erkennen. 140 Vgl. ebd., 521 Zug. 1982–48, Nr. 5893, Aktendeckel; ebd., Nr. 5893, Schreiben Direktor Landesarbeitshaus Kislau, 19.7.1934; ebd., Schreiben KZ Kislau, 20.7.1934; ebd., Schreiben KZ Kislau, 26.7.1934. 141 Ebd., Nr. 5259, Verfügung BadLKPA, 8.9.1936. Vgl. ebd., Nr. 6936, Verfügung BadLKPA, 26.3.1934; ebd., Nr. 7305, Verfügung BadLKPA, 24.3.1934.
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Eine Interpretation des Normen- und Maßnahmenstaates als Webersche Idealtypen hingegen ermöglicht es, sowohl das LKPA als auch das Gestapa in Karlsruhe in Bezug auf das hier betrachtete, konkrete historische Ereignis als maßnahmenstaatliche Akteure zu begreifen. Ebenso waren die beiden Rechtsinstitute, die »Schutz«- und »Vorbeugungshaft«, maßnahmenstaatlicher Natur. Der oben beschriebene Vorrang der »Vorbeugungshaft« gegenüber der »Schutzhaft« ergab sich in den acht vorliegenden Fällen aus einer politischen Zweckmäßigkeitserwägung, die alle Beteiligten – das Gestapa, das LKPA wie auch das Badische Innenministerium – zur Prämisse ihres Handelns machten: Man wollte Friedhelm H., Kaspar M., Lorenz M., Jasper O., Phillip R., Justus S., Konrad S. und Fritz T., in deren deviantem bzw. delinquentem Verhalten man eine »Gefahr« für die »Volksgemeinschaft« erblickte, keinesfalls in die Freiheit entlassen. Der politische Zweck war es, ihre soziale Exklusion durch eine zeitlich unbefristete Inhaftierung abzusichern.
6.7 Die Arbeitsteilung im Doppelstaat. Das Ineinandergreifen von »Sicherungsverwahrung« und »Vorbeugungshaft« Die »Vorbeugungshaft« war gezielt als polizeirechtliches Instrument gedacht, das die »Lücken« des »Gewohnheitsverbrechergesetzes« schließen sollte, die einige Kräfte innerhalb des Preußischen Justizministeriums während des Gesetzgebungsverfahrens kritisiert hatten. Drei Stoßrichtungen lassen sich erkennen: Erstens ermöglichte die »Vorbeugungshaft« die Inhaftierung von Personen, die zwar aufgrund ihrer Vorstrafenliste als »Berufs«- oder »Gewohnheitsverbrecher« galten, denen jedoch aktuell keine Straftat nachzuweisen war. Meist lag nicht einmal ein Tatverdacht vor. Mithin stand auch kein Strafverfahren in Aussicht, in dessen Rahmen die Anordnung der »Sicherungsverwahrung« hätte erfolgen können. Zweitens konnte die »Vorbeugungshaft« in jenen Fällen verhängt werden, in denen die Übergangsvorschriften für eine rückwirkende oder nachträgliche Anordnung der »Sicherungsverwahrung« nicht erfüllt waren. Drittens diente sie, ähnlich wie die »Schutzhaft« bei »Heimtückevergehen«, als Mittel der »Urteilskorrektur«, wenn die Kripo der Ansicht war, die Gerichte hätten sich zu Unrecht gegen eine Verhängung der »Sicherungsverwahrung« ausgesprochen. Der Fall des Kaufmanns Friedrich C. soll am Ende dieses Kapitels das arbeitsteilige Ineinandergreifen von »Sicherungsverwahrung« und »Vorbeugungshaft« im NS-Doppelstaat verdeutlichen.142 Friedrich C. saß zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des »Gewohnheitsverbrechergesetzes« in der Strafanstalt Remscheid-Lüttringhausen eine sechsjährige Zuchthausstrafe wegen Betrugs im Rückfall ab. Im März 1934 verlebte er 142 Ähnlich gelagert war der Fall von Alex N. Vgl. LAV NRW R, BR 2034 VH I, Nr. 15; Hörath, Volksgenossen, S. 321 f.; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 203, 265 f.
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dort seinen 58. Geburtstag. Voraussichtliches Strafende war der 26. Februar 1936. Ein Blick in das Strafregister von Friedrich C. zeigt 25 Einträge, davon allein 24 Verurteilungen wegen Betrug. Zählt man die im Laufe seines Lebens gegen ihn verhängten Freiheitsstrafen zusammen, ergibt sich eine Haftdauer von rund 33 Jahren. Eigenen Angaben zufolge hatte C. 22 Jahre davon abgesessen. Die Verbüßung von elf Jahren blieb ihm erspart, da die Gerichte bei dicht aufeinanderfolgenden Verurteilungen das Gesamtstrafmaß durch die Zusammenführung mehrerer Einzelstrafen reduzierten. Nach einhelliger Auffassung sämtlicher mit dem Fall befasster Stellen erfüllte C. mit diesem Strafregister die formalen Anordnungsvoraussetzungen der »Sicherungsverwahrung«. Dennoch lehnte die Dritte Große Strafkammer des Landgerichts Wuppertal am 20. März 1934 den Antrag der Staatsanwaltschaft ab. Zwar teilte sie die Auffassung, dass es sich bei C. um einen »gefährliche[n] Gewohnheitsverbrecher« handelte,143 war aber der Ansicht, dass C. keine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle. Daher hielt sie eine »Verwahrung« nicht für notwendig. Wie kam das Gericht zu dieser Auffassung? Friedrich C. war, nachdem er 1914 eine längere Zuchthausstrafe abgesessen hatte, fünf Jahre straffrei geblieben. Daraus schlossen die Richter, »dass Strafen von ausreichender Härte geeignet sind«, C. »von neuen Straftaten abzuhalten«.144 Man sah es als erwiesen an, dass C. für die Wirkungen einer klassischen Vergeltungsstrafe empfänglich war und hielt die Anwendung einer modernen »Sicherungsmaßregel« daher nicht für geboten. »Dazu kommt, dass der Verurteilte geistig befähigt ist, dass er sich genau darüber im Klaren ist, dass die geringste weitere Straftat unweigerlich die Anordnung der Sicherungsverwahrung zur Folge haben wird und er dann mit einer Aufhebung dieser Maßnahme nicht rechnen kann. Kraft seiner geistigen Fähigkeiten ist sich der Verurteilte auch der Schwere der Maßnahme bewusst und [es] ist ihm zuzutrauen, dass er dementsprechend seinen verbrecherischen Willen beherrscht. Es darf daher damit gerechnet werden, dass ihn die sicher drohende Gefahr in Sicherungsverwahrung zu kommen, von der Begehung weiterer Straftaten abhalten wird.«145
Am 19. Mai 1934, einen guten Monat nachdem der ablehnende Bescheid der Dritten Großen Strafkammer beim Landgericht Wuppertal ergangen war, setzte der Strafanstaltsdirektor von Remscheid-Lüttringhausen die Polizeipräsidenten in Köln und Duisburg, des Geburts- bzw. letzten Wohnorts von Friedrich C., über den Vorgang in Kenntnis und schlug vor, bei Haftentlassung Maßnahmen zur »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« gegen diesen einzuleiten.146 143 LAV NRW R, BR 1111, Nr. 146, Urteilsspruch Dritte Große Strafkammer Landgericht Wuppertal, 20.4.1934. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Der Brief verweist darauf, dass nach dem Inkrafttreten des »Gewohnheitsverbrechergesetzes« nicht nur die Staatsanwaltschaften und das Strafanstaltspersonal die Justizvollzugsanstalten nach »Gewohnheitsverbrechern« durchforsteten, die für eine nachträgliche
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Die Initiative des Strafanstaltsdirektors bestätigt erneut, dass es keiner direkten Weisungen bedurfte, damit die Akteure an der Basis tätig wurden. Angesichts der systematischen Bestrebungen zur »Unschädlichmachung« von »Berufs«und »Gewohnheitsverbrechern«, die verschiedenste Behörden im Frühjahr 1934 erkennen ließen, hielt sich der Strafanstaltsdirektor für »verpflichtet«,147 die Polizei auf Friedrich C. hinzuweisen. Doch wie kam es dazu, dass der Direktor der Strafanstalt Remscheid-Lüttringhausen und die Richter der Dritten Großen Strafkammer beim Landgericht Wuppertal die »Gefährlichkeit« von Friedrich C. so unterschiedlich bewerteten? In der Einschätzung, dass es sich bei C. um einen »ganz gerissene[n] Betrüger großen Formates« handelte, der als »gemeingefährlicher Gewohnheitsverbrecher« anzusehen sei,148 war man sich noch einig. Der zentrale Unterschied bestand in der Sozialprognose. Während die Richter Friedrich C. für intelligent genug und fähig hielten, seinen »verbrecherischen Willen«149 zu beherrschen, »befürchte[te]« der Strafanstaltsdirektor, dass C. »doch sehr bald wieder rückfällig werden wird«.150 Obgleich der Strafanstaltsdirektor eine substanzielle Begründung seiner Rückfallprognose schuldig blieb,151 ist zu erkennen, dass sich hier nicht allein zwei unterschiedliche Bewertungen der »Täterpersönlichkeit« des C. gegenüberstanden, sondern verschiedene zeitgenössische Auffassungen über die ausschlaggebenden kriminogenen Faktoren: Indem der Strafanstaltsdirektor annahm, Friedrich C. werde von einem so starken »inneren Hang« zum Verbrechen getrieben, dass er gar nicht anders könne, als strafrückfällig zu werden, unterstellte er einen unausweichlichen Determinismus. Das Gericht hingegen traute C. eine Entscheidung aus freiem Willen zu. Zwar war der Antrag auf »Sicherungsverwahrung« damit zunächst abgewehrt, doch schlossen sich die übrigen Behörden, die sich im Frühjahr 1934 mit dem Fall Friedrich C. befassten, dieser Begründung nicht an. Nachdem sein Antrag auf »Sicherungsverwahrung« abgelehnt worden war, schlug der Wuppertaler Staatsanwalt der Kripo Köln vor, C. in »Vorbeugungshaft« zu nehmen.152 Am 4. Juni 1934 sprach sich auch die Kripo Duisburg für Maßnahmen der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« aus. Allerdings stand sie vor der SchwieAnordnung der »Sicherungsverwahrung« in Frage kamen. Auch die Polizei begab sich gezielt auf die Suche nach Personen, gegen die sie nach der Haftentlassung Maßnahmen der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« einzuleiten gedachten. Nach Aussage des Strafanstaltsdirektors handelte sie dabei auf Weisung des Preußischen Innenministeriums. Vgl. ebd., Schreiben Strafanstaltsdirektor Remscheid-Lüttringhausen, 29.5.1934. 147 Ebd. 148 Ebd. 149 Ebd., Urteilsspruch Dritte Große Strafkammer Landgericht Wuppertal, 20.4.1934. 150 Ebd., Schreiben Strafanstaltsdirektor Remscheid-Lüttringhausen, 29.5.1934. 151 Statt seine Position argumentativ zu begründen, führte er die Beamtenkonferenz der Strafanstalt und einen Sachbearbeiter bei der Staatsanwaltschaft Wuppertal als Zeugen für die Richtigkeit seiner Aussage an. 152 Vgl. ebd., Krimineller Lebenslauf [o. D.]; ebd., Stellungnahme Kriminalpolizeistelle Duisburg [o. D.].
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rigkeit, dass C. die meisten seiner Straftaten außerhalb Duisburgs begangen hatte. Folglich war er für die örtlichen Kriminalbeamten ein Unbekannter. Die subjektive Anordnungsvoraussetzung der »Vorbeugungshaft«, der zufolge die Zielperson bei der Polizei als »Berufsverbrecher« aktenkundig sein musste, blieb unerfüllt. Daher stützten sich die Kriminalbeamten auf eine Hilfskonstruktion. Sie beriefen sich kurzerhand auf den »Tätertyp« des »reisenden Rechtsbrecher[s]«153, der aufgrund seiner Mobilität »den hiesigen Beamten fast gar nicht bekannt«154 sei. Aber auch ohne nähere Einblicke in den »kriminellen Lebenslauf« des Friedrich C. brauche man sich nur »sein Strafverzeichnis vor Augen« zu führen, um »ohne Mühe ein anschauliches Bild über seine Person« zu erhalten.155 Darüber hinaus stützte die Kripo Duisburg ihre Argumentation auf das Gutachten des Strafanstaltsdirektors und auf den kriminalistischen common sense. »Bekanntlich« sei es sehr schwer, »einem die Absicht eines Betruges nachzuweisen. Wenn aber schon jemand in 25 Fällen (in der Hauptsache wegen Betruges) rechtskräftig verurteilt ist«, meinte man aufgrund polizeilicher Erfahrung schlussfolgern zu können, »so hat man hier bestimmt einen Rechtsbrecher größten Formats vor sich.«156 Der »kriminalpolizeiliche[n] Standpunkt«157 war es auch, den die Kripo Duisburg gegen die Argumente ins Felde führte, mit denen das Gericht die Anordnung der »Sicherungsverwahrung« abgelehnt hatte. Zwar schloss sie sich grundsätzlich der Auffassung an, dass »längere, harte Strafen geeignet erscheinen, einen Menschen von neuen Straftaten abzuhalten«,158 doch hob sie hervor, dass Strafen ihre abschreckende Wirkung nur dann entfalten könnten, wenn sie tatsächlich in voller Länge verbüßt werden müssten und nicht, wie im Fall von Friedrich C., durch Zusammenlegungen drastisch reduziert würden. Damit rekurrierte die Kripo Duisburg auf die langjährige Kritik der Polizei an der aus ihrer Sicht zu milden Spruchpraxis der Gerichte. Da man annahm, dass Friedrich C. nach seiner Haftentlassung an seinen alten Wohnort in der Domstadt zurückkehren werde, fragte die Kölner Kriminalpolizeistelle am 9. Januar 1936, gute zwei Monate vor dem offiziellen Ende der Zuchthausstrafe von Friedrich C., bei der Strafanstalt Remscheid-Lüttringhausen an, wann genau die Entlassung erfolge. Weil sie die Meldung erhielt, C. werde zu seiner Schwester nach Duisburg ziehen, ging die Zuständigkeit für den Fall endgültig an die Kripo Duisburg über. Diese deponierte eine Vorladung für Friedrich C. in der Wohnung der Schwester, beließ ihn aber zunächst auf freiem Fuß. Es scheint so, als hätten die Kripobeamten abwarten wollen, ob C. eine Arbeitsstelle finden würde und erst dann überlegt, ob sie ihn unter poli153 Ebd., Stellungnahme Kriminalpolizeistelle Duisburg [o. D.]. 154 Ebd., Krimineller Lebenslauf [o. D.]. 155 Ebd. 156 Ebd., Stellungnahme Polizeipräsidium Duisburg-Hamborn, 4.6.1934. 157 Ebd., Stellungnahme Kriminalpolizeistelle Duisburg [o. D.]. 158 Ebd.
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zeiliche planmäßige Überwachung oder in »Vorbeugungshaft« nehmen sollten. Am 18. März 1936 wurde Friedrich C. aus der Haft entlassen und traf in Duisburg ein. Am 4. April legte die Kripo Duisburg den Fall der Kriminalpolizeileitstelle Essen zur Entscheidung vor. Zwei Wochen später ordnete der Essener Polizeipräsident »Vorbeugungshaft« an. Die Verhaftung von Friedrich C. erfolgte am 23. April 1936 durch die Kripo Duisburg. Nach Ablauf weiterer vier Wochen bestätigte das Reichs- und Preußische Innenministerium den Antrag der Kriminalpolizeileitstelle Essen auf KZ-Einweisung. Daraufhin überstellte man Friedrich C. am 1. Juni 1936 nach Esterwegen. Keine zwei Wochen nachdem Friedrich C., den seine Schwester als einen kranken, gebrechlichen Mann beschrieb,159 im KZ Esterwegen eingetroffen war, meldete er sich laut einer Mitteilung der dortigen Kommandantur aufgrund von Bauchschmerzen im Krankenrevier. Im Verlaufe des Abends verschlechterte sich sein Zustand derart, dass man ihn in das Kreiskrankenhaus im emsländischen Sögel einlieferte, wo er noch während der Nacht, es war der 13. Juni 1936, verstarb.160
159 Vgl. ebd., Schreiben Hertha C. [o. D.]. 160 Vgl. ebd., Schreiben Kommandantur KZ Esterwegen, 15.6.1936.
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7. Die Phase der Zentralisierung, Systematisierung und quantitativen Ausweitung sozialrassistischer und kriminalpräventiver Verfolgung
In der ersten Hälfte der 1930er-Jahre wurden auf institutioneller, organisatorischer und programmatischer Ebene verschiedene richtungsweisende Entscheidungen getroffen, welche die Voraussetzungen schufen, um die sozialrassistische und kriminalpräventive Verfolgung zu systematisieren und auszuweiten. Durch die Gründung der IKL hatte Himmler mit Zustimmung Hitlers die KZ als Vollzugsorte politischer, sozialer und rassischer Exklusion etabliert und von äußeren Einflüssen, vor allem denen der Justiz, weitgehend abgeschottet. Das ging einher mit einer drastischen Reduzierung der heterogenen Vielgestaltigkeit, welche die Lager in ihrer Gründungsphase geprägt hatte. Mit der Eröffnung der ersten beiden gezielt als KZ erbauten Lagerkomplexe Sachsenhausen und Buchenwald erfolgte 1936/37 der Auf- und Ausbau des einheitlichen KZSystems der SS. Zuvor waren im Zuge der zentralen Planung und Organisation jene frühen KZ aufgelöst worden, die wie Vechta, Oberer Kuhberg, Moringen und Kislau eine Weile im Schatten der IKL existiert hatten, ohne der SS-Administration angeschlossen zu sein. Auf organisatorischer Ebene war es vor allem die Vereinheitlichung des Polizeiapparates unter dem RFSS Heinrich Himmler, welche die Voraussetzungen für die Verschärfung der Verfolgung schuf. Noch vor seiner Ernennung zum Chef der Deutschen Polizei im Juni 1936 hatte Himmler sein Konzept der rassischen Generalprävention entwickelt und auf der programmatischen Ebene durchsetzen können, indem er ab 1934 erst Hitler von dem erweiterten Gegnerbegriff überzeugte und dann das Führungskorps des SS-/Gestapo-/Polizeikomplexes auf ihn einschwor. Dadurch wurden laut Herbert »die bis dahin nur zögerlich und uneinheitlich, zudem ohne klare politisch-weltanschauliche Begründung ergriffenen Maßnahmen gegen nichtpolitische ›Volksfeinde‹ radikalisiert und systematisiert«.1 Die vorliegende Studie konnte zeigen, dass diese frühen Maßnahmen weit umfangreicher, planvoller und im lokalen Institutionengefüge besser verankert waren als bislang angenommen. Gleich nach der Machtübergabe waren im Rahmen örtlicher Spezialpräventionen verschiedene Verfolgungskonzepte erprobt worden. Dies geschah teils unabhängig von den Zentralinstanzen, teils in einem engen Wechselspiel mit diesen. Je nach lokalspezifischen Problemlagen und ideologischen Überzeugungen konzentrierte sich die Verfolgung auf be1 Herbert, Gegnerbekämpfung, S. 78.
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stimmte Untergruppen der unter den Schlagworten »Asoziale« und »Berufsverbrecher« subsummierten Personen. Gerieten an einigen Orten Straßenprostituierte oder Vagabunden ins Visier, konnten es woanders die Anstaltsbettler oder »bodenständige[n] Verbrecher«2 sein. Ebenso vielfältig wie die Zielgruppen waren die angewandten Mittel. Zwangssterilisationen, systematische Schlechterstellung beim Bezug staatlicher Leistungen und die Zuweisung von Pflichtarbeit dienten der Aussonderung, Disziplinierung und »Unschädlichmachung« der »Gemeinschaftsfremden«. Neben die tradierten Internierungseinrichtungen wie Gefängnisse, Zucht- und Arbeitshäuser traten die geschlossenen Lager der Fürsorge, die »Sicherungsverwahrung« in Justizvollzugsanstalten und die frühen KZ. Wie die vorliegende Studie gezeigt hat, variierten auch die Anordnungswege erheblich, die einer KZ-Einweisung vorausgingen. Je nach konkreter Ausgestaltung waren unterschiedliche Akteure involviert. In Baden hatten die Bezirksämter das Recht der Antragsstellung und der Reichsstatthalter bzw. das Innenministerium mussten die KZ-Haft bestätigen. Die thüringischen Bestimmungen zur »Vorbeugungshaft« banden sogar die Leitungen der Universitätshautklinik Jena und der Landesheilanstalt Stadtroda in die KZ-Einweisung »asozialer« Frauen ein sowie gegebenenfalls die Jugendämter bzw. die Bürgermeister in ihrer Funktion als Jugendwohlfahrtsbehörde. Das praktische Experimentieren mit der Verhängung von KZ-Haft gegen »Asoziale« und »Berufsverbrecher« führte dazu, dass die beteiligten Behörden das Verfahren schon lange vor den Massenverhaftungen 1937/38 eingeübt hatten. Durch den »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« veränderten sich für einige Akteure zwar die konkreten Dienstwege, grundsätzlich aber war die Kooperation zwischen den Instanzen der Wohlfahrts- und Strafrechtspflege sowie der Polizei bereits eingespielt. Das bewirkte einen »Normalisierungseffekt«, auf den die Massenrazzien aufbauen konnten.3 Ausgehend von den Erkenntnissen über die Phase des praktischen Experimentierens, die diese Studie generiert hat, sollen im Folgenden die Entwicklungslinien erörtert werden, an welche die 1937/38 einsetzenden Prozesse der Zentralisierung, Systematisierung und quantitativen Ausweitung der Verfolgung anknüpften. Das führt zu einer Neubewertung einiger bekannter Schlüsseldokumente und zu einer Ausdifferenzierung der Forschungskontroversen über die historische Einordnung und Interpretation der Massenrazzien. Da für die Verfolgungsphase ab 1937/38 keine neuen Quellen erhoben wurden, wird auf die Darstellungen der Sekundärliteratur zurückgegriffen, ohne dabei eine weitere Gesamtdarstellung der Ereignisse leisten zu wollen. Ebenso wenig beansprucht dieses Kapitel, den Massenmord in den KZ und Vernichtungslagern zu erklären, dem spätestens ab Kriegsbeginn auch unzählige »Asoziale« und »Berufsverbrecher« zum Opfer fielen. 2 BayHStA München, MInn 73690, Verzeichnis Schutzhaftgefangene in Bayern, 1.8.1933. 3 Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 209.
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7.1 Die Gründung des RKPA 1936/37 Bestrebungen, den Polizeiapparat zu zentralisieren, gab es schon gleich nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten. Sie gründeten in dem lang gehegten Wunsch vieler Kriminalisten nach der Schaffung einer Reichskriminalpolizei. Gerechtfertigt wurden die Zentralisierungspläne mit den Erfordernissen einer am Konzept der Kriminalprävention ausgerichteten Polizeiarbeit. Kurz nachdem der Machtkampf um die Polizeigewalt durch die Ernennung Himmlers zum Chef der Deutschen Polizei entschieden war, leitete dieser die Zentralisierung ein. Am 26. Juni 1936 ernannte er Reinhard Heydrich zum Chef der Sicherheitspolizei, jener Organisation, die unter ihrem Dach künftig Gestapo, Sicherheitsdienst der NSDAP und Kripo vereinte. Arthur Nebe, bereits seit Januar 1935 Chef des preußischen LKPA, übernahm die Leitung des ebenfalls neugeschaffenen Amtes Kriminalpolizei. Als Himmler dem preußischen LKPA dann im September 1936 die fachliche Leitung der Kriminalpolizei aller deutschen Länder übertrug, stand Nebe an der Spitze einer fortan zentral gelenkten Kriminalpolizei. Am 16. Juli 1937 transformierte man das preußische LKPA schließlich in ein Reichskriminalpolizeiamt, das bei der Gründung des RSHA am 27. September 1939 diesem als Amt V eingegliedert wurde.4 Damit hatte man eine Organisationsstruktur geschaffen, die über eine weisungsbefugte Zentrale und über ein flächendeckendes Netz kriminalpolizeilicher Dienststellen im gesamten Reichsgebiet verfügte. Aufgabe der Kripostellen war es, die Arbeit der Polizeiund Gendarmeriestellen sowie der staatlichen und kommunalen Kriminalpolizeien einer Region zu koordinieren. Mehrere Kripostellen wurden wiederum durch eine Kripoleitstelle befehligt. 1936 gab es zunächst 14 Kripoleitstellen, bis 1941 hatte man ihre Zahl auf 19 erhöht.5 Ziel der organisatorischen Umgestaltung war der Aufbau einer flächendeckenden kriminalistischen Verwaltung. Neben der zentralen Lenkung sollten normierte kriminalistische Organisationsformen und Methoden sowie eine lückenlose Datensammlung und -verarbeitung die Effizienz steigern.6 Um die Vereinheitlichung auch gegen örtliche Widerstände durchsetzen zu können, griffen Himmler, Heydrich und Nebe auf das Instrument des Personaltransfers zurück. In Kripo(leit)stellen, in denen die neuen Arbeitsmethoden und Dienstwege nicht reibungslos durchsetzbar waren, tauschte man einen Teil des Beamtenapparates aus, indem man einige Kriminalisten in andere Städte versetzte und auf die freien Stellen zuverlässiges Personal nachrücken ließ.7
4 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft, S. 233–235. 5 Vgl. ebd., S. 235 f. 6 Vgl. ebd., S. 236. 7 Vgl. ebd., S. 236 f.
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Die Befunde dieser Studie lassen aber vermuten, dass die lokalen Verfolgungspraktiken dennoch ein gewisses Beharrungsvermögen aufwiesen. So nutzten die bayerischen Behörden für die Einweisung von »Arbeitsscheuen« und »säumigen Unterhaltszahlern« nach Dachau auch dann noch den § 20 RFV, als der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« längst ein neues, flexibles Instrument zur KZ-Einweisung von »Asozialen« reichsweit etabliert hatte. Ebenso fuhren sie fort, renitente Insassen des Arbeitshauses Rebdorf und des Wanderhofes Herzogsägmühle als Disziplinarmaßnahme in »Schutzhaft« zu nehmen und nach Dachau bringen zu lassen.8 Für Thüringen zeigt ein Fallbeispiel, dass die örtlichen Behörden auch unmittelbar nach der Massenrazzia gegen »Berufsverbrecher« im März 1937 noch an ihrer regionalspezifischen »Vorbeugungshaftpraxis« gegenüber »asozialen« Frauen festhielten.9 Neben diesen Belegen für die Persistenz lokaler Haftpraktiken können die Befunde dieser Studie dazu beitragen, einige Argumente in der Forschungskontroverse über die Frage nach den Ursachen für die Radikalisierung der Kriminalpolizei auszudifferenzieren, die im Zusammenhang mit der Gründungsgeschichte des RKPA diskutiert werden. Nach der Vereinigung mit der Gestapo unter dem Dach der Sicherheitspolizei habe sich die Kriminalpolizei der Gestapo angeglichen und sich zunehmend an deren Exekutivpraxis orientiert, konstatierte schon Hans Buchheim in seinem Gutachten für das Institut für Zeitgeschichte 1965. Peter Nitschke spitzt diese Argumentation weiter zu, wenn er die These formuliert, die Kriminalpolizei sei nach 1936 auf einen »Appendix der Gestapo«10 reduziert worden. Herbert schreibt der Gestapo ebenfalls eine zentrale Rolle bei der Radikalisierung der Kriminalpolizei zu. Das Konzept der Polizei als »Arzt am deutschen Volkskörper«11 habe ursprünglich Werner Best aus seiner Arbeit bei der Gestapo heraus entwickelt. Herberts Einschätzung nach stellte die Bestsche Vision eine wesentliche Einflussgröße im Denken Himmlers dar und war der Grund für die Ausweitung der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« über die eigentliche Polizeiarbeit hinaus auf die präventive Verfolgung kleinster Verhaltensauffälligkeiten.12 Wagner hingegen sieht in den Polizeikonzeptionen des Sicherheitsdienstes und der Orientierung kriminalpolizeilicher Arbeit am Vorgehen der Gestapo zwar wichtige, aber keine hinreichenden Erklärungen für die Radikalisierung. Die partielle Kompetenzüberschneidung zwischen Gestapo und Kripo habe zwar zu einer latenten Konkurrenzsituation geführt, die radikalisierend wirkte; doch sei das alltägliche Verhältnis zwischen beiden von »unspektakuläre[r] und 8 Als Beispiele vgl. BayHStA München, MInn 71565, Der Fall J. W.; BayStA München, Poldir Mü/Personenakten II, C 0402 1978, Nr. 11630; GS-Arch Dachau, H. 26.708; ebd., H. 26.710; ebd., H. 26.713; ebd., H. 26.907; ebd., H. 26.908. 9 Vgl. ThHStA Weimar, P 111, Bestätigung Vorbeugungshaft, 16.4.1937. 10 Nitschke, Polizei. Vgl. Buchheim, SS, S. 113–117. 11 Herbert, Best, S. 163. 12 Vgl. ebd., S. 166 f., 169.
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weitgehend reibungslose[r] Zusammenarbeit« und »gegenseitige[r] Unterstützung« geprägt gewesen.13 Die zahlreichen Einzelfallakten, die im Rahmen der Recherchen zu dieser Studie gesichtet wurden, ergeben ebenfalls ein Bild arbeitsteiliger Kooperation im Doppelstaat, bei der eine polizeiliche Formation den Kompetenzbereich der anderen in der Regel respektierte. Ergab es sich doch einmal, dass Gestapo und Kripo ein und denselben Fall bearbeiteten, lag die Kompetenzkompetenz unbestritten bei der Gestapo, sodass sich ein Konflikt erübrigte.14 Dieser Befund schließt jedoch nicht aus, dass sich auch an der arbeitsteiligen Zusammenarbeit zwischen Kripo und Gestapo eine Radikalisierungsdynamik entzündet haben könnte. Innerhalb des ureigenen Aufgabenbereiches der Kriminalpolizei, der Verfolgung von Straftaten, bedurfte es aber keiner äußeren Einflüsse. Es war die »Dynamik innerhalb der Kriminalpolizei selbst«, so schreibt Wagner, die dazu führte, dass der Apparat 1936 »dem nächsten Radikalisierungsschritt entgegen« strebte.15 Während Wagner diese Einschätzung hauptsächlich aus seiner Untersuchung der Konzeption kriminalpolizeilicher Arbeit ableitet, fügt diese Studie dem Bild noch eine Facette hinzu. Indem sie die frühe Verfolgungspraxis untersucht, kann sie zeigen, wie die Akteure des Polizeiapparates – fanatische Nationalsozialisten ebenso wie traditionell ausgebildete, weltanschaulich gemäßigte Beamte – die Handlungsspielräume schon 1933 nutzten, um sie gemäß ihrer jeweiligen Vorstellung von einer effektiven Kriminalprävention bzw. orientiert an 13 Wagner, Volksgemeinschaft, S. 251. 14 Ein eindrucksvolles Beispiel ist der Fall des 49-jährigen Tagelöhners Johann B. aus dem bayerischen Miesbach. Das Vorstrafenregister von Johann B. wies zahlreiche Einträge auf, u. a. wegen Diebstahl, Hehlerei und Betrug, also den klassischen »gewinnsüchtigen« Verbrechen eines »Berufsverbrechers«. Obwohl B. seit Juli 1939 unter planmäßiger polizeilicher Überwachung der Polizeidirektion München stand, verhängte die Gestapo gegen ihn im November aufgrund eines »Heimtückedeliktes« »Schutzhaft« und überstellte ihn dem Sondergericht. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, B. direkt in »Vorbeugungshaft« zu nehmen und in das KZ Dachau einzuweisen. Das »Heimtückevergehen« hätte als Verstoß gegen die Überwachungsauflagen gewertet werden können, der die Anordnung der »Vorbeugungshaft« rechtfertigte. Stattdessen verurteilte das Sondergericht Johann B. zu einer siebenmonatigen Haftstrafe, woraufhin die Gestapo ankündigte, ihn nach Strafverbüßung erneut in »Schutzhaft« zu nehmen, um ihn in ein KZ zu überstellen. Damit bricht die Überlieferung in der Personenakte von Johann B. bei der Polizeidirektion München ab. Das legt die Vermutung nahe, dass die Gestapo ihre Drohung wahrmachte. Wäre B. nach dem Ende seiner Strafhaft in Freiheit entlassen worden, hätte ihn die Polizeidirektion München erneut unter planmäßige polizeiliche Überwachung gestellt und seine Akte wäre fortgeführt worden. Vgl. BayStA München, Poldir Mü/Personenakten II, C 0402 1978, Nr. 11506. Dass letztlich die Gestapo über die Kategorisierung eines Häftlings entschied, belegt auch die Verfolgungsgeschichte des Journalisten Rudolf B., der im März 1937 zunächst von der Gestapo in »Schutzhaft« genommen, ab September 1938 dann aber auf deren Weisung hin im KZ Sachsenhausen als »Vorbeugungshäftling« geführt wurde, woraufhin sein Fall in die Zuständigkeit der Berliner Kriminalpolizeileitstelle überging. Vgl. Lieske, Opfer, S. 143 f. 15 Wagner, Volksgemeinschaft, S. 244.
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den lokalspezifischen Notwendigkeiten auszugestalten. Zu denken ist hier z. B. an die Etablierung des polizeilich geführten frühen KZ in Hamburg-Wittmoor, an die in der Hansestadt im Herbst 1933 offiziell etablierte Praxis, »Schutzhaft« gegen Zuhälter und Transvestiten zu verhängen, oder an die KZ-Einweisung von »Trinkern«, die der Ulmer Polizeidirektor Wilhelm Dreher und die Regensburger Polizei Anfang 1934 öffentlich androhten. Dabei folgten die Akteure des Polizeiapparates keiner von oben oktroyierten, der Polizeiarbeit wesensfremden Dynamik. Vielmehr wohnten die Radikalisierungstendenzen der polizeirechtlichen Logik selbst inne. Ausschlaggebend für ihre Entfesselung war einerseits die Etablierung des Maßnahmenstaates, das heißt die Möglichkeit eines von juristischer Kontrolle befreiten polizeilichen Agierens, und andererseits die nationalsozialistische Weltanschauung, welche die »rassisch« konstituierte »Volksgemeinschaft« zum Schutzobjekt polizeilicher Gefahrenabwehr erhob.16 Die ideologischen Anknüpfungspunkte dafür brauchten aber nicht von außen an die Kriminalpolizei herangetragen zu werden, sie waren in ihren theoretischen Grundfesten verankert: in den biologistisch aufgeladenen Lehren der zeitgenössischen Kriminologie über den »geborenen Verbrecher« und den ererbten oder erworbenen »kriminellen, inneren Hang« des »unverbesserlichen« Mehrfachstraftäters.
7.2 Die reichsweite Razzia der Kriminalpolizei gegen »Berufsverbrecher« im März 1937 Mit der Zentralisierung der Kriminalpolizei unter Führung des preußischen LKPA waren die Voraussetzungen geschaffen, der Forderung nach einer reichsweit organisierten Kriminalprävention gerecht zu werden. Da die praktizierten Strategien der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« bislang noch nicht zu einer nachhaltigen Eliminierung der »Kriminalität« geführt hatten, meinte man, das polizeiliche Vorgehen verschärfen zu müssen.17 Am 27. Januar 1937 setzte das preußische LKPA die Kriminalpolizei(leit)‑ stellen davon in Kenntnis, dass man beabsichtige, »zu einem bestimmten Zeitpunkt eine größere Anzahl Berufsverbrecher unerwartet in vorbeugende Polizeihaft zu nehmen«.18 Zu diesem Zweck wies es die untergeordneten Dienststellen an, all jene Personen in Listen zu erfassen, »die nach Auffassung der 16 Eine ähnliche Bedeutung schreibt auch Herbert der Etablierung des Doppelstaates zu. Aufgrund seines andersgelagerten Erkenntnisinteresses nimmt er die dadurch entfesselte Dynamik aber nicht schon für die Polizeiarbeit und Wohlfahrtspflege ab 1933 in den Blick, sondern konzentriert sich auf die Phase nach der Zentralisierung des Polizeiapparates. Vgl. Herbert, Best, S. 177–180. 17 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft, S. 214–232, 254–259; Terhorst, Überwachung, S. 109–115. 18 Schreiben PrLKPA, 27.1.1937, zit. nach Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 27.
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Kriminalpolizei als Berufs- und Gewohnheitsverbrecher sowie als gewohnheitsmäßige Sittlichkeitsverbrecher anzusprechen«19 seien. Eine genauere Eingrenzung der Zielgruppe, die wie in vielen länderrechtlichen Regelungen üblich anhand der Anzahl, Art und Länge der Vorstrafen hätte erfolgen können, nahm das preußische LKPA nicht vor. Allerdings knüpfte die zitierte Formulierung deutlich an die Anordnungsvoraussetzung des preußischen »Vorbeugungshafterlasses« vom November 1933 an, dass die Zielperson der »Kriminalpolizei als Berufsverbrecher bekannt«20 sein müsse, und rekurrierte damit auf die bereits etablierte Haftpraxis. Parallel zur Verschärfung der Kriminalprävention im engeren Sinne strebte Himmler offenbar ein Vorgehen gegen sozial missliebige Personen an, das alle bis dahin bekannten Dimensionen sprengte. Auf einer Ministerratssitzung am 11. Februar 1937 schätzte er, dass von der einen Million vorhandenen Arbeitslosen im Reich etwa 50 Prozent »arbeitsscheu« seien und forderte, diese in Arbeitslager zu sperren, wo »ihre Arbeitskraft voll ausgenutzt werden« könne.21 Ein derart umfassender Zugriff schien allerdings nicht konsensfähig zu sein, denn auf einer Besprechung im Reichsjustizministerium zwei Tage später sprach der RFSS lediglich von einer selektiven Inhaftierung »Arbeitsscheuer«. Laut Gesprächsnotiz nannte Himmler als Hintergrund dieser Maßnahme eine Anweisung Görings, der ihn aufgefordert habe sicherzustellen, dass sämtliche arbeitsfähigen Personen, die in keinem Beschäftigungsverhältnis standen, zur Erfüllung der Ziele des Vierjahresplans herangezogen würden. Sie sollten in Lager eingewiesen werden, wo sie bis zu 14 Stunden täglich arbeiten müssten. Ähnlich wolle er mit Justizgefangenen verfahren. In seinen diesbezüglichen Ausführungen kehrte der RFSS dann zu den altbekannten Koordinaten polizeilicher und fürsorgerechtlicher Abschreckungspolitik zurück, die den Betroffenen, aber auch dem Rest der Bevölkerung, vor Augen führen sollte, dass es besser sei, in Freiheit seinen Lebensunterhalt mit ehrlicher Arbeit zu verdienen, als Gefahr zu laufen, in ein Arbeitslager geschafft zu werden.22 Am 23. Februar 1937 erteilte Himmler schließlich in einem Schnellbrief an das preußische LKPA den Befehl zur Durchführung des seit Jahresbeginn geplanten kriminalpräventiven Zugriffs. Gerichtet war die Razzia laut Himmler gegen »Verbrecher«, die »ihre Straftaten […] nicht nur aus asozialer, sondern aus einer geradezu staatsfeindlichen Einstellung heraus« begingen.23 Mit dieser For19 Schreiben PrLKPA, 27.1.1937, in: ebd. [Hervorh. i. Orig.]. Ein Exemplar der Erlasssammlung ist unter der Signatur DC 1720/55 im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte überliefert. 20 GStAPK, I. HA. Rep. 84a, Nr. 8203, Geheimerlass PrMdI, 13.11.1933 [pr. Vorbeugungshafterlass]. 21 BArch Berlin, R 43-II/355, Protokoll Sitzung kleiner Ministerrat, 11.2.1937. 22 Vgl. Reich Ministry of Justice minutes regarding Himmler’s suggestion to transfer selected state prisoners to the camps, 15.2.1937, in: Goeschel u. Wachsmann, Camps, S. 126, Dok 127; Wachsmann, KL, S. 144 f. 23 Schnellbrief RFSSuChdDtPol, 23.2.1937, zit. nach Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 28.
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mulierung legitimierte der RFSS die geplanten Verhaftungen als Akt der Gefahrenabwehr im Ausnahmezustand, was er durch eine direkte Bezugnahme auf den § 1 der Reichstagsbrandverordnung unterstrich. Damit knüpfte er an Argumentationsmuster an, mit denen man die Maßnahmen der Kriminalprävention schon seit Beginn der NS-Herrschaft gerechtfertigt hatte. Festgenommen werden sollten Himmler zufolge »etwa 2.000 Berufsverbre cher und Gewohnheitsverbrecher oder gemeingefährliche Sittlichkeitsverbrecher«.24 Während bei den »Sittlichkeitsverbrechern« die »Gemeingefährlichkeit« das ausschlaggebende Haftkriterium bildete, sollten unter den »Berufs«- und »Gewohnheitsverbrechern« nur jene ausgewählt werden, die sich »nicht in Arbeit«25 befanden. Auch Familienväter seien zu verschonen, außer sie bildeten »eine schwere Gefahr für die Volksgemeinschaft«.26 Hatte das preußische LKPA zu Jahresbeginn, als es die Erstellung der Verhaftungslisten in Auftrag gab, noch die kriminalistische Einschätzung der »Täterpersönlichkeit« durch die Kripo(leit)stellen als zentrales Auswahlkriterium vorgesehen, erweiterte Himmler die Verhaftungsvoraussetzungen um den Aspekt des »arbeitsscheuen« Verhaltens. Am 27. Februar 1937 leitete das preußische LKPA Himmlers Befehl an die Kriminalpolizei(leit)stellen weiter und bestimmte als Tag des Zugriffs den 9. März 1937. Außerdem teilte es den untergeordneten Behörden mit, welche Delinquenten es aus den zuvor eingereichten Listen zur Verhaftung ausgewählt hatte. Als Einweisungslager benannte es die KZ Sachsenhausen, Sachsenburg, Lichtenburg und Dachau sowie das Frauen-KZ Moringen.27 Die Gesamtzahl der im März 1937 aufgegriffenen Personen ist nur annäherungsweise bestimmbar. Die Quellen lassen aber darauf schließen, dass man das Verhaftungssoll von 2.000 Personen einhielt.28 Innerhalb der einzelnen Regionen variierten die Zahlen erheblich. So gibt Wagner für Hamburg 167, für Duisburg aber nur sieben verhaftete »Berufsverbrecher« an, darunter zwei Frauen. Die Kölner Kriminalpolizeileitstelle schlug 210 Mehrfachstraftäter für die Aktion vor, bekam aber »nur« 122 Verhaftungen genehmigt. Für eines der Einweisungslager der Razzia, das KZ Sachsenhausen ermittelte Lieske im Zeitraum vom 9. bis zum 13. März 421 Zugänge von »Vorbeugungshäftlingen«.29 Im Rah24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Vgl. Langhammer, Verhaftungsaktion, S. 63–75. Jüdische »Berufsverbrecher« waren ausschließlich in das KZ Dachau zu überstellen. Dieser Befehl stand im Zusammenhang mit der geplanten Konzentration jüdischer KZ-Häftlinge, die man ab Februar 1937 etwa ein Jahr lang praktizierte. Vgl. Schreiben PrLKPA, 27.2.1937, in: Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 29; Wünschmann, Auschwitz, S. 160–162. In Baden wurden die »Vorbeugungshäftlinge« der März-Aktion vermutlich entgegen der ausdrücklichen Anweisungen des PrLKPA im KZ Kislau untergebracht. 28 Vgl. Langhammer, Verhaftungsaktion, S. 62. 29 Vgl. Lieske, Opfer, S. 145; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 257.
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men der vorliegenden Studie konnte außerdem der Umfang der Verhaftungen in Thüringen bestimmt werden. Die Kriminalpolizeistelle Weimar schlug insgesamt 140 Personen vor, davon bewilligte das preußische LKPA 88 Verhaftungen. Allerdings führte die thüringische Kriminalpolizei nur 54 Festnahmen tatsächlich durch.30 53 der Männer überstellte man in das KZ Sachsenburg und »eine Person (Jude) nach Dachau«.31 Einen weiteren Hinweis auf den Umfang der Razzia liefert die Statistik des RKPA. Sie verzeichnete am 13. November 1937 2.752 »Vorbeugungshäftlinge« im gesamten Reichsgebiet. Allerdings ist zu bedenken, dass die Statistik über ein halbes Jahr nach der Aktion erstellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte man 372 Personen schon wieder entlassen. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der angegebene Wert auch jene »Vorbeugungshäftlinge« enthält, die vor der Razzia ins KZ eingewiesen worden waren. Ihr Anteil dürfte zwischen 700 und 800 gelegen haben. Angesichts der zuvor in Preußen gültigen Verhaftungshöchstgrenze von 525 Personen, zu denen noch die »Vorbeugungshäftlinge« der übrigen deutschen Länder hinzugerechnet werden müssen, erscheint das realistisch. Verglichen damit stellte die schlagartige Inhaftierung von etwa 2.000 Personen eine radikale Ausweitung der Haftpraxis dar.32 Auf die Frage, was die Polizeiführung zu dieser Radikalisierung der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« bewogen haben könnte, schlägt die historische Forschung verschiedene Antworten vor. Ein zentrales Motiv der Razzia ist sicherlich in der Erfolglosigkeit der bis dahin praktizierten kriminalpräventiven Strategien zu sehen und in dem Wunsch, das Verbrechen ein für alle Mal aus der Gesellschaft zu eliminieren.33 Ein weiteres Motiv leitet Wagner aus Himmlers Befehl vom 23. Februar 1937 ab, den er als Auftrag an das preußische LKPA interpretiert, im gesamten Reichsgebiet die »Vorbeugungshaft« nach preußischem Vorbild einzuführen.34 Abgesehen von so prägnanten Ausnahmen wie Baden und Thüringen hatten viele deutsche Länder den preußischen »Vorbeugungshafterlass« aber bereits 1934/35 übernommen. Gegen Wagners These spricht zudem, dass der RFSS in seinem Befehl selbst hervorhob, die »bisher erlassenen Anordnungen über polizeiliche Vorbeugungshaft und plan30 Als müsse sie sich für ihre schlechte Erfolgsquote rechtfertigen, betonte die Kriminalpolizeistelle Weimar, dass bei einem Teil der vorgeschlagenen Personen der Aufenthalt unbekannt sei. Außerdem erinnerte sie daran, dass das preußische LKPA ausdrücklich dazu aufgefordert hatte, reisende Rechtsbrecher namhaft zu machen, die – so ließe sich hinzufügen – naturgemäß schwer greifbar waren. Vgl. ThHStA Weimar, P 110, Schreiben Kriminalpolizeistelle Weimar, 17.3.1937; Schreiben PrLKPA, 27.1.1937, in: Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 27. 31 ThHStA Weimar, P 110, Schreiben Kriminalpolizeistelle Weimar, 17.3.1937. Für weitere Verhaftungszahlen in einzelnen Regionen vgl. Langhammer, Verhaftungsaktion, S. 63–75. 32 Für eine Darstellung der Statistik und der Haftgründe vgl. Terhorst, Überwachung, S. 113; Wachsmann, KL, S. 145 Anm. 60, 73. Wagner, Volksgemeinschaft, S. 257. 33 Vgl. Wachsmann, KL, S. 144; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 254. 34 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft, S. 255.
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mäßige Überwachung werden durch diese Maßnahme [gemeint ist die Razzia, d. Vf.] nicht berührt«.35 Das Motiv der März-Aktion ist daher wohl eher in der Erprobung und Etablierung der zentralisierten Befehlsstruktur zu sehen. Diese Interpretation wird indirekt durch ein Schreiben des RKPA vom 27. August 1937 gestützt, das die »Sonderaktion« für »abgeschlossen« erklärte und die Kriminalpolizei(leit)stellen darüber in Kenntnis setzte, dass »bis zum Erlass reichseinheitlicher Vorschriften nur die von den Ländern vorgesehenen vorbeugenden Maßnahmen zu treffen« seien.36 Eine zweite, ökonomisch-arbeitsmarktpolitische Interpretationslinie stellt die März-Razzia in den Kontext der Arbeitskräftebeschaffung und der Expansion des KZ-Systems. Broszat und Terhorst zufolge habe man durch die Ausweitung der Haftpraxis eine größere Anzahl von Häftlingen für den Ausbau der KZ beschaffen bzw. deren Arbeitskraft in neu errichteten SS-eigenen Produktionsbetrieben gewinnbringend ausbeuten wollen.37 Dieser Einschätzung widersprechen Wachsmann und Wagner. Da man weit über die Hälfte der Verhafteten in die KZ Lichtenburg und Sachsenburg einwies, deren Erweiterung nicht vorgesehen war, hält Wachsmann es für unwahrscheinlich, dass die Neuzugänge als Arbeitskräfte beim Ausbau der Lager eingesetzt werden sollten.38 Wagner wiederum sieht in der »Verzahnung kriminalpräventiver Ziele mit den Interessen des auf Expansion angelegten KZ-Systems«39 zwar grundsätzlich ein typisches Kennzeichen der kriminalpolizeilichen Massenrazzien 1937/38, doch sei zwischen der März-Razzia und der Beschaffung von Arbeitssklaven für die SS-Produktionsstätten schon allein deswegen kein direkter Kausalzusammenhang herzustellen, weil die Gründung der ersten Einrichtung dieser Art, der Deutschen Erd- und Steinwerke GmbH (DEST), erst ein Jahr nach der Aktion, im Frühjahr 1938 erfolgte. Ein anderes Argument der ökonomisch-arbeitsmarktpolitischen Interpretationslinie ist jedoch nicht so leicht von der Hand zu weisen. Es stützt sich auf die Rhetorik der einschlägigen Erlasse, die als Zielgruppe der Verhaftungsaktionen männliche, arbeitsfähige, aber nicht in den Arbeitsprozess integrierte Personen angeben, und leitet daraus Schlussfolgerungen über die Ziele der Razzien ab.40 Angesichts der ökonomischen Entwicklung, die ab Mitte der 1930erJahre die Massenarbeitslosigkeit in Vergessenheit geraten ließ und stattdessen für eine Verknappung des Arbeitskräfteangebotes sorgte, hätten die Massenverhaftungen zur restlosen Erfassung und Ausbeutung des vorhandenen Arbeits35 Schnellbrief RFSSuChdDtPol, 23.2.1937, zit. nach Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 28. 36 Schreiben RKPA, 27.8.1937, in: ebd., S. 31. Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 724 f.; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 259. 37 Vgl. Broszat, Konzentrationslager, S. 92; Terhorst, Überwachung, S. 111 f. 38 Vgl. Wachsmann, KL, S. 144 Anm. 51. Für die Anzahl der Zugänge in den einzelnen Lagern vgl. Langhammer, Verhaftungsaktion, S. 62. 39 Wagner, Volksgemeinschaft, S. 255. 40 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 163; Broszat, Konzentrationslager, S. 92.
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kräftepotenzials gedient. Überdies hatte der wirtschaftliche Aufschwung den Handlungsspielraum der Arbeiterschaft erhöht, was zu sinkender Leistungsbereitschaft und steigenden Krankenständen führte. Da die disziplinierend wirkende Angst der Arbeiter vor Entlassung der Vergangenheit angehörte, habe das Regime sich auf eine gewaltsame Erzwingung der Leistungsnormen verlegt.41 Lässt man bei einer Bewertung des Verhaftungskriteriums »Arbeitsscheu« jedoch die längeren Entwicklungslinien der sozialrassistischen und kriminalpräventiven Verfolgung außer Acht, kommt man leicht zu einseitigen Gewichtungen. Gerade die Leistungsverweigerung trotz vorhandener Arbeitsfähigkeit, die Essenz des Vorwurfs »Arbeitsscheu«, bildete traditionell das zentrale Kriterium für die Anordnung polizei- und fürsorgerechtlicher Zwangsmaßnahmen.42 Dementsprechend zielten ihre Anordnungsvoraussetzungen von jeher auf die Feststellung, ob tatsächlich »Arbeitsscheu« vorlag. Dieser Beweis konnte unterschiedlich geführt werden. Himmlers Befehl vom 23. Februar 1937 sah vor, nur Mehrfachstraftäter zu verhaften, die in keinem festen Arbeitsverhältnis standen und zudem ledig waren. Damit griff Himmler ein Kriterium auf, das schon lange vor der März-Razzia von dem Verdacht auf »Arbeitsscheu« entlasten konnte. So hatte das bayerische »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz« bereits elf Jahre zuvor die Verhängung des sicherheitspolizeilichen Arbeitszwangs ausgeschlossen, wenn die Zielperson nachweisen konnte, dass »sie sich […] in geregelter Arbeit befindet oder ernstlich um Arbeit bemüht« ist.43 Auch in der Anwendung der §§ 19 und 20 RFV spielte die Überprüfung der Arbeitswilligkeit eine zentrale Rolle.44 Sogar der preußische »Vorbeugungshafterlass« vom November 1933 machte indirekt die »Arbeitsscheu« zur Anordnungsvoraussetzung. Indem er als »Berufsverbrecher« jene Personen definierte, »die ausschließlich oder zum größten Teil vom Erlös aus Straftaten leben«,45 erhob er die Frage des Broterwerbs durch geregelte Arbeit zum zentralen Bestimmungskriterium der Zielgruppe. Jeder, der diesbezüglich die sozialen Normen verfehlte, galt automatisch als »arbeitsscheu«. Da es sich bei der »Vorbeugungshaft« um eine straftatunabhängige Präventivmaßnahme handelte, bei deren Anordnung kein konkreter Tatverdacht vorliegen musste, war der Rekurs auf das »arbeitsscheue« Verhalten der Zielperson oft die einzige Möglichkeit, den Verdacht zu begründen, sie bestreite ihren Lebensunterhalt aus dem Erlös von Straftaten. Auch die mildere Behandlung von Familienvätern, die Himmlers Befehl vom Februar 1937 vorsah, findet sich schon im preußischen »Vorbeugungshafterlass« von 1933. Dort hatte das Innenministerium verfügt, dass »bei der Auswahl der mit der Vorbeugungs41 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 150, 162–165; ders., Einweisung, S. 97; Schneider, Hakenkreuz, S. 739–746. 42 Vgl. Hörath, Volksgenossen; dies., Leistung. 43 AVO Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz, GVBlFrstBay 1926, S. 365. 44 Vgl. Hörath, Volksgenossen, S. 315–319. 45 GStAPK, I. HA. Rep. 84a, Nr. 8203, Geheimerlass PrMdI, 13.11.1933 [pr. Vorbeugungshafterlass].
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haft zu treffenden vorbestraften Berufsverbrecher […] bei gleicher Gefährlichkeit zunächst auf Unverheiratete und dann auf kinderlos Verheiratete zurückzugreifen«46 sei. Symptomatischer als der Rekurs auf die Arbeitsfähigkeit und bestehende Beschäftigungsverhältnisse der Zielpersonen war für die Radikalisierung der Verfolgungspraxis, dass man derartige Kriterien bei der Haftanordnung zunehmend ignorierte. Trotz anderslautender Befehle wurden sowohl im Rahmen der März-Razzia 1937 als auch ein gutes Jahr später bei der »Aktion Arbeitsscheu Reich« eine Reihe von Personen verhaftet, die arbeitsunfähig waren bzw. in einem festen Beschäftigungsverhältnis standen. Die Gestapoleitstelle Stuttgart forderte am 24. Februar 1938, in Vorbereitung der April-Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich«, die untergeordneten Behörden sogar explizit dazu auf, den »Begriff des Arbeitsscheuen […] nicht zu eng auszulegen«.47 Ähnlich verfuhren einige Kripo(leit)stellen bei den Massenverhaftungen im Juni. Darauf verweist ein Schreiben des RKPA vom 23. Juni 1938, das beklagt, im Rahmen der »Aktion Arbeitsscheu Reich« seien »auch Personen in Haft genommen worden«, die »zwar früher arbeitslos gewesen sind, inzwischen jedoch bereits längere Zeit in fester Arbeit gestanden haben«.48 Regionalstudien belegen eine entsprechende Haftpraxis anhand einzelner Verfolgungsschicksale.49 Begründet wurde die Haft in solchen Fällen damit, dass die Zielperson das Arbeitsverhältnis lediglich zur »Tarnung« ihrer eigentlichen »Arbeitsscheue« oder ihrer kriminellen Aktivitäten eingegangen sei.50 Derartige Argumentationen bewerteten 46 Ebd. Ein gutes halbes Jahr nach der März-Aktion gegen »Berufsverbrecher« wies das RKPA in einem Rundschreiben die Kriminalpolizei(leit)stellen an, »die zur Bekämpfung des Berufsverbrechertums ergangenen Bestimmungen und Erlasse genauestens und schärfstens anzuwenden«. Gleichzeitig mahnte es, »entsprechend der nationalsozialistischen Auffassung dafür zu sorgen, dass die Familien der Berufsverbrecher keinen Nachteil und Schaden haben«. Schreiben RKPA, 22.10.1937, zit. nach Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 34. Einen ähnlichen Passus enthielt auch der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung«. Vgl. Richtlinien des RKPA über die Durchführung der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, 4.4.1938, in: ebd., S. 71; »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung«, in: Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 97, Dok 50. 47 Zit. nach Kolata, Sozialdisziplinierung, S. 325. 48 Schreiben RKPA, 23.6.1938, zit. nach Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 85. 49 Vgl. Ayaß, Gebot, S. 57, 69 f.; Kolata, Sozialdisziplinierung, S. 326–329; Lieske, Opfer, S. 103, 146; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 281, 288. 50 Ein Beispiel dafür ist der Fall des Münchners Johann W. der auf Grundlage des »Zigeunerund Arbeitsscheuengesetzes« zunächst nach Rebdorf und dann in das KZ Dachau eingewiesen worden war und gegen diese Maßnahme Beschwerde einlegte. Als Grund gab er an, dass er zum Zeitpunkt der Zwangseinweisung in einem festen Arbeitsverhältnis gestanden habe. Das bayerische Staatsministerium des Innern unterstellte Johann W. daraufhin eine bewusste Täuschung: »Es muss vielmehr angenommen werden«, hieß es, »dass er die Posten als Vertreter nur nebenher und nur deshalb annahm, um gegebenenfalls den Behörden gegenüber Nachweise über seine Tätigkeit in Händen zu haben [sic] und damit seine Arbeitsscheue zu tarnen«. BayHStA München, MInn 71565, Schreiben BayStMdI, November
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den unterstellten »inneren Hang zum Verbrechen« oder eine angeblich erblich bedingte »Asozialität« höher als das tatsächliche Sozialverhalten der Betroffenen. Aber auch dieses Argumentationsmuster hatte, ebenso wie die Forderung, es mit dem Nachweis der »Arbeitsscheu« nicht zu genau zu nehmen, lange zurückreichende Vorläufer. Im November 1934 warnte z. B. das Bayerische Innenministerium in seiner Durchführungsverordnung zum § 20 RFV die Bezirksämter vor einer »zu ängstliche[n] Abwägung der Leistungsfähigkeit« und ermunterte sie, auch »Leute mit beschränkter Arbeitsfähigkeit« und »leichteren Gebrechen« nach Dachau einzuweisen.51 Angesichts der arbeitsmarktpolitischen Lage ab Mitte der 1930er-Jahre rückten flächendeckende Repressionen gegen »Arbeitsscheue«, die der Erfassung und Sozialdisziplinierung eines vermeintlich brachliegenden Arbeitskräftepotenzials dienen sollten, zweifelsohne in den Planungshorizont der Polizeiführung. Himmlers Ankündigung eines umfassenden Angriffs auf nicht in den regulären Arbeitsmarkt integrierte Personen auf der Ministerratssitzung Anfang Februar 1937 legt davon eindrücklich Zeugnis ab. Möglicherweise begann sich diese Absicht im Denken Himmlers schon im Frühjahr 1937 mit seinen kriminalpräventiven Aspirationen zu amalgamieren. Das altbekannte Kriterium der »Arbeitsscheu« wurde dann im Verlauf des Sommers 1938 stärker ökonomisch aufgeladen und erhielt dadurch eine neue Qualität,52 die in der Radikalisierung des polizeilichen Vorgehens gegen Devianz und Delinquenz und dem Einsatz »krimineller« und »asozialer« Häftlinge zur Zwangsarbeit in den Steinbrüchen Flossenbürgs und Mauthausens bald auch praktisch ihren Ausdruck fand.53 Andererseits gibt es keinen Beleg dafür, dass das Ziel der Arbeitskräfte rekrutierung schon Anfang 1937 den polizeilichen Großeinsatz gegen Mehrfachstraftäter direkt beeinflusste. Im Gegenteil, in einer Ansprache vor den SSGruppenführern am 8. November 1937 nannte Himmler als Zweck der Razzia ausschließlich die Verhütung von Verbrechen. Nichts deutet in dieser Rede auf ökonomisch-arbeitsmarktpolitische Motive hin.54 Wenn solche Erwägungen 1938. Bestärkt wurden derartige Argumentationsmuster im Januar 1938 durch ein Schreiben des RFSS, das im Vorfeld »Aktion Arbeitsscheu Reich« davor warnte, »Arbeitsscheue« würden sobald sie Kenntnis von den geplanten Massenverhaftungen erhielten »sofort Arbeitswilligkeit vortäuschen, ohne aber […] tatsächlich fruchtbare Arbeit zu leisten«. Schreiben RFSSuChdDtPol, 26.1.1938, zit. nach Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 46. 51 BayHStA München, MInn 71561, DVO BayStMdI zum § 20 RFV (Arbeitszwang), 22.11.1934. 52 Vgl. Wachsmann, KL, S. 145 Anm. 56. 53 Zur Bedeutung und den Opfern des Arbeitseinsatzes in Flossenbürg und Mauthausen vgl. ebd., S. 163–166. 54 Dort heißt es: »Ich bin vielmehr der Ansicht, daß ein großer Teil von politischen und kriminellen Verbrechern – wir haben ja in diesem Jahr 2.000 kriminelle Verbrecher, die mindestens 6 Vorstrafen und 6–7 Jahre Zuchthaus hatten, eingesperrt, worauf sich die Verbrechensziffer recht erheblich gesenkt hat – viele Jahre ihres Lebens, mindestens aber so lange, bis sie sich an Ordnung gewöhnt haben, und zwar nicht, daß sie nach unserer Überzeugung ordentliche Menschen geworden sind, sondern gebrochen in ihrem Willen, in den Lagern
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für Himmler im Kontext der Aktion tatsächlich eine zentrale Rolle gespielt hätten, was hätte ihn davon abhalten sollen, sich vor Mitgliedern des engsten Führungszirkels der SS damit zu rühmen, durch die Razzia gegen »Berufsverbrecher« einen wichtigen Beitrag zur »Arbeitsschlacht« geleistet zu haben? Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass mit der Planung und Umsetzung unterschiedliche Ebenen des Polizeiapparates betraut waren. Die Ziele der Planer müssen daher nicht mit den Interessen derjenigen übereingestimmt haben, die für die Durchführung zuständig waren.55 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass das preußische LKPA die Personen, die bei der Razzia im März 1937 verhaftet wurden, aus den zuvor von lokalen Kripobeamten erstellten Listen auswählte. Das schlug sich auch im Ergebnis der Razzia nieder. Zwar gewährten die Zentralinstanzen, da sie kein »bestimmtes Vorstrafenerfordernis« formulierten, den Kripo(leit)stellen eine gewisse Handlungsfreiheit. Das führte aber nicht, wie Terhorst annimmt, dazu, dass kriminalistische Erwägungen bei der Erstellung der Verhaftungslisten keine Rolle spielten.56 Vielmehr legen die bekannten Fakten die Vermutung nahe, dass die Kripo(leit)stellen sich auf ihre angestammte Klientel konzentrierten und die polizeibekannten »Berufs«-, »Gewohnheits«- und »Sittlichkeitsverbrecher« ihres Bezirks namhaft machten, wobei sie die Befreiung von den bisherigen Bindungen der »Vorbeugungshaft« sicherlich nutzten, um notorischer Straftäter habhaft zu werden, deren Vorstrafenregister die Anordnungsvoraussetzungen bislang nicht erfüllt hatten. Kriterien wie die körperliche Verfassung, mögliche Arbeitsleistungen oder Krankheiten, die tatsächlich auf eine Arbeitskräfterekrutierung hindeuten würden, blieben Lieske zufolge dagegen unberücksichtigt. Sie geht zudem von einem verhältnismäßig hohen Altersdurchschnitt der Häftlinge aus, da eine Reihe von Vorstrafen akkumuliert werden mussten, bevor eine Person dem kriminalistischen Bild des »Berufsverbrechers« entsprach.57 Durch die kriminologisch-strafrechtliche Debatte der vorangegangenen Jahrzehnte und die 1933 einsetzende Praxis »vorbeugender Verbrechensbekämpfung« war dieses Bild im Denken der Kriminalpolizei fest etabliert. Um es abzurufen, bedurfte es im Jahre 1937 keiner genaueren Spezifizierungen anhand von Deliktarten und Vorstrafen. Die Aufforderung, jene Mehrfachstraftäter zu benennen, die »nach Auffassung der Kriminalpolizei als Berufs- und Gewohnheitsverbrecher sowie als gewohnheitsmäßige Sittlichkeitsverbrecher anzusprechen« seien, reichte aus.58 Das bestätigt auch die bereits zitierte Statistik vom November 1937. Trotz behalten müssen. Es wird sehr viele geben, die wir niemals herauslassen dürfen; […].« Rede RFSSuChdDtPol vor SS-Gruppenführern, 8.11.1937, zit. nach Smith, Himmler, S. 112. Vgl. Langhammer, Verhaftungsaktion. 55 Vgl. Lieske, Opfer, S. 103; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 289. 56 Vgl. Terhorst, Überwachung, S. 109–112. 57 Vgl. Lieske, Opfer, S. 97 f. 58 Aus Sicht der Polizeiführung ging es bei der Anweisung ja auch »nur« um die Koordination einer einmaligen »Sonderaktion«, deren Ausführung zudem noch die Kontrolle der tatsächlich zu verhaftenden Personen durch das preußische LKPA vorgeschaltet war. Wie der
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einiger Verschiebungen in der Verteilung der Deliktarten machten Einbrecher und Diebe, die im Denken der Kriminalstrategen traditionell den »harten Kern« des »Berufsverbrechertums« bildeten, mit 61 Prozent die Mehrheit der »Vorbeugungshäftlinge« aus.59 Die Annahme, die März-Razzia 1937 habe eigentlich der Arbeitskräftebeschaffung gedient und ihre kriminalpräventiven Ziele seien demgegenüber als »vorgeschobenes Alibi« zu betrachten,60 reduziert die komplexen Motive der Razzia und die divergierenden Interessen der beteiligten Akteure unzulässig zugunsten einer einseitigen, ökonomischen Erklärung.
7.3 Der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« vom 14. Dezember 1937 Am 14. Dezember 1937 schuf das Reichsinnenministerium mit dem »Grundlegende[n] Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei«61 reichseinheitliche Richtlinien zur Kriminalprävention. Hauptverant wortlich für die Ausarbeitung des »Grunderlasses« war der Gruppenleiter des Bereichs »Kriminalpolitik und Vorbeugung« im RKPA Paul Werner, der zuvor als Leiter des badischen LKPA in Karlsruhe Erfahrungen mit einer länderrechtlichen Regelung der »Vorbeugungshaft« hatte sammeln können, die neben »Berufsverbrechern« auch »Asoziale« einbezog. Elemente dieser Regelung finden sich im »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« bzw. in den »Richtlinien des Reichskriminalpolizeiamtes über die Durchführung der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung«62 vom 4. April 1938 wieder. So war die gravierendste Neuerung, die der »Grunderlass« mit sich brachte, die Erweiterung der Zielgruppe der »Vorbeugungshaft« um die »Asozialen«. Neben den »Berufs«- und »Sittlichkeitsverbrechern« sowie den »Gemeingefährlichen«, die der preußische »Vorbeugungshafterlass« bereits 1933 beschrieben und erfasst hatte, bezog der »Grunderlass« fortan außerdem die »Gewohn»Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« zeigt, legte man bei der Kodifizierung der künftigen Richtlinien für die Kriminalprävention im Winter 1937 durchaus Wert auf die Formulierung mehr oder minder klarer Anordnungsvoraussetzungen. 59 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft, S. 257. 60 Vgl. Terhorst, Überwachung, S. 111 f. 61 Vgl. Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 41–44. Im Folgenden zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 94–98, Dok 50. Für eine Darstellung und Analyse des »Grunderlasses« vgl. ders., Asoziale (1995), S. 139 f.; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 258–262. 62 »Richtlinien des Reichskriminalpolizeiamtes über die Durchführung der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung«, 4.4.1938, in: Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 65–78. Im Folgenden zit. als »Durchführungsrichtlinien zum Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung«.
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heitsverbrecher« in die präventive Verbrechensbekämpfung der Kriminalpolizei ein.63 Damit umfasste er sämtliche Personengruppen, welche die zeitgenössische Kriminologie als Träger des Verbrechens identifiziert zu haben meinte und auf deren »Besserung« und »Sicherung« sich die Zweckstrafe seit ihrer Erfindung Ende des 19. Jahrhunderts richtete. Die »Asozialen« kennzeichnete dem »Grunderlass« zufolge ihr »gemeinschaftsschädigendes« Betragen. »Asozial« sei, »wer, ohne Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch sein asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdete«,64 lautete die Formulierung. Mit diesen Kriterien knüpfte der »Grunderlass« an vorangegangene polizei- bzw. fürsorgerechtliche Bestimmungen an. So hatte die RFV im § 20 die aus »sittliche[m] Verschulden[s]«65 resultierende Schädigung der Allgemeinheit zur Anordnungsvoraussetzung des Arbeitszwangs gemacht, das bayerische »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz« unterstellte seiner Zielgruppe eine Gefährdung der »allgemeine[n] Sicherheit«,66 die thüringische Variante der »Vorbeugungshaft« für »asoziale« Frauen erhob die »allgemeine Moralauffassung der Bevölkerung«67 zum Schutzobjekt und in Baden waren »asoziale und arbeitsscheue Personen«, die eine »Gefahr für ihre Umwelt«68 darstellten, Zielgruppe der Kriminalprävention. Auch die Beschreibung der Untergruppen der »Asozialen« in den Durchführungsrichtlinien vom 4. April 1938 knüpften an ältere Rechtstraditionen an: »a) Personen, die durch geringfügige, aber sich immer wiederholende Gesetzesübertretungen sich der in einem nationalsozialistischen Staat selbstverständlichen Ordnung nicht fügen wollen (z. B. Bettler, Landstreicher (Zigeuner), Dirnen, Trunksüchtige, mit ansteckenden Krankheiten, insbesondere Geschlechtskrankheiten behaftete Personen, die sich den Maßnahmen der Gesundheitsbehörden entziehen); b) Personen, ohne Rücksicht auf etwaige Vorstrafen, die sich der Pflicht zur Arbeit entziehen und die Sorge für ihren Unterhalt der Allgemeinheit überlassen (z. B. Arbeitsscheue, Arbeitsverweigerer, Trunksüchtige). In erster Linie sind bei der Anwendung der polizeilichen Vorbeugungshaft Asoziale ohne festen Wohnsitz zu berücksichtigen.«69 63 Während der »Grunderlass« die länderrechtlichen Regularien zur »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« ausdrücklich außer Kraft setzte, bestanden die Vollzugsvorschriften der Länder zur RFV fort. Zwar führte die Ausweitung der »Vorbeugungshaft« auf »Asoziale« zu einem Bedeutungsverlust fürsorgerechtlicher Maßnahmen, doch verdrängte sie diese nicht ganz. So wurden in Bayern bis in die 1940er-Jahre hinein »arbeitsscheue« Wohlfahrtsunterstützungsempfänger und »säumige Unterhaltszahler« auf Grundlage des § 20 RFV in das KZ Dachau eingewiesen. Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 224 f.; Eberle, Asoziale, S. 258. 64 »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung«, 14.12.1937, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 96, Dok 50. Vgl. Terhorst, Überwachung, S. 138–144. 65 § 20 RFV, zit. nach Baath, Verordnung, S. 15. 66 AVO Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz, GVBlFrstBay 1926, S. 364. 67 ThRdErl Vorbeugungshaft [dritter thür. Vorbeugungshafterlass], BMstP 1935, S. 127. 68 GLA Karlsruhe, 233, Nr. 25984, Schreiben BadMdI, 9.3.1934 [Vorbeugungshafterlass]. 69 »Durchführungsrichtlinien zum Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung«, zit. nach Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 71.
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Der Absatz a) fasste jene Gruppen zusammen, die traditionell unter die strafrechtlichen Bestimmungen der §§ 361 und 362 RStGB fielen und die bereits in der Anfangsphase des NS-Regimes die Zielgruppen großer Razzien darstellten. Absatz b) kann als Inkorporation der Bestimmungen des § 20 RFV in die »vorbeugende Verbrechensbekämpfung« gelesen werden. Die Formulierung, es gehe um Personen, welche »die Sorge für ihren Unterhalt der Allgemeinheit überlassen«, rekurrierte deutlich auf die einschlägigen Anordnungsvoraussetzungen.70 Schließlich scheint im letzten Satz des Zitates erneut die Angst der Nationalsozialisten vor dem unkontrollierbaren und daher per se »gefährlichen« Wanderer auf, die bereits 1933 bei der Verfolgung von Bettlern und Landstreichern eine wichtige Rolle gespielt hatte. Weder der im »Grunderlass« unter dem Begriff »Asoziale« zusammengefasste Personenkreis war also neu,71 noch die unterstellte »Gefährlichkeit«. Selbst wenn man diese als eine »rassische« Gefährdung der »Volksgemeinschaft« dechiffrieren würde, ließe sich am »Grunderlass« kein substanzieller ideologi scher Bruch mit den vorangegangenen Verfolgungstraditionen ablesen. Das Argument, die »Asozialen« gefährdeten die »Gemeinschaft«, war so alt wie die Idee der »Rassenhygiene« selbst. Neu war, und das macht die Brisanz und das Radikalisierungspotenzial dieser Zielgruppendefinition aus, dass sie im Unterschied zu ihren konzeptionellen Vorläufern weder durch formale Faktoren noch in ihrer juristischen Konstruktion begrenzt war. Sie war weder, wie die »Vorbeugungshaft« für »asoziale« Frauen in Thüringen, an eine fest umrissene Bevölkerungsgruppe geknüpft, noch auf eine bestimmte Region beschränkt.72 Sieht man von der unterstellten Gefährdung der Allgemeinheit ab, formulierte der »Grunderlass« nicht einmal näher definierte und intersubjektiv überprüfbare Anordnungsvoraussetzungen. Darin unterschied sich die »Vorbeugungshaft« für »Asoziale« wesentlich von der für die »Berufs«- und »Gewohnheitsverbrecher«, bei denen die subjek-
70 Ab März 1940 bemühte sich das Reichsjustizministerium um eine Verschärfung der strafrechtlichen Bestimmungen gegen Verletzungen der Unterhaltspflicht, da es angesichts der Verhängung polizeilicher »Vorbeugungshaft« gegen »säumige Unterhaltszahler« den bisherigen § 361 Abs. 10, der das inkriminierte Verhalten lediglich als Übertretung einstufte, für unzureichend hielt. Realisiert wurde die geforderte Verschärfung schließlich mit der »Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft« deren § 170b die Verletzung der Unterhaltspflicht von einem Vergehens- zu einem Straftatbestand hochstufte und die Tatmodalitäten erweiterte. Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 740 f.; Schramm, Ehe, S. 329–331. 71 Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 726. 72 Ein hemmender Faktor scheinen zuvor auch Unkosten der Zwangsunterbringung gewesen zu sein. So kamen bei den fürsorgerechtlichen Anstaltseinweisungen die Wohlfahrtsverbände für die Unterbringungskosten auf. Der Antragsteller war in der Regel also auch der Kostenträger, was dazu führte, dass viele Wohlfahrtsverbände bei der Verhängung des Arbeitszwangs nach § 20 RFV eine gewisse Zurückhaltung an den Tag legten. Vgl. Schreiben Oberbürgermeister Stadt Münster, 17.6.1938, in: Ayaß, Asoziale (1995), S. 137; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 280.
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tiven durch objektive Anordnungsvoraussetzungen ergänzt wurden. Letztere glichen denen des preußischen »Vorbeugungshafterlasses« vom November 1933. Der in den Durchführungsrichtlinien beschriebene Geschäftsgang für die Anordnung und den Vollzug der »Vorbeugungshaft« bündelte die zuvor länderrechtlich geregelten und zum Teil unübersichtlichen Verfahrensweisen.73 Waren zuvor zahlreiche Akteure aus dem Bereich der Wohlfahrts- und Strafrechtspflege in die sozialrassistische und kriminalpräventive Verfolgung involviert gewesen, autorisierte der »Grunderlass« allein die Kripo mit ihren zentralisierten Befehlsstrukturen. Die Anordnung der »Vorbeugungshaft« lag in der Kompetenz der Kriminalpolizei(leit)stellen, doch musste das RKPA sie anschließend bestätigen. Über Beschwerden und Entlassungen befand ebenfalls das RKPA. Als unabdingbare Voraussetzung für eine Entlassung galt neben dessen Zustimmung,74 dass der Häftling sofort nach Haftende eine Arbeitsstelle antreten konnte.75 Darin ist unschwer das pervertierte, aber aus der »nachgehenden Fürsorge« der Arbeitshäuser bekannte Verfahren zu erkennen, das möglicherweise der KZ-Direktor Hugo Krack erstmals auf die Insassen eines KZ angewendet hatte. Der »Grunderlass« brachte also zwei wesentliche Neuerungen mit sich. Erstens räumte er der Kriminalpolizei weit umfangreichere Kompetenzen in der Bekämpfung von »Asozialität« ein als je zuvor. Zweitens institutionalisierte er die zentrale Steuerung der Kriminalprävention. Alle übrigen Bestimmungen des Erlasses standen eher in Kontinuität zu den vorangegangenen länderrechtlichen Regelungen. In der Praxis erprobte und für tauglich befundene Elemente waren übernommen worden, wobei der preußische »Vorbeugungshafterlass« die zentrale, aber nicht die allein ausschlaggebende Vorlage bildete. Zuvor in der Anwendung aufgetretene Schwierigkeiten versuchte man, durch eine Feinjustierung zu beheben. Das RKPA selbst betonte in der Präambel des Erlasses, es habe die polizeiliche »Vorbeugungshaft« »in Auswertung der bisherigen Erfahrungen und der durch die kriminalbiologische Forschung gewonnenen Erkenntnisse«76 erweitern wollen. 73 Nimmt man allein den Tatbestand der »Arbeitsscheue«, konnte in Bayern je nach konkreter Lage des Falls »korrektionelle Nachhaft« durch einen Richter, fürsorgerechtlicher Arbeitszwang durch ein Bezirksamt oder sicherheitspolizeilicher Arbeitszwang durch die Polizeidirektion verhängt werden. 74 In der Praxis stützte sich das RKPA bei seinen Haftprüfungen bzw. in den Entscheidungen über Entlassungsgesuche ausschließlich auf die Gutachten der Kripostellen und die »Führungszeugnisse« der Lagerkommandanten. 75 Laut den Durchführungsrichtlinien galt es, einen »Vorbeugungshäftling« im Anschluss an seine Entlassung aus dem KZ nicht nur unverzüglich unter polizeiliche planmäßige Überwachung zu stellen, sondern es war darüber hinaus »in jedem Fall […] die Sicherstellung eines geeigneten Arbeitsplatzes erforderlich«. »Durchführungsrichtlinien zum Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung«, 14.12.1937, zit. nach Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 71. 76 »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung«, 14.12.1937, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 95, Dok 50.
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Der letzte Teil dieser Bemerkung spielt eine wichtige Rolle in den historischen Bewertungen der Ereignisse 1937/38. Nach Herberts und Terhorsts Einschätzung wies der »Grunderlass« erstmals ausdrücklich auf »die Kriminalbiologie als wissenschaftliche Grundlage polizeilicher Maßnahmen zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung«77 hin. In der Folge hätten erbbiologische Vorstellungen zunehmend praktische Relevanz gewonnen, was laut Terhorst mit einem »erweiterten Präventionsauftrag der Kriminalpolizei«78 oder, um mit Herbert zu sprechen, mit dem Übergang zur »rassischen Generalprävention«79 einhergegangen sei. In diesem Zusammenhang ist auch von der Etablierung des »völkische[n] Polizeibegriff[s]«80 die Rede. Ab 1935 bis etwa 1938 habe sich laut Herbert »ein durchgreifender Wandel der polizeilichen Tätigkeit« vollzogen, woraufhin ihr »ganz neue und historisch einzigartige Aufgaben und Bedeutungen« zukamen.81 Die Ausrichtung der Polizeiarbeit »auf ein umfassendes gesellschaftsbiologisches Programm« habe »quantitativ wie qualitativ eine neue Dimension« dargestellt.82 Als zentrale Kennzeichen des dadurch etablierten »völkischen Polizeibegriffs« beschreibt Terhorst erstens die drastische Beschneidung der Rechte des Einzelnen gegenüber polizeilichem Eingreifen im Namen übergeordneter Interessen der »Volksgemeinschaft«, zweitens die Erweiterung der polizeilichen Aufgaben über die Gefahrenabwehr hinaus auf den Schutz dieser »Gemeinschaft« und drittens die Aufhebung der Gesetzes bindung polizeilichen Agierens.83 Obwohl derartige Argumentationen, deren zentrales Anliegen es ist, die Spezifika der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik herauszuarbeiten, auch die Prozesshaftigkeit der Entwicklung thematisieren,84 betonen sie die Zäsur 1937/38 sehr stark. Dies ist sicherlich nicht zuletzt dem Stand der Historiogra77 Terhorst, Überwachung, S. 118. Vgl. Herbert, Best, S. 176; ders., Gegnerbekämpfung, S. 80; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 262. 78 Terhorst, Überwachung, S. 118. 79 Herbert, Gegnerbekämpfung, S. 60. 80 Terhorst, Überwachung, S. 4. Vgl. Nitschke, Polizei, S. 308. Der Substanz nach, aber ohne den Begriff selbst zu nennen: Herbert, Gegnerbekämpfung, S. 73. Ayaß spricht bezüglich der »Asozialen«-Verfolgung von der »›völkischen‹ Phase« ab 1938, die er von einer vorangegangenen »autoritären Phase« unterscheidet. Ayaß, Asoziale (1995), S. 224. Roth siedelt den Übergang zur »›völkischen‹ Kriminalpolitik« erst nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, in den 1940er-Jahren an, wobei die Weichen bereits ab 1938 gestellt worden seien. Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 209, 218. 81 Herbert, Gegnerbekämpfung, S. 81. Vgl. ders., Best, S. 176. 82 ders., Gegnerbekämpfung, S. 81. 83 Vgl. ebd., S. 69 f.; Terhorst, Überwachung, S. 49–54; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 262–265. 84 So spricht Terhorst im Zusammenhang mit dem »völkischen Polizeibegriff« davon, dass bereits 1933 das »Volk zum alles bestimmenden politischen Prinzip« erhoben worden sei und Herbert arbeitet eine Reihe von Entwicklungsschritten heraus, die auf die Jahre 1934/35 datieren. Terhorst, Überwachung, S. 50. Herbert wiederum erörtert ausführlich die Wurzeln der nationalsozialistischen Kriminalprävention in der Rassenhygiene des ausgehenden 19. Jahrhunderts und verweist auf die Schranken des Rechtsstaates, die bis 1933 ihrer praktischen Umsetzung im Wege standen. Vgl. Herbert, Gegnerbekämpfung, S. 75–77.
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fie in den 1980er- und 1990er-Jahren geschuldet, als die Forschung gerade erst begann, den Repressionen gegen soziale Randgruppen Aufmerksamkeit zu schenken. Differenzierter argumentiert dagegen Roth am Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts. Auch er beschreibt die Ablösung einer »autoritären Phase« der Kriminalpolitik durch eine »völkische«, unterstreicht aber gleichzeitig, dass diese Zäsur nicht zu scharf gezogen werden sollte,85 was er u. a. damit begründet, »dass die wichtigsten Konzepte, Strategien und Instrumente nationalsozialistischer ›Verbrechensbekämpfung‹ bereits in den 1930er-Jahren angelegt und erprobt wurden«.86 Wagner nimmt hier noch eine Akzentuierung vor, indem er darauf hinweist, dass das Spezifische des Nationalsozialismus »primär darin [lag], daß er mit der schrankenlosen Bevollmächtigung der Polizei, ihrer Lösung aus dem Normen- und Versetzung in den Maßnahmenstaat, die konsequente Übersetzung der kriminalbiologischen Theorien in exekutive Praxis möglich machte«.87 Diese Argumente werden durch die vorliegende Studie gestützt. Im Vorangegangenen konnte gezeigt werden, dass die Entstehung der Kriminologie als Wissenschaft eng mit Erklärungsansätzen verbunden war, welche die Ursachen des Verbrechens in der Person des Täters, seiner Psyche, seinem »Erbgut« oder anderweitig »charakterlichen«, kaum oder schwer veränderbaren Eigenschaften verorteten. Für die qualitativen Neuerungen in der Auffassung des Strafens Ende des 19. Jahrhunderts, deren pervertierte Konsequenz die Kriminalprävention nationalsozialistischer Prägung darstellte, war nicht so sehr eine streng erbbiologische Theorie ausschlaggebend, sondern das deterministische Täterbild in seinen verschiedenen Facetten. Sein Aufkommen war von Beginn an mit der Vorstellung verknüpft, dass Kriminalität als soziales Phänomen nachhaltig eliminiert werden könne, würden nur ihre Träger durch dauerhafte Inhaftierung und/oder Sterilisation daran gehindert, die Gesellschaft weiter mit ihrem sozialschädigenden Verhalten zu bedrohen und ihre erworbenen bzw. ererbten negativen Eigenschaften an ihre Nachkommen weiterzugeben.88 Die ersten Schritte zur praktischen Umsetzung derartiger Theorien waren – wenn man von Stufenstrafvollzug in der Weimarer Republik absieht – in den Jahren 1933/34 neben dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vor allem der preußische »Vorbeugungshafterlass« und das »Gewohnheitsverbrechergesetz«89 sowie die in der Folge kodifizierten länderrechtlichen Regelungen zur »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung«. Das zentrale Anliegen, das die »Strategen der Verbrechensbekämpfung« Anfang der 1930er-Jahre mit der Einführung dieser Erlasse und Verordnungen verfolgten, bestand in der 85 Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 209 f. 86 Ebd., S. 210. 87 Wagner, Volksgemeinschaft, S. 270. 88 Gemäß der zeitgenössischen Kriminologie konnten auch durch soziale Umstände erworbene Eigenschaften auf die folgende Generation übertragen werden. 89 Zu dieser Einschätzung kommt auch Herbert. Vgl. Herbert, Best, S. 174.
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dezidierten Stärkung der präventiven Komponente der Polizeiarbeit. Auch die Erweiterung des polizeilichen Präventionsauftrags über den Schutz von Sicherheit und Ordnung hinaus findet sich schon dort. Wie weiter oben bereits in Erinnerung gerufen, zielten schon die frühen Regularien auf einen »Gemeinschaftsschutz«, dem ein erweiterter Gefahrenbegriff zugrunde lag. So war die Aufgabe, die Zersetzung der »Moralauffassung der Bevölkerung«90 zu verhindern, kaum mit einem engen Begriff polizeilicher Gefahrenabwehr vereinbar. Mit derartigen Zwecksetzungen ging schon Anfang der 1930er-Jahre die drastische Beschneidung von Persönlichkeitsrechten einher, die nicht nur die politischen Gegner des Regimes, Juden oder Homosexuelle betraf, sondern auch Angehörige sozialer Randgruppen wie Wohlfahrtsunterstützungsempfänger, Wanderer, Prostituierte und Mehrfachstraftäter. Die Funktionsbestimmung der »Sicherungsverwahrung«, die das Preußische Innenministerium am 21. Dezember 1933 in einer Vollzugsvorschrift zum »Gewohnheitsverbrechergesetz« formulierte, ist ein bemerkenswertes Zeugnis für die Unterordnung individueller Freiheitsrechte unter die Interessen der »Volksgemeinschaft«: »Die Sicherungsverwahrung hat den Zweck, den als gefährlichen Gewohnheitsverbrecher Verurteilten, nachdem er durch die Verbüßung der Freiheitsstrafe seine Tat gesühnt hat, durch die Verwahrung unschädlich zu machen, so dass die Volksgemeinschaft vor weiteren strafbaren Handlungen geschützt wird.«91
Angesichts der Kontinuitäten zwischen dem »Grunderlass« und den vorangegangenen Regularien zur Kriminalprävention scheint ein Argument, das in der jüngeren Forschungsliteratur an Bedeutung gewinnt, die Radikalisierung der Verfolgungspraxis plausibler zu erklären, als Interpretationsansätze, die eine Zäsur in der Entwicklung hervorheben. So beobachtet Roth, dass sich ab 1937/38 die »Koordinaten der Kontrollpolitik« um ein »wesentliches Stück verschoben«,92 als der Krieg im Planungshorizont des Polizeiapparates an Bedeutung gewann. Während in den frühen 1930er-Jahren noch die Staffelung der Sanktionen, der selektive Zugriff und eine deutliche Orientierung an den Traditionen der bürgerlichen Sozialdisziplinierung die »vorbeugende Verbrechensbekämpfung« bestimmt hätten, habe die Entwicklung ab 1937/38 zu einer »Schärfung von Feindbildern, Bedrohungsszenarien und Kontrollansprüchen« geführt.93 Hinzu kam ein Strategiewechsel, der die Radikalisierung der Verfolgungspraxis befeuerte. Hatte der preußische »Vorbeugungshafterlass« von November 1933 den Übergang von der polizeilichen Strafverfolgung zur Kriminalprävention markiert, besiegelte der »Grunderlass« im Dezember 1937 den Schritt 90 ThRdErl Vorbeugungshaft [dritter thür. Vorbeugungshafterlass], BMstP 1935, S. 127. 91 GStAPK, I. HA. Rep. 84a, Nr. 8203, Vollzugsvorschrift PrMdI zur »Sicherungsverwahrung«, 21.12.1933. 92 Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 209. 93 Ebd.
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von der selektiven zur flächendeckenden Inhaftierung, der sich bereits im Februar des Jahres abzuzeichnen begonnen hatte, als Himmler die massenhafte Einweisung von »Arbeitsscheuen« in Lager avisierte. Bis 1937 schrieb man der »Vorbeugungshaft«, ihrem Wesen nach eine auf die »Unschädlichmachung« und gegebenenfalls »Besserung« als »gefährlich« geltender Personen zielende Zweckstrafe, vor allem die Funktion der Abschreckung zu.94 Kurt Daluege behauptete 1936, man habe »bewußt tunlichst klein begonnen und [es] den Erfahrungen überlassen […], wie weit man die neuen Maßnahmen dann ausbauen müsse«.95 Deutete Daluge eine Erweiterung des kriminalpräventiven Agierens nur an, forderte sie Liebermann von Sonnenberg im selben Jahr schon explizit. In seiner Bilanz der Kriminalpolizei in Preußen hob er hervor, die Kriminalpolizei könne Verbrechen noch effizienter verhüten, »wenn wir die Berufsverbrecher immer vollständiger erfassen und wenn die Maßnahmen der Vorbeugungshaft […] auf das ganze Reich ausgedehnt würden«.96 Den entscheidenden Schritt zur Realisierung dieser Forderung vollzog der »Grunderlass« Ende 1937. In seiner Präambel wies das RKPA die untergeordneten Dienststellen an, künftig die Anwendung der »polizeiliche[n] Vorbeugungshaft […] zu erweitern«.97 Welche Dimensionen diese Erweiterung haben sollte, machte das zentral vorgegebene Verhaftungssoll der März-Razzia gegen »Berufsverbrecher« und der »Aktion Arbeitsscheu Reich« den Praktikern in den Dienststellen der Kriminalpolizei unmissverständlich deutlich.98 Dass sich die Konzeption der »Vorbeugungshaft« aber selbst 1937/38 noch an den Ideen der Strafrechtsreformer orientierte, unterstrichen einige markante Passagen des »Grunderlasses«. Wie schon im preußischen »Vorbeugungshafterlass« von 1933 oder den »Schutzhafterlassen« von 1934 hieß es dort, die Dauer der Haft habe sich in der für eine »Sicherungs«- und »Besserungsstrafe« typischen Weise danach zu richten, »wie ihr Zweck es erfordert«.99 Auch der Name des Vollstreckungsortes war am Strafzweck orientiert: Das RKPA bezeichnete die KZ in diesem Zusammenhang als »Besserungs- und Arbeitslager«.100 94 Im Februar 1934 konstatierte Staatssekretär Grauert im zweiten preußischen Erlass zur »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« der »starke Eindruck, den die Einführung der polizeilichen Vorbeugungshaft auf das Berufsverbrechertum gemacht hat«, beweise, »dass sie die beabsichtigte abschreckende Wirkung erreicht« habe. GStAPK, I. HA. Rep. 84a, Nr. 8203, Erlass PrMdI, 10.2.1934 [zweiter pr. Vorbeugungshafterlass; Hervorh. d. Vf.]. Vgl. Daluege, Kampf, S. 36; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 209; Wachsmann, KL, S. 143. 95 Daluege, Kampf, S. 36. 96 Sonnenberg, Bilanz, S. 99. Für ähnlich lautende Forderungen aus den Reihen der Kölner Kripo vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 258. 97 »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung«, 14.12.1937, zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 95, Dok 50. 98 Zu der Radikalisierungsdynamik und den sich wandelnden Zwecksetzungen der »Vorbeugungshaft« im Krieg vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 262–293. 99 Zit. nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 95, Dok 50. 100 Zit. nach ebd.
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Es stellte damit eine ähnliche terminologische Referenz zu den Konzepten der straf- und fürsorgerechtlichen »Be- und Verwahrung« her, wie Himmler es im Juli 1936 bei der Umbenennung des KZ Kislau in »Bewahrungslager« getan hatte. In der entsprechenden Formulierung des »Grunderlasses« ist also weniger eine euphemistische Verharmlosung der KZ zu sehen,101 als ein deutlicher Hinweis auf die kriminologischen und strafrechtlichen Theorietraditionen, innerhalb derer das RKPA seine Strategien der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« verortete: Die »Vorbeugungshaft« war, wie auch die »Schutzhaft«, eine pervertierte und von jedweder juristischen Kontrolle losgelöste Form der modernen Zweckstrafe. Dass deren Durchsetzung als zentralem Mittel der Kriminalprävention in einer solchen enormen Radikalisierung kriminalpolizeilicher Verfolgungstätigkeit münden konnte, lag an den spezifischen politischen, institutionellen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die das NS-Regime etabliert hatte. Ausschlaggebend war erstens, dass die nationalsozialistische Regierung mit der Reichstagsbrandverordnung den Maßnahmenstaat konstituierte und in der Folge die polizeirechtliche Logik der Gefahrenabwehr von den Fesseln der richterlichen Kontrolle befreite. Zweitens schuf man mit der Zentralisierung des Polizeiapparates und dem Ausbau des KZ-Systems ab 1936 überhaupt erst die organisatorischen und institutionellen Voraussetzungen, um eine flächendeckende Erfassung, Kontrolle und Inhaftierung aller als »gefährlich« geltenden Personengruppen realisieren zu können. Eine dritte Vorbedingung ist zweifelsohne darin zu sehen, dass das NS-Regime fanatischen Rassisten wie Himmler und Heydrich die Macht über den Polizeiapparat anvertraute, denn sie waren es, die dafür sorgten, dass eine »rassisch« definierte »Volksgemeinschaft« in allen Winkeln des Reiches als Schutzobjekt polizeilicher Gefahrenabwehr durchgesetzt und die polizeiliche Praxis entsprechend ausgerichtet wurde. Viertens hatte der Nationalsozialismus durch den Dualismus von sozialem Integrationsangebot und Terrordrohung eine gesellschaftliche Stimmung erzeugt, in der man verschärfte Repressionen wie die unbefristete Inhaftierung von Angehörigen gesellschaftlicher Randgruppen als Mittel zur Herstellung von Sicherheit und Ordnung guthieß und unterstützte. Fünftens erfuhr das Kriterium der »Arbeitsscheu« Ende der 1930er-Jahre eine stärkere ökonomische Aufladung und die »vorbeugende Verbrechensbekämpfung« ging, wie noch zu zeigen sein wird, im Verlauf der »Aktion Arbeitsscheu Reich« eine direkte Verbindung mit den arbeitsmarktpolitischen Zielen der Regimeführung ein.102 Damit führt die Geschichte der nationalsozialistischen Kriminalprävention eindringlich die Gefahren vor Augen, die mit einer Abkehr vom Prinzip der Zweckfreiheit von Strafe verbunden sind. In der klassischen Strafrechtstheorie sind das Recht und damit auch die Strafe selbstreferentiell. Nach der klassischen Lehre dient Strafe der Abschreckung und Vergeltung und damit nichts 101 Vgl. Lieske, Opfer, S. 160; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 220. 102 Vgl. Gellately, Outsiders, S. 74.
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anderem als der Wiederherstellung der Norm. Die moderne Zweckstrafe hingegen verfolgt außerhalb des Rechts liegende Zwecke. Im Namen des Gesellschaftsschutzes zielt sie sowohl auf die »Erziehung« und »Besserung« als auch auf die »Unschädlichmachung« des »gefährlichen Straftäters«. Nicht die Vergeltung vergangenen Unrechts ist ihr Anliegen, sondern Prävention zukünftiger Straftaten. Das rückt sie in die Nähe des Polizeirechtes, das seiner Konzeption nach ebenfalls auf die Zukunft, nämlich die polizeiliche Gefahrenabwehr, gerichtet ist und macht sie anfällig für Instrumentalisierungen. Sind das Schutzobjekt und der Zweck von Strafe erst einmal in den Bereich jenseits des Rechts verlagert, können sie je nach Interesse der Machthaber beeinflusst und gegebenenfalls ersetzt werden. So konnte aus der abstrakten »Allgemeinheit« oder der »Sicherheit und Ordnung«, den traditionellen Schutzobjekten polizeilicher Gefahrenabwehr, im Nationalsozialismus die »Moralauffassung der Bevölkerung« bzw. die »Volksgemeinschaft« und aus dem Zweck der individuellen »Besserung« durch Arbeit die flächendeckende Erfassung aller »Arbeitsscheuen« werden.
7.4 Die »Aktion Arbeitsscheu Reich« im April und Juni 1938 Zwischen dem 21. und dem 30. April 1938 führte die Gestapo die zweite reichsweite Großrazzia gegen »Asoziale« durch, seit Hitler das Amt des Reichskanzlers übernommen hatte. Eine weitere Verhaftungswelle unter der Ägide der Kriminalpolizei fand vom 13. bis zum 18. Juni 1938 statt. In Anschluss an Buchheim hat sich in der Forschungsliteratur als Bezeichnung für diese beiden Massenrazzien des Jahres 1938 die Bezeichnung »Aktion Arbeitsscheu Reich« durchgesetzt, die sich von dem Kürzel »ASR« ableitet, mit dem in den Lagerstatistiken die Häftlinge der Razzia oft gekennzeichnet wurden.103 Warum die ersten Verhaftungen der »Aktion Arbeitsscheu Reich« die Gestapo, nicht die Kripo vornahm, in deren Händen der »Grunderlass« wenige Monate zuvor die Verantwortung für die »Asozialen«-Bekämpfung konzentriert hatte, konnte bislang nicht abschließend geklärt werden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang außerdem, dass die Gestapo die Opfer der AprilRazzia in »Schutzhaft« nahm, statt die gerade auf »Asoziale« ausgeweitete »Vor103 Zu den beiden Wellen der »Aktion Arbeitsscheu Reich« vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 140– 165; ders., Einweisung; Schüler-Springorum, Masseneinweisungen; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 279–292. Eine Regionalstudie zur Haftpraxis der Würzburger Gestapo legte Franziska Daus 2005 als Abschlussarbeit an der Universität Würzburg vor. Vgl. Daus, Verschubung. Die Verhaftung von Juden im Rahmen dieser Razzia untersuchte Kim Wünschmann. Vgl. Wünschmann, Auschwitz, S. 184–196. Zu den Festnahmen von Sinti und Roma vgl. Schmid, Aktion. Zu den »Reflexe[n] der Rassenpolitik in der ›vorbeugenden Verbrechensbekämpfung‹« vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 361–369.
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beugungshaft« anzuwenden.104 Die Fallbeispiele, die für die vorliegende Studie gesammelt wurden, lassen darauf schließen, dass sich die Haftart, auf die sich eine KZ-Einweisung im Einzelfall stützte, nach der anordnenden Behörde, nicht nach dem Haftgrund richtete. Ob Regimegegner, Homosexueller, »Heimtückeredner«, jüdische »Rassenschänderin« oder »Arbeitsscheuer«, die Gestapo verhängte »Schutzhaft«, während sich KZ-Einweisungen der Kripo auf die »Vorbeugungshaft« stützten.105 Die beiden Verfolgungsinstrumente »Schutz«und »Vorbeugungshaft« blieben also klar an die Kompetenzen der Gestapo bzw. Kripo gebunden.106 Insgesamt wurden im Rahmen der »Aktion Arbeitsscheu Reich« mindestens 10.500 Häftlinge in die KZ eingeliefert. Etwa 1.500 bis 2.000 verhaftete die Gestapo bei der April-Welle.107 Bei der Juni-Welle führte dann die eilfertige Pflichterfüllung der Kriminalpolizei zu einer Überschreitung des vom RKPA verfügten Verhaftungssolls um mindestens das Dreifache. Gefordert waren je 200 Festnahmen in den 15 Kriminalpolizeileitstellen, also insgesamt maximal 3.000 Verhaftungen. Tatsächlich nahm die Kripo 9.000 bis 10.000 Personen in »Vorbeugungshaft«, darunter überproportional viele Juden sowie zahlreiche als »Zigeuner« klassifizierte Personen.108 Die Häftlinge der April-Welle gelangten auf Befehl Himmlers in das KZ Buchenwald.109 Die »Vorbeugungshäftlinge« der Juni-Welle brachte man nach 104 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 140, 160 f.; Döring, Zigeuner, S. 54; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 291 f. 105 Für eine gegenteilige Einschätzung vgl. Broszat, Konzentrationslager, S. 84 f.; Gruchmann, Justiz, S. 727. 106 Als Beispiel für einen unter planmäßiger Überwachung der Kripo stehenden »Berufsverbrecher«, der wegen eines »Heimtückedeliktes« in »Schutzhaft« geriet, vgl. BayStA München, Poldir Mü/Personenakten II, C 0402 1978, Nr. 11506. Jene Personen, die als »Asoziale« und »Arbeitsscheue« im Wanderhof Herzogsägmühle untergebracht waren und als Disziplinierungsmaßnahme in das KZ Dachau überstellt wurden, nahm die BPP ebenfalls in »Schutzhaft«. Gleiches gilt für Insassen des Arbeitshauses Rebdorf, die in Dachau untergebracht und nach Ablauf ihrer gerichtlich verhängten Arbeitshaushaft im KZ festgehalten werden sollten. Fragt man nach den Motiven, die in solchen Fällen der KZ-Haft zugrunde lagen, waren sie sozialrassistischer und kriminalpräventiver Natur. Offenbar bedeutete das aber nicht zwangsläufig, dass man zur KZ-Einweisung auch die eigens dafür konzipierte »Vorbeugungshaft« benutzte. 107 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 143, 158; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 290. 108 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 143, 156, 158; Lieske, Opfer, S. 105; Wachsmann, KL, S. 148; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 290. In seinem Befehl hatte das RKPA die Verhaftung aller männlicher Juden, die mit mehr als einer Gefängnisstrafe bestraft waren, verfügt. Die Juni-Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« wurde so zur ersten, reichsweit durchgeführten Verhaftungsaktion gegen Juden. Die Regimeführung verfolgte damit in erster Linie das Ziel, die Juden zur Auswanderung zu zwingen und ihr Vermögen zu »arisieren«. Gleichzeitig fand eine Ausweitung des antisemitischen Feindbegriffes statt. Wünschmann, Auschwitz, S. 186 f., 188 f., 190, 194–196. 109 Vgl. Schreiben RFSSuChdDtPol, 26.1.1938, in: Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 46 f.
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Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau.110 Im KZ Sachsenhausen verdreifachte sich infolgedessen die Insassenzahl. Ähnlich gestalteten sich die Verhältnisse in Buchenwald.111 Waren im November 1936 in sämtlichen KZ 4.761 Häftlinge registriert, stieg die Gesamthäftlingszahl im November 1938 bedingt durch die Verhaftungen nach dem »Anschluss« Österreichs, die »Aktion Arbeitsscheu Reich« und die »Schutzhaftverhängungen« gegen Juden im Rahmen des Novemberpogroms kurzfristig auf über 50.000 Personen an. Gemäß einer nach Haftarten aufgeschlüsselten Statistik des RKPA vom 31. Dezember 1938 befanden sich reichsweit 12.921 Personen in »Vorbeugungshaft«, von denen 8.892 als »Asoziale« und 4.049 als »Berufs-« oder »Sittlichkeitsverbrecher« klassifiziert wurden.112 Doch hatte man das KZ-System auf einen derart massenhaften Zustrom neuer Häftlinge nicht vorbereitet. Spätestens nach der JuniWelle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« gerieten die Unterbringungskapazitäten an ihre Grenzen. Das führte zu einer gravierenden Verschlechterung der Lebensbedingungen und zog einen drastischen Anstieg der Erkrankungen und Todesfälle nach sich. Unter den Opfern befanden sich zahlreiche »Asoziale« und »Berufsverbrecher«.113 In der Forschungsliteratur wird die »Aktion Arbeitsscheu Reich« in unterschiedliche Interpretationsrahmen eingebettet. Laut Herbert, der sich intensiv mit dem nationalsozialistischen Verfolgungsapparat, insbesondere der Gestapo, befasst hat, markierten die beiden Verhaftungswellen gemeinsam mit der Massenrazzia gegen »Berufsverbrecher« im März 1937 die Umsetzung des Konzeptes zur rassischen Generalprävention in die polizeiliche Praxis.114 Buchheim hingegen sieht den »wahren Grund« der Razzien »nicht in besonderen Erfordernissen der Bekämpfung der Asozialität« oder kriminalpräventiver Strategien.115 Ähnlich wie Broszat und Terhorst die März-Razzia gegen »Berufsverbrecher« im Kontext der arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Bestrebungen Ende der 1930er-Jahre situieren, interpretiert Buchheim auch die Verhaftungswellen 1938 als Mittel zur Rekrutierung von Arbeitskräften und zur Disziplinierung der Arbeiterschaft. Wie bereits erörtert, kommt die gewaltsame Beschaffung von Arbeitern für die SS-eigenen Produktionsbetriebe zwar nicht für die März-Razzia als Erklärungsgrund in Frage; doch fiel die Errichtung der DEST zeitlich tatsächlich mit der April-Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« zusammen. Die ersten DEST-Standorte waren die KZ Sachsenhausen und Buchenwald – jene beiden Lager, welche die Mehrheit der »Aktions«-Häftlinge aufneh110 Vgl. Ayaß, Einweisung, S. 95; Schüler-Springorum, Masseneinweisungen, S. 158; Wünschmann, Auschwitz, S. 186. 111 Vgl. Ayaß, Bettler, S. 73; ders., Einweisung, S. 95; Schmid, Aktion, S. 34, 36. 112 Vgl. Königseder, Entwicklung, S. 33; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 294. 113 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 163; Langhammer, Verhaftungsaktion, S. 63–75; Wachsmann, KL, S. 151, 165 f., 168–171, 187 f.; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 290. 114 Vgl. Herbert, Best, S. 175 f.; ders., Gegnerbekämpfung, S. 80 f. Im Anschluss an Herbert vgl. Wachsmann, Policy, S. 135 f. 115 Buchheim, Aktion, S. 192.
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men sollten.116 Ayaß wiederum stellt die zweite Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« in den Kontext der Durchsetzung der allgemeinen Arbeitsdienstpflicht, die im Juli 1938 eingeführt wurde. Die Kripo-Razzia im Vormonat, die überproportional viele Bettler und Wanderer traf, habe der Abschreckung gedient. Sie sollte unmissverständlich deutlich machen, dass das Regime nicht gewillt war, »arbeitsscheues« Verhalten zu tolerieren. Allerdings verweist Ayaß auch auf die Grenzen dieser Argumentation. Entgegen den ausdrücklichen Anweisungen verhaftete die Kripo nämlich zahlreiche erwerbsbeschränkte oder vollständig arbeitsunfähige Personen, das heißt die praktische Umsetzung der Razzia lief wirtschaftlichen Interessen partiell zuwider. Wichtiger als die Arbeitsleistung, welche die »Aktions«-Häftlinge zu erbringen vermochten, war Ayaß zufolge die abschreckende Wirkung, die man mit ihrer Verhaftung habe erzielen wollen.117 Die vorgestellten Erklärungsansätze abwägend entwickelt Wagner in seiner Studie über die Kriminalpolizei eine dezidiert multikausale Interpretation. Insbesondere in der Juni-Aktion der Kriminalpolizei sieht er eine »Verquickung verschiedener Motive«.118 Sie habe sowohl der Arbeitskräfterekrutierung als auch der Disziplinierung der lohnabhängigen Arbeiterschaft und der Kriminalprävention gedient. Darüber hinaus fordert Wagner, bei der Bewertung der »Aktion Arbeitsscheu Reich« zwischen den Plänen der SS- und Polizeiführung und der konkreten Umsetzung durch die Dienststellen vor Ort zu unterscheiden. Die Forschung gehe fehl, »wo sie versucht, die konkrete Praxis der Aktionen«119 auf die Ziele der Planer zu reduzieren. Die bis dahin übliche Gegenüberstellung von kriminalpräventiven Zwecken auf der einen und der Durchsetzung des Arbeitszwangs bzw. Arbeitskräfterekrutierung auf der anderen Seite werde der historischen Komplexität der »Aktion Arbeitsscheu Reich« keineswegs gerecht. Was in der Argumentation der ökonomisch-arbeitsmarktpolitischen Erklärungsansätze wie einander ausschließende Gegensätze erscheine, habe in der Logik der Kriminalprävention eng zusammengehangen.120 Alle Studien, die seit den Darstellungen Ayaß’ und Wagners erschienen, fügen den dort entwickelten Argumenten zwar Aspekte hinzu und differenzieren das Bild weiter aus, schließen aber im Wesentlichen an deren Kerngedanken an.121 Im Folgenden soll noch einmal nach den innerhalb der kriminalprä116 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 150, 162; Broszat, Konzentrationslager, S. 91 f.; Königseder, Entwicklung, S. 33; Orth, System, S. 47 f.; Schmid, Aktion, S. 35; Wachsmann, KL, S. 162; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 288. 117 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 150, 152, 162–165; ders., Einweisung, S. 97; Kaienburg, Sachsenhausen, S. 30. 118 Wagner, Volksgemeinschaft, S. 291. 119 Ebd., S. 289. Vgl. Lieske, Opfer, S. 103 f. 120 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft, S. 280 f., 284, 287, 290 f. 121 Vgl. Eberle, Asoziale; Roth, Asoziale; ders., Verbrechensbekämpfung (2009); ders., Verbrechensbekämpfung (2010); Schüler-Springorum, Masseneinweisungen. Eine Ausnahme bildet Roth, der sowohl die März-Aktion gegen »Berufsverbrecher« als auch die »Aktion Ar-
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ventiven Strategie selbst liegenden Gründen für die Radikalisierung der sozialrassistischen Verfolgungspraxis 1937/38 geforscht und der ökonomischarbeitsmarktpolitische Erklärungsansatz einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Wie bereits dargestellt, ziehen dessen Vertreter als einen wichtigen Beleg die Zielgruppenbeschreibung heran, die Himmler am 26. Januar 1938 in Vorbereitung der »Aktion Arbeitsscheu Reich« in einem Rundschreiben an die Gestapostellen formulierte.122 Als »Arbeitsscheue« definierte Himmler dort »Männer im arbeitsfähigen Lebensalter, deren Einsatzfähigkeit in der letzten Zeit durch amtsärztliches Gutachten festgestellt worden ist oder noch festzustellen ist, und die nachweisbar in zwei Fällen die ihnen angebotenen Arbeitsplätze ohne berechtigten Grund abgelehnt oder die Arbeit zwar aufgenommen, aber nach kurzer Zeit ohne stichhaltigen Grund wieder aufgegeben haben«.123
Dass der Rekurs auf die Arbeitsfähigkeit nicht zwangsläufig als Hinweis auf einen großangelegten Plan zur restlosen Ausbeutung aller verfügbaren Arbeitskräfte gelesen werden muss, sondern von jeher zur inneren Logik der strafund wohlfahrtsrechtlichen Sozialdisziplinierung gehörte, wurde bereits erörtert. Auch die zitierte Zielgruppendefinition Himmlers steht deutlich in dieser Tradition. Das Kriterium der zweimaligen Ablehnung eines Beschäftigungsverhältnisses erinnert an die Praxis der Wohlfahrtsämter, die durch Zuweisung von Pflichtarbeit die »Arbeitswilligkeit« der Hilfeempfänger prüften. Die amtsärztliche Feststellung der Arbeitsfähigkeit gehörte dabei zum gemeinhin üblichen Procedere. Allerdings enthält das Rundschreiben vom 26. Januar 1938 zudem eine Äußerung Himmlers über das Motiv und die Strategie der geplanten »Sonder aktion«, die in der Forschung bislang nicht in all ihren Facetten gewürdigt wurde. In dem Schreiben heißt es: »Der Umfang und die verschiedenartige Zusammensetzung des in Betracht kommenden Personenkreises bringen es mit sich, dass die reibungslose und völlige Durchführung der geplanten Maßnahmen [gemeint ist die »vorbeugende Verbrechensbekämpfung« im Sinne des »Grunderlasses«, d. Vf.] noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird. Diese allmähliche Durchführung steht der Erfassung des größeren Teils der in Frage kommenden Elemente, wie der Berufs- und Gewohnheitsverbrecher, Trinker und Landstreicher nicht entgegen, weil sie einen fest umrissenen und jederzeit zu identifizierenden Personenkreis darstellen. Anders liegen die Verhältnisse bei den
beitsscheu Reich« in den Kontext der Kriegsvorbereitung einordnet. Diese Argumentation wird hier nicht weiterverfolgt, da die Erkenntnisse der vorliegenden Studie über die Vorgeschichte und Frühphase der sozialrassistischen und kriminalpräventiven KZ-Haft ihr nichts Neues hinzufügen können. Vgl. Roth, Antisoziale, S. 74. 122 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 163 f.; Broszat, Konzentrationslager, S. 92. 123 Schreiben RFSSuChdDtPol, 26.1.1938, zit. nach Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 47.
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Personen, die lediglich wegen nachgewiesener Arbeitsunwilligkeit den Asozialen im Sinne des eingangs erwähnten Erlasses zugezählt werden müssen. Bei ihnen ist damit zu rechnen, dass sie nach Bekanntwerden der vorgesehenen Maßnahmen sofort Arbeitswilligkeit vortäuschen, ohne aber nach wie vor tatsächlich fruchtbare Arbeit zu leisten. Um durch die wirksame Erfassung auch dieser asozialen Elemente eine wirkliche Bereinigung zu erzielen, ist deshalb ein einmaliger umfassender und überraschender Zugriff erforderlich.«124
Die Polizei stand Himmlers Auffassung nach also vor einem Dilemma: Die bis dahin praktizierte selektive Abschreckung war gegenüber den »Arbeitsscheuen« und »Asozialen« nach Auffassung des RFSS regelrecht kontraproduktiv, lief man doch Gefahr, dass diese sich »zum Schein« in den Arbeitsprozess integrieren würden. Damit wären sie aber nicht mehr als »Arbeitsscheue« und »Asoziale« identifizierbar, sondern würden die »Volksgemeinschaft« von innen heraus »schädigen« und ihr »Aufbauwerk« als »Scheinarbeiter« sabotieren. Um das zu verhindern, musste man sie erfassen und »sichern« bevor die Kriminalpolizei mit dem »allmählichen« Vorgehen gegen die anderen, klar identifizierbaren Zielgruppen der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« beginnen konnte. Genau diese erste »Bereinigung«125 der »Volksgemeinschaft« war der Zweck der Gestapo-Aktion. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings ein Widerspruch in Himmlers Argumentation. Zwar sollte die erste Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« den schwer fassbaren Teil der »asozialen Elemente« treffen. Andererseits sprach der RFSS von »nachgewiesener Arbeitsunwilligkeit« und grenzte die Zielgruppe der Verhaftungswelle anhand der oben erörterten, klar nachprüfbaren Kriterien ein. Es war vermutlich pragmatischen Gründen geschuldet, dass man sich zunächst eben doch auf die leicht identifizierbare »Spitze des Eisberges« der »asozialen Elemente« konzentrierte. Himmlers Postulat, es solle sich um einen einmaligen Überraschungsangriff handeln, stand in einem gewissen Spannungsverhältnis dazu. Wenn die Verhaftungswelle nur die »Spitze des Eisberges« erfasste, mussten weitere Aktionen folgen, um die angestrebte »Bereinigung« zu erzielen. Diese würden sich auf immer geringere Formen sozialer Devianz richten müssen, da man ja davon ausging, dass sich die »asozialen Elemente« unterdessen zwecks Täuschung der Behörden angepasst und in den Arbeitsprozess integriert hatten. In diesem Spannungsverhältnis, das sich aus dem Widerspruch zwischen der anvisierten und der tatsächlich erfassbaren Zielgruppe der Razzia und der von Himmler heraufbeschworenen Vorstellung ergab, die nicht ergriffenen »Asozialen« könnten als »Scheinarbeiter« »abtauchen«, könnte ein weiterer Grund für die enorme Radikalisierung gelegen haben, welche die »vorbeugende Verbrechensbekämpfung« in den folgenden Monaten und Jahren entfaltete. 124 Ebd., S. 46 f. 125 Ebd.
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Nimmt man das Rundschreiben Himmlers als Beleg für die im ersten Quartal 1938 verfolgten Ziele ernst, war die Strategie, die der ersten Welle der » Aktion Arbeitsscheu Reich« zugrunde lag, die eines konzentrierten, kriminalpräven tiven Überraschungsangriffs. Wäre es die Intention des RFSS gewesen, nun die im Februar 1937 auf der Ministerratssitzung angekündigte massenhafte Einweisung von »Arbeitsscheuen« in Lager zu realisieren, um ihre Arbeitskraft zu verwerten, stellt sich die Frage, was dagegengesprochen hätte, diesen Plan in dem Rundschreiben an die ihm treu ergebenen Gestapostellen offenzulegen. Soweit die Quellen darüber Aufschluss geben, fand aber die oben erwähnte Verquickung mit den Zielen des Vierjahresplanes, die sich auf konzeptioneller Ebene seit einer Weile abzeichnete, auf praktischer Ebene erst im Verlauf der Planungen zur zweiten Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« statt. Das erste Dokument, das auf einen solchen Zusammenhang verweist, ist ein Befehl des RKPA vom 1. Juni 1938. »Die straffe Durchführung des Vierjahresplanes«, hieß es dort, »erfordert den Einsatz aller arbeitsfähigen Kräfte und läßt es nicht zu, dass asoziale Menschen sich der Arbeit entziehen und somit den Vierjahresplan sabotieren«.126 Mit Ausnahme der Personen, die in einem festen Arbeitsverhältnis standen, sollte sich die zweite Verhaftungswelle auf folgende Zielgruppen konzentrieren: »a) Landstreicher, die zur Zeit ohne Arbeit von Ort zu Ort ziehen; b) Bettler, auch wenn diese einen festen Wohnsitz haben;127 c) Zigeuner und nach Zigeunerart umherziehende Personen, wenn sie keinen Willen zur geregelten Arbeit gezeigt haben oder straffällig geworden sind; d) Zuhälter, die in ein einschlägiges Strafverfahren verwickelt waren – selbst wenn eine Überführung nicht möglich war – und heute noch in Zuhälter- und Dirnenkreisen verkehren, oder Personen, die im dringenden Verdacht stehen, sich zuhälterisch zu betätigen; e) solche Personen, die zahlreiche Vorstrafen wegen Widerstandes, Körperverletzung, Raufhandels, Hausfriedensbruchs [und] [dergleichen] erhalten und dadurch gezeigt haben, dass sie sich in die Ordnung der Volksgemeinschaft nicht einfügen wollen.«128
Es handelte sich genau um jene Gruppen, die Himmler in seinem Befehl vom Jahresbeginn als »fest umrissenen und jederzeit zu identifizierenden Personenkreis«129 den schwer fassbaren Individuen unter den »asozialen Elementen« gegenübergestellt hatte. Nachdem sich die Gestapo bei der April-Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« daraufhin auf sesshafte Personen konzentrierte, die bei den Arbeitsämtern und Wohlfahrtsbehörden als »arbeitsscheu« und »aso126 RKPA, Schreiben »Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei«, 1.6.1938, zit. nach ebd., S. 81. 127 Demgegenüber hatte der »Grunderlass« unter den Bettlern insbesondere jene ohne festen Wohnsitz als Hauptzielgruppe genannt. 128 Ebd. 129 Schreiben RFSSuChdDtPol, 26.1.1938, zit. nach ebd., S. 46.
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zial« galten, richtete sich die Juni-Welle auf nicht-sesshafte Personen, an deren Lebenswandel Devianz und Kleinkriminalität unschwer abzulesen waren.130 Ein weiterer Hinweis auf mögliche ökonomisch-arbeitsmarktpolitische Hintergründe der »Aktion Arbeitsscheu Reich« stammt vom Leiter der Dienststelle Vierjahresplan im Stab des RFSS, Ulrich Greifelt. In einem Vortrag vor den höheren SS-Führern gab sich dieser im Januar 1939 als Initiator der Massenverhaftungen zu erkennen: »Die idealste Verwirklichung des produktiven Einsatzes der Arbeitskraft inhaftierter Verbrecher und politischer Häftlinge hat der Verwaltungschef der SS bei den Konzentrationslagern geschaffen. Hier entstehen oder sind bereits entstanden Produktionsstätten für hochwertige Baustoffe, an denen es für die großen Bauvorhaben des Führers mangelt. […] Bei der angespannten Lage am Arbeitsmarkt war es ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin, alle Personen, die sich dem Arbeitsleben der Nation nicht einpassen wollten und als Arbeitsscheue und Asoziale dahinvegetierten und Großstädte und Landstraßen unsicher machten, auf dem Zwangswege zu erfassen und zur Arbeit anzuhalten. Hier wurde auf Anregung der Dienststelle ›Vierjahresplan‹ seitens der Geheimen Staatspolizei mit aller Energie durchgegriffen. Gleichzeitig wurden Landstreicher, Bettler, Zigeuner und Zuhälter von der Kriminalpolizei aufgegriffen und schließlich die böswilligen Unterhaltsverweigerer erfasst. Weit über 10.000 derartiger asozialer Kräfte machen laufend eine Erziehungskur zur Arbeit in den hierzu hervorragend geeigneten Konzentrationslagern durch.«131
Dieses Zitat wird als Beleg dafür herangezogen, dass die Initiative zu dieser Massenverhaftungsaktion von der Dienststelle Vierjahresplan ausging und sie demzufolge in erster Linie der Arbeitskräfterekrutierung diente.132 Die Frage, ob Greifelt sich möglicherweise einen Erfolg auf die Fahnen schrieb, der gar nicht sein eigener war, ist dabei nicht in Erwägung gezogen worden. Auch dass es sich um eine nachträgliche Legitimationsstrategie handeln könnte, wurde nicht diskutiert. Dabei knüpft Greifelts Behauptung, man ziehe die »Asozialen« und »Arbeitsscheuen« in den KZ zu nutzbringenden Arbeiten im Rahmen des Vierjahresplans heran, deutlich an die traditionelle Rechtfertigung des Arbeitszwanges für Angehörige sozialer Randgruppen an, aktualisierte sie und machte sie damit anschlussfähig an die zeitgenössischen Diskurse über Arbeitsdisziplin, Pflichterfüllung und wirtschaftlichen Aufstieg. Fürsorgerechtlicher und sicherheitspolizeilicher Arbeitszwang wurde von jeher mit dem Argument begründet, »Arbeitsscheue« und »Asoziale« entzögen sich ihrer Pflicht der Allgemeinheit gegenüber und fielen ihr zur Last, indem sie nicht selbst durch »ehrliche« Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienten, sondern die Sorge dafür den staatlichen Wohlfahrtsbehörden überließen. In einer Zeit, in der es galt, »unter Anspannung aller Kräfte« den Vierjahresplan zu erfüllen, musste dieser Recht130 Vgl. Ayaß, Einweisung, S. 90–96; Wagner, Vernichtung, S. 280–289. 131 Greifelt zit. nach Ayaß, Asoziale (1995), S. 163. 132 Vgl. ebd., S. 162–165; Buchheim, Aktion, S. 192 f.
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fertigungszusammenhang an Schärfe gewinnen und der Druck zur Aufnahme von (Zwangs-)Arbeit wachsen. Was sowohl den staatlichen Behörden als auch der ordnungsliebenden und pflichtbewussten bürgerlichen Öffentlichkeit schon immer ein Dorn im Auge war – Müßiggang, mangelnde Disziplin und Leistungsbereitschaft – erschien vor dem Hintergrund der »Arbeitsschlacht« unerträglich. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges war es im Deutschen Reich eben »ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin«, vermeintlich »arbeitsscheue« Personen »auf dem Zwangswege zu erfassen und zur Arbeit anzuhalten«.133 Eine solche Logik musste jedem »ehrlich schaffenden« »Volksgenossen«, allen voran den Vierjahresplanern selbst, unmittelbar einleuchten.134 Es ist durchaus denkbar, dass man dieses Argument, das sich zunächst vielleicht eher situativ angeboten hatte, nachträglich zu einem Begründungszusammenhang ausbaute, mit dem man die Verhaftungsaktion sowohl innerhalb des Partei- und Verwaltungsapparates als auch in der Öffentlichkeit propagierte. Diese Überlegung eröffnet eine neue Lesart des Greifelt-Zitates: Entgegen seiner eigenen Aussage könnte der SS-Oberführer nur die zweite Verhaftungswelle angeregt haben. Durch die April-Aktion auf das »brachliegende« Arbeitskräftepotenzial der »Asozialen« und »Arbeitsscheuen« aufmerksam gemacht, hatte er der SSund Polizeiführung möglicherweise vorgeschlagen, eine weitere Massenrazzia durchzuführen, um auf diese Weise die Erfassung der »Arbeitsunwilligen« zu beschleunigen. Für eine solche Interpretation spricht zweierlei: Wie bereits erwähnt, stellte keiner der Befehle, die in Vorbereitung der April-Welle ergingen, einen Bezug zum Vierjahresplan her, sondern erst das Rundschreiben des RKPA vom 1. Juni 1938. Überdies erfasste die Juni-Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« genau jenen Personenkreis, den Himmler ursprünglich für den »allmähliche[n]«135 Zugriff der Kriminalpolizei vorgesehen hatte. Aus dem Himmler-Befehl vom Januar 1938 geht deutlich hervor, dass die April-Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« als einmalige Überraschungsaktion gedacht war. Nichts weist auf einen Plan für eine zweite Massenrazzia der Kriminalpolizei hin. Folgt man der ursprünglich von Himmler im Januar dargelegten kriminalpräventiven Strategie, ist vielmehr davon auszugehen, dass nach dem schlagartigen Zugriff der Gestapo die Kripo die »arbeitsscheuen Elemente« in einem kontinuierlichen Prozess und durch ihr alltägliches Routinehandeln erfassen sollte, wobei diesem Konzept, wie oben beschrieben, eine eigentümliche Radikalisierungsdynamik innewohnte. Eine Initiative Greifelts könnte Himmler dann aber veranlasst haben, von der ursprünglichen Strategie abzuweichen und die verbliebenen »Arbeitsunwilligen« doch in Form einer weiteren Massenrazzia ergreifen zu lassen. In der Umsetzung gewann die kriminalpräventive Eigenlogik offenbar aber 133 Greifelt, zit. nach Ayaß, Asoziale (1995), S. 163. 134 Vgl. Wachsmann, KL, S. 149. 135 Schreiben RFSSuChdDtPol, 26.1.1938, zit. nach Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Verbrechensbekämpfung, S. 47.
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wieder die Oberhand über ökonomisch-arbeitsmarktpolitische Motive, was die drastische Übererfüllung des Verhaftungssolls und anordnungswidrige Festnahmen von arbeitsunfähigen und arbeitsbeschränkten Personen erklärt.136 In der hier vorgeschlagenen Interpretation rückte eine flächendeckende Erfassung »Arbeitsscheuer« und ihre Heranziehung zu Zwangsarbeit zwar schon 1937 in den Planungshorizont der SS- und Polizeiführung, die Vorstellungen über eine praktische Umsetzung blieben zunächst aber vage. Ob die KZ dabei eine Rolle spielen oder neue Arbeitslager geschaffen werden würden, war noch ungewiss. Im Frühjahr 1938, mit der Gründung der DEST, zeichnete sich dann deutlich ein systematischer Arbeitseinsatz der KZ-Häftlinge ab. Der hier entwickelten These zufolge kam es jedoch erst im Verlaufe des Sommers 1938, im Zusammenhang mit der Juni-Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich«, zu einer direkten Verknüpfung zwischen den Maßnahmen zur »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« und der Arbeitskräfterekrutierung im Rahmen des Vierjahresplanes. Die erste Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« war demgegenüber aus originär kriminalpräventiven Motiven heraus angeordnet worden.
7.5 Entwicklungslinien der sozialrassistischen und kriminalpräventiven Verfolgungspolitik von 1938 bis zum Kriegsende 1945 Die Wirkungen der »Aktion Arbeitsscheu Reich« waren vielschichtig. In den folgenden Jahren verloren auf institutioneller Ebene die Arbeitshäuser, traditionell das wichtigste Instrument zur Disziplinierung »Asozialer«, ihre Relevanz. Vollständig geschlossen wurden sie allerdings nicht. Einen ganz ähnlichen Bedeutungsverlust erlebten die kommunalen Fürsorgeanstalten und die von einigen Stadtverwaltungen betriebenen geschlossenen oder halboffenen Lager für »asoziale« Unterstützungsempfänger. An die Stelle der Anfang der 1930er-Jahre neu geschaffenen regionalen Formen der Zwangsunterbringung für »Asoziale« traten zunehmend die KZ – für die Wohlfahrtsverbände »ein kostengünstiges, einfach handhabbares Verfahren«.137 Gleichzeitig bestanden aber die Arbeitshäuser oder die regional praktizierte »Bewahrung ohne Bewahrungsgesetz« fort,138 was darauf verweist, dass regionale Modelle der sozialrassistischen Verfolgung trotz der Zentralisierungsbestrebungen eine gewisse Berechtigung behielten. 136 Aber auch der Auftrag der Arbeitskräfterekrutierung war der Polizei nicht wesensfremd, sondern entsprach der inneren Logik der Kriminalprävention, in der »Gefährlichkeit« und »Arbeitsscheu« untrennbar miteinander verbunden waren. Vgl. Hörath, Leistung; dies., Volksgenossen. 137 Ayaß, Asoziale (1995), S. 159. 138 Ebd., S. 94. Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 223; Weber, Berlin, S. 338–340.
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Als Verfolgungsbehörde rückte die Kriminalpolizei zunehmend in den Vordergrund. »Die Fixierung der ›vorbeugenden Verbrechensbekämpfung‹ auf die Intensiv- und Wiederholungstäter […] wurde aufgebrochen und die Verfolgung der ›Asozialen‹ zur zweiten Säule kriminalpolizeilicher Tätigkeit.«139 Immer seltener konnten die Träger der Fürsorge selbst entscheiden, was mit den »Asozialen« ihres Einzugsgebietes geschehen sollte. Ihre »Behandlung« wurde zur Polizeiangelegenheit. Umgekehrt meldeten aber auch die Wohlfahrtsbehörden Personen, denen sie entweder unterstellte, sich als Prostituierte oder Zuhälter zu betätigen oder die aus dem Wohlfahrtshilfebezug ausgeschieden bzw. ausgeschlossen worden waren, an die Kripo, da man ihnen pauschal unterstellte, dass sie sich fortan auf »unehrliche« Weise ihren Lebensunterhalt verdienen würden.140 Die im Zuge der »Bettlerrazzia« erstmals erprobte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen, mit der Wohlfahrts- und Strafrechtspflege betrauten Behörden, die in der Phase des praktischen Experimentierens mit der sozialrassistischen und kriminalpräventiven Verfolgung eingeübt und dann 1937/38 durch die Massenrazzien in großem Stil auf die Probe gestellt wurde, entwickelte sich reichsweit zum alltäglichen behördlichen Routinehandeln. Das galt nicht nur im Bereich der »Asozialen«-Verfolgung, sondern selbstverständlich auch für die KZ-Einweisungen von »Berufs«- und »Gewohnheitsverbrechern«.141 Mit der »Vorbeugungshaft« verfügte die Kriminalpolizei über ein effizientes Verfahren zur »Sicherung« von Straftätern, das sie anwenden konnte, ohne auf ein richterliches Urteil angewiesen zu sein. Einer Schätzung Wagners zufolge waren bis Ende 1943 zwischen 63.000 und 82.000 Personen einmal in »Vorbeugungshaft«.142 Schenkt man einer Rede Heinrich Himmlers Glauben, dürfte die tatsächliche Zahl der sozialrassistischen KZ-Einweisungen eindeutig im Bereich des höheren Werts gelegen haben. Im Oktober 1943 behauptete der RFSS in einem Vortrag vor den Militärbefehlshabern, dass bis zu diesem Zeitpunkt allein 70.000 »Asoziale« in KZ-Haft genommen worden waren.143 Hinzurechnen müsste man noch eine unbestimmte Anzahl von »Berufsverbrechern« und »Sicherungsverwahrten«. Gerade im Bereich der traditionellen Verbrechensbekämpfung bestanden »parallel zur neuen Vorbeugungshaft« aber auch noch »die alten Unterdrückungsinstrumentarien«144 weiter. Wie Wachsmann hervorhebt, befanden sich zwischen 1933 und 1945 weit mehr Häftlinge in den staatlichen Gefängnissen und Zuchthäusern als in den KZ.145 Ein Versuch von Vertretern der Polizei, im 139 Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 219. 140 Vgl. Vermerk Verwaltungsdirektor Frankfurter Fürsorgeamt über Besprechung mit Frankfurter Oberbürgermeister, 1.7.1938, in: Ayaß, Gemeinschaftsfremde, S. 140, Dok 73; Weber, Berlin, S. 338. 141 Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 219–224, 258 f., 291. 142 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft, S. 343. 143 Vgl. ebd. 144 Ayaß, Einweisung, S. 96. 145 Vgl. Wachsmann, Prisons, S. 1.
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Rahmen der Verhandlungen der Großen Strafprozesskommission146 eine polizeiliche Befugnis zur »Urteilskorrektur« qua »Vorbeugungshaft« gesetzlich zu verankern, scheiterte letztlich am Widerstand der Justiz. Dennoch griff die Polizei während des Krieges zunehmend in die Entscheidungen der Gerichte ein, indem sie im Falle missliebiger Urteile die Beschuldigten kurzerhand in die KZ einwies.147 Mit dem Himmler-Thierack-Abkommen vom 18. September 1942 wurden schließlich auch Straftäter aus dem Hoheitsbereich der Justiz in die inzwischen eliminatorischen Zielen verpflichtete Kriminalpolitik des NSRegimes einbezogen.148 Gleichzeitig drängten die polizeilichen »Vorbeugungsmaßnahmen« die justizielle »Sicherungsverwahrung« immer weiter in den Hintergrund. Symptomatisch für diese Entwicklung ist eine Mitteilung, welche die Leipziger Kriminalpolizei im April 1943 dem örtlichen Oberstaatsanwalt machte. Ein »besonderer Wert auf die Verhängung der Sicherungsverwahrung« werde bei Personen, die auch die Voraussetzungen für die »Vorbeugungshaft« erfüllten, »nicht mehr gelegt«, da die »Vorbeugungshaft« ein »wirksameres Mittel zur Ausrottung gefährlicher Berufsverbrecher« sei.149 Auf der Ebene der Gesetzesvorhaben beendete die »Aktion Arbeitsscheu Reich« die jahrzehntelangen Bemühungen der Wohlfahrtsexperten um ein »Bewahrungs«- und ein Wandererfürsorgegesetz. Die Arbeiten an einer einheitlichen Rechtsgrundlage der Wandererfürsorge wurden mit Hinweis auf das polizeiliche Vorgehen gegen diesen Personenkreis vollständig eingestellt. Auch das Streben der Fürsorgeexperten nach einem »Bewahrungsgesetz« fand im August 1938 ein jähes Ende, als in Hamburg die Tagung des Ausschusses für Wohlfahrts- und Fürsorgerecht der Akademie für Deutsches Recht durch einen Besuch der örtlichen Sicherheitspolizei unterbrochen wurde, die den Anwesenden mitteilte, dass das »Asozialenproblem« fortan ausschließlich im Sinne des »Grunderlasses Vorbeugende Verbrechensbekämpfung«, also durch KZ-Einweisung, zu lösen sei.150 An die Erfahrungen mit der »Aktion Arbeitsscheu Reich« anknüpfend begann man im RSHA unter Federführung Paul Werners allerdings auch mit den Vorarbeiten für ein »Gesetz zur Behandlung Gemeinschaftsfremder«. Sie stellten gewissermaßen eine Weiterführung der Entwürfe für ein »Bewahrungs«und Wandererfürsorgegesetz dar, erhielten nun aber eine rein polizeiliche Ausrichtung. Doch auch das »Gemeinschaftsfremdengesetz« trat nie in Kraft. Zwar lag 1944 nach langjährigen »verwickelten«151 Auseinandersetzungen tatsächlich ein verabschiedungsreifer Entwurf vor, dennoch stellte das Reichsjustizminis146 Die Kommission nahm ihre Arbeit 1936 auf. Ähnlich wie die nationalsozialistische Strafrechtsreform scheiterte auch das Vorhaben einer Erneuerung des Strafprozessrechts 1939 an der Verzögerungstaktik Hitlers. Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 1011–1049. 147 Vgl. ebd., S. 1027 f. 148 Vgl. Klausch, Vernichtung, S. 60. 149 Zit. nach Gruchmann, Justiz, S. 745. Vgl. Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 268–284. 150 Vgl. Ayaß, Asoziale (1995), S. 160. 151 Ebd., S. 204.
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terium unter Verweis auf den »totalen Kriegseinsatz« die Arbeiten an dem Gesetz ein.152 Obwohl die Bemühungen um die Schaffung weiterer Rechtsgrundlagen für die sozialrassistische und kriminalpräventive Verfolgungspolitik letztlich scheiterten, löste der Zweite Weltkrieg einen weiteren Radikalisierungsschub im Vorgehen gegen sozial randständige Personen und Mehrfachstraftäter aus. Das Kräftefeld zwischen den Akteuren verschob sich, es traten neue Verfolgungsinstrumente hinzu und die Zielgruppen diversifizierten sich. Im Bereich der justiziellen Repression verschärfte das Bewirtschaftungs- und Kriegsstrafrecht das bestehende Strafrecht und schuf neue Straftatbestände. So ließ § 1 der Verordnung gegen »Volksschädlinge« vom 5. September 1939 unter bestimmten Umständen bei Plünderungen die Verhängung der Todesstrafe zu. Außerdem konnten die Gerichte unter Berufung auf den Kriegszustand, die »Fliegergefahr« oder nächtliche Verdunkelung fortan auf Strafverschärfung erkennen, was dazu führte, dass im Prinzip für jeden nächtlichen Einbruchdiebstahl ein Todesurteil drohte.153 Lieske konnte in einem Fall nachweisen, dass ein verurteilter »Volksschädling« nach Verbüßung seiner Strafe in »Vorbeugungshaft« genommen und ins KZ überstellt wurde. In welchem Maße sich Kriegs- und Bewirtschaftungsstrafrecht und die polizeiliche »vorbeugende Verbrechensbekämpfung« gemäß »Grunderlass« auch in anderen Fällen überlagerten, ist bislang noch eine ungelöste Frage.154 Auf dem Gebiet der »Asozialen«-Verfolgung trat die Gestapo 1941 mit einem eigenen Instrument zur terroristischen Erzwingung der Arbeitsdisziplin endgültig als Akteur neben die Kriminalpolizei. Laut einem Erlass Heinrich Himmlers vom 28. Mai konnten fortan »Arbeitsverweigerer sowie arbeitsvertragsbrüchige und arbeitsunlustige Elemente«155 in sogenannte »Arbeitserziehungslager« gesperrt werden. Diese entwickelten sich bald zu selbstständigen »Macht- und Terroreinrichtungen der regionalen Gestapostellen«.156 Gerichtet waren sie gegen deutsche und ausländische Arbeitskräfte. Schon geringfügige Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin wie das Verlassen des Arbeitsplatzes, »Krankfeiern«, wiederholtes Zuspätkommen oder langsames Arbeiten konnten zur Lagereinweisung führen. Im Falle von Ausländern, die man zum Zwangsarbeitseinsatz ins Reich verschleppt hatte und die überproportional häufig von den Lagereinweisungen betroffen waren, stellten zudem misslungene Fluchten einen häufigen Haftgrund dar. Die Lebensbedingungen in den Gestapo-Lagern ähnelten 152 Vgl. ebd., S. 202–209; Wagner, Volksgemeinschaft, S. 384–393; Willing, Bewahrungsgesetz, S. 187–208. 153 Vgl. Gruchmann, Justiz, S. 901–916; Mörchen, Markt, S. 75–88. Zu den mitunter widersprüchlichen und gegenläufigen Tendenzen, die mit der Erweiterung des Strafkatalogs einherging vgl. Mörchen, Markt, S. 84–87. 154 Vgl. Lieske, Opfer, S. 163 f.; Mörchen, Markt, S. 87 f.; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 158–164, 230–256, 262, 335–341, 565–592. 155 Zit. nach Pagenstecher, Arbeitserziehungslager, S. 76. 156 Ebd., S. 75.
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denen in den KZ. Allerdings war die »Arbeitserziehungshaft«, im Gegensatz zur »Schutz«- und »Vorbeugungshaft«, prinzipiell befristet und wurde meist auch nur für kurze Dauer verhängt.157 Aber auch die polizeiliche Bekämpfung von abweichendem Sozialverhalten, Leistungsverweigerung und Rückfallkriminalität erlebte während des Krieges eine Prioritätenverschiebung, Zielgruppenerweiterung und Radikalisierung. Verstärkte Kontrollen und eine dichtere Überwachung sollten der Polizei einen früheren Zugriff auf verhaltensauffällige Personen ermöglichen. Hatten in den frühen 1930er-Jahren klassische Eigentumsdelikte wie Diebstahl und Einbruch das Bild des mehrfach vorbestraften »Berufsverbrechers« dominiert, richteten sich die Maßnahmen der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« in Folge der Massenverhaftungen 1937/38 zunehmend auch gegen »›kleinformatige‹ Rückfalltäter«158 und auf andere Deliktarten wie Zuhälterei, Betrug und Sittlichkeitsverbrechen. Außerdem konnten schon geringe Formen von Devianz, z. B. die eben geschilderten Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin, seitens der Kripo als »asoziales« Verhalten gewertet und mit unbefristeter KZ-Einweisung geahndet werden. Wie Ayaß gezeigt hat, fand auf dem Gebiet der »Asozialen«-Verfolgung ein gravierender Wandel der Zielgruppe statt. Aufgrund der Kriegsmobilisierung lebten kaum noch wehrfähige Männer im Gebiet des Deutschen Reiches. Das wirkte sich selbstverständlich auch auf die sozialen Beziehungen aus. In der Folge gerieten zunehmen Prostituierte bzw. der Prostitution verdächtige Frauen in das Visier der Verfolgungsbehörden. Gleichzeitig richtete sich der Kontrollanspruch auf immer geringere Formen sexueller Devianz, was dazu führte, dass auch Frauen, die persönliche und/oder sexuelle Kontakte zu Zwangsarbeitern unterhielten, oder die wegen »häufig wechselnden Geschlechtsverkehrs« auf fielen, in polizeiliche »Vorbeugungshaft« gerieten. »Das Asozialenproblem wandelte sich vom Problem männlicher Bettler zu einem sexuell unangepasst lebender junger Frauen«.159 Darüber hinaus begannen die Strategen der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« in wachsendem Maße auch »asoziale« und straffällige Jugendliche zu erfassen. Im Mai 1939 gründete man beim Referat »Weibliche Kriminal polizei« im RKPA die »Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität«, deren Aufgabe es sein sollte, Kinder und Jugendliche, »die erblich kriminell belastet« schienen, kriminalpolizeilich zu überwachen. Die am 9. März 1940 erlassene »Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend« kriminalisierte eine Reihe von jugendlichen Konsum- und Verhaltensweisen, darunter Bagatellen wie Rauchen, Trinken von Alkohol und den Besuch von »Tanzlustbarkeiten«. Mit dem im August 1940 errichteten »polizeilichen Jugendschutzlager« für männliche Jugendliche in Moringen und seinem Pendant für Mädchen und junge 157 Vgl. ebd., S. 75–77, 82–88. Als umfassende Darstellung vgl. Lofti, KZ. 158 Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 269. 159 Ayaß, Asoziale (1995), S. 219. Vgl. ders., Einweisung, S. 102; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 162, 210–213, 216–218, 226–229, 291 f., 512–526.
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Frauen, das im Juni 1942 in der Uckermark nahe dem Frauen-KZ Ravensbrück seinen Betrieb aufnahm, verfügte die Kriminalpolizei ab Anfang der 1940erJahre sogar über eigene KZ für »verwahrloste« und kleinkriminelle Minderjährige. Beide Lager unterstanden dem RKPA. Die Schaffung dieses neuen Instruments der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« hatte einmal mehr Paul Werner vorangetrieben, dessen Aufstieg zum stellvertretenden Leiter des RKPA im Zusammenhang mit der Kriminalprävention in Baden der frühen 1930erJahre seinen Anfang genommen hatte.160 Als weitere neue Dimension der kriminalpolizeilichen Arbeit, die der Krieg hervorbrachte, ist die Ausweitung der geltenden Bestimmungen zur »Vor beugungshaft« auf die annektierten, später auch auf die besetzten Gebiete zu nennen. Neu geschaffene Kriminalpolizei(leit)stellen sorgten ab 1938 auch in den neuen Territorien für die Anwendung der im Deutschen Reich erprobten kriminalpräventiven Instrumente. Für das KZ Sachsenhausen kann Lieske zahlreiche ausländische »Vorbeugungshäftlinge« nachweisen. Neben groß angelegten Razzien, die eine KZ-Einweisung nach sich zogen, begannen außerhalb der Grenzen des »Altreichs« aber auch Euthanasiemorde sowie Massenerschießungen die polizeiliche Bekämpfung von Kriminalität und »Arbeitsscheu« zu bestimmen. So wurden zwischen Oktober und Dezember 1939 im Gebiet Danzig-Westpreußen Jugendliche, die als »schwer erziehbar« in einer psychiatrischen Anstalt in Neustadt (Wejherowo) einsaßen, von einem Einsatzkommando erschossen. Ähnlichen Aktionen fielen im Oktober 1939 Bromberger Prostituierte und die arbeitsunfähigen Insassen eines Armenhauses in Skurz (Skórcz) zum Opfer. Im Generalgouvernement tötete die SS zwischen Mai und Juli 1940 im Wald von Palmiry neben 3.500 angeblichen Widerstandskämpfern auch 3.000 verurteilte »Kriminelle«. Die Aktion ging auf einen Befehl Hans Franks zurück.161 Ein »Personalkarussell« sorgte dafür, dass die Beamten, die an solchen Einsätzen beteiligt waren oder die man zur Wehrmacht, Geheimen Feldpolizei oder zu den Einsatzkommandos abkommandiert hatten, mit ihrem von Massen verbrechen und Kriegshandlungen geprägten Erfahrungshorizont auch den kriminalpolizeilichen Arbeitsalltag radikalisierten, wenn sie nach einiger Zeit an der Front oder in den annektierten und besetzten Gebieten wieder ins »Altreich« zurückkehrten. Gleichzeitig verweist dieser Personaltransfer auf die paradoxen Auswirkungen, die der Krieg auf die Verbrechensbekämpfung hatte. Während das NS-Regime seine Herrschaft in Europa ausdehnte, wurden die Polizei einheiten im »Altreich« ausgedünnt und geschwächt. Der Personalmangel – manche großstädtische Kriminalpolizei(leit)stelle verfügte in den 1940er-Jahren nur noch über 60 Prozent ihres ursprünglichen Mitarbeiterstamms – führte zu 160 Vgl. Guse, Jugendschutzlager, S. 101 f.; Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 157 f., 162, 210–213, 506–511. Für ausführlichere Darstellungen zu den Jugend-KZ vgl. Guse, Katalog; Limbächer u. a., Mädchenkonzentrationslager. 161 Vgl. Lieske, Opfer, S. 116–132; Rieß, Befriedungsaktion; ders., Radikalisierung.
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gravierenden »Kontrolllücke[n]«.162 Insbesondere in den Metropolen zwang die Verwüstung der Quartiere durch Fliegerbomben die Bevölkerung zu einer erhöhten Mobilität, was die Umsetzung des engmaschigen polizeilichen Überwachungsanspruchs erheblich erschwerte. Hinzu kam, dass die Bombenschäden auch die Gebäude, Karteien und Akten der Kriminalpolizei bzw. der ihr zuarbeitenden Behörden betrafen. Aufgrund der Zerstörung von Haftraum, z. B. des Kölner Gefängnisses »Klingelpütz«, mussten Untersuchungshäftlinge, darunter schwer vorbestrafte und verdächtige Personen, auf freien Fuß gesetzt werden. Daneben hemmte der Verlust jahrzehntelang gesammelter Daten die Ermittlungsarbeit und führte zu einer qualitativen Beeinträchtigung ihrer Ergebnisse. Manche übergeordnete Polizeibehörde wies die nachgeordneten Dienststellen schließlich an, auf die Verfolgung kleinerer Vergehen ganz zu verzichten. Andererseits erzwangen die Auswirkungen des Bombenkrieges wiederum eine Systematik und Stringenz in der kriminalpolizeilichen Arbeit, wobei der Vereinfachung der Verfahrensabläufe ein eigenes Radikalisierungspotenzial innewohnte.163 Roth spricht in diesem Zusammenhang von einem »typische[n] Dreischritt«164 der polizeilichen Kontrollpolitik im Zweiten Weltkrieg, bei dem auf eine Verschärfung der Überwachung das Scheitern des formulierten Kontrollanspruchs folgte, das wiederum eine Radikalisierung des Zugriffs nach sich zog. Am Beispiel Kölns kann Roth zeigen, dass in der letzten Kriegsphase, als die Gestapo, angetrieben vom Phantasma einer staatsfeindlichen, organisierten Bandenkriminalität, die Verbrechensbekämpfung in der Rheinmetropole zu dominieren begann, die Methoden der Verfolgung sich nur noch graduell vom Vorgehen der Einsatzgruppen im besetzten Osteuropa unterschieden.165 Die Entwicklung der sozialrassistischen und kriminalpräventiven Verfolgungspolitik im Krieg war keine kumulative Einbahnstraße, sondern ein komplexes Kräftefeld, in dem sich Erfahrungen verdichteten, Prozesse beschleunigten und Radikalisierungstendenzen gegenseitig befeuerten, in dem aber auch Entwicklungspfade gekappt und die polizeilichen Zugriffsmöglichkeiten beeinträchtigt wurden. Die deutsche Kriminalpolizei war nicht nur in Massenverbrechen verstrickt, für die andere Institutionen des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates wie die SS, Gestapo oder Wehrmacht verantwortlich zeichneten. Vielmehr trieb sie in ihrem ureigenen Aufgabenbereich, der Bekämpfung und Verhütung von Kriminalität, selbst eine Eskalation von Exklusion und Gewalt voran, die im Massenmord und im Massensterben in den KZ kulminierte. Die quantitativen und qualitativen Dimensionen der Verbrechen, welche die Kriminalpolizei zwischen 1933 und 1945 verübte, sind bislang nur in Ausschnitten aufgearbeitet. 162 Roth, Verbrechensbekämpfung (2010), S. 212. 163 Ebd., S. 124–134, 210–213. 164 Ebd., S. 213. 165 Vgl. ebd., S. 284–289.
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Schlussbetrachtung Die Frühphase der nationalsozialistischen Verfolgung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern«, insbesondere die Anfänge ihrer Einweisung in die KZ, war bislang weitgehend unerforscht. Doch ging das NS-Regime noch im Jahr der Machtübernahme mit Maßnahmen gegen diese Gruppen vor, die wie die »Bettlerrazzia«, das »Gewohnheitsverbrechergesetz« und der preußische »Vorbeugungshafterlass« zum einen breite öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren und die zum anderen keinen Zweifel daran ließen, dass man künftig rücksichtslos gegen soziale Randgruppen und Mehrfachstraftäter einschreiten würde. Ausgehend von diesen Fakten und anknüpfend an die These Falk Pingels, dass keine Verfolgtengruppe wieder in Freiheit entlassen wurde, die einmal in das Visier der Behörden und in die KZ geraten war,1 richtete diese Studie das Forschungsinteresse auf die Entwicklung der sozialrassistischen und kriminalpräventiven KZ-Haft in den vier Jahren, die zwischen dem Auftakt der Verfolgung 1933 und den Massenrazzien 1937/38 lagen. Vor allem im Hinblick auf den Umfang und die Intensität der KZ-Einweisungen von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« korrigieren die Untersuchungsergebnisse die Einschätzung, diese Häftlingsgruppen seien während der ersten Hälfte der 1930er-Jahre nur vereinzelt in den Lagern inhaftiert gewesen, ihre systematische Verfolgung habe erst ab 1937/38 eingesetzt und dann zu einem Funktionswandel der KZ geführt. Die sozialrassistische und kriminalpräventive Funktion der KZ war im Nucleus bereits 1933/34 vorhanden. Zwar hatte sie noch unterschiedliche Ausprägungen und erreichte selbstverständlich nicht die quantitativen Dimensionen, welche sie später annehmen sollte; dennoch geht die Vorstellung, die frühen KZ seien ausschließlich zur terroristischen Zerschlagung der politischen Opposition genutzt worden, an der historischen Realität vorbei. Phasenweise hatten »asoziale« und »kriminelle« Häftlinge schon in den ersten Jahren des NS-Regimes einen bedeutenden Anteil an der Häftlingsgesellschaft einzelner Lager. Das zeigt nicht nur der hohe Anteil an Arbeitszwangshäftlingen, Rebdorf-Häftlingen und »Vorbeugungshäftlingen« im KZ Dachau 1933/34. Auch in den norddeutschen Lagern Eutin/Ahrensbök-Holstendorf und Wittmoor/Fuhlsbüttel zeichnete sich schon im Herbst 1933, in Folge der »Bettlerrazzia«, deutlich eine Funktionserweiterung ab. Im Falle von Eutin/AhrensbökHolstendorf ist sogar anzunehmen, dass die »asozialen« Häftlinge zur Jahreswende 1933/34 die Mehrheit der KZ-Insassen stellten. Für das KZ Kislau ist eine quantitative Aufschlüsselung der Häftlingsgesellschaft erst für das Jahr 1936 1 Vgl. Pingel, Konzeption, S. 162.
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möglich. Die Einlieferungszahlen für das »Bewahrungslager« belegen aber, dass bereits im Jahr vor den Massenrazzien gegen »Asoziale« und »Berufsverbrecher« der Zugang von Arbeitszwangs- und »Vorbeugungshäftlingen« mit 148 gegenüber 83 Personen fast doppelt so hoch lag wie der an »Schutzhäftlingen«. Der Auftakt der sozialrassistischen und kriminalpräventiven KZ-Einweisungen lässt sich basierend auf qualitativen Einzelfallanalysen auf die Monate des Frühlings und Sommers 1933 datieren. Die Betroffenen stammten aus unterschiedlichen Regionen des Reiches: aus der Nähe Berlins, aus Bayern und aus Norddeutschland. Haftorte waren die KZ Oranienburg, Dachau und Eutin. In den folgenden Monaten kamen Osthofen, Oberer Kuhberg, Wittmoor, Fuhlsbüttel, Vulkanwerft, Lichtenburg und Kislau hinzu. Im Falle »asozialer« und »krimineller« Frauen waren das KZ Moringen, die Strafanstalt Aichach und die Landesheilanstalt Stadtroda Vollzugsorte der extra-legalen Haft. Schon in den ersten beiden Jahren der NS-Herrschaft entwickelte die Inhaftierung von »Asozialen« und Mehrfachstraftätern ohne richterliches Urteil und die Deportation der Betroffenen in die frühen KZ eine gewisse Systematik. Davon zeugen nicht nur die ersten offiziellen Anordnungen zur KZ-Einweisung von Bettlern und Landstreichern, die für Eutin und Leschwitz schon im Sommer 1933 nachweisbar sind, sondern auch die offensiv betriebene Ausweitung der »Schutzhaftgründe« in Bayern und Hamburg sowie die ab der Jahreswende 1933/34 in den einzelnen Ländern eigens geschaffenen Erlasse und Verordnungen, welche die KZ-Einweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« legitimieren sollten. Aufgrund der länderrechtlichen Zuständigkeit blieben die Haftkonzepte bis 1937/38 allerdings regional, zum Teil sogar lokal begrenzt. Jedoch waren einzelne Protagonisten, denen es gelungen war, ihren Ideen und Initiativen innerhalb ihres jeweiligen Einflussbereiches praktische Geltung zu verschaffen, schon früh bestrebt, die entwickelten Konzepte zu verallgemeinern. Das zeigen z. B. die Vorstöße Alarich Seidlers, der sich um die reichsweite Einführung seines bayerischen Systems der Wandererfürsorge bemühte. Integraler Bestandteil des Konzepts war das KZ Dachau, das sowohl der Repression und Disziplinierung als auch der rassenhygienischen Exklusion der »Minderwertigen« und »Besserungsunfähigen« dienen sollte. Ein weiteres Beispiel ist Hugo Krack, KZ-Direktor in Moringen und selbsternannter Experte zur »Lösung des asozialen Problems [sic]«,2 der bei der Auflösung des ersten Frauen-KZ nach Berlin reiste, um Paul Werner im RKPA und Günter Tamaschke, den nominierten Kommandanten des neuen Frauen-KZ in der Lichtenburg, beim künftigen Vorgehen gegen Devianz und Delinquenz zu beraten und ihnen von seinen in Moringen gesammelten Erfahrungen zu berichten. Die sozialrassistische und kriminalpräventive Funktion der KZ, so lässt sich resümieren, war in ihren Anfängen nicht das Ergebnis einer zentral gesteuerten rassischen Generalprävention, sondern die Summe regional oder sogar lokal begrenzter Spezialpräventionen. In dieser Eigenschaft resultierte sie zugleich 2 Zit. nach Hesse, Frauen-KZ, S. 109.
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aus einem zentralen Charakteristikum, das die Verfolgung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« während des Untersuchungszeitraums dieser Studie prägte: Es beteiligte sich eine Vielzahl von Akteuren. Sie stammten aus den verschiedenen Bereichen der Strafrechts- und Wohlfahrtspflege, aber auch aus der allgemeinen staatlichen Verwaltung, aus privaten Interessenorganisationen oder karitativen Verbänden. Angesiedelt waren sie auf unterschiedlichen Ebenen des Staatsapparates bzw. der territorialen Gliederungen privater Organisationen und Verbände. Die Durchführung der gegen »Asoziale« und »Berufsverbrecher« gerichteten Maßnahmen lag zwischen 1933 und 1937/38 in der Regel in den Händen der Landesregierungen, welche die Verantwortung wiederum an die untergeordneten Behörden delegierten. Das Anordnungsrecht der KZ-Haft hatten je nach Region, Zeitphase und Haftart die Polizeidirektionen, die Bezirksbzw. Landratsämter, die Regierungspräsidenten und die Landeskriminalpolizeiämter inne. Vorschlagsrecht kam den Mitarbeitern von Einrichtungen der öffentlichen und privaten Wohlfahrtspflege zu, den Bürgermeistern und Ortspolizeien, den Gesundheits- und Arbeitsämtern und im Falle Thüringens sogar dem leitenden Personal der klinischen Anstalten in Jena und Stadtroda. Nicht selten gingen die Verhaftungen aber auch auf Denunziationen durch Angehörige oder Mitbürger zurück. Aufgrund der heterogenen Zusammensetzung der verantwortlichen Akteure waren die konkreten Konzepte, Ziele und Vorgehensweise bei der KZ-Einweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« verschieden. Sie wurzelten in den Ideen der Kriminalprävention, der Wandererfürsorge, der fürsorgerechtlichen »Bewahrung« und strafrechtlichen »Sicherungsverwahrung«, in arbeitspädagogischen Konzepten, die auf die Tradition der Arbeitshäuser und des FAD zurückgingen, sowie in dem »Siebungs«- und »Sichtungsgedanken« des »Stufenstrafvollzugs«. Dienen sollte die extra-legale Inhaftierung der Abschreckung oder »Unschädlichmachung«, der »Besserung« oder Ausnutzung der Arbeitskraft, dem »Schutz« der Allgemeinheit vor »Gefahr« sowie der »Reinigung« der »Volksgemeinschaft« von »Schädlingen«. Wichtige Motive bildeten darüber hinaus die – tatsächliche oder vermeintliche – Kostenersparnis oder das individuelle Karrierestreben der Verantwortlichen. In der praktischen Umsetzung schlossen diese unterschiedlichen Programmatiken und Ziele einander nicht aus. Vielmehr kamen sie, da in der Regel mehrere Akteure beteiligt waren, in verschiedenartigen Kombinationen vor. Diese Heterogenität führte wiederum zu unterschiedlichen Politikergebnissen: Während sich z. B. in Preußen die »Vorbeugungshaft« ausschließlich auf »Berufsverbrecher« richtete, waren in Baden von Beginn an »Asoziale« mit einbezogen. In Bayern hingegen nutzte man zeitgleich den § 20 RFV als Mittel der KZ-Einweisung von »Asozialen« und hielt zudem hartnäckig an einer weiten Auslegung der »Schutzhaft« fest. Auch die mit der Inhaftierung verfolgten Zielsetzungen variierten erheblich. Als in Preußen die Konzeption der »Vorbeugungshaft« noch auf das Prinzip der Abschreckung ausgerichtet war, bemühte sich beispielsweise die bayerische Wanderer325
fürsorge unter Alarich Seidler bereits um die flächendeckende Erfassung und gegebenenfalls Inhaftierung »asozialer« Wanderer. Zwar griffen auch während der Phase des praktischen Experimentierens zentrale Instanzen ein. Zu denken ist hier an das Reichsinnen-, das Reichspropaganda- und das Reichsjustizministerium oder an Heinrich Himmler in seiner Funktion als RFSS. Allerdings beschränkten sie sich zumeist auf das Formulieren von Zielvorgaben während der Planungsphase von Maßnahmen. Schon im ersten Jahr der NS-Herrschaft setzten sie dadurch deutliche Impulse: Die Anordnung der »Bettlerrazzia«, das »Gewohnheitsverbrechergesetz«, der preußische »Vorbeugungshafterlass« oder auch das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« ließen für Experten und Praktiker aus den Bereichen der Wohlfahrts- und Strafrechtspflege keinen Zweifel daran, dass die neue politische Führung gewillt war, ihre Forderungen nach einem rücksichtslosen Vorgehen gegen »Asoziale« und Mehrfachstraftäter und die dafür bereit liegenden Konzepte in die Tat umzusetzen. Mitunter sind jedoch auch Regulierungsversuche der Zentralbehörden zu beobachten, die das eingrenzen oder systema tisieren sollten, was die Eigendynamik an der Basis geschaffen hatte. Ein Erklärungsansatz, der wie hier vorgeschlagen die Ursprünge der sozialrassistischen und kriminalpräventiven KZ-Haft als Summe der Spezialpräventionen regionaler und lokaler Akteure begreift, reflektiert gleichzeitig die bisherigen Erkenntnisse der Historiografie über die Organisationsstruktur und die Entwicklungsgeschichte der frühen KZ. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, gab es keinen Plan zu deren Errichtung. Die Lager entstanden spontan. Sie waren ein Phänomen der Machtergreifungsphase, das sich rasant ausbreitete. Der Befund dieser Studie, dass nicht nur die konkrete Ausgestaltung der frühen KZ, sondern auch ihre Funktion und die Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaften in Abhängigkeit von den Interessen und Zielsetzungen der Lager-Betreiber erheblich variierten, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der KZ als Machtmittel regionaler oder lokaler Herschaftsträger. Ungeachtet der 1934 verstärkt einsetzenden Versuche der Zentralinstanzen, die Verhängung der KZ-Haft zu steuern und ihren Vollzug durch die Reorganisation der Lager zu vereinheitlichen, blieb während der gesamten Vorkriegszeit eine gewisse regionale Eigendynamik erhalten. Das zeigen sowohl die Strategien, mit denen einige regionale Akteure die von den Zentralinstanzen angestrebte Beschränkung der KZ-Haft auf politische Regimegegner umgingen, als auch die fortgesetzte Existenz von Lagern wie Moringen und Kislau, die zumindest partiell in das arbeitsteilige System der IKL-Lager integriert blieben, obwohl sie nicht der zentralen SS-Lager-Administration angeschlossen waren. Gleichzeitig prägten die innerhalb des polymorphen Systems früher KZ gesammelten Erfahrungen die spätere Haft- und Vollzugspraxis offenbar stärker, als es die Fokussierung auf das »Dachauer Modell« bislang suggerierte. Die Geburt der »Vorbeugungshaft« aus dem Geist der Strafrechtsreform, aber auch andere Traditionslinien belegen die vielfältigen Einflüsse, die weit in die Zeit vor 1933 zurückreichten. Damit bestätigt die vorliegende Studie Jane Caplans Einschät326
zung, dass »even as the camps changed in scope and character, elements of the earlier phases survived into the next, so that on the eve of its collapse, the Nazi camp system can be seen as an immense palimpsest of its own history«.3 In Anlehnung an den von Wolfgang Benz und Barbara Distel in der Reihe Der Ort des Terrors zugrunde gelegten Forschungsansatz ging diese Untersuchung von einer weit gefassten Definition früher KZ aus und plädierte gestützt auf die gewonnenen Befunde für eine Pluralisierung des KZ-Begriffes. Eine Öffnung der Definition, insbesondere im Hinblick auf die Lager der Gründungsphase 1933/34, scheint gerade aus forschungsstrategischer Perspektive wünschenswert, da sie einen dynamischen Untersuchungsansatz ermöglicht, der es erlaubt, die konzeptionellen und institutionellen Traditionslinien zu berücksichtigen, auf denen die KZ-Haft – wenn auch häufig in pervertierter Form – aufbaute. Durch diese Herangehensweise rückte die Studie gleichzeitig die zahlreichen Zwangsanstalten in den Blick, die parallel zu den KZ existierten. Zwischen diesen und den KZ fand während der Vorkriegszeit nicht nur ein reger Austausch statt, mitunter griffen sie sogar in Form eines ausgefeilten Systems arbeitsteilig ineinander. Die Unterteilung der historischen Entwicklung in drei Zeitphasen lieferte ein Raster, um die empirischen Befunde zu ordnen. Unterschieden wurde zwischen einer Phase des konzeptionellen Experimentierens, die etwa 1880 einsetze und bis 1933 andauerte, der Phase des praktischen Experimentierens zwischen 1933 und 1937/38, die den Kernuntersuchungszeitraum der Studie bildete, und der anschließenden Phase der Systematisierung und quantitativen Ausweitung der Verfolgung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern«. Indem diese Studie die Phase des konzeptionellen Experimentierens in die Untersuchung einbezog, konnte sie zum einen erklären, warum die Inhaftierung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« so unmittelbar nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten einsetzte, ohne dass dafür zentrale Vorgaben nötig gewesen wären. Die Auseinandersetzung mit der Strafrechtsreformbewegung vor 1933 ermöglichte es z. B., das »Gewohnheitsverbrechergesetz« und den preußischen »Vorbeugungshafterlass« als ins Maßnahmenstaatliche gewendete »Schubladengesetze« zu verstehen. Zum anderen setzte die Studie neue Schwerpunkte bei der Erklärung der enormen Radikalisierungsdynamik, welche die Verfolgung und KZEinweisung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« ab 1937/38 entwickelte. Nicht im »völkischen Polizeibegriff«, so die hier entwickelte These, lag das entscheidend Neue. Ausschlaggebend war vielmehr, dass der »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« den Übergang vom traditionellen Prinzip der Abschreckung zur flächendeckenden Anwendung der Zweckstrafe markierte, die im Nationalsozialismus als im KZ vollstreckte »Vorbeugungshaft« praktisch Gestalt annahm. Die April-Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« plante Himmler gezielt als ersten Schritt zur Umsetzung der neuen Strategie. Ihr lagen vermutlich keine ökonomischen, sondern originär kriminalpräventive 3 Caplan, Introduction, S. 10.
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Motive zugrunde. Zudem wohnte der von Himmler formulierten Annahme einer schwer fassbaren Gruppe von »Arbeitsscheuen« und »Asozialen«, auf die sich der polizeiliche Zugriff als erstes richten sollte, eine ganz eigene Radikalisierungsdynamik inne. Obgleich der RFSS bereits im Februar 1937 erstmals den Plan äußerte, »Arbeitsscheue« massenhaft in »Arbeitslager« einzuweisen, ist erst für die Juni-Welle der »Aktion Arbeitsscheu Reich« eine Verbindung zwischen kriminal- und ökonomisch-arbeitsmarkpolitischen Zielen nachweisbar. Dabei konnte selbst die Beschaffung von Arbeitskräften für den Vierjahresplan, welche in der historischen Forschung lange als gravierende qualitative Zäsur in der Entwicklung galt, an überkommene Praktiken wie den sicherheitspolizeilichen und fürsorgerechtlichen Arbeitszwang anknüpfen. Dadurch sprach die Aktion wiederum das traditionelle Selbstverständnis der Kriminalpolizei und der Wohlfahrtsbehörden an, in deren Händen die Verantwortung für die Durchführung lag. Deren Ziele, nicht die Arbeitskräfterekrutierung, waren es dann vermutlich auch, die zur Übererfüllung des Verhaftungssolls führten und damit den ausschlaggebenden Motor der enormen Radikalisierung bildeten. Mit ihrem akteurszentrierten, auf die Praktiken der KZ-Einweisung gerichteten Ansatz machte die Studie »Volksgemeinschaft« als soziale Praxis sichtbar. Der soziale Ausschluss von »Asozialen und »Berufsverbrechern« liefert ein Beispiel dafür, welche soziale Dynamik die Blaupause »Volksgemeinschaft« hervor zurufen vermochte. »Volksgemeinschaft« wurde nicht von oben oktroyiert, sondern durch eine Vielzahl von Akteuren ausgestaltet.4 Das führt die Initiative zahlreicher selbstermächtigter Repräsentanten der unteren und mittleren Verwaltungsbehörden eindringlich vor Augen, die in die frühen KZ-Einweisungen von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« involviert waren. Die Heterogenität der sozialrassistischen Konzepte und die vielfältigen Stoßrichtungen und Zielgruppen, welche die Frühphase der Verfolgung prägten, bestätigen die These Raphaels, dass innerhalb eines limitierenden Rahmens Zielvorgaben des Regimes verschieden interpretiert und in der Umsetzung unterschiedliche Prioritäten gesetzt werden konnten. Die Praktiken der sozialrassistischen KZ-Einweisung verdeutlichen überdies das enge Wechselverhältnis von Inklusion und Exklusion. Die Grenzen zwischen »Volksgenossen« und »Gemeinschaftsfremden« mussten durch aktives Handeln gezogen werden. Dabei erhielt die Selbstermächtigung gerade in der exkludierenden Gewalt ihre konkrete Gestalt und konnte bei den »Volksgenossen«, die sie ausübten, ein Gefühl der Zugehörigkeit erzeugen:5 Bedeutete die KZ-Einweisung für die Betroffenen einen radikalen sozialen Ausschluss, der im Verlauf der NS-Herrschaft mit zunehmender Wahrscheinlichkeit tödliche Konsequenzen hatte, ermöglichte derselbe Akt den Verantwortlichen die Aneignung von Handlungsmacht, also Inklusion qua Partizipation.6 Schließlich bestätigte die vorliegende Untersuchung die These von 4 Vgl. Schmiechen-Ackermann, Control, S. 251. 5 Vgl. ebd., S. 251–253; Wildt, Volksgemeinschaft (2014), S. 53–55, 59. 6 Vgl. Bessel, Volksgemeinschaft, S. 358; Pohl, Konstrukt, S. 74–77, 82–84.
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der reziproken Dynamik von »Volksgemeinschaft« und Gewalt.7 Sie zeigte, wie die Aneignung von Handlungsmacht durch die Akteure der unteren und mittleren Verwaltungsebenen schon in der Frühphase des Regimes dazu führte, dass man bei der sozialrassistischen Reorganisation des Wohlfahrtsstaates Gewalt in Form von KZ-Einweisungen einsetzte. Damit belegte die Untersuchung, dass eine auf die Funktionsmechanismen der »Volksgemeinschaft« ausgerichtete Forschung keineswegs, wie den entsprechenden Ansätzen von Kritikern vorgeworfen wird, zu einer Überbetonung des Konsenses und Ausblendung des Terrors führen muss.8 Einer Bereicherung der Forschungen zur »Volksgemeinschaft« durch diese Studie sind aber auch Grenzen gesetzt. So ermöglichten die vorliegenden Quellen keine Aussage darüber, ob die Ausnutzung der gegebenen Handlungsspielräume bei den selbstermächtigten Akteuren tatsächlich ein Gefühl von Zugehörigkeit und Führerbindung schuf. Ebenso wenig beantwortet werden konnte die Frage nach ihren Motiven. Es blieb zumeist offen, ob sie mit ihrem Handeln die »Volksgemeinschaft« realisieren wollten oder für die ergriffenen Maßnahmen nicht vielmehr reiner Karrierismus oder das Bestreben, ältere eugenische oder kriminalpräventive Konzepte zu verwirklichen, ausschlaggebend waren. Unabhängig von den individuellen Motiven bot das Handlungsfeld »Volksgemeinschaft« aber allen ihren Initiativen Raum. Was die treibende Kraft im Einzelfall auch gewesen sein mag, die Akteure bestätigten und bestärkten mit ihrer sozialen Praxis die Werte und Normen des nationalsozialistischen Ordnungssystems, obwohl sie diese möglicherweise gar nicht teilten.9 Ernst Fraenkels Theorie des Doppelstaates schärfte sowohl die Analyse der Rechtsgrundlagen als auch die Untersuchung der Haftpraxis, des Agierens der beteiligten Akteure und des Institutionengefüges, aus dem heraus diese handelten. Dabei bestätigte sich die Vorüberlegung, dass die Dyade vom Normen- und Maßnahmenstaat, die Fraenkel zur Beschreibung des NS-Herrschaftssystems erdachte, am fruchtbringendsten angewendet werden kann, wenn man sie als Idealtypus im Weberschen Sinne versteht. In der historischen Wirklichkeit kam es mitunter zu Verkehrungen, die sich nicht erklären ließen, wollte man die Begriffe »Normen«- und »Maßnahmenstaat« bestimmten Institutionen fest zuordnen. So konnte in verschiedenen Zusammenhängen gezeigt werden, dass mitunter auch originär nationalsozialistische Institutionen wie die Gestapo dezidiert normenorientiert handelten, während umgekehrt Vertreter des aus der Weimarer Republik übernommenen Staatsapparates unter Berufung auf den Ausnahmezustand das Recht missachteten. Im Verlauf der Untersuchung wurde das arbeitsteilige Ineinandergreifen des Normen- und Maßnahmenstaates ebenso sichtbar wie die Konflikte, welche die Vertreter der beiden Pole austrugen. 7 Vgl. Steber u. Gotto, Volksgemeinschaft, S. 16. 8 Vgl. Kershaw, Volksgemeinschaft, S. 36, 38 f. 9 Vgl. Bajohr, Community, S. 198.
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Als maßnahmenstaatliches Agieren begriff die Studie das einer polizeirechtlichen Logik folgende Handeln der Exekutivorgane, das sich auf den Ausnahmezustand beruft, sich ausschließlich an politischen Zweckmäßigkeitserwägungen orientiert und der Kontrolle durch die Judikative entzogen ist. Mittels dieser Definition ließ sich der qualitative Einschnitt bestimmen, den das Jahr 1933 zweifelsohne auch für die sozialrassistische und kriminalpräventive Verfolgung und Inhaftierung bedeutete. Auf der programmatisch-ideologischen Ebene hingegen lässt sich diese Zäsur nicht verorten – das machte die Studie durch die Einbeziehung der Phase des konzeptionellen Experimentierens 1880 bis 1933 deutlich. Es war das maßnahmenstaatliche Element, die von rechtlichen Bindungen befreite polizeirechtliche Logik der Gefahrenabwehr, welche die schrittweise Entgrenzung der Verfolgung von »Asozialen« und Mehrfachstraftätern auslöste; eine Entgrenzung, die schon im »Gewohnheitsverbrechergesetz« und im preußischen »Vorbeugungshafterlass« 1933 angelegt war. Mit der Methode der Politikfeldanalyse lassen sich die drei hier untersuchten Phasen sozialrassistischer und kriminalpräventiver Verfolgung als verschiedene Phasen der Planung, Durchführung und Wirkung eines politischen Prozesses beschreiben. Die Phase des konzeptionellen Experimentierens 1880 bis 1933 entspricht in einem solchen Modell der Planungsphase, an die sich die Durchführung, nämlich die Phase des praktischen Experimentierens 1933 bis 1937/38, anschloss. Aufgrund der gesammelten Erfahrungen und basierend auf einer Bewertung der Politikwirkungen erfolgte 1937/38 eine Neukonzeption des Vorgehens, an die sich eine weitere Durchführungsphase anschloss, welche die Dimensionen der Erfassung enorm erweiterte. Aus der Perspektive der Politikfeldanalyse betrachtet, ergeben sich die Unterschiede zwischen den einzelnen Phasen zum einen aus den unterschiedlichen Akteuren, die an Planung, Durchführung, Neukonzeption und weiterer Durchführung beteiligt waren, und zum anderen aus den gravierenden Veränderungen des institutionellen Arrangements: dem Regimewechsel 1933 und der Gründung des RKPA 1936/37. Was im ausgehenden 19. Jahrhundert auf der konzeptionellen Ebene als Reformprojekt zur Kontrolle und Repression von Devianz und Delinquenz begann, wurde unter den Vorzeichen des nationalsozialistischen Maßnahmenstaates 1933 ins Terroristische gewendet und durch eine Vielzahl regionaler und lokaler Maßnahmen praktisch erprobt. Mit dem »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« und den Massenverhaftungen der Jahre 1937/38 vollzog sich eine Zentralisierung, Systematisierung und quantitative Ausweitung des Vorgehens gegen »Asoziale« und »Berufsverbrecher«. Dabei war aber die vorangegangene Phase des praktischen Experimentierens unabdingbare Voraussetzung für die folgende Eskalation der Gewalt.
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Biografischer Anhang Johann-Heinrich Böhmcker Johann-Heinrich Böhmcker wurde am 22. Juli 1896 in Braak bei Eutin/Holstein geboren. Im August 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. Er kämpfte in Russland und Frankreich. Nach dem Ersten Weltkrieg studierte Böhmcker in Göttingen, Kiel und Münster Jura. Ab 1927 arbeitete er als Rechtsanwalt in Eutin. Schon 1925 der SA beigetreten, wurde er 1926 NSDAP-Mitglied und hatte ein Mandat für den oldenburgischen Landtag inne. Noch vor 1933 beförderte man Böhmcker zum SA-Oberführer, im Juli 1933 zum Brigadeführer und im September 1934 zum Führer der SA-Gruppe Nord. Nach seiner Amtszeit als Regierungspräsident des oldenburgischen Landesteils Lübeck übernahm er am 16. April 1937 den Vorsitz der Bremer Landesregierung und war damit regierender Bürgermeister Bremens. Johann-Heinrich Böhmcker starb am 16. Juni 1944 in Hannover.1 Wilhelm Dreher Wilhelm Dreher, geboren am 10. Januar 1892 in Ay/Neu-Ulm, wuchs bei seiner Großmutter in Stuttgart auf. Nach dem Besuch der Volksschule absolvierte er eine Ausbildung als Mechaniker und ging dann auf Wanderschaft. Im Jahre 1910 trat er in die Kaiserliche Marine ein. Anschließend ließ er sich zum Infanterist ausbilden und wurde für zwei Jahre nach Ostasien abkommandiert. 1913 besuchte er die Torpedoschule in Flensburg. Dreher nahm am Ersten Weltkrieg teil. Nach Kriegsende arbeitete er bei den Ulmer Eisenbahnwerkstätten als Maschinenschlosser. Im Januar 1919 schloss er seine Ehe mit Franziska Dreher, geborene Traub, aus der eine Tochter hervorging. Ursprünglich Mitglied der SPD und des Eisenbahnerverbandes wandte sich Dreher eigenen Angaben zufolge 1923 der NSDAP zu, gründete die Ortsgruppe »Ulm-Neu-Ulm« und war als »eifriger Propagandaredner« aktiv. Der offizielle Parteieintritt erfolgte am 6. August 1925. Ein Jahr zuvor war Dreher arbeitslos geworden. Auf »Anordnung des Führers« ging er nach Stuttgart, um dort die NSDAP-Ortsgruppe »in Ordnung« zu bringen. 1928 erhielt er ein Reichstagsmandat. 1930 trat Dreher der SS bei. Schnell stieg er zum SS-Sturmführer auf. 1931 war er Fraktions führer im Gemeinderat von Ulm. Am 17. März 1933, im Zuge der Gleichschaltung des Polizeiwesens in Württemberg und der Besetzung des Ulmer Rathauses durch SS und Schutzpolizei, erfolgte seine Ernennung zum Polizeidirektor. Das Amt übte Dreher bis 1942 1 Vgl. BArch Berlin, R 55/23481.
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aus. Am 30. Januar 1936 ernannte man ihn zum SS-Brigadeehrenführer. Genau sechs Jahre später wurde er kommissarischer Regierungspräsident für das Land Hohenzollern in Sigmaringen. Wilhelm Dreher starb am 19. November 1969 in Senden.2 Gregor Gog Gregor Gog, am 7. November 1891 als Sohn eines Zimmermanns in Schwerin an der Warthe in der preußischen Provinz Posen geboren, erlernte den Beruf des Landschaftsgärtners. 1911 heuerte der junge Abenteurer bei der Marine an. Während des Krieges war er Marinesoldat, stand aber wegen seines Wider spruchsgeistes zweimal vor einem Militärgericht und wurde in eine Irrenanstalt eingewiesen. Während einer sechswöchigen Haftstrafe zog er sich ein chronisches Nierenleiden zu. 1917 entließ man Gog wegen Kriegsuntauglichkeit aus dem Militär. Zunächst leidenschaftlicher Anarchist, schloss er sich, nachdem er 1930 in die Sowjetunion gereist war, der KPD an. Sein politisch-soziales Engagement galt dem Proletariat der Landstraße, der Jugenderziehung und der proletarischen Kunst. 1923 arbeitete er kurzzeitig in einem thüringischen Erziehungsheim, später, im Exil, war er als Erzieher in Odessa tätig. 1924 wanderte er nach Brasilien aus, um dort eine Kommune aufzubauen. Das Projekt scheiterte schon nach kurzer Zeit und Gog kehrte nach Deutschland zurück. 1927 rief er die »Bruderschaft der Vagabunden« ins Leben. Zwei Jahre später organisierte er den ersten internationalen Vagabundenkongress in Stuttgart. Gog gab das Journal Der Kunde (später Der Vagabund) heraus, das einerseits die Massen der Landstraße für die Revolution gewinnen sollte und andererseits künstlerisch tätigen Landstreichern eine Plattform für ihre Werke bot. Außerdem organisierte Gog mehrere Vagabunden-Kunstausstellungen. In Stuttgart gründete er die Ortsgruppe des Bundes Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands und war Mitglied der Ortsgruppe des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Am 4. April 1933 geriet er in »Schutzhaft« und wurde »bei Wind und Schnee in einem offenen Wagen« in fünfstündiger Fahrt in das KZ Heuberg transportiert.3 Bereits bei der Verhaftung an einer Grippe erkrankt, zog er sich dort eine Wirbelsäulentuberkulose zu. Nachdem man ihn im Oktober 1933 in das KZ Oberer Kuhberg verlegt hatte, erfolgte am 15. November seine bedingte Entlassung »zur Heilbehandlung«.4 Am 24. Dezember floh Gog in die Schweiz. Von dort reiste er am 5. Juni 1934 über Paris nach Rotterdam und dann per Schiff in die Sowjetunion. Sein Wirbelsäulenleiden in Folge der Haft konnte nie ausgeheilt werden. Nach schwieri-
2 Vgl. BArch Berlin, R 9361-II/180085; ebd., R 9361-III/521909; Lechner, Ulm (1997), S. 19; Ulmer Bilderchronik, S. 4, 15, 32, 154; Wilhelm, Polizei, S. 86, 107. 3 Stammberger u. Peschke, Moskau, S. 175. 4 Ebd.
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gen Jahren im Exil starb Gregor Gog am 7. Oktober 1945 an einer Infektionskrankheit im sowjetischen Taschkent.5 Karl Pflaumer Karl Pflaumer, geboren am 27. Juli 1896 in Rauenberg bei Wertheim als Sohn eines Oberlehrers, begann seine Karriere in der badischen Schutzpolizei, innerhalb derer er in den 1920er-Jahren den Rang eines Oberleutnants erhielt. Im Jahre 1929 entließ man ihn aufgrund seiner politischen Betätigung in der nationalsozialistischen Bewegung. Im selben Jahr war er Partei- und SA-Mitglied geworden. 1931 trat Pflaumer der SS bei und erhielt ein Mandat der NSDAP im Heidelberger Stadtrat, dessen Mitglied er bis 1933 blieb. Der kommissarischen Regierung Badens war er »zur besonderen Verfügung« beigeordnet. Ab 8. Mai 1933 bekleidete er den Posten des badischen Innenministers. Während des Krieges stieg er innerhalb der SS zum Brigadeführer (1940) auf, 1940/41 leitete er die Polizeiabteilung im Elsaß, 1941/42 ging er als Gesandter nach Rumänien. Gegen Kriegsende geriet er in Gefangenschaft, aus der er erst 1948 nach Deutschland zurückkehrte, wo er das Ruhegehalt eines Polizeibeamten und eine Pension für die Hälfte der Zeit als Minister erhielt. Karl Pflaumer starb am 3. Mai 1971 in Rastatt.6 Georg Schirm Georg Schirm, geboren am 9. September 1892 in Amberg, verdiente zunächst als landwirtschaftlicher Arbeiter und Bahnarbeiter seinen Lebensunterhalt. Im Anschluss an den Militärdienst und die Teilnahme am Ersten Weltkrieg war er ab dem 1. April 1919 im Staatsdienst beim Polizeipräsidium München tätig. Dorthin kehrte er 1936, nach drei Jahren Dienst als Leiter der Polizeistation Straubing, zurück und stieg zum Revierhauptmann der Schutzpolizei auf. Im Juni 1945 erfolgte seine Entlassung aus dem Polizeidienst. Das bedeutete zwar das Ende von Schirms Karriere bei der Polizei; trotz seiner Verstrickungen in den nationalsozialistischen Polizeiapparat stufte man ihn im Entnazifizierungsverfahren aber als »entlastet« ein. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete Schirm bei der Münchner Wach- und Schließgesellschaft und als Verwalter bei der Herzoglichen Hauptverwaltung Tegernsee.7 Obwohl Schirm nie in die NSDAP eintrat, behauptete er von sich »seit dem ersten Auftreten Adolf Hitlers im Hofbräuhausfestsaal in München am 24.2.1920 mit Herz und Hirn« Nationalsozialist gewesen zu sein. Der Oberbürgermeister von Straubing bestätigte Schirm »einen untadeligen Charakter und einwandfreie nationalsozialistische Gesinnung«, lobte »seinen Fleiß« und »seine Pflichterfüllung« und betonte, dass er ihm »vollstes Vertrauen« entgegenbringe und seiner gesamten »Dienstauffassung« Anerkennung zolle.8 5 Vgl. ebd., S. 158–160, 174–176, 372–375; Trappmann, Not. 6 Vgl. Klee, Personenlexikon, S. 459 f.; Schwarzmaier u. a., Wirtschaftsgeschichte, S. 486, 841. 7 Vgl. StadtArch Straubing, EAPL 037-2/821. 8 Ebd., Dienstleistungszeugnis, 23.11.1935. Vgl. ebd., Schreiben Polizei Straubing, 10.4.1934.
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Walter Schultze Walter Schultze, geboren am 1. Januar 1894 in Hersbruck/Mittelfranken, zweimal verheiratet und Vater von insgesamt vier Kindern, gestorben am 16. August 1979 in Krailling bei München, war ein Nationalsozialist der ersten Stunde. Nach Erlangung des Abiturs im Jahre 1912 nahm Schultze ein Studium der Medizin auf. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich als Kriegsfreiwilliger, diente bei der Kavallerie und später bei der Luftwaffe. Aufgrund von Kriegsverletzungen wurde er im November 1917 im Rang eines Oberleutnants der Reserve pensioniert. Nach Kriegsende schloss sich Schultze dem bayerischen Freikorps Epp an. Als Offizier dieser Formation beteiligte er sich an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik. 1919 promovierte er an der Universität München zum Doktor der Medizin. Im selben Jahr trat er der Deutschen Arbeiterpartei, Vorläuferorganisation der NSDAP, bei. Beim Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 marschierte Walter Schultze in unmittelbarer Nähe Hitlers. Er war es auch, der den Parteiführer, nachdem dieser im Feuer der Polizei verletzt worden war, medizinisch versorgte. Schultze leitete zu diesem Zeitpunkt das Sanitätswesen der SA. Eigenen Angaben zufolge war er »SA-Mann vom Tage der Gründung […] an«. Vermutlich aufgrund der langjährigen, aktiven SA-Mitgliedschaft trat Schultze erst 1936 der SS bei. In der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre saß Schultze für die NSDAP im Stadtrat Speyer. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes und vertrat 1932/33 seine Partei im Landtag. Nach Hitlers Regierungsübernahme fungierte Walter Schultze als Abteilungs leiter im Bayerischen Justizministerium. Im August wechselte er als Staatskommissar für das Gesundheitswesen ins Innenministerium und leitete die Abteilung »Volksgesundheit«, die man dort eingerichtet hatte, um die staatliche Gesundheitspolitik an der Rassenhygiene auszurichten. 1934 erhielt Schultze zudem eine Honorarprofessur für »Volksgesundheitslehre« an der Universität München. Als Leiter der Abteilung »Volksgesundheit« war er für die »Euthanasie«-Morde im Rahmen der »Aktion T 4« und für die Erweiterung der »Kinderfachabteilung« der Anstalt Eglfing-Haar verantwortlich, die dazu diente behinderte Kinder zu töten. Im November 1942 unterzeichnete er den »Hungererlass«, der nachträglich die Tötung von arbeitsunfähigen Patienten der Heilund Pflegeanstalten durch Hungerrationen sanktionierte. Am 30. Januar 1943 stieg Walter Schultze zum SS-Gruppenführer auf. Gegen Ende des Krieges fiel er in Ungnade, weil er »in einer das Ansehen von Partei und Staat schädigenden Weise versucht« hatte, den Leiter des Säuglingsheims München »aus seiner Stellung zu entfernen«. Als »alter Kämpfer« und aufgrund seiner langjährigen Verdienste endete das NSDAP-Parteigerichtsverfahren mit einer Verwarnung. Ein SS-Disziplinarverfahren wurde auf Weisung des RFSS Anfang 1945 eingestellt. 1948 verurteilte das Münchner Landgericht I Walter Schultze wegen Beihilfe zum Totschlag zu drei Jahren Haft. Das Urteil erlangte keine Rechtskraft, weil 334
der Angeklagte in Revision ging. Nach zwölf Jahren Prozessverschleppung seitens der Verteidigung, einer erneuten Verurteilung zu vier Jahren Haft durch ein Münchner Schwurgericht und dem positiven Bescheid über ein weiteres Revisionsverfahren stellte das Gericht in den 1960er-Jahren schließlich das Verfahren ein. Man hatte Schultze für verhandlungsunfähig erklärt.9 Theodor Tenhaaf Theodor Tenhaaf wurde am 20. Dezember 1895 geboren. Bisher konnten nur äußerst spärliche Informationen über ihn ermittelt werden. So enthält seine Akte im Bestand »Parteikorrespondenz« im Bundesarchiv Berlin (ehemals Berlin Document Center) lediglich ein einseitiges Schreiben der NSDAP Kreisleitung Eutin, das auf den 2. Dezember 1937 datiert ist. Diesem Schriftstück ist zu entnehmen, dass Theodor Tenhaaf bei der örtlichen Gauleitung kein besonders hohes Ansehen genoss. Schon im Jahre 1917 habe ihn ein Kriegsgericht wegen Hehlerei und Urkundenfälschung mit drei Monaten Gefängnis bestraft und zum »Soldaten zweiter Klasse« degradiert. Anfang der 1930er-Jahre verurteilte ihn dann ein Amtsgericht wegen unberechtigten Tragens des Eisernen Kreuzes Erster Klasse zu 130 RM Strafe. Im Jahre 1935 schließlich soll Theodor Tenhaaf in seiner Funktion als Kommandant des KZ Ahrensbök-Holstendorf 1.200 RM veruntreut haben. Dem Schreiben zufolge kam es zu keiner Anzeige, weil Regierungspräsident Johann-Heinrich Böhmcker seinen Paladin Tenhaaf deckte. Des Weiteren verweist das Schreiben darauf, dass Tenhaaf auch die Gauleitung finanziell »erheblich geschädigt« habe.10 Paul Werner Paul Werner, SS-Standartenführer, war einer der zentralen Verantwortlichen der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung«. Ab 1937 leitete er stellvertretend das RKPA bzw. das Amt V im RSHA. Als Gruppenleiter war er dort für den Bereich »Kriminalpolitik und Vorbeugung« zuständig. In dieser Funktion arbeitete er 1937 den »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« aus. Wie sein Chef Arthur Nebe hatte Werner seine Ausbildung noch in der »Systemzeit« absolviert und ebenso wie Nebe war er maßgeblich dafür verantwortlich, die kriminalpolizeiliche Arbeit anhand einer völkisch-rassenbiologischen Definition des »Verbrechertums« neu auszurichten. Geboren am 4. November 1900 im badischen Appenweier als Sohn eines Reichsbahndirektors, wuchs Werner in Heidelberg auf. Nachdem er im Jahre 1918 das Notabitur abgelegt hatte, wurde er noch in den letzten Kriegsmonaten eingezogen. Anschließend studierte er in Heidelberg und Freiburg Jura. 1923 legte er sein erstes Examen, drei Jahre später das Assessorexamen ab. Seine be9 Zitate aus: BArch Berlin, R 9361-III/555444. Vgl. ebd., R 9361-VI/2807; BayHStA München, MK 35723; BayStA München, Staatsanwaltschaften 19051/1–11; Bachmann, Personenanfrage, E-Mail 21.8.2012; Benz u. a., Enzyklopädie (2001), S. 880; Klee, Personenlexikon, S. 567 f. 10 Vgl. BArch Berlin, PK/VBS 1/1120028423.
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rufliche Laufbahn begann er als Staatsanwalt in Offenburg und Pforzheim. Parallel arbeitete er als Amtsrichter in Lörrach. Nach eigenen Angaben stand Werner schon während seines Studiums der völkisch-nationalistischen Bewegung nahe. Aber erst nach der Machtübernahme, am 1. Mai 1933, trat er der NSDAP bei. Im September des Jahres wurde er zum Leiter des LKPA in Baden bestellt. Als Stellvertreter Nebes im RKPA bekleidete er später eine Schlüsselposition. Er war nicht nur für die Verschleppung der »Berufsverbrecher« in die KZ verantwortlich, sondern auch in die Aktion T4 involviert. Vermutlich ging auch die Errichtung des Kriminalbiologischen Instituts auf seine Initiative zurück. Nach 1945 kehrte Paul Werner nicht in die Kriminalpolizei zurück, obwohl er kurzzeitig als Präsident des Bundeskriminalamtes im Gespräch war. 1951 erhielt er eine Anstellung als Regierungsrat im Württembergischen Innenministerium. Vier Jahre später erfolgte die Beförderung zum Ministerialrat. Sein Aufgabengebiet waren Verfassungsfragen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die gegen ihn ermittelt hatte, stellte 1962 das Verfahren ein. Werner starb am 15. Februar 1970 in Leinfelden.11
11 Vgl. Wildt, Generation, S. 314–316, 318–321, 323, 328 Anm. 129, 334, 771.
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Danksagung Das Entstehen dieser Studie haben zahlreiche Institutionen, Stiftungen und Einzelpersonen unterstützt. Zu danken habe ich dem Studienwerk der Heinrich Böll Stiftung (Berlin), das mein Dissertationsprojekt mit einem Promotionsstipendium förderte. Einem weiteren Stipendium der Fondation pour la Mémoire de la Shoah (Paris) verdanke ich es, dass ich meine Arbeit im vorgesehenen Umfang, mit der nötigen Tiefenschärfe und der gebotenen Intensität fortführen konnte. Die German History Society (London) und das Birkbeck College/University of London ermöglichten zudem durch Forschungskostenstipendien einige der Archivreisen. Den Druck der Studie bezuschussten die Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität Berlin, die Friedrich-Ebert-Stiftung durch ein Herbert-Wehner-Stipendium und die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Bedanken möchte ich mich außerdem beim Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Wien) und der International Conference of Labour and Social History, die meine Untersuchung durch die Verleihung des Herbert-Steiner-Preises 2013 auszeichneten. Mein besonderer Dank gilt meinen beiden Gutachtern. Mein Doktorvater, Siegfried Mielke, begleitet meinen wissenschaftlichen Werdegang nun seit mehr als zehn Jahren. Mit seiner produktiven Kritik und seiner besonderen Fähigkeit, bei der Strukturierung von Gedanken zu unterstützen, trug er entscheidend zur Durchführung und Niederschrift dieser Untersuchung bei. Für seine kompetente, umsichtige, motivierende und stets freundliche Beratung, bei der er neben der Wissenschaft immer auch die Belange der Wissenschaftlerin im Blick behält, möchte ich ihm von Herzen danken. Michael Wildt, der sich bereit erklärte, das Zweitgutachten zu übernehmen, hat mein Forschungsprojekt ebenfalls über viele Jahre gefördert. Seine Anmerkungen und Ideen wie auch seine kritischen Einwände haben diese Studie und mein Denken nachhaltig beeinflusst. Ihm sei hier ebenfalls herzlich gedankt. Darüber hinaus halfen zahllose Gespräche mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bei der Konzeption und Weiterentwicklung dieses Projektes. Besonders hervorheben möchte ich Nikolaus Wachsmann, der die erste Arbeitsphase als supervisor am Birkbeck College der University of London begleitete. Seine kenntnisreichen Anregungen waren für mich von unschätzbarem Wert. Das von ihm geleitete Forschungsprojekt Before the Holocaust. Concentration Camps in Nazi Germany, 1933–1939 (2006–2009) schuf einen fruchtbaren Diskussionszusammenhang, aus dem wichtige Impulse für meine Untersuchung hervorgingen. Nikolaus Wachsmann korrigierte außerdem die Druckfahnen zu diesem Buch. Für seine Unterstützung sei ihm herzlich gedankt. Bedanken 337
möchte ich mich des Weiteren bei Günter Morsch, der meine Projektidee mit großem Interesse diskutierte und kommentierte, sowie bei Carina Baganz und Angelika Königseder, die mir Einsicht in ihre Forschungsergebnisse gewährten und mir durch ihre sachkundigen Hinweise zur Quellenlage den Einstieg in die Recherchen erleichterten. Nicht zuletzt gilt in diesem Zusammenhang mein Dank Wolfgang Ayaß, der mir mit seiner Expertise ein wichtiger Ratgeber war. Enorm profitiert hat diese Studie vom wissenschaftlichen Austausch im Forschungskolloquium zur Theorie und Geschichte der Gewalt von Birthe Kundrus und Michael Wildt. Ihnen, wie auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieses inspirierenden Forums, danke ich für die präzise Lektüre und bereichernde Diskussion meiner Texte. Daneben leisteten die Debatten in den Doktorandenworkshops zur Geschichte der Konzentrationslager (2006–2008) einen wichtigen Beitrag zur Klärung meiner Fragen und Thesen. Den Herausgebern der Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft bin ich für die Aufnahme in diese Reihe verbunden. Hans-Peter Ullmann steuerte wertvolle Hinweise zur Überarbeitung bei, die mir halfen, meine Argumentation zu schärfen. Iris Törmer, meiner Lektorin, danke ich für ihre Geduld und Umsicht, Gudrun Döllner für die sorgfältige Korrektur des Literaturverzeichnisses und Daniel Sander vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die professionelle Betreuung der Publikation. Eine Studie, die sich mit einem historischen Thema befasst, kann ohne die kompetente Unterstützung zahlreicher Archivarinnen und Archivare nicht durchgeführt werden. Stellvertretend danken möchte ich Angelika ArenzMorch (NS-Dokumentationszentrum Rheinland-Pfalz/Gedenkstätte KZ Osthofen), Robert Bierschneider (Bayerisches Staatsarchiv München) und Albert Knoll (Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau). Christoph Bachmann (Bayerisches Staatsarchiv München) machte mir die Zusammenarbeit durch seinen unverwechselbaren Humor, der seine kenntnisreichen Erläuterungen stets begleitet, immer zu einem besonders kurzweiligen Vergnügen. Die Recherchen, ebenso wie der Besuch von Konferenzen und Workshops, setzten eine intensive Reisetätigkeit voraus, die ohne die Gastfreundschaft all jener Menschen, die bereit waren, mich in ihrem Haus aufzunehmen, nicht realisierbar gewesen wäre. Stellvertretend gedankt sei hier der Familie Arndt in Köln und der Familie Seidel in München. Einige Kolleginnen und Kollegen trugen durch wissenschaftlichen Dialog, geteilte Expertise und das Korrigieren meiner Texte besonders zum Gelingen dieses Forschungsprojektes bei. Christopher Dillon und Paul Moore waren inspirierende Gesprächspartner, halfen dabei, meine Gedanken und Ergebnisse in englischer Sprache zu präsentieren und leisteten während meiner Zeit in London bisweilen auch unverzichtbare alltagspraktische Hilfe. Sven Langhammer unterstützte meine Recherchen durch sachkundige Hinweise und teilte einige besondere Fundstücke mit mir. Stefanie Fischer, Stefan Krauth, Rüdiger Reinecke, Julia Pietsch, Thomas Roth und Kim Wünschmann unterzogen Teile meines Manuskriptes einer kritischen Lektüre. Victoria Romano korrigierte 338
die Druckfahnen. Ihnen allen sei hier ganz herzlich gedankt. Bei Stefan Krauth bedanke ich mich zudem für den regen Gedankenaustausch, der mir grundlegende Einsichten in die Theorie und Geschichte des Strafrechts ermöglichte. Kim Wünschmann begleitete mein Projekt von Beginn an und war mir in allen seinen Phasen sowohl fachlich als auch persönlich eine kluge und motivierende Ratgeberin. Ich danke ihr für die zahllosen Gespräche und Diskussionen. An unsere gemeinsamen Archiv- und Tagungsreisen erinnere ich mich gerne zurück. Schließlich war der Rückhalt meiner Familie für meine Arbeit wie auch für mich persönlich von großer Bedeutung. Meine Schwester, Laura Hörath, stand mir besonders auf der Zielgeraden des Promotionsverfahrens tatkräftig zur Seite. Wilhelm Krethe trug durch die großzügige Finanzierung eines Lektorates maßgeblich zur Fertigstellung dieses Buches bei. Ihnen beiden bin ich in tiefem Dank verbunden. Von ganzem Herzen danken möchte ich schließlich meiner Mutter, Ursula Hörath, die mich sowohl emotional als auch materiell immer dann unterstützte, wenn es am nötigsten war. Hamburg, Juni 2017
Julia Hörath
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Abkürzungen
Abs. Absatz Abschn. Abschnitt a. D. außer Dienst Anm. Anmerkung Art. Artikel AVO Ausführungsverordnung BadGVBl Badisches Gesetz- und Verordnungsblatt (ab 1935 Ministerialblatt für die Badische Innere Verwaltung) BadMdI Badisches Ministerium des Innern/Badischer Minister des Innern BadMdJ Badisches Ministerium der Justiz/Badischer Minister der Justiz BadPr Badische Presse BArch Berlin Bundesarchiv Berlin BayHStA München Bayerisches Hauptstaatsarchiv München BayStA München Bayerisches Staatsarchiv München BayStMdI Bayerisches Staatsministerium des Innern/Bayerischer Staatsminister des Innern Beil. Beilage BMstP Bekanntmachungen für die staatliche Polizei BLHA Potsdam Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam BPP Bayerische Politische Polizei DEST Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH der SS d. die Dok Dokument DRAuPrStA Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger DVO Durchführungsverordnung e. V. eingetragener Verein FAD Freiwilliger Arbeitsdienst Forts. Fortsetzung FürsG (Bayerisches) Fürsorgegesetz vom 14. März 1930 GLA Karlsruhe Generallandesarchiv Karlsruhe GS-Arch Gedenkstätten-Archiv Gestapa Geheimes Staatspolizeiamt Gestapo Geheime Staatspolizei GStAPK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz GVBlFrstBay Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Bayern (ab 1937 Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt) Hervorh. Hervorhebung i. im
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i. E. IKL IKV ITS
im Erscheinen Inspektion der Konzentrationslager Internationale Kriminalistische Vereinigung International Tracing Service/Internationaler Suchdienst Bad Arolsen KPD Kommunistische Partei Deutschlands KZ Konzentrationslager LAV NRW R Landesarchiv Nordrhein-Westfalen/Abteilung Rheinland LKPA Landeskriminalpolizeiamt MinBlBadIV Ministerialblatt für die Badische Innere Verwaltung NdsHStA Hannover Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover NdsStA Osnabrück Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück NS Nationalsozialismus NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei o. D. ohne Datum Ordn. Ordner Orig. Original o. S. ohne Seite Poldir Mü Polizeidirektion München pr. preußisch PrMdI Preußisches Ministerium des Innern/Preußischer Minister des Innern RdErl Runderlass RFSS Reichsführer-SS RFSSuChdDtPol Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei RG Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge RGBl Reichsgesetzblatt RM Reichsmark RMdI Reichsministerium des Innern/Reichsminister des Innern RMdJ Reichsministerium der Justiz/Reichsminister der Justiz RMfVP Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda/ Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda RKPA Reichskriminalpolizeiamt RStGB Reichsstrafgesetzbuch SA »Sturmabteilung« SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SS »Schutzstaffel« StA Staatsarchiv StadtArch Stadtarchiv ThHStA Weimar Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar ThMdI Thüringisches Ministerium des Innern/ Thüringischer Minister des Innern thür. thüringisch unveröff. unveröffentlicht
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v. von VB Völkischer Beobachter Vf. Verfasserin VO Verordnung WHW Winterhilfswerk WM Wirtschaftsministerium z. zur
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Bildnachweis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8 u. 9:
Daluege, K., Nationalsozialistischer Kampf gegen das Verbrechertum, München 1936, o. S. © NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 1, Nr. 15, Nr. 59, Nr. 68, Nr. 192, Nr. 200, Nr. 224, Nr. 257. © NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 59. © NLA Hannover, Hann. 158 Moringen, Acc. 105/96, Nr. 59. Entwurf der Verfasserin. Entwurf der Verfasserin. Runderlass »Bewahrungslager Kislau« (4.8.1936), in: Ministerialblatt für die Badische Innere Verwaltung (Ausgabe A), Jg. 2, 1936, S. 675. Runderlass »Aufhebung des Bewahrungslagers Kislau« (23.1.1939), in: Ministerialblatt für die Badische Innere Verwaltung (Ausgabe A), Jg. 5, 1939, S. 120 f.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Register
Ortsregister Ahrensbök (auch Holstendorf) 182 f. Ahrensbök (FAD-Lager) 63 Ahrensbök-Holstendorf (Konzentrations lager; auch KZ Ahrensbök) 63, 183 f., 189, 323, 335 Aichach (Arbeitshaus, Frauenstrafanstalt, Gefangenenanstalt, Zuchthaus) 112, 115, 132, 239, 324 Alesheim 251 Altlewin 250 Amberg 165, 168, 333 Amsterdam 76 Ankenbuck (Arbeiterkolonie) 115, 239, 274 f. Ankenbuck (Konzentrationslager) 115, 228 f. Annaburg-Prettin (siehe Prettin) Apolda 265 Appenweier 335 Augsburg 11, 121, 254 Auschwitz (Konzentrationslager; auch Auschwitz-Birkenau) 12, 25, 66, 68, 70, 74 Ay an der Iller 331 Bad Arolsen 30 f. Bad Sulza (Konzentrationslager) 86, 202 Bayreuth 248 Bayreuth (Arbeitshaus, Konzentrationslager) 76 Beelitz 176 Belzec (Vernichtungslager) 68 Benninghausen (Arbeitshaus, Konzentrationslager) 76, 81 Berlin (auch Wilmersdorf) 31, 43, 55, 69, 72 f., 76, 81, 86, 94, 100, 110, 118 f., 130, 151, 176, 186, 188, 195, 198, 202, 207, 213 f., 237, 246, 287, 324, 335 Bielefeld 218 Börgermoor (Konzentrationslager) 82 Braak 331
Brandenburg (Konzentrationslager) 82, 176, 188 Brauweiler (Arbeitshaus, Konzentrations lager) 76, 81 f., 239 Breitenau (Arbeitshaus, Konzentrations lager) 76, 81 Bremen 119, 132, 165, 205 f., 208, 331 Bremen-Ochtumsand (Konzentrationslager) 76 Bremerhaven-Langlütjen II (Konzentrations lager) 76 Bromberg 320 Bruchsal 228 Bruchsal (Zuchthaus) 273 Buchenwald (Konzentrationslager) 86, 237, 283, 307 f. Chełmno (Vernichtungslager) 68 Colditz (Arbeitshaus, Konzentrationslager) 63, 76, 120 Columbia-Haus (Konzentrationslager) 86, 202 Cottbus-Sielow 62 Dachau 30 f., 116, 246, 274 Dachau (Konzentrationslager) 11, 33, 64 f., 75, 80, 83–87, 91, 97, 99, 110–114, 116 f., 120 f., 132, 171 f., 184 f., 194, 197 f., 202, 216–229, 235, 237–239, 243, 248, 254–257, 274, 286 f., 290 f., 294 f., 298, 307 f., 323 f. Darmstadt 253 f. Dingolfing 165 f., 192 Dresden 43, 51 Düsseldorf 177, 263 Duisburg 23, 27, 31, 246, 259–264, 278–281, 290 Ebeleben 265 Eglfing-Haar (»Euthanasie«-Anstalt) 334 Eisenach 213 f. Erfurt 177 Essen 281
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Esterwegen (Konzentrationslager) 86, 130, 202, 259, 261, 281 Eutin 63, 148, 174 f., 182 f., 185, 198, 331, 335 Eutin (Konzentrationslager) 63, 174 f., 182–185, 323 f. Farmsen (Versorgungsheim) 172 Flensburg 331 Flossenbürg (Konzentrationslager) 86, 295 Frankenthal 270 Frankfurt am Main 195 Frauenau 249 f. Freiburg 335 Friedberg 253 Fürstenberg 86 Fuhlsbüttel (Justizvollzugsanstalt, Männergefängnis, Werkhaus) 180 f. Fuhlsbüttel (Konzentrationslager; auch KZ »Kola Fu«) 64, 180–182, 184, 323 f. Geretsried 255 Gießen 253 Glückstadt (Arbeitshaus, Konzentrations lager) 76, 81 Görlitz 31, 173 f. Göttingen 331 Gräfeling 256 f. Gumpertshof (Bettlerlager) 173 Hamborn (siehe Duisburg) Hamburg 64, 109, 111, 119 f., 132, 148, 165, 172 f., 180–182, 185, 195, 198, 205 f., 208, 288, 290, 317, 324 Hannover 30 f., 80, 150 f., 203, 215, 243, 331 Haunetal 248 Heidelberg 26, 275, 333, 335 Hersbruck 112, 334 Herzogsägmühle (Wanderhof) 217 f., 224, 256, 286, 307 Heuberg (Konzentrationslager) 64, 120, 178, 332 Hohnstein (Konzentrationslager) 120 Holstendorf (siehe Ahrensbök) Holstenglacis (Untersuchungsgefängnis in Hamburg) 180 Itzehoe 148 Jena 266 Jena (Universitätshautklinik) 136, 265–267, 284, 325
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Karlsruhe 26, 30 f., 134 f., 203, 228 f., 234, 237 f., 242, 274–277, 297 Karlsruhe (Bezirksgefängnis) 273 Karlstadt 248 Kehlheim 249 Kemna (Konzentrationslager) 82 Kiel 331 Kislau (Konzentrationslager; auch »Bewahrungslager«) 31, 33, 76, 115–117, 120, 134 f., 202 f., 207, 228–243, 254, 272–276, 283, 290, 305, 323 f., 326 Kislau (Landesarbeitshaus, Landesarbeitsanstalt) 31, 115, 134, 202, 228 f., 232–237, 239, 242, 271 f., 274–276 Kislau (Strafgefängnis) 228, 239 Klingelpütz (Gefängnis in Köln) 321 Köln 23, 27, 31, 204, 247, 278–280, 290, 304, 321 Konstanz 177 Krailling 333 Küstrin 81 Kufstein 272 Landshut (Strafanstalt) 112 Lauterbach 270 Leinfelden 336 Leipzig 165, 203, 252, 317 Leschwitz (Konzentrationslager) 174, 324 Leschwitz-Posottendorf (auch PosottendorfLeschwitz, später Weinhübel) 174 Lichtenburg (Frauen-Konzentrationslager) 203, 207 f., 214 f., 243, 324 Lichtenburg (Konzentrationslager) 76, 81 f., 85 f., 130, 202, 235, 259, 261, 290, 292, 324 Linz 86 Lörrach 336 London 28, 76 Lublin-Majdanek (Konzentrations- und Vernichtungslager; siehe Majdanek) Lübeck 174 Ludwigshafen 272 Mainz 77 Majdanek (Konzentrations- und Vernichtungslager) 68, 70 Malente 175, 182 Mannheim 26, 77 Marburg 47 f. Mauthausen 31 Mauthausen (Konzentrationslager) 70, 86, 274, 295
Meseritz 173 Miesbach 287 Mingolsheim 228 Moringen (Arbeitshaus, Provinzial-Werkhaus, Landeswerkhaus) 31, 81 f., 202–207, 212–215, 232 Moringen (»Jugendschutzlager«) 319 Moringen (Konzentrationslager, FrauenKonzentrationslager) 25, 30 f., 33, 76, 82, 86, 101, 112, 132, 137, 202–215, 229, 232, 235, 243, 246, 251 f., 254, 265, 268 f., 283, 290, 324, 326 München 30 f., 84, 95, 110, 116, 152, 165 f., 187, 190, 197, 203, 206, 219, 246, 249, 251 f., 255–257, 287, 294, 333–335 Münster 81, 331 Neukirchen 175 Neukirchen (Außenlager) 183 Neustadt (Wejherowo) 320 Nohra 75 Nohra (Konzentrationslager) 75 Nüchel (Außenlager) 183 Nürnberg 112, 176 Oberer Kuhberg (Konzentrationslager) 64, 120, 178 f., 185, 283, 324, 332 Odessa 332 Offenburg 336 Oranienburg (Konzentrationslager) 30, 81 f., 86, 120, 176, 188, 229, 247, 250, 324 Osnabrück 30, 81 Osthofen 30 f. Osthofen (Konzentrationslager) 70, 75, 77, 180, 250, 253, 324 Palmiry 320 Paris 332 Passau 187 Pattensen 86 Papenburg 31 Pfaffenhofen/Ilm 166, 187 Pforzheim 336 Plattling 187 Posottendorf-Leschwitz (siehe LeschwitzPosottendorf) Potsdam 30 f., 176, 247 Prettin (auch Annaburg-Prettin, Gedenkstätte Lichtenburg) 31, 82, 85, 203, 207, 215 Rastatt 333
Rauenberg bei Wertheim 333 Ravensbrück (Frauen-Konzentrationslager) 27 f., 86, 320 Rebdorf (Arbeitshaus; siehe auch Arbeitshaus/Rebdorfhäftling im Sachregister) 91, 97, 116, 122, 194, 216, 218 f., 221–224, 227, 286, 294, 307 Regensburg 288 Reichenbach 77 Remscheid-Lüttringhausen (Strafanstalt) 277–280 Rottenburg 165–167, 191–193 Rotterdam 332 Sachsenburg (Konzentrationslager) 76, 86, 120, 202, 235, 290–292 Sachsenhausen (Konzentrationslager) 27, 33, 67, 86, 130, 235, 237, 283, 287, 290, 308, 320 Sangerhausen 212 Schwartau 182 Schwerin an der Warthe 332 Senden 332 Sigmaringen 332 Singen 173, 177 Skurz (Skórcz) 320 Sobibór (Vernichtungslager) 68 Sonnenburg (Konzentrationslager) 81 f., 247 Sonnenburg (Zuchthaus) 81 Speyer 334 Stadtroda (Landesheilanstalt) 135–137, 208, 212–214, 264–269, 284, 324 f. Stargard 62 Stettin-Bredow (Konzentrationslager) 82 Strand 182 Straubing 31, 151 f., 161, 165, 168 f., 186 f., 190, 333 Stuttgart 26, 109, 157, 166, 294, 331 f., 336 Taschkent 333 Taufkirchen an der Vils (Fürsorgeanstalt) 111 Tegernsee 333 Tölz 165 f., 192 Treblinka (Vernichtungslager) 68 Uckermark (»Jugendschutzlager«) 320 Ulm 146, 152, 178, 180, 185, 288, 331 Vaihingen (Arbeitshaus) 171 Vechta (Arbeitshaus) 183
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Vechta (Konzentrationslager) 283 Vulkanwerft (Konzentrationslager) 120, 324 Weiden 86 Weiher (Arbeitsheim bei Hersbruck) 111 f. Weimar 30, 67, 75, 86, 94, 262, 266–269, 291 Weinhübel (siehe Leschwitz-Posottendorf) Weißenburg 251 Wien 118 Wiesbaden 102 Wiesloch (Heil- und Pflegeanstalt) 228
Wittmoor (Konzentrationslager) 180 f., 185, 189, 288, 323 f. Wöbs 182 Wolfstein 165 Worms 70, 250 Würzburg 220, 306 Wuppertal 278 f. Wuppertal (Strafanstalt) 259, 262 Zwickau (Arbeitshaus, Konzentrationslager) 76, 120
Personenregister A., Friedrich 249 f. Angermund, Ralph 89, 117 Arendt, Hannah 68 Aschaffenburg, Gustav 40 f. Ayaß, Wolfgang 11, 26, 73, 91, 110, 143, 154, 157, 165, 172, 181, 301, 309, 319, 338 B., Corinna 252 B., Gustav 251 B., Johann 287 B., Konstanze 251 f. B., Rudolf 287 B., Rüdiger 255–258 B., Sebastian 249 Bachmann, Christoph 110 Baganz, Carina 72–74 Bajohr, Frank 19 Beck, Ludwig 118 Benz, Wolfgang 28, 70–72, 327 Best, Werner 286 Binding, Karl 48 Birkmeyer, Karl v. 48 f. Bleuler, Eugen 37 Bock, Gisela 20, 24 Böhmcker, Johann-Heinrich 174, 182–184, 331 Boening, (Vorname unbekannt) 136 f., 266–268 Boltz, Wilhelm 181 Braune, Paul 195 Broszat, Martin 25, 66 f., 292, 308 Brüning, Heinrich (auch Kabinett Brüning) 53, 62 Brumm, Günter 135, 266 f.
376
Buchheim, Hans 286, 306, 308 Burleigh, Michael 26 C., Friedrich 277–281 Caplan, Jane 61, 70, 74, 326 Daluege, Kurt 82, 118 f., 130, 132, 304 Darwin, Charles 39, 41 Daus, Franziska 306 Dieckmann, Christoph 67 Diels, Rudolf 69, 81, 83 Distel, Barbara 11, 28, 71 f., 327 Dochow, Adolf 48 Dörner, Bernward 103 f. Dreher, Wilhelm (auch Ulmer Polizei direktor) 178–180, 185, 288, 331 f. Drobisch, Klaus 59, 74, 76, 95 Eberle, Annette 26, 30, 91, 116 Eicke, Theodor 63, 65, 67, 84–86, 202, 229, 243 Ellerhusen, Paul 180 Epp, Franz Ritter v. (auch Reichstatthalter) 96–99, 197, 220 f. Exner, Franz 48 F., Erika 213 f. Ferri, Enrico 37 Fraenkel, Ernst 16–18, 89, 91, 105, 239, 242, 276, 329 Frank, Hans 96, 320 Freisler, Roland 127 Frick, Wilhelm 78, 93, 96 f., 99, 148 f., 153 f., 163, 218, 220 f.
G., Heinrich 176 f., 188, 190 G., Stanislaus 248 Garland, David 35 Garofalo, Raffaele 37 Gellately, Robert 26 Göring, Hermann 80, 82 f., 93 f., 99, 102, 119 f., 128, 148, 161, 175, 197, 205, 207, 249, 289 Goeschel, Christian 61, 66 Gog, Gregor 146, 148, 178, 332 f. Gotto, Bernhard 19 Grauert, Ludwig 69, 80–82, 304 Greifelt, Ulrich 313 f. Gruchmann, Lothar 27 Gruner, Wolf 202 Guerry, André-Michel 37 Gürtner, Franz 171, 242 f. H., Christoph 260–262 H., Friedhelm 270, 272, 275, 277 H., Friedrich 232 H., Hedwig 265–269 H., Reiner 260 Haarmann, Fritz 42 Haegert, Wilhelm 153 f., 159–161 Hämel, (Vorname unbekannt) 136, 266–269 Hartl, Benedikt 58 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 38 Heindl, Robert 43 f., 54 f., 260 Heinz, Stefan 119 Hentig, Hans v. 41 Herbert, Ulrich 13, 15, 27, 45, 66–69, 199, 283, 286, 288, 301 f., 308 Hesse, Hans 76, 203, 206, 209, 213 Heydrich, Reinhard 96, 98, 285, 305 Hilberg, Raul 68 Himmler, Heinrich (RFSS) 12, 15, 64, 69, 83–87, 94–96, 98–100, 123, 127, 140, 184, 202, 206 f., 216, 218 f., 230, 232 f., 235–238, 242 f., 283, 285 f., 289–291, 293, 295 f., 304 f., 307, 310–314, 316–318, 326 f., 328, 334 Hippel, Robert v. 48 Hitler, Adolf 27, 59, 61, 63, 66, 69, 80, 83– 85, 87, 89, 95, 100, 109, 117, 120, 203, 306, 317, 333 f. Hoche, Werner 126 Höß, Rudolf 66 Humann, Detlev 23 Jeserich, Kurt 150 Joel, Günther 69
Jhering, Rudolf v. 37 K., Elfriede 266–269 K., Martha 254 K., Werner 176 Kadečka, Ferdinand 58 Kahl, Wilhelm 53 Kant, Immanuel 38 Kaufmann, Karl 184 Kershaw, Ian 19 Kienle, Markus 178 Knoch, Habbo 11 Köchl, Sylvia 28 Königseder, Angelika 76, 202 Kogon, Eugen 29 Krack, Hugo (auch KZ-Direktor) 25, 202–208, 212–216, 218, 232, 243, 252, 269, 300, 324 Kraepelin, Emil 46–49 Kramer, Alan 62 Krauth, Stefan 17, 39, 45 Kürten, Peter 42 L., Albert 250 Lahts, Max 180 Lang, Fritz 42 Lehnich, Oswald 157, 170 Lenin, Wladimir Iljitsch 61 Leonhard, Götz 26 Levetzow, Magnus v. 151 Liang, Hsi-Huey 118 f. Lieske, Dagmar 27, 290, 296, 318, 320 Liszt, Franz v. 37, 47 f., 50, 56, 58 Lombroso, Cesare 37, 40 f., 43, 57 Loritz, Hans 65 M., Edith 267 M., Erwin 178 M., Kaspar 275, 277 M., Lorenz 275, 277 M., Wenzel 249 Mailänder, Karl 157 f. Margert, (Vorname unbekannt) 180 Martini, Oskar 181, 195 Marum, Ludwig 228 Mattheiß, Hermann 178 Mayer-von Götz, Irene 72–74, 76 Mayr, Georg v. 37 Mohr, Franz Konstantin 228 f., 236, 276 Moore, Paul 77, 179, 229 Morel, Benedict Augustin 39 f.
377
Morsch, Günter 22, 70, 72, 94 f. Müller, Christian 49, 53 Münstermann, Paul 181 N., Alex 277 Näcke, Paul 41 Nebe, Arthur 118, 285, 335 f. Neumann, Franz 16 Nitschke, Peter 286 O., Jasper 272–277 O., Sigmund 248 Ofterdinger, Friedrich 181 Orth, Karin 28 f., 59, 66 f., 69 f., 72 f. Pasquale, Sylvia de 139 Peters, Julius 181 Peukert, Detlev 20, 26, 36 Pflaumer, Karl (auch badischer Innen minister) 229 f., 239, 275, 333 Pietsch, Julia 73, 247 Pingel, Falk 13, 25, 66, 70, 72, 323 Prichard, James Cowles 37 f., 57 Quetelet, Adolphe Jacques 37 R., Alois 11 R., Magnus 253 f. R., Phillip 275, 277 Radbruch, Gustav (auch Entwurf Radbruch) 48, 52, 58 Raphael, Lutz 19, 328 Richter, Alfred 181 Rode, Johannes 182 Röhm, Ernst (auch »Röhm-Affäre«) 85, 153, 160 Roth, Thomas 27 f., 204, 301–303, 309, 321 Rothmaler, Christiane 172 Rubner, Wenzel 121 Runz, Fritz 234 S., Betti 102 S., Justus 270, 275, 277 S., Konrad 270, 275, 277 S., Walter 174 f. Saß, Franz und Erich (auch Gebrüder Saß) 43, 262 Sauckel, Fritz 135, 267, 269
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Schikorra, Christa 27 Schirm, Georg 151 f., 161, 168, 190, 333 Schlotterer, (Vorname vermutlich Gustav) 181 Schmid, Frank 247 Schmid, Jonathan 157, 170 Schmitt, Carl 17 Schneider, Carl 148 Schnorr, Mirjam 26 Schultze, Walter 110, 114, 334 f. Seidler, Alarich 202, 216–219, 243, 324, 326 Sommer, Robert 49 Sonnenberg, Liebermann v. 118, 304 Steber, Martina 19 Stokes, Lawrence D. 182, 198 Stolzfus, Nathan 26 T., Fritz 270, 275, 277 Tamaschke, Günther 215, 324 Tenhaaf, Theodor 63, 175, 182 f., 335 Terhorst, Karl-Leo 27, 92, 132, 175, 292, 296, 301, 308 Thierack, Otto-Georg 127, 140, 317 Tuchel, Johannes 60, 67, 69, 83, 85, 98 f., 203 Volk, Hans 81 W., Johann 294 W., Patrick 23 Wachsmann, Nikolaus 27 f., 61, 66, 70 f., 73, 76, 139, 292, 316 Wäckerle, Hilmar 64 Wagner, Adolf 96, 98 f., 123, 157, 159, 161, 171 Wagner, Patrick 27, 67, 73, 119, 286 f., 290–292, 302, 309, 316 Wahlberg, Wilhelm Emil 37 Weber, Max 18, 242, 277, 329 Werner, Paul 134 f., 137, 214, 270, 275, 297, 317, 320, 324, 335 f. Wieland, Günther 59, 74, 95 Wildt, Michael 12, 19, 27, 118 Wippermann, Wolfgang 26 Wollenberg, Jörg 182 Wünschmann, Kim 73, 86, 211, 229, 306 Z., Linus 262 Z., Simon 259–264 Zahn, Theodor 228
Sachregister »abfällige Äußerung« (siehe »Heimtücke«) Abschreckung 63, 109, 187, 289, 309, 311, 327 –– als Strafzweck 45, 47 f., 125, 253, 280, 304 f., 327 –– als Ziel der »Bettlerrazzia« 187–190 –– als Zweck der KZ-Haft 13, 77 f., 96, 112–114, 304, 309, 311, 325, 327 »Aktion Arbeitsscheu Reich« (auch AprilAktion, April-Razzia, April-Welle, JuniAktion, Juni-Razzia, Juni-Welle; siehe auch Massenrazzia) 23, 25, 91, 111, 223–225, 227, 236 f., 257, 274, 294 f., 304–315, 317, 327 f. Alkohol, Alkoholismus 39, 41, 57, 103 f., 179, 274, 319 Alkoholiker (siehe Trinker) Anlage-Umwelt-Formel 40 f., 56 f. Anstaltsbettel (siehe Bettler) Arbeiterkolonie 115, 145, 189, 239, 274 f. Arbeitsdienstlager (siehe Lager) Arbeitsdisziplin (siehe Disziplin, Diszipli nierung) Arbeitserziehung (siehe Erziehung) Arbeitserziehungshaft (siehe Erziehung) Arbeitserziehungslager (siehe Lager) Arbeitshaft 111–113 Arbeitshaus, Landesarbeitshaus, ProvinzialWerkhaus, Werkhaus (für einzelne Standorte von Arbeitshäusern siehe Ortsregister) 13, 30 f., 46, 48–50, 61 f., 64, 76, 79, 81 f., 91, 97, 107, 112, 115–117, 121 f., 124, 133 f., 151, 163, 170–173, 181, 183, 189, 194, 202–207, 212–216, 218–225, 228 f., 232–237, 239, 242, 256, 266, 269–272, 274–276, 284, 286, 300, 307, 315, 325 –– Arbeitshausgefangener, Arbeitshaushäftling, Arbeitshausinsasse (auch Rebdorfhäftling) 194, 197, 204, 216, 218–225, 227, 232, 234, 238 f., 286, 307, 323 –– Arbeitshaus-KZ (siehe Konzentrationslager) Arbeitslager (siehe Lager) Arbeitslosigkeit 42, 63, 106, 109, 139, 145 f., 148, 163, 289, 292, 294, 331 »Arbeitsscheu« 21–23, 49, 57, 63, 91, 96–98, 101, 106–108, 110, 112–118, 121, 124, 133 f., 137, 149, 163, 166 f., 170, 177, 183, 217, 220 f., 223, 225, 233–236, 249–251,
254 f., 257, 269, 286, 289 f., 293–295, 298, 300, 304–307, 309–315, 320, 328 »Arbeitswilligkeit« 108, 145 f., 254, 267, 293, 295, 310 f. Arbeitszwang, fürsorgerechtlicher und sicherheitspolizeilicher 48, 79, 106–118, 189, 219, 221, 254 f., 257, 293, 298–300, 309, 313, 328 –– »Arbeitszwang Gemeinde« 111 –– »Arbeitszwang Reich« 111, 274 –– Arbeitszwangshäftling 115, 221, 223–225, 227, 232–235, 239, 323 f. Ausnahmezustand (siehe auch »Gefährlichkeit«, Doppelstaat/Maßnahmenstaat) 16–18, 61, 92, 97, 106, 116, 118, 129, 134, 136, 140 f., 232, 239, 242, 276, 290, 329 f. Bayerischer Landesverband für Wanderdienst (LVW; siehe Wanderer) Bayerische Politische Polizei (BPP; siehe auch Politische Polizei) 94, 96, 98 f., 116, 121, 184, 194, 206, 216, 218–222, 224 f., 227, 307 »Besserung« 37, 45–48, 51 f., 64, 125, 131, 204, 219, 234, 298, 304, 306, 325 –– »Besserungsanstalt« 46, 48 –– »Besserungslager« (siehe Lager) –– »Besserungsstrafe« (siehe Zweckstrafe) »Besserungsunfähigkeit«, »unverbesserlich« (auch »unerziehbar«) 45–48, 125, 131, 164, 204, 217, 324 Bettelei, Bettler 13, 22, 26, 49, 62, 101, 104, 116, 122, 124, 143–146, 148 f., 151–171, 173–176, 178 f., 181–194, 196–199, 217, 220 f., 224, 234 f., 249 f., 253, 255, 270, 275, 298 f., 309, 312 f., 319, 324 –– Anstaltsbettel, Anstaltsbettler 152, 161, 168 f., 190, 284 –– »Berufsbettler«, »berufsmäßiger Bettler« 159, 161–164 –– Bettlerlager (siehe Lager) –– »Bettlerrazzia«, »Bettlerwoche«, Septemberrazzia (siehe auch Massenrazzia) 13, 33, 73, 99, 122, 143–199, 201, 220 f., 223 f., 227, 248, 250, 257, 316, 323, 326 –– »Gewohnheitsbettler« 166–168 –– Presseberichterstattung über 143, 157–163, 168 f., 173, 177, 179, 186 f., 190
379
»Bewahrung«, »Verwahrung« 37, 134, 139, 151, 166, 193, 195, 243, 315, 325 –– »Bewahrungsgesetz« 37, 110, 138 f., 151, 193 f., 232, 315, 317 –– »Bewahrungslager« (siehe Konzentrations lager) Bezirksamt 113, 115, 134, 165–167, 185–188, 191–193, 197, 245, 248 f., 251, 270 f., 284, 295, 300, 325 Bezirkspolizei(behörde) (siehe auch Polizei/ Polizeibehörde) 107 f., 113, 117, 149, 194 Bezirksregierung 157, 220 Bezirksverwaltung 94, 117, 162, 252, 255 f. Bürgermeister (siehe auch Oberbürger meister) 213–215, 245, 268, 284, 325, 331 Chef der Deutschen Polizei (siehe auch die Einträge zu Heinrich Himmler im Personenregister) 83, 230, 242, 283, 285 Degeneration 21, 39–41, 57, 204, 217 –– »Degenerationszeichen« 21, 40, 57 Denunziant, Denunziation 103 f., 175–177, 188, 190, 245, 248, 266, 325 Determinismus (siehe auch Täterbild) 25, 45, 49, 248, 279 Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH (DEST) 292, 308, 315 Deutscher Gemeindetag 150, 195 f. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge 147, 150 »Dirne«, »Dirnenleben« (siehe Prostitution) Disziplin, Disziplinierung (auch Arbeits disziplin, Sozialdisziplinierung; nicht wissenschaftliche Disziplin) 60–62, 64 f., 79, 85, 104, 108 f., 114, 177, 189, 206, 214, 217, 219, 233 f., 250, 255, 268, 275, 284, 286, 293, 295, 303, 307–310, 313–315, 318 f., 324, 334 Doppelstaat 16–18, 89, 91 f., 98, 105, 239, 242, 276–281, 287 f., 329 –– Maßnahmenstaat (siehe auch Ausnahmezustand, »Gefährlichkeit«, Polizeirecht, Reichstagsbrandverordnung) 16–18, 33, 91, 97, 99, 105 f., 116–118, 122 f., 134, 136, 139–141, 153, 171 f., 196, 199, 201, 220, 232, 239, 242 f., 247, 249, 255, 276–281, 288, 302, 305, 327, 329 f. –– Normenstaat 16–18, 97 f., 140, 169, 199, 220, 239, 242 f., 276–281
380
Dreiphasenmodell der Entwicklung sozialrassistischer und kriminalpräventiver Exklusion 15 f., 32, 327, 330 Erbbiologie (siehe auch »Siebung und Sichtung«) 21, 56 f., 114, 248, 301 f. –– erbbedingt, erblich, »erbliche Belastung« 21, 39, 40 f., 44, 57, 272, 295, 319 –– erbbiologische Erfassung 57, 64, 209, 211, 272, 275 Erziehung 38, 40, 46, 48, 62, 78 f., 114, 155, 204, 213–217, 237, 264 f., 272 f., 320, 332 –– Arbeitserziehung, »Erziehung durch und zur Arbeit« 62, 78 f., 175, 184 f., 218, 306 –– Arbeitserziehungshaft 319 –– »Erziehung« als Anspruch und Zweck der KZ-Haft 78 f., 112–114, 204, 214–216, 237, 313 –– »Erziehung und Aufklärung« der Öffentlichkeit als Ziel der »Bettlerrazzia« 115, 156–160, 162, 186, 189–191 –– »Erziehung und Besserung« als Strafbzw. Haftzweck (siehe »Besserung«) –– Erziehungsmaßnahme 79 –– Erziehungsmittel 48, 63, 78 –– Fürsorgeerziehung (siehe Fürsorge) Eugenik (siehe Rassenhygiene) Exekutive 18, 92, 95, 103, 116 f., 138, 140, 148, 151, 166, 170–172, 179, 196, 239, 286, 302, 330 extra-legal (auch außergerichtlich) 65, 74, 95, 100 f., 123, 134, 151, 171 f., 174 f., 194, 202, 220, 230, 232, 239, 242, 276, 324 f. –– extra-legale Haftstätte 62, 74, 115, 173, 184, 189, 242, 324 Folterkeller (siehe Haft- und Folterkeller) Freikorps 61, 65 f., 334 Freiwilliger Arbeitsdienst (FAD) 61–63, 109, 175, 183 f., 219, 325 –– FAD-Lager (auch Arbeitsdienstlager; siehe Lager) Fürsorge (siehe auch Landesfürsorgeverband, Ortsfürsorgeverband, Reichsfürsorgepflichtverordnung, Wanderer/Wandererfürsorgeverband) –– Fürsorgeanstalt 111, 172, 189, 214, 265, 273, 299, 315 –– Fürsorgearbeit 106 –– Fürsorgeerziehung 213, 249, 265, 272 f. –– Fürsorgelager (siehe Lager)
–– Fürsorgepflichtarbeit, Pflichtarbeit (siehe auch Arbeitszwang) 106, 108–110, 219, 233, 254, 257, 284, 310 –– Fürsorgeverband, Fürsorgeorganisation, Wohlfahrtsverband, Wohlfahrtsorgani sation 13, 35, 107, 109, 112 f., 115, 117, 146 f., 150, 153–159, 163–165, 167, 191–193, 196 f., 199, 299, 315 –– Fürsorgezögling 22, 206, 208, 210–214 »Gefährlichkeit«, »Gefahr«, Gefahrenabwehr (siehe auch Ausnahmezustand, Doppelstaat/Maßnahmenstaat, Polizeirecht, Reichstagsbrandverordnung) –– als Anordnungsvoraussetzung von Arbeitszwang, »Schutzhaft«, »Sicherungsverwahrung« und »Vorbeugungshaft« 93 f., 98–100, 104 f., 108, 111, 117, 120–122, 124–130, 133, 137 f., 180, 249 f., 258 f., 264, 269, 271, 290, 294, 298 f. –– als Grund für den Entzug von individuellen Freiheitsrechten 20, 93, 129, 278 f. –– als Haftgrund im konkreten Einzelfall 11, 232, 250, 252 f., 267, 277 f. –– der »gefährliche Täter« und die Gefahrenabwehr als Strafzweck und Begründung kriminalpräventiver Maßnahmen 14, 18, 45–47, 49, 56–58, 62, 93 f., 98 f., 121 f., 124, 128 f., 134, 136, 140, 148, 204, 251, 253, 289 f., 299, 301, 303–306, 315, 317, 325 –– Gefahrenabwehr als Begründung, Wesensmerkmal und Zweck des Maßnahmenstaates 16–18, 134, 242, 288, 305, 330 Gefängnis 11, 13, 22, 40, 61, 65, 75 f., 102, 137, 169, 180–182, 189, 228, 239, 254, 266, 284, 307, 316, 321, 335 –– Amtsgerichtsgefängnis 63, 182, 246 –– Bezirksgefängnis 273 –– Frauenstrafanstalt 115, 239 –– Justizvollzugsanstalt 63 f., 86, 112, 127, 172, 206, 228, 235, 278, 284 –– Polizeigefängnis 72, 75 f., 172, 246 –– Strafanstalt 64, 107, 112, 127, 189, 228, 259, 262, 272, 277–280, 324 –– Zuchthaus 22, 64, 66, 81, 112, 132, 261, 273, 277 f., 279, 295, 316 Geheime Staatspolizei (Gestapo), Staats polizei (siehe auch Geheimes Staatspolizeiamt, Politische Polizei) 12 f., 15, 30, 69, 80, 82–85, 87, 94 f., 100–102, 104 f., 113, 116,
174, 180, 182, 184, 196 f., 199, 207 f., 236, 242, 245 f., 252–254, 272, 276, 283, 285– 287, 294, 306–308, 310–314, 318, 321, 329 –– Gestapo-Gesetz 80, 83, 95, 100, 186 Geheimes Staatspolizeiamt (Gestapa) 68, 83, 94, 99 f., 118, 176, 213, 276 f. »Gelegenheitsverbrecher« 40, 43 f., 46–48, 126 Gemeinde 11, 77, 162, 167, 173, 191 f., 249 f., 331 »Gemeingefährliche« (gemäß Definition des preußischen »Vorbeugungshaft erlasses«) 58, 129 f., 259, 29 »Gemeinschaftsfremde« 17 f., 79, 83, 253, 284, 328 Generalprävention –– im Sinne der Strafrechtstheorie 45 –– rassische 12 f., 15, 27, 67–69, 73, 83, 86 f., 91, 128, 199, 205, 228, 230, 243, 283, 301, 308, 324 Gericht (siehe auch Sondergericht) 22, 30, 38, 48, 52, 56–58, 61, 74, 89, 92, 95, 97, 102–105, 113, 117, 119, 124–129, 147, 167, 171, 173, 176, 192, 197, 199, 205 f., 217, 235, 253–255, 261 f., 265 f., 277–280, 287, 307, 318, 332, 334 f. »Gewinnsucht« 22, 43, 55 f., 129, 258, 260 f., 270, 287 »Gewohnheitsverbrecher« 23, 44, 46–48, 51, 53, 55 f., 108, 118, 122–128, 137, 261, 277–279, 289 f., 296, 298 f., 303, 310, 316 »Gewohnheitsverbrechergesetz« 57, 91, 123–128, 138 f., 175, 234, 259, 261, 277 f., 302 f., 323, 326 f., 330 »Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« 90–92, 116, 137, 205, 218, 237, 284, 286, 294, 297–306, 310, 312, 317 f., 327, 330, 335 Habeas-Corpus 93, 117, 134, 276 Häftlingsgesellschaft 28, 33, 65, 67, 72 f., 95, 182, 207 f., 215, 226–228, 232, 326 –– quantitativer Anteil verschiedener Häftlingsgruppen an der 96 f., 101 f., 115 f., 178, 181–183, 194, 208–212, 221–228, 238 f. Haftbefehl 99 f., 204, 245, 248–250, 252 f., 262, 267, 271, 273, 276 Haft- und Folterkeller 75 f. »Hang zum Verbrechen«, »innerer/krimineller Hang« 40, 45, 55–57, 126, 259–261, 273, 279, 288, 295
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Hausierer 22, 104, 145, 162, 164, 166, 251 Hausordnung (siehe auch Lagerordnung) 64 f., 217, 233 »Heimtücke« 101–106, 210–212, 251–254 –– »Heimtückeäußerung« (auch »abfällige Äußerung«) 101–105, 176, 210, 234, 251–253 –– »Heimtückedelikt«, »Heimtückevergehen«, »Heimtückevorwurf« 101–105, 190, 212, 234, 251, 277, 287, 307 –– »Heimtückegesetz« 102 f., 253 f. –– »Heimtückeredner« 103–105, 212, 253, 307 –– »Heimtückeverordnung« 101–103, 105 Himmler-Thierack-Abkommen 127, 140, 317 Innenminister, Innenministerium, Minister/ Ministerium des Innern (der Länder; siehe auch Reichsinnenminister) 30 f., 60, 75, 80–84, 93, 96, 98–100, 108, 110–113, 115, 117–123, 128, 130 f., 133, 135 f., 148 f., 154 f., 157–159, 161, 164, 170 f., 175, 183, 188, 194, 197, 201, 203, 206, 214, 217, 221, 229 f., 232, 236, 239, 242, 254, 258, 262, 264, 267, 270 f., 275–277, 279, 281, 284, 293–295, 303, 333 f., 336 »Inspekteur der Konzentrationslager«, »Inspektion der Konzentrationslager« (IKL) 12, 63, 67, 69, 71, 75, 84–86, 186, 201–203, 207, 214 f., 229, 243, 283, 326 –– IKL-Lager (siehe Konzentrationslager) Judikative (siehe auch Justiz) 18, 92, 95, 98, 103, 116 f., 138, 140 f., 220, 242, 330 »Jugendschutzlager« (siehe Konzentrationslager) Juni-Aktion, Juni-Razzia, Juni-Welle (siehe »Aktion Arbeitsscheu Reich«) Justiz (siehe auch Judikative, Justizminister, Reichsjustizminister) 15, 18, 27, 30, 43, 51–54, 57, 84 f., 87, 95, 105, 117, 123, 127 f., 139, 170 f., 180, 204, 229, 256, 283, 289, 317 f. –– Justizvollzugsanstalt (siehe Gefängnis) Justizminister, Justizministerium, Minister/ Ministerium der Justiz (der Länder; siehe auch Reichsjustizminister) 81, 96, 117, 128, 133, 170, 229, 242 f., 277, 289, 299, 334 Kommune, Kommunalbehörden, Kommunalverwaltung 81, 94, 107–110, 139,
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145, 147, 150, 163, 188, 191 f., 195 f., 233, 285, 315, 332 Kontinuitätsthese 12 f., 33, 66, 70, 72–75 Konzentrationslager (für einzelne KZStandorte siehe Ortsregister) –– Arbeitshaus-KZ 31, 76, 81 f., 202–215, 228–243 –– »Bewahrungslager« 229–241, 273 f., 305, 323 f. –– Frauen-KZ 25, 27 f., 30, 86, 101 f., 112, 132, 137, 202–215, 229, 235, 243, 246, 252, 254, 265, 268 f., 290, 320, 324 –– »Frauenschutzhaftabteilung« 203, 205 –– »Frauenschutzlager« 212 –– frühe KZ, frühe Lager 12–14, 33, 63 f., 67, 69 f., 72 f., 74–87, 95, 101, 115, 120, 172 f., 178, 180, 183, 185 f., 189, 197, 199, 202 f., 205, 221, 243, 245 f., 283 f., 288, 323 f., 326–328 –– IKL-Lager 12, 74, 86, 202, 230, 326 –– »Jugendschutzlager« 72, 319 –– Presseberichterstattung über 78–80, 114, 173, 177, 179, 229 –– »Schutzhaftabteilung« 76, 82, 173 –– »Schutzhaftlager« 84, 133, 203, 213–215, 229 f., 234 –– Sichtbarkeit der 77 f. –– System der Konzentrationslager, KZ-System 12 f., 33, 67–69, 71, 74, 80, 82 f., 85–87, 100, 203, 207, 230, 237, 243, 292, 305, 308 –– »wilde KZ« 69 »Korrektionshaft«, »korrektionelle Nachhaft« 49, 113, 124, 151, 170–172, 214, 219, 221, 235, 300 –– »Korrektionsabteilung« 212, 214 –– »Korrektionsanstalt« 219 –– »Korrektionshäftling« 205 Kreispolizeibehörde (siehe auch Polizei/ Polizeibehörde) 94 Krieg 60, 62, 228 –– Erster Weltkrieg 35, 41 f., 52, 61–63, 65, 228, 331–335 –– Kriegsgefangenenlager (siehe Lager) –– Zweiter Weltkrieg 16, 67–70, 117, 125, 127, 189, 284, 301, 303 f., 310, 314–321, 333 f. Kriminalpolitik 23, 41, 44, 57, 119, 140, 297, 301 f., 317, 335 Kriminalpolizei, Kripo (siehe auch Landeskriminalpolizeiamt, Kriminalpolizei(leit)
stelle, Reichskriminalpolizei) 15, 23, 27, 42 f., 55, 57 f., 92, 118 f., 127–130, 134 f., 172 f., 207, 212, 237, 245, 247, 258–263, 270 f., 274–277, 279 f., 285–289, 291 f., 296–298, 300 f., 304–307, 309, 311, 313 f., 316–321, 335 f. –– Kriminalstrategen, »Strategen der Verbrechensbekämpfung« 119, 247, 297, 302, 319 Kriminalpolizei(leit)stelle, Kripo(leit-) stelle 30, 237, 245, 280 f., 285, 287 f., 290–292, 294, 296, 300, 307, 320 Kriminologie 16, 23 f., 31 f., 35–49, 54–57, 118 f., 124 f., 133, 164, 259 f., 270, 288, 296, 298, 302, 305 Krise, Weltwirtschaftskrise, Wirtschaftskrise 42, 53, 62, 107, 109 f., 138 f., 144–148, 152, 158, 163, 188 f., 193, 251 Lager (für einzelne Lager-Standorte siehe Ortsregister) –– Arbeitserziehungslager 25, 71 f., 318 –– Arbeitslager 194, 216, 238, 256, 289, 304, 315, 328 –– »Besserungslager« 304 –– Bettlerlager 172 f., 177 –– FAD-Lager (auch Arbeitsdienstlager) 61–63, 167, 175, 183–185 –– Fürsorgelager 26, 110, 284 –– frühe Lager (siehe frühe KZ) –– Kriegsgefangenenlager 62 f., 65, 228 –– nationalsozialistische Zwangslager (NS-Zwangslager) 71 f., 110 –– Vernichtungslager 68, 70, 72, 284 Lagerkommandant 63 f., 66, 84 f., 175, 180, 182, 205, 222, 236, 253, 300 Lagerordnung (siehe auch Hausordnung) 64, 84 f., 111 Landesarbeitshaus (siehe Arbeitshaus) Landesfürsorgeverband (siehe auch Fürsorge/Fürsorgeverband) 111, 146 f., 191 Landesheilanstalt 135–137, 208, 212–214, 264–266, 268, 284, 324 Landeskriminalpolizeiamt (LKPA), Landeskriminalpolizei(stelle) 81, 118, 129–131, 134–137, 214, 232, 235, 266 f., 269–277, 285, 288–291, 296 f., 325, 328, 336 Landespolizeibehörde (siehe auch Polizei/ Polizeibehörde) 49, 124, 147, 151, 170 f. Landesregierung (siehe auch Innenminister, Justizminister) 97, 102, 114, 116, 132,
154–158, 160–164, 166, 170 f., 198, 208, 215, 232, 275, 325, 331 »Landfahrer« 106, 108, 113, 149 Landrat, Landratsamt 30, 81, 94, 173 f., 176, 190, 197, 245, 325 Landstreicher, Landstreicherei (siehe Vagabondage, Vagabund) »Lebenslauf, krimineller« 57, 258 f., 280 März-Aktion, März-Razzia gegen bzw. Massenverhaftung von »Berufsverbrecher(n)« 1937 (siehe auch Massenrazzia) 132, 135, 207, 212, 227, 235 f., 286, 288–297, 304, 308 f. Massenarbeitslosigkeit (siehe Arbeitslosigkeit) Massenrazzia, Massenverhaftung als Sammelbegriff für die März-Aktion gegen »Berufsverbrecher« und die »Aktion Arbeitsscheu Reich« (bisweilen unter Einschluss der »Bettlerrazzia« 1933) 12, 16, 27, 32, 245, 264, 284, 316, 319, 323 f., 330 Maßnahmenstaat (siehe Doppelstaat) Maßregel 49 f., 52 f., 57 f., 117, 124, 219 f., 278 –– Maßregeln der Besserung und Sicherung (vor 1933) 50 f., 53, 57 f., 138 –– Maßregeln der Sicherung und Besserung (1933–1945) 123, 125, 140, 235, 259, 261 »Minderwertigkeit« (siehe auch Erbbiologie) 20 f., 25, 109, 125, 143, 149, 160 f., 191, 195, 273, 324 Müßiggänger, Müßiggang 49, 101, 256, 314 Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) 20, 153, 157, 162 f., 216 »Normalisierung« der KZ 197, 199 –– »Normalisierungseffekt« 214, 284 –– »Schutzschild von Normalität« 139 Normenstaat (siehe Doppelstaat) Oberbürgermeister 177, 268, 333 Ortsfürsorgeverband (siehe auch Fürsorge/ Fürsorgeverband) 146, 191–193, 256 f. Ortspolizei(behörde) (siehe auch Polizei/ Polizeibehörde) 149, 173, 245, 325 Perseveranztheorie 43, 118 Politikfeldanalyse 31–33, 156, 169, 330 Politische Polizei, Politischer Polizeikommandeur (siehe auch Bayerische Politische Polizei, Geheime Staatspolizei) 80 f., 83 f., 99 f., 177 f., 202, 206 f., 249
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Polizei (siehe auch Chef der Deutschen Polizei, Geheime Staatspolizei, Kriminalpolizei, Politische Polizei, Polizeiabteilung, Polizeirecht, Sicherheitspolizei) –– Hilfspolizei 164 –– »Polizeibegriff, völkischer« 301 f., 327 –– Polizeibehörde (siehe auch Bezirkspolizeibehörde, Kreispolizeibehörde, Landespolizeibehörde, Ortspolizei) 75, 94, 105, 120–122, 148, 153, 158, 164, 170, 181, 185, 206, 248, 321 –– Polizeidirektion, Polizeidirektor 11, 30 f., 94, 113, 121, 152, 157, 166, 178–180, 185, 197, 206, 208, 219 f., 246 f., 255–257, 275, 287 f., 300, 325, 331 –– Polizeigefangene 206, 209 f. –– Polizeihaft, polizeiliche Strafverfügung (nicht »Vorbeugungshaft«) 170 f., 187, 221 –– Polizeihaftlager 71 f. –– Polizeipräsident, Polizeipräsidium 31, 60, 81, 84, 94 f., 100, 118, 151, 157, 186, 246 f., 252, 259, 278, 281, 333 –– Überwachung, polizeilich planmäßige 27, 127, 130–133, 135, 246 f., 259, 274, 281, 287, 292, 300, 307 –– Schutzpolizei 331, 333 Polizeiabteilung im Preußischen Innenministerium 80–82 Polizeirecht, polizeirechtliche Logik (der Gefahrenabwehr), polizeirechtliche Präventivlogik (siehe auch »Gefährlichkeit«, Doppelstaat/Maßnahmenstaat) 18, 61, 93, 98, 104, 108, 111, 116 f., 122 f., 136, 138, 140 f., 259, 277, 288, 293, 298, 301, 303, 305 f., 315, 330 Prostituierte, Prostitution (auch »Dirne«, »Dirnenleben«) 13, 22 f., 26, 49, 101, 104, 120, 124, 135 f., 143, 206, 208–212, 214 f., 252, 264, 266, 268 f., 284, 298, 303, 312, 316, 319 f. Provinzialausschuss, Provinzialverband 150 f., 203, 243 Provinzial-Werkhaus (siehe Arbeitshaus) »Querulant« 101, 250, 252, 270, 275 Rassenhygiene (auch Eugenik; siehe auch Sozialrassismus) 14, 20–25, 35–37, 41 f., 46, 57, 110, 114, 125, 139 f., 143, 160, 204, 299, 301, 324, 329, 334
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Rassismus, Rassist (siehe auch Sozial rassismus) 19–25, 64, 89, 143, 204, 283, 288, 299, 305 Rebdorfhäftling (siehe Arbeitshaus gefangener) Recht (siehe Strafrecht, Strafrechtsreform) –– »rechtsschöpferisch« 90, 110, 122, 196 Regierungspräsident 80 f., 94, 100, 148, 174, 182–184, 263, 325, 331 f., 335 Reichsbehörde, Zentralbehörde, Zentralinstanz 132, 143, 153, 156 f., 163, 170, 175, 186, 198, 201 f., 207, 229, 236, 276, 283, 296, 326 Reichsfürsorgepflichtverordnung 91, 106 f., 109–112, 114–117, 134 f., 146, 150 f., 191–193, 201, 221, 224 f., 227 f., 230, 232 f., 235, 238 f., 254–258, 286, 293, 295, 298 f., 325 Reichsinnenminister, Reichsinnenministerium, Reichsminister/Reichsministerium des Innern 69, 78, 87, 93, 95–97, 99 f., 126, 143, 148, 153–155, 157, 188, 198, 201, 238, 275 f., 297 Reichsjustizamt 51 f. Reichsjustizminister, Reichsjustizministerium, Reichsminister/Reichsministerium der Justiz 52, 103, 112, 127, 171, 229, 232, 242 f., 289, 299, 317 f., 326 Reichskriminalpolizei, Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) 34, 43, 118, 127, 214 f., 237, 285–288, 291 f., 294, 297, 300, 304 f., 307 f., 312, 314, 319 f., 324, 330, 335 f. Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Reichspropaganda ministerium, Propagandaministerium 143, 153 f., 157, 159 f., 162, 164, 166, 188, 326 Reichsrat 52, 58, 138 Reichssicherheitshauptamt (RSHA) 27, 118, 285, 317, 335 Reichsstatthalter 96–99, 184, 197, 213 f., 267, 269, 284 Reichstag, Reichstagsbrand 52–54, 58, 75, 78, 92, 95, 138, 172, 174, 180, 228, 236, 245, 249, 331 Reichstagsbrandverordnung 16–18, 75, 92–94, 97, 99, 116, 118, 129, 133 f., 173, 201, 232, 249 f., 259, 290, 305 Reichswanderordnung (siehe Wanderer) Richter 39, 44, 46–49, 51, 53 f., 56, 58, 90, 93, 124–126, 128, 130, 133 f., 139–141, 170 f., 220, 230, 235, 242, 269, 278 f., 300, 305, 316, 324, 336
Ringverein 119 Rückfallprognose, Sozialprognose 56 f., 126, 136, 258 f., 262 f., 265, 267, 272 f., 279 Saisonarbeiter, Wanderarbeiter 22, 145, 167 »Schutzhaft« 11, 30, 59, 61 f., 80–82, 85, 91–102, 104 f., 117, 120–122, 129, 133, 171–187, 190, 194, 197, 199, 201, 206 f., 212 f., 215, 219–221, 234, 248–254, 272, 275–277, 286–288, 305–308, 325, 332 –– »Schutzhäftling« 75, 77, 81 f., 86, 96, 100, 111 f., 115 f., 172, 175, 180, 182, 185, 197, 203, 205 f., 209, 212, 214–217, 219–221, 226, 230, 233 f., 239, 251, 271 f., 275 f., 324 –– »Schutzhaftabteilung« (siehe Gefängnis) –– »Schutzhaftbefehl« (siehe auch Haft befehl) 99 f., 248–251, 276 –– »Schutzhafterlass« 94, 100 f., 186, 201, 275, 304 –– »Schutzhaftlager« (siehe Lager) –– »Schutzhaftliste« der BPP 96, 120 f., 248, 250 f., 284 –– »Schutzhaftstatistik« der BPP 96 f., 116, 132, 194, 217, 221–228 »Schutzstaffel« (SS) 12 f., 15, 27, 29, 63–66, 68, 75, 82–87, 99, 102, 127, 153, 164, 178, 196, 199, 202 f., 205, 207, 213, 215, 218, 222, 228–230, 238, 242, 283, 292, 295 f., 308 f., 313–315, 320 f., 326, 331–334 »Schutzstrafe« (siehe Zweckstrafe) »Selbstermächtigung« 19, 77, 91, 94 f., 98, 100, 123, 180, 185, 328 f. Septemberrazzia (siehe Bettlerrazzia) Sicherheitspolizei 15, 107 f., 220, 285 f., 317 »Sicherungsstrafe« (siehe Zweckstrafe) »Sicherungsverwahrung« 11, 53, 55, 57, 92, 121–128, 139–141, 151, 219 f., 232, 234, 247, 259, 261, 269 f., 277–280, 284, 303, 316 f., 325 »Siebung und Sichtung« 114, 217, 325 »Sittlichkeitsverbrecher« 22, 48, 121 f., 124, 129 f., 248, 289 f., 296 f., 308, 319 Sondergericht 89, 97, 102–105, 253 f., 287 Sozialdisziplinierung (siehe Disziplin, Disziplinierung) Sozialprognose (siehe Rückfallprognose) Sozialrassismus 11, 14–16, 24 f., 32 f., 43, 54, 74, 83, 87, 96 f., 99, 101, 125, 139 f., 143, 163, 183–186, 194, 201, 210, 212, 217 f.,
245–248, 253, 283, 293, 300, 307, 310, 315 f., 318, 321, 323 f., 326, 328–330 Spezialprävention 45–48, 50, 118, 199, 201, 283, 324, 326 Sterilisierung (siehe Zwangssterilisierung) Strafanstalt (siehe Gefängnis) Strafmaß, Strafzumessung (auch Schuldfähigkeit als dessen/deren Grundlage) 38, 44–51, 56–58, 64, 90, 102, 124, 151, 197, 270, 278 Strafrecht (siehe auch Strafrechtsreform, Strafmaß) –– »klassische Schule« der Strafrechts theorie, klassisches Strafrecht, klassischliberales Recht (siehe auch Täterbild, Tatstrafrecht, Willensfreiheit) 37 f., 44–50, 52, 93, 117, 125, 219 f., 261, 278, 305 f. –– »moderne Schule« der Strafrechtstheorie, modernes Strafrecht (siehe auch S pezialprävention, Täterbild, Täterstrafrecht, Willensstrafrecht, Zweckstrafe) 41, 45–50, 52, 58, 93, 125 f., 261, 278, 305 f. Strafrechtsreform (siehe auch Zweckstrafe) –– Schulenstreit 46, 48–52, 57 –– Zweispuriges Modell, Zweispurigkeit (siehe auch Maßregel) 50–52, 57 Strafzumessung (siehe Strafmaß) Stufenmodell 12 f., 33, 66–71, 73, 86 f., 202, 327 Stufenstrafvollzug 64, 302, 325 »Sturmabteilung« (SA) 63, 65, 75, 81, 94, 100, 102, 120, 148, 153 f., 157, 159, 161, 164, 174 f., 181, 196, 199, 203, 216, 245, 331, 333 f. Täterbild –– deterministisches 38–49, 54–57, 248, 250, 258–265, 267 f., 271–273, 278–280, 290, 302 –– indeterministisches 38, 278 f. –– Tätertyp, Tätertypologie (siehe Verbrechertyp) Täterstrafrecht (siehe auch Zweckstrafe) 45–51, 56, 125, 140, 304–306 Tatstrafrecht, Vergeltungsstrafrecht 38, 44 f., 49, 140, 278, 306 »Trinker«, Trunkenheit als Haftgrund (auch Alkoholiker) 22, 103 f., 134, 163, 179, 214, 288, 310, 319 »Trinkerheilanstalt« 51, 124
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Überwachung, polizeiliche planmäßige (siehe Polizei) Unterhaltspflicht, Verletzung der (auch »säumiger Nährpflichtiger«, »säumiger Unterhaltszahler«, »Unterhaltsverweigerer«) 22, 49, 107, 110–114, 116 f., 214, 256 f., 286, 298 f., 313 »Unterstützungsbetrüger« (auch »Wohlfahrtsschwindler«) 22, 175, 178 f., 195, 252 Unterstützungswohnsitz 146, 191–194 Vagabondage, Vagabund (auch Landstreicher, Landstreicherei; siehe auch Wanderer) 13, 22, 26, 36, 49, 62, 101, 116, 122, 124, 139, 143–148, 151, 153, 162, 1 64–167, 170, 173–175, 178 f., 181–190, 192–194, 197– 199, 216–218, 221, 224, 234, 249, 251, 253 f., 270, 284, 298 f., 310, 312 f., 324, 332 –– »Bruderschaft der Vagabunden« 146, 332 »Verbrecher, der geborene« 40, 45, 54, 288 Verbrechertyp, Verbrechertypologie (auch Tätertyp) 40, 43–48, 54–56, 259–261, 280 Vergeltungsstrafrecht (siehe Tatstrafrecht) Vernichtungslager (siehe Lager) »Verwahrung« (siehe »Bewahrung«) Vierjahresplan 237 f., 289, 312–315, 328 »Volksgemeinschaft« 13 f., 18–20, 22, 45, 79, 83, 95, 99, 101, 114, 125, 128, 136, 174, 177, 191, 195, 204, 217, 228, 230, 251, 258, 277, 288, 290, 299, 301, 303, 305 f., 311 f., 325, 328 f. »Volksgenosse« 17, 19, 21, 78 f., 99, 162, 204, 314, 328 »Volksschädling« 79, 89, 96, 98 f., 114, 234, 258, 264, 318 –– »Volksschädlingsverordnung« 117, 318 »Vorbeugungshaft« 23, 27, 30, 56–58, 87, 92, 127–141, 201, 222, 227, 232 f., 235–237, 246 f., 258–272, 274–277, 279–281, 284, 286 f., 291, 293, 296–300, 304 f., 307 f., 316–320, 325–327 –– »Vorbeugungshäftling« 112, 127, 130, 134 f., 137, 206, 208 f., 212, 214 f., 225, 232–234, 236–239, 270, 272, 274 f., 287, 290 f., 297, 300, 307, 320, 323 f. –– »Vorbeugungshaftbefehl«, »Vorbeugungs haftbeschluss« (siehe auch Haftbefehl) 262, 272 f., 276 –– »Vorbeugungshafterlass« 30, 55, 58, 73, 91 f., 123, 128–138, 175, 201, 206, 213, 221,
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230, 232, 258–262, 267, 269–271, 275, 289, 291, 293, 297, 300, 302–304, 323, 326, 330 Wanderer, Wandern, Wanderschaft 144–151, 158, 164, 167, 173, 176, 188, 191–193, 217 f., 251, 253, 299, 303, 309, 332 –– Bayerischer Landesverband für Wanderdienst (LVW) 216–218, 243 –– Reichswanderordnung (auch Wandererfürsorgegesetz) 154, 218, 317 –– Wanderarbeiter (siehe Saisonarbeiter) –– Wanderarbeitsstätte 145, 147, 151, 158 –– Wanderarme, Wanderarmut 146–149, 154–156, 187 f., 191–193, 196 f., 199 –– Wanderbuch 147, 150, 153, 193, 216 –– Wanderbursche, Wandergeselle (auch Handwerksgeselle, Walz) 22, 144, 176, 190, 250, 253, 331 –– Wandererfürsorge 26, 145–148, 150, 153 f., 158, 216–218, 317, 324–326 –– Wandererfürsorgeverband (siehe auch Fürsorge/Fürsorgeverband) 148, 195, 202, 218 –– Wandergewerbeschein 149 –– Wanderherberge (auch Herberge zur Heimat) 145 f., 164 –– Wanderhof 216–218, 224, 286, 307 –– Wanderordnung (länderrechtliche) 150, 217 Weltwirtschaftskrise (siehe Krise) Werkhaus (siehe Arbeitshaus) Willensfreiheit 38 f., 41, 44 f., 278 f. Willensstrafrecht, »verbrecherischer Wille« 58, 130, 278 f. Winkel, Winkelsystem 27, 64, 96, 127, 189, 209, 211, 221, 228, 246 Winterhilfe, Winterhilfswerk (WHV) 102, 154 f., 160, 162 f., 188, 198, 210, 216 »Wohlfahrtspflege, völkische« 160, 162 f., 191, 195 f., 199 Wohlfahrtsverband (siehe Fürsorgeverband) Zentralbehörde, Zentralinstanz (siehe Reichsbehörde) »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz« 106–108, 113, 117, 121, 149, 167, 255, 293 f., 298 Zuchthaus (siehe Gefängnis) Zuhälter, Zuhälterei 22 f., 26, 121, 180–182, 185, 288, 312 f., 316, 319
Zwangsarbeit, Zwangsarbeiter (siehe auch Arbeitszwang) 60, 67, 219, 295, 315, 318 f. Zwangssterilisierung (auch Sterilisierung) 20, 41 f., 57, 114, 149, 163, 204, 266, 272, 275, 284, 302
Zweckstrafe (auch »Besserungsstrafe«, »Schutzstrafe«) 46–49, 93, 298, 304–306, 327 Zweispuriges Modell, Zweispurigkeit (siehe Strafrechtsreform)
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